Szenische Hermeneutik: Verstehen, was sich nicht erklären lässt [1. Aufl.] 9783839431511

How do social actions authorize sense? In the synchronous presence of subjects, the diachronicity of sense in the coordi

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German Pages 486 Year 2015

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Szenische Hermeneutik: Verstehen, was sich nicht erklären lässt [1. Aufl.]
 9783839431511

Table of contents :
Inhalt
Warum Hermeneutik? Eine Vorbemerkung
Über einige Unterschiede zwischen literarischer und szenischer Hermeneutik
Prolog. Deuten, Zeigen und Sichzeigen als Handlungen
a. Das geschlossene Retabel
b. Initiation und Autorschaft
c. Fiktion als Initiationslegitimation
d. Der Opferkalender und das Kalenderopfer
I. Initiation. Einführung in eine zeitgemäße Hermeneutik
a. Systemische Komponenten
b. Zeitlichkeit hermeneutischer Konzeptionen
c. Sinn der Verabschiedung von Sinn: erklären oder verstehen?
II. Inszenierung wird als hermeneutische Situation ausgelegt
a. Protomediale Verführungspraktiken
b. Ein ethnologischer Blick auf profanisierte Inszenierungswelten
c. Zur progressiv-regressiven Zeitlogik des Inszenierens
d. Die Inszenierungsmaschine und die Theatermaschine
e. Möglichkeiten der Kritik wider die Aufführung
f. Protosemantische Einwände auf Ironie und Theatralität
III. Der allegorische und der symbolische Blick
a. Ein Paradigma: die Präsenzauffassung barocker Inszenierungskünste
b. Hermeneutik vor und nach Schleiermacher
c. Kafkaeske Formulierungen des Einspruchs
d. Der Einspruch als Inszenierung einer Gruppenpraxis
e. Strukturale Aspekte des inszenatorischen Einspruchs
IV. Die Situation und die Techniken ihrer Bemächtigung
a. Von der Praxis der Präsenz zu den Möglichkeiten der Deutung
b. Das ökonomische Problem der Initiation: Gabe und Reziprozität
c. Von der Initiation zum Spiel
d. Theatralität ohne Theater: Telos und Skopus
e. Das philosophische Theater
V. Die Inszenierung der Philosophie
a. Das Theater der Situation
b. Vom Ereignis zum Erlebnis: die Kunstbetrachtung
c. Vom Erlebnis zum Ereignis: das Spiel der Szenifikation
VI. Deutungszeit und Plötzlichkeit im szenischen Übergang zur Narration
a. Die intermediäre Zeit und das Übergangsobjekt
b. Erleben und Verstehen als korrespondierende Zeitgestalten
c. Szenische Hermeneutik und Psychoanalyse
d. Drei Fragen an die Rhetorik Freuds
e. Drei Aporien über die Linearität der Zeit als Bedingung von Szenifikation
VII. Zur Funktion des A(a)nderen im Bild
a. Die Situation der Bilderproduktion
b. Das Bild als Vollzug einer Szene
c. Die Liebe und die Ökonomie im Blick des anderen
d. Bilder als Szenifikationen des Unerklärlichen: der Ruf
VIII. Der Schrecken des Bildes als Negat von Szenifikation
a. Das Selbst im Bild
b. Die Zeiten des anderen Schauplatzes
c. Film und Theater: Vorzüge der Mediendiversifizierung
Verzeichnis zitierter Literatur

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Ralf Bohn

Szenische Hermeneutik. Verstehen, was sich nicht erklären lässt

Szenografie & Szenologie

Band 12

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Editorial Die Reihe »Szenografie & Szenologie« versammelt Aufsätze und Monografien zur praktischen und theoretischen Szenografie, zur Inszenierung und Inszenierungskritik. Im Kontext neuer Medien und Medientechniken, seltsamer Objekte, ungewohnter Erzählweisen und innovativer Auftrittsformen analysieren die Beiträge beispielhaft wie verallgemeinernd, historisch wie systematisch die Auseinandersetzung um eine Kultur des szenischen Ereignens und Gestaltens in Alltag und Kunst, Politik und Gesellschaft. Die Reihe fördert den transdisziplinären Austausch der beteiligten Wissenschaften. Sie wird herausgegeben von Ralf Bohn und Heiner Wilharm. Beide lehren an der Design-Fakultät der Fachhochschule Dortmund. Im wissenschaftlichen Beirat vertreten sind Martina Dobbe, Universität der Künste Berlin; Petra Maria Meyer, Kunsthochschule Muthesius Kiel sowie Hajo Schmidt, Emeritus der Fern-Universität Hagen.

Der Autor Dr. Ralf Bohn ist Professor für Medienwissenschaften an der FH Dortmund und arbeitet im Schnittpunkt von philosophischer, psychoanalytischer und technischer Medienanalyse.

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Ralf Bohn Szenische Hermeneutik Verstehen, was sich nicht erklären lässt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Über­setzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Ralf Bohn Umschlagfoto: Ausschnitt Mittelteil des Retabels des Isenheimer Altars, © Musée d'Unterlinden – F 68000 Colmar Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3151-7 PDF-ISBN 978-3-8394-3151-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfreigebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt Warum Hermeneutik? Eine Vorbemerkung

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Über einige Unterschiede zwischen literarischer und szenischer Hermeneutik 13 Prolog. Deuten, Zeigen und Sichzeigen als Handlungen a. Das geschlossene Retabel b. Initiation und Autorschaft c. Fiktion als Initiationslegitimation d. Der Opferkalender und das Kalenderopfer

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I. Initiation. Einführung in eine zeitgemäße Hermeneutik a. Systemische Komponenten b. Zeitlichkeit hermeneutischer Konzeptionen c. Sinn der Verabschiedung von Sinn: erklären oder verstehen?

93 111 125

II. Inszenierung wird als hermeneutische Situation ausgelegt a. Protomediale Verführungspraktiken b. Ein ethnologischer Blick auf profanisierte Inszenierungswelten c. Zur progressiv-regressiven Zeitlogik des Inszenierens d. Die Inszenierungsmaschine und die Theatermaschine e. Möglichkeiten der Kritik wider die Aufführung f. Protosemantische Einwände auf Ironie und Theatralität

141 149 158 164 174 178

III. Der allegorische und der symbolische Blick a. Ein Paradigma: die Präsenzauffassung barocker Inszenierungskünste b. Hermeneutik vor und nach Schleiermacher c. Kafkaeske Formulierungen des Einspruchs d. Der Einspruch als Inszenierung einer Gruppenpraxis e. Strukturale Aspekte des inszenatorischen Einspruchs

187 194 200 211 226

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IV. Die Situation und die Techniken ihrer Bemächtigung a. Von der Praxis der Präsenz zu den Möglichkeiten der Deutung b. Das ökonomische Problem der Initiation: Gabe und Reziprozität c. Von der Initiation zum Spiel d. Theatralität ohne Theater: Telos und Skopus e. Das philosophische Theater

239 252 258 269 281

V. Die Inszenierung der Philosophie a. Das Theater der Situation b. Vom Ereignis zum Erlebnis: die Kunstbetrachtung c. Vom Erlebnis zum Ereignis: das Spiel der Szenifikation

291 309 321

VI. Deutungszeit und Plötzlichkeit im szenischen Übergang zur Narration a. Die intermediäre Zeit und das Übergangsobjekt b. Erleben und Verstehen als korrespondierende Zeitgestalten c. Szenische Hermeneutik und Psychoanalyse d. Drei Fragen an die Rhetorik Freuds e. Drei Aporien über die Linearität der Zeit als Bedingung von Szenifikation

331 352 367 381 386

VII. Zur Funktion des A(a)nderen im Bild a. Die Situation der Bilderproduktion b. Das Bild als Vollzug einer Szene c. Die Liebe und die Ökonomie im Blick des anderen d. Bilder als Szenifikationen des Unerklärlichen: der Ruf

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VIII. Der Schrecken des Bildes als Negat von Szenifikation a. Das Selbst im Bild b. Die Zeiten des anderen Schauplatzes c. Film und Theater: Vorzüge der Mediendiversifizierung

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Verzeichnis zitierter Literatur

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Wie soll ich leben? Und mit wem? Diese Fragen stellen sich drei Personen, während sie ein paar Tage miteinander am See verbringen. Sie möchten gerne wieder sich selbst oder besser ein Zuhause finden. Liebe und Arbeit inbegriffen. Aber welchen Platz genau soll jeder von ihnen einnehmen. [...] Nichts läge mir ferner als der Gedanke zu provozieren, aber ich begreife nicht so richtig, was sie darunter verstehen (welcher Stimme, welchem System folgt dieses Verstehen). Sicher, ich sehe wohl, man soll ein Dialogbeispiel und sogar einen vollständigen Dialog einreichen, um eine Vorstellung von dramatischen Szenen und Schließlich sogar vom Rhythmus dieses Dramas zu vermitteln. [...] Ich möchte Verlangsamungen machen, um das, was man gewöhnlich nicht sieht, zu filmen. [...] Um Ihnen eine Vorstellung meiner Arbeit und meiner Liebe zu dieser Arbeit zu vermitteln, müßte man ein wenig anders als mit Worten arbeiten, auf jeden Fall nicht immer die Worte gleich an die erste Stelle setzen. Sprechende Bilder wären mir hier lieber als eine bildhafte Sprache. Jean-Luc Godard, Liebe Arbeit Kino

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Warum Hermeneutik? Eine Vorbemerkung Der vorliegende Band dokumentiert eine Forschungsarbeit über szenische Hermeneutik und behandelt die Frage der Interpretation von Inszeniertheit. Doch vor ihrer Beantwortung muss geklärt sein, was ‚Inszenieren‘ heute bedeutet. Die vorläufige Antwort lautet: jemand anderen durch Zeigen zur Verweisung auffordern. Damit nicht das Gezeigte, sondern die Verweisung oder die Art, wie zu interpretieren sei, offenbar wird, muss eine Inversion zwischen dem Präsenten und dem Apräsenten stattfinden. Diese Inversion wird klassisch als eine „Versetzung in den anderen“ verstanden. Folglich behandelt die szenische Hermeneutik die paranoische Unterstellung von Autorschaft als Versetzung an Stelle des Anderen. Das geschieht aus jeder beliebigen praktischen Situation heraus, in der Handlungen und Folgen aufeinander verweisen, indem sie Intervention, Invention sowie aktive und passive Disposition für einen Übergangszeitraum fiktionalisieren. Sind mehrere Handlungspartner während einer zeitlichen (Präsenz versus Narration) oder räumlichen (Mensch versus Ding) Situation verweisend tätig und wird diese Verweisung auf eine bestimmte regulative Zeitdauer angezeigt, soll von Szenifikation gesprochen werden. Inszeniertheit ergibt sich als protomediale Verweisungskette im Übergang durch eine Regression auf reale oder mögliche Autorschaften im Hinblick auf deren progressive Absichten, Verführungen und Herausforderungen. Inszenieren ist somit ein Instrument, um Desituierung einzufordern und so eine Drittheit regulativ in die Situation miteinzubeziehen. In der Inszenierung erscheint der Andere als paranoisches Phantasma dessen, was sich zeigt: Durch ein Bild, eine Darstellung, Verkörperung oder aber im Text wird Autorschaftsunterstellung respektive Initiation struktural vermittel- und objektivierbar, als Realität. Damit gewinnen Inszenierungen als Tauschofferten von Hierarchisierungen in einem Verhältnis (z.B. in dem von Autor, Akteur und Publikum) Gabencharakter und ver­­langen nachträglich Gegengaben und Opfervollzüge: Interpretationen, Kritiken, Applaus, Einsprüche. Auch hierzu gibt es eine inverse Option, die Verführung: Jemand anderen die Initiative zur Inversion unterschieben, heißt, ihn glauben machen, er selbst sei der (bessere) Autor, Regisseur, Akteur oder Kritiker. Das präsentische Spiel dieser Tauschfiguren ist bisher vornehmlich einer Texthermeneutik zugeordnet worden, die eine relativ eindeutige Autorschaftsunterstellung referiert, nicht aber auf die Übergangsphänome,

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die z.B. erst eine Narrativität als Texturen zu dauern gestatten. Diese Dauern müssen nämlich technisch-medial oder inszenatorisch vorbereitet sein. Eine szenische Hermeneutik versteht das vergemeinschaftende Leben nicht als Text, sondern als generativen Versuch der Stabilisierung einer sozialen Formation, der Szene, in der im Wesentlichen der Körper als Medium darstellt und verweist. Als ‚nichtinszeniert‘ (informativ) kann heute jene Autorschaftsunterstellung verstanden werden, die durch Kausalität den höchsten und allgemeinsten Grad an vermittelnder Plausibilität, Hierarchisierung und Generativität erfährt: die technische Praxis, d.h. die Praxis geregelter Funktionen und Evidenzen. Ihr steht das Spiel der Hin- und Herbewegungen gegenüber, der Tauschinversionen als Zeit- und Bewegungstableaus. Deswegen wird „Inszenierung“ hier – vor allem entgegen neuphänomenologischen Darstellungen – nicht als „Raumgestaltung“, sondern als „Zeitmodifikation“ verstanden – und zwar in den Übergängen von Situation zu Szenifikation, von Inszenierung zu Szenografie. Letztere erfolgt dann als technisch professionalisierter Vollzug einer motivationalen Praxis von proto- und mulitmedialer Vergesellschaftung auf Zeit, die das Ensemble der Medientechniken in personaler oder institutioneller Autorschaft (Regie) übernimmt. Die Untersuchung beginnt mit einigen Überlegungen zur Abgrenzung des Begriffs „szenische Hermeneutik“ im Gegensatz zur klassischen, literarischen Hermeneutik. Die Überlegungen behandeln die Entwicklung von Autorschaft oder deren paranoischer Unterstellung aus einer im Funktionieren der Dinge und sozialen Bezüge untergegangenen, vermeintlich enthierarchisierten präsentischen Deutungspraxis – ausgehend vom christtheologischen Bezug. Dabei ist ein Merkmal von Inszenierungen die Deutungszuweisung. Ein längerer Prolog beschäftigt sich mit der Genese von Zeigen und Verweisen sowie von Aufführen und Darstellen im Kontext von Vater-SohnZuweisungen am Leitbild einer Abbildung des Isenheimer Altars und verdeutlich so das Anliegen szenischer Hermeneutik an einem konkreten Beispiel. „Interpretation“ als Rückverortung von Autor- respektive Vaterschaft ist seit jeher als Frage des Primats und der Herrschaft über Sinn und Zeit verstanden worden, aber nicht zunächst auf der Ebene des Gesetzes und der Texte, sondern auf der Ebene von rituellen, unableitbaren Praktiken, die nicht als Inszenierungen verstanden werden, sondern unmittelbar, magisch auf die Verhältnisse einwirken und meist erst später in die Generativität von Erzählungen (Mythen) münden. Solche Szenifikationen erweisen sich als protomediale Deutungsunternehmen dort, wo die Erklärungen versagen.

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Mit der Frage des Primats, wer wen zur Inszenierung und zu ihrer Interpretation veranlasst, ist die Frage der Initiation als Einspruch auf Autorschaft aufgeworfen. Sie und einige methodische Anbindungen werden im ersten Kapitel geklärt. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Deutungsmöglichkeit des Übergangs von situativer Praxis in Szenifikation als „Verstehen von Sinn“. Das dritte Kapitel belichtet an Positionen des Einspruchs die szenologische Differenz von Situation und Szenifikation in einigen literarischen und historischen Kontexten. Das vierte beschäftigt sich mit der Verlegung der Inszenierungsproblematik aus dem Bereich des Theaterdiskurses heraus in Bezug auf Ökonomie und Histrionik sowie Schriftproduktion. Der fünfte Kapitel vermittelt die Probleme zwischen philosophischer und literarischer Verstehensmodi insbesondere bei Sartre und Heidegger. Das sechste, zentrale Kapitel entwickelt das Problem des Selbst in Bezug auf den konkreten anderen (und Anderen) mit Freud und Ricœur, unter Zuhilfenahme der Empirie der Übergangsphänomene bei Winnicott. Das siebte Kapitel geht auf die Grundkonstellation der Szene als Triade von „Ich – anderem – Anderem (Drittem)“ in Hinblick auf die Präsentifikation vor dem Bild ein. Das letzte und achte Kapitel handelt von der Selbstpräsenz und der narratologischen Zeitbannung im Schrecken des Bildes, einer Paralyse der Dauer. Aus ökonomischen Gründen sind Ausführungen über den Begriff der Wiederholung und der Inszenierungsproblematik bei Kierkegaard, der Begriff der Urszene als Inventio von Reflexion bei Freud vor allem im Fall Wolfsmann sowie eine Diskussion zwischen Mauss, Lévi-Strauss und Sartre über die Problematik der Realitäts- und Evidenzmacht von Kausal- und Kraftableitungen im Diskurs von Erklärungs- und Deutungkompetenz ausgespart worden; sie werden andernorts veröffentlicht. Bewusst unterblieben sind Darstellungen und Analysen einzelner Inszenierungen, deren Diskussion bleibt weiteren Publikationen der Reihe Szenografie & Szenologie vorbehalten. Auch eine eingehende Auseinandersetzung mit Heiner Wilharms Die Ordnung der Inszenierung (Szenografie & Szenologie Bd.8, 2015) muss unterbleiben, da beide Monografien in stetiger Diskussion parallel erarbeitet wurden.

Meerbusch, Frühjahr 2015

Ralf Bohn

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Über einige Unterschiede zwischen literarischer und szenischer Hermeneutik Eine szenische Hermeneutik setzt, anders als die literarische, nicht darauf, symbolische Bedeutungen in Texturen zu verstehen, sondern fordert auf, die mediale Pluralität von Situationen in Ereignissen und Handlungen als Modifikationen des Erscheinens, Zeigens und Darstellens funktional abzuleiten. Es geht weniger um Bedeutung als um Sinn, um Handlungszuweisung durch Veranlassung. Literatur wird dabei als szenifizierendes System verstanden, das am situativen insofern Anteil hat, als es sich z.B. im Buch materialisiert und eine Autorschaftsbeziehung und eine Praxis festschreibt. Dass ein Buch zum Lesen veranlasst, ist nicht neu. Wie sich Lesen szenifiziert und welche aus einer neutralen Situation heraus möglichen „Gebrauchsanweisungen“ mitgegeben werden, ist nicht Gegenstand literarischer Hermeneutik, ebensowenig wie der Dingcharakter und der Tauschwert des Buches. Wir unterscheiden das literarische Ereignis vom szenischen Erlebnis. Wenn wir in der szenischen Hermeneutik nach einem Autor fragen, werden wir etwa auf die Kulturgeschichte des Buches verwiesen. Einer Situation eine Autorschaft zuzuschreiben, heißt deswegen, sie als Inszenierung zu verstehen. Unter „Situation“ wird naiv die Neutralisierung von Ableitung verstanden. Ein Beispiel: Wenn drei Personen einen Raum betreten, verhalten sie sich in der Regel völlig distanziert. Sie sind in einer Situation. Erst wenn einer der drei das Wort ergreift oder Blicke sich begegnen formiert sich die Situation zur Szene. Eine Hierarchie von sprechen und hören, von sehen und gesehen werden figuriert die Situation zur Szene. Der Übergang geschieht nicht unvermittelt. In einem Ausstellungsraum z.B. kann durch Architektur, Hängung, Platzierung von Sitzgelegenheiten und Texttafeln ein präzises Verhalten koordiniert werden. Man könnte von einer ersten Witterung oder Bewusstwerdung von Autorschaft sprechen, dem Index eines „Für-mich“. Aber noch weiß ich nicht, ob diese Interpretation des „Fürmich“ als Szenifikation nicht ein „Von-mir-Für-mich“ oder eine von einem anderen für mich arrangierte Inszenierung darstellt. Ich kann zwar von einer Darstellung sprechen, verstehe diese aber nicht als Aufführung. Eine szenische Hermeneutik beruft sich auf den Konflikt der Umsetzung situativer Beziehungen in sozialen Feldern, die sich gleichzeitig ereignen und als Einheit einer Dauer (Präsenz) erlebt werden. Literarisierung dagegen meint die Umsetzung der Situation in diachrone Rede und Schrift. Präsen-

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tische Situativität selbst lässt sich nicht ohne Aporie in Text verwandeln. Anders ist es beim Bild, Noch anders verhält es sich in der Koordination von Text (Sprache) und Bild etwa in der Allegorie. Das Unentschiedene des Verweisungszusammenhangs ist das Entscheidende in einer Situativität: Es konventionalisiert sich als Spiel in seiner Selbsthervorbringung, d.h., es erfordert übertragbare Szenifikationen und ein Wechselverhältnis von Autorschaft und Rezeptivität. Wenn „Leitungsfunk­tion“1 jemandem oder sich selbst zugeschrieben wird, etwa um die situativen Beziehungen und die Dauer der Präsenz zu stabilisieren, kann man von „Inszenierung“ sprechen; der Ort oder der Zeitraum wird hier als Szene verstanden. Eine szenische Hermeneutik hat die konfligierenden medialen und subjektiven Synchronitäten diachron zu entfalten. Das tut sie als Text. Sie kann das angesichts der medialen Synchronisation aber auch als Aufführung leisten. Die Interpretation unterscheidet sich dann nicht von der Inszenirung. Auch wenn dieser Begriff etwa für wissenschaftliche Publikationen tabuisiert wird. Gemäß einer neuen Medialisierung2 der narrativen Dauern schwindet jedoch zunehmend das „Bild“ von Autorschaft als einer patriarchal gedachten kausalen Ursache (Inventio). Die Entscheidung, ob inszeniert wird oder nicht, kann nur über eine Praxis des Verstehens als Prinzip wechselseitiger Anerkennung erfolgen. Kultur- und Medientechniken schränken Verstehensprozesse nicht nur auf den informationellen Gebrauch ein, sie reduzieren diese oft auf ihre Selbsterklärung. Erst wenn die Verstehensspielräume instabil werden, sich das Drittenimplikat krisenhaft selbst zu verstehen gibt, oder es zu einer (künstlerischen) Travestie von Praktiken kommt wird nach genealogischen Möglichkeiten und unbekannten Autorschaften gefahndet. Szenisches Verstehen geht es weder um die Hortung und Archivierung von Informationen, noch um die Einfühlung oder Einstimmung in 1

Erving Goffman: Interaktion im öffentlichen Raum. Frankfurt am Main 2009, S.35.

2 Die Soziologie der Situation bemüht für diese Feststellung der veränderten Distanzen und

Dauern das Beispiel von Personen, die gemeinsam in einem Aufzug fahren. In diesem Fall ist der Aufzug das neue Drittenimplikat ‚unglücklicher‘ Vermittlung unangebrachter Nähe. Der Autor der zu interpretierenden Situation ist also eine Maschine und das Problem des Verstehens ist als die Funktion (Erhöhung) und Dysfunktion (Annäherung) dieser Maschine zu interpretieren. Man darf anders auch sagen: Wir behandeln das Verstehen der durch die Maschine inszenierten Situation als einen kulturellen Text im Gabenverhältnis von Leistung und Störung dieser Maschine, deren „Schuld“ im Ingenieurwesen abgetragen wird.

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einen Autor, dessen Gabe mit einer Gegengabe paranoisch erwidert werden muss, sondern um die Verwandlung nichtäquivalenter Tauschobjekte: des Indivduellen und des Allgemeinen. Die Frage, ob es ein Verstehen vor der Sprache gibt, das im Gefühl oder im Atmosphärischen einer Stimmung repräsentiert werden kann, muss gleichwohl abgewiesen werden. Was vor der Sprache geschieht, geschieht als immer-schon-durch-die-Sprache-hindurchgegangene Praxis, als Vermittlungen, denen die erklärenden Ableitungen abhanden gekommen sind. Aber auch dann, wenn die Praxis als eine Art negatives Unbewusstes aufgefasst wird, könnte man hinter dieser Verdrängung einen Autor argwöhnen.3 So kann „derselbe physikalische Raum ein Schauplatz von zwei verschiedenen sozialen Veranstaltungen sein [...]. Dann wird die soziale Situation zur Szene eines potentiellen oder tatsächlichen Konflikts zwischen den Regeln, die herrschen sollten.“4 Der Konflikt oder die Krise bezieht sich aber oft ebenfalls auf die Regie einer möglichst diachronen Autorschaft: Man war zuerst vor Ort, man weiss die älteren Erzählungen, die Gruppe ist an Zahl größer, die Leitungsfunktion ist kompetenter. Es stellt sich wiederum die Frage nach der Genese der Ableitung als einer Fähigkeit, Situationen zu initiieren, dauern zu lassen und sie zu beenden. Herrschaft über Ereigniszeit, auch das meint Inszenierung. Den Konflikt selbst, der in eigener Form dauern kann, bezeichnet Goffman als „situiert“, ein „unverfestigte[s] Moment der Realität“. In Bezug auf die inneren Aspekte der Aktivität des Konflikts oder der Verstehensdifferenz spricht er von einem irreduziblen „situativen Aspekt“. Das schließt ein, dass man als der wirkliche Autor einer Inszenierung das Gegenteil dessen intendieren kann, wozu die Gruppe situativ tendiert. Der Autor kann nämlich statt der Dauer der Präsenz den Konflikt, das Drama, den Widerstreit inszenieren, und er kann das Verhältnis von Autorschaft und Gruppe selbst zum Thema der intendierten Situation machen, ohne dass andere wissen, auf welcher Ebene „gespielt“ wird. Shakespeare 3 Um den ethnologischen Standpunkt, der gegen den linguistischen in die Argumentation

eingeführt worden ist (vor allem von Marcel Mauss, aber auch von Roland Barthes) zu kennzeichnen, genügt es festzustellen, dass man das Fahren eines Autos nicht dadurch lernt, dass man die Bedienungsanleitung liest. Gerade in modernen Designverhältnissen ist es unumgänglich, dem Text eine szenische Darstellung der Anwendung beizufügen. Zwischen dem Verstehen des Textes und dem der Szenifikation (Verkehr) liegt ein fundamentaler Unterschied, den man nur bemerkt, wenn man das Fehlen der Gebrauchsanweisung der Gebrauchsanweisung selbst reklamiert. Dieses Bemerken ist in der Praxis der Alphabetisierung ebenso abtrainiert worden wie die Eigentümlichkeit des Autos in der Fahrschule.

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macht das in Hamlet vor, indem er die Frage nach der Handlungsfähigkeit funktional in die Handlung selbst einwebt.5 „Gemeinsame Anwesenheit macht Menschen in einzigartiger Weise erreichbar, verfügbar und wechselseitig angreifbar. Wo in der öffentlichen Ordnung unmittelbare Interaktion im Spiel ist, geht es ihr um die normative Regelung dieser Verfügbarkeit.“6 Dass die Interpretation stets die Szene und die historische Zeit der Autorschaft in den Blick genommen hat, ist nur ein Teilaspekt der Tatsache, dass der Interpret seinerseits sein eigenes Zeitfenster, d.h. eine narrative Folge in den Blick nehmen muss, um über eine szenische Hermeneutik auf die Texthermeneutik Zugriff zu haben. Weil die Frage nach der historisch richtigen Lesart in einer Epoche der Propagierung der Auflösung der Geschichte und anderer großen Erzählungen an Relevanz verloren hat, rückt die szenische Lesart wieder in den Fokus. Gerhard Neumann schreibt: Kulturwissenschaften, in ihrem Interesse für literarische Mimesis – also für das Kardinal-Objekt literarischer Hermeneutik –, orientiert sich mithin auf die Struktur der Situation der Wahrnehmung von Welt; sie richtet sich auf das Kernritual der europäischen Literatur: nämlich die Erkennungszene; die ‚Anagnorisis‘ also, wie sie schon Aristoteles für die Tragödie herausarbeitet. Und die Kulturwissenschaft konzentriert sich auf die literarische Ausrichtung des Blicks auf die Welt; und die damit zusammenhängenden Proto-Szenarien der Konstruktion von Außen und Innen, der Schwelle, der Selbsterfahrung aus der Fenster-Situation, also des rahmenden Blicks als Identifikationsritual; kurz: auf das ProtoSzenario des Experiments mit dem Beobachter-Standpunkt.7

Gleichwohl Neumann die Nähe von szenischer Darstellung und Szene betont, muss in der Interpretation doch von einer konfligierenden Szene in jeder Situation des Lesens, zwischen dem Autor und einer Selbstinitiation durch Imagination ausgegangen werden. Neumann bringt unbeabsichtigt das Urszenenmotiv Freuds aus dem Fall Wolfsmann ins Spiel. Im besagten Traum des Wolfsmannes, an dem Freud den Terminus „Urszene“ erprobt, ist 5 Dass sich der Konflikt symptomhaft ins Individuum als Subjekt verlagert, bleibt nicht aus. Vgl. Vincent Descombes: Das Rätsel der Identität. Berlin 2013, S.111ff. Descombes geht nicht von einer freudianischen Konfliktsituation aus, sondern von einer sozialanthropologischen nach Erikson. D.h., er legt das Deutungsverhältnis selbst als ein solches von Individualität und Allgemeinheit zu Grunde und folgt damit der Darstellung der Konfliktsituation Hamlets, der sich „zwei Moralsystemen“ (S.112) zugehörig fühlt. 6

Goffman, Interaktion im öffentlichen Raum, a.a.O., S.38.

7 Gerhard Neumann: Zum Phänomen der turns in den Methoden der Literaturwissenschaft.

Am Beispiel von Kafkas Betrachtung. In: Claudia Liebrand / Rainer J. Kaus (Hg.): Interpretieren nach den „turns“. Literaturtheoretische Revisionen. Bielefeld 2014, S.23.

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das Eingangsmoment der Blick aus dem Fenster, d.h. das Heraustreten oder Übertreten der Schwelle zwischen Wachen und Schlafen respektive zwischen Imagination und Wahrnehmung.8 Genau das wird aber als Akt des Lesens und der Bewusstwerdung verstanden. Verständlich wird nun, dass die Literaturwissenschaft im älteren und engeren Sinne ihre interpretatorische Initiation genau dort szenifiziert, wo man vom Text aufblickt, gleichsam erwacht und die Situation des Textes auf die historische, kulturelle oder sonstwie individuelle Kluft zwischen Autor und Leser richtet. Ein Buch lässt sich nämlich an sich verstehen, ohne das Geringste vom Autor zu kennen. Weit davon entfernt, eine pädagogische Position zu beziehen, geht es in der Frage des szenischen Verstehens nicht um die Disavouierung von Erklärungen (diachronen Ableitungen) als Motive des Textes, sondern um deren doppelte Relation in der Zeit: Vorzustand, Präsenz und Verstehen bilden schon eine prädisponierte chronologische Szenifikation, als deren Produkt „Zeit“ individuell erlebbar wird – ohne dass diese Erlebbarkeit einem generalisiert situierten Autor (z.B. der Kompetenz einer Uhr) zugeordnet werden muss. Anders gesagt, dem literarischen Verstehen geht eine ganze Kette von Praktiken voraus, die als Situation eines Verstehens ausgelegt werden können, von denen aber die evident praktizierte Form des Buches alle anderen auszublenden aufgefordert hat. Bücherlesen ist die etablierte Technik. Dieses Ausblenden ist der Negativaspekt zum Fensterblick. Davon aber spricht der Text nur in Fällen der Selbstreflexion. Auch die Idee eines Paratextes betont eher den Warenchrakter des Buches, bezieht sich also auf eine Tauschsituation. Historisch wurde die Prädisposition von Sinn einer „göttlichen“ Stimme (Lex) hinterlegt. Narrativität erweist sich deshalb trotz der metaphorischen Rede von Erzählung als Effekt eines Deutungsimperativs antizipierender und retrospektiver Beobachtersituationen. Fällt dieser Blick auf 8 Vgl. Sigmund Freud: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. In: Der Wolfsmann vom Wolfsmann. Sigmund Freuds berühmtester Fall. Erinnerungen, Berichte, Diagnosen. Hg. v. Muriel Gardiner, Frankfurt am Main 1982, S.211. „Ich habe geträumt, daß es Nacht ist und ich in meinem Bett liege (...). Plötzlich geht das Fenster von selbst auf, und ich sehe mit großem Schrecken, daß auf dem großen Nußbaum vor dem Fentser ein paar weiße Wölfe sitzen.“ „Urszene“ ist bei Freud nicht zeitlich zu verstehen, sondern als Initiationserfahrung schlechthin, der in der Genealogie des Verstehens jedoch ein unverstandenes Realmoment vorausgehen muss: die Imagination. Auslösend ist im Falle des Wolfsmannes der vom Kleinkind zufällig beobachtete Koitus der Eltern. D.h.: Die hermeneutische Analyse Freuds sucht also nach ursprünglichen Situationen, die sich als Szenen der Bewusstwerdung erklären. Denn wie soll man sonst Initiation als solche erkennen? Und wie sollten die Eltern selbst verstehen, was sie da tun? Sie tun es!

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die Narration des Daseins aus und wird also der Verstehensspielraum auf Präsenz reduziert, spricht man nicht von Situativität, sondern von Evidenz oder Praxis. Praxis erweist sich so als inverse Normierung von Bewusstsein, – als das, was in jeder Ursachenbestimmung immer schon verstanden, also in der Sozialisierung eingegangen ist. Eine eigentliche Instanz des Unbewussten kann es insofern gar nicht geben. Ihre Materialisation ist Technik, ihre Substanz Medien. Eine dominierende Form heutiger Präsenzerfahrung ist durch die Autorschaft („den Gott“) der Technik vorgegeben: Sie „erzählt“ als Praxis, wie „Informationsimperative“ zu vollziehen sind. In Alltagssituationen ist die technische Inszenierung durch Designvermittlung als Evidenz (Gebrauch) erfahrbar. Die Frage nach einem Gott der Technik stellt sich nicht ein, weil sie in der Praxis unendlich situativ zwischenvermittelt ist. Hier greift nicht mehr die Frage nach dem Autor, sondern jene nach der Medialisierung einer Kollektiverfahrung (Brauch, Sitte, Tradition), die sich als diachrone Identität umstandslos an jede geübte Situation assimilieren lässt und das komplexe System der „Techniken“ in „Lebenssituationen“ zu beherrschen hilft. Dies erfolgt deshalb, weil im Verhältnis von Autor (Ingenieur) und Leser (Benutzer) die Vermittlung über die Sozialisierung des Lesens und Schreibens als Technik schon geschult (medialisiert) ist. Man kann nicht eine Tradition per Dekret begründen, wenn sich nicht die Praxis als Situation erweist, in der aneinander vermittelte Subjekte sich z.B. als alphabetisiert anerkennen. Das Problem des Endes der „Großen Erzählungen“ (Lyotard) ist das ihrer Größe, d.h. ihrer Universalität, ihrer Selbstverständlichkeit. Die Dilthey’sche Unterscheidung von „Verstehen“ und „Erklären“ als jene von Geistes- und Naturwissenschaften setzt eben nicht Wissenschaft selbst in die Krise. Wenn also die klassische Hermeneutik ihre Probleme von einem Verstehen der Trennung von Autor und Leser her definiert, so ist das, was verstanden werden kann, stets nur der Gebrauch des Buches in seiner Situation, der in der Praktikabilität dieses Mediums annähernd unendlich ist. Gemäß diesem Unterschied, den Friedrich A. Kittler als medienwissenschaftliches Paradigma dargelegt hat, stehen sich in der Inszenierung als situativem Verstehen stets drei „Subjekte“ gegenüber – und nicht zwei. Der wesentliche Unterschied ist der, dass in der Praxis (etwa einer dramatischen Aufführung) die Drittheit nicht untergegangen ist, obwohl es so scheint, als würde der Bühnengraben nur zwei Einheiten differenzieren. Das Schauspiel als Technik selbst, also die Inszenierung (der medialen Komponenten und nicht nur der Sprache), ist in diesem Fall die jederzeit mögliche Präsentifikation der Drittheit, der sich das Publikum in jedem Moment bewusst werden

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kann, aber nicht muss. Die Konjunktur der Inszenierungen und Szenografien erweist sich somit als technische Initiation von außertechnischem Erleben, als ein Aushaltenkönnen von vermittelter Unvermitteltheit. Während im Theater noch traditionell die Frage nach dem Autor gestellt wird, ist sie in den Kirmesattraktionen szenografischer Techniken durch die Frage nach dem Wie – also nach der Genealogie, dem Making-of ersetzt. In gewisser Weise ist der Dramatiker als Vermittler einer durch Ingenieure verantworteten Techniksituation zu verstehen. Gleichzeitig muss man bedenken, dass das Primat von Vaterschaft und/oder Autorschaft anders als genealogisch, nämlich durch Präsentifikation, also durch die Reproduzierbarkeit einer Situation, und zuweilen sogar durch deren Simulation initiiert werden kann. Eben das kann man Szenografie nennen – Szenografie als Grammatik der Situativitäten. Ist Situation als Medium von Situiertheit gemeint, wird für dieses System der Ausdruck Szene reserviert. Die Vorstellung von der Szene als einem Raumort ist durch die Vorstellung einer genealogischen Valenz zu ergänzen. Dem Problem von Initiation und Vaterschaft entspricht als literarische Form die Anekdote. Die Anekdote wird gewählt, wenn die Argumentation des Verstehens nicht mehr linear motivisch entfaltet werden kann, sondern durch die Initiation einer Situation erklärt werden muss. Dabei hat die Anekdote die Funktion, das Unerklärliche, nämlich „das Verstehen“ (Akt der Initiation oder „Anagnorisis“) aus der Situation, in der sie erzählt wird, verständlich zu machen. Es geht nicht um das Verstehen von Bedeutungen, sondern um die Korrelation von sinnlichem Leseerlebnis und sinnhaftem Ereignen. So ist es die Aufgabe des Schauspiels im Schauspiel Hamlet, das „Sein“ des Theaters selbst in seinem Zeitspiel zu begreifen.9 Dass die literarisch orientierte Hermeneutik bei Schleiermacher, Sartre und Lacan, um nur diese Protagonisten einer soziologischen Öffnung des Verstehens zu nennen, stets das Inversionsverhältnis des Individuellen und Allgemeinen als das grundlegend sprachlicher Einschachtelung theoretisieren und problematisieren, hat Manfred Frank vielfach gezeigt. Auf diese historischen Anleihen einer erweiterten literarischen Hermeneutik kommen wir zu sprechen. Es geht darum, wie das Verstehen eines Buches als einer medialen 9 Für die Zeit Shakespeares ist die Synchronität von Protestantismus und Katholizismus, von alter und neuer Welt und von Theatralität und (politischer) Repräsentation ebenso entscheidend wie die Frage des Übergangs der Leitungsfunktion (nach Elisabeth I.), also der Autorschaft der Politik, d.h. der generellen Frage, wie Praxis zu verstehen und zu kontinuieren sei.

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Situation einem Autor oder einer Autorschaft (qua „Vernunft“ oder volonte générale), die sich als situiert initiiert, gerecht werden kann. Hermeneutik tut das im engeren Sinne philologisch, indem sie auf die Genealogien der Diskurse, Techniken, Geschichte zurückgreift und die synchronen Situationen als diachronische Operation redigiert, bis Techniken auftreten, die eine synchrone Memoria erlauben und in Inszenierungen erlaubten. Werden diese Diskursformate selbst zum Thema, etwa in der Geschichtsphilosophie Hegels, bekommt die Rede unzweifelbar einen dramatischen Charakter. Sie wird, um sich nicht den Boden unter den Füßen zu entziehen, emphatisch. Das ist kein Selbstzweck der Identifizierung einer Artikulation, sondern der Maßgabe geschuldet, dass Individuen in unterschiedlichen, zunehmend komplexen Situationen und Identitäten übertragbare Regeln praktizieren können müssen, ohne dass sie sich selbst immer wieder über die gesamte Kette der Genesis, der Vergangenheit, der Prädispositionen der Geburt und der Unwägbarkeit der Zukunft Rechenschaft abgeben zu müssen; kurzum: dass es ihnen ermöglicht ist, gegenwärtige Subjekte zu sein, die denken und handeln. Aufgabe einer spezialisierten Szenografie innerhalb der Design- und Dingvermittlung ist zum einen, die Moderierung genau dieser medialen, rhetorischen, symbolischen und sonstwie institutionalisierten Drittheiten zu verstehen, und zum anderen die strategische Störung, Intervention, Kritik und Travestie des technischen und symbolischen Gebrauchs zu verstehen, wodurch sich die Evidenzform in eine Ereignisform verwandelt. Erst in der Referenz zur Regie dieser Evidenzaufhebungen markiert sich ein Verständnis für die notwendige, permanente „Verunbewusstung“ komplexer Handlungsvollzüge auf der Ebene von Erzählungen, Mythen und anderen Automatismen (Wiederholungen und Riten), deren Autorschaft mit Subjektivität identisch ist, insofern Subjektivität mit invers synchronisierte Ereigniszeit zusammenfällt. Das Individuelle wird allgemein, das Subjekt Person. Ob ein Subjekt sich im Spiel verliert oder als Autor gewinnt, markiert einen Spielraum in dem sich Instabilität stabilisiert. Die Regeln dieses Spiels sind von einer klassischen Hermeneutik immer im Sinne des Verstehens als einer Identitätsrelation gespielt worden – nach dem Motto: „Man soll einen anderen so verstehen, wie man sich selbst versteht.“ – Vielleicht ist erst mit Lacan und Sartre eine Perspektive der Relation von Identität anerkannt worden – gerade weil sich das bürgerlich verschulte Subjekt immer als „selbstverständlich“ verstanden hat, erweist es sich die Perspektive des „Von-anderen-für-mich“ als der Evidenz von Vernunft nicht mehr gerecht.

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Eine szenische Hermeneutik widmet sich der Entscheidungssituation zwischen Präsenzperspektive und Sinnperspektive – sei es, dass man einer realen Autorschaft folgt, sei es, dass man diese retrospektiv konstruiert oder wahnhaft erzeugt. Interpretieren heißt wählen – und die problematischste dieser Wahlen, das hat Sartre gezeigt, ist die der Freiheit, sich selbst wählen zu müssen. Eine Weise der Negation von Autorschaft als Mimesis ans Leben ist die Produktion von Ereignis, deren Inszenierung sich in der augenblickshaften Präsenz ihres Erscheinens entzieht. Will man der Autor seiner eigenen Erlebnisse sein, so muss die Inszenierung ihr eigenes Verschwinden erscheinen lassen können und gleichsam „Schicksal“, „Schickung“ oder „Geschick“, also Genie oder Kunstfertigkeit spielen. Sie zielt dann nicht auf Immanenz, sondern auf Verkörperung; nicht auf Identität, sondern auf das Aufrechterhalten einer Dauer heterogener Intensitäten; d.h., sie ersetzt die narrative Teleologie des unendlichen Verstehens durch das Wagnis einer Verführung: den anderen glauben machen, er sei der Autor seiner selbst, oder: sich selbst glauben machen es gäbe einen (großen) Anderen. Die Philosophiegeschichte hat für diese Oszillation den Begriff der Subjektivität reserviert. Alles, was „Bewusstsein-von-sich“ ausmacht, ist die subjektive Beziehung zum A(a)nderen als ein noch nicht medialisiertes Drittes, nämlich die unabgeschlossene und unbegründbare Existenz. Das Ereignis dieser Selbstgabe (Bewusstsein) als Offenbarungsform des Schicksals in Abhängigkeit vom großen Anderen (Gott, die Signifikantenreihe, das Unbewusste etc.), macht die Rolle dessen, der Erklärungen sucht, mit der passiven Rolle jenes Beobachters tauschbar, der eine Inszenierung mit dem Satz begleitet: Hat man eine gesehen, hat man alle gesehen.10 Mit diesem Verhalten negiert man die inszenatorische Differenz des Verführers, der, so die reziproke Logik von Lacan, ja seinerseits nicht wissen kann, von wem er verführt worden ist. Die aufeinander verwiesenen Subjekte sind aber jeweils nur fallweise desituiert, d.h., sie kommunizieren durch wechselseitige passive (allgemeine) und aktive (individuelle) Artikulation oder Darstellung. Im Erlebenlassen (z.B. einer Aufführung) wird die Verführung als beiderseitige Vertauschung von 10

Der Konstitutionsübergang vom anderen (der konkrete andere Mensch) zum Anderen (der sich zur Drittheit hinaufschwingende Initiator, der die Zweiheit (z.B. Akteur – Publikum) induziert) ist von entscheidender Bedeutung. Mit der Schreibweise „der andere“ respektive „der Andere“ kann man dieser gleitenden, manchmal auch synchronen Besetzung nur unzureichend Rechnung tragen. Erschwerend in der Orientierung sind zudem unterschiedliche Schreibweisen und Übersetzungen insbesondere bei Sartre und Lacan.

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Autorschaft und Rezipient in einer inszenierten Vorverständigung (Institution des Theaters) auf Zeit akzeptiert und so die doppelte Relation gewahrt. Inszenieren wird als Praxis aufgefasst, Präsenz als Situation dauern zu lassen und eine auf Rückkopplung angelegte Deutungsvorschrift im Adressaten zu provozieren. Der Akt, der Sinn reproduzierbar macht, bedarf einer Praxis protosemantischer Vorverständigung, etwa eines Gestusses des Zeigens, dem Bilder als „Zeigzeugen“ entgegenkommen. Eine szenische Hermeneutik fragt nicht nach der Realität einer Autorschaft, sondern nach dem Verschwinden des Autors in der Präsenz einer komplexen sozialen Handlung oder medialen Technik, die die Übernahme eigener Autorschaft initiiert, erfordert oder herausfordert. Das in Erwartung und Offenbarung liegende Orientierungsmoment eines sich im (spontanen) Ereignis als abwesend gebenden Autors (Gott) stellt jenen finalen Telos vor, dessen szenische Ausgestaltung in dramatisierten Handlungsketten fingiert werden muss: Das Ende, die Situation (als Dauer) und die Initiation müssen miteinander verbunden und zugleich auf Abstand gehalten werden. Wie Anfang und Ende vermittelt sind, wie sie objektiv und erlebnishaft dauern und überdauern, kann wiederum nicht bloß einer Kontinuität unterstellt sein, sofern das Leben nicht als Text, sondern als „lebendig“, „authentisch“ verifiziert werden soll. Die verführende Fingierung einer Selbstinitiation durch den anderen erscheint als Differenz von Situation und Szenifikation, von Ursprungssetzung und Ursprungsverortung an der Membran dessen, was präsent ist, also der Situation (Urszene) als Praxis. Praxis ist hier durchweg als „Ursprünglichkeit“ zu verstehen. Sinn und Bedeutung repräsentieren dabei die unendliche Kette normierender Akte, die zu redramatisieren sind. Die einfache Präsenz gibt es ebenso wenig wie den singulären Signifikanten. Wir haben es also mit idealen Positionen zu tun, deren Konkretion in jeder gegebenen Situation durch Fiktionen kontingentiert werden müssen. Roland Barthes, so Gerhard Neumann, hat diesen Übergang von symbolischer Praxis in Handlungspraxis auf bewunderungswürdige Weise eröffnet. Es ging ihm um den Aufweis, dass es die Kunst ist, die alle kulturellen Semiosen ‚artifiziell‘ in Szene setzt, deren Spiel auf vielfältige Weise thematisiert, simuliert, problematisiert, subvertiert und (im hermeneutischen Experiment) auf die Probe stellt. Basis von Barthes’ Semiologie ist dabei die Vorstellung von der grundsätzlichen Inszeniertheit des Zeichens, von dessen basaler und unveräußerlicher Theatralität.11 11 Neumann, Zum Phänomen der turns in den Methoden der Literaturwissenschaft, a.a.O., S.28.

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Das, was es zu verstehen gilt, ist das, was im strukturalen Aspekt von Barthes’ Arbeiten dem Experiment ausgesetzt wird, nämlich das Zeichen. Es gilt, nach Baudrillard, die „Ideologie des Zeichens“ zu durchschauen als einem bestimmten, u.a. der Literalisierung geschuldetem Prozess (Semiose), der zu reszenifizieren und wieder in das Spiel zurückzunehmen ist, um ihn zu verstehen. Differentielle Zeichen sind Endlichkeiten, die aus den unendlichen Konstellationen zwischen Menschen und Menschen, Menschen und Dingen – also aus Situationen entwickelt sind – und zwar als das Soziale. In die Situativität treten sie wieder ein, wenn es nicht mehr um ihre informative Identifikation geht, die ein (geschultes) Vorwissen voraussetzt, sondern um ihre Interpretation als Zeichen. Ob eine Geste als Zeichen aufgefasst werden kann, entscheidet sich entweder durch den Kontext, also die Inszenierungsabsicht (Motiv), oder durch Konventionalisierung, da nämlich das Zeichen nicht nur verweist, sondern (performativ) über sich selbst eine Aussage mitgeben kann, wenn es als situativ erfasst wird. Umberto Eco hat diesen Unterschied von der Seite der Semiotik und jener des Textes aus beleuchtet, indem er die Genese auf zwei Ebenen reduziert: „(a) man muß im Text nach dem suchen, was der Autor sagen wollte; (b) man muß im Text nach dem suchen, was er unabhängig von den Intentionen seines Autors sagt.“12 Von der Intention des Lesers, ob sie einem Dankopfer oder dem homosexuellen Kurzschluss eines Wissens oder einem paranoiden Geheimnis nachstellt, das immer das Geheimnis des (großen) Anderen (das „böse Teilobjekt“ – im psychoanalytischen Kontext) ist, ist dabei nicht die Rede. Es gilt, dass man im Text nach seiner kontextueller Situierung zu fahnden hat, nach seiner Verortung in Raum und Zeit. Eco schlägt aber weiter vor, zwischen Kontext und Situation zu unterscheiden. Der Kontext ist demgemäß die Umgebung, in der ein bestimmter Ausdruck zusammen mit anderen, demselben Zeichensystem angehörenden Ausdrücken vorkommt. Die Situation ist der äußere Rahmen, innerhalb dessen ein Ausdruck zusammen mit seinem Kontext vorkommen kann.13

Daraus ergibt sich, sowohl für den Kontext als auch für die Situation, die Frage nach einer Nähe zum Text bzw. zur Situation eines Autors. Sie kann einer Identität beliebig nahe kommen und müsste doch schon die Identifi12

Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation. München 1995, S.35.

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Ebd., S.353. So jedenfalls Ecos frühere Bestimmungen, die er später variiert.

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kation von Zeichen, Autor, Leser als Differenz voraussetzen. Eco bemüht für die Disposition des Interpreten gleichfalls ein Argument, das in der Produktionsgeschichte des Zeichens vorausgesetzt ist: jenes der Ökonomie bzw. der Plausibilität. Die unendliche Interpretation erschöpft sich in der Ökonomie des Lesers, die allerdings nicht nur von seiner Situativität, sondern von der Inszenierung einer Situation abhängig ist: die der Autor im Text gerade nicht auf der Ebene der Zeichen, sondern auf jener der „Manipulation“ der Chora als einer genealogischen Verwandtschaft zwischen Autori- und Leserintention abstimmt. „Autor“ und „Gabe“ werden hier zu Synonymen. Als Beispiel bezeichnet Eco die Ironie, die nur in der heimlichen Vorverständigung situativer Partner verifiziert werden kann und „von keiner semantischen Theorie erfaßbar ist.“14 Diesen Hinweis auf Ironie kann man für alle Inszenierungen gelten lassen: Es gibt kein Theater, kein Spiel, das nicht in einer präsemiotischen Vorverständigung seine Ferne oder Nähe zur zeichengewordenen Konventionalität einer außertheatralischen Praxis kund gibt. In diesem Sinne gilt die Aussage von Barthes von der grundsätzlichen Inszeniertheit des Zeichens, die im Zeichen selbst aufgehoben ist. Bezüglich des Textes gibt es für Eco allerdings eine besondere Ökonomie, die sich aus der Memorialitätsfunktion des Zeichens selbst ableitet. Schauspieler oder Rhetoriker versuchen für gewöhnlich ihre Aussagen in Analogie zu realen Situationsabfolgen zu memorieren. Als Form dieser Abfolge kristallisiert sich die Erzählung heraus, die die idealisierte Gestalt der situativen Handlung des Lebens nachzeichnet. „Wir erkennen die uns Menschen eigenen geistigen Qualitäten [...], vermittels der Beschaffenheit der Handlungen, deren Ursprung sie sind.“15 Wenn aber die Differenz von Theatralität und Realität eine Frage der Interpretation von Handlungen und Handlungsfolgen geworden ist, dann hat die Inszenierung die Aufgabe, eine Ökonomie der Unendlichkeit der Interpretation in Endlichkeit einzuleiten und durchzuführen – und zwar auf der Ebene der Handlungen und dabei auch solcher Handlungen, die durch die Zeichen als Konventionen nicht mehr als Handlungen erkennbar sind. Hier schiebt sich eine für Inszenierungen außerhalb des Theaterbereichs wichtige Unterscheidung ein: jene von Arbeit und Handlung, die im Spielbegriff zum Tragen kommt und die Unterscheidung von szenischer und literarischer Hermeneutik weiter zu präzisieren hilft. Eco schreibt: „Aus den folgenden Kapiteln [seiner Argumen14

Ebd., S.355.

15

Ebd., S.359.

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tation über die Präsuppositionen der Interpretation; R.B.] ergibt sich, daß Sprechen ein In-Szene-Setzen von Geschichten ist.“16 Es steht dabei außer Frage, dass historische Ereignisse ihre eigene Inszenierung in vielerlei Gestalt implizieren und explizieren können, derart, dass von einer „Inszenierung der Geschichte“ als Erzählung gesprochen werden kann. Doch an den Aktionen der Figuren beteiligt sich der Leser nicht, sodass die Interventionsmöglichkeiten bezüglich seiner Handlungsantwort auf die Benutzung eines Buches etwa außerordentlich beschränkt bleibt. Hannah Arendt hat für die Aktionen, die unfrei an die Inszenierung des anderen gekoppelt bleiben, den Begriff „Arbeit“ reserviert.17 Der Begriff „Handlung“ muss dann im Gegenzug dort eingepasst werden, wo man einen spielerischen Umgang z.B. mit dem Buch betreibt. Das geschieht unter anderem in der Kritik, aber auch wesentlich in der Buchgestaltung, der Wahl des Formats, des Materials, der Schriftgröße und so weiter, also dort, wo sich das Buch (respektive der Text) als ein Produkt von Arbeit ohne Autorschaft zeigt. Genau in der Hinsicht erweist sich aber Interpretation auch als szenischer Umgang, und zwar in dem Moment, in dem die Arbeit eines Autors gewürdigt oder überhaupt erst als durch einen Autor veranlasst, nämlich als inszeniert vorgestellt wird. Deutlicher gesagt: Wird Darstellung unter der kommunikativen Erlösung von Arbeit als „für andere“ verstanden, kann von „Inszenierung“ gesprochen werden, die die „freie Handlung“ der Interpretation sein soll, nämlich Initiation. „In diesem ursprünglichsten und allgemeinsten Sinne ist Handeln und etwas Neues Anfangen [sic!] dasselbe; jede Aktion setzt vorerst etwas in Bewegung, sie agiert im Sinne des lateinischen agere.“18 Dass damit unmittelbar eine verschiedene Intention des Sprechenden und des Handelns etwa in der Politik gemeint ist, schließt sich an, zeigt aber gerade in der Inszenierung, dass auch das Handeln – anders als in der Arbeit – strategisch, ironisch und theatral inszeniert sein kann. Szenische Hermeneutik beschäftigt sich also mit der Frage, in welcher Weise heute Handlungen und deren Wirkungen interpretiert werden können bzw. ihre Interpretamente ökonomisch den Interpreten unterschieben, indem sie die chora der Situationen (Arbeit) in ihre Handlungen implementieren. Es geht 16

Ebd., S.360.

17

Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 2013, Arendt weist in ihrer historischen Ableitung der Unterscheidung von Arbeit und Handlung auf das griechische Wort „drama“ und dessen Bedeutung „Handlung‘“hin. (S.233) 18

Ebd., S.215.

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nicht mehr vornehmlich um das Erzählen von Geschichten, sondern um das Verstehen von Handlungsvollzügen und das Ergreifen von Handlungsalternativen in einer Wirklichkeit, die die Vollzugsform von Texten zunehmend als nicht mehr ökonomisch empfindet. Folglich geht es nicht um eine Differenzierung der Ergebnisse, die in den literarischen Hermeneutiken der Kultur des Buches erreicht worden sind, und es geht auch nicht um die Ausweitung der Hermeneutik auf den existentiellen Bereich, der das Leben selbst als eine Geschichte der Zeit und der Techniken der Zeitökonomisierung bedroht sieht. Es geht schlicht um eine Aktualisierung von Hermeneutik für den Bereich synchronisierbarer Handlungspraktiken. Szenifizierungsfiguren technisch so einzusetzen, dass sie die Akzeptanz dauern lassen, von einem anderen Subjekt gelenkt zu werden, oder dass sie subversiv den anderen glauben lassen, er konstituiere die Fiktion aus sich selbst, das ist eine seit der Antike vielfach erprobte rhetorische Form, die nicht nur auf der symbolisch-rituellen Ebene der Konventionen, sondern auf der der Handlungen (Intrigen und Verführungen) selbst Anwendung findet. Die Möglichkeit der Induktion des Selbstverhältnisses durch den Absender der Deutungsvorgabe macht den praktischen Zweck theatraler Szenifikation aus: performative Präsenz als Gabe zu erleben, die Offerte des Sinns neu zu eröffnen. Das Problem, den Autor zu verstehen, ist durchaus reziprok dem des Autors, zu verstehen, wie man vom anderen respektive den anderen verstanden wird. Das geht nur, wenn der Prozess des Verstehens durch das Medium der Öffentlichkeit, der Szenifikation hindurchgeht. Jeder Autor will deshalb nicht nur vom anderen verstanden werden, er will das Wie des Verstehens rückkoppeln, d.h., er muss die Strategie szenifizieren. Ein unkompliziert zu kontrollierendes Mittel dazu ist die Zwangsfolge von Narrationen des Mythos, die in der Moderne durch Logik radikalisiert werden. Auf paradoxe Weise evozieren Szenifikationen das, was sie selbst als Vorgeschichte der Signifikanz sind. In ihnen geht es um das Drama des unendlichen und endlichen Verstehens und nicht um informatorische Abfuhr von Identitätszweifeln durch einen Autor. Dass das in der Dauer/ Begrenztheit von Aufführungsereignissen ausgehalten werden kann – insbesondere dann, wenn das Opfer der inszenatorischen Mühen, Techniken, Proben und Ängste in scheinbar opferloser Offenbarung sich als leichte Gabe gibt – beschert der Inszenierung eine besondere gesellschaftliche Legitimation. Denn dass das Leben gut ausgeht und dass es vollständig kontingent ist, diese Auffassungen werden durch Geburt und Tod dementiert und durch den dramatischen Helden vorgeführt. Auf der Suche nach seiner

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eigenen Autorschaft wird der Vater erschlagen, die Mutter geschändet und das Schicksal eröffnet: von der Geburt gezeichnet und den Tod aufschiebend, wehrt sich der Heros gegen die immer schon herrschende Signifikation, die ihm eingeschrieben ist. Die Anmaßung des Helden, sein eigener Autor, nämlich handelnder zu sein, erweist sich als permanente Heiligung des Opfers. Wird es denn als heilig aufgefasst, verwandelt es sich in einen sinnvollen Vollzug gesellschaftlicher Verweisungen und Subversionen. Es gilt, den Szenografen nicht als Autor, sondern als Effekt seiner möglichen Unableitbarkeit zu verstehen. Es ist gerade ein Schema von Inszeniertheit, dass die Autorisierung im anderen stattfindet, dass die Inszenierung im Negativen einen Deutungsvorschlag initiiert, ohne dass eine Bedeutung bezüglich eines bestimmten medialen Codes erzwungen wird. Nun findet diese Form der wechselseitigen Konstitution von Autorschaft kommunikativ schon immer im „Medium“ der Praxis statt, und es ist sinnlos, einer Hermeneutik das Attribut „szenisch“ zuzusprechen, wenn damit nicht gerade derjenige technische Effekt angesprochen wird, den die Inszenierungskünste mittels Echtzeit-, also Präsenzmedien gegenwärtig erreicht haben, nämlich im Event kontingente Situation und autorisierende Szenifikation als identisch erscheinen zu lassen, mithin die Präsenzeffekte zu Gunsten der Sinneffekte19 aufzulösen, also „Nichtinszenierung“ in Schocks und Affekten als authentisch zu inszenieren. ‚Authentisch‘ und ‚performativ‘ entfernen sich in ihrem Bedeutungsgehalt. Die Idee, zwischen der Inszenierung und dem Authentischen zu unterscheiden, wird aber, so meine Kernthese, den Inszenierungsbemühungen nicht gerecht. Inszenierungen sind nicht eine Metaphorisierung der Welt, sie machen deren ontologischen Gehalt aus. Die Ableitung dieser Idee, wie ich sie anhand einer Abbildung des Isenheimer Altars beispielhaft zu zeigen versuche, entspringt einer Weltauffassung, die nicht mehr theologisch, sondern technisch ihre alternativlose Unableitbarkeit, ihre autorlose Praxis feiert, weswegen sie unablässig Autorschaft und Andersheit vindiziert und inszeniert. 19 Dass die Einführung der Unterscheidung von „Präsenzeffekten“ und „Sinneffekten“ an

ein „Oszillieren“ gebunden ist, hat Hans Ulrich Gumbrecht formuliert. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt am Main 2004. Er hat auch die wissenshistorische Verortung aus dem Engpass einer „Hermeneutik des Verstehens“ herauszuführen versucht. Was unter dieser Oszillation und – bleiben wir beim technischen Vokabular – unter Amplituden- oder Frequenzmodulation (Gumbrecht bezieht sich in Präsenz auf den Rhythmus, ebd. S.223f.) zu verstehen ist und welche Rolle dabei Rechteckgeneratoren (Digitalität) spielen, ist nicht Aufgabe des vorliegenden Bandes: Es fehlt immer noch eine Philosophie der Medienelektronik!

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Wenn die mittelalterliche Theologie ausgehend von Platon die Offen­barung in den Dingen als deren Erscheinung feiert (Diaphanität), dann analogisieren sich das Diesseits und das Jenseits nicht mehr im Sinne der Ähnlichkeit, sondern im Sinne der Gleichheit. Es ist die gleiche anagogische Disziplin, aus der die moderne Hermeneutik die Diaphanität des Mediums ableitet. Nur wenn man durch die Buchstaben hindurchsieht, versteht man ihren Sinn. Gleichwohl handelt es sich um ein Substrat der schwarzen Kunst. Das heißt aber, dass die Buchstaben, der Text und mehr noch die Interfaces nichts anderes sind als Offenbarungsverweise einer einzigen Welt, deren Ableitungsgeschichte in ihrer Ontologie entdeckt werden muss und nicht irgendwie dahinter: im großen Unbekannten namens Autor (Gott), der sich als Blender des theatrum mundi erweist. Die Theologie hat in der Selbstverantwortung vor Gott als dem, der ich sein könnte, stets auch den Kern des Protestantismus gesehen, dem wir gleich bei Grünewald begegnen werden. Die analogische „Identität“ kann selbstverständlich nicht an ihr selbst gezeigt werden – ohne eine Brechung im Dritten, Medialen. Sie muss sich zeigen, und zwar genau in den Sinne, in dem Heidegger in vielfachen Wendungen den Modus der Zeit als ein „es gibt“ formuliert hat: „Es gibt Zeit.“ Diese Aussage bestätigt den Zusammenhang von Präsenz, Offenbarung und Zeitlichkeit als einen ontologischen und nicht als einen metaphorischen. Gleichwohl stellt sich sofort die Frage nach dem „Es“. Ich beantworte sie mit dem Hinweis auf ihre Verwesung in die Kausalitäten der Technik, also mit dem Verweis auf Mathematik – was im Übrigen heißt, an die Proportionslehre der Neuplatoniker anzuschließen, von der Grünewald sich im Isenheimer Altar zu emanzipieren beginnt. Was das Mittelalter, aus dem sich die Tradition der Hermeneutik als einer Offenbarung des Buches ableitet, noch als göttliche, also vermittelte Einheit individueller Autorschaften dachte, teilt sich in eine physikalische Authentizität und in eine Inszenierungswelt – einer befreiten Zeit, die man sich als autonome Gabe selbst gibt: Alles, was von diesem Standpunkt aus inszeniert ist, ist von der Gnade abhängig, von vornherein als theatral, „nicht ernst“ anerkannt zu werden, also das Arbeitsopfer jener physikalischen Authentizitätsbehauptung zu negieren. Das Sonnenlicht, das durch die Kathedrale fällt, ist für uns entweder ein physikalischen Phänomen, das als solches erklärt werden kann, oder ein ästhetisches Schauspiel, das religiöse Gefühle in uns erwecken kann, aber nicht zu erwecken braucht. Die verschiedenen Ebenen unserer Erkenntnis haben fast nichts miteinander gemein.20 20 Otto

von Simson: Die gotische Kathedrale. Darmstadt 1992, S.84.

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Haben sie wirklich nichts miteinander gemein? Ist das „physikalische Phänomen“ nicht die radikalste Form einer Erweckung? Was das hermeneutische Problem der Szene angeht, ist auf der Ebene des „Es gibt“ eine Ereigniswelt entstanden, die das Problem der Inszenierung erneut aufwirft, indem sie die seit 500 Jahren kultivierte Trennung von Opferabschaffung und Gabe der Medientechnik unterwirft, womit wir die Frage „Was ist inszeniert?“ nicht mehr eindeutig im Sinne der Aufklärung clare et distincte materialisieren können. Deswegen erscheint es legitim, die in den modernen Medien weggezauberte Materialität, erneut nach den ontologischen Resten zu befragen, die sich ästhetisch nicht mehr preisgeben. Inszenierung als gleitende Praxis bruchlosen Lebens bedarf einer Inszenierungsform wechselseitiger Abgrenzung, in der der „Leser“ als erweiterter „Autor“ die Richtung der ökonomischen Zirkulation noch zu unterscheiden weiß, um sich „Subjekt“ nennen zu können. Das bedingt aber, dass man zwischen der Kontingenz einer Situation und der Situativität einer Szene ein Drittenmoment einfügt: Das heißt, dass die ökonomische Zirkulation alles andere als einem platonisch-mittelalterlichen Ideal unterworfen ist, wenn sie zwischen dem protestantischen Symbolismus einer Weltmetapher und der katholischen Zeitek­ stase einer stets noch andauernden bruchlosen Offenbarung von Materialität unterscheiden kann. Grünewald lehrt uns also etwas über die Situation der Vorgeschichte der Aufklärung, indem er szenisch darauf verweist, dass um 1500 die Einheit der Welt, der Konfession und des Buches verloren zu gehen droht, dass aber diese Drohung zugleich mit einer gleichfalls beunruhigenden Ausweitung des Spielraums zwischen dem großen Autor (Gott) und dem kleinen Autor (Mensch) einhergeht. Der Spielraum der Szenifikation ist als Übergangsphänomen ein Ort der Nichteindeutigkeit, in welchem die Bedeutungsressourcen, die normativen Akte und die Handlungsverbindlichkeiten reserviert werden können, und in dem „ich“ und „anderer“ als unendliche und unendlich unfertige Wesen aufeinander in Endlichkeit verweisen. Unendlichkeit ist gebannt durch die wechselseitige Anerkennung des anderen, nämlich als Formdarstellung szenischer Praxis. Eine szenische Hermeneutik hat sich auf die intermediale Oszillation der Verwandlung und Auflösung jenes Mediums zu konzentrieren, das sich in der Oszillation von Geburt und Tod konstituiert und zugleich aufhebt: des dezentrierten Subjekts respektive seiner Repräsentanz als Selbstbewusstsein, das es von sich inszeniert. Wesentlich in dieser Einsicht ist die Anerkennung der Verführungssituation durch den anderen, die nicht nur rauschhaft erfolgt, sondern ins-

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titutionell: Verführbarkeit selbst wird zur Technik der Freiheit von Normen und Signifikationen. Ein Beobachter wird zur Einsicht verführt, selbst Autor zu sein, indem sich in ihm das Deutungsangebot einer sich selbst annullierenden Autorschaft (Regie) weiterträgt. Er legitimiert retroaktiv den Entwurfscharakter einer szenischen Initiation in einer sozial verfassten Dauer.21 Subjektivität wird nicht selbst gemacht, sondern verliehen, kreditiert. Inszenierungen sind stets auf Initiation und Zukunft hin motiviert, da sie sich erst am Ort des anderen ereignen sollen. Gleich ob dieser Ort des anderen real (etwa in einer sozialen Situation) oder imaginär (im Lesen eines literarischen Textes) eröffnet wird: Stets wird die kontingente Situation nur im Modus einer kontinuierlichen Szenifikation, einer Rückaneignung des auf Zukunft ausgerichteten Entwurfs produktiv werden können, d.h. retrospektiv autorisiert als eine vom anderen mir offerierte Möglichkeit. Insofern ist zwar nicht vorhersehbar, was der Entwurf im anderen bewirkt, aber performative Formen, können methodisch oder intuitiv ein Spiel der Oszillation ermöglichen oder verhindern. Dabei ist Autorschaft aufs Engste mit der legitimierenden sozialen Zeit von Autorität verknüpft, also mit der Sinnstruktur der Narrative. Hier erscheint Macht nicht als Raumproblem, sondern als Zeit ihrer begrenzten Dauer. Verfügung und Verführung des anderen werden nicht nur ertragen, sondern gefördert durch Anerkennung als Vorverständigung der JetztMomente kommunikativer Situationen. In komplexen Gesellschaften mit hohem Innovationsdruck und großer Flexibilität kann man Legitimitäten nicht mehr über Genealogie oder in Praxis geronnener Erfahrungzeit bilden, sie soll vielmehr in autopoietischer Simultaneität erfolgen.22 In der vorliegenden Arbeit wird nicht auf spezifische Inszenierungen eingegangen, sondern auf ihre diskursive Repräsentation in Texten verwiesen. Inszenierungen als narrative „Autoritative“23 problematisieren und 21

„Dauer“ ist gerade nicht im Sinne eines Zeitraums nach Bergson gedacht, sondern im Sinne der Beobachtungs- oder Aufführungsdauer szenischen Spiels, also dem Aushaltenkönnen von Selbstsein und Selbstentfremdung in einer Situation.

22 Bekannt ist dieses Legitimationsproblem durch die Protokolle des Gesprächs zwischen

Napoleon und Metternich am Vorabend der Völkerschlacht: Für Napoleon ist es unmöglich ,den Frieden und seine Niederlage anzunehmen, weil Legitimation einzig durch den Sieg ermöglicht ist und nicht durch die Autorisierung einer unendlichen Adelsgenealogie. Damit stehen sich zwei Legitimationsoptionen gegenüber: die performative und die generative. ‚Performativ‘ und ‚autopoietisch‘ sind aber nur Begriffe für ein Zeitproblem der Synchronizität bzw. der Simultaneität und somit Ausdruck der Teilhabe an Vermittlungsstrategien.

23 Den Begriff hat Richard Sennett entwickelt, in: Ders.: Autorität. Frankfurt am Main 1985.

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protokollieren Präsenzen in Kontinuitäten. Inversionslogisch erfüllen sie damit das Argument eines sozialen Tauschs von Zeit und Ereignis, indem die Tauschpartner sich auf Nichteindeutigkeit kreditierend erklären können, um neue und andere (emergierende) Verständigungen zu motivieren, als die, welche durch Konventionen (Zeichen und Sinn, aber auch Kritik und Wissenschaft etc.) festgelegt werden. Man kann die Frage der Hermeneutik umkehren: „nicht: Wie ist Verständigung möglich?“, sondern: „Warum wird Identität trotz aller Einsicht in den unendlichen Prozess des Verstehens als Telos von Kommunikation aufrecht erhalten?“ Doch nur, weil gleichzeitig die narrativen Möglichkeiten auf wenige mythische Schemata begrenzt werden. Ist das dem Autoritätspotential technischer Informationalität geschuldet? Inszenierungen sind Problemexplikationen von jenen Problemen, die aufgrund ihrer aporetischen oder paradoxen Relation ursprungslogisch oder teleologisch nicht auflösbar sind, und deshalb erfordern sie innerhalb einer Welt vorgegebener technischer Handlungsvollzüge Individualität, um nicht als paradoxer oder aporetischer Unsinn gelten zu müssen. Gerade diesbezüglich hat sich zuletzt die philosophische Hermeneutik aber engagiert gezeigt. Da eine szenische Hermeneutik von Handlungspraxis und auch von Sprachhandlungen ausgeht, muss sie zwischen Szenifikation, Inszenierung und Praxis Kriterien entwickeln, die an Initiationen und Einsprüchen von Deutungsvorschriften ansetzen. Es ist paradox, Eindeutigkeit (und Verstehen) über Identität zu erklären, wenn sich Erklärungen als Narrative motivieren, wenn der Sinn des Verstehens gerade in seiner innovativen, evolutiven und permanenten Überschreitung besteht. Da Szenifikationen Paradoxien nicht auflösen müssen, weil sie Präsenzformen sind, thematisieren sie funktional Erwartungs- und Erfüllungswiderstand – Fiktionalität als Erfüllungsnegation, den agonischen Kreislauf des Theatralen. Die Frage, ob ein Ereignis inszeniert oder nicht inszeniert sei, lässt sich nicht ontologisch, sondern nur im hermeneutischen Vollzug, also in der Interferenz von Autorschaft und Interpretation durch die Rolle eines wechselseitigen Beobachtens und Darstellens bestimmen. Diese Rolle ist der freie Platz, den die Inszenierung schenkt. Welche Sinnerwartung erfüllen die immer spektakuläreren, realitätstransformierenden Inszenierungskünste, wenn sie den theologischen Gehalt der Erfüllung des Verstehens in der Identität eigener Autorschaft als (Selbst-)Offenbarung initiieren und zugleich verweigern? Die vorläufige Antwort lautet: Weil Inszenierungen keine ontologische Feststellung erlauben, ökonomisieren sie den Modus unendlichen Verstehens in Endlichkeit als Fiktion, nämlich vorläufig und für eine festgelegte Dauer.

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Die vorliegende Arbeit nimmt erstens diskursive Positionen hermeneutischer Zeitbestimmungen von Selbst- und Fremdinszenierungen in den Blick, die auf Rückverkörperung symbolischer Normen in Handlungen und praktischen Techniken orientiert sind. Sie arbeitet zweitens mit Autorschaften und Zitaten, insofern jedes Zitat den Sprung der Deutung realisiert. Einerseits werden frühromantische Ansätze befragt, die der Theologie als Frage nach der absoluten Inszenierungsmacht noch nahe liegen (Schleiermacher, Kierkegaard, Sartre), andererseits solche, die in der Traditionslinie von Dilthey, der Trennung von natur- und geisteswissenschaftlicher Inszenierungsmacht liegen. Drittens wird eine Argumentationslinie verfolgt, in der die Gedanken der Offenbarung, der Öffnung und des Spiels der Unvermittelbarkeit eingehen (Heidegger, Gadamer, Leví-Strauss, Luhmann u.a.). Es geht in der vorliegenden Arbeit nicht um die Darstellung der ästhetischen Praktiken, sondern um eine Genese der Evidenz, in der eine sich selbst erzählende Lebenstechnik mit einer Alltagssituation gleichgesetzt wird, deren Dauer insofern unbestimmbar ist, als sie nicht als eine vom anderen ausgehende Initiation zur Interpretation aufgefasst wird. Gerade weil sich fürsorgliche Technisierung von Handlungsvollzügen und Verdeckung der Schuldübertragungen in eine Artistik der Lebensbewältigung und der eindeutigen Gebrauchsbeziehung verwandelt hat, kann „Nichtinszenierung“ als widerständig, opferreich und schuldbelastet gelten. Weil sich Schuld aber gemäß den Gesetzen technischer Übertragung nicht entmaterialisieren lässt, müssen „die Medien“ die List der Inszenierung dramatisieren – muss sich jede theatrale Situation einer Inszenierung letztlich Rede und Schrift beugen. Damit ist freilich noch nicht gesagt, ob Sprache den Schuldzusammenhang aufdeckt, wenn sie der hermeneutischen Bewegung folgt oder ihr professionalisiert szenografisch Ausdruck zu verleihen anstrebt. Es geht mithin um eine Aufklärung der Evidenzbewegung von (Medien-)Gabe und (Arbeits-) Opfer, also dem Vergleich zweier Praktiken. Der fiktionalisierte Tiefenraum von Bedeutungszugängen, den die literarische Hermeneutik kultiviert hat, soll zu Gunsten der Betrachtung einer Ökologie des Performativen, der Präsenzen aufgegeben werden, wie sie in einer existentiellen Hermeneutik eröffnet worden ist. Denn die Bedeutung erweist sich analog der Verdinglichungen als passagere Stillstellung, in der Präsenz einzig zu dauern im Stande ist.

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Prolog. Deuten, Zeigen und Sichzeigen als Handlungen a. Das geschlossene Retabel Das Retabel des Isenheimer Altars wurde zwischen 1510 und 1516 in Auftrag gegeben. Es besteht aus neun gemalten Tafeln von Mathias Grünewald und zwei Schnitzereiansichten von Nikolaus Hagenauer. Der Altar ist heute das Prunkstück im Museum Unterlinden in Colmar.1 Im geschlossenen Zustand zeigt die mittlere Tafel die Kreuzigungsszene mit fünf Personen. Auf diese Tafel wollen wir uns konzentrieren. Dominierend in der Mitte ist der sterbende Christus am Kreuz, links die Jungfrau Maria, Maria Magdalena und der Jünger Johannes. Rechts steht, mit einem Buch in der linken Hand und mit der rechten auf den Gekreuzigten weisend, Johannes der Täufer. Zu seinen Füßen befindet sich, gemäß der Offenbarung des Johannes-Evangeliums, das Lamm Gottes mit den Opfer- und Gabensymbolen Kreuz und Kelch. Über der Beuge des rechten Armes, der auf den Gekreuzigten deutet, ist auf schwarzem Hintergrund mit roten Antiquaversalien (Minuskeln und Majuskeln) eine nicht mehr sehr gut zu lesende lateinische Inschrift angebracht. Es sind Worte des Johannes-Evangeliums: „Illum oportet crescere, me autem minui“ („Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“).2 Eine kleine Broschüre, die es im Museum zu kaufen gibt, erklärt die Geste der Szene: „Johannes der Täufer, der letzte Prophet des Alten Testaments, deutet mit dem Finger auf Christus, den ersten Propheten des Neuen Bundes.“3 Auf einer anderen Tafel befindet sich einweiterer Verweis auf ein Buch. Sie behandelt die Verkündigungsszene Marias. Diese kniet betend vor einem Lesepult, während der Erzengel Gabriel ihr die Frohe Botschaft verkündet: „Fürchte dich nicht, Maria, denn du hast Gnade

1 Mit ca. 350000 Besuchern ist das Museum Unterlinden das meist besuchte der französischen Provinz. Seit 2013 wird es mit großem Aufwand erweitert. Federführend ist das Architekturbüro Herzog & de Meuron. – Die Zuschreibung zu Hagenauer und Grünewald sind kunstwissenschaftlich seit den 1960er Jahren gesichert. Vgl. Wer war Matthias Grünewald? In: Ewald M. Vetter: Grünewald. Die Altäre in Frankfurt, Isenheim, Aschaffenburg und ihre Ikonographie. Weißenhorn 2009, S.198-218. (Abbildung siehe S.45) 2

Joh 3,30.

3 Pantxika Béguerie: Museum Unterlinden, Colmar. Der Isenheimer Altar. Straßburg 1991,

S.18.

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gefunden bei Gott!“ (Lk 1.30)4 Ist es Zufall, dass hier, wie bei Johannes dem Täufer, die Initiation einer Vaterschaft (Zeugung und Taufe) nicht anders ausgedrückt werden kann als über den Korpus der Schrift – also dem, was man im Gegensatz zum vertikalen Bild „die Bewahrung des patriarchalen Signifikanten über der Horizontalen des Textes“ nennen kann?5 Bevor man die Kreuzigungsszene zu deuten wagt, markiert sich die Stellung Johannes des Täufers als Differenz von Bildpräsenz und Textzeugnis und als theologische des Ereignisses in presentia (als Malerei) gegenüber der memoria des Textes. Der Täufer zeigt diese Differenz von Zeigen und Darstellen in der Aufführung seines Körpers, der zum Medium eines grundlegenden katholischen Problems geworden ist – und zwar in jenem historischen Moment, in dem Grünewald als Kunsthandwerker mit den protestantischen Abweichungen der kanonischen Darstellungen konfrontiert gesehen wird. Auch die Kunstwissenschaft hat in der mächtigen, autoritären Gestalt des Täufers, der sich ‚minuiert‘ gegenüber dem, der im folgte (Sohn Gottes und „Sohn“ des letzten Propheten), ein ambivalentes Zeitbild gedeutet. Während nämlich die drei linken Figuren in ihrem Schmerz auf die Authentizität eines dokumentarischen Ereignisses verweisen, das sich in diesem Augenblick vollzieht, „liegt die Bedeutung des Johannes in dem Kontrast zu dem historischen Geschehen. Was ausweglos und wie ein Ende erscheint, wird durch das Wort des Vorläufers in seine eigentliche Dimension gerückt.“6 Dadurch, dass sich die Prophezeiung erfüllt, wird die neue Zeit initiiert. Die mediale Problemeröffnung Grünewalds besteht nicht nur darin, dieser Differenz im Bilde Ausdruck zu verleihen, sondern überhaupt Deutung als einen hermeneutischen Akt in Abhängigkeit von der Zeit, von einem regressiven Vorurteil und seiner progressiven Überschreitung her zu verstehen. Man muss 4 Die Szene der Unbefleckten Empfängnis ist im Johannes-Evangelium nicht verzeichnet,

jedoch bei Lukas. Bei Markus erfolgt die Initiation Jesu am stärksten durch den Taufakt. Matthäus (Mt 1,23) wiederum bezieht sich in der Empfängnisszene auf Is 7,14 und die Taufszene in Mt 3,15. Im Buch der Tafel der Verkündigungsszene steht geschrieben: „Siehe eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Imanuel“ (Is 7,14) Bibelzitate aus: Vinzenz Hamp / Meinrad Stenzel / Josef Kurzinger (Hg.): Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes. Aschaffenburg 1970.

5 Der Isenheimer Altar zeigt noch eine dritte Abbildung von Büchern: Im Hintergrund der Verkündigungsszene steht ein kleines Regal mit fünf Büchern. Oben, im gotischen Gewölbezwickel der Verkündigungsszene, steht eine Figur des Propheten Jesaja, der allerdings nicht liest, sondern das Buch zeigt. Zu den textlichen Verweisen gehört auch eine Frage des Antonius auf einem Zettel auf der Tafel seiner Peinigung. 6 Vetter,

Grünewald, a.a.O., S.32f.

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erst allgemein verstehen können, um auf den individuellen Sinn, der sich als Affekt gibt (Trauer), rekurrieren zu können. Diese vorlaufende und zu sich selbst an einem anderen Zeitort zurückkommende Bewegung ist jeglichem hermeneutischen Zuschreibungsakt asynchron eingeschrieben. Noch bedeutsamer wird dieses doppelte Zeitverhältnis, wenn wir wissen, dass das Retabel in seiner wichtigsten Funktion den Zyklus des Kirchenjahres begleitet und damit einen zyklischer Kalender vorstellt. So verbindet sich eine zyklische Zeit der sich im Abendmahl wiederholenden Offenbarung mit einer neuen Zeit fortschreitender Geschichte, die in der Darstellung des Kreuzigungsereignisses als Konflikt mitgedacht werden muss.7 Die Geburtsdaten von Jesus verweisen auf die Wintersonnenwende, jene von Johannes auf die Sommersonnenwende. Diese Hinweise gestatten uns, die Frage der Situativität und der Gleichzeitigkeit der versammelten allegorischen Objekte und Figuren in den Blick zu nehmen, die sich „dem Denken in Kausalzusammenhängen entzieh[en].“8 Vetter verweist in einer Anmerkung auf die Unterscheidung von symbolischem und historischem Dokument, die für die allegorische Versammlung ungeachtet der Zeit (Synchronizität) reserviert wird. Denn die Bibel kann aufgrund des historisch zwei Jahre vorher erfolgten Todes von Johannes dem Täufer9 dessen Anwesenheit bei der Kreuzigung nicht bezeugen. Der Zeuge der Initiation und ihr eigentlicher „Vater“ muss also aus einer anderen Zeit kommen. Das ist für die Allegorie im Sinne eines Wissens vor dem Wissen, also einer Erfahrung, verpflichtend. Und damit ist im Verhältnis der Zeitweisen die Memoria als Wiederkunft angesprochen, die eine Umkehr der Zeit dann herausfordert, wenn sie nicht zyklisch immer wieder sich selbst in Erinnerung bringen kann. Der (Offenbarungs-)Ritus ist 7 Ebd., S.38f und S.74ff. Vgl. Ps 103,19. Offenbar hat Grünewald am 1. Oktober 1502 tatsächlich einer Sonnenfinsternis beiwohnen können (ebd., S.62, Anm. 115). Auch andere Elemente des Retabels deuten auf die Aufnahme dieses Ereignisses für die Farbgebung der Lichtstimmung hin. Dass auch das Licht zyklisch nach Jahreszeit „größer“ und „kleiner“ ist, zeigt, wie offen Grünewald eine Deutung dieser Szene setzt, die ja auftragsgebunden in keinem Fall die gültige theologische Ikonografie überschreiten will. Vgl. ebenso: Max Seidel: Der Isenheimer Altar von Mathis Grünewald. Stuttgart 2008, S.81. 8 Vetter, Grünewald, a.a.O., S.53. Dass es weitere Bildnisse gibt, die den Täufer in die Kreuzigungsszene integrieren, und dass der überlange ausgestreckte Zeigefinger eine übliche ikonische Geste ist, betont Vetter allerdings auch. (S.30-38) 9

Siehe Mt 14,10. Dass Johannes geköpft, Jesus aber gekreuzigt wird, darauf deuten ebenfalls die Worte crescere und minui hin. Die Nachfolge Petri und entsprechend der umgekehrte Kreuzigungsakt verweisen wiederum auf eine geschichtliche und nicht auf eine zyklische Zeit.

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somit an sich gedächtnis- und zeitlos, weil er sowohl einer biologischen als auch einer astronomischen Zeit eingeschrieben ist. Hinter diesen Problemen – allegorische Gleichzeitigkeit heterogener Elemente, die als „postmodern“ oder „barock“ bezeichnet werden –, verbirgt sich das Problem der Initiation, aber auch das des kommenden Anfangs. Wie und in welchem Verhältnis knüpft Anfängliches an Bestehendes an, lässt es sich zu allererst identifizieren im Kontrast zum Vorigen als ein Anderes? Das wesentliche, auch theologische Problem scheint von Grünewald erfasst, indem er die Situativität der Elemente in eine exakt choreografierte Szene übersetzt: Er identifiziert die Gleichzeitigkeiten mit Problemen seiner Zeit, die zu entziffern er dem Betrachter aufgibt. Offenbar hat sich Grünewald selbst in einer Krise der Zeit gesehen, die am Beginn einer zunehmend historisch gedachten Ordnung steht, in der die Funktion der Offenbarung und der Transsubstanziation an Bedeutung verlieren können, weil sie (protestantisch gedacht) durch Symbolisierung ersetzbar werden und einer modernen Variante der Memoria der Initiationsereignisse Vorschub leisten. Genau hierin vertieft sich die Idee einer szenischen Hermeneutik: Sie beschäftigt sich nicht mit der Frage, wie man den Autor (Initiator) in seiner Zeit versteht, sondern wie dieser selbst sich in seiner Zeit verstanden hat, in der immer zugleich auch alle anderen historischen Zeitweisen mehr oder weniger präsent waren. Das System der Allegorisierung dient somit nicht nur der Autorisierung von Ideen, sondern der Synchronisierung einer szenischen Geste: eben jener, mit der der Täufer auf die historische Präsenz und auf die Memoria des Buches verweist, und in der die Autorschaft zuerst durch den Leser erschaffen werden muss, sodass in gewisser Weise jede Sinngebung den Vaterschaftsprozess umkehrbar macht, diesen zumindest rückaneignet. Wenn Patriarchalgenese und somit die progredierende Zeit reversibel gedacht werden, muss es einen Inversionspunkt geben, an dem sich Regression und Progression begegnen. Diesen Begegnungsort malt Grünewald im Karfreitagsereignis der Kreuzigung. Als regredierend kann Zeit aber nur gedacht werden, wenn nicht mehr von einem zyklischen (mythischen), sondern von einem kausalen oder thermodynamischen Zeitbild, von einer Zeitfucht ausgegangen wird. In diese Zeitkonflikte sehen wir demnach Grünewald um die Jahre 1509/11 und/oder 1515/16 versetzt. Als historisch kausal für die Verwirrung darf man die Entdeckung Amerikas 1495, die Erfindung des Buchdrucks ab 1460 und die schon vor Luther beginnende Reformation (Anschlag der 95 Thesen im Jahr 1517) ansetzen. Als für die Zeitdarstellung wichtigste Initiative gilt indes nicht die des Kalenders und der Problemati-

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sierung von zyklischer Zeit und progredierender Zeit, sondern der Umstand, dass der Antoniterorden, der sich der Krankenpflege widmet und den Altar unter Guido Guersi in Auftrag gab, mit ihm die Heilung von den Seuchen der Zeit erwartete, die von „Gottlosigkeit“ durchsetzt ist, weil sie kosmologische Autorschaft in Zweifel stellt.10 Hierzu und in Bezug auf Antonius und die Heilung von den Krankheiten der Zeit zeigt sich auch die tiefgreifende theologische Veränderung in der Erwartung von Gottes Eingreifen in sein desaströs aporetisch empfundenes Uhrwerk. Doch kommen wir von der vorausgreifenden These zur Taufe als einem Initiationsritual, also vom Zeigen der individuellen Benennung als Identifizierung von Sinn und Zeit. Auf der Retabeltafel der Versuchung des Heiligen Antonius, die für die Stifter des Altars darzustellen unumgänglich war, beantwortet sie sich durch einen scheinbar zufällig drapierten Zettel, der eine Frage liefert, die eine Antwort offen lässt – und eben diese mediale Inszenierung verweist auf Selbstinitiation durch Glauben hin und verdrängt somit die Frage nach der Schuldableitung an den Vater. Ubi eras ihesu bone eras quare nonaffuisti ut sanares vulnera mea Wo warst du, guter Jesu, wo warst du, warum bist du nicht hier gewesen und halfest und heiltest meine Wunden?11

Der Glaubensakt wird, könnte man sagen, protestantisch auf Individualität verlagert und bekommt dadurch einen unumkehrbaren und nicht mehr zu bändigenden pluralen Sinn – und zwar in dem Maße, wie er durch wissenschaftlich-argumentative Kausalketten universalisiert zu werden verspricht. Nach der Legenda aurea antwortet Jesus: „Antoni, ich war bei dir, doch gelüstete mich’s, zuzusehen deinem Streit; nun aber, da du so mannlich hast gestritten, will ich deinen Namen groß machen in aller Welt.“ Diese Antwort kann nicht ganz befriedigen. Was wäre das für ein Gott, den es gelüsten sollte, untätig zuzuschauen, wie Antonius einen verzweifelten Kampf auf Leben und Tod führt? Während in vorchristlicher Zeit „Initiation“ stets auf „Autoritäts-Abhängigkeit“ fußte, erfährt Antonius die Katharsis dadurch, dass er in seiner größten Not und Hilflosigkeit aus völliger Freiheit dem Christus bedingungslos vertraut; derjenigen „Autorität“, die die Freiheit des Menschen unter allen Umständen unangetastet lässt.12 10

Zur Situation der Auftragsausführung siehe Michael Schubert: Der Isenheimer Altar. Geschichte – Deutung – Hintergründe. Stuttgart 2013, S.17ff.

11

Ich zitiere nach Schubert, ebd., S.120.

12

Ebd., S.120f.

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Wie aber der Antoniterorden unter der Bedrohung des Antoniusfeuers die Heilkräfte bündelt und sich als Autorität initiiert, so kann gleichwohl die bedingungslose Freiheit, die nicht in medizinwissenschaftlicher Kausalität gebannt ist, im gesellschaftlichen Sinngebungsprozess integriert werden. Diese Funktion der Bedeutungsnormierung von Sinn übernimmt in Bezug auf die theatrale Szene das Publikum, wenn es durch Gesten, Lacher, Zwischenrufe die Glaubwürdigkeit einer ganzen Aufführung auffliegen lassen oder verfestigen lassen kann. Soziologisch betrachtet ist also die öffentliche Aufführung auch ein Produkt des Zweifels vor individueller Sinnabweichung, die im Stück – und sei es das theatrum mundi – Sinn- und Zeitkonventionen situativ zu überschreiten hat. Das heißt aber auch, dass die Sicherheit solcher Bedeutungsnormierungen in einer Praxis der Freiheit inszenierbar wird. Die Autorisierung kann, weil sie keinem Gott mehr zufällt, in einer Initiative angeeignet und zur Initiation weitergegeben werden, da ihr Bindeglied szenisch als unhintergehbare Präsenz fungiert.13 Kommen wir deswegen zunächst auf die Körper, auf die Choreografie der Körperhaltung im Verhältnis von Bild und Text zu sprechen, da Körper sich nicht in einem anderen Medium initiieren können. Lesen veranlasst eine horizontale Beugung des Oberkörpers, während das Tafelbild immer konfrontativ in der senkrechten Frontalität steht.14 So 13 Dafür gibt es ein einschlägiges Beispiel: die Institutionalisierung der Psychoanalyse. Bekanntlich kann man Psychoanalytiker nur sein, indem man von einem anderen Psychoanalytiker initiiert (analysiert) worden ist. Von wem ist dann Freud initiiert worden und wie kann durch ihn die Psychoanalyse autorisiert sein? Hier haben wir den Fall der Selbstinitiation durch Effekte der Auslegung einer Praxis, die sich durch Bedeutungsnormierung in eine Technik als Praxis (Therapie) verwandelt und so proliferiert. Die Praxis ist also eine Inszenierung, die sich durch Bedeutungszuweisung, also durch Vergesellschaftung, konstituiert, indem sie ihre problematische Fundierung und Stiftung in Praxis selbst untergehen lässt, sodass sie nur noch situativ, nicht aber inszenatorisch wirkt. Im Übrigen war vor allem Sartre um die Frage Konstituierung einer anfanglichen Situation als Freiheit in seiner Dramatik besorgt. Darauf wird noch eingegangen. 14 Vgl. dazu Walter Benjamin: Über die Malerei oder Zeichen und Mal. In: Ders.: Gesam-

melte Schriften Bd.II. Frankfurt am Main 1980, S.603ff. Benjamin bezieht sich auf den Gegensatz von grafischer Linie und malerischer Fläche. Bestimmend ist, dass das Bild „keinen Untergrund“ hat, die Grafik schon. Weiteres Merkmal ist die Komposition, die als „malerische Sprache“ verstanden werden muss. „Nun ist aber das eigentliche Problem der Malerei in dem Satze zu finden, daß das Bild zwar Mal sei, und umgekehrt daß das Mal im engeren Sinne nur im Bild sei, und weiter, daß das Bild, insofern es Mal ist, nur im Bilde selbst Mal sei, aber: daß andererseits das Bild auf etwas, das es nicht selbst ist, d.h. auf etwas, das nicht Mal ist und zwar indem es benannt wird, bezogen werde. Diese Beziehung auf das, wonach das Bild benannt wird, auf das dem Male Transzendente, leistet die Komposition.“ (S.606f ) Diese Idee ist im Begriff „Inszenierung“ so aufzufassen, dass

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hält der Täufer auch sein Buch horizontal, aber leicht nach Außen geneigt, damit es für einen Betrachter des Altarbildes als Textkörper einsehbar ist. Der rechte Arm und der Zeigefinger weisen, stark gewinkelt, schräg nach oben, die Hand im Winkel wieder nach unten auf das Kreuz. Mit seinem Zeigefinger zielt Johannes auf das zentrale Wundmal des Gekreuzigten. Weil die malerische Technik so virtuos ‚naturalistisch‘ ist, kann der Komposition und der Inszenierung besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Sie ist der auszeichnende Differend des Künstlers. Mit der Weisung auf das Mal wird aber auch auf die Aporie zwischen einer Memorialität des Körpers und seiner Vergänglichkeit verwiesen. So verschafft die horizontale Grablegung im unteren (hier nicht abgebildeten) Teil des geschlossenen Retabels einen Ausgleich zur Vertikalen des Gekreuzigten. Dagegen kombiniert das Symbol des Kreuzes mit seiner dominanten Senkrechten die Auferstehung der Memoria im katholischen Sakrament einerseits, im protestantischen Wort andererseits. Die Senkrechte teilt jedoch zugleich das Bild in zwei Teile. Wir unterscheiden im Chiasmus des Johannes Präsentation und Repräsentation respektive Offenbarung und Sinn als Bewahrungsformen von Präsenz – in diesem Fall die durch Text verbürgte Zeugenschaft der Kreuzigung. Was wird von Johannes gezeigt? Das Buch als Körper der Repräsentation, die Wunde als Zeichen des Todes und der Auferstehung, aber auch die Komposition des Armes mit dem Zeigefinger, der sich selbst repräsentiert – und zwar so, dass er auf das Verhältnis von linkem und rechtem Arm als Relation eines Zeigens und Bedeutens aufmerksam macht: als ein inverses Verhältnis. Was am Rande interessiert, ist ein relationales Raumproblem, das Kant in seiner Schrift Vom ersten Grunde des Unterschiedes der Gegend im Raume (1768) der Darstellung des „absoluten Raumes“ vorstellt, nämlich dem Problem der Beziehung der menschlichen Hände. Rechts und links werden somit zu Grundorientierungen im Raum. Wittgenstein hat im Tractatus als relationale Operation gegenüber Kant das Argument der Inversion vorgeschlagen: „Den rechten Handschuh könnte man an die linke Hand ziehen, wenn man ihn im vierdimensionalen Raum umdrehen könnte.“15 das, was sich als reproduzierbar, wiederholbar erweist, im Gegensatz zur Singularität von Aufführung, inszenierbar ist. Die Inszenierung ist deswegen eine Technik der Komposition. Da das Mal „vorzüglich am Lebendigen erscheint“ (S.605), also eine Gestalt des Symptoms ist, tritt es auch in räumlicher Beziehung auf. Vor allem erscheinen die Male dort als „Toten- oder Grabmale“ (S.607) auf. 15 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt am Main 1980, S.109 (6.3611).

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Wo Wittgenstein den retroaktiven Modus der Zeit (des Invertierens) vorschlägt, müsste jedoch der relationale Raum der Sprache thematisiert werden. „Daher ist die Beschreibung des zeitlichen Verlaufs nur so möglich, daß wir uns auf einen anderen Vorgang stützen.“16 Was als „anderer Vorgang“ oder „vierte Dimension“, nämlich als Inszenierung thematisiert wird, muss in der Ikonologie Grünewalds selbst noch einmal relativiert gedacht werden. Grünewald thematisiert nämlich nicht die Dimension des Raumes, sondern die Dimensionen der Zeit. Und hier stellt man fest, dass die Inszenierung ihm erlaubt, von der ganzzahligen Geometrie17 auf eine gebrochene Szenologie der Bedeutungskonstitution als einem Zeitspiel zu verweisen. Das eigentliche Problem ist demnach das der unendlichen Verweise vielfach gebrochener protosemantischer Medialisierungen.18 Deshalb ist der szenische Raum niemals identisch mit dem geometrischen Raum. Nun stellt sich für Grünewald angesichts der theologischen Thematik im Vater-Sohn-Übergang dieses Raumproblem zwar im Kompositionsproblem des Bildes, nicht aber im Kontext des Bedeutungs- und Verweisungsorts. Wir haben bemerkt, dass die Anwesenheit Johannes des Täufers während der Kreuzigung sachlich falsch ist – wenigstens soweit man den Heiligen Schriften folgt. Sie kann aber mit einer theologischen Begründung eines „Sonderzeitraums“, nämlich der Synchronisierung von Heiligkeit belegt werden. Heilige können nach christlicher Lehre nicht nur zu jeder Zeit an jedem Ort erscheinen, sie können auch gleichzeitig an verschiedenen Orten erscheinen. Was aber auch der Heilige nicht kann, ist, mit dem Finger auf etwas weisen, ohne zugleich den Finger zu zeigen. Man kann das Buch nicht zeigen, ohne auf die Funktion der Memoria des Textes zu verweisen, wobei dieser als arbiträrer nicht das zeigt, was er bedeutet. Dennoch ist die Inszenierung so komponiert – im lateinischen Wortsinne –, dass sich die semiologische Differenz in Johannes als solche simultan darstellt, aber sozusagen in unterschiedlichen Verkörperungen: dem Buch, dem Finger, der Wunde, dem Mal. Alle diese Verkörperungen lassen sich – wie ich es hier gerade vorführe – im Text diachronisch auslegen, verstehen. Man könnte nun direkt auf eine Problematisierung des Verhältnisses von Schrift und 16

Ebd., S.108.

17 Zur Bedeutung der Proportionslehre für die mittelalterliche Baukunst vgl. von Simson,

Die gotische Kathedrale, a.a.O., S.36ff.

18 Die Mathematik der Fraktale, in der alle Übergänge der Dimensionen des Raumes und

nicht mehr nur die gradzahligen, cartesianischen von eins, zwei und drei gedacht werden können, formuliert die logische Grundlage dieses Phänomens.

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Bild seit Gutenberg vor dem Hintergrund katholischer und protestantischer Kultur schließen, wie sie in der Biografie von Grünewald identifiziert wird. Zeigt aber der Finger im Verhältnis zum Buch auf die Fingierung des toten Christus als eines gemalten (Reszenifikation) oder verweist er auf das tatsächliche Geschehen der Kreuzigung und Transsubstanziation, in der das Bild als Kulisse dessen dient, was sich im Abendmahl täglich vor dem Altarbild vollzieht? Die Darstellung einer Kreuzigungsszene liefert an sich eine völlig redundante Information. Grünewald möchte sie deshalb nicht nur darstellen, er möchte sie in der gleichzeitigen Anwesenheit der Körper auf dem Bild verkörpern, d.h. die Offenbarung nicht nur symbolisch (später: lutherisch) begreifen, sondern sie sich real im Werk des Retabels vollziehen lassen. Das gäbe der Kunst als magischer Form eine ganz eigene bislang unerhörte Form der Freiheit. Anders gesagt: Es gibt keine Möglichkeit der realen Nachvollzugs der Kreuzigung19 außer jene der symbolisch-funktionalen Inszenierung. Die Kunstwissenschaft hat viel in die Relationalität Grünewalds hineingelesen, denn seine Entscheidung ist fundamental für die katholische oder protestantische Ausrichtung zweier gleichberechtigter Sinnwege, deren Differenz in dem fingierten Spruch präzisiert wird. Was muss wachsen und was muss weichen? Der Katholizismus oder der Protestantismus?20 Das Bild oder der Text? Der erste Anfang oder der zweite? Die Prophetie oder die Faktizität? Und vor allem: Ist das Problem der Verleiblichung nicht etwas gänzlich anderes als das der Verkörperung als Materialisation, d.h., umfasst der Leib nicht beides: die Präsenz und die Memoria seiner Szenifikation? Denn der Leib kann nur als Aufführung seiner selbst, nicht aber als Verkörperung 19 Das gilt eben auch für diejenigen Inszenierungen, in denen der Kreuzweg nachgespielt

wird und etwa die Geißelung wirklich erfolgt, wie es in mittelalterlichen Passionen üblich ist.

20 Gumbrecht vermutet wohl zu Recht, dass eine überbordende Hermeneutik sich genau

in jenem Moment einstellt, in dem die katholische Doktrin durch die Öffnung der lateinischen Welt ins Wanken gerät: „Das ist zugleich der Grund, weshalb man vom anthropologischen Standpunkt sagen könnte, daß das vormoderne und katholische Abendmahl wie ein magischer Akt funktionierte, durch den eine zeitlich und räumlich entfernte Substanz präsent gemacht wurde. Und es war gerade die substanzielle Präsenz des Leibs Christi und seines Bluts, die in der protestantischen (d.h. frühneuzeitlichen) Theologie zum Problem wurde. Durch Jahrzehnte währende, intensive theologische Diskussionen gelang es der protestantischen Theologie, die Präsenz des Leibs Christi und seines Bluts neu zu bestimmen und in eine Evokation des als ‚Bedeutung‘ aufgefaßten Leibs Christi und seines Bluts zu verwandeln. Daher muß das Wort ‚ist‘ in dem Satz ‚... dies ist mein Leib‘ zunehmend im Sinne von ‚dies bedeutet‘ oder ‚dies steht für‘ meinen Leib aufgefasst werden.“ Hans Ulrich Gumbrecht: Präsenz. Frankfurt am Main 2012, S.47.

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seiner selbst gedacht werden. Wenn die katholische Tradition daran festhält, dass es sich beim Abendmahl nicht um eine Repräsentation, sondern um eine Intensivierung einer dauernden Präsenz handelt, existiert das Problem der Repräsentation gar nicht.21 Denn die Trennung der Dimensionen ist zu einer Kontinuität im fraktalen Sinne, ausgehend von der Leibniz’schen Integrallehre verschmolzen: Gott ist monadisch die Welt selbst. Erst wenn man beginnt, die Ereignisse der Bibel als historische misszuverstehen und den Ablauf der Zeit linear zu interpretieren, müssen die transzendentalen Bedeutungen im Schatten ihres Verschwindens unentwegt aktualisiert, d.h. aufgeführt werden.22 Das ist nun der Moment, in dem Grünewald die Inszenierung mit der zeitlich deplatzierten Figur einerseits enthistorisiert, andererseits dieser Figur eine Rollenkonzeption zuweist, wie sie das aufkommende neuzeitliche Theater präferiert: Als die Substanz des Leibs Christi und die Substanz seines Bluts in der protestantischen Theologie durch Leib und Blut als Bedeutung ersetzt wurden, kam es im Bereich des Theaters zu einem Wechsel in der Aufmerksamkeitsrichtung der Zuschauer, die ihr Augenmerk nicht mehr so sehr auf die Körper der Schau21 Unter „Präsenz“ versteht Gumbrecht den historischen Gegenpol einer seit der Reformation aufkommenden Kultur der „Re-Präsentation“ (im Gegensatz zum katholischen Imperativ der „Offenbarung“, einer Bestimmung durch den Anderen (Gott)), die, so Foucault, im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht und vor allem durch Bewegtbild- und Echtzeitmedien desavouiert wird. Wir gehen später noch darauf ein. Im Gegensatz zum theatralen Körper- und Situationsspiel, das zu allen Zeiten Präsentationskultur markiert, ist der zeitliche Aspekt von „Präsenz“ unter Umgehung der Repräsentation in der fingierten Unvermitteltheit von Erzählung als sozialer Handlung substituiert, und zwar in zweierlei Aspekten: dem der Geschichtlichkeit und dem der Narrativität, also zwei Arten der Fiktionalisierung. Der Gegensatz zwischen erklärenden (wahrnehmenden und messenden) Wissenschaften und hermeneutischen Wissenschaften (seit Dilthey) vereinigt sich in der Forderung, dass das Spiel dieser Oszillation im Begriff endlich sein muss, eingerahmt also in der Metaphorik von Geburt und Tod: „In beiden Fällen [der Wissenschaften; R.B.] erlaubte es die Form der Narration, eine Vielfalt von Repräsentationen in ihr ‚unterzubringen‘ und als ‚Geschichte‘ zu ‚arrangieren‘.“ Gumbrecht, Präsenz, a.a.O., S.130. „In diesen Diskursen werden Fragen nach der Identität eines Bezugsobjektes immer durch eine Erzählung beantwortet, und eine Erzählung kann als eine diskursive Form betrachtet werden, die semantischen Raum für die Integration und Anordnung einer Vielzahl von Repräsentationen öffnet.“ (S.157) Im Folgenden wird sich mein Begriff der „Szene/Szenifikation“ auf den Begriff der „Präsenz“ und nicht auf den des Raumes beziehen, sodass der Kontext des Begriffes, seine Situativität in sozialer Praxis, immer schon drittenvermittelt und in der Appropriation dieser Praxis repräsentiert ist. 22

Der Begriff der Intensität spielt deswegen für den der Präsenz eine ebenso wichtige Rolle, wie der Begriff der „Insularität“ (Gumbrecht, Jenseits der Hermeneutik, a.a.O., S.127), also der Rahmung oder Kontextualisierung, für den des Sinns.

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spieler selbst richteten, sondern zunehmend auf die von den Schauspielern verkörperten Personen.23

Johannes übernimmt die Funktion eines Moritatenkommentators oder eines Filmerzählers, der in der Frühzeit des Kinos erklärend die Aufführung begleitete. Er steht beiseite und nimmt damit jene Darstellungsfunktion ein, die im späteren Jahrhundert die barocke Allegorie einnimmt. Das beiseitestehende Kommentieren ist eine reflektierte Position der Selbst- und Fremdbeobachtung. Die Bemerkungen Gumbrechts machen signifikant, warum man in der ambivalenten Haltung des Johannes eine ambivalente Haltung seines Szenografen Grünewald (und dessen Auftraggeber) sehen kann. Sobald historisch Sinn über Präsenz dominiert, verschafft sich ersterer sein Korrektiv innerhalb einer Szenifikation durch eine wiederholbare und folglich inszenierte Aufführung. Die Inszenierung vermittelt die Einmaligkeit des Stücks mit der „Jedesmaligkeit“ einer Aktualisierung durch Verkörperung. Nicht also um Werden und Vergehen, sondern um die wechselseitige Durchdringung einer medialen Kontinuität ist es dem geschlossenen Retabel zu tun, indem der allegorische Körper des Johannes auf den Leib Christi (und keinesfalls auf den toten Jesus) zeigt und Leiblichkeit als Blick- und Wertbeziehung gegenüber der Endlichkeit des Körpers betont. Die Inszenierung der Außenperspektive des Johannes als der, der dem Christus voraus ist, thematisiert überhaupt erst Leiblichkeit im Kontrast zur Körperlichkeit und somit die Trennung zum „Geist“, d.h. zur Memoria.24 Nun stellt sich gerade in der Komposition der Elemente die Frage der Kontinuierung ihres Übergangs. Dem kann man nur entgehen, indem man 23 24

Ebd., S.48.

Das hat Rudolf Boehm in seiner „Vorrede des Übersetzers“ der Phänomenologie der Wahrnehmung Merleau-Pontys mit ihrer Spezifikation des Leib-Gedankens vorangesetzt. Er bezieht sich auf eine Stelle Heideggers: „Demgemäß war auch die Endlichkeit dasjenige, was im vorhinein beim Ansatz der Interpretation und dann ständig während der Durchführung in Erinnerung gebracht werden mußte. [...] das Wesen der Erkenntnis und ihrer Endlichkeit gewinnt den Charakter des entscheidenden Problems.“ Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik. Frankfurt am Main 1973, S.212. Boehm in: Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966, S.IX. Merleau-Ponty will gerade mit dem Begriff des Leibes nachweisen, dass das Betrachten des „Gesichtspunkts zur Welt“ ein Außen nur um den Preis einer „Insulierung“ möglich macht, die eben den Leib auf den Körper reduziert. „Zum Ausdruck bringen will ich eine wohlbestimmte Art des Zugangs zu diesem Gegenstand, den ‚Blick‘, so unzweifelhaft wie mein eigenes Denken und mir ebenso unmittelbar bekannt. Dies gilt es zu verstehen: Immer sehen wir nur von irgendwoher, ohne daß aber das Sehen in seine Perspektive sich einschlösse.“ (Merleau-Ponty, ebd., S.91)

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in einer Art Negativierung die Aufmerksamkeit von den Elementen (den Symbolen) weg auf die Allegorie als Komposit richtet. Das meint aber genau die Szenifikation einer Situation. Die spätere, barocke Allegorie verweist im Zusammenspiel von Bild und Text sowie in der Überwindung des zwei- und dreidimensionalen Raumes auf ein anderes Medium der qualitativen Kontinuierung: auf das Bewusstsein des Verstehens respektive, modern gedacht, die Fähigkeit, sich als einheitliches Subjekt des Sinns zu begreifen. Gerade diese Überlegung führt zu der Frage, wie der menschlich-göttliche Übergang einer dauernden Offenbarung überhaupt als Zustand des Todes, einer vertikalen Mensur in der Geschichte der unsterblichen Seele, zu denken ist. Der Trick sei gleich verraten: So wie man die Realität durch die allegorische Inszenierung quasi von Außen oder von der Seite betrachten kann, so ist auch der Tod nichts anderes als der Wechsel von einem Medium ins andere. Während der Fisch in einem Medium lebt, der Vogel im Medium der Luft und auf der Erde lebt, so kann der Mensch fiktional im Medium seiner eigenen Andersheit seine göttliche Nähe imaginieren. Die Medien „Himmel“ und „Hölle“ sind durch eine horizontale Raumebene getrennt, die vertikal zu überschreiten ist. Der Gekreuzigte vereint die Horizontale und die Vertikale. Der Zeigefinger des Täufers richtet sich auf das Bildzentrum, das durch die Lanzenwunde in der Seite Jesu ausgezeichnet ist. Haltung und choreografische Figur des Täufers beruhen auf einer Reihe von nahezu rechten Winkeln, die sich dem Zentrum des Bildes annähern. Darauf zugehend und gleichsam davon abgestoßen zeigt, ganz anders, die linke Gruppe eine ambivalente, organische Bewegung. Zwischen dieser organischen Parabel und der breitbeinigen Figur des Täufers besteht ein auffälliger Kontrast. Die Deutung ergibt eine stark emotionale Vermittlung der drei Figuren auf der linken Seite – dagegen eine distanzierte nichtaffektive der rechtwinkligen Vektoren auf der rechten Seite. Das, was so in Szene gesetzt werden kann, meint dann: Von der Zeugenschaft des abwesenden Vaters befreit, die das Buch konditioniert hat, verweist die Geste der Malerei auf die Geburt einer neuen Referenz – das eine Auslegung veranlassende Bild des Zweifels, das mehr ist als ein Abbild, mehr als das, was es in seiner Offenbarung ist. Auf diese Weise wird die transzendentale Problematik in eine allegorische Mediation überführt. Auf diese Weise zu veranlassen, ist die Grundfigur von Inszenierung. Was aber beglaubigen und betrauern die grämlichen Figuren der linken Seite? Dass nun auch der Sohn tot ist, dessen Auferstehung erst nach-

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Handlungsvektoren im Mittelteil des geschlossenen Retabels des Isenheimer Altars © Musée Unerlinden, Colmar, France

träglich in der Schrift gefeiert und durch das Bild bezeugt wird? Allerdings steht zu Füßen ihrer Gruppe ein Gefäß mit Balsam, um den toten Leichnam für eine Weile zu konservieren, um den Tod, der keine Zeit hat, für eine Weile dauern zu lassen? Man wird Johannes den Täufer zum Zeugen nehmen müssen. Der wahre Glaube besteht darin, durch Schrift auf das zu vertrauen, was in der unvermittelten Emotionalität des Bildes nicht erscheint – die Ableitbarkeit des Vatergottes. Im Verhältnis von Bild und Schrift findet sich das Verhältnis von Präsenz und Sinn derart wieder, dass die soziale Funktion der Autorität als Modus der Vorverständigung einer Praxis die Macht gewinnt, auch Präsenzphänomene, d.h. Plötzlichkeiten und Aporien aller Art, in einer Sinnkette z.B. als genealogisch dynastische Ordnung wirken zu lassen.25 Eine Kreuzigungsszene kann das persönliche Anliegen Grünewalds 25 Die Idee, dass „Religion eine Verteidigungsmaßnahme der Natur gegen die Vorstellung der

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eben auch nur zeigen, weil Kreuzigungsszenen schon ein völlig redundantes Motiv sind. Die Reintegrierbarkeit von Präsenzphänomenen enthüllt damit den autopoietischen Mechanismus der Macht als einer ambivalenten Verfügung über inszenierte soziale Zeit, die die Anerkennung des anderen – Appropriation im Hegel’schen Sinne – bewirkt, um die Selbstautorisierung als „Selbstbewusstsein“ dauern lassen zu können. Die alte katholische Genesis von Macht verschiebt sich unter dem Gedanken von Vernunft und Selbstbewusstsein seit der Renaissance in eine evangelische Form der „Selbstautorisierung“, die dem Subjekt nun eine Eigendauer zugesteht, in deren Folge es den Machtkampf mit sich selbst auszutragen hat. In der Festgestalt des gegenreformatorischen Barocks werden dagegen die Inszenierungskünste als Autoritative diesem „Selbst“ vorgetragen: als Kontinuität, die vom Anderen (dem theistischen Gott) immer noch ausgeht. Hier geht es nicht um Anerkennung, sondern direkt um die Erzeugung von Vorverständigung als VorIntelligenz von der Unvermeidbarkeit des Todes“ sei, hat Bergson bereits 1932 formuliert: „An dieser Abwehrbewegung ist die Gesellschaft ebenso interessiert wie das Individuum. Nicht nur, weil sie aus der individuellen Anstrengung Nutzen hat und diese Anstrengung größer ist, wenn die Schwungkraft nicht durch die Vorstellung von dem Ende beeinträchtigt wird, sondern auch und vor allem, weil sie selbst der Festigkeit und Dauer bedarf. Eine schon zivilisierte Gesellschaft lehnt sich an Gesetze, an Einrichtungen, sogar an Gebäude an, die dazu bestimmt sind, der Zeit zu trotzen; die primitiven Gesellschaften aber sind lediglich ‚auf Menschen aufgebaut‘: was würde aus ihrer Autorität werden, wenn man nicht an den Bestand der Individualitäten glaubte, aus denen sie bestehen? Es ist also wichtig, daß die Toten gegenwärtig bleiben.“ Henri Bergson: Die beiden Quellen der Moral und der Religion. Frankfurt am Main 1992, S.103. Das paradoxe Problem lautet also in einer idealen Konfessionalisierung präzise: Wie kann eine Gesellschaft auf individueller Autorität (Protestantismus) aufgebaut sein, wenn Individualität zugleich ihre Dauer (Katholizität) unterminiert, auf die sie sich bezieht? Wenn Gesellschaft als Gemeinschaft dauert, dann deshalb, weil sie das Prinzip beherrscht, die Polaritäten nicht gegeneinander, sondern miteinander spielen zu lassen. Die anthropologische Vorstellung wird deshalb zeitlogisch umformuliert: „[...] es sind Verteidigungsmaßnahmen der Natur gegen die aus der Intelligenz stammende Vorstellung eines mutlos machenden Spielraums für das Unvorhergesehene, der zwischen der unternommenen Initiative und dem Ergebnis liege.“ (S.110) Als Fazit seiner Untersuchungen stellt Bergson eine „fabulatorische Funktion“ fest, in der fiktive Individualitäten (Götter) die Dauer der Individuen übersteigen und als unsterbliche Wesen oder gesellschaftliche Funktionen den Spielraum (die szenische Zeit) autorisieren. Die fabulatorische Funktion (mit Bezug auf Theater und Roman) „leitet sich also aus den Existenzbedingungen der menschlichen Gattung her“ und erklärt die Verwandtschaft ritueller Spiele (Theater) und Religion, ohne einen „Kraft-Begriff“ von Magie zu evozieren. (S.153) Wesentlich bei Bergson ist demnach die Idee, dass es zwei nicht miteinander vergleichbare Zeithorizonte gibt: jenen der sterblichen Individualität und jenen der unsterblichen Gesellschaft, die kulturell vermittelt sein müssen und zwar als – Unabschließbarkeit des Verstehensprozesses.

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zeit und damit um die Initiation von diachronischer Legitimität. Erst dieser Widerstreit zwischen „Selbstbewusstsein als Rolle“ (kritischer Zuschauer) und „Fremdbestimmung als Zuschreibung“ (verführter Akteur) prägt die ambivalente Haltung gegenüber Inszenierungen der Neuzeit. Gumbrecht hat in einem Essay, in dem er auf die Problematik eines literarisch fundierten Theaterbegriffs für die frühe Neuzeit eingeht, auf die Scheinhaftigkeit der Versöhnung von Akteur und Publikum aufmerksam gemacht. Es ist doch ein Kennzeichen des Theaters, sich dialogisch auszudrücken und dadurch von den Monologen der christlichen Sakralrituale deutlich abzusetzen. Wenn man nach der Genese des Theaters aus den Mysterienspielen und der Messfeier fragt, stößt man auf eine „Diskontinuität zwischen dem strikten Monotheismus in den theologischen Grundlagen und den Texten der Liturgiefeier und dem Dualismus [...], der überall zu den grundlegenden Transformationen der Inhaltsstrukturen führte, wo das religiöse Theater des Mittelalters den Teufel in sein Protagonistenrepertoire aufnahm.“26 Für das mittelalterliche Theater von der Rezeption der Aristoteles-Lektüre und ihrem bedeutenden Einfluss bis zu Corneille und Shakespeare ist deshalb gar kein literarisch basiertes Theater auszumachen, sodass sich die Intensität des Ausdrucks weniger vom Dialog als vom Agon, freilich einem in der Commedia dell’arte z.B. situativ disziplinierten Agon, bestimmt. Diese Tradition hält sich noch bis zum Vaudeville und Slapstick. Ihre Lesart kann deshalb nicht einer literarischen, sondern muss einer szenischen Hermeneutik gehorchen, in deren Zentrum immer wieder auch die Distanz, Bestimmung und Dialogpartnerschaft des Publikums stehen. Im Hinblick auf die bei Grünewald aufbrechende Vermittlungsposition eines allegorischen und damit digital multiplizierenden Medienkanons kann der dramatische Agon nur in einer vagen ökonomischen Relationalität bestimmt werden: „Illum oportet crescere, me autem minui“. Oder sagen wir besser, er wird dargestellt als Unentschiedenheit eines Zweifels (Hamlet), in der die aufkeimende Individualität sich der Eigensozialisierung versichern muss, also einer zweiten Geburt, die einer zweiten Taufe und einem zweiten Täufer entspricht, der erst die erste Geburt vervollständigt, abschließt und zugleich als wiederholbar perpetuiert. Umso mehr als die „Intensitätsgrade solcher ‚Theatralik‘ kaum analytisch und begrifflich [im 16. Jrh.] von 26 Hans Ulrich Gumbrecht: Für eine Erfindung des mittelalterlichen Theaters aus der Perspektive der frühen Neuzeit. In: Johannes Janota u.a. (Hg.): Festschrift Walter Haag und Burghart Wachinger. Bd.1. Tübingen 1992, S.830.

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ihrem Normalniveau in anderen Epochen und Kontexten abgehoben werden können“27, muss die Analyse sich auf die performativen Wirkungen des Ausdruck, beim anderen, dem Betrachter einstellen, sodass das Prinzip der nachträglichen Geburt durch den Betrachter nichts anderes darstellt als den innersten Kern der Theatralität, nämlich den der sozialen Appropriation, die nun keiner universellen Ordnung der Katholizität, sondern einer der (Medien-)Techniken unterworfen ist. Nachträglich ist nun auch die Beziehung von körperlichem Ausdruck und Sprachlichkeit – die Differenz von Geburt und Benennung – einzugehen, so wie wir es bei Grünewald mit einer doppelten Benennung in doppelter Taufe zu tun haben. Für das, was sich im Retabel abspielt, gibt es zwar eine Vorlage, nämlich die Bibel, aber die Interpretation, Johannes den Täufer auf der Szene erscheinen zu lassen und damit die überlieferte Zeitform allegorisch zu durchkreuzen, gibt doch der Bilddarstellung als Narrativ eine lebendigere Form; lebendiger, das heißt, frei im Willen geboren und getauft zu sein, was alle Wiedertäuferbewegungen der damaligen Zeit erfordern: Bewusstsein oder mindestens die Ahnung einer Problematisierung der Selbsthervorbringung. Gerade dadurch aber, dass der Bibeltext sich als aufführbar, als reanimierbar beweist, wird er im Umkehrschluss der reformatorischen Bewegungen zur Grundlage einer Anbetung, in der die Ästhetisierung liturgisch, pictoral oder theatral der Manipulation verdächtig erscheint. Alle Szenifikationen müssen dann nämlich unter dem Verdacht stehen, ihren eigenen Herrn zu haben, was den Künstlerberuf an sich schon diskreditiert. Im Zuge dieses Verdachts erwächst dann auch erst der Gedanke, dass im Paragone der Künste die Autorität des Textprimats gegenreformatorisch angezweifelt werden könnte. Mit der Übertragbarkeit als Reanimation gerät der Streit um dieses Primat ins Zentrum einer Auseinandersetzung um Autorschaft und Autorität von Medien, seltener aber, und hier bei Grünewald schön früh, von normierenden Techniken.

b. Initiation und Autorschaft Es kann für das vorneuzeitliche Theater als erwiesen angesehen werden, dass zur Darstellung erst einmal keine Textgrundlage, sondern allenfalls szenische Skizzen, „lazzi“ Voraussetzung sind.28 Eine Literarisierung des Theaters 27

Ebd., S.812.

28 Ebd., S.846. „Die Texte, die nie mehr als wenige Seiten umfassen, legen im Verhältnis

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setzt sich, so Gumbrecht, erst durch, als Corneille sich weigerte, auf einer vorgegebenen „gesanglich-musikalischen Vortrag“ hin Verse zu schreiben. „Corneille nahm demgegenüber in Anspruch, daß sich seine Muse nur entfalten könne, wenn dem Schreiben nicht von vornherein durch Musik und Stimmklang begrenzende Bedingungen auferlegt seien. Das war die historische Geburtsstunde des Dramenautors als Textautor.“29 Dieses Argument wendet sich gegen eine flüchtige Ausdrucksform, die Corneille noch für sich reklamiert, im szenografischen Modus aber mangels Formalisierung nicht umzusetzen ist. Folglich gibt für das überkonfessionelle bürgerliche Theater die Autorität der Textform als Primat der Zeugung einen Garanten der Dauer und der Verantwortung vor – Verantwortung auch hier im Wortsinne: auf Antwort wartend bzw. eine Antwort provozierend und damit die Initiation zur kommunikativen Überschreitung veranlassend. Richard Sennet hat das Wirken von Autorschaft als einer Autorität durch Dauer hervorgehoben. Sie muss sich immer wieder als ein Prinzip behaupten, das den Tod – die situierte Absenz – überlebt, und nimmt natürlich jene Mittel der Unsterblichkeit und Wiedergeburt in Anspruch, wie sie den Künsten eigen sind, die der Fiktion. Erst unter dem ‚negativen Modus‘ von Fiktion, in der Aufführung, zeigt Autorität sich durch den anderen bestimmt. Eine Selbstautorisierung kann es nämlich nicht geben. Sie hieße das Soziale mit Gewalt oder mit Inzest belasten, was in jedem Fall die Hervorbringung von Andersheit nicht dauern lassen würde. Auch wäre sie als Hochstapelei erst recht eine inszenatorische Technik. An sich aber bestätigt sie einen konservierenden Prozess, der für Gesellschaften unabdingbar ist, um sich in Vorverständigungen (einer nachträglich vom anderen goutierten ersten Geburt) und Interpretationen bewähren zu können, wenn es um die Reintegration von „Plötzlichkeit“ und „Präsenz“ geht. Ob es sich dabei um eine (katholisch-monologische) Fremdautorisierung (von Gott ausgehend) oder um eine (evangelisch-dialogische) Selbstautorisierung (vom Menschen ausgehend) handelt, hat seit dem 16. Jahrhundert. eher etwas mit gesellschaftlicher Organisation und Inszenierung ihrer narrativen Dauern, also mit Politiken zu tun, als mit religiösen Beweisführungen. zu den lazzi nur eine minimale Sequenz [...] von Bühnenereignissen fest, die berücksichtigt werden muß, wenn das je individuelle und individuell improvisierte Spiel der Rollen ein Minimum von Koordination bewahren soll. Das bedeutet letztlich, daß die Texte ‚eine negative Funktion‘ haben: sie beschränken die Freiheit der Körper-Improvisation, um die es in der Commedia dell’arte primär geht.“ 29

Ebd.

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Sich die Autorität als einen Prozeß ständiger Interpretation und Neuinterpretation vorzustellen, ist in privaten Verhältnissen sinnvoll, nicht jedoch in der Öffentlichkeit. Dafür gibt es strukturelle Gründe; der Rhythmus von Entwicklung und Verfall eines Menschenlebens ist nicht der Rhythmus, in dem sich Entwicklung und Verfall einer Gesellschaft vollziehen. Es tut sich hier eine unüberbrückbare Kluft auf – oder, positiv ausgedrückt, wir alle können in der Privatsphäre mit den Mitteln der Phantasie eine neue Vorstellung von Autorität entwickeln, während uns dies für die öffentliche Sphäre nicht gelingt. Wir verfügen über ein Prinzip, um die Gesellschaft zu kritisieren, das nicht auf abstrakten Deduktionen aus Gerechtigkeit und Recht beruht, sondern auf unserem intimen Zeitverständnis.30

Von daher ist evident, dass im Theater ohne Theater, in den Praktiken des Events, nicht der Text oder die Sprache, sondern ein Ablaufplan technischer Effekte, ein Drehbuch und seine Inszenierung wieder in den Vordergrund treten, wenn es um die Lenkung der Kritik an Autorität geht.31 Ob nun der gegenreformatorische höfische Barock Phantasie entfesselt, angeregt oder beherrscht hat, kann nur in Relation zur protestantischen Autorität der Schrift, also normierenden Sinnketten (Argumenten) bestimmt werden. In beiden Bereichen geht es jedoch um einen fiktionalen Test zur szenifikatorischen Neubestimmung von medial differenzierter Autorschaft (Paragone) privater und öffentlicher „Dauern“, also dem Zeit-Raum-Verhältnis ihrer Aufführungs- und Darstellungsmodalitäten.32 Die Präsenz als das Einmalige bedarf stets des Negats von Abwesenheit, Medialität und Konstanz, um Willkürlichkeit gegen Artifizialität absetzen zu können. Diese Artifizialität erweist sich aber in der Verhältnisbestimmung von Spontaneität und 30

Sennett, Autorität, a.a.O., S.236.

31 Wenn Jean-Luc Godard in Außer Atem 1960 morgens im Cafè Jean Seberg und Jean-Paul

Belmondo Dialoge skizziert und sie während des Drehs souffliert und quasi ohne Drehbuch arbeitet, ist das sicher ein Höhepunkt der Differenzen, die sich zwischen Textautor und Inszenierungsautor schon im barocken Concettismo abzeichnen. Die simultane Verwobenheit auf der Simultanbühne des Isenheimer Altars ist von dieser Differenz zumindest so affektiert, dass sie der bildlichen Darstellung noch ein biblisches Motto zuordnen muss, um sich nicht als zu eigenständig zu erweisen. 32

Sennett betont dabei, dass Autorität „in sich ein Akt der Phantasie“ sei, da ja ihre Externalisierung eine Art der Dauer des (Selbst)Bewusstseins vom anderen sei. „Die Angst vor der Phantasie in der Politik rührt aus der Angst vor der Illusion. Es ist, als würde man sich weigern, ein Werkzeug zu gebrauchen, weil man es auch mißbrauchen kann.“ (S.237) Wenn die 68er-Revolte das Motto „Die Phantasie an die Macht“ benutzt, dann ist es ihr gerade um die Aufhebung der zwei Zeitdauern zu tun, die Sennett anspricht. Möglicherweise wird aber dadurch der Kontinuitätsmodus von Autorität nicht ausgesetzt, sondern im Sinne einer (protestantischen) Selbstbeherrschung erforderlich, sofern die Revolte das Stadium der unmittelbaren Aktion und des Einspruchs überschreiten will.

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Erwartbarkeit als inszenierbar.33 Inszeniert meint hier also das In-GeltungBringen von Autorität. Das vorzügliche Mittel dazu sind Vaterschaftsnachweise, also Verweise auf die längere Dauer und Genealogie. Darin liegt ein Motiv der Macht. Rolf Bossart deutet auf den „Referenzpunkt der Schrift“34 und auf die Differenz zwischen dem wahrnehmenden Sehen und dem visionären Charakter der sich immerfort auch zukünftig in jeder Lesung offenbarenden Schrift. Damit wird auch auf die Einmaligkeit des Ereignisses der Auferstehung (die alltägliche Einmaligkeit des menschlichen Todes) und die 33 „Man könnte nun annehmen, daß mit diesem Suspens der Inhaltsform auch der Dra-

mentext aus der situationalen Aktualität der neuzeitlichen Dramenaufführung eliminiert ist. Doch schon die Tatsache, daß die Zuschauer keinesfalls erstaunt sind, wenn sich die Protagonistenrede in gebundener Alltagssprache vollzieht oder in anderer Weise vom Duktus der zeitgenössischen Alltagssprache abweicht, attestiert eine mittelbare Präsenz des Dramentextes. Hinzu kommt die Erwartung, daß nie zwei oder mehr Personen zugleich sprechen, und die autonomisierte Zuschauerreaktion, Versprecher oder artikulatorische Besonderheiten dem Schauspieler und nicht dem Protagonisten zuschreiben. Den stilistischen Duktus, die Prägnanz und die übergreifende Konfiguration der Sprachhandlungen in einer Dramenaufführung interpretiert der Zuschauer als textgebunden und mithin als Leistung eines Autors, während das Aussehen und der Rhythmus in den Bewegungen der Protagonisten ebenso wie der szenische Dekor als Beitrag der Dramaturgie, Regie und individuellem Habitus der Schauspieler gesehen werden.“ Gumbrecht, Für eine Erfindung des mittelalterlichen Theaters aus der Perspektive der frühen Neuzeit, a.a.O., S.835

34 Vgl. Rolf Bossart: Die theologische Lesbarkeit von Literatur im 20. Jahrhundert. Studien

zu einer verdrängten Hermeneutik. Würzburg 2009, S.9. Bossart beschäftigt sich in seiner originellen Studie am Anfang seines Buches ebenfalls mit Johannes dem Täufer und bezieht sich dabei kurz auf die Darstellung des Isenheimer Altars. Inhaltlich folgt er theologischen Implikationen der erfüllenden, teleologischen oder produktiven Deutung als Erwartung und Protest insbesondere bei Bloch, Benjamin und Freud. Eine im Strukturalismus oder Existentialismus fast vollständige Verdrängung des christologischen Deutungsvollzugs kritisiert er. Bossart wendet sich „gegen alle philosophischen Versuche, jede konkrete, das heißt jede gedanklich oder handelnd bestimmte Wahrheit aufzulösen in rein strukturelle, formale, flüchtige oder negative Konzepte. Die Trennlinie verläuft nicht zwischen einer vormodernen, objektiven Vorstellung einer ewigen Wahrheit und einem postmodernen, bloß relativen oder situativen Wahrheitsbegriff, sondern zwischen einer konkreten und ‚machbaren‘ Wahrheit, die Treue hält zum Heilsanspruch der menschlichen Gattung und einer Wahrheit, die [... sich; RB] gleichgültig verhält gegenüber den ‚realexistierenden‘ und kollektiven Versuchen und Verkörperungen von Rettung und Versöhnung der Menschen als Menschheit.“ (S.188) Gerade der Aspekt der „Verkörperung“, also eines „Durcharbeitens“ (Freud), der ständig produktiv initiiert werden muss, ohne dogmatisch zu sein, immerhin aber so „wahr“ ist, dass er den produktiven Einspruch („Protest“) initiiert, bestimmt im profanen Sinne die Zeit- und Narrativitätsdynamik szenischer Hermeneutik im Kleide protestantischer Arbeitsethik. Darin liegt die herausfordernde Geste der Inszenierung als Verführung. Indem jede Inszenierung sich als ein positives Negat gibt, verführt sie zur nahenden Hoffnung einer Realisierung ursprünglicher Identität, die sie unendlich (‚demokratisch‘) zunächst einmal nur fingieren und in Warenkultur aufschieben kann.

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Exklusivität der Wiederholbarkeit des Ereignisses verwiesen. Das Problem liegt nun darin, dass Inszenierungen – auch gerade die des Isenheimer Altars –, weil sie sich symbolisch verstehen, den produktiven Charakter der Sinngabe als Kunstereignis auf Dauer (nunmehr schon über 500 Jahre) realisieren, d.h. in Konkurrenz zur Einmaligkeit stehen. Kunstwerke haben den Willen und die sozialisierte Angewohnheit, zu überdauern. Und was dauert, hat eine gewisse Autorität. Diese Dauer geht Konsumevents heute völlig ab. Sie sind allenfalls in ihrer Wiederholbarkeit präsent. Aber das ist ein gewichtiges Argument, denn was wiederholbar ist, muss reproduziert worden sein und es muss ein Original, eine Matrize dieser Reproduktionsform geben. Die Inszenierungsintention zielt in diesem Falle auf Intensitäten und nicht auf diachronische Narrativität; auf Erlebnis, nicht auf Ereignis. Dass hinter der Reaktualisierung die Diskursivität des Kunstkommentars lauert, ist sekundär. Exakt aber diese Entzauberung der Schrift als monomediale Referenz gegenüber den vielgestaltigen technischen und künstlerischen Medienmöglichkeiten heutiger Zeit realisiert in der Einmaligkeit einer Aufführung durch die technische Konzeptualisierung der Inszenierung ihre Reproduzierbarkeit zunehmend mit: Denn was technisch erzeugt ist, kann auch technisch wiedergegeben werden. Die Erfahrung ist die: Je spektakulärer die Inszenierung, desto ‚einmaliger‘ die Aufführung, desto monströser die Intensitäten. Nicht mehr Gedächtnisvollzug, sondern die Intensität der Offenbarung als eines irreversiblen Traumas oder Schocks ist ein Ziel der Eventgesellschaft. Man geht nicht mehr fünfmal in das gleiche Musical, um Variationen einer Aufführung zu differenzieren. Die entscheidende Frage ist nun die, inwieweit ein Leser/Beobachter die Sinnproduktivität als seine eigene Handlungsmacht reflektiert und die Autorität erst fiktional erzeugt? Denn das würde den Rezipienten wieder auf sich verweisen. Wir haben es also bei dem In-Geltung-Setzen von Autorität als inszenatorischer Macht (wie und ob etwas einen interpretatorischen Spielraum eröffnet) mit einer wechselseitigen Anerkennung unter Aufhebung eines Primats zu tun. Genau dafür stehen die Simultanitäten der beiden Initiationsgestalten, Johannes und Jesus. Deren Autorität könnte auf dem Spiel stehen. Aber diese „falsche“ Interpretation – Grünewald hätte willkürlich eine dem Neuen Testament zuwiderlaufende Darstellung geliefert – wird von vornherein ausgeschlossen durch den offensichtlich fiktionalen Charakter allegorischer Synchronisationen, trotz oder gerade wegen der realistischen Malweise. Dahinter steht nicht die Autorität der biblischen Chronisten, sondern jene der theologischen Auslegung eines anagogischen

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Sinns, der eben nicht an das einmalige Ereignis, sondern an die Intensität eines jedesmaligen Erlebnisses in der Eucharistie gebunden ist, die an sich zeitlos ist. Diese Zeitlosigkeit ist Ausdruck eines Bruchs mit allen Herleitungen, Genealogien; eine Funktionszeit, die man das „Abenteuer des Ereignisses“ oder „des Zufalls“ nennen könnte. Als Bannungstechniken erweisen sich nun nachgerade die brillanten inszenatorischen Konzepte des Barocks, die ihre Initiationsmacht zu Markte tragen. Auf die zeitlose Zeit hat Bachtin in seiner Untersuchung des Chronotopos des griechischen Romans aufmerksam gemacht. Für diese Zeit innerhalb des Romans ist „die technische, abstrakte Verbindung von Raum und Zeit, die Umkehrbarkeit der Momente der Zeitreihe und deren Austauschbarkeit im Raum“ maßgebend.35 Bachtin schildert die Zeitstruktur des frühgriechischen Abenteuerromans als Geschichte zweier Verliebter, in der nur die erste Begegnung und die Hochzeit am Ende in der realen Erzählzeit stehen. Dazwischen muss das Paar unzählige Abenteuer bestehen, während sie nicht altern und ihre Liebe trotz vielfacher Proben keinerlei Schwankungen ausgesetzt ist. Daraus ergibt sich, dass der Roman hier die Funktion hat, die Kontinuität der „Merkmale der menschlichen Identität“ 36 gegenüber dem „Initiativcharakter [der] Zufälligkeit“,37 Schicksal, Götter, Natur- und magische Kräfte abzusetzen. Trägt man diese narrative Funktion in die Moderne, in der alle Kräfte auf Ableitungen beruhen, ergibt sich eine interessante Perspektive. Wenn nämlich die erste fiktionale Literatur die Unterscheidung von ableitbaren Abläufen (Alterung, Geschichte) selbst als Ablauf medial externalisiert, muss in einer Welt der Gleichzeitigkeiten, in denen der Zufall als Krise der Technik erscheint, diese Technik selbst dem Zufall ausgesetzt werden. Das kann aber nur in einer externalisierten Dimension geschehen, die selbst medientechnische Verlässlichkeit voraussetzt, nämlich in der Konstruktion einer Situation, in der das unabsehbare Ereignis für eine Zeit des Abenteuers, in dem die Protagonisten nicht altern, dauert. Eben das sind die szenografischen Ereignisse, das Spiel (Game) und die Arbeit der sogenannten „Freizeit“, denn hier sind die Zufälligkeiten inszeniert.38 35

Michael M. Bachtin: Chronotopos. Frankfurt am Main 2008, S.24. Der Text geht auf Konzepte Bachtins aus den späten 1930 Jahren zurück.

36

Ebd., S.30.

37

Ebd., S.20.

38 Den chronotopischen Standard des griechischen Romans kann man noch in der James

Bond-Serie reproduziert sehen: Bond altert nicht, er kommt aus dem Nichts, bewältigt seine Prüfungen und ist danach stets der Gleiche und fällt zurück in eine Schäferidylle mit

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Alle Initiative und alle Macht liegen in diesem Chronotopos [dem des griechischen Romans; R.B.] beim Zufall. Deshalb kann die Welt nur in einem sehr begrenzten Maße bestimmt und konkret sein. [...] Eine solche Bestimmtheit und Konkretisierung wären jedoch [...] einfach unvermeidlich, würde man die eigene heimische Welt, die Realität einer vertrauten Umgebung darstellen.39

Nun ist die Realität einer „vertrauten Umgebung“ deshalb realistisch, weil in ihr alle Praktiken ableitbar und erwartbare Praxis sind, ihre Identifizierung jedoch nur durch die Fremdheit, Heiligkeit einer fiktionalisierten Realität von ungewöhnlichen Zufällen, Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigen begleitet ist, während man sich selbst quasi suspendiert, also im Ideal die biologische Uhr anhalten kann. Das geschieht als Phantasma bei jeder Art inszenierter Initiation unserer Eventgesellschaft: einem wohlkalkulierten Abenteuer mit Rückfahrkarte, das die Zeit der Identität (Bewusstsein von sich) mit der Zeit des Außer-sich-Seins korreliert. Und nie ist man so sehr außer sich wie in der Evidenz einer Praxis. Das ist der Grund, warum man die Zeit des Abenteuers von der Literatur in die Situation einer Szene zurückverlagern kann: Denn nichts ist zeitloser als die Evidenz. Und nichts ist gnostischer Offenbarung so nahe wie die technische Gegenwart, deren Inszenierungen uns entheben, beständig die Frage nach ihrem tatsächlichen logisch-mathematischem Funktionieren zu stellen. Was uns in den Stand versetzt, jedes Telefongespräch, das eine inszenierte Situiertheit herstellt, als ein Wunder zu begreifen, solange es nicht in die alltägliche Praxis durch Ritualisierung zurückfällt. Diese Korrelation chronotopologischer Ent- und Verfremdung zeigt, dass sich der Ruf nach einer szenischen Hermeneutik nicht ohne das Aufwerfen der Frage nach der Identität durch den anderen entfalten lässt, die, im Falle der Kontinuität des Bewusstseins mit mir selbst, synchronisiert ist. Denn setzen wir voraus, dass die Epoche des Raumes, wie sie Foucault entwirft, tatsächlich eine der situativen Präsenz ist, muss man ein Medium entwickeln, in dem man aus dieser Präsenz heraustreten kann: Dieses Medium ist der authorisierte Autor, eine Erfindung des 19. Jh., die sich, nach Bachtin, aus den Figuren des „Schelms, des Narren, des Tölpels“40 hätte entwickeln können. Wenn diese Entwicklung soziologisch dem Bond-Girl auf einer einsamen Insel, bis er in der nächsten Folge wieder zum Leben erweckt wird. 39 40

Ebd., S.24f.

Ebd., S.88. „Es ist ihre Eigentümlichkeit und ihr besonderes Recht, fremd auf dieser Welt zu sein. Mit keiner der auf dieser Welt vorhandenen Lebenslagen solidarisieren sie sich, nicht eine behagt ihnen; sie bemerken die jeder Lage anhaftende Kehrseite und Lüge.“

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nicht gegriffen hat, der Autor zu einem Hochstapler geworden ist, der verspricht, die Zeit manipulieren zu können und also innerhalb der situativen Präsenzen Präsentationen einer „Entlarvung“ vorzunehmen, dann bedeutet das, dass die Intention des Autors und die des Lesers gestört sind. Folge dieser Entwicklung ist nicht der kritische Autor, sondern der kritische Leser. Die Funktion des „entfremdenden“ Dritten wird wechselseitig eingenommen. Nicht mehr dem Betrug einer sich vom öffentlichen Leben abspaltenden Privatisierung, die die erste Differenz einer Maskierung ermöglicht und das wahre Leben vom falschen zu unterscheiden verhelfen soll, ist der Streit um den Ort des Dritten, sondern das in der hermeneutischen Situation erfolgte Arrangement gleichzeitiger Übereinkunft mit der Fiktionalität des Gegenstandes als einer wechselseitigen Inszeniertheit. Das Prinzip des Fiktiven wird also angesichts der Derealisierung der Vorverständigungen problematisch. Die Transformation in ein anderes, selbstreflexives Medium wird dann nicht mehr durch einen historischen Zeitsprung – in ein anderes Milieu oder in eine phantastische, zeitlose Abenteuerwelt – abgebildet, sondern durch Erlösung von Arbeit im Freizeitevent. Die Lüge „feudale(r) Ordnung und die feudale Ideologie, die allem Räumlich-Zeitlichen jeden Wert abspricht“41 wird zur Inszenierung, in der als strategische Form die Fremdheit und das Nichtverstehen der pluralen Individualität wiedergefunden oder erfahren zu werden versprechen. Gerade darin liegt aber ein genealogisches Moment: Denn etwas nicht zu verstehen heißt, dem anderen eine Kompetenz der Erklärung zu unterstellen, welche Autorschaft jedoch wiederum nur mit der inszenatorischen Verfremdung in einem fiktionalen Modus zu verstehen geben kann, um nicht in einem infiniten Regress des Unverständnisses zu verfallen, wie er häufig Narren eigen ist. Die Form des „Nichtverstehens“ – vorsätzlich beim Autor, treuherzig-naiv bei den Helden – fungiert fast immer dann als organisierendes Moment, wenn es um die Entlarvung der schlechten Konventionalität geht. Eine solche – im Alltagsleben, in der Moral, Politik, Kunst usw. – zu entlarvende Konventionalität wird gewöhnlich vom Standpunkt eines Menschen dargestellt, der an ihr keinen Anteil hat und sie nicht versteht.42

Ich führe hier die Darstellungen Bachtins ein Stück weiter, da mein Interesse nicht an einer Chronotopologie der Literatur orientiert ist, sondern an jener der Situation des vermittelten Verstehens, in der die situierte Vermitteltheit 41

Ebd., S.90f.

42

Ebd., S.92.

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des Alltagslebens jedem (technischen) Ding als dessen kausale Kompetenz zugesprochen werden muss. Man versteht also, dass die Unterscheidung von Verstehen und Erklären ein notwendiges Moment der Ökonomisierung der Ableitungen der Welt und der Dinge darstellt, dessen mediale Transformation in die einzige Fremdheit führt, die bleibt: jene der Unmöglichkeit, den anderen positiv zu verstehen, also der inszenierenden Fiktionalisierung. Medientheoretisch konstituiert sich, ausgehend von Bachtins Überlegungen, das für jede Hermeneutik fundamentale Problem von Individualität in Abhängigkeit vom anderen, von Kollektivität. Dieses Problem wird eben durch Medialisierung von anderswoher, vom Dritten einer unbezweifelten technischen Kompetenz her gelöst. Wenn man eine Situation erzeugt, in der das (zufällige) Beisammensein von Menschen in Präsenz als deren Privation erprobt wird, wird man Techniken nicht ausschließen, sondern mittels einer negativen Struktur versuchen, Verstehen als Medialisierung bzw. Sozialisierung Form gewinnen zu lassen. Diesen Chronotopos zeitloser Ableitungslosigkeit liegt für Grünewald in dem des Heiligen. Nur aus diesem Grunde, so scheint es, situiert Grünewald Johannes den Täufer als Kontrast zur homogenen Gruppe links im Bild. Der Maler erlaubt sich hier quasi nicht nur einen abenteuerlichen Konflikt mit der Gleichzeitigkeit, der theologisch durch die Attributierung der Heiligkeit legitimiert ist, er begeht auch den Medienfehler, den Vermittler, also den Regisseur selbst ins Bild zu nehmen. An diesem Punkt der Verfremdung wird Heiligkeit inszeniert. Die Verschiebung von realer (im christlichen Sinne) Heiligkeit zu deren fiktionalisierter Autorschaft (der Verfremdung, der Metamorphose oder der Phantastik und ähnlicher Mittel) ist einem besonderen Genre geschuldet, nämlich dem der externalisierten Selbstreflexion, der anscheinend völlig zufälligen Einbildungskraft. Grünewald offenbart mit dieser Komposition, dass die Entfremdung im Künstler selbst stattgefunden hat, die andernorts beispielsweise dem Papismus nur noch Heuchelei vorwirft. Das müssen wir als Einbruch des Subjektivismus in jener Malerei verstehen, die die fiktionale Dimension als einen Wahrheitswert der Kunst anzuerkennen beginnt. Es versteht sich von selbst, dass der Subjektspaltung nicht der Wahnsinn des Narren unterstellt werden darf, sondern eine Medialisierung, d.h. chronologische Kontinuierung der Differenzen, also Entscheidungen und Urteile eines Subjekts, die es allmählich dazu bringen, von sich als „Ich“, Autorschaft zu sprechen. Das im Roman platzierte Moment der differentiellen Initiation soll sich für den anderen als kontinuierliches Moment einer Einbildungskraft

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kund tun, als eine Inszenierung. Es geht Grünewald nicht um die Biografie, sondern um die am Werk des Künstlers geschulte Unterstellung, um den Versuch der reflexiven Disziplinierung von Einbildungskraft, oder, sagen wir zeitgeschichtlich, um die Bündelung der geschichtlichen, sozialen, theologischen und geopolitischen Konflikte um 1500 als malerisch-fiktionale Vorwegnahme dessen, was die Epochenschwelle für Folgen zeitigen könnte. Der prophetischen Angstbannung vorsorglicher Inszenierung und den Nachweis ihrer Beherrschung in den Künsten wird erst allmählich die ableitungslose Initiation zugeschrieben, die sich als Genialität etikettiert. Mehr auf Seiten der Technik denn auf jener der Kunst stehen etwa die szenografischen Konzepte, mit denen unter anderem künstlerische Spektakel als solche kenntlich gemacht werden. Aus diesem Bezug heraus arbeitet der Großkünstler, nehmen wir Andy Warhol oder Olafur Eliasson, heute in einer Fabrik, deren Produktion auf differentielle Initiation oftmals vergänglicher Darstellungen fundiert. Derjenige, der die Zukunft prophylaktisch zu beherrschen im Stande ist, der sie also der Reproduzierbarkeit unterstellt, indem er die Zeit der Präsenz zu manipulieren versteht, hat die Macht, zumindest die Angst davor zu induzieren, sie könnte tatsächlich in eine andere Ordnung als die der saturierten Bürgerlichkeit hinauslaufen. Grünewald gibt an der Schwelle der Aufklärung den Unterschied zwischen Schrift und Bild, zwischen Ereignis und Erlebnis, zwischen Einmaligkeit und Vermittlung zum Problem eines hermeneutischen Zweispalts aus, indem er eine Gleichzeitigkeit behauptet, die der persönlichen Auslegung, und nicht der (katholischen) Kirche und auch nicht der unmittelbaren Zeugenschaft das Recht von Autorität zuerkennt. Der Exeget, nicht mehr der Augenzeuge vertritt das Ereignis, denn er initiiert sich als derjenige, dem seine Einbettung in den Lauf der Dinge gelingt, ohne sich selbst (Grünewald) exponieren zu müssen. Man kann dies „das Heraustreten des Künstlers aus dem Bild“ nennen. Es wäre nur konsequent, wenn Grünewald dem Antlitz des Johannes sein Gesicht verliehen hätte: als Zeugen seiner eigenen Zeit. Von nun an gibt es nicht nur den hermeneutischen Kanon der Bibelauslegung, wie ihn die protestantischen Strömungen exerzieren, sondern auch den Zwist, der durch die Konkurrenz von Bild und Text als Möglichkeiten der Beglaubigung aufbricht. Das Bild erweist die Evidenz der Geltung – es zeigt. Verschriftung ist Genesis von Ableitungen und somit von Macht über die Zeit, indem sie deren Aktualisierung in Aufführung erlaubt. Das Problem der Mehrdeutigkeit wird in dem Moment gestellt, indem sich die Malerei von der Bibelillustration emanzipiert und als Kunst autarkisiert.

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Gleiches wird vom Theater zu sagen sein: Der mimetisch karikierende Stegreif wird zur eigenständigen Verkörperung. Um zu verstehen, dass wir es hier nicht plötzlich nur mit einer anderen Inszenierungstechnik, der Malerei zu tun haben, die damals ein neues Medium war, nachdem sie durch die zisterziensische Kunstreform aus den Kirchen so gut wie verbannt worden war, muss man auf die spätmittelalterliche gotische Kunstauffassung verweisen. Otto von Simson hat das ausgehend von Hans Sedlmayr getan. Während nämlich Sedlmayr die inszenatorische Differenz zwischen Bildereignis und Abbild als jene zwischen Text und Reinszenierung im Kathedralbau am Werk sieht, betont von Simson die für das Mittelalter geltende analogische Einheit. Und es sind ja genau diese beiden Auffassungen der Metaphorizität einer Inszenierung (protestantisch) und der notwendigen Realoffenbarung ihrer situativen Szenifikation unter der Teilhabe wirklicher Menschen (katholisch), die das Problem einer möglichen „Nichtsinszeniertheit“ von Praxis erst hervorbringen und damit noch glauben machen, wir könnten uns in einer anderen Welt, der der ungebrochenen Wahrheit, bewegen, wenn wir nur die inszenatorischen Lügen der Politik, der Macht, der Ökonomie entlarven könnten. Doch dies setzt voraus, dass wir schon den Standpunkt einer dritten, freilich utopischen Welt einnehmen, die weder in dem einen noch in dem anderen enthalten ist und somit hermeneutisch als Leerstelle auf dem Weg zur unabschließbar homosexuellen Identifizierung führt. Sedlmayr schreibt: Die genetisch gesehen aus ganz anderen Wurzeln erwachsene Grundform der Basilika wird also in einer „interpretatio christiana“ umgedeutet zur Abbreviatur der typischen Züge einer antiken Stadt. In diesem abbreviierten Bild erscheinen jene beiden Teilbilder miteinander verbunden, die schon bei Johannes das Bild des Himmels bestimmen: himmlische Stadt und himmlischer Thronsaal.43

Wenn also der Text des Johannes-Evangeliums lediglich das Konzept einer möglichen Real-Reinszenierung der Kathedrale sein soll, steht dahinter das hermeneutische Konzept der verlustlosen Übertragung durch Medien, mithin der Identität von Leser und Autor. Das ist aber gar nicht gemeint, wie Otto von Simson in Korrektur der Auffassung Sedlmayrs betont. Und es ist wichtig, auf die Nuance dieser Unterscheidung zu achten. Es geht nämlich nicht um Umdeutung zwischen Buch und Szene – so wie anscheinend Grünewald sie dem zweifelnden Täufer unterlegt –, sondern um das Wissen, dass, 43

Hans Sedlmayr: Die Entstehung der Kathedrale. Freiburg i. Br. 1993, S.112.

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gleich welches Medium im Paragone der Künste man wählt, im Spiel zwischen diesen Darstellungsformen selbst stets der göttliche Offenbarungsprozess andauert, sodass Medienwechsel nicht eine Art Übertragungsstörung, sondern notwendige Einheit der Teilhabe an der (göttlichen) Realität selbst sind, da in der Universalität der Katholizität so etwas wie eine „andere Welt“, die die gegenwärtige als „bloß“ inszenatorisch entlarvt, gar nicht gedacht werden kann. Listigerweise verbindet von Simson diese negative Identitätsaussage mit der gotischen Kathedrale nun nicht im Sinne einer Reinszenierung des Johannes-Evangeliums und anderer Stellen über den Salomonischen Tempel und die Heilige Stadt, sondern mit der Interpretation der Kathedrale selbst. Ihr Offenbarungswert ist nicht das Aufkommen eines vorher dunklen Lichtraumes, sondern das Durchscheinen einer massiven Wand. Nicht das Licht, wie bei Sedlmayr, sondern die Durchsichtigkeit der Materie wird gefeiert, d.h. ihre gnostische Entzauberung. Zu einem unbekannten Zeitpunkt, aber gewiß vor dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts, war es allgemein gebräuchlich geworden, am Ende jeder Messe den Eingangsabschnitt des Johannesevangeliums zu verlesen. Mit seiner sublimen Lichttheologie muß er den Zuhörern eine Vision der Eucharistie als eines göttlichen Lichtes vermittelt haben, das die Finsternis der Materie erhellt.44

Nicht nur dass hier – im Gegensatz zu Sedlmayr – auf eine Ableitung verzichtet wird. Der an das Diesseits gekoppelte Offenbarungsgedanke selbst wird nicht transzendiert. Das Hier und Jetzt der Materie ist die Offenbarung, die gleichwohl durch viele Formen der Materie hindurchscheinen kann, vorzüglich durch die des Fleisches. So ist ein Motto des offenen Retabels eben aus jener Stelle des Johannesevangeliums entnommen „Johannes gab Zeugnis von ihm und rief: ‚Dieser war es, von dem ich sagte: Der nach mir kommt, ist mir voraus, weil er eher war als ich.‘ “ (Joh 1,15 auch 1,27 und 1,30) In der beständigen Weigerung des Täufers, seine Genealogie zu bezeugen bzw. dieselbe umkehrbar zu halten, ist der Ewigkeitsgedanke der Offenbarung schon inkarniert als das, was durch jeden Menschen hindurchscheint: nicht im Sinne einer Verständlichkeit oder eines Wissens, sondern im lebendigen Vollzug. Das heißt aber auch, das Leben medial zu entzaubern und gerade Mediengenealogie als deren Selbstaufklärung voranzutreiben. Die Gegenweltthese eines Paradieses, das man für die Gläubigen 44

Von Simson, Die gotische Kathedrale, a.a.O., S.84. In Joh 1,5. und 1,6 heißt es im Prolog: „Das Licht leuchtete in der Finsternis, die Finsternis aber hat es nicht ergriffen. [...] Ein Mann trat auf, gesandt von Gott, sein Name war Johannes.“

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als Kathedrale inszenieren muss, bricht damit zusammen. Vielmehr gilt es zu behaupten: Die Kathedrale ist das Paradies – ein anderes wird es nicht geben, gleichwohl wir uns noch viele andere denken können. So ist gerade die moderne Profanisierung der Welt nichts anderes als die quasi-kantische Selbstbeschränkung des Mittelalters auf die Offenbarung im Diesseits, zu deren Kontradiktion freilich immer noch das Dunkel, die (romanische) Materie, sowie wie die Höllenqualen und das Paradies herangezogen werden, die gleichfalls real waren, aber in einem anderen „Land“. „Der mittelalterliche Kosmos war sozusagen theologisch transparent. Die Schöpfung galt als die erste der Selbstoffenbarungen Gottes, die Fleischwerdung des Wortes als die zweite.“45 Die Buchstaben eines Textes sind insofern in gleichem Maße heilig wie ihr Sinn, denn durch die Buchstaben hindurch entfaltet sich die Wirklichkeit. Sie sind nicht notwendiges Mittel zum Zweck. Damit schwindet, wie von Simson schon in den Werken Abt Sugers von St. Denis bemerkt, der „Abstand“ zwischen „Sein und Schein“.46 Erst wer ihn wieder bemerkt – oder wenn er sich bemerkbar macht, wie bei Grünewald, und sich nicht sogleich auf die profane oder sakrale Seite schlägt, zwischen Inszenierung und Wahrheits- oder Wirklichkeitauffassung unterschieden hat, den eigenen Spielraum zur Unterscheidung notiert –, kommt zu der Einsicht eines hermeneutischen Universums, in der das Spiel von Identität und Identität und Differenz unabschließbar ist. Und gerade dieser Gedanke erweist sich für eine existentielle Hermeneutik als fundamental. Er gibt der Zeit kein telos mehr vor, sondern erschließt einen mundus oder skopus, indem zwischen „physikalischem Phänomen“ und „ästhetischem Schauspiel“47 Übergangsphänome der Aneignung von Präsenz und Genealogie im nichtmetaphorischen Sinne formuliert werden können.

c. Fiktion als Initiationslegitimation Diese Differenzproblematik spiegelt sich in der nur scheinbaren Symmetrie zwischen der Darstellung links und rechts des Kreuzes im geschlossenen Retabel. Die szenische Konzeption der Trauernden – Jungfrau Maria, Maria 45

Ebd., S.56f.

46

Ebd., S.3.

47

Ebd., S. 84.

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Magdalena und der Jünger Johannes –, die als „echte“ Situation der Verzweiflung angesichts des Todes dargestellt wird, wird dem konkreten, wissenden Zweifel des Täufers gegenübergestellt, der aus dem Zweifel die konkreten Differenzen isoliert (Zeigen und Symbolisieren) und deren Einheit bezeugt. Diese Einheit ist nicht die der organischen Einheit der situativen Gruppe links, sondern die Einheit des inneren Zweifels des ersten und letzten Propheten, den man beinahe „cartesianisch“, mindest aber „analytisch“ nennen darf. Diese Analytik herausgearbeitet und sie nicht nur gleichsam in Stein gemeißelt zu haben, macht, nach von Simson, das Wesen schon der Gotik aus. Zwar gilt es auch, nach des Heiligen Bernhards Wunsch, der die zisterziensische Reform mit ihrem schmucklosen Stil angestoßen hat, dem einfachen Volk Inszenierungen des Glaubens zu bieten, da die komplizierten theologischen Ableitungen nicht verstanden werden konnten; wesentlich war aber die Legitimität durch Nachvollzug einer Erklärung, die der gotische Baukörper respektive die Kunst selbst bieten sollten. Diese Unterscheidung zwischen dem Verstehen und dem Erklären, der synthetischen und der analytischen Präsenz einer genealogischen Ereigniskette, gilt also schon viel früher als die Unterscheidung, die Dilthey für das späte 19. Jahrhundert für eine natur- und eine geisteswissenschaftliche Hermeneutik macht. Sowohl für die Anteilnahme am Bauen wie für die Rezeption gilt: An der Offenbarung teilhaben heißt, sie selbst zu vollziehen. Das heißt aber, dass zwischen der situativen Inszenierung und der instruktiven Unterweisung, – also zwischen zwei Formen der Genese –, nicht aber zwischen Inszenierung und Nichtinszenierung unterschieden werden kann. Denn der Kathedralbau hat keine Autorschaft.48 Er ist ein Stiftungswerk aller und lässt sich folglich nicht als eine einem Künstler, Autor oder Regisseur zugeschriebene Inszenierung verstehen. Die Performanz des Bauens als Darstellen schafft die psychische Entlastung gegenüber Unbegründbarkeiten; die Analytik selbst wird nur als eine Modifikation davon verstanden und hat in der Gotik, wie bei Grünewald, und erst recht heute ihren finalisierenden Charakter49 verloren. Von Simsons Ausführungen versuchen, das ihrerseits plausibel50 zu machen: 48 Der gotische Stil schon; man kann seine Synthese dem Abt Suger von St. Denis zuschreiben. 49

Das mathematische Abschlussprojekt dieser Art Analytik als Ende der Naturwissenschaften war das Hilbert-Projekt, dem Gödel die Grundlage entzogen hat.

50 Plausibilität ist als Projekt zu verstehen, eine Falsifizierung nicht auszuschließen. So muss man sich anlässlich der gründlichen wissenschaftlichen Textanalyse von Simsons fragen, was denn das Ziel seiner Arbeit war: die Ableitung der gotischen Kathedrale als historischer

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Sugers Ästhetik, oder besser seine Theologie der Schönheit, ist in ihren Hauptzügen typisch für das zwölfte Jahrhundert. Suger hat mit seinen Zeitgenossen gemein die platonisierenden Tendenzen und deren wichtigste Quellen, Augustinus und vor allem den Pseudo-Areopagiten, aber auch das Gefühl, daß sinnliche Erfahrungen nur insoweit bedeutungsvoll sein können, als sie zu enthüllen vermögen, was dahinter liegt – „de materialibus ad immaterialis“.51

Wichtiger als die Ableitungen, die im Offenlegen der Kraftschlüsse des gotischen Systems sinnfällig werden, ist, dass im platonischen Kosmos die Wiederholung als Ritus deswegen „ewig performiert“ wird, weil man mit Erklärungen keine Beruhigung der Zweifel der Unendlichkeit erwirbt, sondern nur im situativen Nachvollzug, das meint im Gemeinschaftserlebnis der Inanspruchnahme einer Verkörperung, eine Materialisierung, die sich in sich selbst (durch Wiederholung) gründet, erwirkt. Das Wiederholbare kann man sich durch Verschriftung zunutze machen. In Sugers bahnbrechender Schrift über die Einweihungsfeierlichkeiten seiner Kathedrale 1144 können wir den „eigentlichen Prozeß“ der „Erbauung“ zumindest des Chors als im metaphorischen Sinne „Erbauung“ „Schritt für Schritt miterleben, um das vollendete Werk verstehen [!, R.B.] zu können, dessen wirkliche [!] Bedeutung sich dann im liturgischen Akt der Weihe enthüllt.“52 Hier kommt das, was wir im heutigen Verständnis „Inszenierung“ nennen, an eine Grenze, die durch den Begriff „Ritual“ bezeichnet wird. Wenn – wenigstens idealtypisch – einerseits die Autoren des Stücks Spieler und Zuschauer, Erbauer und Erbaute sind, ist die Vorgabe, „den anderen zu verstehen“, weil er mir hier und jetzt nicht zugänglich ist – wie eben das Ereignis auf Golgatha –, Erklärungsversuch oder das synthetische Verständnis für die Situation einer vergangenen Epoche, deren Denken, wie ich eben zu zeigen versuchte, ihre Spuren bis heute fortträgt? Kann man von dieser Epoche sagen, wann sie begonnen hat, wer ihr Auslöser war und wann sie enden wird? Obwohl man der Bedeuutngsbestimmung dieses Epochenbegriffs beliebig nahe kommen kann (zisterziensische Reform, Suger von St. Denis, Wiederentdeckung Vitruvs und der Antike in der Renaissance etc.), handelt es sich doch um keinen Gegenstand, sondern eben um eine Bedeutungshandlung. 51 Von

Simson, Die gotische Kathedrale, a.a.O., S.186.

52 Ebd., S.183. Von Simson bezieht sich auf Sugers Schrift De consecratione ecclesiae Sancti

Dionysii. Mir ist nur eine in ihrer historischen Bedeutung gleichwertige Schrift bekannt, die in der Offenlegung der Inszenierung die Unterscheidung zwischen Inszenierung und Nichtinszenierung unhaltbar macht, indem sie die Erklärung für eine spezifisch analytische Form der Inszenierung eines argumentativen Weges erklärt; nämlich die Beschreibung Ludwig XIV., die dem Besucher von Versailles anweist, die Spektakel seines Gartens in einer bestimmten Weise zu seiner „Erbauung“ zu erleben, Manière de monter les Jardins de Versailles, (1698-1705).

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sinnlos. Es gibt im Ritual den anderen nicht. Andererseits wird verständlich, warum Grünewald in den Winkelzügen des Täufers die Identität des Triviums von Autor, Spieler, Zuschauer „ek-statisch“ in einer einzigen Figur vereinigt und zugleich allegorisch materialisiert und attribuiert – und sich selbst, als vierte Person, Arrangeur der Kunst und eines so komplexen Kalenderaltars einsetzt, um so auf eine allegorische Hermeneutik zu verweisen, die nicht ohne ein Vorverstehen der problematischen historischen Situation um 1515 auskommen kann. Das wiederum reißt die Frage nach den Ursachen, Gründen und Zielen erneut auf. Diesen Zirkel (Kirchenjahrfeiern und theologische Fundierung) darzustellen, dafür steht thematisch wie konzeptionell der Isenheimer Altar ein. Er steht nicht dafür ein, das Zerbrechen der katholischen Welt zu manifestieren, sondern zwischen dem protestantischen und dem katholischen theatrum mundi zu vermitteln, d.h. den Gebrauch der Dinge, die man nicht mehr rituell erklären kann, durch „Design“ wenigstens zum Funktionieren zu bringen und damit das Ritual als evidente Praxis auf technische Weise funktionieren zu lassen. Eine solche Sichtweise schließt aus, die Wirklichkeit durch Metaphorik als diskriminiert anzusehen. „Inszenieren“ heißt nicht, eine Wahrheit zu manipulieren, es heißt, den Spielraum zu öffnen, der, modern gesprochen, zwischen dem Individuum und der Weltgesellschaft in ihren arbeitsteiligen Erbauungen und Produktionen, im Funktionsimperativ einer technisierten Praxis durch ästhetische Zurichtung (Design, Interfaces) verschlossen ist. Dass es sich bei der Konzeption Grünewalds um eine genealogische Darstellung dieses Medienphantasmas handelt, das durch die naturalistische Maltechnik eingeführt wird, ist im Hinblick auf die Erfindung des Buchdrucks als wesentlicher Reproduktionstechnik, sprich „Ritualisierung von Produktion“, nicht von der Hand zu weisen. Es ist dieser frische Naturalismus, der sich mit einem subjektiven Realismus paart, der zu jener Zeit aus dem Herzogtum Burgund herüberweht53, und der die Besucher des Museums Unterlinden heute noch fasziniert. In diesem Sinne spricht jede mediale Deutungsoption die Gleichzeitigkeit einer szenischen Differenz an. Gleichzeitigkeit konstituiert Raum, Raum bildet Szene, Szenifikation protegiert Handlung, Handlung gibt der Zeit Dauer und ersetzt so fehlende Ableitungen. Sobald Deutungen sich vom Medium abhängig machen, potenzieren sich die Variablen und Kontexte genealogisch und synchron. 53

Hier sind vor allem die Werke von Holbein und van Eyck zu nennen, aber auch die stärker der Renaissance zuzurechnenden von Dürer.

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Nun geht kein väterliches Wort mehr voran, welches das Jenseits im Diesseits einer Praxis des lesenden Gebrauchs und somit der handelnden Deutung vorweg bestimmt. Die Handlungen müssen nun zeigen, dass und wie sie angesichts ihrer Folgen handeln. Ihre Evidenz gerinnt zum Zeichen, zur Arbeit. Der aber, der als Sohn vorweg gibt, was Gegenwart setzt, handelt als Prophet. Seine Vordeutung kann stets nur aussprechen, dass sie als Bedeutung verspätet kommen wird und im zu Deutenden das Medium der Deutung schon anerkennt. Zur Versinnbildlichung der Wiederauferstehung bedarf es einer lückenlosen Folge der Söhne und Propheten, einer Herstellung der Genesis, die als Bild problematisch ist. Das aber wird um 1500 neu: Raffaels Die Schule von Athen (1510-11) versammelt das Ungleichzeitige im Medium der Zeitlosigkeit so wie Grünewald Johannes den Täufer als Zeugen für ein Ereignis autorisiert, bei dem er nicht anwesend war. Beide Werke entstehen zeitgleich. Diachrones wird synchronisiert, das Bild beginnt im Moment seiner Emanzipation mit der Aporie einer Fiktion vom dokumentarischen Wert der Einmaligkeit (Historie) und Dauer (Offenbarung) zu spielen. Eben dieses Problem der Synchronisierung der Geschichte im Bild begegnet uns in der Figur Johannes des Täufers: Letzter Prophet der alten Zeit, weicht er Jesus, dem ersten Propheten der neuen Zeit. Die neue Zeit, das ist nicht mehr die der mosaischen Dinge, Zurichtungen, Riten, Initiationen und Handlungsvorschriften54, sondern die der medialen Inszenierungen, der Bedeutungskonkurrenzen, die die Religionskonflikte entfachen. Dabei geht es weniger um die Macht des Wortes, letztlich um eine wissenschaftliche Ablösung von der Darstellung im Hier und Jetzt eines konkreten Raumes, die herausfordert – also um die Verwandlung von Situation in Szenifikation: Modelle, Experimente, Simulationen sollen den Parallelausstieg aus der Autorität der Geschichte individuieren und zugleich eine neue Form technischer Autorität (die in Wirklichkeit das mythische Modell teleologischer Kausalität ist) etablieren; das krisenbewältigender, funktionierender Praxis. Um nun diese Argumentation der Verwandlung legitimieren zu können, muss es ein theologisches Argument für die Reinheit der ursprünglichen Botschaft gegeben haben. 54 Vgl. Ex 24ff. In diesem Kapitel schwört Mose sein Volk darauf ein, mit den Gütern des

„goldenen Kalbes“ Gott zu dienen. Es wird eine ganze Reihe von liturgischen, architektonischen und gestalterischen Vorschriften erlassen, die das Verhältnis des Volkes Israel zu seinem Gott regeln. Dazu gehört auch der Hinweis auf die „Künstlerberufung" (Ex 31) und die „Künstlerarbeiten“ sowie die Inszenierungsformen (Ex 35,10).

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Es bewahrheitet sich, dass Gott das Wort ist. Gerade darauf legt das Johannes-Evangelium wert (Joh 1,1). Einer genealogischen Legitimität gehorcht nicht das Bild, sondern das der Situation enthobene und damit ewige Konzept der Schrift. Johannes der Täufer hält diese Verwandlung von Genesis in Genealogie szenisch in Händen. Er verweist sowohl auf den Christus am Kreuz als auch auf das Buch, weil er auf Golgatha nicht anwesend war und weil er an der Verschriftung keinen Anteil hat. Als Täufer, als mediatisierter Körper ist er jeder Situativität enthoben und mediatisiert auch die, die er tauft. Er ist ein Agent der Reproduktion eines Erlebnisses. Grünewald referiert auf diese reinigende Transformation, die vom heiligen Sakrament der Initiation übergeht zur Heiligen Schrift. Die unbefleckte Empfängnis (als opferlose Initiation) geht in der spätmittelalterlichen Ikonografie vom Buch durch das Ohr zu dem Menschen. So verkünden es die Bücher des Alten Testaments: Die reale Wiederkunft wird über die mediatisierte Genesis, im Logos der konkreten menschlichen Gestalt Jesus bewiesen sein. Das heißt, dass dem Körper der Schrift nicht der Mangel innewohnt, den wir als Demarge der Übertragung heute technisch einklagen.55 Die Bibel lesen, heißt, die Auferstehung zu vollziehen. Der erste Prophet des Neuen Testaments bleibt der einzige und letzte in der christlichen Eschatologie. Damit endet sozusagen der Wiederholungszwang. Nichts wäre nun einfacher, als zu sagen, die Religionen des Buches könnten ihre Legitimität einzig aber 55

Eine interessante These zur Brückenfunktion des Passionsspiels im Mittelalter für das Theater der Neuzeit ergibt sich aus dem Argument von Faulstich, dass die Szenifizierung des Ritus der Messe ein Abkömmling des antiken Dramas (weniger des Theaters als Aufführungsrahmen) sein könnte, wenn man die mythischen Form der Wandlung und Verwandlung betrachtet. Die Auferstehung kann durchaus mit der antiken Darstellung der Jenseitigkeiten als Rollenverhalten interpretiert werden. „Die Kirche bekämpfte nicht nur das heidnische Theater, sondern das Theater im allgemeinen. Daß dennoch, möglicherweise auch auf Anregungen aus Byzanz hin, das Kirchentheater entstand, liegt zunächst einmal am eigenen Ritus der Messe, mit der die Grundthesen des Christentums (Gottes Sohn wird Mensch, opfert sich und erlöst damit die sündige Menschheit) symbolisch immer wieder aufs neue (‚zum Gedächtnis‘) präsent gehalten werden; dann aber auch am ureigenen Bekehrungsgedanken des Christentums wie an seinem Monopolanspruch.“ Werner Faulstich: Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter 800-1400. Geschichte der Medien Bd. 2, Göttingen 1996, S.182f. Dieser Ansatz besagt einerseits, dass die Traditionen des Christentums eingebunden sind in den Darstellungsfundus der Antike, andererseits, dass über eine historische Betrachtung hinaus die anthropogene Form des Rituals als Wiederholungsform eine Steigerung der Intensität des Gedächtnisses wie eine Abwehr der Fiktionalität zu Gunsten einer ‚Beweisbarkeit‘ des Glaubens monopolisiert. Das Hauptthema des Passionsspiels ist übrigens zunächst der Besuch der drei Frauen vor dem geöffneten Grab, später dann sind es die Stationen des Kreuzweges, die funktional schon narrativ dramatisch sind und im Ritus szenisch ‚erwandert‘ werden.

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vollständig durch die memoria der Schrift ausweisen. Gerade das ist ja neu am Christentum: Es sieht sich nicht allein durch einen Gott initiiert, es initiiert sich selbst durch die Verfügbarkeit der Initialkraft seiner Sohnesschaft in Jesus. Das Christentum denkt einen Anfang also erst durch die Reproduktion, die Verdopplung, und somit durch die Freiheit vom Schicksal als vollzogen. Stets geht der Prozess der Anerkennung einer Inszenierung voraus, die in der katholischen Lehre der Transsubstantiation den buchstäblichen Sinn als realen erfasst. Die Inszenierung ist also nicht bloß leeres Theater gemäß dem Ritual, sie ist das Legitimationsinstrument für die Freiheit des Menschen vor Gott – einer allemal problematischen Freiheit. Das ist wohl ehrlicher und weniger theatral, als von opferloser Medientechnologie zu träumen. Denn die Offenbarung des Buches wirkt auch, wenn man es, wie im Mittelalter üblich, nicht (und schon gar nicht auf Latein) lesen kann. Es bedarf der Intensivierenden Zwischenvermittlung des Priesters und seines eucharistischen Schauspiels, der in der gleichen Stellung steht wie Johannes der Täufer. Erst die Einführung des Buchdrucks verändert diese Vermittlungsposition. Dass es einer theologischen Sensation gleichkommt, wenn nach dem II. Vatikanischen Konzil der Priester sich der Gemeinde zuwendet und dann auch noch in der Sprache der Gemeindemitglieder spricht, zeigt, wie die Wiederholung zu Gunsten der rituellen Intensivierung verdrängt wird. Von nun an testet man die Medienvielfalt durch deren Szenifizierung hindurch, nach der gerechten Darstellung, nach der Teilhabe an Autorschaft. Diese Gerechtigkeit, die eine Folge der List der Präsenz ist, ist den Menschen des Mittelalters verwehrt: Mit dem Ausschluss der Gläubigen von den Geschehnissen des Altars, der lateinischen Sprache und dem teilweisen Bilderverbot sind sie zum Glauben verdammt.56 Wenn in der Renaissance dieses Verhält56 In Schulen wird die Gleichwertigkeit von Bild und Schrift durch Johann Amos Come-

nius im Orbis Sensualium Pictus. Hoc est, Omnium fundamentalium in Mundo Rerum & in Vita Actionum Pictura & Nomenclatura. („Die sichtbare Welt. Das ist aller vornehmsten Welt-Dinge und Lebens-Verrichtungen Vorbildlich und Benahmung.“ (1658)) eingeführt. Comenius eröffnet für die Pädagogik eine Logik der Übersetzbarkeit von Schrift und Bild, die den Zweifel verdeckt, der sich anlässlich der Ableitbarkeit und Ersetzbarkeit beider Medien schon zu Beginn des Buchdrucks organisiert hat. So fordert er auf, die Phänomenalität der Dinge ohne Einbeziehung des „Leibes“ zu betrachten: „Ziehe nur deine Sinne von den bereits hervorgebrachten Dingen ab! Und indem du überlegst, wie sie denn hervorzubringen seien, bedenke vor allem noch: Welchen Zustand haben die Dinge wohl, solange ihre Erschaffung erwogen wird? Sind dann gewisse nicht schon, gewisse aber noch nicht, gewisse teils schon, teils aber nicht?“ Comenius spielt auf den cartesianischen Zweifel und eine Genese, die vom Logos abgeleitet ist, an: „Von daher kommen zuerst die Begriffe bzw. Überlegungen, dann die Worte bzw. die Sprache und schließlich die Dinge.

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nis szenisch angegriffen wird, zeigt das um so stärker die historische Abhängigkeit einer Deutungsvielfalt und veranlasst geradezu ein geschichtliches Denken allererst als Reinszenierung. Noch ein zweites Moment bestimmt den Übergang von Sakrament und Schrift, der für die Auslegung der Trennung von Szenifikation als Vorgabe und Szenifikation als Einbildung von entscheidender Bedeutung ist: nämlich der Umstand, dass der Leser jetzt in Eigenregie die Arbeit der Interpretation leisten muss, da die Paratexte gegenüber der situativen Zurichtung des Bildes (Kontext und Welt) im Buch geradezu systematisch ausgeblendet werden, damit der Leser sich seine eigene, private desituierte Meinung in wie auch immer solipsistischer Interpretations-„Methode“ bildet, oder genauer: empfängt. Denn von Empfängnis und Offenbarung, den beiden Sakramentsvoraussetzungen, muss im sonst völlig undurchsichtigen Prozess der Sinnbildung durch „unsinnliche“ Typen ausgegangen werden. Auch wenn Grünewald die Bücher seines Altars malt und diese als handgeschriebene Bücher zu sehen sind, darf doch gegen Ende des 15. Jahrhundert nicht vergessen werden, welche revolutionären Folgen Gutenberg mit seiner Ökonomisierung der Buchproduktion angestossen hat. Michael Giesecke etwa berichtet in seiner Studie über die sozialen Umwälzungen, die mit der aufkommenden Literarisierung in den beiden Kirchen verbunden waren und die es Luther erlaubten, die Sakramente auf Taufe, Beichte und Abendmahl zu reduzieren, und damit die szenografischen Handlungen zu Gunsten der typografischen zu verändern. Von beiden sich bildenden Konfessionen wird nämlich der Buchdruck als göttliches Geschenk (Sakrament), als neuem Heilsweg begrüßt, jedoch mit dem Unterschied, dass die einen gegen die Vielfalt der Auslegung plädieren, die anderen aber bereit sind, auf die Selektivität des Marktes zu setzen, in der die Wahrheit sich durch das göttliche Medium selbstverständlich durchsetzt, wohl wissend, dass auch Luther die orale Wahrheit, die Predigt, eben nur gutheißen wollte, wenn sie sich an das gedruckte Wort hielt. Die Pointe dieser Idee ist jedoch bis zu Marx nirgendwo bemerkt worden, da nun „der Markt“ sich nirgendwo sinnlich ikoSiehst du, daß wir eine neue Dreiheit in unserer Vernunft gefunden haben?“ Johann Amos Comenius: Pforte der Dinge. Janua rerum. Hamburg 1989, S.53. Der Kommentator von Erwin Schadel vermerkt dazu Stellen cartesianischer Schriften. Er spricht mit Descartes von einer „zweiten Schöpfung“, die nach der Subtraktion der sinnlichen Zutaten auf den reinen Logos verweist. Nicht das zweite, sondern das andauernd, bruchlos nachvollziehbare erste ist es, was mangels alternativer Leiberfahrung dem mittelalterlichen Menschen bleibt. So ist das wesentliche Anliegen des Comenius das einer Intensivierung des Verstehens durch Präsentifikation, das einer Autorisierung der Dinge durch Begriffe gleichkommt.

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nografieren könnte, es sei denn durch die vulgäre Praxis der Buchware und das „gemeine“ Lesen. Im Kern geht es also hier um unterschiedliche Sozialisationsvermittlungen und damit um Kommunikationsmodalitäten, auf die Buch und Hand verweisen. Imaginationskraft und Sinnesleistung werden trenn- und unterscheidbar, Darstellung und Vorstellung fallen auseinander, wie später bei Schleiermacher die Aspekte einer divinatorischen und einer komparativen Methode der Auslegung. Für beide Konfessionen hat das (gedruckte) Buch zunächst ein Art kontinuierlicher Taufe systematisiert: Die metaphorische Verknüpfung von ‚Kommunikation‘ und Bewässerung war zu jener Zeit schon uralt. Die christliche Gemeinschaft wird seit der Zeit des Alten Testaments über die Taufe hergestellt, der Ausschluß aus dieser Gemeinschaft erfolgt durch die Abkopplung von dem Kommunikationsnetz, durch Exkommunikation. Weil das Wasser der Katalysator zur Bildung der christlichen Sozialgemeinschaft ist, flieht der Teufel das Weihwasser. Alle Mitglieder der Christengemeinde sind insoweit durch das Wasser mit Gott in Berührung gekommen. Er erscheint in dieser Konzeption als Ursprung des Wassers, als Quelle. Alle ‚Kunst und aller Verstand‘ wurden den Menschen durch diesen ‚quellenden Brunn eingegossen‘. [...] Die ‚Truckerei‘ erscheint selbst als ein solcher Brunnen – samt des dazugehörigen Bewässerungssystems. Geschaffen durch Gutenberg und die zahlreichen Drucker, Verleger, Buchführer und andere, gespeist wird er auf höchst menschliche Weise durch die Autoren. Welches Amt bleibt dann aber für Gott? Letztlich nur dasjenige, den Menschen den Buchdruck zu schenken – und sich im übrigen aus den Prozessen der Wissensvermittlung und der sozialen Kommunikation zurückzuziehen.57

Die Quellen der damaligen Zeit sprechen in ihrer Kritik keineswegs das Drucken selbst oder den ökonomischen Aspekt an – auch wenn allmählich die Geldgier der Drucker, die jedes Machwerk annehmen, angeprangert wird –, sondern die nicht zu kontrollierende orale Verbreitung des Wort Gottes, die ja sowieso schon gegen den szenischen Akt der Taufe eine der Reinigung und Klärung entgegenstehende Diversifikation erzeugt. „Gott hat sich der Druckerei bedient, um seine Lehre vorbei an den Geistlichen, die nicht mehr in seinem Namen, sondern gemäß ihrer eigenen ‚Gier‘ handelten, direkt seiner Gemeinde zu verkünden.“58 Nur handelt es sich allmählich nicht mehr um die Gemeinde, sondern um den Einzelnen, der mit der Regie 57 Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt am Main 2006, S.158f. 58

Ebd., S.160.

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des Textes befasst wird, den er (still) im Kopf zu reinszenieren hat. Dass hierfür Regeln gelten, wie theologische Hermeneutik sie seit Jahrhunderten aufzustellen versucht hat, wird in den Büchern zunächst nicht mitgeliefert, vor allem auch nicht, wie nun die neue Sozialisation sich zu vollziehen hat, die „Reinszenierungen“ sich vermitteln sollen: wieder oral, durch und auf dem Markt?59 Die „Vernunft“ wird von nun an die sich selbst autorisierenden Gründe der Vergemeinschaftung liefern. Jedenfalls war es Luther darum zu tun, den Kurzschluss von Quelle (Gott) und Quellendem (Leser) über das Buch „als Autorität und Verkündigungsmedium anzuerkennen“, und zwar als unüberbietbar einzige, weil reine Quelle. „Es schien ihm ganz widersinnig, wo doch das Wasser (die Weisheit in den gedruckten Büchern) so reichlich den Menschen zufloß, noch nach anderen Bezugsquellen zu suchen. [...] Für denjenigen, der sich selbst versorgen kann, der autark geworden ist, sind weitere Geschenke nicht notwendig, im Gegenteil, sie zerstören nur die neue Ordnung.“60 Die katholische Fraktion dachte zwar ähnlich, war aber nicht bereit, die Selektions- und Sozialisationsmechanismen etwas so Unwägbarem wie dem Markt zu überlassen. Sie behielt die „Wasserversorgung“ nicht nur weiter in der Hand, sondern versuchte im Kern auf die privative Imaginationskraft direkt einzuwirken – und zwar mittels der Barockisierung des Vorstellungsraumes, von dem die Gegenreformation durchdrungen ist, indem sie über alle Grenzen des (klassischen) geometrischen Raumes hinweg ihre Virtualisierungen, Knoten, Schleifen, Falten als inszenatorische Autorität zurückzuerobern verlangte. Nicht das Buch, sondern die universellen Inszenierungstechniken sorgen hier für die Reproduzierbarkeit demokratisierter Ableitungen. Die Gegenreformation ersetzte, wenn man im Bilde bleiben will, den unsinnlichen Vorgang des Markt- und Meinungstausches und den inneren Dialog mit dem Text durch die Sinnenspiele der Kirmes. Sie sorgte so wieder für eine Resakramentisierung und integrativen Sozialisierung durch Szenografie, durch Typisierung von Vorstellungsbildern, in denen sich das Ima59

Ebd., S.331ff. Giesecke begreift „Publizieren“ als einen Kommunikationsvorgang, der im System „Markt“ (geldvermittelt) Öffentlichkeit hervorbringt, da das gedruckte Buch sich an „Jedermann“ in seiner „gemeinen“ Sprache wendet, während geschrieben Texte nur auftragsbezogen distribuiert wurden. Das ist insbesondere bemerkenswert, als die Typo-Reproduktion eine erste standardisierte Massenfertigung von Waren/Bücher erlaubte und damit zwangsweise in Konkurrenz zur Heiligkeit der Heiligen Schrift steht. Die Diversifikation der seltenen Abschriften wird durch die Diversifizierung auslegender Individuen ersetzt und lange noch oral abgeglichen – was wiederum eine Vereinheitlichung der Sprache zur Folge hat.

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Ebd., S.163.

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ginäre einigermaßen disziplinieren ließ. Macht und Repräsentation arbeiten jetzt im technischen Sinne Intensitätskonzepte auf. So wenig wie man den realen Warentausch nach Marx, Weber oder Sohn-Rethel sein sinnliches Geheimnis entlocken kann, da er auf einem abstrakten Niveau (Geldwesen) beruht, das nicht einem, sondern allen als Quelle verpflichtet ist, so wenig kann man den Rücktausch der gedruckten Schrift in Vorstellungsabläufe erklären. Eine szenische Hermeneutik hätte nun aber gerade diese Querstellung zwischen Abstraktion und Konkretion als wie auch immer geartetes Spiel von materialisierter Information und prozessierender Kommunikation zu verstehen, deren Abwehr- und Begehrensmomente als widerstreitende die Szene ihres Streitraumes stabilisieren, ohne die Kombinatorik der Selektion dogmatisch für neue Situationen einzuschränken und damit für veränderte Umweltbedingungen das System unflexibel zu machen.61 Hier wird wirksam, was Grünewald als Konsequenz seiner konfessionellen Diskussion, wenn nicht sogar seiner Unschlüssigkeit symbolisiert, nämlich die tödliche Blockade der differentiellen Subjektivität in der Hinrichtung „Andersdenkender“, genauer: „Andersvorstellender“ – denn die frühchristliche Lehre ist zunächst einmal Ideologie, Vision, und wird erst später zur handlungsanweisenden Kirche und Sozialpraxis. Worauf Johannes der Täufer nämlich auch verweist, ist nicht der reale Jesus, sondern dessen Leichnam: das Bild. Die exegetische Komponente, die aufs Äußerste dem (gedruckten) Wort verpflichtet wird, kann sich im Altar des Matthias Grünewald der Reinszenierung der Schrift in freier Kombination der Elemente so widmen, dass der Exeget die Differenz von arbiträren, performativen und ikonischen Zeichen selber thematisiert – und zwar im „Mal“ einer Wahl (zumal im Wundmal, der Prüfstelle von Tod und Leben. Das stellt den 61

Es ist dieser Spielraum, den die Mnemotechniken der alten Schulen einzuschränken wussten, indem sie das Auswendiglernen von Texten an die Reszenifikation knüpfen, deren Spielraum speziellen Verkehrsregeln gehorchen. Giesecke spricht mit McLuhan davon, dass das Lesen den Gedächtnissinn bevorzugt, sodass sich die anderen Sinne wie „hypnotisiert“ eine andere „Heimstatt“ zu suchen haben, nämlich jene, die sich durch bildende Künste, insbesondere das Theater affizieren oder heute in Analogie zum Film stehen. Da nicht Buchstaben, sondern Sinnräume memoriert werden, konstruierten „Gelehrte der Renaissance, die Thomas von Aquins Methode verfeinerten, [...] im Geiste Architekturformen – Paläste, Theater, Städte, das Reich des Himmels und der Hölle –, in denen sie alles unterbringen konnten, was sie sich merken wollten.“ Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens. Frankfurt am Main 2012, S.99. Dies zeigt, wie schon in der Scholastik Texttreue stets mit der Untreue des Lesens im Erinnern verbunden war. Die Identifizierung der materiellen Basis des Bedeutens entsprach so letztlich einer Identifikation mit Szenen des Alltags, in der das Vergessen konstitutiv für Lebenspraxis ist.

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eigentlichen Umbruch der Renaissance dar, die die „Wiedergeburt“ nötig hat, weil sie den Anschluss an die antike Welt, den der frühe christliche Glaube verwehrt hat, als Ereignis begrenzter Dauer erfährt. Wenn Kulturen auferstehen und untergehen können, fragt man nicht nach einer Kontinuität der Geschichte, sondern im lutherschen Sinn nach der individuellen Art zu leben und Lektüre situativ zu entfalten. All das steht im Verhältnis von Büchern zu Bildern, von Zeigen und Verweisen zu jener Zeit auch zur Debatte: Die Relektüre der Bücher Vitruvs, 1486 in Rom gedruckt, führt nicht nur zur Memorialisierung eines klassischen Stils, sondern bei Palladio zu dessen realer Inszenierung. Architektur wird Memorialität, über deren Wiedererinnerungswert man sich keine Gedanken machen muss. Eine szenische Hermeneutik ist eine Hermeneutik dessen, was auch immer nicht gesagt und und gezeigt wird und was auf gnostische Weise als Vor-AugenLiegendes einfach praktiziert wird und somit den höchsten Geheimniswert, den der Evidenz, hat. (Steinerne) Architektur überdauert quasi zeitlos und bannt damit die Gewalt des Verfalls und stabilisiert die Macht der Autoritäten.

d. Der Opferkalender und das Kalenderopfer Das Retabel stellt mit seinen diversen Tafelfaltungen nicht nur ein Bild dar, es folgt in seiner Darstellung der Inszenierungsabsicht des Kirchenjahres und hat somit eine – wenn auch sehr moderate – dramatische Wirkung einerseits und eine narrativ diachronische andererseits. Das Verhältnis von Sinngenese und Präsenz wird nicht aufgegeben, aber weil es sich als unaufhebbar erweist, kann die Doppelung sich zu einem Effekt der Ewigkeit aufschwingen. Sie zeigt sich formal in der Symmetrie des Flügelaltars. Damit offenbart der Isenheimer Altar, dass es nicht mehr genügen kann, dem Wort und dem Bild getrennt seine Aufmerksamkeit zu schenken, sondern dass in der äußersten Frühe des Barocks der medialen Inszenierung als Initiation sinnlich differenter Vergnügen ein gesteigertes Maß an Aufmerksamkeit zukommt. Noch sind die Figuren nicht durchweg allegorisch partialisiert; noch sind sie, was sie sind. Ihre Gesten haben Hand und Fuß, aber schon nährt sich der Zweifel, dass das ursprünglich filiale Moment, das sich zum Patriarchat der Kirche emporgeschwungen hat, sich möglicherweise auch einer anderen Deutung eröffnen könnte. Das Zeigen und das Bedeuten sähen schon den Zweifel an der katholischen Ganzheit und Universalität. Ein halbes Jahrhundert nach

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Gutenberg wähnt man, dass nun auch das Buch zu einem fakturierten Ding geworden ist und dass es sich nur wenig von jenen Dingen unterscheidet, die um der Dinge willen genossen werden. Heißt das aber nicht, den abwesenden Vater als ein bloßes Phantasma der Enteignung mütterlichen Produktion anzusehen, die in Medienhandlungen sich unendlich filialisieren und die Marienverehrung bis in absurde Hysterien hinein treiben? Wenn jedoch alle Tochtermedien sich als befleckt erweisen, dann – nach Gutenberg – nicht mehr wegen des Umstands ihrer Zensierbarkeit oder Brennbarkeit ihres, sondern auf Grund gerade ihrer scheinbar opferlosen Reproduzierbarkeit, womit sie evolutive Ableitungen im generationssexuellen Sinn überflüssig machen. Zunächst ist das Buch das universelle Vatermedium. Nicht im Menschen, sondern in den Dingen und Werken überdauert der Ursprung der Initiation: Kunst ist der erste Ausdruck dieser autonomen Produktion. Für die allegorischen Animationen des katholischen Barock, die sich über alle Mediengrenzen hinweg als inszenatorisches Programm verstehen, bietet das die Chance, die Präsenz, den Affekt und das Event im Diesseits zu besetzen, indem man den Tod, den man in die Dinge implementiert hat, aus ihnen wieder hinaustreibt. Es geht um eine in der Warenkultur ausgesetzte Genesis im Verhältnis zu den Stasen der Zeit. Episoden der Geschichte, die hinterrücks in der Lesart der Generationen, die über das gleiche Buch sich beugen, zeigen, dass in unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Bedeutungen den Text infizieren können – so wie das Retabel und die aufkommenden Stundenbücher durch unterschiedliche Ansichten und Flügelöffnungen unterschiedliche kirchenjahreszeitliche Ereignisse festschreiben sollen. Es gibt eine Intensität der Dauer und der Möglichkeiten, die die Kunsttheorie – vielleicht seit Palladio – als Stil entdeckt. Die divinatorische und die komparatistische Methode werden bei Schleiermacher durch eine des Stils, einer „entsituierten“ Zeitform ergänzt. Das eröffnet ganz neue Horizonte im Verstehen als einer Reaktualisierung und Reintensivierung der Zeit, z.B. im barocken Fest. In Rückgang auf die Geschichte erweist sich der spätere, bilderzeugende Barock als Offensive zur eindeutigen, „naturalistischen“ Bestimmung, die jedoch nicht die subjektive Perspektive im „Realismus“ ausschließt, sondern wieder auf die Involvierung des Leibes in den points de vue setzen muss. Der Blick wird hier zu einem lebendigen Ding, das wie ein Instrument bespielt werden kann. Von anderer Ordnung ist die Tatsache, dass der Täufer als Anwesender von der Kreuzigung zeugt, obgleich er dort nur als Gespenst hätte erscheinen

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können.62 Bekanntlich wurde er, wie eine reich ausgeschmückte Legende um Salome berichtet, vor der Kreuzigung Christi enthauptet. Dies müsste auch Grünewald bekannt gewesen sein. Damit die Bedeutungen eindeutig werden, muss die Reihenfolge der Zeit die Szene situativ ausweisen: Sie ist nicht unhistorisch, sondern folgt abstrakten Schriftverweisungen. Damit wir das, was der Bedeutung vorausgeht, erklären können, müssen wir die Zeit, in der wir zu uns selbst zu spät sind, umkehren, invertieren können: Das meint nun die Reszenifizierung oder „geisthafte Verlebendigung“ einer Situation im Bild; bei Raffael in der Schule von Athen wie bei Grünewald wird diese Simultaneität zur Aufgabe, das Bild als Narration zu erleben. Ohne diese phantasmatische Tauschmöglichkeit von Schrift und Bild, von Situation und Szene gibt es keine Logik der Hermeneutik. Sie verbleibt dann auf der Stufe magischer Mantik. Auf dieser aber stellt sich die Frage der Endlichkeit der Dauer gar nicht, weil sie unverbrüchlich an Prozesse des handelnden Lebens gebunden sind. Zeit aber ist Einbildungskraft. Die aus der Pluralität der Medien sich zu jener Zeit konstituierende Hermeneutik fragt nicht nach der Bedeutung, sie fragt nach dem, was ihr an phantasmatischer Vaterschaft vorausgeht und im Körper der Schrift seine Auferstehung feiert. Es wird jedoch auch schon nach der Glaubwürdigkeit von Dokumentarität gefragt und die Heilsgeschichte als Historie vermutet, indem man die historisch deplatzierte Figur des Täufers zum Zeugen einer Genealogie der Propheten heranzieht, die ja selbst noch die letzten Mantiker sind. Eine szenische Hermeneutik fragt danach, welche Inszenierungsmöglichkeiten bestehen, die Phantasmatik der Zeitordnung des Sexus, der Dinge und Ereignisse, die uns voraus sind, in einer Synchronität der je historischen Deutungen lebendig zu halten. Wir fragen heute nicht mehr nach der Geschichtlichkeit und der familialen Ableitung, wir fragen nach der ökonomischen Konjunktur, in der die initialen Inventionen sich als dauerhaft und verlässlich, als ökologisch und nachhaltig erweisen; das heißt, man fragt nach dem Ende des Opfers. Die malerische Inszenierung gibt nicht Zeugnis ab von der Offenbarung, sie konkretisiert immer noch in einem vorsichtigen Ikonoklasmus, der 62

Das Todesjahr Johannes des Täufers wird entweder auf 28/29 oder 31/31 n. Chr. datiert. Auch in seinem Tod geht er Jesu voraus, so als müsste man jeder Innovation in einer Initiation den Stachel des Nicht-Integrierbaren ziehen, um es mit dem Prädikat der Ewigkeit belegen zu können. Die Festschreibung als memoria erfolgt durch Verdoppelung ,die zugleich eine Filiation und Hierarchisierung der Ansprüche auf die Ursprünglichkeit und Autorschaft festlegt.

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sich erst im Barock gänzlich überwindet und in der formalisierten Allegorie den Kampf mit dem aufnimmt, was man nicht eindeutig wissen kann. Da das Lesen der Buchstaben, die aus der Situativität des Hier und Jetzt erlösen, nicht intuitiv erfolgen kann, versucht auch die Allegorie sich als arbiträre zu verrätseln. Meister Grünewald hintertreibt mit seiner von äußerster Könnerschaft gezeichneten, realistischen – weil durch einen subjektiven Blick gefärbten – Darstellung dieses kinematischen Kunstwerks, das sich dem Jahreslauf der christlichen Feiern andient und dennoch Fixierung aufs Visuelle hält, die Verrätselung. Er bietet Lösungsansätze des zu seiner Zeit erst schwelenden Konflikts. Der aktualisierenden Aufführung im Visuellen nimmt sich das Museum Unterlinden heute mehr denn je an: als sichtbare Geschichte.63 Kein Zweifel, wir messen der musealen Inszenierung mehr Bedeutung bei als dem szenischen Erlebnis, das den Altar als Teil des eucharistischen Geschehens bestimmt hat. Es wird immer ein Problem bleiben, die Perfektion der Inszenierung als Simulation und sodann als Evidenz zu deuten, in der diese mit Praxis verschmilzt: Jede Ware muss heute erst einmal als Produktinzenierung gewürdigt und erkannt werden, um sich als Begehren vom sofortigen Konsum abzugrenzen. Aber sind wir nicht gerade heute in der Lage, mit den vielfältigen Darstellungs- und Inszenierungsmitteln Vertrauen und Glaubwürdigkeit in Repräsentationen zu finden, weil immer wieder die gleichen Geschichten in immer wieder neuen Medien erzählt werden können, sodass das Neue als beständige Attraktion des Alten Einzug hält? Grünewald einen Maler der Renaissance zu nennen, heißt, etwas zu wissen, was der Zeitgenossenschaft entgeht. Geht es uns also nicht um die einzige Bedeutung, sondern um die Entfaltung des Reichtums von Deutungen – einem Reichtum, der den Mangel abwehren soll, dass wir nicht dabei gewesen sind, dass wir an den Offenbarungen nur noch medial Anteil haben?64 Dieses Problems nimmt sich die Ausstellung des Retabels an: den Reichtum des Wortes durch den Reichtum der Farbklänge, der Faltungen, 63

Man muss während der Umbauphase weder auf den Besuch des Altars noch auf eine vorweggenommene Simulation des Neubaus verzichten. Vgl.: http://www.colmar.fr/ extension-museum-unterlinden-colmar.html (Zugriff: 14.3.2015).

64 Dieses Problem hat Dieter Mersch im Ausgang an Gumbrecht mit Hinblick vor allem

auf Derrida aufgegriffen. Er thematisiert die drei Paradoxa der „Referenz“, der „Materialität“ und der „Performanz“ als Serien, die je von einem Zuviel (an Sinn) und einem Zuwenig (an Präsenz) durchdrungen sind, in deren Folge sich das spontane Ereignis in ein disponibles Erlebnis unter ganz bestimmten Effekttechniken modulieren und „verkörpern“ lässt. Vgl. Dieter Mersch: Posthermeneutik. Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sonderband 26. Berlin 2010, S.133.

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der Kontextualisierungen und Ritualisierungen zu inszenieren. Die Verschiebung der Funktion vom Altarraum in das Museum wird eher einer Sakralisierung als einer Profanisierung gerecht.65 Die monokausalen Formeln des Wissens als einer ewigen klaren Identität erweisen sich schon im Programm von Grünewald als komplex und problematisch. Wenn Wissen die höchste Form des Glaubens sein soll, so muss vom Text aus seine Genesis wieder aktiviert, das heißt, an konkreten Körpern in ihrem familiären Status unter der mütterlichen Produktion wiederhergestellt werden: Sichtbar werden heißt, Wissen als Evidenz zu markieren. Dazu aber bedarf es der kunstvollen Inszenierung. Ob der Finger den Leichnam bezeichnet, den Blick des Täufers verkörpert oder gar auf dessen Kompetenz zurückverweist – ob es sich um das „Phantom“ einer nur noch zeigenden Materialisierung handelt, die der Maler intendiert für die er die Kompetenz der Intendanz in Anspruch nimmt –, muss jeweils als Rückschluss auf Inszenierungsvorgang und Handlungsanweisung entschlüsselbar bleiben. Autorisierung lässt sich nur erzwingen, wenn man Fähigkeit hat, die Inszenierung als Form wechselseitiger Kommunikation aufzukündigen, d.h. umzulenken auf ein anderes Medium. Man muss also um Andersheiten und um die Instrumentalisierung des Körpers wissen. Es ist schon so, dass das Bild selbst zeigt und sich zeigt. Es führt seine eigene Autorität mit sich. Nicht nur Subjekte können Zeigehandlungen und Blicke ausführen, die demgemäß immer ein Sehen für andere implizieren.66 Grünewald versteht somit den Zeigefinger in diesem Sinne als Medium, und Medien als selbstreferentielle Verkörperungen. Der konzeptuelle Ansatz auf der rechten Seite der Tafeln hat in der Person Johannes des Täufers mit dem Entschuldungsvorgang der Taufe jene Kräfte entfesselt, die bis in die jüngste Neuzeit die Naturwissenschaften vom Zeit- und Raumsinn des konkreten Subjekts befreit, ohne von den Zweifeln der Mehrdeutigkeit zu befreien – insbesondere von jenen, die in der Zeugenschaft des Vaters von jeher zweifelhaft waren: die der Übergangszeit von der Zeugung zur Geburt, die im Recht des Namen-des-Vaters noch heute durch die Taufe legalisiert wird. Die Vorhersagen und Modelle der Theore65 Es geht auch umgekehrt: In der Sankt Nicolai-Kirche zu Kalkar am Niederrhein, die zu Gottesdiensten genutzt wird, hat man die verschiedenen Retabel so arrangiert, dass zwischen einer musealen und einer liturgischen Funktion nicht zu unterscheiden ist, sodass der Tourist sich in einer Art Bedeutungs- und Namensverleihung versetzt sieht: einem Taufakt. 66 Vgl. dazu die Ausführungen von Lambert Wiesing: Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens. Frankfurt am Main 2013.

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tiker (Propheten) sind dann eindeutig und gehen genetisch vom Glauben zum Wissen über, wenn sie, so die Geste des Täufers, sich als reproduzierbar und inszenierbar erweisen, wenn neben der Fremdverweisung die Selbstreferenz eigens ausgewiesen wird, wenn das Retabel nicht mehr nur zeigt und verweist, sondern auch sich selbst aufführt. Wenn Aufführungen sich als Binnenorganisation des vexierhaften Zweifels erweisen, der nicht im spezifischen Semantisierungszwang unterjocht wird, dann geben sie die Genealogie des Deutens an den jeweiligen Augenzeugen weiter und produzieren den Unterschied von generationssexueller und dinglicher Produktivität. Das, was auf diese Weise, nämlich in der Aufführung (als Kulturereignis), mehrdeutig ist, soll in der Inszenierung zwar gebannt, nicht aber eindeutig werden. Der Retabelkombination entsprechend erfolgt die Bannung durch die festgelegte jahreszeitliche Öffnung und Schließung der Flügel, die eine Aufführungsdauer von einem Kirchenjahr erlaubt. Doch noch enthüllt sich der Widerstreit zwischen Bild und Text an der Gestik des Täufers und der organischen Biegung der Körper – dazwischen die Zerrissenheit des Gekreuzigten. Letztere aber ist inszeniert. Auf mehrfache Weise zeigt Grünewald das ganz offen. Die konventionelle Form der Darstellung des lateinischen Mottos als Text im Bild konterkariert zum einen den Naturalismus, aktiviert aber zugleich als multisensorielles Provisorium audiovisuelle Kinematik. Hier ist wohl nicht die spätere Emblematik vorweggenommen, sondern immer noch ein Rest Buchmalerei und mittelalterliche Schriftmagie mitgedacht. Warum hat Matthias Grünewald an der zentralen Stelle die Szene durch das allegorisierende Element eines Mottos bereichern müssen? Anders gefragt, was lässt sich an dieser Szene nicht oder anders verstehen, ohne dass das Motto, das sich auch als Interpretatio verstehen lässt, aufgeschrieben wird? In einer ersten Vermutung haben wir annehmen müssen, dass die Person des Täufers, der zur Zeit der Kreuzigung Jesu schon tot war, einen Hinweis auf Synchronisierung gibt, die von situativer auf szenische Darstellung umschaltet. Dann ist damit natürlich in spezifischer Weise auf die durch Künstlerhand ermöglichte Wiederauferstehung im Mal der Malerei verwiesen. In der Tat ist es die zeitliche Deplatzierung des eindeutig in Gewand und Haltung erkennbaren Johannes, die verrät, dass es sich nicht um ein szenisches Requisit handelt, sondern um ein fiktionales Element, dessen Anwesenheit die szenische Realität, d.h. die Verbürgtheit der Kreuzigung für uns alle als Betrachter der Szene bezeugt.67 Autorisie67 Dabei scheint die Person des Johannes durch den Geschichtsschreiber Flavius Josephus

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rung erfolgt durch Zeugenschaft, aber in einer höheren Dimension – der des Heiligen, der zugleich der erste und letzte Prophet des Neuen Testaments ist. Denn mit der Einbringung dieser Figur in eine realistische Situation löst sie sich szenisch auf; sie wird zur Metonymie, zu einer dramatisierten Komponente. Wenn Grünewald in einer artifiziellen Szene eine Situation verdeutlicht, dann ist er in der Lage, die selbstreflexive Inszenierung der kunsthandwerklichen Gepflogenheiten zu durchschauen und instrumentell zu durchbrechen. Worin liegt der Unterschied? Die Situation bezeichnet eine Praxis, in der durch Vorbedingungen des Immer-schon-Gewussten (Evidenten, Praktizierten) eine raum-zeitliche Negation gesetzt ist, unter der Erklärungen und Wissen nicht mehr ableitbar gemacht werden müssen. Nehmen wir die Teilnahme eines Dieners beim Bankett der Herrschaft oder das zufällige Beisammenstehen an einer Bushaltestelle: Diese Situationen werden erst dann szenisch thematisiert, wenn irgendetwas die gewohnte Ordnung stört, d.h., wenn die Veränderung eine Umorganisation der kommunikativen Wechselwirkungen bedingt. Genau dies aber kann Teil einer Inszenierung sein, z.B. wenn man an der Haltestelle plötzlich eine Kutsche vorfahren lässt oder der Kellner ein Glas umwirft. Evidenz oder Praxis sind dagegen produktions- und opferentlastende Techniken durch Wiederholung.68 Der Täufer, das fremde, szenische Element, thematisiert die malerische Praxis nicht intuitiv ästhetisch, sondern methodisch, im Sinne eines Beobachters zweiter Ordnung. Nur unter der reduktiven Bestimmung einer abstrahierenden Szene kann man, um es salopp zu sagen, den unendlichen verbürgt. Aber schon seine Geburt ein halbes Jahr vor Jesus verweist auf den problematischen Akt der Vaterschaft wie auf den der Namengebung: „Johannes war nach der Erzählung im Lukasevangelium (Lk 1,5-25) der Sohn der Elisabeth und des Zacharias; er wurde der Überlieferung nach ein halbes Jahr vor Jesus geboren. Der schon alte Priester Zacharias, dessen Ehe lange kinderlos war, opferte im Tempel und erhielt durch den Erzengel Gabriel die Verheißung, dass ihm ein Sohn geboren werde. Zacharias zweifelte, bat um ein Zeichen und wurde vom Engel mit Stummheit geschlagen. Die dann tatsächlich in hohem Alter schwanger gewordene Elisabeth wurde in der Schwangerschaft von Maria besucht, die bei ihr blieb bis zur Geburt des Johannes. Elisabeth, nach der Geburt über die Namensgebung befragt, wusste aus ihrer Eingebung, dass der Knabe entgegen der Familientradition Johannes heißen sollte; gleichzeitig schrieb Zacharias den Namen auf eine Wachstafel, erhielt nun seine Sprache zurück (Lk 1,39-66) und brach in den im Lukasevangelium überlieferten Lobgesang aus (Lk 1,6779).“ In: Joachim Schäfer: Ökumenisches Heiligenlexikon. [Stuttgart] 2015. Abrufbar unter: www.heiligenlexikon.de [Zugriff 6.2013]. 68 Daraus wird verständlich, warum der Zwangskranke nicht begreift, dass die Wiederholung

eigentlich nur ein Vergessen der Opfer bedeutet, die er durch seinen Zwang beständig für andere herbeiruft, um jene auf ihren „Fehler“ aufmerksam zu machen.

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Fragen der Kinder mit definitiven Erklärungen ein Ende bereiten, ohne jeweils die Argumente bis auf Gottes unergründliche Wege zurückführen zu müssen. Anders gesagt ist die Situation praktischerweise immer die Beobachtungspraxis selbst und zwar als eine auf Gegenwärtigkeit reduzierte unendliche Verweisung. Während die Inszenierung stets unter der Leitung eines oder mehrerer Autoren zeigt, dass Aufführungspraxis als Szenifikation sich nicht von selbst versteht, als das ‚Unbewusste der Geschichte‘ konstruiert ist, kann die Situativität, weil sie evident ist, auf den Deutungsreichtum von Interpretationsmodi verzichten. Das heißt natürlich nicht, dass es so etwas wie „reine Evidenz“ gibt. Man kann in Bezug auf Grünewalds Allegorisierung sagen: Situationen sind Wissen, das auf Ableitungen verzichten kann. Szenen dagegen generieren Zweifel an der Praxis, die mit einer Überfülle an Sinn eine Gegenpraktik eröffnen, die jedoch mit der Gefahr der Auszehrung und der Verausgabung – man denke an das barocke Fest – einhergehen. In dieser Ökonomie – zwischen der Unverbrüchlichkeit der Glaubenspraktiken, festgelegt in den Schriften, und der Unglaubwürdigkeit oder Unwahrscheinlichkeit der Auferstehung als Megaevent geheimnisvoller Offenbarung –, also zwischen realistischer und ideologischer Darstellung, schleichen sich bei Grünewald die Zweifel ein, die dem Bild die Glaubwürdigkeit schenken, die sie dem katholischen Glauben nehmen. So verlässt sich Grünewald, der auch Architekt ist, auf Dramaturgie und Szenifikation und die Techniken seiner Künstlerschaft. Er steht, breitbeinig wie Johannes, über der Epochenschwelle. Es ist zu überlegen, ob mit dem Eingang der fingierten Anwesenheit des Täufers in der Kreuzigungsszene nicht auch die Schrift etwas von dem fiktionalen Moment bekommt, auf die seit Urzeiten die Propheten sich berufen. Grünewald geht es unter diesem Aspekt weder um historische Verbürgtheit noch um das Problem der Unglaubwürdigkeit durch zeitliche Proliferation, sondern um die Darstellung der Überzeitlichkeit des Evangeliums. In diesem Sinne ist der Täufer ad persona der ursprünglich allegorische Geist des Bildes. Insofern können wir sagen: Grünewald stellt in seinem Altar keine Szene vor, sondern er implementiert die Deutung durch konstruktive Reduktion einer Situation, d.h., er abstrahiert von der Zeit als einem historischen Weltbild, in dem die Ereignisse sich gemäß der Logik der Kausalität nacheinander entwickeln – was sie in einer prophetischen Intention nicht tun müssen. Denn hier, unter der Bedingung des Heiligen, kann man durch Mantik, Weissagung und Prophezeiung Zeit befreien und sie gemäß der sozialen Ritualität anhalten und zirkulieren lassen. Wie sollte man sonst Pro-

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pheten Glauben schenken, die von einer Zukunft berichten, die sich unter den Augen der Gläubigen verwirklicht? Indem Grünewald das Problem der Diachronität aufwirft, verwirft er zugleich den modernen Glauben an eine unumkehrbare Zeit. Indem er aber seine Referenz dem Täufer erweist, zeigt er, dass mit dem letzten Propheten die historische Geschichte einer neuen Zeitordnung beginnt, die sich zur jedesmaligen lebendigen Aktualisierung des Abendmahls (und zum biologisch-astronomischen Kalender) nicht mehr unbefangen verhalten kann. Damit ist verbunden, dass jede eindeutige Erklärung, respektive alle kausale Ableitungen, sobald sie semantisiert werden, zu genealogischen Ausarbeitungen nicht mehr taugen, solange sie nicht das Stigma des initialen Wunders tragen. Wenn man der Zeit nicht mehr den Respekt erbietet, den die zu Grünewalds Epochenschwelle sich etablierenden Uhrenwerke erfordern, muss man den historisierenden Charakter biblischer Geschichten anders auffassen – anders im Wortsinn von „alloς agoreuw“ („anders sagen“) – nämlich allegorisch. Wir können weiter feststellen, dass Grünewald uns nicht eine biblische Szene, sondern eine theologische Situation hat darstellen wollen, die selbstverständlich überzeitlichen Charakter hat. Diese Situation ist gekennzeichnet durch die aufkommenden Zweifel zwischen der Offenbarung, auf die die rechte Hand verweist, und auf die der Verkündigung, auf die die linke mit dem Buch deutet – wobei das Buch seit Gutenberg nun auch zu einem Ding wird, das sich reproduzieren lässt, das sich also selbst je identisch hervorbringt. Das heißt nichts anderes, als dass der Offenbarungscharakter des eucharistischen Erlebnisses auf die Warenkultur – das Buch ist einer der ersten durch Reproduktion hergestellten Waren überhaupt – übergeht.69 Argumentiere ich im Sinne der in der Renaissance aufkommenden Wissenschaften, so verleugne ich die Offenbarung der Situation; argumentiere ich im Sinne der überzeitlichen Offenbarungen, verleugne ich dagegen die logisch-mathematischen Ableitungen und wehre mich gegen monosemantische Auslegung der Schrift als eines historischen Dokuments. Nun wissen wir, dass die Bibel im Streit der Konfessionen beides ist – nur wissen wir nicht an welchen Stellen, denn die Bibel ist selbst ein über Generationen gehorteter Schatz an Selbstdeutungsmotiven des orientalischen Menschen. 69

Die früheste Reproduktionskultur stammt aus dem Kreta des 2. Jahrtausend vor Chr. Sie ergibt sich aus der „verlorenen Form“, einer Guss- und Schmelztechnik, mit der identische metallische Gegenstände mittels einer „Mutterform“ hergestellt werden können. Vgl. Martin Burckhardt: Vom Geist der Maschine. Eine Geschichte kultureller Umbrüche. Frankfurt am Main/New York, 1999, S.76ff.

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Die Dialektik von Text und Ereignis schließt sich dadurch, dass Grünewald das Ereignis in der Malerei mehrdeutig inszeniert – indem er mit dem Motto aus dem Johannes-Evangelium auf die Authentizität der Schrift verweist, und zwar mit einem Satz, der die Stellung dessen, der vorausgeht, zu Gunsten der Stellung dessen, der nachfolgt, minimiert und gleichsam hermeneutisch also Erkenntnis gegenüber Wahrnehmung favorisiert. Ich erinnere nochmals an die Wiederentdeckung der Schriften Vitruvs zu jener Zeit, die, nach erst nach ihrem massenweisen Druck durch Palladio, jedermann vor Augen führten, dass eine Kultur untergehen kann. Das Motto proklamiert als Warnung und Rettung die Ewigkeit des Christentums in einer Zeit, in der die Kirche ihre Einigkeit zu verlieren droht. Es scheint wesentlich zu sein, dass das Mysterium der Auferstehung und das Moment der szenischen Erneuerung hier miteinander synchronisiert werden. Alles andere hieße, auf den ödipalen Konflikt zuzusteuern. Es genügt die Inszenierung als eine Form der wechselseitigen Anerkennung, um im Motto den Herrschaftswechsel vom Alten zum Neuen Bund zu vollziehen. Meint Grünewald hier tatsächlich schon das Heraufdämmern einer neuen Konfession ankündigen zu können? Und in welchem Maße und mit welcher Gewalt sollte sie sich vollziehen?70 Dass die Weltgeschichte zu einem theatrum mundi wird, hat erst der Barock gezeigt, und dass das nicht ohne Ironie zu feiern ist, hat erst die Frühromantik formalisiert. Herrschaftsübergänge müssen durch die Kontinuität eines Dritten (im Mittelalter die Kirche) situiert werden. Worum sollte es sonst in der Darstellung gehen als um die Krise des hermeneutischen Zirkels, in dessen Zentrum stets der abwesende Vater, oder, struktural aufgefasst, der fehlenden Signifikant steht? Schließlich gibt der lateinische Text etwas zu verstehen, was sich durch die Visualisierung selbst nicht erklären lässt, nämlich die Selbstaufdeckung der Inszenierung durch Aufführung. Es geht nicht um die optische Simulation einer realen Szene. Die allmähliche Vertauschung von instantaner Sichtbarkeit und allmählicher Offenbarung maßt sich allegorisch an, die Übergänge zwischen Buch und Leib, zwischen Vater und Sohn, zwischen ‚katholisch‘ und ‚evan70 Hier gibt es Parallelen zu Hamlet. Die Selbstzweifel nach dem Vatermord sind in einem

inszenierten Wahnsinn markiert – einer Zeit der Verwirrung, des Übergangs, in der sich die neuen Herrschafts- und Gewaltverhältnisse stabilisieren sollten. Aber Hamlet ergreift die Initiative zu spät. Man hat immer wieder auf das Problem des Endes der auch in konfessionellen Fragen relativ stabilen Regierung von Elisabeth I. hingewiesen und auf die Angst vor einer fehlenden Nachfolgeregelung, die sich allerdings nach der Thronbesteigung von Jakob I. 1603 als unbegründet herausstellt. Hamlet wird 1603 veröffentlicht.

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gelisch‘ vermitteln zu können, so wie das Heilige Buch zwischen dem Alten und Neuen Bund vermittelt. Die sich entfaltende Deutung ist das, was diese Gegensätze in Übergänge verwandelt. Wenn man die Deutung selbst einer Macht unterstellt, dann nur einer göttlichen. Die Deutungsinitiation (Vaterschaft) geschieht ex negativo dadurch, dass sie als Verführung sich so ereignet, dass der Betrachter guten Glaubens ist, er sei der eigentliche Urheber einer Bedeutungsentfaltung und folge nicht einfach zwanghaft der Geste des Fingers. Die Geste ist kein Gesetz und kein Zeichen.71 Als Collophon des Zweifels ist die Geste subtil. Sie erweist sich als hinreichend instabil, um Übergänge zu tragen. In genau dieser Instabilität sollen Inszenierungen sich im Spiel halten, um sich nicht selbst als Arbeit zu substituieren. Zweifellos muss ein Großteil des Publikums in Colmar die Deutungshoheit der Kunstwissenschaft überlassen, doch sie wird als Teil des Inszenierungs- und Sakralisierungsprozesses des Museums begriffen. Damit das gelingt, dazu lehrt man zunehmend Techniken der Szenografie, die nicht mehr als Luxuswaren einer Evidenzgesellschaft auftauchen. Sie werden als Anspruch eines zunehmend professionellen Publikums eingeklagt. In einer Schar von Devotionalien hat der geheiligte Gegenstand des Isenheimer Altars Einzug in den Museumsshop gehalten: Was man nicht erklären kann, das muss man in Eigentum verwandeln. Besitz ist die kultivierteste Form der aktualisierenden Dauer eines Übergangs. Nun ist das Problem des Kunstmeisters Matthis Gotthard Niethart – so der eigentliche Name Grünewalds – keineswegs das einer Selbstdarstellung oder seiner Selbstinszenierung, sondern von theologischer Natur, nämlich das, wie sich der Glaube von den historischen Strömungen und den aufkommenden theologischen Konflikten unabhängig macht und wie die Ewigkeit der Katholizität sich in den heranbrechenden neuen Zeiten als unverbrüchlich behaupten kann.72 Es ist noch nicht an der Zeit, dafür eine Instanz Namens „Bewusstsein“ einzusetzen. Zur Lösung gehört vordergründig die Erklärung, warum in der Kreuzigungsszene eine Person als Geist erscheint, die zum Zeitpunkt der Kreuzigung schon tot ist – als könnte der 71 „Das einzige Prinzip des Spiels, das jedoch nie als etwas Universelles gesetzt wird, ist, daß Sie durch die Wahl der Regel vom Gesetz befreit werden. Da die Regel keine psychologische oder metaphysische Grundlage besitzt, gründet sie auch nicht im Glauben. Weder glaubt man eine Regel, noch glaubt man nicht an sie – man beachtet sie.“ Jean Baudrillard: Von der Verführung. München 1992, S.186. 72 1415 wird Johannes Hus in Konstanz verbrannt, 1509 wird Johannes Calvin geboren,

1517 schlägt Luther seine 95 Thesen an.

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letzte Prophet vor dem ersten Propheten und nach ihm eine Rahmung erzeugen, die die Einmaligkeit der Auferstehung vorwegnimmt. Auf diese Weise reproduziert Johannes im Akt der Taufe die erste Wiedergeburt Jesu, die dieser später als einmaligen Akt der Auferstehung im jedesmaligen Akt der Taufe zu wiederholen und symbolisch zu inkorporieren empfiehlt.73 Sakramente sind Offenbarungsformen, die, weil sie auf wiederholbare Handlungen aufbauen, nicht abgeleitet werden müssen, weswegen sie sich durch wiederholten Gebrauch nicht abnutzen. Johannes kann nicht nur die Vermittlung von Vater und Sohn, sondern zugleich die Austauschbarkeit der situativen Stellungen repräsentieren. Als Sohn ist man immer schon der zukünftige Vater, der durch seinen eigenen Sohn kompromittiert werden wird, wenn er nicht in aller Frühe der Taufe das Patriarchat in der Namensgebung anerkennt. Warum aber muss sich der patriarchale Signifikant als despotische Macht behaupten? Doch nur, weil die Vaterschaft durch keine Szenifikation sich nachweisen lässt, allemal nur geglaubt werden kann und desto radikaler mit der Eindeutigkeit des Namens und des Wissens belegt werden muss. Auf diese Weise macht sich der Sohn zum natürlichen Komplizen der Mutter.74 Denn welcher Vater ist in der Lage, tatsächlich seine Vaterschaft beweisen zu können? Dass dabei alle Psychologie der Selbsterkenntnis und alle Formalisierungen des Begehrens durch das Subjekt nachträglich appropriiert werden müssen, ist angesichts der Frühgeburt des Menschen verständlich. Zeit einzuholen, die voraus ist, heißt, im Namen der Propheten einem Phantasma der homosexuellen Selbstzeugung hinterherzujagen: dem der Geschwindigkeit. 73 Das Evangelium verdeutlicht, dass Jesus von Johannes an seiner Geisterscheinung erkannt wird: „Joh 1,31. „Ich kannte ihn nicht; doch daß er Israel offenbar werde, dazu kam ich und taufe mit Wasser.“ 32. Und Johannes bezeugte: „Ich sah den Geist wie eine Taube vom Himmel herniederkommen, und er blieb auf ihm. 33. Ich kannte ihn nicht; doch der mich gesandt hat, zu taufen mit Wasser, er sagte mir: ‚Auf wen du den Geist herniederkommen und auf ihm bleiben siehst, der ist es, der tauft mit Heiligem Geist.‘ “ Offensichtlich geht es in dieser Darstellung um die Verifizierung von etwas Unsichtbarem. Das kann aber nur das Ereignis des Verstehens und Erkennens selbst sein, als Akt einer „zweiten Schöpfung“, die retroaktiv das trügerische „Vor-Urteil“ der Sinne auflöst. Was sich hier als „Geist“ zeigt, hat im philosophischen Idealismus die Bedeutung von Kultur. Die wechselnden Rollen des Primats von Vorankündigungen zeigen die zwischen den beiden Propheten ausgehandelte Form regressiv-progressiver Analyse, wie sie die Hermeneutik vor allem Sartres bewegt. Gleichzeitig ist damit gesagt, dass die Erscheinung des Geistes einer besonderen Initiation bedarf, die nicht abgeleitet werden kann, sondern als Stimme Gottes in die Selbstaffektion des Auditiven gerückt ist. 74

Die Komplizenschaft der Mütter von Jesus und Johannes kommt in der Zeugungsgeschichte des Johannes zum Ausdruck.

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Geht man auf die aus den Fugen geratenen Zeitverhältnisse ein, so multipliziert sich der Sinn. In der Moderne muss die Eindeutigkeit der Szene (ihre Wahrnehmbarkeit einerseits, ihre Darstellung andererseits) wegen des irreversiblen Zeitstrahls kausaler Ableitungen durch die Optionen unterschiedlicher Deutungskontexte organisiert und streng reglementiert werden: durch die Konvention der Malerei, die Illustration der Bibel, die Konnotation des biblischen Textes, die Allegorie der theologischen Exegese, die Funktion eines Altarretabels, die Inszenierung eines musealen Werkes etc. – alles das sind Bedingungen, unter denen ein Produkt an Autorität gewinnt. Das Beispiel des Isenheimer Altars wurde nicht gewählt, um die Wendung einer szenischen Hermeneutik auf christlichen Bibelexegese zurückzuführen, sondern weil gerade die situative Auflösung des Realismus bei Grünewald deutlich werden lässt, dass Inszenierungen in ihrer Konkretion stets auch mit dem Opfer dessen aufwarten sollten, was im Übergang die erklärende Visualisierung nicht auffangen kann – nämlich die jeder Initiative vorhergehende Positivität der Praxis der Vermittlungen. Denn jede Inszenierung teilt die Welt in eine Praxis, die wir als Realität empfinden, obgleich sie ein vollständiges Negat liefert, und eine ‚Gegenpraxis‘, die sich theatral bisweilen auch hysterisch ‚inszeniert‘, der es also um die Negation und Aufdeckung dieser Praxis, genauer: der Praktiken oder Praktizierungen geht.75 Das ist nicht tautologisch. Denn die eine Praxis offenbart die andere irreversibel, stellt in Frage, was durch die Praxis nicht in Frage gestellt werden soll, damit Evidenz der Welterklärung und Weltorientierung überhaupt funktioniert. So steht auf der einen Seite der Positivismus des Wissens und der technisierten Repräsentationen, auf der anderen Seite die Revokation der Präsenzen und Performationen. Die Inszenierung muss als Inszenierung beobachtbar bleiben, soll sie nicht im Rausch ihre Präsenzaffektion verlieren; das gilt heute auch wieder für die Situativität des Buches und des Lesens.76 75 Vgl.

Masch, Posthermeneutik, a.a.O., S.104ff.

76 Die performative Wende kann so nur einhergehen mit einer Materialisierung der Vermitt-

lungsformen. In digitalen Simulationen von Präsenz ist zu bemerken, dass Materialisierung und Repräsentation zwei Modi der Rahmung performativer Akte sein müssen. Sie haben also weniger mit Kausalität und Begründung als mit Geburt und Tod zu tun. „[Jean-Luc] Nancy, der schon des Öfteren verschüttete Aspekte von Derridas Frühwerk zurück in die Diskussion gebracht hat, unterstreicht [...], dass unsere gegenwärtige kulturelle und epistemologische Situation durch ein Begehren nach Präsenz gekennzeichnet sei. Dieses Begehren aber kann sich selbst – der Unmöglichkeit seiner Erfüllung mehr oder weniger bewusst und im Gegensatz zum mittelalterlichen Theologem von der ‚Realpräsenz‘ Gottes – immer nur als ‚Geburt zu‘ oder ‚Entfernung von Präsenz‘ erleben, anders gesagt: als

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Grünewald ist als Kunstmeister nicht weit davon entfernt, uns das Problem der Semantisierung und Substanzialisierung medientheoretisch nahe zu bringen. Einerseits setzt er auf emblematisches Wissen zumindest der Bibeltexte, andererseits legt er es praktischerweise darauf an, dass die Szenen sich von selbst erklären, indem in ihnen auf Handlungen und Verwandlungen verwiesen wird. Er standardisiert mit der Person Johannes des Täufers die Funktion jenes Propheten, der Zukunft antizipiert, zugleich aber auch deren Möglichkeit nichtet77: Die Aufzeichnung erfüllt sich in der Kreuzigung, die Kreuzigung gibt der Fiktion der Prophezeiung nachträglich den Rang einer historischen Dokumentation. Alles, was im biblischen Text als Fiktion verstanden werden kann, ist der zwanghaften Erfüllung durch Visualisierung ausgesetzt – so eine weitere Deutung des Mittelteils des Isenheimer Altars. Dass es aber als Text verstanden wird, macht das eigentlich gnostische Element aus: die oberflächlichste Praxis des Lesen eines Buches, Lesen ist selbst Offenbarung. Deswegen galt die Bruckdruckerkunst auch für Luther als eine göttliche Kunst, die medial nicht zu überbieten ist – bis eben der Barock zeigt, dass es multimediale Inszenierungskünste gibt, die diesem Ideal Lügen strafen, indem sie das gnostische Element zum Geheimnis eines Zauberkunststücks machen. Man fragt bei modernen Inszenierungstechniken nicht mehr: „Was bedeutet das?“, sondern: „Wie haben die das gemacht?“ Für die Propheten heißt das: Ihre Texte müssen, wie im griechischen Mythos, in Rätseln gesprochen werden, die situative Mehrdeutigkeit eröffnen. Eine positive Bestimmung, weil sie die Dauer finalisiert, soll gestraft werden. Der Text der Bibel hat den gnostischen Gestus einerseits zu bewahren gewusst, er muss aber andererseits im Neuen Testament hinsichtlich des leibhaftigen Gottessohnes auf Dokumentarität hin sich umcodieren. Denn mit dem letzten Propheten erfüllen sich die Prophezeiungen und es gibt keine Geheimnisse mehr. Aus der Chronik der Zukunft wird eine Chronik der Geschichte, Oszillation zwischen diesen beiden Polen und Richtungen des Erlebens, als asymptotische Annäherung an oder als momenthaftes Aufblitzen von Präsenz. [...] Doch es scheint mir plausibel zu sein, dass Rituale der Produktion, der Geburt und des Schwindens von Präsenz in der heutigen global sich herausbildenden Unterhaltungsindustrie (und ich gebrauche das Wort ohne Wert-Vorurteil) einen besonders breiten Raum einnehmen, einen breiteren Raum als in den meisten Kulturen der Vergangenheit. [...] ‚Emergenz‘, ein Wort, das jüngst eine steile, aber unauffällige Karriere in den wissenschaftlichen Diskursen gemacht hat, ist ein passender Oberbegriff für das, was ich bisher ‚Produktion von Präsenz‘ und ‚Form als Ereignis‘ genannt habe.“ (Gumbrecht, Präsenz, a.a.O., S.141). 77 Um das zu demonstrieren, hat Shakespeare seinen Macbeth konstruiert: Die Zukunft, die Macbeth vorausgesagt bekommt, kann er nicht mehr ändern.

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die mit dem Datum der Geburt beginnt. In dieser exegetischen Tradition der Setzung eines patriarchalen Signifikanten als Nullpunkt steht Descartes wie noch die neue Kalenderordnung der Französischen Revolution, des Kommunistischen Manifests und der Oktoberrevolution.78 Alle Revolutionen müssen die Prophetie für beendet erklären und eine neue Zeit- respektive Epochenrechnung einführen. Hinterlässt der Prophet keine Schriften, so ist mit seinem Tod auch die Zeugenschaft dahin – es sei denn, er erscheint als Geist –, respektive ist das Erscheinen der Schrift zugleich das vom sinnlichen Erscheinen gereinigte (getaufte!) des Geistes.79 Unter der Möglichkeit des Erscheinens des (ewigen) Geistes, wird aber das Primat der wahrnehmbaren Realität zweifelhaft. Die unmittelbare oder ekstatische Zeugenschaft wird erweitert durch das Moment des Glaubens und durch professionalisierte Prophetie der Exegeten. So sind gerade Inszenierungskonzeptionen nichts anderes als die vornehmlich skriptuale Beschwörung einer theatralen Wirklichkeit, die sich in der Inszenierung von Aufführung zurücktauschen lässt, indem sie durch einen Regisseur vermittelt vorgibt, wie wahrzunehmen, d.h. die Aufführung zu deuten und zu wahren sei.80 Das ist die Zeugenschaft der linken Hand des Johannes, die auf das szenische Patriarchat der testamentarischen Schriften verweist. Der Prophet wird ersetzt durch die sich selbst erfüllende mediale Visualisierung (Erlösung und Überbietung des imaginären Modus). Die rechte, auf Christus weisende Hand folgt der alten Richtung. Ecce homo: Dieser Mensch beweist durch seine wirkliche Kreuzigung die faktische Menschwerdung Gottes als Akt der Erlösung des Menschen im Realen, die im Akt der Taufe vollzogen wird – als Ereignis, dass an keine Geschichtlichkeit gebunden ist. Erlösung 78 Jörg Rüpke: Zeit und Fest. Eine Kulturgeschichte des Kalenders. München 2006. Rüpke

geht insbesondere auf die Entwicklung vom römischen zum gregorianischen Kalender ein und zeigt, dass die Ursprünge der Datierung in Zusammenhang mit der Fälligkeit von Kreditierungen und Tagen der Rechtsprechung stehen, also der Reziprozität geschuldet sind.

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Wenn Kittler für eine Austreibung des Geistes plädiert, dann nur um die alte Vielfalt der Geister als Mediengespenster wieder aufleben zu lassen: „Die hysterischen Frauen, die traurigen Tropen, die saturnischen Anagramme.“ Einleitung zu Friedrich A. Kittler (Hrsg.): Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukuralismus. Paderborn 1980, S.9.

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Dass diese Kette von autorialer Vaterschaft, patriarchaler Produktion und filialer Aufführung noch bis in die Wissenschaftsindustrie hinein Gültigkeit hat, beweist sich in dem Umstand, wie man den Ursprung dieser Filiationen als Urknall (die initiierende Stimme des Vaters) im CERN (Genf ) zu inszenieren trachtet.

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meint hier Erlösung von den Zweifeln der Zukunftsdeutung der Propheten, reale Beweisbarkeit einer unerklärlichen Wiederauferstehung: jederzeit mögliche Geburt durch die Taufe der sich vollziehenden Sakramente.81 In der Taufe vollzieht sich zweierlei: die Zuweisung des Namens des Vaters und die Reinigung von der Schuld, die Ablösung von der Gewalt der Bestimmung der Vaterschaft; ein durchaus ambivalentes Sakrament, das letztlich der Anerkennung der ödipalen Verpflichtung wie des hermeneutischen Zirkels dient. Denn die Vaterschaft im Namen stellt dar, dass die Sprache stets die Sprache der anderen ist, die durch mich individuiert und als meine Deutungsappropriation ihrer Eindeutigkeit beraubt ist – was auch eine Art Urschuld darstellt. Hier wird die Sache im engeren Sinne hermeneutisch: nämlich Erlösung von den semantischen Filiationen, die als Bestimmungen der anderen meiner Interpretation der Welt immer schon den Stempel aufgedrückt haben. Warum wird denn in der Taufe „im Namen des Vaters“ getauft? Die Semantisierung einer Szene (Sakrament) ist mit dem realen Namen des Vaters unmittelbar gegeben, da die Namensgebung im strikten 81

Joh 1,1 beginnt mit der Problematisierung eines Anfangs – da aus ihm die GrundFolge-Verhältnisse abzuleiten sind, die hermeneutisch jedoch geleugnet werden müssen, da sich in der Deutung die Zirkelstruktur der wechselseitigen Verweisung offenbart. Man ist dem zu Deutenden in der Wahrnehmung stets voraus als ein anderer, der die Verspätung der Deutung (Reflexion) als Akt seiner Bewusstwerdung realisiert, sodass man sich als ein durch die Zeitekstasen gespaltenes Subjekt in dialektischer Bewegung begegnet – und verfehlt. Joh 1,1: „Im Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott, und Gott war der Logos. 2. Dieser war im Anfang bei Gott.“ In diesem Sinne stellt sich die Frage nach dem, was der Offenbarung Christi vorausgeht. Um sie als Offenbarung zu deuten, muss sie szenisch, das heißt in einer Wahrnehmungsinszenierung vorbereitet sein. Das leisten die Handlungen Johannes des Täufers als letzter der unzähligen Propheten. Die Fragwürdigkeit seiner Initiation, die auf Geheiß des göttlichen Wortes erfolgt, wird wiederum durch die „Juden von Jerusalem Priester und Leviten“ verstärkt. Johannes antwortet ihnen mit negativen Bestimmungen: Er sagt, wer er nicht ist. Die folgenden Erklärungen sind widersprüchlich. Er empfängt die Botschaft zu taufen wohl von Gott, andererseits wird er auf die Vorgängerschaft des Nachfolgenden hingewiesen. Joh 1,30: „Er ist es, von dem ich sagte: Nach mir kommt einer, der mir voraus ist, weil er eher war als ich.“ Damit bezieht er sich wiederum auf die Reinigung vom Infekt der sinnlichen Voreiligkeit, die man als anderer (zweiter) erneut aufgreifen muss, um sie als gereinigte wieder sinnlich (dann aber in der ‚gereinigten‘ Schrift) zugänglich zu machen. Nur im zweiten Schöpfungsvorgang erweist sich der erste als wirklich (wahrhaftig) – so ja schon der frühe Schelling in seiner Systemschrift. Die „retroaktive Performativität“ erweist sich also als vatermordender, filialisierender Vorgang des normativen Modus (astrophysikalischer) Zeitvorstellung, die um so eher als ein nachträgliches Konstrukt einer sozialen Zeitordnung aufgefasst werden muss – das vielleicht erst mit der Erfindung der Räderuhr ab 1400 seine volle normative und produktionsökonomische Wirkung erlangt. Denn von nun an lassen sich Gleichzeitigkeiten tatsächlich messen: als Präsenzen in diversen Räumen.

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Gegensatz zur irreduziblen und unableitbaren Bedeutung eines Wortes oder Satzes steht: Die Namensgebung spendet dem realen Körper einen symbolischen Fetisch, der den phantasmatischen überbietet. Es geht weniger um unmittelbare Macht als um den Ausdruck der Befriedung eines unendlichen semantischen Geschäfts. Der Name macht aus dem Gattungswesen ein Exemplar, individualisiert eine abstrakte Zuweisung, die ich wissen muss, die aber im Bestandteil des Familiennamens auch sinnlich erfahrbar ist: eine öffentliche Zeugung. Hier zeigt sich, worum es geht in der Funktion des Geistes Johannes des Täufers: Weil Vaterschaft nicht sichtbar und erklärbar ist, muss sie semantisiert werden, obwohl dies sogleich den Vatermord intendiert. Die Koalition mit der Mutter verweist dann auf die Natur der Realität. Es gilt, im Namen der Mutter (Maria) die Zeugenschaft des Vaters auf die tatsächliche Realität zu hinterfragen. Doch diese verbirgt sich in einer filialen Symbiose, dem Medialen, der Allianz von Materie und Form. Will man dieses Sub­ stanzverhältnis dissoziieren, ist man wiederum auf Szenifikation angewiesen, d.h. auf die Kompetenz der Zeugung symbolischer Einheiten namens Deutungen und auf die Darstellung des Unendlichen im Endlichen. Johannes, – als „negativer Ödipus“, der zu Gunsten seines Vaters sein Verschwinden realisiert, trotzdem aber als Taufvater von Jesus erscheint – zeugt und bezeugt im theologischen Mantel des Taufsakraments (diesen seltsamen Gewand aus Kamelhaar, das ihn als Wüstenbewohner auszeichnet, dem nichts kostbarer ist als Wasser) das Problem der eigenen Selbstbestimmung als Problem der Deutung einer Welt, die immer schon im Reservoir der göttlichen Bedeutung erscheinen muss. Auch hier wieder diese Verdopplung: Jesus, der als Sohn verschwindet und als Gott in den Himmel auffährt; Johannes, der als Sohn der Erfüllung des Alten Testaments verschwindet und als Vater des Neuen auftaucht – der als Vater Jesus tauft und als Sohn nach ihm erscheint. Der hermeneutische Aspekt dieser wechselseitigen Filiation ist uns als Problem der Selbstbestimmung aufgefallen, das von Descartes bis Kierkegaard unter dem Aspekt des Unerklärbaren (Aporie, Chiasmus, Paradoxie) aufgearbeitet worden ist.82 Es präzisiert sich in folgender Frage: Wie kann ich 82 Als philosophische Stützpunkte sind sicher Descartes auf der einen Seite und Fichte mit seiner Philosophie der Selbstsetzung auf der anderen Seite die markantesten Protagonisten einer Auflösung der Logik des „Selbst“. Mersch hat die verschiedenen Spaltungen und Kreuzungen zwar hinsichtlich der Problematik der Schrift (insbesondere bei Derrida) untersucht, greift aber nicht auf die Konzeption Luhmanns zurück, in der die Aporie die ursprüngliche Differenz markiert, die eine Oszillation lebendig halten muss und vermöge der die Kommunikation niemals rein sein darf. Vgl. Mersch, Posthermeneutik, a.a.O., S.201ff.

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autonom und autark Bewusstsein als meines behaupten, wenn alle Bestimmungen schon gesetzt, alle Namen schon vergeben sind und alle Zukunft schon in der Vergangenheit festgelegt ist? Welche Lösung bietet uns Grünewald hinsichtlich seiner Darstellung für die Aspekte des Zweifels an? Es ist offensichtlich die Medialisierung und Ästhetisierung des Problems selbst, seine Szenifikation und seine inszenatorische Indienstnahme, die davor schützt, das positiv zu überschreiten, was mir vorausgeht, und mich an die Stelle dessen zu setzen, was ich negiere – nämlich mich in der Unendlichkeit einer hochdifferenzierten Praxis aufzulösen. Damit das nicht geschieht, ist eine wie auch immer paranoische Anerkennung des A(a)nderen Voraussetzung. Die Anerkennung auch der Verführung ist keine Unterwerfung unter den anderen, sondern eine Akzeptanz der Ordnung der Zeit. Um den Zweifel zu bewahren, muss etwas erscheinen, was noch nicht besetzt ist und dessen Besetzung eine sanktionslose Herausforderung darstellt. Als soziale Praktik wird diese Strategie insbesondere von Kunstformen vermittelt. Als deren Vorläufer sind Wunder und Offenbarungen anzusehen, die aber nur punktuell utopische Orte erschließen. Die Öffnung der mittelalterlichen Welt, die Entdeckungen von Columbus, Vespucci und Vasco da Gama, dürften nicht nur am Rande eine Rolle gespielt haben, um die Katholizität zu sprengen, sie gar nach langen Kriegswirren aushalten zu können und schließlich als Chisma anzuerkennen. Der Abwendung des Protestantismus von Bild- und Devotionalienkult forderte im Barock vor allem die Darstellung der Suche nach Einheit. Das geschieht unter dem Stilmittel der überbordenden Faltungen und Monadologien. Grünewald, selbst wohl lutherischen Glaubens, muss seine Dienste am brandenburgischen Hof noch quittieren, obwohl er das Chisma aus dritter Position reflektiert, aus der des Künstlers. Der geschlossene Retabel zeugt von einer Reflexion für die Medienund Selbstverhältnisse, wird mit Zweifeln aufgeladen, die jedoch in der Fertigkeit der Inszenierung aufgefangen werden, um Deutungsdifferenzen kanalisieren zu können. Das Paradoxon des Selbst taucht dort nicht mehr auf, wo ich mich selbst als anderen deuten muss, wie ich mich der Deutung der anderen aussetze. Das ist die Perspektive der Renaissance, nicht aber des Protestantismus. So sehen wir Grünewald an der Epochenschwelle neuen Selbstbewusstseins zögern. Kommt das in den gebrochenen winkelhaften Gesten des Täufers zum Ausdruck, so wie der gebeugte Gram der Figuren der linken Seite gleichsam Aufstieg und Untergang der alten Reiche symbolisiert? In Bezug auf die Szenifikation spielt die Geste eine ebenso große Rolle wie das Retabel als Zeitmaschine der liturgischen Jahresfeiern. In der

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Rolle des Künstlers geht es jetzt aber nicht mehr darum, ein anderer zu sein, als der, der ich bin, sondern mich als anderen bedeuten zu lassen. Der, der inszeniert, wählt die dritte Position. Es muss in der höfischen Ökonomie einen Sonderetat für das tertium datur geben, eine Macht der Differenzierung, deren Gestalt sich als realistisch sich präsentiert und die noch den unscheinbarsten Requisiten eine sinntragende Bedeutung verleiht. Die Vermittlung zwischen „ich“ und „anderem“ wird seither in einer ganzen Reihe von künstlerischen und handwerklichen Befreiungen durchgeführt, die das Inszenierungsmonopol der Kirche plündern, das im Barock zum letzen Mal resakralisiert wird – aber nur noch in Gips und Stuck. Man weiß schon um die Profanität der Agenten. Je mehr Gold aufgesetzt wird, umso zweifelhafter sind die Verführungsmethoden. In diesem Sinne kann die Autarkisierung niemals gelingen; sie ist an die kommunikative Auseinandersetzung mit dem anderen gefesselt. Grünewald hat vielleicht rein intuitiv erahnt, dass das Glaubensproblem mit dem Verstehensproblem unmittelbar verknüpft ist: Warum hätte er sonst auf die Verdopplung und Tauschbarkeit der Vater- und Sohnesposition durch Johannes in einer solchen dialektischen Geste gesetzt? Jemand anderen und somit sich selbst zu verstehen, heißt dann aber in letzter Konsequenz –, so jedenfalls die frühromantische Hermeneutik – mimetisch in die Rolle des anderen zu schlüpfen, also der andere zu sein, sodass „kommunizieren“ heißt, das Negat der eigenen Abwesenheit als Selbstheit zu verstehen. Die Selbstproblematik erweist sich dabei als eine Differenzanmaßung auf Grundlage der Identität sozialer und medialer Gemeinschaft. Der abwesend Anwesende, das Gespenst des Johannes, spukt in der Imagination von Matthias Grünewald. Das Unbewusste tritt auf den Plan – nicht mehr als spekulative Vorgeschichte, die meiner verspäteten Geburt wegen entgangen ist, sondern als Präsenz, während der ich selbst nicht anwesend zu sein brauche, weil sie in der Praxis der Dinge jede Situation überdauert. Nun heißt es den Text nicht mehr als eine Folge von Ereignissen zu verstehen, die sich in Bedeutungen verwandelt haben, sondern zu verstehen, wie sich eine Folge von Bedeutungen in die Mehrdeutigkeiten von Handlungen auflösen lässt. Ganz einfach: Wie kann man in der unverständlichen Genese maschineller Erzeugnisse ihren Gebrauch verständlich machen? Nicht mehr durch den Hinweis auf die Bedeutungen, sondern durch die Inszenierung des Gebrauchs, durch Design. Das heißt aber auch, dass es einer Inszenierung nicht um die Demonstration der Macht einer Bedeutung geht, sondern um Deutungsinitiationen, die es ermöglichen, die Macht zu

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verteilen. Nicht Wirklichkeit steht im Gegensatz zur Inszenierung, sondern unvermittelte Gewalt – was das Verhältnis von Politik, Medialisierung und Ästhetisierung in Bezg darauf zeigt, was verboten werden muss. Die Kunst wird zu einem Mittel der Politik. Es ist kein Zufall, dass Grünewald mit der Problematisierung der Taufe und der Genealogie, wer wann unter welchen Umstanden taufen und damit semantisch initiieren kann, die Logik der Hermeneutik metatheoretisch und chronologisch aufreißt. Etwas zu deuten heißt, es immer schon als zu deutend wahrgenommen und somit vorausgedeutet zu haben und diesem Voraus einen Ort zu bieten, der nicht allein der der sprachlichen Artikulation sein muss. Der Vorurteilslogik hat der Hermeneut in einem sekundären Akt nachzuspüren, um den vorbewusst ersten Akt zu einem bewussten eigentlichen zu machen. Dass der Hermeneut immer zu spät kommt, kann nur im Verhältnis zu einem Zeitmodell bemängelt werden, das nicht auf die Notwendigkeit der Sozialisierung durch den Tausch, auch nicht den kommunikativen, eingeht. Die szenische Hermeneutik beschäftigt sich nicht mit der Frage der Eindeutigkeit und der Wahrheit, sondern fragt nach der Verwandlung von Sinn und Sein. Die Intensitäten und die Rahmungen ordnen sich im Festkalender des Isenheimer Altars, der zu verschiedenen Anlässen verschiedene Bild- und Deutungsinitiationen veranlasst oder an diese als Form der Vergemeinschaftung erinnert. Inklusive der Rückseitenbemalung ereignen sich auf medialer Ebene eine Reihe unterschiedlicher thematischer Variationen. Dazu müssen der im Kirchenjahr als vertraut gegebene Rhythmus der Zeit und die mit ihm verbundene Folge von Handlungen verifiziert werden, nämlich in einer liturgischen Praxis so situiert sein, dass – im Kontrast zu einer technisch produzierten Welt der Programme und Algorithmen – die Unschärfe nicht jedes Mal im Akt des Meinens problematisiert werden muss. Man kommt nicht irgendwie als Ungläubiger in die Kirche, steht verwundert vor der Praxis der Transsubstantiation und beschwert sich über die misslungene Wandlung, weil man so dumm war, an ein erklärtes Wunder zu glauben. Im Gegensatz zu vielen Besuchern des Unterlinden-Museums war man zu Zeiten des Meister Niethart in das Kirchenjahr und die Kirchengeschichte hineingeboren. Da aber genau dadurch die Unterscheidung von Fiktion und Realität gesellschaftlich goutiert werden konnte, haben ausgewiesene Realitäten der musealen Szenografie heute die Aufgabe, zwischen einer eindeutigen Praxis (Technik, Gebrauch und Vermittlung im Sinne der Information und Darstellung) und einer mehrdeutigen Inszenierung (Kommunikation und deren

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Einsicht in das Übertragungsopfer) eine Freiheit zu offerieren, die dem Subjekt mindestens die Illusion schenkt, selbst der Entdecker einer neuen Welt oder einer anderen Präsenz zu sein. Die Freiheit der Deutung liegt darin, das, was man nicht erklären kann, in ein Negat der Darstellung an die Wirklichkeit zurückzuvermitteln, aus der sie die Transkription hat entwenden müssen. Will aber das Verstehen als mein Verstehen oder das Verstehen eines anderen als sein Verstehen verstanden werden, kommt notwendigerweise situative Mehrdeutigkeit ins Spiel. Die Hermeneutik hat sich selten auf die Möglichkeit des situativen Verstehens kapriziert. Heute hat sie neben Texten und Erzählungen auch Präsentifikationen multimedialer Art zu transkripieren. Es zeigt sich: Das ist in Inszenierungskünsten immer schon vorgedacht gewesen. Aber weil es sich in Buchstaben nicht auflösen ließ (und weiterhin auch nicht lässt), ist es für die Hermeneutik nicht fruchtbar geworden. Die Schleiermacher-Formel „einen anderen besser verstehen als er sich selbst versteht“ thematisiert situatives Verstehen dennoch nicht auf die Eindeutigkeit eines absoluten Verstehens hin, sondern fordert auf, das ursprüngliche Verstehen aus dem geschichtlichen Bezug zu lösen und die Situativität der originalen Szene vorzustellen. Dabei zählt der Theologe Schleiermacher auf den Akt der profanen Offenbarung. Die „Anamnese der Genese“, wie Adorno das bezeichnet hat, zwingt uns, jede Situation auf die szenische Handlung, die sie formierte, progressiv-regressiv zu überschreiten. Es gilt den rückgeholten Vorgang des Verstehens aufzuführen, die Prophezeihung zu erfüllen. Dass damit nicht eine Reflexion, Repräsentation oder Wiederholung des ursprünglich Gemeinten anvisiert wird – also eine verlustlose Übertragung –, sondern, eingedenk der je veränderten Verstehenssituation, ein „Hineinversetzen“ (Inversion/Verdrängung) in den anderen, der gemäß der reziproken Logik des Verstehens erst retroaktiv sich offenbart, hält das Spiel der Inversionen in Gang. Im Retabel Grünewalds spürt man etwas von den zeitgeschichtlichen Zweifeln, die noch nicht der Anamnese der Genese sich fügen, weil zu ihrer Zeit eine Genese nicht erkannt werden kann. Die Zeit hat keine Propheten mehr, gleichwohl sie in Luther ihren Johannes findet. Johannes der Täufer ist nicht bloß ein negativer Ödipus, er ist zugleich ein invertierter Jesus. Während sich die Szenen ändern, bleiben die Situationen gleich. Deswegen spielt es in der Szenerie bei Grünewald auch keine Rolle, ob das historische Ereignis erlaubt, den Geist des Täufers auf ihr abzubilden. Die Tafeln des Isenheimer Altars geben keine historischen Szenen, sondern Deutungsinszenierungen ihrer Zeit vor.

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Es bleibt ihnen nicht erspart, das Deutungsparadigma von Wahrheit in sich selbst medial zu invertieren, wobei sie gerade damit das theologische Problem des Glaubens angemessen zu diskutieren beginnen. Damit ist nicht der Individualität der Deutung das Recht auf Willkür unterstellt, sondern ein Programm annonciert, mit dem Deutungen sich als das offenbaren, was eine aktuelle philosophische Hermeneutik ihnen zuschreiben kann: das Programm einer Transkription von Sprachen durch Zeiträume. Inszenierungen sind Problematisierungen von Vorverständigungen, deren Genesis nicht in romantische Tiefenreflexion abgleitet, sondern auf dem Markt der Präsenz von Sprache und Handlung aufgeführt werden. Will man nicht dem Fetischismus der Autotransformation eines Abstraktums wie der Sprache verfallen (die Sprache ist eine Idealisierung aus der relativen und statistischen Regelhaftigkeit einer jeden Beobachtungssituation überfordernden, da unabsehbaren Menge von konkreten Redehandlungen), bleibt nur die Möglichkeit, Bedeutungsveränderungen dem Wesen zuzuschreiben, das sich, eingefügt in einen intersubjektiven Verständigungsrahmen, sprechend auf den Sinn seiner Welt hin entwirft; dies Wesen könnte, wenn es nicht das Allgemeine selbst ist, nur das Individuum sein.83

Individualität ist nicht nur das, was sich nicht von selbst versteht, sondern was Verstehen suchen muss und worin es unabdingbar auf die Darstellung zum anderen hin ausgerichtet ist.

83 Manfred Frank: Subjekt, Person, Individuum. In: Individualität. Poetik und Hermeneutik XIII. Hg. Manfred Frank und Anselm Haverkamp. München 1988, S.17.

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I. Initiation. Einführung in eine zeitgemäße Hermeneutik a. Systemische Komponenten Wir gehen von einer Fragestellung aus, die jegliche theaterwissenschaftlichen Erkenntnisse seit der „performativen Wende“ naiv zu unterschlagen scheinen, der Frage „Was heißt Inszenierung?“. Die Antwort darauf, sie veranlasse Autorschaft in Darstellung und Aufführung, Spiel zwischen Akteuren und Zuschauern, scheint dann nicht mehr angemessen, wenn der Begriff ubiquitär im öffentlichen Raum, also außerhalb des Theaters, beispielsweise im Museum, für Ausstellungen, politische Veranstaltungen oder Marktstände gebraucht wird, in denen die Rollenverteilungen durch Aufführung simultan erst synchronisiert werden müssen. Wenn Inszenierung zum autorlosen Kollektivprodukt einer artifiziellen Situation wird, scheinen nicht einmal mehr konstruktivistische Modelle angemessen, um Selbstinszenierungen als subjektive Initiativen und Initiationen von „Andersheiten“ abzugrenzen. Zunächst also veranlassen Inszenierungen Deutungen, indem sie Präsenzen in Sinn zu dauern eröffnen. Dass dabei Dauer (entgegen Bergson) als eine autopoietische Form der „Selbstautorisierung“ aufgefasst wird, können Inszenierungen dadurch hervorheben, indem sie den Autor hinter die Bühne verbannen. Der Autor als abwesender Vater zeigt, dass Autorität kein Problem der personalen Macht, sondern eines der Inanspruchnahme und Verfügung über Selbstbewusstsein als Bewusstsein von individueller Dauer im Allgemeinen der sozialen Handlungspraxis ist. Was dieses „Selbst“ als ein vom anderen konstituiertes ist, sollten wir nicht als Reflexion bezeichnen, da in der Reflexion gerade nicht auf das Moment der Präsenz und der Dauer (im Sinne: „Ich ist einen Geschichte, die ich auf eine fingierte Einheit beziehe“) Bezug genommen wird. Erst so restituiert oder begründet die Inszenierung einen Prozess der Vorverständigung über die Frage, wie Selbstautorisierung im Sinne von „Selbstbewusstsein“ konstituiert wird. Wer inszeniert, muss sich die Frage stellen, wie der andere seine Darstellung aufnimmt und wie er sie als Angebot einer spezifischen Dauer (Aufführung) bewahrt und reaktualisierbar (repräsentierbar) hält. Inszenierung soll demnach an die Unabwägbarkeit eines Ergebnisses geknüpft sein, das wir „Subjektivität“ nennen. Darstellung, die sich für sich selbst darstellt, gilt als authentisch, „Natur“ respektive „Praxis“, und schließt somit aporetisch

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den Inszenierungsbegriff aus. Unter „Nicht-Inszenierung“ sind somit alle Performanzen und sozialen Organisationen verstanden, deren Veranlassung evidente Situationen und Handlungsformen bewirken, die nicht zur interpretativen Wahl, sondern z.B. zum unmittelbaren (gleichwohl vermittelten) Gebrauch zwingen. Dabei muss dieser Zwang nicht ausschließen, in Travestie, Gebrauchsverweigerung oder Missverstehen zu führen – worauf in der Regel mit Schimpfen (magisch), Schuldverschiebungen (genetisch) oder Fehlerableitungen (kausal) geantwortet wird, also mit der Reflexion auf Sinnkonstituenten. Es scheint nicht notwendig, einen Sonnenaufgang als Inszenierung zu bezeichnen; wohl ließe er sich in Analogie als Naturtheater auffassen, aber dann ist sein „Schauspiel“ für mich als veranlasst aufgefasst – derart, dass ich die Gewöhnlichkeit des Sonnenaufgangs für mich als eine Besonderheit aus der Situativität szenisch heraushebe. Mit Sartre sollen die Begriffe der Situation (bzw. Situativität) und der Szenifikation (bzw. Inszenierung) als systemische Differenz aufgefasst werden. Hermeneutik als Funktionssystem hätte den Code Situation/Szenifikation unter dem Programm Präsenz/Sinn im Medium Subjektivität/Bewusstsein für die Funktion der Ordnung der drei Stasen der Zeit: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – zu erklären. Wie jedes System, so hat auch dieses seine Tücken. Die bestimmenden liegt darin, dass sich das Außenverhältnis zum anderen noch einmal in jedem Subjekt als Binnendifferenz (Oszillation bzw. Resonanz) abbildet und auf der sozialen Ebene als Körper-Ding-Verhältnis reziprok manifestiert: Die Dinge können dauern, Körper dagegen nur bedingt. Man kann die Welt ja so interpretieren, dass, weil es den anderen gar nicht gibt (denn er ist ebenfalls eine „Selbstaporie“), ich ihn beständig in den Dingen hervorbringen muss. Alle Gewalt und somit das Ende der Inszenierung läuft darauf hinaus, eben diese „Selbstaporie“ in Eigenregie aufzulösen. Den Begriff der Inszenierung kann man präzisieren, indem man ihn als Veranlassung durch den anderen (Initiation), als Ort des Anderen auffasst: Was will der andere mir durch die Inszenierung zeigen, was er mir nicht auch direkt sagen könnte? Offenbar spielt hier das performierte Zeitverhältnis des anderen als Anderem eine große Rolle. Man kann zwar einen Text lesen, der im gleichen Zeitverhältnis zur Handlung steht; Text muss sich aber in Sätzen abschließen – nach dem zeitlichen Abstand mit dem z.B. (grammatisch) das Subjekt vom Prädikat entfernt ist. Im Film dagegen finden wir – abgesehen von der Montage – die Möglichkeiten, in Echtzeit zu inszenie-

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ren; das ist übrigens auch im Gedicht der Fall. Wenn wir Handlungsverlauf und Montage in ein Verhältnis bringen, geht es bei der Inszenierung also um Ausschnitte und Intensitäten von Präsenz, die sich als Singularität nicht verdoppeln lässt. Das ist entscheidend: Jede Inszenierung etabliert eine Zeit in der Zeit. Erst die dadurch an den Rändern ausfransende Gleichzeitigkeit etabliert den Raum als eine Präsenz, deren Dauer evident ist und sich somit neutralisiert. Aber die Zeit in der Zeit ist eine Flucht, die sich als genau das Problem der Selbstaporie offenbart, aufgrund dessen ich den anderen nicht als Anderen identifizieren kann – weswegen er sich ständig als „anderer“ in diskreten Rollen zu unterscheiden sucht. Im Falle des Sonnenaufgangs müsste ein Gott als Regisseur des Naturtheaters fingiert werden. Dadurch würde ich aber selbst zum Autor meiner Inszenierung des theatrum mundi (und zum Autor Gottes). Zu diesen Überlegungen hat Rolf Bossart die These aufgestellt, dass, um den Paradoxien des Anfangs oder der Autorschaft zu entkommen, der Rückgriff auf theologische Verstehensmuster möglich sei, um subjektdialogische Prozesse (Interpretationen) als von außen veranlasst zu sehen und der Interpretation nicht Willkür, sondern Sinn zuzuschreiben. Bossart wählt aber nicht, wie naheliegend, den Begriff der Offenbarung, sondern den der „Beleuchtung“. Unter dem Aspekt der Beleuchtung wird die Eindeutigkeit der Autor-Beobachter-Relation mehrdeutig. In der Mehrdeutigkeit verbergen sich das konstruktivistische Argument wechselseitiger Beobachtung und jenes der Stufenfolge (nicht Stufenpyramide, wie bei Hegel) des den Beobachter beobachtenden Beobachters. Das geschieht insbesondere auch, wenn die einfachen Beobachter eines Stücks ihre Reaktion an der Beobachtung anderer Zuschauer ausrichten (ebenso die Schauspieler unter sich). Damit lässt sich eine strukturale Theorie der Erklärung sozialer Effekte z.B. im Theater aufstellen. Bossart: Im da und dort praktizierten Regieeinfall, sowohl alle Requisiten wie die Akteure von Anfang bis Schluss auf der Bühne zu lassen und je nach Auftritt zu beleuchten oder zu verdecken usw., bekommt solche Situation ihr Ab- und Vorbild. Ebenfalls in den beliebten Parallelschaltungen der Szenen und der Überlagerung von Szene und Kommentar.1

Uns interessieren hier noch nicht die theologischen Implikationen, sondern die Möglichkeiten, sondern die Anwendungen, in denen bei Bossart sich der Begriff „Situation“ etabliert. Offenbar werden Situationen in Szenifi1

Bossart, Die theologische Lesbarkeit von Literatur im 20. Jahrhundert, a.a.O., S.29f.

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kationen dann thematisierbar, wenn sie gerade nicht als Szenen beleuchtet werden, wenn der Zuschauer im Stück ist. Offensichtlich geht es Bossart um Hierarchisierungen von Präsenz. In dieser Demarge unterscheidet sich die Inszenierung von der gelebten Praxis: Das „Vom-anderen-für-mich“ muss als Differenz erhalten bleiben, damit die Simulation nicht vollständig ist, d.h., das Verstehen soll im Verstehen thematisierbar bleiben. Die neuere Hermeneutik hat unter Rückgriff auf frühromantische Positionen für dieses sich selbst verstehende Verstehen (Verständlichkeit) den Begriff „Inversion“ eingeführt. Hier ging es aber zunächst immer um ein quasi-homosexuelles Motiv der Identifizierung mit dem anderen, nicht um dessen propädeutische Andersheit. Was bei Luhmann als „re-entry“ evolutiv oder eben konstruktivistisch verstanden wird, versteht die szenische Hermeneutik in ausdrücklicher Abgrenzung von dem „Den-anderen(besser)-verstehen“ als Grundlage von unabschließbarer Verstehens- und Sinnproduktion überhaupt. Sie kehrt also das Argument des endgültigen oder eindeutigen Verstehens gegen die idealistische Hermeneutik um, ohne den Text als Medium seiner praktischen Fundierung zu isolieren. In der Beziehung zwischen Erlebnis und Handlung geht es gerade darum, wider dem informatorischen Imperativ produktive Interventionen (und hier bewegen wir uns im Feld der interventionistischen Szenografien) zu provozieren. Die Schwierigkeit besteht somit nicht nur darin, den Autor eines Stückes oder Textes zu verstehen, sondern im Medienpluralismus, den Autor z.B. des Mediums „Schrift“ zu konstruieren. Dieser Autor ist nichts anderes als die Evidenzsituation einer kontingenten Dauer – unabhängig davon, wer der „Erfinder“ von Schrift ist; dieser ließe sich selbst nur im Prozess einer allmählichen Kontinuierung von Form begreifen. Im Falle der Inszenierung als Regie ist z.B. der Auftrag des anderen unmittelbarer gegeben. Aber auch hier gilt: Mit jedem Film verändert sich das Medium „Film“.2 Das heißt aber: Autorschaft kann gesetzt, kann verliehen und kann vermittelt werden. Wie wir im Prolog erfahren haben, sind die entsprechenden Rituale im Akt der Taufe begrifflich, interpretativ und szenisch festschreibbar. Das Verstehen setzt die Anerkennung des anderen als Verkennung des gleichen Problemhorizontes voraus. Dem auszuweichen genügen Inszenierungen, indem sie die Andersheiten „anders“ (allegorisch, also mittels Dinge und Personalisierungen) zu erzeugen versuchen. 2 Wie radikal der Wandel durch einen einzigen Film sein kann, zeigt der Film The Jazz Singer (1927), der den Tonfilm etabliert, oder Godards Außer Atem (1960), der die Kamera­ führung und Montage revolutioniert.

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Blumenberg hat in seiner metaphorologischen Darlegung Schiffbruch mit Zuschauer auf die prekäre, aber konstruktive Situation mit folgender Szene aufmerksam gemacht: Der logische Positivismus enge dann die Fragestellung darauf ein, wie die Begründung der wissenschaftlichen Sprache möglich sei. Die Antwort auf eben diese Frage werde am deutlichsten in einem Bilde gegeben, nach dem die Sprache mit ihren syntaktischen Regeln ein Schiff sei, in dem wir uns befinden – unter der Bedingung, daß wir nie einen Hafen anlaufen können. Alle Reparaturen oder Umbauten des Schiffes sind auf hoher See auszuführen.3

Das Problem betrifft nicht nur die sprachliche Situation, sondern auch die der Subjekt-Objekt-Zuschreibung auf materieller bzw. substanzieller Ebene. Konsequent ist es, wenn Luhmann den Vorschlag macht, „die Unterscheidung von ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ zu ersetzen durch die Unterscheidung von ‚System‘ und ‚Umwelt‘ “, um so zu zeigen, dass man in einer reichen evolutiven Sozialgeschichte nicht mit der Vorverständigung auf Subjekt und Objekt beginnen könne – nämlich dem, was durch Form und Materie der Sprache resultiere. „Eine Reflexion des Anfangs kann nicht vor dem Anfang durchgeführt werden, sondern erst mit Hilfe einer Theorie, die bereits hinreichende Komplexität aufgebaut hat.“4 Die Soziologie muss eine Erklärung dafür liefern, warum in der praktischen Beziehung zwischen Menschen und Dingen deren Unterschiedung in der Sprache noch einmal auftaucht – und in der Regel verstanden werden muss, als stabile Instabilität sozialer Dynamik. So haben wir, um das einfachste Beispiel zu nehmen, die Ironie als problematisches Verhältnis von Form und Inhalt aufzufassen, in der über die Relation von Sprechen und Sprache externe Aussagen bzw. Entscheidungsregeln einbezogen werden können. Nun hat Bossart (ebenso wie Blumenberg und Luhmann) in seiner Argumentation schon die Differenz genannt, die uns hier anstelle jener von „System“ und „Umwelt“ interessiert. Es ist die von Situation und Szenifikation, die überhaupt unterscheidbar machen lassen kann, ob ein Ereignis als inszeniert oder nicht inszeniert zu verstehen ist – ob es im Modus des Sinns oder der Präsenz, als Erlebnis oder Ereignis aufgefasst wird oder vollständig in der Praxis gewohnter Handlungstechniken zugrunde gegangen ist. 3 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt

am Main 1979, S.72.

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Niklas Luhmann: Erkenntnis als Konstruktion. In: Ders.: Aufsätze und Reden. Stuttgart 2011, S.220 u. S.221.

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Dieses Grundverhältnis wollen wir als szenologische Differenz ableiten, und zwar gerade aus der geübten Praxis – auch der der Hermeneutik –, dass wir uns zunächst einmal als Subjekte gegenüber Objekten sinnhaft so verhalten, dass der Autor als Aktiver (Subjekt) vom Passiven (Objekt) seine Anerkennung (Name, Taufe) erhält, indem nämlich eine Inversion/Tauschbarkeit des aktiven und passiven Status gegenseitig (vorher) anerkannt worden ist. Inszenierung ist aber gerade das, was diejenige Differenz gegenüber Evidenz (Wiederholung) hervorhebt, in welcher sich Erlebnis und Handlung im Ereignis indifferent zeigen und sich Handlungen selbst- oder fremdreflektieren können, indem sie sich als Ereignis beobachten lassen, d.h. zur Aufführung kommen. Eine solche konstruktivistische Überlegung mischt, wie das Theater und viele andere moderne Inszenierungsformen, die bürgerliche Subjekt-Objekt-Stabilität gehörig auf. Hier stellt sich die Frage der Intensität der Präsenz, also des Aufmerksamkeitsdrucks. Die Frage zielt nach der Unterscheidungserklärung von Authentizität (Informations und Gebrauchsordnung) und Inszenierung (Theatralität und Gebrauchsempörung/-dramatisierung). Auch hier hat Luhmann Begriffe an die Hand gegeben: Von Welt soll die Rede sein, um die Einheit der Differenz von System und Umwelt zu bezeichnen. Von Realität soll die Rede sein, um die Einheit der Differenz von Erkennen und Gegenstand zu bezeichnen. Von Sinn soll die Rede sein, um die Einheit der Differenz von Aktualität und Possibilität zu bezeichnen.5

Wir können für diese Bestimmungen einsetzen: „Welt“ als Theater und theatrum mundi, „Realität“ als Einheit von Beobachten und Darstellen, und „Sinn“. Sinn besteht nun nicht eigentlich in einem Aufmerksamkeits- oder Unterhaltungsanspruch, sondern indirekt in dem, was sich hinter der Differenz von Aktualität und Possibilität verbirgt, nämlich in einem Zeitverhältnis von Gegenwart und Gegenwärtigkeit, das sich vom situativen Hier und Jetzt unabhängig machen kann und somit die kausale Kette der Zeitordnung fortwährend stört. Dies betrifft nun die Fiktionalität von Subjektivität. Die Frage der szenische Hermeneutik ist, wie jedes hermeneutische Problem, an die Frage der Beziehung von Selbstdeutung (Selbstbewusstsein) und Fremddeutung (divinieren des Begehrens des anderen) gekoppelt – behindert und befördert durch den Umstand, dass man schlecht in den Köpfen anderer Menschen beobachten kann. Verhalten und Handlungen können dies jedoch anzeigen – und zwar sowohl im Modus der Differenz (Lüge 5

Ebd., S.234.

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und Inszenierung) als auch der Identität (Praxis und Selbstsein)! Daraus resultiert der uns hier interessierende Gegenstand szenischer, d.h. gestischer oder symptomatischer Darstellung, also Theatralik: etwas darstellen, was man ohne Maßgabe der Selbstüberschreitung nicht erklären, d.h. sinnvoll einer Autorschaft überantworten kann. Fingiert man aber die Autorschaft, so bindet man sie an eine szenische Realität. So gebunden lässt sich Aktualität als Possibilität motivieren, goutieren und aushalten, was genügt, um institutionelle Formen der Selbstüberschreitung zu arrangieren. Die Funktion des Sinns ist die des Korrelats gesellschaftlicher (Re-)Aktualisierung, mit einem Heidegger’schen Terminus gesagt: die Darstellung in „Zeitspielräumen“. Es kommt in der Analyse dessen, was das Verstehen von Inszenierung als protomedialer Form ausmacht, auf den Umstand der sozialen Kreditierung von Zeit (Reziprozität – nach Luhmann) an, somit auf den ökonomischen Produktivwert von Aufmerksamkeit im Verhältnis des Menschen zur Endlichkeit (und Intensivierung) seines lebendigen Daseins. So ist die Differenz von Erkenntnis und Gegenstand eine erkenntnisimmanente Unterscheidung und entsprechend die Annahme, daß Realität etwas beide Seiten Übergreifendes sein müsse, im Vollzug der Erkenntnis selbst basiert. Und so gibt schließlich die Differenz von Aktualität und Possibilität nur dann Sinn, wenn sie in actu vollzogen wird, das heißt die momentan vollzogene Operation auf einen Horizont anderer Möglichkeiten verweist (aber dies gleichgültig, ob es sich dabei um Realmöglichkeiten handelt oder um solche, die nur gedacht sind oder fiktional vorgestellt werden.)6

Im Sinne unserer Begriffe soll dann als Situation das „Anhalten der Zeit“ als in actu, also (reflexionslose) Praxis verstanden werden: Handlungsbeziehungen oder Erfahrungen, die, wenn man mit Foucault will, als Körpertechniken eingeübt sind. Der Begriff der Szenifikation sagt dann etwas über die Modalitäten der Zeit aus, die sich erst unter der Normierung der Uhrenzeit überhaupt ihrer ritualisierten, sozialen Dimension bewusst werden kann. Nichtsdestotrotz lebt der Vorbehalt gegenüber dem „Schein“ oder der „Artifizialität“ von Inszenierung vom Verbrauch der Zeit wie von der Verführung des anderen – nämlich der Möglichkeit, wie Brecht vermutete, in den Köpfen anderer Leute zu denken und somit die Praxis selbst beobachtbar zu machen, und zwar für die Leute selbst. Zur Inszenierung gehört das Sich-Aussetzen der Autorschaft genauso wie die Manipulation dessen, der sie anerkennen soll. Verstehen heißt demgemäß nicht, einen Autor zu 6

Ebd., S.235.

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verstehen, sondern ihn allererst anzuerkennen. Unter dem Verführungsbegriff wird nämlich der Tausch der Zeit (die Regel, das Spiel) in Tausch des Subjekt-Objekt-Verhältnisses ermöglicht. Auch das Verhältnis von innenaußen wie das von aktiv-passiv werden in Bewegung gebracht, d.h. für unsere gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse als Bewegung zugleich auch wieder gebannt, medialisiert. Bezeichnenderweise hat das Friedrich Kittler, sonst kein Freund der konstruktivistischen Nomenklatorik, mit einem Zitat Luhmanns auf den Punkt gebracht: Der Unterschied von Erleben und Handeln kann daher weder mit Hilfe der Differenz von innen und außen noch mit Hilfe der Differenz von passiv und aktiv konstruiert werden; auch Erleben ist Leben, ist unaufhörliche Bewegung des Körpers. Der Differenzpunkt ist auf der Ebene des organischen Substrates, an dem, was vom Menschen sichtbar ist, nicht zu fassen, sondern liegt in der Sinnbildung selbst, nämlich in der Frage, wie die Reduktion von Komplexität zugerechnet wird, wo der Sinn gleichsam ‚lokalisiert‘ wird. Erlebter Sinn wird als fremdreduziert erfaßt und verarbeitet, Handlungssinn dagegen als systemeigene Leistung.7

An den begrifflichen Überlegungen die wir dem Konstruktivismus Luhmanns entlehnen, ist abzulesen, welche Aufgabe eine szenische Hermeneutik gegenüber einer literarischen hat und was der Unterschied zwischen einer Hermeneutik des Verstehens von Sinn gegenüber der Verständigung als Produktion von Gegenwärtigkeit ausmacht. Es geht in der szenischen Hermeneutik um die Darstellung dynamischer Mediation zwischen einer normierten und einer ‚vitalen‘ Zeit, zwischen Handlungssinn und Erlebnissinn. In dieser Unterscheidung nisten sich die Begriffe ‚Verstehen‘ und ‚Erklären‘ ein. Selbstidentität ist Identität vom anderen und somit ein soziologisches (und soziales) Produkt: Sie muss hergestellt werden. Das ist nicht neu; neu ist vielmehr, dass selbst dieser andere durch die Initiative der Übertragung meines Zweifels seine Identität von ‚mir‘ erhält, wodurch sich ein Chiasmus8 7 In: Friedrich A. Kittler: Pathos und Ethos. Eine aristotelische Betrachtung. In: Ders.: Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart. Frankfurt am Main 2013, S.395. Zitation: Niklas Luhmann: Sinn als Grundbegriff der Soziologie. In: Jürgen Habermas / Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? Frankfurt am Main 1971, S.77. 8 Zur Figur des Chiasmus in hermeneutischer Rücksicht, ausgehend von Lacan, siehe Mersch, Posthermeneutik, a.a.O., S.203. „Die Bedürfnisbefriedigung erscheint darum als Trug, weil das Begehren beständig am falschen Ort ist; es ist buchstäblich durch seine zweifache Entfremdung gezeichnet, die darin besteht, dass einerseits ein Anderes seinem

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gegenseitiger Verführung ergibt, der die Autonomie der Subjektivität konstruktiv unterläuft. Da aber dieser Vorgang beständig abläuft, gilt es nun, die Initiative zu finden, in diesen Sozialisationszirkel hineinzukommen. Dafür stehen Techniken zur Verfügung: die kühnste ist die des Theaters, die einfachste die des Spiels. Beim Kinderspiel wird jedem klar, dass Subjektivität ein gemachtes Werden ist. Die Frage ist: Wie ist dieses Werden zu verstehen? Emergent oder genetisch, aufführend oder darstellend? Keine dieser Verselbstungen [kann] den Anspruch erheben, Paradigma der individualisierenden Operation zu sein, deren Bewegung in der jeweiligen Verselbstung an ihr Ende kommt. Folglich sind alle diese Selbsthervorbringungen nur eine Inszenierung des performativen Charakters von Individualisierung, nicht aber die Gegenwart des Aktes selbst. Denn Verselbstung ist ja nur Zeichen für Individualisierung als unausgesetzter ‚Emergenz‘.9

Ob wir, wie wir das bei Gadamer sehen werden, bei diesem Spielbegriff (als „Hin- und Herbewegung“) stehen bleiben wollen, diese gar als Wunsch immer schon zuvorkommt und den Wunsch in einem chronischen Mangel stellt, wie umgekehrt, dass das Objekt des Wunsches stets nur Substitut sein kann: ein Symbolisches, das den Mangel ‚camoufliert‘, wie Lacan sich ausdrückt, d.h. ihn tarnt oder verkleidet und damit die fortwährende Illusion seiner Aufhebung erzeugt.“ Nun kann man unter dem Mantel der Illusion alle negativen Konnotate positiv auflösen und zwar als theatrale Kunstform. Man muss nur die Perspektive ändern: D.h., aus dem „Befriedigungszwang“ erwächst dann eine Entlastung in Präsenz. Sie ist der Effekt von Aufführung. Damit aber die nicht parabolisch den Sinn entfernt, nähert eine Inszenierung ihn wieder an, ohne ihn jedoch zu befriedigen; das nennt man „genießen“. Der Denkfigur des Chiasmus liegt also eine zweifache Bewegung zugrunde: eine Umkehr „Ich-Anderer“ als Inversion, eine Konstitution „Anderer-Ich“ als Reflexion. Diese Figur der Regression-Progression als eines oszillierenden, jederzeit umkehrbaren Schrittverhältnisses ist die Grundfigur der Hermeneutik Sartres, auf die wir uns vor allem stützen werden. Es besteht somit ein sozialer Zusammenhang zwischen dem Fetischismus subjektiver Autonomisierung und dem Problem der Selbstidentität in Folge der Individualität des Verstehens. Nur weil man sich nicht als identisch versteht, ist überhaupt die Präsenz eines anderen als Signifikiationsdifferenz austragbar. Gerade weil Zeichen unendliche Folgen generieren können, referieren sie auf die Dauer der menschlichen Präsenz mit einer Camouflage von Identität. „Es ist grundsätzlich das Individuum, durch dessen Intervention die Struktur (bzw. die von ihr in ihrer Selbstidentität gesicherten Zeichen) am Zusammenfallen mit sich verhindert. Mit sich zusammenfallen hieße: präsent sein. Nun kann eine Struktur oder ein Zeichen niemals mit sich selbst zusammenfallen, weil erstens der Gedanke der Unterschiedenheit der Zeichen den der Zeit und zweitens jeder Zeichengebrauch den der (unkontrollierbaren, nicht-identischen) Wiederholbarkeit voraussetzt.“ Frank, Subjekt, Person, Individuum, a.a.O., S.17f. 9

Wolfgang Iser: Das Individuum zwischen Evidenzerfahrung und Uneinholbarkeit. In: Manfred Frank / Anselm Haverkamp. (Hg.): Individualität. Poetik und Hermeneutik XIII. München 1988, S.97.

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anthropologische Not ansehen oder fragen und unterscheiden, in welcher Ereignisdifferenz „Spielerleben“ repräsentierbar gehalten wird, ohne es einem anderen Zeiterleben zu unterwerfen, das ist für unseren Sachverhalt entscheidender als die Bewegung zu befrieden. Die Überlegungen führen einen Schritt zurück und weg von den radikalkonstruktivistischen Erklärungsmodellen, (die ich nur beiläufig weiterverfolgen werde), hin zu strukturalen und poststrukturalen Ansätzen, da mir scheint, dass die grundlegende Medialität, von der aus die Korrelation von Ich und Anderem Sinn macht, nach wie vor die Situativität des Körpers ist, der – allen Illusionstechniken zum trotz – immer noch nicht an zwei Orten gleichzeitig und zu zwei unterschiedlichen Zeiten am gleichen Ort sein kann. Medien und Heilige – siehe Grünewald – können das aber fingieren. Da im Einzelnen noch auf den Übergang von der Subjekt-ObjektStatik zur Genesis der Struktur und schließlich zur Relationalität von Systemik eingegangen wird, die in Folge einer Durchmedialisierung der Praxis notwendig geworden ist, erlaube ich mir, vorgreifend auf einige Sätze von Oliver Jahrhaus einzugehen, die dieser in einem Nachwort zur medialen und Kommunikationsdifferenzierung Luhmanns bilanziert hat. Jahrhaus kommt in knappen Begriffserläuterungen in seinem Abschnitt Autoreflexivierung der Theorie, Systemtheorie und Dekonstruktion als Supertheorien auf den Umgang mit Paradoxien, Chiasmen und Aporien auf Lösungsansätze zu sprechen, die Russell und Whitehead in der Principia Mathematica vorgeschlagen hatten – also auf ein Stufen- oder Mengensystem, in dem sprunghaft die Kette von Beobachtetem, Beobachter, Beobachter des Beobachters usf. in einer nichtbinären, mehrwertigen Logik erfasst werden können. Auf der einen Seite steht die dekonstruktivistische Auffassung (Derridas), nach der so nur eine unendliche Kette von Differenzen der Differenzen (differance) festgeschrieben werden kann, auf der anderen die Luhmanns, die unter Einsatz des reentry, also der evolutiven Rückeinbeziehung der jeweils vorhergehenden Stufen ein konstruktives Modell liefert, das funktioniert, weil die Ereignisse nie als endgültige Ergebnisse festgeschrieben werden können, da sie von einer ursprünglichen Differenz (Paradoxon) belebt werden. Was aufgeschrieben worden ist, muss gelesen werden und bildet somit die Differenz der Welt nicht nur eigentlich ab, sondern führt sie diskursiv auf. Insgesamt ergibt sich somit für die gegenwärtige mediale Moderne eine Ereignisorientierung, die nicht im – wenn auch nur kathartischen – Telos 10, sondern in einem pro10

„Konsens ist das télos der Kommunikation – auch in dem Sinne, daß Konsens die

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und regressiven Skopus mündet, in welchem, mit Blumenberg gesprochen, die Ruderer auf dem Schiff zwar ziellos, aber Reich an Erlebnissen und Perspektiven sind und ihrer Odyssee nicht nur passiv ausgesetzt werden. Wenn man sich auf ein Paradoxon bezieht, nicht aber auf Selbstbeziehungen vom Schlage einer „befriedeten“ Natur, kann man sicher sein, dass das Leben sich in Wellen und unendlichen Faltungen ohne Anfang und Ende ausbreitet. Doch selbst das Paradoxon entbehrt nicht der Peinlichkeit einer anfänglichen Setzung. Wer aber setzt diese, wem wird sie zugesprochen und wer eignet sie sich an? Wichtiger noch – was konstituiert die Regeln für das Spiel, ein Begehren des Nicht-Setzens auszuhalten? Der Zirkel des Anfangs bildet einen Kreis von Fragen, der ursprünglich in der Runde der Frühromantiker kursierte. Eine ausgezeichnete Form der Besetzung dieses Kreises war die Szene als Diskurs. Damit ist rein formal schon an die Frühform der griechischen Theaterarchitektur erinnert – aber auch an Dialog, Rhetorik, Disputation, an eine Ordnung des Diskurses. Eine vorläufige Antwort für die Besetzung der Mitte haben wir genannt: der Körper, genauer: das System der Verkörperungen. Für die Dekonstruktion als Supertheorie, die aufgrund ihrer Ableitung aus dem Strukturalismus an der Zeichenordnung festhalten muss, Kommunikation beendet, da sich nach dem Konsens Kommunikation nicht mehr lohnt. Diese Version des Problems – offensichtlich eine Theorie vom Typ Perfektion – stützt sich zusätzlich auf die Metapher der ‚Übertragung‘.“ Niklas Luhmann: Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme. In: Ders.: Aufsätze und Reden. Stuttgart 2011, S.15. Die meisten der nachfolgenden Zitate Luhmanns entstammen den programmatischen Aufsätzen und Reden, die von Jahrhaus gesammelt herausgegeben worden sind. Auf die Einzeluntersuchungen Luhmanns werde ich nicht weiter eingehen, mir geht es nur um das Erklärungsprinzip der konstruktivistischen Dynamik. Luhmann spricht den Teilbereich einer Hermeneutik der Verständlichkeit an, in der es um die Übertragung von „Wissen“ und „Information“ geht. „Im Verstehen erfaßt die Kommunikation einen Unterschied zwischen dem Informationswert ihres Inhalts und den Gründen, aus denen der Inhalt mitgeteilt wird.“ … „Verstehen selbst ist eine Selektion.“ … „Das alles geht aber immer noch von einem handlungstheoretischen Verständnis der Kommunikation aus und sieht den Kommunikationsvorgang deshalb als eine gelingende oder mißlingende Übertragung von Nachrichten, Informationen oder Verständigungszumutungen. Demgegenüber wird bei einem systemtheoretischen Ansatz die Emergenz der Kommunikation selbst betont. Es wird nichts übertragen. Es wird Redundanz erzeugt in dem Sinne, daß die Kommunikation ein Gedächtnis erzeugt, das von vielen auf sehr verschiedene Weise in Anspruch genommen werden kann.“ Niklas Luhmann: Was ist Kommunikation? In: Ders.: Aufsätze und Reden. Stuttgart 2011, S.97, S.98 u. S.100. Luhmann unterscheidet zwischen „Mitteilung“, „Information“ und „Verstehen“ – wobei „Verstehen“ lediglich als Akzeptanzrückkopplung gewertet wird, die sich frei auf die Mitteilung (Darstellung) oder die Information (Sinn) beziehen kann.

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bestimmt sich ein negatives evolutives Element, da das „leere Feld“, das die Dynamik der Struktur ermöglicht, nicht positiv markiert werden kann, ohne wiederum zum Zeichen zu werden: Da die Dekonstruktion kein Instrumentarium entwickelt hat, um aufgrund der Differentialität die Hinfälligkeit der Zeichenordnung selbst noch einmal in eine Zeichenordnung zu bannen, ergibt sich aus ihr eine final-aporetische Tendenz ihrer Theorieentwicklung. Dekonstruktion tendiert zur Selbstaufhebung, ihr Weg führt in eine theoretische Sackgasse, der sich die Dekonstruktion sehr wohl bewußt ist. Wo sie sich überhaupt noch vollzieht, vollzieht sie sich nicht als das, als was sie angetreten ist, nämlich als Theorie, sondern eben nur als deren Negation bzw. als deren Dekonstruktion, also als Praxis oder als Spiel. Dekonstruktion ist immer auch Auto-Dekonstruktion.11

Dort, wo die Praxis als Spiel eine Unterscheidung zwischen Praxis oder Spiel beobachten soll, wo zwischen ‚Authentizität‘ und ‚Inszeniertheit‘ – um nur diese theaterlogischen Begriffe zu verwenden – unterschieden werden soll, um die Subversions- und Verführungsrochade zu erkennen, bedarf es einer medialen Indifferenz von Praxis und Theorie, die als Erklärungsmodell natürlich gleichwohl im Modus des Spiels: genauer in einer Simulation ohne situatives Urbild auftritt. Dieses Medium ist das des Inszenierens als einer Praxis von Theorie. In diesem Medium kann gehandelt und erlebt, also beobachtet und agiert werden. Das Theaterspiel als Modell beobachtet nicht nur, sondern der Beobachter beobachtet, wie in einer Inszenierung (als Ereignis und Aufführung) Beobachtungen dargestellt werden – derart, dass er im gleichzeitigen Beisammensein mit anderen Beobachtern (oder massenmedial rückgekoppelt) die mögliche Einnahme von Beobachtungspositionen bezüglich einer Fiktivität als Theorie entwickeln kann und diese möglicherweise als Kritik oder Kommentar fortschreibt. Wesentlich gegenüber der Dekonstruktion ist die systemisch gedachte Evolution/Konstruktivität eines fingierten Blicks über den Rand der eigenen Systemunterscheidung. Es geht darum, die Variabilität einer Situativität in Szenifikationen derart aufzulösen, dass Autorschaft nicht subjektverschuldet, sondern in der Zuschreibung über Gesellschaft, als „Umwelt“ des „Systems“ Körper erfolgt – also über den „Anderen“. Eine solche Subjektzuschreibung zu rekonstruieren und in die Selbstdeutung-über-Andere einzubringen, haben die Frühromantiker als „Präreflexivität“ verstanden. Sie ist die rekursive Zeitfigur, mit der beispiels11 Oliver Jahraus: Nachwort. Zur Systemtheorie Niklas Luhmanns. In: Niklas Luhmann:

Aufsätze und Reden. Stuttgart 2011, S.332.

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weise noch Sartre seine sozial begründete Hermeneutik rechtfertigt. Bei Jahraus heißt es weiter: Genau diese Selbstaufhebungstendenz [Auto-Dekonstruktion; R.B.] besitzt die Systemtheorie nicht. Da die Beobachtung der Beobachtung (die Beobachtung zweiter Ordnung), aus der Differentialität heraus erwachsen, immer noch Beobachtung ist, kann sich auch Selbstbeobachtung der Theorie immer noch als Theorie vollziehen. [...] Bei diesem Vergleich fungiert die Systemtheorie als Einheit der Differenz von Systemtheorie und Dekonstruktion.12

Die These, die hier gewagt wird, geht davon aus, dass es auf der anderen Seite der Unterscheidung – nämlich auf der der Relation von Spiel und Praxis – eine Theorie der Einheit der Differenz geben muss: Ihre Theorie soll als Szenologie verstanden werden. Das heißt, dass die Initiative von Spencer Brown, die Luhmann als Einsatzort des Theoriemodells angibt – „Mache eine Unterscheidung!“ („Draw a distinction!“) – als fingiertes Apriori an ein Subjekt appelliert, sich vom anderen unterscheiden zu lassen, um die Kontinuität seiner selbst zu bewahren. Denn was oder wer sollte sonst imperativischer Adressat13 des Verführungsappells sein? Wenn vom Schriftmonopol als hermeneutischem Gegenstand abgesehen werden kann, dann nur aufgrund 12 Ebd. – Da Mersch sich in seiner Untersuchung Posthermeneutik weitgehend auf Derrida

und dessen Schriftfixiertheit bezieht, entgeht ihm diese Unterscheidung von Spiel und Theorie (Modell). Vielleicht ist sie geradezu kennzeichnend für eine durch Nietzsche geprägte französische Diskursinterpretation im Gegensatz zur deutschen, die trotz aller Entwicklungen auf Kant aufbaut.

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Man kann mit Luhmann natürlich nicht einfach das Subjekt als Adressaten bestimmen, das ja nur eine „Ruheposition“ in der kommunikativen Dynamik sein kann. Doch muss in der Praxis davon ausgegangen werden, dass der Adressat sich zunächst als Subjekt missversteht, in dem Sinne, dass der Appell des anderen auf seine Bewusstseinskompetenz zielt und nicht, wie Lacan betont, auf das „Begehren des Anderen“. Sonst kämen wir aus der psychoanalytischen Urszene niemals heraus. Setzung und Aufhebung des Adressaten sind also gleichzeitig (oder indifferent) gegenüber Kommunikation. Luhmann gebraucht dafür den Begriff der Interpenetration, deren Ausweis gerade durch die Beobachtung der Gleichzeitigkeit markiert wird, mit allen situativen Folgen und Paradoxien, die sich daraus ergeben. Gleichzeitig meint Luhmann aber auch die Form der Unterscheidung zwischen Information und Mitteilung als Verstehen (vgl. Niklas Luhmann: Handlungstheorie und Systemtheorie, S.142-148. Für unser Thema ist entscheidend, dass mit dem Übergang in eine Hermeneutik der Dauer eine Verschiebung von der Sozialdimension in die Zeitdimension (S.147) einhergeht bzw. gerade hier das Argument für eine Differenzierungswahl von Situation und Szenifikation fundiert ist. Beide Begriffe sind, anders als die Theaterwissenschaft sie gewöhnlich interpretiert, zeitlogisch und nicht territorial gebunden – womit gesagt ist, dass die Szene (anders als das Bild) weniger ein Spiel mit dem Raum (oder mit Atmosphären), denn ein Spiel mit der Zeit ist.

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der Unterscheidung, dass Schrift situationsunabhängige, fiktionale Handlung repräsentiert, die in einer szenischen Hermeneutik wieder an die Situation rückgekoppelt wird – derart, dass das Schema von Handlungen respektive Unterscheidungen sich als Vor-Spiel der Verschriftung, also einer sekundären Regression entbirgt. Man kann feststellen, dass eine visuell dominierte Kultur das Primat der Schrift dann kompensieren kann, wenn sie an deren Stelle konkrete Szenen zu verstehen aufgibt, indem sie die Mitteilung der Information substituiert und Verstehen an Situationen rückbindet – was nicht ausschließt, dass Lesen wie Schreiben selbst entsprechend situativ erfolgen können. In der vorliegenden Untersuchung wird – im Gegensatz zu Derrida – der Typus „Text“ als Repräsentationsform aufgefasst, die als Ding über Bedeutungshandlungen entscheidet. Der Typus „Szenifikation“ dagegen ist eine Rückübertragung in ein Handlungsschema, das in der Inszenierung tatsächlich einer Handlungsanweisung als einer Narration gilt, da Handlungen (mit Dingen) eben nur unter dem Vorbehalt der Inszenierung etwas anders sein können als sie in der Praxis sind. Denn das Leben als Text zu verstehen ist eine bestimmte Weise der Interpretation durch die medial eingeschränkte Szenifikation von medialen Dingen. Das sich dabei Text und Bühne vollständig durchdringen können, ändert nichts an der Differenz des Prinzips. Brigitte Rath hat in dieser Hinsicht den Begriff des narrativen Schemas differenziert, wobei der Begriff „Schema“ ausdrücklich für den Bereich Texterzählung Kant entborgt wird. Ich behaupte nun, daß sich alle Variablen des narrativen Schemas in genau drei Kategorien einteilen lassen, die bei narrativem Verstehen alle vertreten sein müssen: Regeln, Individuen (nämlich Charaktere und Objekte) und Ereignisse. Die Regelvariablen umfassen Naturgesetze und Verhaltensregeln ebenso wie Genre­ regeln und ergeben gemeinsam ein Regelwerk.14

Das Erklären kann in der Darstellungshandlung zum Stiltypus erzählender Rede (Monolog) oder szenografischer Choreografie werden, der sich als Text, Skript oder Libretto (eben als Anweisung zur Unterscheidung, d.h. Inszenierung) zurückverwandeln lässt. Nur der Aufführungscharakter sorgt dafür, dass die antizipatorische Sicherheit des Verstehensentwurfs wieder in die Unsicherheit von Handlungspraktiken übergeht, die als schicksalshaft und nicht als mythisch-narrativ verstanden werden. So ist ja der Mythos der Versuch, mittels narrativer Regeln die Unbilden des Schicksals bere14

Brigitte Rath: Narratives Verstehen. Entwurf eines narrativen Schemas. Weilerswist 2011, S.79.

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chenbar zu machen, ohne dass eigentlich Zeit abläuft – so jedenfalls der Chronotopos des Heldendramas bei Bachtin. Wie das in Abhängigkeit der Naturkräfte, der menschlichen Gewalt und der Fiktionalisierung geschieht, zeigt etwa die Odyssee, in welcher der Handlungscharakter den narrativen Zusammenhalt weitgehend sprengt bzw. an die „realen“ Schicksale der Menschen episodisch kettet: als szenischer „Inselsprung“. Allen diesen Schritten vom Subjekt zu seiner De-Konstitution wollen wir im paradigmatischen Modus repräsentierender Selbst- und Fremdbeziehung nachgehen, in welchem die Problematisierungen von Handlung, Sprachhandlung und Information Modellcharakter für eine Mimesis ans Leben annimmt. Das Theater in seiner geschichtlichen Form und den Entwicklungen seiner spezifischen Einzelinszenierungen interessiert nur im Zusammenhang mit dem Versuch, dem „Leben als Text“ den „Naturzustand“ einer nichtsignifikativen Gesellschaft einzuhauchen, was freilich nur unter formalisiert signifikativen Sicherungen, als „Fingierung“ des Präreflexiven geschieht. Luhmanns Verweis auf die Unterscheidung von Erleben und Handeln, die im Theater als Unterscheidung von Zuschauer und Akteur formalisiert werden kann, hat noch eine Pointe. Sie betrifft das Apriori der Initiation, in der das Subjekt sich auf der einen oder anderen Seite in der Praxis wiederfindet. Was im Theater durch Institution und Architektur festgelegt wird, wird in der Situativität einer Praxis durch eine auch historisch begründete Not der Komplexitätsreduktion, die in den meisten Situationen durch Zeitmangel situiert ist, behindert. Sich auf Wahrnehmungen der Wahrnehmungen (Erleben)15 einzulassen und deshalb Handlungen mit erhöhtem Opferrisiko (technisierten, automatisierten, theoretisch vordeklinierten Handlungen) einzugehen wird unwahrscheinlich. Genau hier, in komplexen 15„Dieser Ambivalenz des Welt/Umwelt-Bezugs von Erleben entspricht eine im Vergleich

zur Handlungszurechnung kompliziertere Situation des Beobachters. Er muß Ereignisse als Umwelt des beobachteten Systems und das sie erlebende Verhalten unterscheiden und doch verbinden können; er muß Wahrnehmungen wahrnehmen können. Das ist im täglichen Zusammenleben zwar ohne Schwierigkeiten möglich; aber die komplizierte Struktur des Vorgangs scheint verhindert zu haben, daß sich dafür ein entsprechendes Wort oder gar ein Begriff gebildet hat. ‚Erkenntnis‘ hat eine andere, auf Wahrheit unter Ausschluss von Unwahrheit spezialisierte Bedeutung auch ‚Erfahrung‘ (empeiria) war auf ein anderes Problem, nämlich auf Fragen des Lernens und der Lernfähigkeit bezogen gewesen. Erst der konsequente Rückgang auf Probleme der Zurechnung, die in sozialen Systemen zu lösen sind, führt zu einer ‚Symmetrisierung‘ der Begriffe ‚Erleben‘ und ‚Handeln‘ je nach dem, ob eine Selektion einem System zugerechnet wird oder nicht.“ Niklas Luhmann: Erleben und Handeln. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Wiesbaden 2005, S.80.

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Situationen, hilft man sich mit der Konstruktion von Szenifikationen. Der Handlungsdruck wird als Kommunikationsereignis simuliert. Komplexe Systeme, die ihre Zeit nutzen müssen, um ausreichende Relationierungen zu erreichen, können nicht angemessen begriffen werden, wenn man als Bezugspunkte ihrer Relationen statische Elemente unterstellt, also Identitäten, die im Wechsel der Relationen dieselben bleiben. Das hieße: die Elementfunktionen für Zwecke der Relationierung zu hoch aggregieren. Der adäquate Elementbegriff ist, formal gesprochen, der des Ereignisses. Für die soziologische Theorie folgt aus diesen Überlegungen die Tieferlegung der Element/RelationBegrifflichkeit von Mensch bzw. Rolle auf Handlung. Soziale Systeme und selbst umfassende Gesellschaften sind nicht Gruppen (im Sinne einer Mehrzahl von Menschen, die miteinander in Beziehung stehen), sondern Handlungssystem.16

Es ist einsichtig, dass Handlungsdruck, der zur Ereignisbildung beiträgt, seine Korrespondenz in der Erlebnisbildung hat, sodass Ereignis und Erlebnis die Elementfunktionen des Systems Kommunikation vs. Bewusstsein darstellen – mit eben der Pointe, dass die Vermittlung des Elementaren oder Privativen in Relation zur Gesellschaft abgebildet werden kann, freilich um den Preis einer Dispensierung von Zeit. Während Theater gespielt wird, wird nicht wirklich gehandelt, sondern kommuniziert.17 Aber das elementare Handeln auf der Bühne als Illusion kompensiert die Opferquote von Handlungen, die unter Zeitdruck ablaufen. Die Bühne überträgt den Handlungsdruck als Dramatisierung/Hysterese vom Subjekt auf die Gesellschaft. Sie relationiert die Elemente, macht sie für Tausch und Handlungsalterna16 Niklas Luhmann: Handlungstheorie und Systemtheorie. In: Ders.: Soziologische Aufklärung

3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Wiesbaden 2005, S.64f. Wie wäre es sonst möglich, Romane, deren Lesung Tage in Anspruch nimmt, auf filmische Länge zu kürzen: Filmisches wird synchron aktualisiert, Texte (Dialoge) diachron.

17

Während der olympischen Spiele ist der Krieg als Agon ausgesetzt. Huizinga betont dagegen, dass auch der Krieg eine agonale Spielform sein kann, wie andersherum auch der olympische Wettkampf mit heiligem Ernst durchgeführt wird und durchaus tödlich enden kann. Vgl. Huizinga: Homo Ludens, a.a.O., S.102f. Allerdings sind für den Krieg als Agon einige Voraussetzungen zu machen, deren Ablösung übrigens geradewegs vom mittelalterlichen Turnier zum Ballett und zum Theater führt, wie Richard Alewyn präzisiert. Vgl. Richard Alewyn / Karl Sälzle: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste in Dokument und Deutung. Hamburg 1959, S.18: „Die höfische Rangordnung des Absolutismus jedenfalls war nicht mehr darauf eingerichtet, jeden Augenblick auf die Probe gestellt zu werden. Sie wird nicht mehr in Frage gestellt, sie wird nur noch dargestellt. Das Kampfspiel verwandelt sich in ein Schauspiel.“ Ebenso argumentiert Huizinga vom Standpunkt einer nicht festgestellten Rangordnung: „Das agonale Moment wird erst von dem Augenblick an wirksam, da die kriegführenden Parteien einander als Gegner ansehen, die um eine Sache kämpfen, auf die sie ein Recht haben.“

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tiven durchlässig, d.h., sie schafft Erkenntnis über mögliche Handlungsfolgen, die wiederum zukünftige Handlungen ökonomischer machen sollen. Die Erkenntnis selbst ist unterschieden in eine der Selbst- respektive Fremdzurechnung oder, in Begriffen Luhmanns in eine von Handlung oder Beobachtung. Die Reduktion von Erkenntniskomplexität erfolgt wiederum als Verkörperung. Die Zuweisung oder Zurechnung, zwischen „Information“ und „Mitteilung“ zu unterscheiden, macht den Unterschied des „Verstehens“ als hermeneutischer Szene deutlich – von ihr ist insbesondere die Erfahrung, die sich begrifflich nicht fassen lassen will, erfüllt.18 In einer Inszenierung wird nämlich die Unterscheidung dem ‚anderen System‘ zugesprochen: Der Autor veranlasst das Publikum, eine durch den Inszenierenden vorgenommene Unterscheidung von derjenigen Entscheidung zu unterscheiden, die ein Autor ursprünglich getroffen haben mag – die also vom Publikum seinerseits fingiert worden sein könnte als eine paranoische Unterstellung von Autorschaft. Die Inszenierung als Mitteilung unterscheidet sich von der Information, die der Autor liefert, grundsätzlich – und zwar so, dass diese Unterscheidung im Verstehen selbst nicht mehr thematisiert werden muss, was zu einer erheblichen Entlastung (Katharsis) des Publikums führt. Das geht in aller Strenge natürlich nur, wenn der Text des Autors idealerweise nur Information und die Inszenierung des Inszenierenden nur Mitteilung, also Darstellung der Information, deren Verwandlung in sichtbares Handeln 18 „Kommunikation kommt deshalb zustande, wenn zunächst einmal eine Differenz von

Mitteilung und Information verstanden wird. Das unterscheidet sie von bloßer Wahrnehmung des Verhaltens anderer. Im Verstehen erfaßt die Kommunikation einen Unterschied zwischen dem Informationswert ihres Inhalts und den Gründen, aus denen der Inhalt mitgeteilt wird. Sie kann dabei die eine oder andere Seite betonen, also mehr auf die Information selbst oder auf das expressive Verhalten achten. [...] Es muß, mit anderen Worten, vorausgesetzt werden können, daß die Information sich nicht von selbst versteht und daß zu ihrer Mitteilung ein besonderer Entschluß erforderlich ist. [...] Verstehen ist nie eine bloße Duplikation der Mitteilung in einem anderen Bewußtsein, sondern im Kommunikationssystem selbst Anschlußvoraussetzung für weitere Kommunikation, also Bedingung der Autopoiesis des sozialen Systems.“ Luhmann, Was ist Kommunikation?, a.a.O., S.97 u. S.98. Luhmann setzt demnach eine Unterscheidbarkeit von semantischem und pragmatischem Motiv voraus, dass im Verstehen eine Rückkontrolle und Unabschließbarkeit der Selektionen grundsätzlich anerkennt. „Das Kommunikationssystem erarbeitet sich ein eigenes Verstehen oder Mißverstehen und schafft zu diesem Zwecke Prozesse der Selbstbeobachtung und der Selbstkontrolle.“ (Ebd., S.98f ) Ebendies schafft auf der Systemebene der Gesellschaft Möglichkeiten, an Kommunikation teilzuhaben, ohne zu kommunizieren, also entscheiden zu müssen: z.B. Theater oder andere Medienereignisse, die Information und Verhalten als performativ inszenieren, jedoch nicht „selbstverständlich“ im Sinne einer Inkorporation sind, sondern Selektivität erfordern. Exakt hier ist ja der Alterationsüberschuss jeder Spieldimension anzusiedeln.

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leistet. Dann wird das Ereignis (des Textes) zum Erlebnis (der Aufführungspräsenz). Die Differenz von „Erleben und Handeln [...] wird durch Prozesse der Zurechnung von Selektionsleistungen erzeugt und ist also abhängig davon, daß innerhalb sozialer Systeme ein Bedarf für Zurechnungsentscheidungen auftritt [...], weil bei aller Kommunikation explizit über Zurechnung kommuniziert werden muß.“19 Das passiert als Praxis ganz von selbst: Wenn der andere redet, muss ich zuhören, um die Komplexität der Situation nicht zu überreizen. Es ist erstaunlich zu sehen, wie unbefangen zwei sich begegnende Menschen wissen, wer als erster „Guten Tag“ wünscht, ohne dass eine Inszenierung diese Selektion das Ereignis von Ungleichzeitigkeit vorgibt. Gerade aber das reibungslose Funktionieren verdächtigt die Situation insgeheim inszeniert zu sein, ist aber rückgekoppelt an intentionales Erleben, d.h., die Begegnung erfolgt nicht aus dem Nichts einer zeitlosen Zeit, sie ist situativ erprobt und durch Erfahrung begleitet. Deshalb – und nur deshalb – werden Inszenierungen als Inszenierungen wahrgenommen (d.h. zu Ereignissen und Erlebnissen memorialisiert), weil ihnen hierarchisierte Zeitmomente als Selektionen zukommen, d.h. letztlich Autor- oder Vaterschaften. Und nur deshalb können wir uns auf die Systemtheorie als einem von Situativität befreiten Theoriemodell beziehen, weil in ihr alle Zurechnungsunterscheidungen programmatisch als Selbstbeschreibungen so implementiert sind, dass der Körperbezug aufgehoben werden kann. Aufgrund dieser Systematik kann die Systemtheorie sich in jedem Semantisierungkleid behaupten. Luhmann, der häufig vom „Theoriedesign“ spricht (und sicher als Liebhaber von Ironie vom „Theorietheater“ sprechen würde), hat die Tatsache, dass es keine mitteilungslose Information geben kann, so formuliert, dass Systemtheorie ihre eigene Negation zu betreiben habe.20 Es scheint geraten, die Selbstzurechnung als Folge der Probleme zu erkennen, die aus der mangelnden Fremdzurechnung klassischer Philosophie zu entwickeln sind. In Sachen Theoriedesign ist das härteste Argument für und gegen Sartre von Sartre selbst vorgebracht worden: nämlich, dass er (Sartre) im Grunde genommen kein Philosoph, sondern ein Literat sei, da 19

Luhmann, Erleben und Handeln, a.a.O., S.79.

20 „Ich denke manchmal, es fehlt uns nicht an gelehrter Prosa, sondern an gelehrter Poesie.

[...] Vielleicht sollte es [...] für anspruchsvolle Theorieleistungen eine Art Parallelpoesie geben, die alles nocheinmal anders sagt und damit die Wissenschaftssprache in die Grenzen ihres Funktionssystems zurückweist.“ Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung Bd. 3, a.a.O. Zitiert nach Walter Reese-Schäfer: Niklas Luhmann zur Einführung. Hamburg 2011, S.18.

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seine Philosophie sich nicht genügend von jenem Theater der Mitteilung distanziert, das er selbst Theater der Situation genannt hat. Die Darstellung der Vorgeschichte der Systemtheorie muss damit beginnen, eine historische Semantisierung (das ist beinahe tautologisch) ihrer selbst zu verstehen und zu deuten. Das geht aber nur, indem man die (neuere) Entwicklung der Theoretisierung von Praxis als eine Verwandlung von Situativität in Szenifikation erkennt und erklärt. Szenifikation als Re-Semantisierung ist das, was die Systemtheorie in ihrer Abstraktion blinden Auges leistet, was die andere Seite ihrer Unterscheidung ausmacht. Das man die „nackte“ Theorie in einen beliebigen Funktionsmantel kleiden kann, hat Luhmann mit seiner Publikationsstrategie zur Darstellung gebracht. Die Titel seiner Bücher konfrontieren den Systemgedanken jeweils mit seinem „Zurechnungshorizont“, den Luhmann „Gesellschaft“ nennt und den ich hier invers als „Praxisgemeinschaft“ bezeichne. Ich will die Ebene der systemtheoretischen Begrifflichkeit fürs erste verlassen. Die Hinweise dienten der Verdeutlichung und der Reduktion eines komplexen Begriffs- und Praxisfeldes, das Hermeneutik als Chimäre der Theologie beargwöhnt und disqualifiziert. Das ist, wie Bossart gezeigt hat, richtig intendiert, setzt aber Theologie selbst nur unter dogmatischen Verdacht. Gerade hier, was die Frage der Kommunikation mit den Göttern angeht, werden die Spielfelder aktuell neu re-semantisiert. Dem Inszenierungspotential der Religion und ihrer Intendanz, der Theologie, ist wieder eine politische und soziale Rolle zugedacht worden, die die Genese der kausalen Praktiken auf dem Felde der Handlungen (und schnell auf dem der Gewalten) als nicht zureichend bescheinigt. Dabei handelt es sich doch beim Gottesglauben „erwiesenermaßen“ zunächst nur um Projektionen und Fiktionen, phantasmatisierte Sozialbeziehungen, die Ursache-Wirkungsrelationen destabilisieren, indem sie sich auf das labile Konstrukt von Vaterschaften einlassen.

b. Zeitlichkeit hermeneutischer Konzeptionen Theologisch gesehen ist das Kollektiv weniger an der Frage nach Inszenierung oder Nichtinszenierung als am Erlebnis interessiert. So fällt die Deutung jedem zu, der sich inmitten oder am Rande zum Spiel kritisch verhält. Einerseits kann es darum gehen, ein Deutungsexempel mit einer bestimmten Inszenierungsform zu initiieren, andererseits kann es aber auch Absicht

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sein, in einer rituellen Inszenierung, z.B. einem Fest, zu zeigen, dass das Selbstsein eines jeden von der Möglichkeit abhängt, ein anderer für andere und gerade nicht mit sich selbst identisch zu sein. Der Festcharakter setzt die vorverständigte Komplizenschaft der Teilnehmer voraus. Auch hier bestimmt sich Selbstsein negativ durch den anderen – mit der Komplikation, dass jeder sich zu sich selbst als anderem verhalten kann. Das macht auch die innere Verwandtschaft von Fest und Maskierung deutlich. Wie ist Autorschaft dann überhaupt möglich? Nur durch die Anerkennung des Publikums einer Dauer des Festspiels, vermittelt durch Inszenierungskompetenz (Ritualität) respektive durch die Interpretationsvorgabe (Motto des Festes) als Reszenifikation. Es existiert dann eine nachträgliche „In-SzeneSetzung“ der prädisponierten Ereignisse als Inszenierung, möglicherweise im Feuilleton eines Verbreitungsmediums (einer Einladung), sodass eine Interdependenz zwischen einem direkten, mit der Umwelt kommunizierenden, und einem indirekten Kollektiv, das auf „Aufschreibesysteme“ (Kittler) als Systeme Bezug nimmt, korreliert. Die Idee, dass jede Inszenierung eine nachträgliche Reproduktion sei, trägt dann nicht, wenn man von der Maßgabe ausgeht, dass Autorschaft und Produktion grundsätzlich immer wechselweise Selbstdarstellungen für andere (den Produzenten eingeschlossen) sind – wobei der Status selbst erst einmal vorselektiert ist. Dabei braucht nach Maßgabe der Umwelt oder in Ersatz der Massenmedien dieser andere nicht als konkretes Subjekt adressiert zu werden. Das ist nachgerade der Witz der Unterscheidung von konkreter Situation und szenifikatorischem Angebot. Kurzum: Autorschaft wird nicht mehr personalisiert, sondern zeitlogisch charakterisiert. Zuallererst ist Inszenierung Herrschaft über die Modalitäten der Zeit und eben nicht des Raumes. Das Skript eines Dramaturgen vollendet sich erst mit der Aufführung, wie der Roman sich erst im Leser vollendet. Die Hermeneutik des Lesers kehrt zur Imagination zurück, die Hermeneutik des Theaterbesuchers (eines Events etc.) hat sich allerdings mit einer Realität auseinanderzusetzen, die mit dem anderen als konkretem Körper in seiner affektiven Situativität („Pathos“ und „Ethos“ sind die Begriffe bei Kittler) zu tun hat. Die Elemente einer szenischen Hermeneutik sind Gesten, Figurationen, Affekte, Effekte und Symptome, jene einer literarischen Hermeneutik sind Zeichen. Im Zeichen ist die Semantisierung immer schon situativ entkoppelt, im Symptom wird sie situativ zwingend produziert. Die Grenzen des Zeichens sind die Grenzen der Präsenz. Wenn die Geste im Erscheinen verschwindet, dann gemahnt das einerseits an die Aktualisierungsform des musikalischen Spiels,

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andererseits an Wahrnehmungsverhalten in einer mit Zeichen durchsetzten urbanen Umgebung. Als Grenze des Zeichens (intrinsisch und extrinsisch) markiert sich, so hat das Dieter Mersch zuletzt zusammengefasst, „Existenz“. Dieser von Heidegger inspirierte Begriff, der den des „Bewusstseins“ oder der „Vitalität“ (Bergson) differiert, positioniert eine Negativität, die theoretischen Extempores mit der Korrespondenz ihre situativen Rückbindung konfrontiert – und konfrontiert mit der unbilligen Frage, warum denn situative Entlastung als Körperaufhebung so wünschenswert sei und warum dies nicht im Text selbst reflektiert werden kann. Denn war dem Strukturalismus, der Systemtheorie und auch der Medientheorie der Wechsel vom Was zum Wie immanent, handelt es sich jetzt darum, ihnen Momente der Ex-sistenzvergessenheit entgegenzuhalten, wie sie die Heidegger’schen Seinsvergessenheit, der Derrida’schen Differenzvergessenheit und der Levinas’schen Alteritätsvergessenheit noch an die Seite zu stellen wären, soweit sie, wie diese, der Gesamtheit des europäischen Diskurses selbst inhärieren. Was etwas ist und als was wir es betrachten, hängt gewiss von unseren Begriffen, Rahmungen, Inszenierungen oder Konzepten und Medien ab, die das ‚Was‘ und ‚Als was‘ als solche bestimmen, ausstellen, hervorbringen oder vermitteln; doch schreibt sich hinter ihnen etwas ein, das sich als ebenso widerständig erweist und sich ihren Konstruktionen nicht fügt wie es durchscheinend bleibt.21

Wenn diese Verschiebung ihren Grund in einer nicht mehr an die konkrete Körpersituation gebundene Existenz von Echtzeitphänomenen hat, die durch mediale Inszenierungen simuliert sind, dann soll der Umgang mit diesen Alteritäten seinen Niederschlag auch im „europäischen Diskurs“ finden. Das geschieht nicht erst seit heute, sondern seit Beginn der elektromagnetischen Echtzeitübertragung, die mit der Vernetzung der Eisenbahnen, dem Telegrafen, dem Telefon etc. beginnt und Anfang der Sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts einen gewissen widerständigen Höhepunkt hat, der in der Rückeroberung der Straße und den Stilisierungen beginnender Performanzkultur ihren Ausdruck gefunden hat und dessen Gegenbild die televisionäre Starre des bürgerlichen Wohnzimmers war. Nicht mehr die Theorie ist leitend, sondern das Experiment. Der Symptomatik einer experimentellen Situierung entspricht im Diskurs zuerst der Gedanke des Stils. Wie Stil zum Ausdruck kommt, beschäftigt jeden Regisseur. Die allegorische Figur ist im Film seit Frankenstein und Metropolis an den Handlungsethos und -abweichungen des Wissenschaftlers gebunden – bis er später auf den des Unternehmers übergeht. 21

Mersch, Posthermeneutik, a.a.O., S.23.

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In der Tat ist der Stil ein nicht selbst Bedeutungshaftes, sondern fast physiognomisches Element in [Wittgensteins] Texten. Es ist gleichsam die Hand- oder die Unterschrift des Individuums in ihnen, und sein semiologisches Pendant ist das Symptom, nicht das Zeichen. Symptome ‚zeigen sich‘, Zeichen ‚sagen etwas‘ über die Welt.22

Der Stil deutet etwas in seiner Gleichzeitigkeit der Gabe, was sich nicht in diachrone Zeichenkalküle fassen lässt; er ist ein „paralinguistisches“ Phänomen.23 Das, was sich zeigt, was sich darstellt, lässt sich, gemäß der Tradition Wittgensteins, nicht sagen. Wittgenstein bestimmt das Unsagbare als Stil. Dieser meint die selbstreflexive und zugleich transzendente „Abbildungsrelation“ bzw. Darstellungsrelation selber, im engeren Sinne die Not des szenischen „Zeigens für einen anderen“. Der Stil verweist auf das, was sich abspielt, was über seine materielle Präsenz hinaus auf seine Dauer verweist. Auch wenn Wittgenstein in erster Linie das Gleichnis bzw. Sprachbild im Visier hat, so ist doch klar, dass es einen Unterschied macht, einen Text oder eine Aufführung als Kette von zeichenhaften Bedeutsamkeiten zu entschlüsseln, oder ob man sich darauf bezieht, wie etwas zur Sprache und synchron zur Aufführung kommt, also wie es im weitesten Sinne inszeniert wird. Nun lässt sich bei einem Buchautor der Stilzug seiner Schreibweise eigentlich nur im Ganzen seines Werkes beurteilen, so wie die Frage „Wer bin ich?“ sich eigentlich nur am Ende des Lebens beantworten lassen kann – mit Ausnahme der situativen Antwort „Jetzt gerade zeige ich mich als der, der die Frage stellt“. Situativ beantwortet sich die Frage also durch sich selbst. Dazu bin ich gezwungen, nicht der Bedeutung der Frage nachzugehen, sondern ihrem Erscheinen, ihrer Artikulation. Ich antworte nicht mit einer Bedeutung der Frage, sondern mit einer Deutung, indem ich sie auf die Situation beziehen und zugleich von ihr unterscheide. Die Situation erweist sich als Propädeutikum der Szene – nicht als Vorher-Nachher, sondern als zweiseitige Form von Gegenwärtigkeit. Grammatikalisch entspricht ihr die Interpunktion. Zuerst ist sie Darstellung, dann bedeutet sie auch, wie zu lesen sei. Das schließt nicht aus, dass sie, wie im Theater des 19. Jahrhunderts der Deklamation von geschriebenen Texten dient und stilistisch verkümmert. Nun ging es gerade diesem deklamatorischen Theater (dessen besonderes Stilmerkmal die heroische Pause war) um die Semantisierung einer ästhetischen Theorie, die wie die Erklärungsmodelle Luhmanns sich nur in der 22

Manfred Frank: Stil in der Philosophie. Stuttgart 1992, S.110f.

23

Ebd., S.99.

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völligen Entsemantisierung des Körpers behaupten kann, weshalb sie liebend gerne mit szenischen Beispielen durchsetzt war und als Rollenfigur die Allegorie wählte, also den wiederauferstandenen Körper als Zeichen. Solange es etwas zu bedeuten gibt, braucht man sich um die szenischen Belange nicht sonderlich zu kümmern. Das beantwortet schon fast die Frage, die sich uns hier stellt: Wenn alle Semantisierungen sozusagen informationell oder technisch liquidiert und in Kalküle verwandelt werden können, ist das Ergebnis dann ein Zeichen-Trick-Film, in dem der Schauspieler allenfalls noch seine Gesichtsmarke dem Operator zur Vorlage anbietet. Das Verschwinden des Körpers im Zeichen hat an anderer Stelle die Auferstehung des Zeichens am Körper zur Folge: Tattoo, aber auch Graffiti. Keineswegs kann man von einer Elimination des Zeichens in der Echtzeitwelt reden, vielmehr spreizt sich die Existenz zwischen Formen des nackten Kalküls und seiner Reinszenierung auf der Ebene des Designs. Was neu ist an den neuen Medien ist also ihr Extremismus, der Zeitorte der Macht anlockt. Es geht natürlich nicht darum, das Symptom gegen das Zeichen und das Zeichen gegen das Symptom auszuschließen; es geht darum, die Agenten der Verdeckung und Entdeckung zu markieren und eine hermeneutische Logik nicht nur im Sinne des eindeutigen oder besseren Verstehens, sondern in jener der Mehrdeutigkeit, der konstitutiven Verfehlung innerhalb der Kommunikation zu entfalten, die vielleicht Rimbaud am konsequentesten in die theatrale, paranoische Formel gefasst hat: „Ich ist ein Anderer.“ Wenn man sich auf diese Weise paradox verfehlt, bleibt die Leidenschaft, sich als anderem selbst zu begegnen. Jede Inszenierung beginnt also mit einem ‚für andere‘ und produziert sich als Symptom einer Geste der unvermittelbaren Vermittlung von Individuellem und Allgemeinen. Am Anfang aber steht die Anerkennung, nein: nun die Erfindung von Andersheit, die, weil sie in der Entwertung der Differenz durch Globalisierung und Universalisierung verschwindet, sich zunehmend selbst als Produktionsort professionalisieren muss.24 24 Darauf hat Baudrillard reagiert: Jean Baudrillard: Das Andere selbst. Habilitation. Wien 1987. Vgl. auch, als Antwort auf Baudrillard, Ralf Bohn: Verführungskunst. Politische Fiktion und ästhetische Legitimation. Wien 1994. Baudrillard zitiert in Von der Verführung auch auf eine Stelle in Vincent Descombes L‘Inconscient malgré lui: „Was verführt, ist nicht so sehr diese oder jene weibliche List, sondern vielmehr, daß sie für Sie angewendet wird. Es ist verführerisch, verführt zu werden, folglich ist es das Verführtwerden, was verführerisch ist. In anderen Worten: die verführende Person ist diejenige, in der das verführte Wesen sich wiederfindet. Die verführte Person erkennt im anderen, was diese verführt, erkennt in ihm das einzigartige Objekt, das den anderen fasziniert: nämlich sein eigenes, voller

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Denn um Darstellung in ihrem Stil zu verifizieren und zu reflektieren, muss sie eine signifikative Struktur besitzen, die die des Zeichens invertierbar macht. Diese Inversion bedarf der eigenen Zurichtung dessen, was als Bedeutung der „Welt“, als Praxis, die existiert, aufgefasst wird: „Praxis“ muss umfassender sein als „Theater“ oder „Fest“. Wir setzen voraus, dass eine szenische Hermeneutik nicht nach dem Phänomen der Bedeutungen, sondern selbstreflexiv nach dem Problem der Deutung als Produktion fragt – nämlich nach der „Erfindung“ von Andersheit –, und dass jede Intention von Inszenierung die Aktualität der Präsenz auf das Nu der Initiation, des Anfangs zurückbezieht. Die Hermeneutik bezieht sich hier auf die Unterstellung bzw. Zueignung eines Motivs. Im Motiv ist quasi gegenläufig (regressivprogressiv) die Negativqualifikation des Stils positiv gewendet, d.h. aus den Handlungen abgeleitet. Auf den für eine jede Hermeneutik wesentlichen Unterschied zwischen „Faktizität“ und „Erhellung“, zwischen Präsenz und Vollzug, macht Günter Figal mit Hinblick auf Gadamer, Heidegger und Schelling aufmerksam. Eine szenische Hermeneutik wird diese Zeitstasen nicht allein am Aufschreibesystem (2. Codierung) oder am Sprechen (1. Codierung) begreifen wollen, sondern innerhalb des Vollzugs einer „Aufführung“ – genauer, in der Inszenierung einer Situation, ihrer Szenifikation. „Präsenz“ selbst erscheint nur in einem „künstlichen“ Erlebnis, – Stillstellung und Dauer im Werk und im Ding –, das als Negat (Aufführung oder Protomedium) der Prozessualität des Verstehens entgegengesetzt, sich im Vollzug erhalten kann. Die andere Seite des Vollzug wird quasi durch eine Stillstellung eines Publikums, das sich in dieser Stellung halten kann, quittiert. Auf den möglichen Einspruch, der die Stellungen durchbricht, werden wir als Moment der interventionistischen Initiation noch eingehen. Um Präsenz als andauernde abzuwehren (Todesabwehr), gibt es Inszenierung. Hier sind die Präsenzen als Vollzüge aufgehoben. „Präsenz“ ist arrangiert als Zeitdauer der Aufführung bzw. – bei Figal, nach Gadamer – als „Vollzugssinn“. Kritik an der frühen Darstellung des nichtdialogischen Moments der „Einfühlung“ bei Gadamer richtet sich nicht gegen dessen Darstellungen des hermeneutischen Vollzugs (vor allem unter Hinweis des Spielbegriffs), sondern gegen jene Momente, die eine Initiation der Präsenz von der Exklusivität der Sprache des Textes her denken und nicht eben auch alle anderen Codierungen (Macht, Geld, Liebe Zauberkraft und Verführung steckendes Wesen, das liebenswerte Bild seiner selbst ...“ Zitiert nach Baudrillard, Von der Verführung, a.a.O., S.96.

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etc., wie sie Luhmann bearbeitet) miteinbeziehen. Solche, die am Fundus der Handlungs- und Dingpraxis orientiert sind, die (Körper-)Techniken als Handlungsautoren der Dinge, spart Gadamer aus. D.h., Gadamer konzipiert nicht wirklich einen an der kapitalorganisierten Ökonomie (Produktion – Konsumation) geschulten Bewegung, wenn er sie auf das Spiel als ein Hin- und Her eingeht. Die Text- und Kunstexklusivität seiner ästhetischen Hermeneutik ist reine Gabenrhetorik. Die Diskussion der ‚existentialistischen‘ Schule von Kierkegaard bis Sartre sieht das unter dem Begriff der Appropriation anders. Präsent können Texte auch in ihren Figuren und Prägungen, in ihren Begriffen und Bildern sein, die das Verständigungsgeschehen erst freisetzen und tragen; [...] Und dann hätte die Formel von der Hermeneutik der Faktizität sich endgültig als Hinweis auf ein Zusammenspiel von Präsenz und Vollzugssinn erwiesen, bei dem die Präsenz der zu verstehen gebende Spielraum des in ihn gehörenden, immer neu antwortenden und sich zeitlich vollziehenden Verstehens wäre.25

Jetzt können wir auf das historische Argument der Spreizung mit einem affirmativen Argument der Freiheit respektive des Spielraums als „Zeitspielraum“, so ein glücklicher Begriff Heideggers, antworten.26 Im Verlauf 25 Vgl.

Günter Figal: Der Sinn des Verstehens. Beiträge zur hermeneutischen Philosophie. Stuttgart 1996, S.43f. Auf diesen, für eine jede Hermeneutik wesentlichen Unterschied zwischen Faktizität und „Erhellung“, zwischen Präsenz und Vollzug (Possessivität bei Luhmann) macht Figal mit Hinblick auf Gadamer aufmerksam. Vgl. ebenso: John Wrae Stanley: Die gebrochene Tradition. Zur Genese der philosophischen Hermeneutik HansGeorg Gadamers. Würzburg 2005, S.319: „Dass es mit dem Spielbegriff um eine Überwindung der Subjektivität geht, liegt auf der Hand. ... Für Gadamer ist das Spiel in der Lage, die Subjektivität des Subjekts aufzuheben, da es den ‚Primat‘ vor ‚den es ausführenden Spielern‘ hat. ... So dienen die Spieler dem Spiel. ... Gadamer definiert das Spiel im Wesentlichen durch einen engen Bezug zur Bewegung.“ Stanley präzisiert den Gedanken, dass Gadamer aus diesem Grunde auch die spätere Raffinesse und Abkehr Heideggers von diesen hermeneutischen Prämissen für angemessen hält, um die zeitliche Dimension von so etwas wie einem „Primat des Spiels“ zu verstehen. Darin krankt meines Erachtens auch alle Problemstellung, die sich der „Inszenierung“ als einer „Raumstrategie“ widmet.

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„Weil das Dasein als Zeitlichkeit in seinem Sein ekstatisch-horizontal ist, kann es faktisch und ständig einen eingeräumten Raum mitnehmen. Mit Rücksicht auf diesen ekstatisch eingenommenen Raum bedautet das Hier der jeweiligen faktischen Lage bzw. Situation nie eine Raumstelle, sondern den in Ausrichtung und Ent-fernung geöffneten Spielraum des Umkreises des nächstbesorgten Zeugganzen.“ Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1979, §70, S.369. Vgl. das Zitat dieser Stelle auch bei Gumbrecht, Präsenz, a.a.O., S.51. Gumbrecht thematisiert hier vor allem Bewegung als eine Austauschform, in der das Situative durch den Kontext seines Spiels bestimmt ist, das es davon befreit, mit ihm (dem Begriff von ‚Kontext‘ oder ‚Welt‘ nach) identisch zu sein. Der spätere Heidegger hat bezüglich des Austauschs den Begriff der „Zeit als Gabe“ eingebracht. Aufgenommen hat

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unserer Analyse werden wir den Begriff der „Faktizität“ (Heidegger) durch den der „Praxis“ (Sartre) übersetzen, weil gerade im Inszenierungsgeschehen Faktizität einer Situation durch den Vollzug der Szenifikation als immer schon konstruierte dargestellt werden kann. Inszenierung gilt nur für die Rückkopplung der Erkenntnis, dass die Welt eine gemachte ist, was gerade in der Praxis auf Grundlage ihres Funktionierens ausgeblendet werden muss. Wie würden wir uns in der Welt organisieren können, wenn wir stets alle Ableitungen und Folgen unseres Handelns bedenken müssten? Wir würden, wie der berühmte Esel Buridans zwischen zwei Heuhaufen verhungern. Hans Blumenberg hat auf die Frage nach einer ‚anfänglichen‘ Definition so geantwortet: Man fragt sich, mit welchen Mitteln denn – sofern noch nicht mit denen des abgeklärten Begriffs – der Weg dieser Verdeutlichung zurückgelegt werden kann. Man kann das auch so sagen: zugunsten des Begriffs muß es ein Vorfeld der Unbegreiflichkeit geben, auch wenn man geneigt sein sollte, unter den Kriterien des möglichen vollendeten Begriffs dieses Vorfeld geringschätzig zu durchqueren und im Zustand der Vollendung ganz und gar vergessen zu machen.27 Gumbrecht diese Auslegung der Verfehlung der Identität in einer jeglichen Metaphorologie der Begrifflichkeit u.a. bei Blumenberg. Gerade weil, nach Kant, Begriffe nicht mit ihren Gegenständen identisch sind bzw. es Gegenstände (Ideen) gibt, die sich der Metaphorik verweigern, zeigt das Spiel stets die Möglichkeit der Endlichkeit der Begriffe, mithin also ihre Wirklichkeit auf. Folglich wird der „Spielraum“ zu einer indirekten Vermittlung der Unendlichkeit im Endlichen, also Spiel im Sinne einer Fiktionalität. Diese meint aber, so haben wir es bei Grünewald gesehen, den Zusammensturz der Zeit (Phantasia und Memoria). 27 Hans Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit. Frankfurt am Main 2007, S.51. Blumenberg bietet neben dem Begriff des Spielraums den der Distanz an: „Der Begriff ist aus der actio per distans, aus dem Handeln auf räumliche und zeitliche Entfernung entstanden.“ – „Insofern ist, anthropologisch-genetisch betrachtet, das Ideal der Deutlichkeit des Begriffs das seiner Beziehung auf die Elastizität des Spielraums, in welchem ein konkret wahrgenommenes oder vorgestelltes Wesen noch zu all dem zugelassen werden soll, was an Einstellungen und Vorkehrungen handlungstypisch aus der Erfahrung angelegt, präpariert, präfiguriert ist.“ (Ebd. S.11 u. S.12.) Für die Bewegung vom Begriff zur Anschauung führt Blumenberg den kantischen Begriff des „Beispiels“ an. „Gleichzeitig zeigt das Beispiel aber auch, daß es demonstrative Definitionen im strengen Sinne nicht gibt: Kein Zeigen auf irgend etwas kann je die befriedigende Antwort auf die Frage sein, was etwas sei, dass ich mit seinem Begriff einführe.“ (S.54) In diesem Sinne zeigt Johannes der Täufer die Offenbarung der Bibel nicht im Begriff an und auch nicht als Beispiel, sondern als Modus der allegorischen Narration. Insgesamt kann man den Exkurs zur Problematisierung von ‚exakter Begrifflichkeit‘ und ‚spielerischer Bedeutung‘ – gleich, ob man sich auf der Ebene von WahrnehmungErfahrung oder Performanz-Repräsentation bewegt – als eine durch die Endlichkeit der Zeit (ebd., S.93) motivierte Idee der notwendigen Narrativität als eines ökonomischen Umwegs (Mythos) bedenken, der dann gewählt wird, wenn die Unendlichkeit der praktischen

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Wenn also Definitionen stets nur Metaphern (Austauschformen; als Reisen durch ein Vorfeld vorgestellt) sind, so konstituieren sie in ihrem Mangel den Luxus einer Spielbewegung. Genau das aber ist der Hinweis, den Heidegger auf das Faktum des Verstehens der „Unabhängigkeit des Raumes von der Zeit“ gibt: Damit Spielraum nicht als Raum, sondern als Zeitspielraum dem „Verfallen-sein“ entrinnt, muss ‚Raum‘ als Metapher von ‚Kontext‘ verbucht werden. Dem Dasein geht es in seiner Situation um das ‚VerStehen‘, also um die Möglichkeit der Anschlussfähigkeit und der begrenzten Dauer innerhalb der „Leitfäden für die Artikulation des im Verstehen überhaupt Verstandenen und Auslegbaren“28; also um die Möglichkeit sich selbst auferlegter Begrenzung/Kontextualisierung der ‚Szene‘ als Eigentum, Wissen, Evidenz. Die Idee einer die Dauer wie die Präsenz bewachenden zweiten Instanz kann in der Konzeption nur abgewehrt werden, indem man einen externalisierenden anderen unterstellt und das „für andere“ als Produktionsgrundlage einer Ökonomie der Andersheit erkennt. Nun geht es darum, das Zeichen nicht gegen das Symptom auszuspielen, sondern nach der Logik der Inversion (oder des Beobachtungssprungs) mit der Möglichkeit der signifikativen Differenzen, Serien und Strukturen zu spielen, gemäß dem Umstand, dass die Synchronitäten der Welt, um als produzierte geoffenbart werden zu können, irgendwie diachron verwandelt werden müssen: entweder strikt monokausal im Sinne von Ursache und Folge, narrativ, einem Telos folgend, aus einem Motiv entwickelt, oder eben verwickelt, dramatisch pluralistisch und burlesk in einem Chronotopos sich Unendlichkeit anmassender zeitloser Zeit. Man muss in dieser Konsequenz die Geschichtlichkeit der Techniken, die an Zwangshandlungen ihrer AnwenAufgaben die Handlungsmöglichkeiten überbieten. Das gelingt im (theatralen) Spiel, wenn sich szenische Möglichkeiten eröffnen, die vom Kurs des Exakten/Autoritativen entweder ablenken, oder, wie etwa in sozialen Situationen, nicht in Erwägung zu ziehen sind. „Es ist die zeitliche Endlichkeit, die zum Widerspruch zwingt, die auf abgekürzten Prozessen bestehen läßt, die der reinen Rationalität nicht genügen können, und zu Rechtsvermutungen und Präsumptionen der Beweislastlage zwingen, die gern als konservativ charakterisiert werden, weil sie das Bestehende nicht dem theoretischen Postulat der absoluten Begründung auszusetzen bereit sind. [...] Umgekehrt gibt es simulierte Rationalität, die sich gerade durch ihren Zeitverbrauch auszuweisen sucht.“ (ebd.) Wenn von der Situation zur Szene diese „simulierte Rationalität“ horizontal greift, dann gerade weil sie diesen Widerspruch, die ‚Fiktionalität der Rationalität‘, darzustellen bemüht ist. Aber wie sollte man den Luxus der Freiheit gleichzeitig ausspielen und rationalisieren können, wenn man kein ökonomisches Konzept hat, sondern, wie bei Gadamer, mit dem exklusiven Gedanken der Kunstauslegung beginnt und nicht mit der „Seinsvergessenheit“ der Praxis? 28

Heidegger, Sein und Zeit, §70, S.369.

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dung gekoppelt sind (sonst funktionieren sie nicht), mit denjenigen Techniken vergleichen, die im kunstmäßigen Sinne ihrer Zukunft, ihrer Erfüllung noch nicht sicher sind, sondern diese durch die provisorische Handlung (Entwürfe, Kulissen, Gesten) erlangen und abwehren – im Dialog mit dem möglichen Einspruch eines anderen, der ebenfalls seine Sicherheit und seine Bedeutungen als Eigentum (stilistische Eigentümlichkeit) aufs Spiel setzt. Damit ist nun im hermeneutischen Sinne nicht gesagt, Inszenierungen seien nur auf ihre zukünftige Erfüllungen und vollständige Realisierung ihres Kulissenwesens aus, sondern nur, dass sie sich der Zwangsherrschaft unmittelbarer Realisierung (der Funktion von Technik) im Zwischenzustand der Fiktionalisierung entziehen und gerade damit zur Eröffnung von Möglichkeitswelten beitragen, die durch Realisierungstechniken (noch nicht) besetzt sind. Wie in der Hermeneutik selbst gibt es in der Inszenierung als Darstellung stets einen Produktionsvorbehalt, der mit dem uneigentlichen Vollzug von Zeit (Zeit des Rituals, des Festes, des Rausches) in Verbindung gebracht wird. Von Anfang an wird das westliche Theater als eine Form verstanden, in der die Gabe der Zeitigung als Opfervorgang der Produktion ausgehalten werden kann – am Deutlichsten wohl im Verbot, während der (antiken) Olympischen Spiele Waffen zu tragen oder Kriege zu führen. Von daher leitet sich ein falscher Gegensatz von Spiel und Ernst ab, der produktionsökonomisch gewendet werden muss: als Gegensatz von Opfer und Gewinn – wobei die Problematik heute darin besteht, dass das Produkt zugunsten seiner Aufhebung des Produktionszwangs im Vollzug (Servicehandlung)29 als befreiender Gewinn einer „Dienstleistungsgesellschaft“ aufgefasst wird, in der arbeitsteilig jeder der Diener des anderen ist. Am präzisesten hat diesen Sachverhalt Hans Blumenberg in seiner Frage nach dem Dienst der Technik in seiner Geistesgeschichte der Technik ausgedrückt: „Diese Implikation des Zeitbezuges für die vermeintlich gefun29

Im Sinne der Deutung des Geistes eines „protestantischen Kapitalismus“ nach Max Weber. – Huizinga hat in Homo Ludens darauf hingewiesen, dass der Gegensatz von „Spiel“ und „Ernst“ ein falscher ist (a.a.O., S.14). Die Merkmale, die er für das Spiel aufstellt und deren sekundäre Form des Wettkampfes (Agon) sich aus der Vorverständigung mit dem anderen ableitet, sind „Freiheit“ und Evidenzaufhebung: „Damit hat man also ein erstes Hauptkennzeichen des Spiels: es ist frei, es ist Freiheit. Unmittelbar damit hängt ein zweites Kennzeichen zusammen. Spiel ist nicht das ‚gewöhnliche‘ oder das ‚eigentliche‘ Leben. Es ist vielmehr das Heraustreten aus ihm in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit eigener Tendenz.“ Es „steht außerhalb des Prozesses der unmittelbaren Befriedigung von Notwendigkeiten und Begierden, ja es unterbricht diesen Prozeß.“ (S.16 u. S.17) Als weitere Merkmale nennt Huizinga die Rahmung durch Anfang und Ende sowie ein Ordnungs- und ein Spannungsmoment (Regel und mögliche Überschreitung/Auslegung). (S.17f)

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dene Gesetzlichkeit weist auf eine wesentliche Orientierung für die historische Analyse in der Technikgeschichte hin: technische Entwicklungen sind immer auf die Konstanten menschlicher Zeitgrößen bezogen.“30 Mit den Zeitgrößen meint Blumenberg die Aspekte der Geschwindigkeit und Beschleunigung – Intensitäten, auf die sich ausführlich beispielsweise Paul Virilio bezogen hat –, nicht aber den Zeitbezug der Zeitstasen „Vergangenheit“, „Gegenwart“ und „Zukunft“, die vertrakterweise durch die Voreiligkeit des Vorurteils der Bedeutung (was die Techniken in ihrem Design überhaupt erst praktikabel macht) die Deutungsalternativen eliminieren. Technische Objekte und Handlungen müssen durch sich selbst verständlich sein, um dienende Qualität zu haben. Für den Gebrauch der Techniken gilt, dass er sich von den situativen Zeitstasen unabhängig macht, sich automatisiert. Das erfragende Verstehen der Geistesgeschichte der Technik folgt nicht einem kausalen Erklärungszwang oder einer willkürlichen Intention, sondern muss sich auf die Darstellung als einer zeitlichen Produktion der Bedeutungsgewinnung (Semantisierung) einlassen, um im Zeitbezug angemessen zu sein. Solches Darstellen ist immer auch ein Produzieren in ökonomischer Rücksicht. Technik produziert als ihre Darstellungsform nämlich im wesentlichen Realität, also situative Aktualität im Hier und Jetzt, was dem Produkt die relative Elementarität eines Dings (oder einer „Information“) verleiht, dessen Vollzugsform kausal oder zweck- und mittelorientiert gründet.31 Blumenberg weist in seiner ausführlichen Analyse auf die Differenz zwischen Erkenntnisgesellschaft und Produktionsgesellschaft hin. Der griechischen Antike und dem Mittelalter bis zur Scholastik ging es eben nicht darum, die Anschauungen in die Hand zu bekommen (und damit die Zukunft als realisierte und nicht als mögliche zu bewahren), sondern sich durch sie in einer Natur zu vermitteln. Demzufolge führt die Ablösung der Produktionen (vor allem mit Beginn der Mechanisierung aufgrund der Zerlegbarkeit des Arbeitsprozesses) zu einer Trennung von Mensch und Ding, sodass der Naturprozess am Verdinglichungsprozess sich als eine zweite Natur (Technik, den Göttern entrissen, sie aber göttlich remythisierend) 30 Hans Blumenberg: Geistesgeschichte der Technik. Hg. von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler. Frankfurt am Main 2009, S.81. Die Ausführungen gehen zum Teil auf Vorträge der frühen sechziger Jahre zurück. 31

Ebd., S.123.

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erweist, deren Darstellung nun eigens ästhetisiert werden muss – wiederum so, dass die Produktion der Ästhetik (Design) sich in einer dritten Natur, den Inszenierungswelten ironisch gegenüber der ersten Natur verhält. Erst indem man sich astronomisch zum Sonnenaufgang in Beziehung setzt, kann man ihn berechnen und so sein „Erlebnisdesign“ diachronisieren: Man erfindet Uhren. „Berechnung“ heißt, einer Aktualisierung vorzugreifen und sie als situativ unabhängig verfügbar zu profanisieren: Die Sonne verhält sich dann so (paranoisch unterstellt), wie der Mensch sie technisiert – als ein Körper mit Zwangsbewegungen innerhalb gravitierender Kräfte. Im Kraftbegriff verbirgt sich der undisziplinierte Rest nicht aufgegangener Rationalisierung. Der Beweis der Berechenbarkeit wird in der zweiten Natur durch die dritte anschaulich: In einem Astrolabium kann jede vergangene oder zukünftige Bewegung am Himmel als Inszenierung reproduziert werden. Die Ironie der Sache besteht darin, mittels des Fotoapparates oder einer Kamera genau diesen heutigen, aktuellen Sonnenaufgang festhalten zu wollen als ein einmaliges Erlebnis, indem man ihn als reproduzierbar produziert. Der Fotoapparat setzt damit die Stasen der Zeit als die des Gedächtnisses (und seiner möglichen Ungenauigkeit/Unschärfe/Mehrdeutigkeit) außer Kraft und ermöglicht die Illusion, dem Spektakel einer ersten Natur beigewohnt, ja es allererst veranlasst zu haben. Die entscheidende Folgerung aus dieser Differenz ist aber, daß Erkenntnis bei Epikur nicht auf Herrschaft über ihren Gegenstandsbereich gerichtet ist; was Descartes vorschwebte, die Menschen zu maîtres et possesseurs de la nature zu machen, wäre bei Epikur nicht als Bedingung für die Möglichkeit menschlicher Daseinserfüllung erschienen. Mit anderen Worten: dem Erkenntniswillen Epikurs fehlte das, was man die „technische Implikation“ nennen könnte; er will das Phänomen distanzieren, nicht produzieren können. Herrschaft über die Natur ist keine Voraussetzung dafür, sich selbst genug sein zu können.32

Die Techniken des erfragenden Verstehens und der Implikation einer Unschärfe werden seit der Antike als hermeneutische bezeichnet. Unschärfe und Mehrdeutigkeit entstehen dabei nicht nur in der Zeitlichkeit der Erinnerung, sondern auch in der Darstellung ihrer Vermittlung. Sie beziehen sich nach und nach auf das Verständnis der drei Naturen – die Präsentation, die Darstellung, die Repräsentation – und insgesamt auf die drei Stasen der Vervollkommnung aktueller Präsenz in einer Memoria – der Natur, der Technik, der Inszenierung. Hierfür hat nicht Descartes an der Schwelle zur Neuzeit eine Formel gefunden, die sich von jener Rimbauds radikal unterscheidet, 32

Ebd.

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sondern Fichte: „Ich bin Ich.“ In der Tat braucht es dann keine Geschichte und Auslegung des anderen mehr, wenn Selbstsein im technischen Selbstbewusstsein evident ist. Fichtes Formel ist nicht tautologisch, sie erfüllt das technische Paradigma aber aufs Vollkommenste. Dass Fichte dieser Formel ungezählte Ableitungen und Deutungen hinzufügt, macht die Sache nicht einfacher, aber klarer: Es geht um das Primat des Ersten und dessen, der folgt – um die Vater-Sohn-Mythologie und der retroaktiven Possessivität, dass der Erste sich im Zweiten erfüllt wie die Wahrnehmung im Erkennen. Blumenberg fährt fort: „Man kann die in allen Diskussionen beliebte Frage, was denn Technik sei, beiseite lassen, wenn man die Zeitrelation als hermeneutisches Instrument einführt.“33 Die hermeneutische Zeit ist dann gerade nicht auf die Linearperspektive einer Kausalerklärung bezogen, welche ihre Korrespondenz in der Narration haben kann, sondern auf die szenische Gleichzeitigkeit, die erst in Folge ihres wie auch immer choreografierten Ablaufs sich, wie auch immer dramatisch verwickelt. Das sich die Sachlagen und Beobachtungen sich gleichzeitig vollziehen, dass also die Welt nicht opferlos sein kann, macht ja den eigentlichen Erkenntnisvollzug des Dramas aus. Über ein solches Gedächtnis der dramatisch verwickelten Zeitmodalitäten verfügt die technische Zeit in der Regel nicht, obwohl das Drama gerade dadurch seinen Lauf, seinen Agon nimmt, dass es sich im technischen Zeitalter (seit der griechischen tecne) irgendwie zur normierenden ersten Natur (und dem Opfersubstrat „Körper“) natürlich verhalten muss. Sie tut das eben als Gabe der Produktion und nicht als Opfer – während die ursprünglich rituellen Techniken als Inszenierungen stets um das Opfer eines Verlustes oder eines Gedächtnisentzuges kreisen, da es sich um gesellschaftliche und vergesellschaftete Erinnerungsmechanismen handelt. Womit durchaus gemeint sein kann, dass die Zwangshandlungen des Fortschritts, der sich zu einem Naturgesetz verklärt, aus den Tiefenschichten der Ordnungsfiguren der Menschheit abzuleiten sind, nämlich aus der Reorganisation des individuellen Gedächtnisses in ein kollektives, um nicht nur nebenbei dem Tod eine andere Darstellungsform der Dauer entgegenzusetzen: die der Szenen und Dinglichkeiten.34 33 Ebd. „Die Lebenszeit mit ihren natürlichen Einheiten ist für den Menschen im wesentli-

chen eine unverfügbare und unveränderliche Größe; will er mehr an Leistung und Genuß, an Selbstdarstellung und Lebensfülle, so muß er die Realisierung seiner Möglichkeiten in dieser vorgegebenen Zeit beschleunigen. Direkt oder indirekt ist diese Steigerung von Geschwindigkeit die einheitliche Wurzel aller technischen Antriebe des Menschen.“ 34

Ebd., S.23. Blumenberg führt an mehreren Beispielen das Verhältnis von Natur und

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Diese Entwertung der Instanz eines sich als der Technik mächtig behauptenden Subjekts ist keine neue Problematisierung der Frage, ob denn nicht die mathematisierte Zeit gerade die Herrschaft des Subjekts ermöglichte. Doch die historische Zeitrechnung sagt nichts über die Dramaturgie der individuellen Existenz aus – das war schon Dilthey eingefallen. Wir sind jetzt aber konstruktivistisch gerüstet genug, um zu sehen, dass gerade die Inszenierungskünste, und das nicht erst seit Wagner, in ihrem Distanzierungsansinnen auf dem höchsten Stand der Technik sein müssen, um die Brücken, die sie bauen, so subvertiert unsinnlich wie möglich zu gestalten und das Geschehen auf Effekte der Präsenzökonomie – was musikologisch evident ist – zu bürsten. D.h., die Übergänge müssen nun eigens (in einer dritten Natur) inszeniert/simuliert werden. Die Bewertung hat ihren Ausdruck im Streit zwischen einem der Geschichte mächtigem Subjekt (z.B. im Existentialismus des frühen Sartre) und einer in Praxis aufgehenden Subjektivität (z.B. im Strukturalismus von Lévi-Strauss) gefunden. Beide theoretischen Argumente für oder gegen die Autonomie der Subjektivität haben am Ende doch auch nicht die Frage nach der Selbstdeutung des Subjekts für andere abschließend beantworten können – und zwar deshalb, weil es in der Frage nach der Unterscheidung zwischen „Selbstheit“ und „Inszeniertheit“ nicht um Erklärungen naturwissenschaftlichen Formats, sondern um solche der hermeneutischen Vorverständigung im Modus des Zeigens geht, in der das Subjekt (Zuschauer) und das Objekt (Zuspieler) ohne diese Konstruktion der Vorverständigung als indifferent gesetzt werden, so wie es das Theater nach Überschreiten der Rampe formalisiert: Es fällt in die Simulation einer „ursprünglichen“ Situation zurück. Technik so aus, dass klar wird, dass der Bannungsort individualisierender Deutung nur über den fingierten Normhaushalt entweder von Natur oder von menschlicher Technik als einer überbietenden Produktionspraxis erfolgen kann. Für unseren Zusammenhang bedeutet das aber eine weitere Komplikation: Inszenierung wird nicht als ein außerhalb von Natur und Technik stattfindendes Spiel von Ökonomie wirksam, sondern im Zusammenhang mit dem, was als Norm im Spiel sanktionslos überschritten werden darf. Das Spiel ist stets Norm und Kritik. Es gibt kein Spiel ohne implizite Techniken und Regeln (Huizinga), da technische Realisierungen (Verdinglichungen) sowohl Herstellungs- als auch Handlungsnormen bedingen. In Bezug auf Technik als einer zweiten Natur ist der Einbruch des mathematischen Kalküls innerhalb der mechanistischen Praktiken, d.h. der vorgreifende Aspekt der Theoretisierung im 16. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung: „Die Wirkungen der Technik können nicht gegen die Gesetze der Natur, sondern nur nach den Gesetzen der Natur erzielt werden.“ (Ebd.) In der Inszenierung müssen sie das aber gerade gegen die Natur simulieren können, Inszenierungstechniken müssen sich als zauberhaft-magisch erweisen, also eine Quasiumkehrung der Zeit.

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Um sich über eine Sache streiten zu können, muss man sie schon anerkannt haben. In dem, was sich zeigt, wird in negativer Universalität die irreduzible Individualität deutend und gedeutet, sodass die gesellschaftliche Vollzugsform der auf Individualität verweisenden Darstellung nicht in Erklärungen eines Sagbaren, sondern im Unsagbaren eines selbstreflexiven, funktionalen oder eben paralinguistischen Phänomens (Stil) aufgeht. Damit wird keinem poetischen Mystizismus das Wort geredet, sondern verdeutlicht, dass man nicht in ein- und demselben Akt handeln und erleben (und somit reflektierend beides unterscheiden) kann – dass man diachronische Prozesse synchronisieren (und vice versa) können muss – wobei vorerst situative Formen als synchron, diachrone als narrativ und szenische als temporaldramatisch aufgefasst werden können. Alle linguistisch deklarierbaren Phänomene (Zeichen) helfen sich mit diachronen Operationen in der Zeit: Sie finden nacheinander und in der „Struktur“ (oder einem „System“) nachbarschaftlicher, kontextueller Zuordnungen ihre Bedeutung. In der Szene haben wir es mit einem Komplex von Synchronitäten und Diachronitäten, also mit fingierten, imaginativen oder gar traumartigen Zeitkomplexionen zu tun, die ein deutender Regisseur – sofern vorhanden – diachron abarbeiten kann – sofern er will. Der Inszenator ist als Person oder Instanz derjenige, der den Bedeutungsprozess lediglich ‚im Namen von‘ initiiert und Fallweise auch finalisiert, um die Einheitlichkeit eines Zeitablaufs (einer Aufführung) zu kennzeichnen, in welcher die Zeitstasen auf dramatische (d.h. nichtkausale) Weise verknüpft werden können. Die Inszenierung ist eine Zeit in der Zeit – welcher Art, das muss sie nicht vorgeben, sie muss lediglich zeigen, dass die Zeit als Bedeutungsrelation selbst kein Naturgesetz ist, sondern der technischen Kontrolle und Manipulation einer bestimmten Praxis der Produktion unterliegt. Sie erfüllt damit die schon seit Kant annoncierte Vermutung, dass Zeit und Einbildungskraft tauschbar sein müssen. c. Sinn der Verabschiedung von Sinn: erklären oder verstehen? Seltsamerweise ist die Theoretisierung der Verstehensprozesse, die der Tradition nach sich am literarischen Werk vornehmlich probiert, nicht auf die Frage zu sprechen gekommen, ob Literarisierungen – Geschichte und Geschichten als „mythische“ Formate – ihre sprachliche Linearisierung als Form dieses Problems der Selbstanschaulichkeit von Subjektivität nicht schon technisch inszenieren – wenigstens nicht vor den Untersuchungen

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Kittlers. Dieser hatte auf die reflexive Enthebung von prosaischer Evidenz in dem durch Hölderlin und Novalis, aber auch durch Schiller thematisierten Projekt einer poetischen Weltauffassung und Politik im Zuge der Französischen Revolution hingewiesen.35 Vor allem unter dem Begriff der Ironie als einer Selbstreflexionsform haben die Frühromantiker die These aufzustellen gewagt, ob denn die Zwangsläufe des politischen Handelns im Lichte der plötzlich auftretenden Freiheit alternative Weltentwürfe zulassen könnte, für die schließlich Philosophie und Dichtung eigentlich professionell zuständig sind. Dass Welt nun plötzlich re-volutionierbar wird, entbindet das Konzept einer Utopie, in der das theatrum mundi Realität werden soll, gebannt jedoch in Mediencodierungen. Die Frage der Alternative birgt immer auch die der Geltungshierarchie in sich. Der Agon darum erfordert die Fingierung eines Primats als Authentizität, als das sich zunächst der Roman erweist. In ihm ist das Opfer vorbildlos, nämlich Fiktion, da der Roman die Realität nicht dokumentarisch überbietet, sondern den fiktionalen Charakter als Parallelwelt konzipiert. Wie kann man ein alternatives Modell der Antizipation der Zukunft entwickeln, das diese nicht schon vollständig durch die Gegenwart determiniert? Mit dieser Frage wurde die der Reproduktion von Evidenz, d.h. die nach der Semantisierungshoheit von Wirklichkeit gestellt, was weit über ein ästhetisches Programm hinausging, dieses aber, so Nietzsche, besonders beanspruchte. Der Gestalter, der Designer, der Architekt stellt sich als Vermittlungsfigur zwischen den Realitätsmächten der Ingenieurskunst und den fiktionalen Künsten vor und erschliesst sich professionale Handlungsräume, die vom Durchbruch des Realen in kommender Zeit – Moden und Trends, Stilen und Historismen – geprägt ist. Es kommt zur eigenen Produktionsgemeinschaft derjenigen, die das Verstehen der Zeit selbst verstehen wollen.36 Die Anerkennung der Abschließbarkeit einer Erklärung, zumal einer wissenschaftlichen, ist ein besonderes Privileg der Katharsis einer im Grunde 35 Vor allem in: Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800 –1900. München 1995. Ebenso in: Ders., Optische Medien. Berliner Vorlesungen 1999. Berlin 2002, S.111ff. 36 Ich beziehe mich auf einen Konflikt zwischen Kunst und Industrie, den die Ästhetisie-

rung des Programms zugleich als Funktionalisierung anpreist: Gebrauchsfähigkeit selbst wird als ästhetischer Wert erkannt. Das Ornament, das als positive Spur eines negativen Stilwillens sich noch bis zum Jugendstil behauptet, wird zur performativen Bewegung, zur Inszenierung, zum Modell, zum Experiment und zum Projekt – und zwar eben als Bild der Selbsthervorbringungsaporie einer vorgeblich subjektivistischen und individualistischen Gesellschaft. Vgl. die klassische Analyse von Nikolaus Pevsner: Wegbereiter moderner Formgebung. Von Morris bis Gropius. Köln 2002.

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unverständlichen Welt, die nach inszenatorischer Verständigung sucht und diese im „Fest“ der Identität feiert. Die logische Form des eindeutigen Verstehens (Information) hat die gleiche Funktion wie das Fest auf der Ebene der gesellschaftlichen Handlungen. Logische Evidenz bedarf ebenso wie intersubjektive Interaktion überhaupt keiner Erklärung, weil die unmittelbaren Handlungen schon im Sinne der Verständigung einer Praxis geschehen sind. Ob die Formel „3 + 4 = 7“ sich an Äpfeln oder Birnen beweist, ist gleichgültig; wesentlich ist, dass sie ohne alle Objekt- und Situationsbeziehungen funktioniert, weil die Objekte, die sie bezeichnet, im Zahlenraum schon situativ vorverständigt sind und das entbehren können, was Realität leisten soll. Das setzt voraus, dass die Eindeutigkeitsbeziehungen in einer quälenden Folge von Übungen einer gesellschaftlichen Normierung, der Schule, in vielfältigen Inszenierungsformen als glaubwürdig anerkannt werden müssen, so wie es Comenius in seinem orbis pictus mit der parallelen Serie von Bildern und Buchstaben und Begriffen vorexerziert hat. Daraus folgend, wie man das unter Hinweis auf Dilthey macht, den Status der naturwissenschaftlichen Erklärungen gegen subjektives Verstehen auszuspielen, ist wenig sinnvoll. Man muss den jeweiligen Zeitstatus beachten: technische Erklärungen haben ihre Genesen schon immer abzuschütteln gewusst und Erinnerung den „Geisteswissenschaften“ und „Medienwissenschaften“ zur Aufgabe gemacht. Das ist gerade auch der Arbeit Kittlers zu entnehmen. Die Prozessualität der Szenifikation meint dann erstens die hermeneutische Amplitude der Pro- und Regression unter Einbeziehung der problematischen Präsenz im Sinn, zweitens die Struktur der Vorurteile, die jedem Urteil situativ und kontextuell vorausgehen muss, drittens der gesellschaftliche Vorausgang jeder Interaktion, die sich in den artikulierten Symbolsystemen wiederfindet, und viertens ein sowohl epigenetisches wie anthropologisches Vorweg von Handlungsstrukturen gegenüber sprachlichen Symbolstrukturen, also die Einbindung des anderen, der mir stets voraus ist. Das Vor- kann entkoppelt auch als das Andere respektive das Fremde oder als Umwelt aufgefasst werden. Auf diese Weise besteht aber zwischen der szenischen und der sinnhaften Form der Vermittlung ein dialektischer Zusammenhang – derart, dass sich die sinnhaften Formen ungleich schwerer reversibel gestalten lassen. Davon auszugehen, dass das Ausgangsmaterial („vor“) in jedem Fall situativ sein soll – nämlich in Form von Praxis – und dass Erklärungen den umgekehrten Weg einschlagen, bindet sowohl eine reine „Konzeptkunst“ wie eine „Stegreifposse“ in dieses Spiel der „De-“ und „Re“-Inszenierungen ein.

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Nun muss aber geklärt werden, wie die In-sich-Vermittlung von Praxis und Geschichte einerseits, Subjektivität und Erkenntnis (im Sinne einer Selbsterklärung) andererseits ablaufen und als produzierende Bewegungen (Evolutionen) verstanden werden, die für das Subjekt in der Gesellschaft die Frage des Sinns obsolet machen, weil ein Kennzeichen der Praxis ist, dass sie „von selbst“ funktioniert und das Attribut „inszeniert“ notwendigerweise ablegen muss. Die Aufdeckung der subkutanen Verschiebung des Sinns der Verabschiedung von Sinn in Eventgesellschaften verschreibt sich die vorliegende Arbeit ja gerade durch die Verschiebung von einer literarischen, einem Autor verpflichteten Hermeneutik zu einer ‚szenischen‘, in der es nicht ums Verstehen, sondern um Autorisierung geht: Wer kann wem unter welchem Bedingungen eine interpretative Aneignung oder Handlungsvorschrift unterschieben? Die Bestimmung geht nicht weiter als die Frage, warum das Motiv und die Praxis der Inszenierungen, der Szenografien, der künstlichen Welten und der anschaulichen Modelle etc. derzeit den naturwissenschaftlichen Algorithmen, so schön szenisch sie sich in „Wurmlöchern“, „Urknall“ oder „Strings“ – um nur auf den physikalischen Ideenreichtum zu verweisen – ausdrücken, überlegen sind, obwohl die Tiefe der mathematischen Darlegungen und ihre technischen Realisierungen ungleich mächtiger und schärfer in die menschliche Praxis einzugreifen vermögen. Warum bedarf es dieser Rückübersetzung in „Fassadenpolitik?“ Sie bedarf es, weil jede Kritik an „bloßer“ Inszenierung schon den Kern der Verführung der Autorschaftsrückaneignung verifiziert. Wir lassen uns gerne Verführen, weil wir es besser wissen. Anders gesagt: Technisch sind sowohl mathematischen Gleichungen wie die szenischen Darstellungen, die den immer wieder gleichen situativen Grundfiguren einer „technischen Interpretation“ (Schleiermacher) folgen, als soziologische Topologien auszumachen. Inszenierung ist notwendig mit Entlarvung, Abwehr und Unterscheidung als Kunstformen gekoppelt.37 Dann greift die von Dilthey gemachte Unterscheidung zwischen dem technisch Erklärbaren und dem szenisch Verstehbaren als ein Zweischritt von menschlichem Selbst37 Luhmann hat in dieser Hinsicht „Kunst“ als ein Indifferenzierungsunternehmen verifi-

ziert. „Das Kunstwerk selbst ist und bleibt in seiner Identität Bezugspunkt für die Bildung von Interaktionsketten, es ‚fließt‘ nicht wie Information, Drohpotential oder Geld von Situation zu Situation. Entsprechend fällt an der Kunst ihr museales Schicksal, ihre geringe ‚Futurisierbarkeit‘ auf.“ Niklas Luhmann: Ist Kunst codierbar? In: Ders.: Aufsätze und Reden. Stuttgart 2011, S.177. Mithin bleibt das Werk an seine Inszenierung gekoppelt, ja kann sich rein aus der Inszenierung behaupten. Entsprechend gibt es Bewegungen, entweder dem Werkcharakter zu entkommen und den Erkenntnischarakter zu betonen (Kunstkritik und -wissenschaft) oder Inszenierung als Kunst selbst auszugeben.

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verstehen. Im Gegensatz dazu wird sich heute jede Großforschungsanlage doch wohl mindestens einen Marketing-Experten oder wenigstens Szenografen halten können, der die fachsprachlichen Anforderungen nicht nur in Alltagssprache zurückübersetzt, sondern szenifiziert – und das ist genau der Unterschied, der in arbeitsteiligen Erkenntnisformen gemacht wird –, da das inszenatorische Design nicht nur nicht die Sache nicht erklärt, sondern auch das visionäre Anliegen (gesellschaftliche Relevanz, nationale Aufgabe, ökonomischer Vorteil usw.) vermittelt, kurz: Vertrauen in die Praxis der so fortschreitenden Vergesellschaftung ritualisiert und implementiert, ohne dass es zu einer tatsächlichen Übersicht über die Folgen von Handlungen und Produktionen kommen muss. Soll das sein, dann blühen die Fortschrittsneurosen als Formen der Erkenntnisüberbietung. Vom Design wird schlicht hinwegerklärt, dass es nichts mehr zu verstehen gibt, das Verstehen eine in Praxis integrierte Vollzugsform ist. Das heißt aber auch, dass Inszenierungen nicht der bloßen Unterhaltung willen notwendig sind. Sie drängen mehr und mehr in den Hintergrund, dass die differentielle Ingenieursarbeit sich wegen ihrer Komplexität immer mehr von der beherrschbaren Praktik der Körper entfernt und ihre ethische Verantwortung an immer artistischer werdende Inszenierungskünste abgibt, deren medientechnischer Aufwand im Wissenschafts- und Hochschulmarketing beängstigende Dimensionen annimmt. Das Politik hier mit Inszenierungs- und Medienkompetenz zusammenfällt bedarf keiner Erläuterung. Nun ist der Begriff der „szenischen Hermeneutik“, der sich um den Sinn der Verabschiedung von Sinn zugunsten der Präsenz kümmert, keine Erfindung von mir. Alfred Lorenzer hat ihn für die Positionierung der psychoanalytischen Theoriebildung zwischen Naturwissenschaft (Medizin) und subjektiver Weltdeutung (Philosophie) eingeführt, um auf das oben angesprochene Verhältnis zwischen vorsprachlicher Interaktion – das setzen wir zunächst mit Szenifikation gleich – und symbolischer Artikulation (besagter Autorschaftsanmaßung reflektierter Geschichte(n) und verbürgter Ereignisse) hinzuweisen. Das dialektische Verhältnis nennt er, mit Wittgenstein in dem eben geschilderten Sinne, ein „Sprachspiel“, eine Vermittlung von Subjekten im gesellschaftlichen Umgang – derart, dass die Folge davon in symbolische Sprache konventionalisiert und in arbiträrer Form ihre eigene Genese auslöschen kann. Der Begriff „Spiel“ meint weniger „Game“ als „Play“ im Sinne der dialektisch-hermeneutischen Unabschließbarkeit oder Unerklärbarkeit einer Praxis. Das Wort „Sprache“ in „Sprachspiel“ meint die generative, epigenetische und autopoietische Formel des gesellschaftlichen

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Austauschs (Reziprozität) in seiner Symptomatik, weniger die dialogische Verfassung artikulierten Sprechens. Lorenzer erklärt: Zum Begriff „Sprachspiel“ ist dabei anzumerken: Der in Sprachzerstörung und Rekonstruktion vorkommende Begriff „Sprachspiel“ wird vom Begriff „symbolische Interaktionsform“ nicht verdrängt, sondern inhaltlich präzisiert. Von Sprachspiel ist weiterhin notwendig die Rede dann, sobald die Erkenntnistheorie des kritisch-hermeneutischen Verfahrens der Psychoanalyse zur Diskussion steht: Die Formel der symbolischen Interaktionsform verbindet diese mit den Überlegungen einer Sozialisationstheorie. Vom Sprachspiel ist weiterhin die Rede, sobald die Ebene ausgebildeter Repräsentanzen erreicht ist. [...] Bewußte, eigener Reflexion zugängliche Aktivität wird durch Agiertwerden von situationsgebundenen „bestimmten Interaktionsformen“ ersetzt.38

Von einer Inszenierung abzuleiten, sie sei eine „Desymbolisierung“ und könne das deutende Verstehen auf den Ursprung, z.B. auf eine ursprüngliche Einsicht des „Autors“ oder des „Inszenators“ (sofern er Autor der Inszenierung ist) zurückführen, ist zwar grundsätzlich berechtigt, berücksichtigt aber nicht, dass das aus der Szene abgeleitete Verstehen drittenrelevant sein muss – derart, dass jede der an der Inszenierung beteiligten Instanzen Autor (Inszenator), Szene (Organisation), Beobachter (Publikum)) darin übereinkommen muss, dass die Situativität der Darstellung frei adressiert ist und es sich bei Inszenierungsformen weder um eine Programmautomatik, eine reine Zufälligkeit oder einen schematischen Dialog (Game/Agon) handelt, sondern um eine Initiative zur Initiation. Gerade weil die System-Umwelt38 Alfred Lorenzer: Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie

der Psychoanalyse. Frankfurt am Main 1973, S.34 (Vorwort der Taschenbuchausgabe). Das ist die Formel, die später Luhmann abstrahiert: „Um Kurzbezeichnungen verfügbar zu haben, sollen Selektionsprozesse, die in diesem Sinne auf Systeme zugerechnet werden, Handeln genannt werden, und Selektionsprozesse, die auf Umwelten zugerechnet werden, Erleben. Nimmt man hinzu, daß mediengesteuerte Selektionsübertragungen asymmetrisch verlaufen und daß mindestens zwei Partner, Alter als Sender und Ego als Empfänger, beteiligt sind, dann ergeben sie vier Grundkonstellationen, die die Ausdifferenzierung symbolisch generalisierter Medien-Codes in sehr unterschiedliche Richtungen steuern.“ Niklas Luhmann: Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien. In: Ders.: Aufsätze und Reden. Stuttgart 2011, S.41. Das Schema, das Luhmann an dieser Stelle aufzeichnet, kann so gelesen werden: 1) Egos Erleben zu Alters Erleben > Wahrheit/Wertbeziehungen 2) Egos Erleben zu Alters Handeln > Eigentum/Geld/Kunst 3) Egos Handeln zu Alters Erleben > Liebe 4) Egos Handeln zu Alters Handeln > Macht/Recht Dadurch ergibt sich eine Grundselektion der Codes als Wertbeziehung in medialen Prozessen, die nicht stets eigens hinterfragt werden müssen.

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Differenz nicht festgeschrieben ist, ist der Eintritt in eine hermeneutische Situation eine Anfänglichkeit, die ihren ersten Anfang in einem zweiten Schritt erst hervorbringt. In der eingeschränkteren Sicht der Psychoanalyse bedeutet „Desymbolisierung“ (Szenifikation respektive Inszenierung) „Analyse des Originalvorfalls (als Resymbolisierung am lebensgeschichtlich genauen Ort der Desymbolisierung), Rückholung in Geschichte, Wiederherstellung von aktiver Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen.“39 Während die konventionelle Hermeneutik mehr oder weniger nach der Präzision des (je historisch) Gemeinten in einer Überlieferung (Text) fragt, so richtet sich die szenische Hermeneutik auf den realen Grund der Notwendigkeit einer symbolischen Form, als Abwehr der tatsächlich zu leistenden Handlungen. Dazu muss dieser reale Grund aber schon eine konventionalisierte Form eben jener Abwehr sein, der die Symptomatik zugunsten der symbolischen Techniken verdrängt hat, denn Technik kann nur als Symptomatik bereits abgewehrter Symptome verstanden werden; nur so lässt sich in der Hermeneutik der Zirkel von Realitätsproduktion und Inszenierung verstehen, in der der Körper der Träger von Handlung ist. Soll Handlung unter Opferverdacht ausgesetzt werden, kann es zu Binnenverdinglichungen von Symptomen oder besser Syndromen („Neurosen“) kommen, die nichts anderes sind als Inszenierungsformen, deren Bühne der Körper ist und deren Exegese noch nicht den Weg in Sinn, also die „aktive Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen“ gefunden haben. Es handelt sich also um „Aufführungen“ von „Darstellungsabwehr“. Weil sowohl Sinn als auch Ding Produktionsformen der Abwehr isolierter Präsenz (Singularität) wie ewiger Dauer (Tod) sind, müssen sie entweder in der symbolischen Kette oder im Gebrauch tauschbar gehalten werden. Das geschieht in einer projektiven Vorgabe einer „Aufführung“ im weitesten Sinne, nämlich als „Für-einen-anderen“. Der erkenntniskritische Aspekt leitet sich von der These ab, dass die technische Zurichtung der Welt, d.h. der öffentliche, vom „Theater“ befreite Ort der Realität selbst symptomhaft verfasst ist – und zwar umso mehr, als er in einer pluralen Mediengesellschaft auf einen rein verweisenden opferlosen Symbolgebrauch ausgerichtet ist. Es gibt, salopp gesagt, ein Theater ohne Literatur und eine Szenifikation ohne Bühne: Das Design der Dinge, die sich nur noch zeigen. Durchbricht man die inszenierte Symptomatik des automatischen Gebrauchs, fallweise entweder als Kunstkritiker, als kritisches Publikum oder als Neurotiker, wird die Inszenierung kritisch – was immer 39

Ebd., S.35.

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bedeutet, dass die sozialen Regeln der Reziprozität übertreten werden. Der Blick des Ethnologen und der des Psychoanalytikers, der in der Sprache das Sprechen liest, provoziert einen Widerstand, der, und das ist die Pointe der Überlegung, ebenfalls Teil der Inszenierungsstrategie sein kann. Die Autorschaft hat die Seiten gewechselt, die Dimension von „Ich und Anderem“ invertiert: Genau das markiert die Position des szenischen Verstehens als eines Differenzvollzugs. Es ist nicht anzuzweifeln, dass ethnologische Untersuchungen, die um das Motiv der Reziprozität (d.h. der basalen gesellschaftlichen Beziehungen des Vertrauens und der Kreditierung) kreisen, angewandte szenische Hermeneutik sind, derart aber, dass sie zunächst nicht bemerken, dass es dem Ritual gerade darum geht, die situativen Präsenzen in dauernden, d.h. sozial regulativen Sinn zu verwandeln, und zwar ohne symbolische Operatoren. Das Ritual bleibt geradezu auf der symptomatischfetischistischen Stufe stehen, es formuliert sich als magische Handlung mit sehr präzisem Sinn nicht der Verabschiedung, sondern der primären Bildung von Sinn angesichts seiner Unerklärbarkeit sowie eben der Unerklärbarkeit der Bewusstseinszustände und Zeitstasen von Bewusstsein. Auf diese Weise gelingt es dem Ritual, an sich unerklärlichen Prozessen durch Szenifikation eine festgelegte Bedeutung und eine festlegende Zeit sowie ihren Ort zu verleihen. Die hermeneutische Dissoziation und die Darstellung einer epigenetischen Amplitude der dialektischen „Hin- und Herdirektion“, die – wohl von Schellings Transzendentalphilosophie ausgehend – so und ähnlich von Freud bis Gadamer stets als Bewegung nicht nur des Spiels, sondern des Spielens aufgefasst wird, hat den Sinn, die Rede von performativen Akten und Performanzen als Problem der Gleichzeitigkeit symbolischer und symptomatischer Formen zu entlarven, die zwar das Phänomen der Interaktion beschreiben und analysieren können, es aber nicht als Problem der Mehrdeutigkeit auffassen. Funktionales Objekt des Sich-nicht-ablösen/bildenKönnens bleibt der Körper, insbesondere der tanzende/zuckende Körper. Wenn man berücksichtigt, dass Spielverhalten ein Deutungsverhalten im Übergang von Sinnlichkeit zu Sinn ist, das nicht primär auf symbolische Praxis aufbauen kann, versteht man die Pathologien einer Realität, die wegen ihrer Komplexität wieder zunehmend auf Nicht-symbolische-Erkenntnis-, d.h. Identifizierungsformen zurückgreifen muss. Der phänomenologische Ansatz, die grundlegende Differenz von Situation und Szenifikation des Ereignisses als Phänomen zu beschreiben und die soziale Praxis abzukappen, ist von Sartre einerseits und von Gadamer andererseits einer gesellschaftlichen Hermeneutiktheorie zugeführt wor-

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den – verdrängt dabei aber oft (frühromantische) Problemzuschnitte, die Dieter Henrich und Manfred Frank kritisch gegenüber Jacques Lacan und Paul Ricœur angemerkt haben. Lorenzer selbst geht zwar von der Unterscheidung „Verstehen und Erklären“40 Diltheys aus, greift aber übergeordnet in eine Diskussion ein, die Sartre und Lévi-Strauss um die Erklärung einer geschichtsverstehenden und einer strukturalen Hermeneutik Anfang der Sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts geführt haben.41 In dieser Diskussion geht es um die Frage, ob der historisch-praktische „Interaktionsrahmen“ (die Dialektik der Vergesellschaftung) oder die Situativität (die „ahistorische“ Struktur, das Phänomen) – in der eine vorsprachliche Inter40

Lorenzer, Sprachzerstrung und Rekonstruktion, a.a.O., S.41.

41Bezug nehmen kann man auf den letzten Abschnitt von Das wilde Denken (Kapitel IX:

Geschichte und Dialektik). Lévi-Strauss beginnt mit einer Frage an Sartre: „Wie kann die analytische auf die dialektische Vernunft angewandt werden und sie begründen wollen, wenn beide sich durch Eigenschaften definieren, die sich gegenseitig ausschließen?“ (S.282f) Während Sartre der „dialektischen Vernunft eine Realität sui generis“ zuschreibt, geht LéviStrauss von einer relativen Beziehung der analytischen und der dialektischen Vernunft aus. Dabei bemüht er das Bild, das Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften für die Analogiebeziehungen beschreibt: Sie sei eine „Brücke ohne Widerlager“, ein Sprung ins Ungefähre – eine Überschreitung, mit der Sartre den konstitutionellen Einspruch einer jeden hermeneutischen Progression meint. Sartre betont, dass dieser existentielle Sprung des Einzelnen immer schon durch eine Praxis der Dritten (Freiheit von etwas) vermittelt ist – soziale Pathologien einmal ausgenommen. Die dialektische Vernunft „ist der unaufhörlich verlängerte und verbesserte schmale Steg, den die analytische Vernunft über einen Abgrund baut, dessen anderes Ufer sie nicht erkennt und von dem sie doch weiß, daß es existiert, sollte es auch beständig weiter in die Ferne rücken.“ (S.283) Wenn der analytischen Vernunft das Primat der Realisierung zukommt, ohne die Genese der gesellschaftlichen Vermittlungen (Ethik) implementieren zu können, dann muss gefragt werden, auf welche Weise sich die Deutungen der Analytik selbst mit Gewissheit erfüllen können. Wenn das Ziel vorweg in einer Identitätsbeziehung besteht, dann muss dieses Setzen, z.B. in der These eines Experiments, sich auf etwas stützen, das man weniger Erfahrung oder Intuition des Wissenschaftlers, als vielmehr der gesicherten Erkenntnisse der Wissenschaften respektive der Verlässlichkeit der Kollegen zusichern kann. Analytische Wissenschaften zeigen sich als diskursive (dialektische) gesellschaftliche Prozesse. Lévi-Strauss ist zum Kompromiss bereit: „Man wird also einräumen, daß jede Vernunft dialektisch ist, was wir unsererseits zuzugeben bereit sind, da die dialektische Vernunft uns als analytische Vernunft in Bewegung erscheint.“ (S.289) Der Unterschied, den Sartre zwischen „Denken“ und „manueller Arbeit“ macht, wird dadurch für den Ethnologen „gegenstandslos“. (Ebd.) Es handelt sich um zwei mögliche Zustände der Realisierung als Abspaltung des Dritten. Die Konzession, die Lévi-Strauss in Bezug auf seine Arbeit Les structures élémentaires de la parenté (Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft; *1949) macht, ist, dass er sich des gleichen Fehlers zeiht. So wird jeder bereit sein, dass es keine Gesellschaft ohne kausale Handlungsbezüge gibt und keine Wissenschaft ohne mythisches Motiv, das in der gesellschaftlichen Dialektik – heute sagt man „Ökonomie“ – disponiert ist.

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aktion ein elementares Ereignis artikulieren sollte, was Dilthey als „Erlebnis“ bezeichnet hat – den Vorrang erhalten soll. Genesis oder Geltung, Ereignis oder Erlebnis? Anders formuliert: Soll man vom Wissen ausgehen, um das Unerklärliche zu erklären, oder vom Unerklärlichen, um es als unerklärliche Komplexität zu akzeptieren und lediglich deutend und reduzierend darauf zu verweisen? Wieder geht es um die Frage des Sinns von Sinn, genauer, um die Produktionsparameter von Sinn als Produkt einer Kulturfreiheit Namens „Spiel“, das ‚sich hervorbringt‘, um Sinn auch (wieder) den Präsenzen abzugewinnen, indem sie dies auf irgendeine szenische Weise dauern lässt. Erklärung liefert ein Produkt, „Sinn“, Verständnis eröffnet eine Möglichkeit des retroaktiven Vollzugs dessen, der Sinn produziert. Die Unterscheidung versteht sich jeweils auf eine Umwelt bezogen, die als „Natur“ oder „Kultur“ bezeichnet werden kann. Wir setzen voraus, so die nächste These, dass eine szenische Hermeneutik einen autopoietischen Vorgang der Inkorporation, als Vergesellschaftung (für-andere) verwandelt. Wie das geschieht, darauf war die Marx’sche Analyse angelegt: Der Einzelne vermittelt sich zur Gesellschaft über den Tausch. Was Marx weniger im Sinn hatte, war der Umstand, dass der Tausch mittels Symptome seinen Ausdruck auch in der Negation der Produktion finden kann.42 Der symptomatische Einspruch liegt darin begründet, dass Reflexion und Erklären unmöglich den Optionsmodus von Handlung vollständig mit Sinn abdecken können. Man muss also durch die Körperbinnenverdinglichung anzeigen, dass Sinn produziert wird, der sich aber im Körpersymptom selbst dementiert. Das Symptom versteht also mehr, als es erklären kann. Hierzu gehören nicht nur Symptome im pathologischen Sinne (Histronisierungen), sondern eben auch ‚scheinhysterische‘ Exaltationen, wie z.B. Spielverhalten bis in die professionalisierten Körpertechniken der Schauspielerei hinein, gemäß der Erkenntnis, dass alle Professionen einer Gesellschaft ihren Grund in Symptomzusammenhängen haben, deren Grundmodus jener der Verschiebung von Selbstverdinglichung mittels Technisierung in äußere Dinge ist. Selbsthervorbringungen des Körpers und solche der Kultur sind also gerade nicht analog aufzufassen. Inszenierungen sind im besten Fall nicht Produkte oder Werke, sondern Vorgaben zur Deutung, das In-Bewegung-Bringen dieser Verschiebung. Sie zeigen aber auch, dass der 42

Nicht von hier aus, sondern vom Mangel aus leitet Marx den Einspruch, den Streik und die revolutionäre Bewegung ab. Wir werden noch zeigen, dass es im Wesentlichen der Aufweis einer positiven Möglichkeit, also gerade nicht der Mangel ist, der den Einspruch artikuliert.

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Körper selbst zu einem Ding werden kann, das Ding selbst aber nicht mit dem Körper fusioniert. Es soll in der Analyse darum gehen, die Initiation zur Projektion genau dieses cartesianischen Nullpunktes der ‚Körperverdinglichungsaufhebung‘ in der Fingierung/Fiktionalisierung zu erkennen, die notwendiger Rahmen des menschlichen Syndroms ist. Unter dieser These symptomatischer Lesart ist es verständlich, dass eine szenische Hermeneutik dort ansetzt, wo es gilt, einerseits die Tauschbedingungen sowohl von Subjektivität im Familialismus Freuds als auch die Verwandschaftsverhältnisse im Strukturalismus aufzulösen, andererseits aber eine entfesselte kapitalistische Tauschform als Phänomen einer großen Mythisierung zu erkennen – im Anschluss an das, was insbesondere Binswanger als „Freudomarxismus“ bezeichnet hat, wie er im Poststrukturalismus und in der Postmoderne von Bataille über Derrida bis hin zu Deleuze/ Guattari als eine Art „Maschinentheorie“ aufgenommen worden ist. Bevor es so weit ist, dass die nächste große Erzählung die globalen Muster der Tauschbeziehungen nach Freud und Marx ableitet, scheint es angebracht, zunächst auf die Unterscheidung von Realtausch und symbolischem Tausch angesichts der „Präsentifikation“ (Gumbrecht) der Sprache und der Literatur, der Philosophie und der Geschichte zu verweisen. Man darf behaupten, dass im Zeitalter pluraler Autorschaft und Medienverhältnisse die Erzählung nicht mehr mit „Es war einmal“, sondern mit „Es geschieht“ beginnt. Kann in diesem Stimmengewirr und in der heterogenen Vielfalt der Befreiung vom „Stil“ das Ungesagte im Gesagten noch verifiziert werden? Angesichts der digitalen, globalen Echtzeitübertragungen muss man den anderen nicht mehr besser verstehen, sondern überhaupt erst einmal als anderen differieren. Das Theater hat sich z.B. durch Pirandello in dieser Hinsicht keineswegs so radikal von seiner Statik befreit, wie angesichts der Überschreitung der Rampe (die ihrerseits eine neuzeitliche Erfindung ist) angenommen werden könnte, aber es vermittelt immer noch das Echo möglicher Andersheit des anderen wie die des Anderen (Fiktiven): das des nomadisierenden Stegreiftheaters, das immer aus dem Fremden der Stadt und den unmittelbaren Körpertechniken kam, von der bloßen Lust am Spiel und am Zuschauen.43 Es hat immer den exotischen Charakter mit dem exklusiven 43

Vgl. Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik, a.a.O., S.48f. Gumbrecht verweist auf die Körperlichkeit des mittelalterlichen Theaters, das vielfach noch ohne Narration, „auf Körperlichem basierender Vollzug war“. Die Figuren sind „Kaspar“ oder „Hanswurst“. Es gilt, „die gemeinsame Präsenz von Schauspielern und Zuschauern“ als ‚reale‘ Gemeinschaftspräsenz“ zu erleben. Der Ereignischarakter verblasst gegenüber dem Erlebnischarakter, ein

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verbinden können. Nur wenn es sich im Event oder der Intervention selbst nicht als Andersheit in Bezug auf seine Medialität artikuliert, verliert es seine Funktion. Der aktuelle Spielmodus, Inszenierung als Realität zu dramatisierten, das Publikum als Agenten in den Kampf der Welten miteinzubeziehen, ja die Formeln des Situationistischen Theaters zu übertreiben und bloß noch zu irritieren, haben dazu geführt, dass die Tauschoptionen mehr oder weniger validierbar werden. Nur, die Ökonomie bringt sie selbst hervor als Event, als das Andere ihres Warencharakters. Soll man die Subventionsjankees der Stadttheater als anökonomisch bezeichnen, nur weil hier relativ viele Menschen für relativ wenige Menschen ein nicht reproduzierbares Stück verkörpern? Die Schwierigkeit des Verstehens besteht nicht darin, dass man die, die lauter schreien, genauer und besser versteht, sondern überhaupt erst einmal das Verstehen als Motiv zu verstehen, als Praxis, die sich als Ort des Anderen vollzieht. Kehren wir zurück zum Problem des Austauschs, zum Freudomarxismus. Alfred Lorenzer hat in einer Kritik, die den Wissenschaftsanspruch Freuds zugunsten seiner hermeneutischen Raffinesse in Schutz nimmt, von einem „szenischen Verstehen“44 gesprochen. Er greift damit eine lebensphilosophische Formel der einflussreichen Hermeneutik Wilhelm Diltheys auf, die als szenisches Element nicht das Ereignis, sondern das Erlebnis setzt. Im Unterschied zum Ereignis, das situativ und unablösbar vom Körper (plötzlich) erfolgt und sich nur nachträglich erklären lässt, gilt das Erlebnis schon als Form einer inkorporierenden Deutung. Das Ereignis ist elementar, das Erlebnis prozessual. Lorenzer versteht die Formel Diltheys wie folgt: Gegen verstehende Psychologie und klassische Hermeneutik ist zu sagen: Tiefenhermeneutik orientiert sich nicht an der Diltheyschen Unterscheidung: „Die Spiel, das im Vaudeville und im Slapstick seine Wiederauferstehung feiert. Einschlägiges Beispiel für die Hervorhebung und Professionalisierung der Körpertechniken ist der Tanzfilm Singin‘ in the Rain (Gene Kelly/Stanley Donen, USA 1952), dessen Plot darauf abzielt, den Übergang vom Stumm- zum Tonfilm als Einbruch des Signifikanten und literarisierten Sinns (Drehbuch) zu porträtieren. Dieser Film (ebenso das Kino als Gemeinschaftserlebnis) ist nicht zuletzt berühmt für die Darstellung seiner artistisch choreografierten Körpertechniken, die derzeit im Action-Kino von elektronischer Bildgestaltung auf billige Weise eingeholt werden. Es ist aber immer noch nicht hinreichend gewürdigt, dass es im Kino um Handlungen geht, nicht um Sinn – dass Anfang, Mitte und Ende – so Godard – im Film nicht unbedingt in dieser Reihenfolge gezeigt werden müssen. 44 Alfred Lorenzer: Psychoanalyse als kritisch-hermeneutisches Verfahren. In: Ders.: Sprachspiel und Interaktionsform. Vorträge und Aufsätze zu Psychoanalyse, Sprache und Praxis. Frankfurt am Main 1977, S.125.

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Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“ Der Gegenstand der Tiefenhermeneutik ist ein ebenso „natürlicher“ wie seelischer. Die Interaktionsformen, auf die hin Tiefenhermeneutik angelegt ist, gehören als Resultate einer Synthesis des praktisch-dialektischen Bildungsprozesses ebenso zur Natur wie in den Bereich gesellschaftlich-geschichtlicher Gegenstände.45

Damit interpretiert Lorenzer erstens Natur als einen Mythos (d.h., sie ist fingiert), dem menschheitsgeschichtlich die Technik als einer zweiten Natur entspricht und was Produktion (natura naturans) und Fortschritt ununterscheidbar macht; zweitens muss die „Erklärung“ im gleichen Erkenntnisrang vollzogen werden wie das „Verstehen“, mit der Unterscheidung, dass die Vollständigkeit der Inszenierung im Modus des Erklärens Autorschaft universalisiert respektive konstruktivistisch auflöst, da die naturwissenschaftliche Deutung subjektlos (körper- und sinnenunabhängig) sein soll, unter der Maßgabe, dass das Element ‚Natur‘ als Umwelt in seiner Ganzheit kohärent ist, dass es also keine Situation gibt, in der sie sich als Aufführung wiederholen lässt, gar in ihrer Produktion innehält und auf sich schaut. Innehalten und Schauen sind Auszeichnung der von den Menschen abgeleiteten Götter. Die Dialektik der Formel ergibt sich aus dem Umstand, dass das, was sein Sein in der Zeit hat, also im „Bewusstsein“ („Seelenleben“), sich auf dieses Erklären prinzipiell nicht festlegen lässt, da Bewusstsein von der Praxis anderer, abgeleiteter Autorschaft (Vaterschaft, Vergesellschaftung, Stimme in mir) als Possessivität und Produktivität (autopoiesis) angesehen werden muss, gerne aber dieses Naturmodell als Techniktheater für sich in Anspruch nimmt – und zwar im Sinne eines Normenhaushaltes in der Relationalität der Zeit. Die dialektische Bewegung vollzieht Lorenzer mit Rücksicht auf Diltheys Formel und Freuds Ansatz so: Der experimentell-naturwissenschaftlichen Einheit von Beobachten und Erklären steht eine andere Erfahrungswissenschaft mit der Einheit von Verstehen und Begreifen in der Form von lebenspraktischem Verstehen und Begreifen der Lebenspraxis gegenüber. Die Einheit von Verstehen und Begreifen hat gegenüber der geschichtlich jüngeren Einheit von Beobachten und Erklären ältere Rechte erneut geltend zu machen.46

Wenn die „Szene als Moment der Lebenssituation verstanden“47 wird spricht nichts mehr dagegen, das theatrale Spiel in seiner weitesten 45

Ebd., S.122.

46

Ebd., S.123.

47

Ebd., S.113.

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Form nicht mehr nur als unökonomische Randerscheinung technisierter Effektivität zu verstehen, sondern als Versuch, ein Wissen von sich selbst zu erwerben, von dem gerade die naturwissenschaftliche Weltsicht nur eine Sonderform darbietet. Dabei ist es höchst problematisch, die Relation „älterjünger“ in die Überlegungen einzufügen, da dies schon einen im weitesten Sinne narrativ-historischen Standpunkt impliziert, während in Wirklichkeit ein Inversionsverhältnis die Gleichursprünglichkeit („Oszillieren“) von Präsenzvollzug und Sinngenese behaupten muss, in der nicht die „Natur“ ältere Rechte beansprucht, sondern die Praxis als „Präsenz“ und „Evidenz“. Dieser Analyse der Handlungspraktiken kann eine szenische Hermeneutik sich verschreiben, ohne eine auf Sinn gerichtete Hermeneutik ausschließen zu können. Das gibt Handlungen, Praktiken und Techniken einen ganz besonderen Erkenntniswert, der für sich selbst „durchsichtig“48 ist, also in der Situativität einer Anschauung von Nichtinszenierung als einer „anderen Welt“ nicht auftreten kann. Es handelt sich, plastisch und mit Deleuze gesagt, stets um gegenwendige Faltungen ein- und derselben Welt, die beispielsweise im Theater im Verhältnis von Ausdrucks- und Technikeffeken harmonieren können. Das heißt, Praxis wird als solche überhaupt erst als inkorporiertes Wissen thematisierbar, wenn sie als Inszenierung dargestellt wird. Das ist durch die interventionistischen Strategien neuerer Performances hinlänglich gezeigt. Aber schon jeder banale Verkehrsunfall wird sofort sein Publikum finden, das nicht müde wird, die außergewöhnliche Erscheinung zu deuten und schließlich mit ableitenden Erklärungen zu versehen, um sie dem Schlussverfahren polizeilicher Ermittlungen zuzuführen: Situation, Ereignis, Szenifikation, Inszenierung, Autorisierung – das ist die Amplitude szenischer Hermeneutik, die Autonomisierung und Autarkisierung zurückbindet, und die wir im Folgenden, zunächst vom Theater und einigen literarischen Beispielen ausgehend, beschreiben wollen. Das Publikum eines Verkehrsunfalles hat nichts Geringeres vor, als die unerklärliche Möglichkeit der konstruktiven Dialektik von Verkehr (Prozess) und Unfall (Aktualität) mittels eindeutiger Interventionen in Realität, d.h. in eine narrativ-kausale Zeitfolge zu verwandeln. Der Unfall wird nicht mehr als schicksalhaft gedeutet, sondern als technische Krise erklärt. Die Polizei, die sich mit der Widersprüchlichkeit der Zeugenaussagen auseinanderzusetzen hat, wird diesen Erklärungen weniger Glauben schenken als einer szenischen Nachstellung der Vorgänge vor Ort, im Modell oder durch empirische und mediale Erinnerung an ähn48

Ebd.

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liche Vorkommnisse oder dokumentierenden Kameras. Die Situationen, von denen wir ausgehen, sind uns als notwendige Erklärungen in der Wissenschaft und als Deutungen (Reinszenierungen) der Philosophie (um den Begriff der „hermeneutischen Wissenschaften“ zu vermeiden) bekannt. Als szenische Nachstellungen erweisen sie sich umso fundierter, je differenzierter mediale Techniken zu Hilfe genommen werden. Alle Simulationsvorhersagen zeigen, wie undiszipliniert menschliches Verhalten immer noch sein darf: dirigiert von Einsprüchen und Interventionen des Körpers.49 In der Situation einer Polizei bei der Unfallaufnahme, mit Aussagen unterschiedlicher oder widersprechender Stimmen konfrontiert zu sein, steht auch die vorliegende Arbeit: Sie widmet sich dem Phänomen inflationärer Diskurse über Deutungshoheiten und versucht sich ein einheitliches Bild zu machen. Widmen wir uns der Situation dieser sich widersprechender Stimmen.

49 Ein schlagendes Beispiel für die Anverwandlung von Polizei und Körpertechnik ist die Eingangsszene in Kinder des Olymp (Marcel Carné, Frankreich 1944), in welcher der Pantomime Deburau die Verhaftung von Garance verhindert, die angeblich eine Geldbörse inmitten des Karnevalstrubels gestohlen haben soll. Pantomimisch, also durch Körperdarstellung und zugleich ironisch-karikierend (gegenüber dem Imperativ der „Fakten“, die der Gendarm vor Ort festzustellen meint) überzeugt Deburau den Ordnungshüter von seinem Fehlgriff. So erweist sich vom Körper her das „Symptom als das, was nicht täuscht“ (Lacan).

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II. Inszenierung wird als hermeneutische Situation ausgelegt a. Protomediale Verführungspraktiken „Inszenierung“ bedeutet im deutschen Sprachgebrauch sowohl die Initiierung eines Spiels (das Inszenieren) als auch eine Zuweisung von Werk (die Inszenierung) und Autorschaft in der Vermittlung. Die Inszenierung ist eine Protomediale Form. Sicher ist auch die Kühnheit einer Anwendung von Verführungstechniken gemeint, dem anderen (Publikum, Kritiker) die Initiation als seine eigene Intention erscheinen zu lassen. Das Zentrum der Vermittlung ist eine Inversion respektive Zuweisung von „Autor“ und „Rezipient“. Die Selbstentfremdung als Selbstheit ist der Grundzug des Spiels jeder Verführung. Verführung heißt, wie Baudrillard sagt, jemand anderen sich selbst fremd zu machen50, und auch jemand anderem das Gefühl der Selbstheit zu geben. Möglicherweise ist dieser inverse Tausch der einzige, der sich ökonomisch nicht unter dem Aspekt der Reziprozität fassen lässt, weil Projektion und Identifikation zugleich aber im Negat stattfinden. „Die Welt der Verführung ist reiner Schein und keine Zeichenwelt.“51 Insofern werden die Wertbeziehungen nicht im Drittenmoment stabilisiert, fallen die Sinngeneratoren aus. Es bleibt die präsentische Beziehung zweier Subjekte: Das Spiel der Verführung darf kein Ende haben, es muss sich unentwegt wiederholen und so die Regeln bilden, die es stabilisiert – aufgrund des Umstandes, dass es nur eine Identität um den Preis einer Aporie, d.h. einer endlosen Bewegung gibt, die sich selbst initiiert. Diese Aporie haben wir „Motiv“ genannt. Deswegen kann sich die Verführung eigentlich nur im Bereich der Fiktion und des Scheins im Spiel halten. Das Spiel ist ein System frei von Widersprüchen, frei von interner Negativität. Daher kann man nicht darüber lachen. Und wenn es nicht parodiert werden kann, so ist der Grund darin zu suchen, daß seine gesamte Organisation bereits 50 Baudrillard, Von der Verführung, a.a.O., S.71. Die Verführung „ist ein zirkulärer, rever-

sibler Prozeß der Herausforderung, des Überbietens und des Todes.“ Baudrillard bestätigt, dass es sich bei der Aufnahme des Begriffs zunächst um ein Wortspiel von „séduction/ production“ handelte. Ders.: Laßt euch nicht verführen! Berlin 1983, S.36.

51 Ebd., Laßt euch nicht verführen!, S.41. „Die Duellbeziehung setzt das Tauschgesetz außer Kraft.“ Baudrillard, Von der Verführung, a.a.O., S.175. Baudrillard geht davon aus, dass die „duellhafte und agonistische“ Verführung ein Spiel mit Regeln ist, die sich nicht ableiten lassen (S.190).

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parodistisch ist. Die Regel spielt die Rolle des parodistischen Simulakrums des Gesetzes. Weder Inversion noch Subversion, sondern Reversion des Gesetzes in der Simulation. Die Lust am Spiel ist eine doppelte: Aufhebung von Raum und Zeit, verzauberte Sphäre einer unzerstörbaren Form der Reziprozität – reine Verführung – und Parodie des Realen, formale Überbietung der Zwänge des Gesetzes.52

Was sich in die Inszenierung/das Inszenieren einschreibt, ist die Initiative des anderen, die das Be- und Verfremden53 (des anderen Anderen) nicht als ein ästhetisches Spiel der Zeichen, sondern als ein Spiel mit der Funktion deren Autodestruktion bedient. Die Verschiebbarkeit ist entscheidend. Dies geschieht aus der je aktualen Unmöglichkeit, das Subjekt sich positiv begründen zu lassen, oder, um es in der philosophischen Tradition der Frühromantiker zu sagen: sich selbst als Ich (Bewusstsein von sich) setzen zu können. Insofern ist „Verführung“ die Technik einer Offenbarung einer Aporie, so wie die Inszenierung etwas zeigt, das sich nicht positiv erklären lässt und was unzureichend mit dem Aspekt der Aufmerksamkeit gegenüber dem Ereignis 52

Ebd., S.210. Baudrillard unterscheidet zwischen der eigentlichen Verführung und der ludischen „kalten Verführung“, in der die Regel nicht mehr die Funktion haben, eine Serialität zu generieren, die die Verführung die Grenze zum Tod in unendlicher Wiederholung überschreiten lässt (z.B. im Duell oder in Wagners Tristan und Isolde), ohne dass nach einem Autor, einer Ursache oder einem Ziel gefragt wird. Die moderne Verführung erschöpft sich nicht mehr in einem unendlichen Aufschub, sondern im Resultat des sozialen Erlebnisses, d.h., sie ist motiviert und wird durch ein Telos begrenzt. „Das ist die moderne, die ‚ludische‘ Bedeutung von Spiel, welche die Dehnbarkeit und die Polyvalenz der Kombination konnotiert: auf der in diesem Sinne verstandenen Möglichkeit des ‚Spiels‘ ruht die Metastabilität der Systeme. Das hat nichts zu tun mit der Bedeutung des Spiels als duellhafte und agonistische Beziehung: es ist die kalte Verführung, welche die gesamte Sphäre der Information und Kommunikation beherrscht, in dieser kalten Verführung erschöpft sich heutzutage das Soziale und dessen Inszenierung.“ Ebd., S.227.

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Günter Figal thematisiert in der Tradition der Gadamer’schen Hermeneutik das, was zur Deutung herausfordert, als das Fremde. „Herausfordernd kann entsprechend nur das Unselbstverständliche, aus dem Kontext des Bekannten herausfallende oder heraustretende sein; so ist das Fremde die erste Erscheinungsform von etwas, das ans Verstehen einen Anspruch stellt.“ Daraus folgt, dass das Fremde (bei Figal stets im Zusammenhang mit Texturen) sich medial, kontextuell schon identifiziert hat. Löst man sich vom Text und bestimmt das Begehren des anderen als Herausforderung, dann kann man die Praxis als (gelungene) Selbstentfremdung für das situieren, was im Verdinglichungszusammenhang der Fremdheit schon entrissen wurde, in ihr aber latitiiert. Vgl. Günter Figal: Der Sinn des Verstehens. Beiträge zur hermeneutischen Philosophie. Stuttgart 1996, S.50. Eine szenische Hermeneutik arbeitet mit der List dieser Gleichzeitigkeit, indem die Selbstentfremdung durch die Verführung des anderen induziert erscheint. Es bedarf also keines Fremden, sondern einer paradoxen Selbstaufgabe – eines Selbst, das sich stets am Ort des anderen konstituiert.

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beschrieben werden kann. Denn die Aufmerksamkeit ist die Initiation des anderen für den, der aufmerkt. Sie muss sich darstellen, als Grund einer Differenz, die sich nur ironisch oder „performativ“ ausdrücken kann, weil Aufmerksamkeit selbst kein Relat hat. „Unaufmerksamkeit“ wird mit „Umwelt“ respektive „Evidenz“ oder „Praxis“ zusammenfallen. Die negative Bewertung von Inszenierung als Geschäft des Scheins greift jedoch subjektkonstitutiv zu kurz. Denn gemäß den beiden Bedeutungen von „Inszenierung“ als Produktion und Produkt setzt sich auch der Autor, als sich aussetzend. Die Verführung setzt sich als Andersheit für einen anderen Anderen. Jedes Inszenieren hat etwas mit einer Verführung zu tun, insofern sie asymmetrisch ist. Für unseren Untersuchungsgegenstand ist maßgebend: Jede Inszenierung ist die Darstellung des hermeneutischen, also deutungsbezogenen Prozesses der Tauschform „Sinn“ – einer Tauschform, die auf rätselhafte Weise den Vorgang der Zeitlichkeit der Deutung vorspielt und legitimiert, indem die Bedeutungen sich als das erweisen, was sie sind, nämlich jederzeit anzweifelbare Setzungen einer gesellschaftlichen Produktion, die ihre Legitimität zugunsten ihrer Präzision im Gebrauch abgekappt hat. Die Inszenierung als Führung dagegen muss ihren Offenbarungsgehalt (die Position der Negation) stets vorführen, damit sie als Inszenierung im Sinne einer Sinnvorgabe den Verstehensprozess ins Spiel bringt. Führung und Verführung ergeben sich aus einem Wechselspiel kritischer – und das meint für das Subjekt – zweifelhafter Aufmerksamkeitssteuerung. Was an Bedeutungen oder Zeichen (Eindeutigkeit) sich verfestigt, sind, im Gegensatz zu Deutungen, Erklärungen (Imperative, Deklarationen, Kausalitäten, Narrative, Rahmungen als Grenzen). Deren Operationalisierbarkeit als Positivitäten unter Abkappung ihrer Verständnisgeschichte sind in der Regel mit der positiven Bestimmung des Initiators, des Autors, des Namen des Vaters belegt. Mit diesem Namen dürfen die Vorurteile aufgerufen sein, mit denen man einer Inszenierung als einem Bruch in der Zeit gegenübertritt. Doch liegt der Reiz der Inszenierung gerade auch darin, diesen Namen zu entwerten, zu verwesen und in einer Folge von kritischen Verstehensoptionen seiner Konsistenz zu berauben – kurz, die Führung als Verführung zu enteignen. Das Inszenieren ist somit ein Versuch der (Rück-)versetzung in die ‚ursprüngliche‘ Szene oder in die Situativität von Subjektivität, aus welcher heraus die Bedeutungen und die Vorgänge ihre Realisierung als legitimiert erweist, dort, wo die Autorschaft als geglücktes Modell der Selbstsetzung sich über alle Schwierigkeiten von Mehrdeutigkeit hinweggesetzt hat. Dem-

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gemäß ist die Urszene der Aufriss von Selbstdistanzierung („Reflexion“) in seiner Selbstansicht.54 Inszenieren schafft somit einen Spielraum zwischen Ich, anderem und Ich-anderem. Die Gewalt einer Selbstsetzung kann die Identifikation mit dem Aggressor, dem Herausforderer sein, sie kann aber auch den aktiven Widerstand des Herausgeforderten als contrepartie/Widerstreit wecken, also der initiierten Aggression mit Abwehr begegnen: Beifall und Buhrufe standardisieren diese Reaktionen, Wettkämpfe und Hierarchisierungen stabilisieren sie. 54 Dagegen ist das Urszenenmodell von Freud im Wolfsmann keineswegs plausibel, da Freud alles daran setzt, eine Ursache des Traumas des „Wolfsmannes“ festzustellen – und zwar biografisch. Das Trauma ist somit zwar der Ursprung seiner Narrativität, nicht aber das Aushalten dieser Ambivalenz in einer chronometrischen Dauer (Statik). Die Dauer kommt vor der Narrativität. Die psychoanalytische Hermeneutik Freuds fordert also Aufklärung und nicht gerade die Gleichzeitigkeit von Verdeckung/Aufdeckung als Deutungsverschiebung respektive Verstehen. Man muss erkennen, dass Freud die Publikationsarbeit des Wolfsmannes auf sich nimmt, um eine politische Szene gegen Jung zu etablieren, der sich von der naturwissenschaftlichen Fundierung der Psychoanalyse distanziert und auf mythisch-allgemeine Deutungsarbeit rekurriert. Vgl. Sigmund Freud: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. In: Muriel Gardiner (Hg.): Der Wolfsmann vom Wolfsmann. Sigmund Freuds berühmtester Fall. Erinnerungen, Berichte, Diagnosen. Frankfurt am Main 1982, S.191 u. S.237. – Soweit ich sehe, hat diese Einbeziehung der Hermeneutik aim Register der sexuellen Aktivitäten für das Motiv der Fensteröffnung (S.211) des zentralen Traums im Wolfsmann – das Trauma deutender Offenbarung – nur Rudolf Heinz angemessen gedacht. Heinz geht dabei auf Kafkas Geschichte mit dem Beter zurück und verweist auf das Moment der funktionalen Einbeziehung des Produzenten/Initiierenden der Geschichte in die Geschichte: „Wie ist nun dieses Verhältnis beschaffen? Es ist dies ein Verhältnis – so nenne ich es durchaus mit Kafka – doppelter Paranoisierung; und zwar verstrickt sich (1) der Hermeneut mit seinem Text herrschaftlich-sexuell, inquisitorisch. Bekanntermaßen zielt diese Gerichtlichkeit auf die Verratssubstistenz von Feminität am filialen Mannskörper – dies die (erste) Paranoisierung, dem ‚Inhalt‘ nach. Ferner verstrickt sich (2) der Hermeneut mit seinem Texte – die Verstrickung a fortiori – nekrophil. [...] Vielleicht aber markiert dieser Analogiebruch umgekehrt die nekrophile Fundamentalverkennung des Hermeneuten, dieses hehre Delirium von Personhaftigkeit und dergleichen schrecklichen Dingen. Hier schon müsste man psychoanalytisch den fortgeschrittenen Todestrieb zu Hilfe nehmen, um diese ‚formale‘ Verstrickung zu charakterisieren, Philosophisch ausgedrückt besteht sie in der verheerenden Behauptung der Möglichkeit von Selbstreflexion, dem gut idealistischen Expansionismus von Homogenität / Kontinuität auf davon absolut Differentes: das Mortale von Wort / Schrift, Text. Formale Rahmenparanoisierung sei also diese (zweite) Verstrickung genannt – ein überaus befremdliches Gebaren, dem Komtur die Hand zum Pfande zu reichen, ohne dabei zu verbrennen, beileibe nicht zu verbrennen, vielmehr zum edlen Brandstifter zu werden.“ Rudolf Heinz: Minora Aesthetica. Dokumente auf Kunst angewandter Psychoanalyse. Frankfurt am Main 1985, S.158. Vgl. zur Urszenenkonzeption auch: Jean Laplanche, Jean-Bertrand Pontalis: Urphantasie. Phantasien über den Ursprung, Ursprünge der Phantasie. Frankfurt am Main 1992.

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Um nicht als radikale Herausforderung zu erscheinen, die in einem Wettkampf der Überbietungen (Potlach) endet, gilt es, die Asymmetrie der Initiation in einem ausgewogenen Spiel um die Gewalt der Setzung zirkulieren zu lassen. Die Distanz zur Gewalt kann dadurch am besten dargestellt und rationalisiert werden, indem man sie für eine bestimmte Dauer dramatisiert – wobei hier zunächst gleichgültig ist, welche mediale Form die Dauer annimmt. Da die Verführung ein konstitutives Moment jeder Inszenierung darstellt, kann man nicht nur mit anerkannten Fiktionen, sondern auch mit Täuschungen von Realität operieren, d.h. mit travestischem, perversem oder ironischem Technikgebrauch. Wichtig ist, dass ein selektives Moment – eines der Mehrdeutigkeit – der Natur entzogen und einem menschlichen Handlungsakt unterstellt wird. Eine Inszenierung ohne Autor ist nicht denkbar – selbst für das Beispiel des schön „inszenierten“ Sonnenunterganges betrifft die „Inszenierung“ eine Option der Selbstautorisierung eines Ereignisses als Erlebnis auf der Grundlage einer Anderenimplikation (Tourismusprospekte, Fotografien, Urlaubsvorstellungen etc.). Inszenieren erscheint als grundlegende Möglichkeit der Aufdeckung der Erstellung von Wirklichkeit (Realisation), als Ent- und Unterscheidungsvorgabe, die entweder prinzipiell unableitbar ist oder die in einer gegenwärtigen Situation als plausible Stabilisierung individueller und/oder gesellschaftlicher Anerkennung akzeptiert wird. So betrachtet, kann man das Begriffsfeld von „Inszenierung“ (Situation, Szenifikation, Situierung, Inszenierung, Initiation, Szene, Scena, Authentizität, Autorschaft, Legitimation, Erklären, Verstehen, Deuten usf.) gänzlich aus dem Bereich der Theaterwissenschaften oder der Szenografie herausführen und als allgemeines hermeneutisches Problem von Produktion behandeln, das im Streit um Realisierungsoptionen, um Macht, um Semantisierungsmacht ausgetragen wird – letztlich um, wie Lacan sagt, die Handlungsoptionen des Namen-desVaters zu legitimieren. Wenn wir das Theater als Paradigma der Anrufung des Namens wählen, dann deshalb, weil sich dort das Spiel der Negationen allgemein verständlich artikuliert; wenn wir es ungern wählen (und dann auf Film und Literatur zurückgreifen), dann deshalb weil das Theater die tatsächliche Sphäre des Zweifels und der Gewalt nicht mehr offenbart, da es allzu schnell in die subventionierte „Vorhölle“ einer professionalisierten Praxis zurückgefallen ist.55 Das wahre Theater als Tat ist heute wohl wieder die 55 Der andere ist ja das, was mir in der Totalisierung meiner selbst entgeht, was Sartre mit

„Spontaneität“ gleichsetzt, die das andere meiner selbst beständig unterminiert. Negationen

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Straße – als Provokation: Die Provokation ist keine Herausforderung mehr, sie ist eine Konstante des Marktgeschehens geworden. So scheint es legitim, seit der Überwindung der Rampe durch Pirandello, Artaud, Brecht etc. die Form der Annihilisation der Inszenierung als gesellschaftlichen Index der Machtverschiebungen zu erklären, deren Ausfließen nun professionelle Strategien der Verführung auf den Plan rufen, die sich bewusst als interventionistisch oder als ökonomisch begreifen. Verführung, Macht und Theater sind nicht erst seit dem Faschismus als Verwandtschaftsbeziehungen erkannt worden.56 In der Improvisation kann sogar allein das Bereitstellen oder Fehlen einer Scena zur Inszenierung erklärt werden. Insofern fällt die Aufgabe der Bestimmung dessen, was Inszenieren bedeutet, nicht einer Ontologie, sondern einer Hermeneutik der Macht und der Gewalt als ihrer Vermittlungsaussetzungen zu. Die Frage „Was ist eine Inszenierung?“ läßt sich demnach zwar gut an gewissen technischen Merkmalen für die Logik des Theatralischen beantworten, aber sobald man die Bühne reflexiv betrachtet, stellt man doch eher die Frage „Was bedeutet inszenieren?“, „Was zeigt die Inszenierung?“ – oder theoretisch „Welches Verhältnis besteht zwischen der nachträglichen Anerkennung der Autorschaft eines Ereignisses (oder seiner Realisation/Aufführung) und dem Erlebnis als Aneignung? – Wie kommt mir das Erlebnis als Ereignis eines anderen zu?“ So betrachtet wird Inszenierung/Inszenieren zu einem Mittel, Deutung als das Zeigen eines anderen zu verstehen, wie zu deuten sei. Dieser andere kann ich selbst sein. Die Frage der Gewalt und der Geltung des anderen sind als solche unmittelbar in Inszenieren ausgedrückt, und zwar indem es gelingt, die Differenz „Ich-Anderer“ zu vergesellschaften. Dies erscheint mir auch das entscheidende Moment zu sein, im Spiel den Modus von Gewalt auszuschließen, in dessen Folge es zur Integration des anderen und damit zu Verwesung von Vergesellschaftung kommt – gleichwohl ja nicht ausgeschlossen ist, dass Regelübertretungen im Spiel zum Spiel gehören können.57 lassen sich nicht präsentifizieren: „Das Bewußtsein erschrickt vor seiner eigenen Spontaneität, weil es sie jenseits der Freiheit fühlt.“ Jean-Paul Sartre: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931-1939. Reinbek 1982, S.87. 56

Vgl. z.B. basierend auf der Biografie von Gustav Gründgens und mit Anleihen an historische Inszenierungs- und Intendanzproblemen durchsetzt der Film: Mephisto, István Szabó, BRD/ Ungarn, 1981.

57

Dies ist der Grund, warum Huizinga den archaischen Krieg als Wettkampfform mit dem Spiel in Verbindung bringt. Es handelt sich hier um einen Krieg zweier Parteien, die, indem sie gegeneinander kämpfen, um die Gunst der Götter buhlen. Es geht um den Sieg als Schicksalsentscheidung, nicht um den Tod des Einzelnen. Vgl. Huizinga, Homo

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Das unmittelbare Wahrnehmen des Ereignisses selbst belegen wir mit einem Begriff, der zwar in der diskursiven Nähe dee Begriffe „Inszenierung“ oder „Aufführung“ angesiedelt ist, seltsamerweise aber begrifflich kaum aufgearbeitet ist: jenem der Situation. Wir unterscheiden zwischen einer gegebenen Situation, in der die Handlungen unmittelbar, totalisiert, spontan und nicht-reflexiv erfolgen, weil sie um ihres reibungslosen Ablaufs willen nicht hinterfragt werden sollen (denn das Spontane ist das ganz Andere), und der Inszenierung einer Handlung oder eines Ereignisses, die zielgerichtet zum Zwecke der Vermittlung einer Deutungsintention und -option (und der Legitimität für einen anderen) erfolgt. Im praktischen Sinn kann die Inszenierung auch die Funktion einer Gebrauchsanweisung annehmen, die sagt, wie eine Autorisierung zu gebrauchen sei. Dann ist die Inszenierung nicht deutend, sondern bedeutend: Das Inszenieren selbst soll dann nicht bedeutsam werden. Die Inszenierung ist dann zwar der konkreten Situation enthoben, nicht aber schon im engeren Sinne inszeniert. Gebrauchsanweisungen sagen nicht, woher ein Ding kommt und wie es gemacht wurde, sondern verlegen sich darauf, sein Funktionieren in Kontinuität und Dauer in medialer Übertragung zu simulieren. In der Regel ist die Gebrauchsanweisung in Warengesellschaften schon durch das Design intuitiv gegeben. Design ist die ubiquitäre Inszenierungsform von Dingen in einer evidenzbasierten Gesellschaft, gerade um die störende Frage nach der Aporie der Legitimität, der Macht und der Gebrauchsvielfalt in einer komplexen Umwelt nicht aufkommen zu lassen. Dabei handelt es sich aber weniger um einen Aspekt szenischer Hermeneutik als um einen der literarischen, der traditionell nach dem richtigen, exakten, brauchbaren Verstehen fragt. Wir dagegen fragen nach der Initiation sowie ihrer Latenz und Intensität einer wie auch immer gestörten Form, der nichts übrig bleibt, als sich einer Szenifikation auszusetzen, um Geltung zu veranlassen. Wir gehen nicht den Zeichen nach, sondern dem, was sie als ihre Differentialität motiviert. „Differentialität“ meint die Prozessualität der Macht und Gewalt der Setzung. Wenn es kein Wagnis darstellt, dass ein Kind spielerisch aus jedem Stuhl eine Hütte macht und die Gebrauchssemantik übersteigt, und Laurel und Hardy mit einer Leiter komödiantische Kunststücke ausführen und so Ludens, a.a.O., S.103ff. Eine Sonderform, die sich noch bis ins 19. Jahrhundert hält, ist das Duell, in dem es um die Wiederherstellung der gesellschaftlichen Anerkennung und eben nicht um deren Unterminierung geht.

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die Dinge deplatzieren und travestieren, dann wird einsichtig, dass der Missbrauch eine Form der Deutung darstellt, die die Dinge in gewisser Weise fetischistisch besetzen können. Solche fetischisierten Dinge sind das Inventar der Szene eines jeden theatralen Ortes. Möglichst sollte der Warengebrauch weder zur Komödie noch zur Tragödie taugen, schlicht also seine Inszenierung annihilieren, Deutungsmöglichkeit reduzieren und Sinn realisieren: Die Produkte sind nicht deswegen verführerisch, weil sie ästhetisch sind, sie sind es, weil sie ihr Gebrauchsversprechen einlösen. Wenn Inszenierungen in der Lage sein können, Bedeutungen zu hinterfragen, sie außer Kraft zu setzen oder sie zu verschieben, dann versteht man sie als zumindest zweideutig, nämlich im Sinne eines Verhältnisses von Macht und Bemächtigung im Modus ihrer Dauer in der zeitlichen Wirksamkeit der Initiation. Um sich als Dauer halten zu können (und nicht im Effekt zu verpuffen), muss das Inszenieren sich darauf verstehen, ein Arrangement von Situationen zu evozieren, die in der Lage sind, den Weg von der Situation zur Szenifikation als Deutungshandlungen zu einem bestimmten Zweck zu intendieren. Dieser Zweck, das Verführerische der Verführung, schafft Vertrauen für einen ungewohnten Gebrauch von Dingen, Zeichen, Handlungen. Je länger die Inszenierung dauert, d.h., je intensiver sie ist, umso eher verwandelt sie sich in das Gewohnte zurück, also in die Dinge, die sie szenisch ihrer Alltagspraxis beraubt hat. Im Theater passiert das umgekehrt: Der Thron King Lears kann ein Caféhausstuhl sein; er wird stets auf der Bühne die magisch-fetischistische Besetzung eines Throns haben. Die Propädeutik der Weisung von Deutung gehört in das Reich der Mantik – nicht in das Reich der Semantik und damit der Kompetenz von Bedeutungen. Im Theater oder Museum lernt man nicht etwas zu wissen, sondern man lernt, wie sich Wissen aus Handlungen zusammensetzt, die zweifelsfreie Bedeutungen hervorrufen (oder sie verändern oder negieren). Im Theater versucht man das Verfolgen einer dramatischen Handlung passiv zu setzen – der Zuschauer sitzt unbeweglich –, im Museum oder in der Inszenierung eines Straßenfestes kann durch das aktive Verfolgen eines Weges das Ziel der Aufführung darin bestehen, auf den Unterschied zwischen einem Produktionsziel (Arbeit) und einer Ziellosigkeit (Muße) hinzuweisen. Man erhält schreitend den Zuspruch, selbst der Autor seiner Inszenierung zu sein. Die klassischen Unterscheidungen des Schauspielers in Person, Figur, Rolle auf Seiten des Akteurs, und die Zuschauers in Individuum, Subjekt, Person, Gruppe, Klasse, Partei, Kritiker etc. halten aufgrund der Expansion und der Durchdringung des inszenierten Raums mit den diskursiven

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Bestimmungen nicht mehr Schritt. Selbst Politik als Geschäft der Macht verliert ihre semantische Kraft in dem Maße wie sie die populistische Inszenierung zugunsten argumentativer Setzungen vernachlässigt, während sie die eigentlichen Handlungen auf die Hinterbühne der Diplomatie drängt. Die Begriffe verwirren sich und machen genau das, was Bedeutungen widerfährt, die unter die Vielfalt divergierender Deutungshoheiten geraten: Sie verwesen ihre Macht, Sinn zu stiften – und zwar in einer Epoche, in der die Deutungsgewalt der Technologien den unbedingten Gehorsam eines Sinns verlang; den der kausalen Verknüpfung von maschinellen Produktionszusammenhängen einerseits – also das, was man die analytische Vernunft nennen darf –, und einer dialektischen Vernunft andererseits, die im bekannten Paradoxon der Ethnologie darüber streitet, ob es eine Position gibt, von der aus die Geschichte als eine analytische Folge von wahren Erzählungen objektiviert werden kann. Wir benötigen also eine Erzählung von den Inszenierungen, eine Inszenierungswissenschaft, oder, bescheidener, wenigstens eine Logik der Inszenierung – was wir beiläufig Szenologie nennen wollen. Eine Forderung nach mehr oder weniger Inszeniertheit ist damit nicht verbunden eine Exilierung aus dem rein künstlerischen Diskurs einerseits und dem technischen (z.B. im Bühnenbild oder in der Szenografie) andererseits schon.

b. Ein ethnologische Blick auf profanisierte Inszenierungswelten Wenn die analytische Vernunft die Strukturen einer geschichtslosen Signifikantenkette im Modus kausaler Effektivitäten statistisch aus den Situationen herauspräpariert, so ist die dialektische Vernunft darauf aus, die Geschichte als den eigentlich objektiven Zusammenhang aus jenen Gegensätzen herzustellen. Von dieser Dialektik aus erweist sich die „barre“ (Lacan) zwischen Signifikat und Signifikant als Schranke der Macht. Wir haben es mit zwei falschen Totalitäten zu tun, die den Zeichenmodus beherrschen: der Technik als Voraussetzung von Realität – Kette signifikanter, elementarer Ereignisse, die im Verbund mit den Inszenierungen des Design zur Praxis erklärt werden, und der Geschichte, die nicht als Spielart technischer Erklärung auf der Grundlage datierbarer Progressionen, sondern schicksalshaft und krisenbestimmt verstanden werden. Nur unter der Voraussetzung, dass man sich von der Totalität des eigenen Anspruchs verabschiedet und zu verstehen beginnt, dass Erklärungen des einen oder anderen Typus (Realität oder Geschichte) sich mit dem unaufgegangenen Rest einer noch nicht vollendeten Technik

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(der Wiederherstellung der versöhnten Totalität Namens „Natur“) und einer noch nicht vollendeten Geschichte (der Klassengegensätze, der materiellen Bedingungen und Unfreiheiten etc.) zu beschäftigen haben, begreift man den unhintergehbar aporetischen Sinn der inszenatorischen Techniken des Sozialen. Wolfgang Iser hat mit einem Hinweis auf die Funktion der Fiktionalität angedeutet, dass man realisieren können soll, wie fiktionale Legitimitäten sich als praktische realisieren lassen. Er hat in der Fiktionalisierung keine Flucht, sondern die konstitutive Operation des Sinns als Inszenieren einer Deutungsoffenheit erkannt und gezeigt, dass die Zukunft keine vorausliegende, einzuholende Zeit ist, sondern eine inhärente indeterminierbare Bedingung des Verhältnisses hermeneutischer Zirkelhaftigkeit. Dieses „Wissen“ um die Legitimitäten, das ein ursprüngliches Wissenwollen an hermeneutischen Vollzügen ist, kann nun nicht wiederum in der Mechanik einer Geschichtsrekonstruktion oder Technik aufgehen – Verstehenwollen ist überhaupt keiner theoretischen Vernunft zuzuordnen, sondern erweist sich als eine irreduzible Praxis – eine „Funktion“, der es darum geht, den unaufhebbaren Rest (den Körper) zu evozieren und in der Inszenierung zugleich zu instrumentalisieren. Damit steht die Inszenierung, auch wenn sie sich als Werk gibt, nicht im Rang einer Erklärung, eines positiven Wissens oder eines Produkts, was ihr im gegenwärtigen Stadium der Vernunft zu Recht den Einspruch einbringt, bloße Inszenierung, schlimmstenfalls die Imitation oder Mimesis von etwas zu sein, was durch sie selbst als nichtexistent (scheinhaft) gesetzt wird: Das Theatrale wird nicht ernst genommen, aber es lässt sich nicht von den Realitätsmächten absorbieren – am wenigsten, wenn es sich als Ironie der Geschichte tarnt. Inszenieren überlistet noch die List der Vernunft. Nun ist es das Gegenmittel einer ubiquitären Produktionsgesellschaft, den Rest als illegitim so lange zu subventionieren, wie damit seine Bannungsfunktion gerechtfertigt ist. Bis hierhin kann man die Kette des griechischen und des bürgerlichen (Stadt-)Theaters, das sich seit Aristoteles als kathartisch bestimmt, als dialektische Erklärungsreferenz, als Bildungstheater verstehen. Das ist dann nicht mehr der Fall (und war nie der Fall), wenn das Theater – denken wir an einige Ereignisse der 68er-Revolte (oder der Kommunarden) die Straße erobert, von der das Theater seit dem Mittelalter als verfemtes, nomadisches Element aus den Städten ausgeschlossen, höchstens mal für einen Zeitraum geduldet war.58 Die Inszenierung – als ideales Singularum 58

Faulstich zeigt, dass es sich bei den Vaganten und Spielleuten des Spätmittelalters, die

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eigentlich schon eine verdächtige Ereignisform, denn das Manuskript, die Partitur, die Choreografie sorgen ja für die Wiederholung – muss sich anmaßen, genau das darstellen zu können, was sich nicht erklären lässt, nämlich, abstrakt gesprochen, das Tauschverhältnis von Synchronie und Diachronie bzw. Vergesellschaftung unter Bedingungen der Subjektautorisierung (Individualität). Es soll die unterschiedlichen Erzählungen in einer Institution sich erklären lassen und zur Deutung freigeben, ohne dass Anarchie oder Chaos resultiert. Dafür bedarf es eines klar abgegrenzten Raumes. Wenn man will, ist der Ort dieser Inszenierungen ein Tauschort eigener Ökonomie, der die Simultaneität von Synchronie und Diachronie behandelt, und die „synchronische und diachronische Totalität“ verkörpert.59 Nur, wenn man einerseits im Begriff der Situation, die die Elementarität einer Authentizität, eines Datums in der Folge der Zeit, und andererseits im Begriff der Inszenierung denkt, der ebenfalls die Authentizität, aber im Modus der Auflösung begreift, hat man sich aus dem Zirkel der erzählenden Vernunftmodi in eine Dialektik eingewiesen. Man wird nicht mit einer Folge ins Unendliche weisender Begründungen abgegolten, sondern mit dem Modus intrinsischer (Selbst-)Deutungsversuche, die eine jede Inszenierung als Abwehr narzisstischer Starre mit „Subjektivität“ infiziert, also Verstehenwollen als Modus der Dauer von Gegenwärtigkeit versammelt: „Existenz“, sagt Heidegger. Der Witz dieser „Determinierung der Freiheit“ ist der, dass das Verhältnis von Situation und Szenifikation weder ein dialektisches noch ein kausales ist, sondern Selbstausdruck eines sprachlichen Vollzugs oder, um einen Begriff der Hermeneutik zu bemühen, einer Verständigung. Das kann aber nur heißen, dass sich körperlich-symptomatische und symbolischliterale Vollzüge als je differente auf gleicher Ebene identifizieren lassen. Es gibt gar nicht die Welt hier und das Theater dort. sich auch aus den Mimen des zerfallenen antiken Theaters residuierten und mit ihren fahrbaren Simultanbühnen einzeln oder in Gruppen umherzogen, um menschliche Medien handelt, die durch die relative Abgeschlossenheit der Städte eine horizontale Erweiterung ermöglichten, die bei aller moralischen Zweifelhaftigkeit die Glaubwürdigkeit der Vermittlung von Nachrichten garantieren sollten und deshalb nicht nur oral zu szenifizieren hatten, was sich aus dem Umstand ergibt, dass die jeweilige menschliche ‚Quellenlage‘ nicht überprüft werden konnte. Ebenso verhielt sich das Problem von Realität und Fingierung bei den fahrenden Händlern, deren Produktversprechen deshalb zweifelhaft war und fiktional theatralisiert werden musste, weil es keine vergleichenden Medien gab, die einen Vertrauenskreislauf der Kommunikation mit ihren Binnenkorrektiven ermöglichten. Vgl. Faulstich, Medien und Öffentlichkeiten im Mittelalter 800-1400, a.a.O., S.227ff. 59

Lévi-Strauss, Das wilde Denken, a.a.O., S.302f.

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In solchem Begreifen des Inszenierens als einer hermeneutischen Praxis, die die Gleichheit der Ebenen darzustellen vermag, geht freilich das, was in der zweieinhalbtausendjährigen Geschichte des abendländischen Theaters darstellt, reflektiert, inszeniert und denkt, niemals vollständig auf. Dass dieses Unaufgegangene nun wieder die Straße erobert, macht Inszenierungen und die Beschäftigung mit ihrer Logik zu einem spannenden Ort der Kritik positiver Diskurse. Das Theater im engeren Sinne ist eine besonders professionalisierte, vielleicht eher analytische Form der ritualisierten Inszenierung des bürgerlichen Widerstreits der Gleichwertigkeit von Erklärungen, unter denen man wählen kann. Noch in der Überschreitung des Bühnengrabens etwa durch Pirandello, der Entzauberung durch Brecht und der Wiederentdeckung der Straße, von der das bürgerliche Theater einst kam, lässt sich erkennen, dass die Legitimität des Theatralen durch den dionysischen Wahnsinn ganz andere Dimensionen, nämlich die des Symptoms immer schon angenommen hatte: Das Zeichen erklärt, das Symptom deutet. Im Symptom (oder Mal) ist der diskursive Rest einer Abwehr theatralisiert, der in der Propädeutik der Zukunft durch Technik – individueller und allgemeiner Geschichte – niemals aufgehoben werden können. Selbst das Theater der Grausamkeit, das Artaud vorschwebt, lässt sich nicht ohne ein Mindestmaß an Zeichenhaftigkeit und somit Vorverständigung aufführen, um nicht als Gewalt und Willkür seinen Inszenierungsstatus zu verlieren. Unsere Aufgabe soll sein, zu beobachten, wie in semiologischer Rücksicht Zeichen ihre Eindeutigkeit verlieren, vieldeutig werden und somit gewisse begleitende Künste benötigen, die mehr oder weniger bewusst an ihrer Feldwirkung arbeiten, bis sie schließlich gänzlich in der Inkorporation einer Handlung aufgehen und damit eine positive Symptomatik, nämlich das Verhalten in der Praxis, zu erkennen ermöglichen. Symptome gelten hier als adäquate oder inadäquate Produktionsaufdeckungen symbolischer Ordnungen. Und umgekehrt: Wie sich plötzliche Zeichen – das Auftauchen eine Kometen – in periodische, verlässliche Garanten einer Abfolge von Handlungen einfügen, die kaum hinterfragt werden müssen – auch das zeigt sich mittels Inszenierungen. Schon allein in dieser Amplitude zwischen einer Deutungssituation und der überschießenden Bedeutungen und Mehrdeutigkeiten wird bewusst, dass der Begriff „Zeichen“ eine ganz dezidierte Form der Inszenierungsstrategie verfolgt, nämlich, so hat das Lacan aufgefasst, zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten durch eine unüberwindliche barre eine Regel zu schaffen, die niemals vollständig abgeleitet werden kann.

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Man muss nicht bis auf Sartre und Lévi-Strauss zurückgehen, um in dem eben Gesagten den Streit zwischen einem hermeneutischen und einem technischen Verständnis von Inszenierung zu verifizieren, der sich zwischen Strukturalismus und materialistischer Dialektik im Methodenstreit der fünfziger und sechziger Jahre etabliert hat. Um zu sehen, dass weder der Begriff der Situation im Theater der Situation, noch der Begriff der Inszenierung in den „wilden Ethnien“ (oder einem Situationistischen oder Artaud’schen Theater) angemessen theoretisiert worden ist, müssen wir ein wenig den Diskurs nachzeichnen – und zwar unter den Auspizien einer Perspektive, die die globalisierte Echtzeit-Mediengesellschaft mit dem gleichen Blick bedenkt, dem Sartre der Vergemeinschaftung der Pariser Bevölkerung in der Französischen Revolution und Lévi-Strauss den Heiratsregeln totemistischer Dorfgemeinschaften widmet, also eine Gesellschaft, die im Spiel ihrer Freiheiten darauf aus ist, neue Formen der Erklärungen zu suchen, die gemäß ihrer synchron-simultanen Vergegenwärtigungskultur instantan, also ohne langen Zeit- und Produktionsaufwand ihre Legitimitäten produzieren kann – die also darauf aus ist, das Unerklärliche zu deuten. Lesen wir zum Beispiel aus dem Vortragstext von Artaud aus dem Jahre 1931 und lesen wir so, dass sein aggressives Engagement schon einer gewissen Inszenierungshaltung entspricht, die in einem heutigen Theater – in dem alles erlaubt ist, was nicht langweilt, was also keine Zeit kompensiert – den Applaus wert ist: Aber wie es sich auch immer mit dieser Sprache und ihrer Poesie verhalten mag, ich stelle fest, daß in unserem Theater, das unter der ausschließlichen Diktatur des Wortes lebt, diese Sprache der Zeichen und des Mimos, diese schweigende Pantomime, diese Haltungen, diese Gebärden in der Luft, diese objektiven Intonationen, kurzum alles, was ich am Theater für spezifisch theatereigen ansehe, alle diese Elemente, wenn sie außerhalb des Textes existieren, für jedermann den niederen Teil des Theaters darstellen: man nennt sie nachlässig „bloße Kunst“, und sie verschmelzen mit dem, was man unter Inszenierung oder „Realisation“ versteht, wobei man schon glücklich ist, wenn man dem Wort Inszenierung nicht die Vorstellung jener artistischen und ganz äußerlichen Aufwendigkeit zuzuschreiben braucht, die sich nur auf Kostüme, Beleuchtung und Dekoration bezieht.60

Schon in dieser Passage – man findet ähnliche im Diskurs über das Theater als Institution häufig – wird klar, dass Artaud zwischen der technischen Inszenierung als „Realisation“ und der „Realisierung“ und „Totalisie60

Antonin Artaud: Die Inszenierung und die Metaphysik. In: Ders.: Das Theater und sein Double. Frankfurt am Main 1979, S.42f.

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rung“ einer Praxis (inszenieren), – einer „Inszenierung [die] das Theater ist“61 – unterscheidet. Worin liegt der Wert der Unterscheidung von „inszenieren“ und „realisieren“? Dass Artaud für ein „archaisches Theater“ votiert, darf nicht mit einer Anarchie des Inszenierens verwechselt werden. Denn „wer sagt denn, daß das Theater dafür gemacht worden ist, um einen Charakter zu erhellen oder zur Lösung von menschlichen, von Leidenschaftskonflikten aktueller und psychologischer Art, von denen unser zeitgenössisches Theater nur so wimmelt“?62 Hermeneutisch zu argumentieren hieße, Mehrdeutigkeiten nicht im Verlust „großer Erzählungen“(Lyotard) aufgehen zu sehen. In Informationsgesellschaften bleibt Hermeneutik eine literarische Finesse. Wenn aber die Vermittlung der Information insbesondere in einer ausdifferenzierten Produktwelt sich nur noch mittels (Re-)Inszenierung vergesellschaften lässt, stellt sich doch die Frage, ob nicht die Universalität der Indifferenz aller Arbeits- und Produktionsbedingungen auf der konsumtiven Seite für schematisierte Mehrdeutigkeiten einen semantischen Vorteil protegieren, der die technischen Determinanten der Produktion genau dieser inszenierten Produkte unterlaufen kann.63 Dafür bedarf es der „ethnologischen‘“ Auslegung des in der Inszenierung beispielhaft angebotenen Deutungsideals und ihres eventuell dadurch bedingten kreditierenden Vertrages an denjenigen, der sich dieser Deutung annimmt oder sich ihr hingibt. Jedenfalls ist diese Deutung 61

Ebd., S.43.

62

Ebd., S.43f.

63

Wolfgang Ullrich: Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung. Berlin 2013. Ullrich spricht davon, dass es in der Wechselwirkung zwischen „Konsumption und Produktion“ es zu „einer speziellen Form von hermeneutischem Zirkel und somit zu einem Weg der Selbsterhellung“ kommt. (S.29) Was immer mit „Selbsterhellung“ gemeint sein soll: Wichtig ist zu sehen, dass der Reflex von Warendesign und Konsumentenwunsch eben nicht den Zirkel „erhellt“, den er hervorruft. Im Folgenden Kapitel untersucht Ullrich die Differenzierungsstrategie der Produzenten unter dem Begriff „Inszenierungsfolgen“. Eine davon die, dass Design nicht mehr nur nach „Moden“, sondern auch „situationsbezogen“ differenziert wird. Er nennt das „Situationsfaschismus“ (S.51) durchschaut aber auch hier nicht das hermeneutische Spiel von Erklärung durch Handlung, nämlich dass der idealisierte Fetisch als (gesellschaftliche) Normierung eine Situation schafft, die als inszenierte situativ wirkt. Es kommt zwar zu so etwas wie „Inszenierung“ – besser wäre „Szenografie“ –, doch sind alle diese szenografischen Zurichtungen eben nicht individualisierte Aufführungen, sondern standardisierte Darstellungen. Deswegen bleibt für mich fraglich, ob der Begriff der Produktinszenierung nicht genauer als „Situierung“, d.h. als Kontextualisierung im allegorischen Sinne verstanden werden muss. Die eigentliche Inszenierung ist der Gebrauch. Ganz abgesehen davon wird das Problem der Verdinglichungsdynamik der Produktionsopfer in diesem Zusammenhang ausgespart.

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stets an eine affektiv-emotionale Struktur gekoppelt, die jene Gewalt an den Rändern eskalieren lässt, die im formalen Akt des Warentauschs in Schach gehalten wird. Da sich Reklame stets als Reklame ubiquitär kenntlich macht, die optionslos auf den Kauf abzielt und keinesfalls auf z.B. einen perversen/travestischen Gebrauch oder gar auf Produktkritik, würde auch hier der Begriff „Szenografie“ angemessener sein als der der Inszenierung. Vielleicht sollte man sich für die Handlungskette „Produktion-Konsumtion“ auf den Begriff „Szenifikation“ einigen, da es sich offensichtlich um eine autorlose Praxis handelt – obgleich natürlich z.B. Kommunikations- und Werbeagenturen dafür verantwortlich zeichnen. Aber Marketing ist selbst schon eine institutionelle Selbstinszenierung der Wirtschaftsorganisation. Die meisten dieser ökonomischen und sozialen Theorien sind ja doch irgendwie froh, nicht mit einem autonomen Subjekt in Berührung zu kommen, so als sei die Vergemeinschaftung durch Reziprozität in der Globalisierung nur noch Heiligen oder Engel gewidmet, deren Erdenschwere allein durch das Gewicht ihrer Rollkoffer zum Ausdruck kommt. Die unmittelbare Not bedarf der Inszenierung jedenfalls nicht. Ullrich zeigt das anhand der Entwicklung der Werbung in Deutschland seit der Nachkriegszeit.64 Ich halte mich, auch um die Diskussion ins Prinzipielle (Logische) zu rücken, an die philosophischen Problematik – nicht weil sie sich als wahrhaftiger erweist als die Beschäftigung mit der Gebrauchsinszenierung eines Waschpulvers, sondern weil der philosophische Diskurs in sich die Produktionsbedingungen seiner

64 Der Situationsbegriff bei Ullrich ist etwas unglücklich gewählt, bezeichnet er doch die

Reszenifikation als „Situation“, z.B. wenn er mit Hinweis auf die für Buchläden üblich gewordene Dekoration hinweist, die ein Buch mit den Versatzstücken seines Inhaltes ausstellt. „Dabei kehren die Verkäufer und Ladendekorateure lediglich um, was die Schriftsteller vor ihnen längst gemacht haben. Wie diese die für eine Situation oder Stimmung typischen Dinge identifiziert und in ihren Text versammelt und beschrieben haben, nimmt man im Laden die Literatur als Regieanweisung und errichtet Bühnen für die darin auftretenden Dinge.“ Ebd., S.61. Ich reserviere den Begriff „Situation“ für eine Praxis, die über sich selbst keine Aufklärung verlangt, z.B. den Kauf und Tauschakt „Geld gegen Ware“, nicht aber die Szenifikation der Ware, die ja beim Buch immer problematisch ist, da das Buch nur in der Aufführung selbst gebraucht werden kann, im Lesen, und in Folge dieser Problematik zwar einer besonderen Kommunikationsinszenierung bedarf (Klappentext, Titelbild, Buchkritik etc.), nicht aber einer Bühne. Offensichtlich geht es Ullrich aber darum zu zeigen, dass in einer „Kritik der warenästhetischen Erziehung“ ein anderes Verführungsparadigma aufgezeigt werden kann, in der der andere der fingierte Produzent ist, obgleich in einer Warengesellschaft jeder wechselweise Produzent und Konsument ist. Offensichtlich liegt das Problem darin, dass der andere allererst projektiv erzeugt werden muss und es in der (Re-) Inszenierung um ein „Downgrading“ von Techniken (das Decodieren eines Textes) geht.

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selbst reflektieren muss.65 Dieter Henrich hat auf diesen Zusammenhang zwischen Textformat und Selbstinszenierung in der Philosophie verwiesen: „Darum ist die Form des Buches, das von Einband zu Einband studiert und geprüft werden will, als Normalform der Mitteilungsart von philosophischen Einsichten, gerade für eine Theorie der Subjektivität zwar notwendig, zugleich aber auch inadäquat.“66 Wenn in dieser Hinsicht alle Philosophie Medienphilosophie ist67, weichen sich die Deutungsvorschläge philosophischer Observanz in der Situativität von Inszenierungsvorgaben, d.h. in Lesbarkeit auf. Platon, der als erster der zweifelhaften Idee verfiel, Denken zu verschriftlichen und Philosophie im Übergang zur Wissenschaft zu dekretieren, hatte auch als erster mit dem Immanenzproblem der Philosophie zu kämpfen, den strengen Bereich ihrer Geltung als Literatur ins Bewusstsein zu bringen. Einige große Autoren, Platon vor allem, haben ihr Œuvre im klaren Bewußtsein von der Unaufgebbarkeit dieser Grenzlinie [zwischen Literatur und Philosophie; R.B.] und im Wissen von den Einschränkungen, die sie auferlegt, geschaffen. Vielleicht könnte sich die Form des philosophischen Essays, der aber auf viele Einzeluntersuchungen zurückverweisen kann, in der Gegenwart als ein allerdings ganz provisorischer Ausweg aus dieser Schwierigkeit bewähren.68

So gebannt ist natürlich auch dieser Text in spezifischer Hinsicht eine Inszenierung, wenn auch mit möglichst eingeschränktem Spielraum und mit einem nicht nur zirkulären Motiv, das wir uns Artaud entborgen dürfen: Ich habe soeben von Gefahr gesprochen. Mir scheint nun, am besten solle auf der Bühne diese Vorstellung von Gefahr durch das objektiv Unvorhergesehene realisiert werden, das Unvorhergesehene nicht der Situation, sondern der Dinge, 65

Im Gegensatz dazu stehen in der von Heiner Wilharm und mir im Transcript-Verlag Bielefeld herausgegebenen Reihe „Szenografie & Szenologie“ reichhaltiges Bildmaterial und konkrete Inszenierungsformen im Vordergrund.

66

Dieter Henrich: Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität. Frankfurt am Main 2007, S.377. Henrich hier und die Philosophie im Allgemeinen haben im Rückgang auf Sokrates sich mit der hybriden Inszenierung von Vorlesungen zu helfen gewusst, die die Didaktik des Textes und die Konvention des Buches szenisch zu überspielen geholfen habt. Nietzsche sieht ja den deutschen Studenten im 19. Jahrhundert noch vornehmlich wie Jungfrau Maria befruchtet durch das Ohr. Friedrich Nietzsche: Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. Sechs öffentliche Vorträge. SW Bd.1, Kritische Studienausgabe. München 1980, S.651.

67 Vgl. 68

zu dieser These Christoph Weismüller: Philosophie der Medien. Düsseldorf 2009.

Henrich, Denken und Selbstsein, a.a.O., S.378.

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durch den plötzlichen, unangebrachten Übergang von einem gedachten Bild zu einem wahren Bild.69

Wenn im Folgenden von einer „szenologischen Differenz“ die Rede ist – einem Versuch, die aporetische Relation zwischen Situation (Aktualität) und Szenifikation ((Re-)Aktualisierung), zwischen Deutung und Bedeutung, Geschichten und Geschichtlichkeit aufzuklären, – dann unter dem Hinweis, dass zwischen dem theatrum machinarum und dem theatrum mundi ein Spannungsverhältnis liegt, das sämtliche Orte des Theaters mit denen der gesellschaftlichen Produktion verbindet. Dies macht es unmöglich, das Theater (oder das Museum oder den Boulevard) als ein Refugium abgekoppelter, spielerischer Freiheit zu verstehen, in dem den Musen ungestört gehuldigt werden kann. Natürlich gibt es ein unpolitisches Theater so wenig wie ein theoretisches. Gleichzeitig ist die Frage zu stellen, wie das Individuum in diesem Spannungsverhältnis sein eigenes Subjektverhältnis als Inszenierung des Selbst und Selbstinszenierung versteht, d.h. als dauerhaft motiviert. Diese Frage beschwört hermeneutische, existentiale und bewusstseinsphilosophische Antworten herauf, die die Philosophie seit jeher auch zu therapeutischen Zwecken gestellt hat. Gerade die Versammlung der Vielstimmigkeit läßt erkennen, wie es zur Praxis einer Eindeutigkeit kommen kann, indem man die Protagonisten dieser Stimmen auf einer Bühne (oder in einem Buch) versammelt: als Szenografie. Szenografie meint nicht eine aktuelle Profession von Inszenierungen und Interventionen im öffentlichen Raum außerhalb der klassischen Regie (mise en scène), des Kuratoriums oder der Theaterinszenierung, es meint die Kompetenz, Ereignisse so erlebbar zu machen, dass sie im Sinne der Verführungstheorie als Aneignungen verstanden werden; es heißt, eine Partitur, ein Libretto, eine Choreographie, ein Modell, eine Animation oder schlicht eine Schrift entwickeln zu können, die zwischen der „Ursprünglichkeit“ und der „Wiederholung“ vermittelt, eingedenk der Tatsache, dass es weder das eine noch das andere als Absolutes geben kann, dass also alle diese Versuche zeigen, das sie nicht das wollen sollen, was sie bewirken.

69

Artaud, Die Inszenierung und die Metaphysik, a.a.O., S.46.

158

c. Zur progressiv-regressiven Zeitlogik des Inszenierens In einem seltsamen Paradoxon, das der Kulturindustriekritik Adornos mit ihrer Täuschungs- und Verführungsunterstellung widerspricht, darf man von „inszenierter Freiheit“ sprechen. Das Theater hat immer versucht, gerade die konsumative Sperre, die einhergeht mit einer Solidarisierung der Subjekte, als eine Erlebnisgemeinschaft zu problematisieren. Erika FischerLichte, die im theaterwissenschaftlichen Zusammenhang sicherlich in den letzten Jahren die wichtigsten Publikationen zur performativen Wende und zum erweiterten Aufführungs- und Inszenierungsverständnis veröffentlicht hat, macht das in ihrem Anspruch von „Inszenierung“ deutlich, indem sie den negativen Tendenzen Adornos etwa ein konstruktives Verständnis der zeitlichen Verlaufsformen entgegenhält, die es ermöglichen, das gesamte Spektrum der moralischen Urteile über Inszenierungen heute (von „Riefenstahl“ bis „Christo“) anzuerkennen. Sie geht dabei, ohne dies eigens abzuleiten auf den Begriff des Paradoxons (Aporie) bei Luhmann zurück, als einem Moment, der nur in Bezug und ausgehend vom Körper sich löst und erlöst. Dabei wird Inszenierung als ein Vorgang begriffen und bestimmt, der durch eine spezifische Auswahl, Organisation und Strukturierung von Materialien/Personen – hier: von sprachlichen, stimmlichem, gestischem Material – etwas zur Erscheinung bringt, das „seiner Natur nach nicht gegenständlich zu werden vermag.“70

Diese Definition impliziert, dass der Inszenierung etwas vorausliegen muß, welches durch sie zur Erscheinung kommt. Dieses Vorausliegende vermag niemals vollkommen in Inszenierung einzugehen, weil sonst dieses selbst das ihr Vorausliegende wäre. Anders gewendet ließe sich auch sagen, dass jede Inszenierung aus dem lebt, was sie nicht ist. Denn alles, was sich in ihr materialisiert, steht im Dienste eines Abwesenden, das durch Anwesendes zwar vergegenwärtigt wird, nicht aber selbst zur Gegenwart kommen darf.71

Abwesendes als „Anfang und Ende, deren Unverfügbarkeit es jedoch nicht erst zu entdecken gibt.“72 70 Erika Fischer-Lichte: Inszenierung von Selbst? Zur autobiographischen Performance. In: Erika Fischer-Lichte / Christian Horn / Isabel Pflug / Matthias Warstat (Hg.): Inszenierung von Authentizität. Theatralität Bd.1. Tübingen und Basel 2007, S.65. Zitation: Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven einer literarischen Anthropologie. Frankfurt am Main 1991, S.504. 71

Fischer-Lichte, ebd., Zitation: Iser, ebd., S.511.

72

Iser, ebd., S.506.

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Ausgehend von Sartre formuliert Iser, auf den sich Fischer-Lichte an dieser Stelle beruft, das „Vorausgehende“ als „Nichtung“: Ein stets in Situationen verankertes Bewusstsein kann immer nur auf einen bestimmten Weltausschnitt zielen, der durch Nichtung isoliert und für das Erfassen konstituiert werden muß. Was aber nichtet hier: Ist es das Imaginäre, und zwar direkt über das Bewußtsein hinweg? Oder ein realisierendes Bewußtsein, das sich in der Verwirklichung seiner Intentionen zu einem vorstellenden Bewußtsein gewandelt hat?73

Wenn sich Iser auf das Imaginäre als dem ihm Vorausliegenden und FischerLichte auf die Produktionsbedingungen bezieht, so ist mit beiden auf ein Zeitverhältnis verwiesen, das grundlegender ist als das, worauf die Inszenierung verweist, nämlich den hermeneutischen Vorgang des Inszenierens selbst, wie es bei Gadamer heißt: der Ersetzung eines Vorurteils (Progression) im Rückgang durch ein Urteil (Regression) als Ersetzung des vermeintlich ersten durch ein zweites, das sich als das eigentlich erste situieren kann. Denn dieses Erste gibt es in der Inszenierung ja tatsächlich real nicht: Es bleibt die Fiktion oder die Fiktionalität der Autorschaft selbst – so, wie man die historische Situation eines Autors besser verstehen kann als der Autor selbst, weil man überhaupt erst aus der Verspätung (regressiv) das Historische einer Situation als historisch bestimmen kann, um so einer historischen Wahrheit nahe zu kommen.74 Es kommt zu einer Vertauschung der Positionen des Vermeintlichen und des Eigentlichen, die die Zeitlogik der Hermeneutik 73

Iser, ebd., S.343f, mit Bezug auf Jean-Paul Sartre: Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft. Reinbek 1971, S.282.

74

Die Einsetzung einer Metahermeneutik greift zwar Historizität als Metamedium des Verstehens als Dasein auf, kann sich aber nicht über ihre eigene Geschichtlichkeit erheben, die, z.B. in der Vorsilbe „Meta-“ den Anklang an die abgleitende Hermeneutik der schwarzen Romantik sucht und sich somit selbst als historisch infiziert erkennen kann. Peter Szondi hat das in Bezug auf die kritische Funktion der Deutung bei Walter Benjamin und dessen Wurzeln, die Frühromantik, aber auch bei Schleiermacher und Dilthey erwogen. Vgl. Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik. Studienausgabe der Vorlesungen Bd.5. Frankfurt am Main 1975, S.404-408. Nach Benjamin erweist sich gerade vergleichende Übertragung und Übertragbarkeit als jenes aufklärende Moment, das über die Medialisierung, die in der Historie stets zu vergeistigen droht, materialistisch richtet. Medien – so Friedrich Kittler – sind als technische Modalitäten niemals geschichtslos, sondern Formen der Medialisierung, aber nicht unbedingt an den technischen Progress (und somit die Geschichte) gebunden. In dieser Hinsicht muss auf die Unterscheidung zwischen dem literarisch gebundenen „klassischen“ Theater und den modernen Szenografien verwiesen werden, die weniger eine literarische als eine technische Kompetenz erfordern, möglichst auf dem neuesten Stand der technischen Effekte.

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begründet und den metaphorischen Gebrauch der Zeit von Fischer-Lichte ebenso verständlich werden lässt wie den der psychologischen Konstruktion von Iser. Bildet man beide Varianten auf die bewusstseinslogische Eigenzeit gegenüber einer dominanten historischen Zeit ab, so wird das Problem der Unverfügbarkeit des Inszenierens offensichtlich: Sie bildet den Vorgang der Zeitigung selbst ab und kann somit nicht in der Zeit sein (im Sinne einer signifikanten Bestimmung). Keineswegs ist es aber so, dass man ein aporetisches Rätsel löst, indem man es inszeniert; die Inszenierung selbst zeigt aber die Darstellung der Aporie. Fischer-Lichte bedient sich als Referenz ihrer Definition einer Unterscheidung, die Iser in Bezug auf das macht, was der Inszenierung „vorausliegt“, vor aller Bedeutung und Darstellung liegt, also nur post festum gesetzt werden kann als etwas Früheres, das durch das Nachfolgende quasi gegründet wird, einem nachfolgenden Grund oder einer nachgeschobenen Begründung. Reversiv bestimmt sich Inszenieren als Setzung des Grundlosen. Damit muss auch gesagt sein, dass Inszenierung als Ort eines Ereignisses die Handlungsnormen, Bedeutungen und Bemächtigungen stets als undarstellbare („nicht gegenständliche“) voraussetzt, um vor diesem Hintergrund eine bestimmte Darstellungsweise bestimmter Handlungsfreiheiten als „inszeniert“ gegenüber der „Praxis“ einer „Realität“ abzusetzen. Das Undarstellbare ist die Präsenz, also die Aporie von Gegenwärtigkeit und Darstellung – wie auch immer hier der Begriff „Performanz“ für dieses Präsenzereignis steht. Insofern kann jede Szene für jeden Regisseur in eine Folge von Elementen aufgelöst werden, die in der Zeit ablaufen und reproduziert werden, ohne dass sie sich als Totalität wiederholen können. Das gelingt nun umso besser, als die technische Zeit als digitale Echtzeit totalisiert und als eine Zeit des anderen marginalisiert wird. Für Fischer-Lichte ist Inszenierung demnach eine Form der Totalisierung von Eigenzeit. Es ist für Sartre, dem Iser in seinen Ausführungen gefolgt ist, die Frage, ob das „Vorausgehende“ überhaupt im zeitlichen Sinne gemeint sein kann, da Zeitnorm, Technizität und Kausalität Ursache-Wirkungsverhältnisse lückenlos voraussetzen. Sartre setzt dagegen nicht mehr den temporalen Begriff der Präsenz, sondern den existentiellen der Situation. Dieser meint ein Zugleich von Existenz, die sich durch ihre Negation (Imagination) im Gegenwärtigen bestimmt – und zwar als vergegenständlichte Praxis, Hexis. Denn die Imagination ist nichts Privates, sondern sie ist das Allgemeine im Individuellen. Sartre geht nicht von unterschiedlichen Bewusstseinsweisen, sondern von ihren Modalitäten aus: dem Erkennen (im Begriff ), der

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Wahrnehmung als dem, was ihm vorausgeht, und der „Vorstellung als ‚ein Mittleres‘“.75 Die Vorstellung ist das, was in einer Inszenierung konzeptuelle Vorzeit fingiert und in Fiktion verwandelt werden kann (Darstellung und Aufführung). Sie bildet gleichsam den Rangierbahnhof der Zeitmodalitäten, das heißt der nachträglichen Fundierung einer irreduziblen Differenz, die bei Sartre zwei Formen annimmt: das Gesellschaftliche, das die Normen setzt, die dramatisiert – also überschritten und transzendiert – werden können, und die individuelle Existenz, die immer die Freiheit der Überschreitung in einer gegebenen Situation meint, um zum Dasein (Bewusstheit) zu kommen. Beide Bereiche (der des Allgemeinen und der des Individuellen) entsprechen sich komplementär, was der Begriff der „Inversion“ ausdrückt. Unter „Inversion“ ist dabei nicht einfach eine Bewegung verstanden, die an gleicher Form zwei unterschiedliche Bedeutungen zu verifizieren weiß, sondern der Umschlag respektive der Rückschlag vom Erklären auf das Verstehen des Vollzugs als Bedeutung.76 Sartre geht also nicht von einem chronometrischen 75 76

Iser, ebd. S.335. Nach Sartre, Das Imaginäre, ebd., S.162.

Frank zitiert im Hinblick auf die an dieser Stelle fälschlich umgekehrt „regressiv-progressiv“ genannte Methode Sartres: „Das Allgemeine – d.h. das Gesamt all dessen, das einer reflexiv-objektiven oder thetischen Erkenntnis (ob Anthropologie oder Semiologie) sich darbietet – enthält danach das Einzelne (in dem spezifischen Sinn, in dem Sartre den Term verwendet) keineswegs wie ein Subsumt in sich: Das Individuelle ist die unsichtbare und stets bewegliche Grenze des Allgemeinen, die selbst nichtsignifikante Möglichkeit für die Signifikanz alles im Netz der Struktur Verwobenen. Es ist das relative Nichtsein (qua Nicht-Bestimmtsein und Nicht-Artikuliertsein) des Subjekts (sujet véritable), von dem her den Objekten und ihren Repräsentanten das Sein qua Bestimmtsein widerfährt.“ (S.294f ). Diesen nichtsubsumtiven Gebrauch bestimmt Heidegger auch für die Grenze des Todes (Sein und Zeit, a.a.O., S.244; §48). Der Terminus „Inversion“ kommt in Franks Das individuelle Allgemeine nicht explizit vor. Allerdings gibt es eine auch historisch ausgezeichnete Darstellung in: Manfred Frank / Gerhard Kurz: Ordo Inversus. Zu einer Reflexionsfigur bei Novalis, Hölderlin, Kleist und Kafka. In: Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel. Heidelberg 1977, S.75-97. In Bezug auf das Umschlagsgeschehen bei Musil vgl. Ralf Bohn: Transversale Inversion. Symptomatologie und Genealogie des Denkens in der Philosophie Robert Musils. Würzburg 1988. Eine entscheidende Erklärung liefern Inversionsgestalten (Vexierfiguren) – vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main 1980, S.307ff. Neben dieser Sartre’schen Bestimmung der hermeneutischen Bewegung hat beispielsweise Brigitte Rath jüngst in ihrer Arbeit auf eine kognitionswissenschaftliche Bestimmung hingewiesen, die sich ebenfalls (wie Sartre in Das Imaginäre) aus der Gestalttheorie, also der Inversionsfiguren ableitet. Leitend für die Totalisierung ist hier der kantische Begriff des „Schemas“ als ein einen Autor unterstellenden Vorentwurf des Verstehens, das es zu aktivieren gilt. „Die Aktivierung eines Schemas ist dabei durch verschieden medial verfaßte Informationen möglich, die aber in charakteristisch unterschiedlicher Weise verarbeitet werden. Das Schema grenzt durch seine holistischen und aktiv-produktiven Qualitäten ausgewählte

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Problem, dem Vorausliegenden und dem Nachfolgenden, sondern von der aktualen Synchronizität von „ich“ und „anderem“ aus. Die Szenifikation ist somit der Ort, an dem der Chiasmus von Zeit und Selbstbewusstsein transversal getauscht werden kann. Nicht technische Voreiligkeit und historische Nachträglichkeit sind die zu vermittelnden Positionen, sondern die rückvermittlt wird, was in der Praxis schon vermittelt (vergegenständlicht) worden war. Es handelt sich also um die Einholung einer „anthropologischen“ Vergangenheit. Sartre geht es also um die Revolution bzw. Refiguration einer unaufhebbaren Praxis, in der Inszenierung und Nichtinszenierung sozial, nicht chronologisch getrennt sind; chronologisch nur in dem Sinne, dass das Primat und die Autorschaft von einem anderen ausgeht, dessen Grenze ich bin. Teilt eine Scena das frühgriechische Bühnenrund, wird also die Fiktion einer Kulisse als Grenze von Vorder- und Hinterbühne eingezogen, so ist das eine provisorische Verdinglichung für den Chiasmus zwischen Freiheit und Handlungsnorm.77 Denn das, was der Inszenierung vorausliegt, das sind alle materiellen und immateriellen Bedeutungen, die sich selbst nicht mehr erklären können dürfen: die Praxis. Das heißt aber auch, dass in der Inszenierung die Projektion einer Einholung der zukünftigen Bedeutung als unerreichbar imaginiert wird. Imagination wird zur Fiktion, zur Möglichkeit antizipierter Zukunft (Futur II) und damit zu einer Grundlegungsarbeit dort, Daten von einem Hintergrund ab. Es leitet einen Verstehensprozeß, indem es das Ziel des Verstehensprozesses als Ganzes setzt.“ (S.75) Bezüglich Heidegger und Benjamin ergibt sich dadurch eine existentielle, handlungstheoretische Interpretation: „Es geht also nicht so sehr um eine Antizipation der Retrospektion, sondern um die Gewißheit heraus, die Retrospektion nie zu erreichen, um eine Vorwegnahme der Retrospektion.“ Rath, Narratives Verstehen, a.a.O., S.158. „Antizipation“ und „Retrospektion“ sind hier in Bezug auf die Narration des Lebens als Mimesis an Text und Geschichte mit den Begriffen „Progression“ und „Regression“ identisch, nicht aber mit dem nicht die Dezentrierung des Subjekts (Lacan) ausschließenden Begriff des „Hin und Her“ (also des Spiels) bei Gadamer. Ersetzt man den Schematismus-Begriff durch den der „Inszenierung“ ergibt sich, dass die Inszenierung eine Retrospektion zweiter Ordnung darstellt, nämlich eine, die die Signifikanz in eine unmittelbare Handlungsdimension zurückführt. Genau damit ist aber ein jegliches Zeichenverhältnis wieder am Vorort (oder Unbewussten) der Motivation zur Narration angesiedelt und versucht, eine vorsignifikante Fiktion (Naturzustand) zu fingieren. Inszenierung ist dann eine „zweite Praxis“. Die Umschrift bei Freud erfüllt nun eben diese (unendliche) Funktion der Demetaphorisierung oder Dekonstruktion der Signifikanz. 77 Zum Beispiel wird das Theatro olimpico eines Palladio durch eine Scena beherrscht, die

mit Figuren von wirklich Lebenden bevölkert ist, die als finanzkräftige Stifter das Theater allererst realisierbar machten. Die Scena bestimmt sich so als Norm der Realität, die das griechische Rund nicht kannte, weil hier die Norm allererst im Opferkreislauf noch zu bestimmen war.

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wo Kausalitäten nicht handlungsbestimmend sind, also in Verhältnissen der menschlichen Begegnung und Subjektivität. Vereinfacht gesagt, handelt es sich um eine Externalisierung überschießender Imaginationen, die sich als das Gesellschaftliche meiner selbst realisieren lassen soll, um mich als ihren Herrn über die konkrete Vergesellschaftung des anderen (z.B. Konstitution des Publikums in einer Aufführung) anerkennen zu können. Auf diese Weise schließt sich die Lücke der Selbstlegitimation in einem Unding der Inszenierung als wechselseitiger Anerkennung. Was aber ist das Theater anderes als eine Maschine der Erinnerung und der Deutung, der provisorischen Erfahrung von Handlungsfolgen? Es erscheint als Ressort von Regressionen einer Progression, die als Erscheinen des Ursprungs, einer ersten, natürlichen und versöhnten Natur (eines universalen Selbstverständnisses) nie stattgefunden hat, sondern diese erste in einer Fiktion nachahmend zeugt, d.h. divinieren muss. Nur unzulänglich werden die Begriffe „Autopoiesis“ oder „Performativität“ den Zeitigungsvorgängen gerecht. Es gilt, an ihnen eine frühromantische Hermeneutik und eine existentielle, wie sie Heidegger loziert hat, weiterzuentwickeln. Vermutlich ist der auch Foucault unterstellte spatial turn, mit seinen Annoncen von atmosphärisch auflösbaren Räumen dafür verantwortlich, dass weder Subjektivität noch Bewusstsein in der gegenwärtigen Philosophie der Darstellung eine Rolle spielen. Um Diskontinuität verifizeren zu können, muss dann zumindest Zeit selbst diskontinuierlich sein. So ist das von Heidegger auch konzipiert worden. Erst diese Diskontinuität erlaubt es Heidegger, von einer „Lichtung“ als Ort der Präsenz des „Da“ zu sprechen. Für Heidegger ist es der Ort der Sprache, für uns ist es die Differenzierung zum anderen. Das 19. Jahrhundert war nie jenes der Zeit, sondern das der Eroberung des Raumes. Erst das 20. Jahrhundert, das eines der Zeit und der Geschwindigkeit geworden ist, hat es nötig, eine Renaissance des Raumes zu ersehnen. Wenn aber Kriege um Imagination und Aufmerksamkeit geführt werden und die Imagination nichts weiter ist als die Zeit, warum denkt man dann noch immer, wie Livingstone, in imperialen Kategorien des Raumes (der unerforschliche Raum, die Atmosphäre)? Wenn das Theater auf die Straße drängt, will es dann Raum erobern oder sich in der Gegenwart mit, gegen und für andere aktualisieren? Ich glaube, die Antwort ist eindeutig, fällt aber unterschiedlich aus, je nachdem, ob man sich auf Heidegger oder Sartre bezieht.78 Das 21. Jahrhundert jedenfalls scheint das der Präsenzen zu werden. Wichtig 78

Zum Bezug auf Heidegger vgl. duchgängig Mersch, Posthermeneutik, a.a.O.

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ist es deshalb, einen Hinweis auf das Maschinenproblem zu geben, auf die Oszillation, die Präsenz und Wiederholbarkeit eines ursprünglichen Ereignisses als authentisches Erlebnis, evoziert und als Reproduktion tilgt. Hier geht es nicht um die Frage eines informationellen, opferlosen Verstehens, einer vernunftbasierten Vorverständigung, sondern um die Frage der ökonomischen Erforderung der Überschreitungsform „Inszenierung“. Als Basis der Verständigung wäre die Praxis selbst zu verstehen, in dem, was sich different als Praxis der Präsentifikation selbst zeigen kann.

d. Die Inszenierungsmaschine und die Theatermaschine Hans-Dieter Bahr hat in seiner historischen Untersuchung Über den Umgang mit Maschinen auf die groteske Situation der Fingierung eines (weiblichen) Ursprungs in den Produkten von Maschinen aufmerksam gemacht. Demnach sind alle maschinellen Produktionsvorgänge schlechterdings nur männlich masturbatorisches Theater um die Antizipation des eigenen, nicht aneignungsmöglichen Ursprungs. Das Theater der Maschine ist eine Transgression der Problematik der im Imaginären enteigneten Ursprungssetzung. Dies also, die technische Realität, ist das eigentliche Theater; das andere, das Bühnentheater dagegen, ist der Ort der performativen Gleichzeitigkeit von Ursprung und Produkt. Es geht in der Aufführung darum, das ursprungslose und somit wiederholbare Erlebnis in ein Ereignis zu verwandeln, das sich als einmalig und somit ursprungsmächtig erweist – und zwar indem es als Ursprungsanerkennung auf einen anderen (ein privates oder öffentliches „Du“) zurückverweist. Über dieses Du langt keine Vorverständigung hinaus. Eine „Performationsmaschine“ ohne „Du“ nennt Bahr eine „‚situative‘ Maschine“.79 Situative Maschinen wie die „informative Maschine“, aber auch der „handliche Motor“ fügen sich jeder Situation ein, indem sie diese zentrieren und das Produktionsmittel aus rhizomatischer Verästelung in Zirkularität verwandeln. Das bedeutet, dass eine Missdeutung oder ein Missbrauch dieser Maschinen in gewissem Umfang nicht mehr möglich ist. In dieser emanzipatorischen Situation kann man sowohl den Computer als auch das moderne Theater als Werkstätten, d.h. Selbstzeugungsräume verstehen. Es sind patriarchal angeeignete matriarchale Maschinen. In diesem Sinne ist das Theater auf einen Spielraum gestoßen, der so groß geworden ist 79

Hans-Dieter Bahr: Über den Umgang mit Maschinen. Tübingen 1983, S.309.

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und in der Inszenierungsweise so beliebig, dass die Vieldeutigkeiten, die er produziert, das szenische Spiel allenfalls im technischen Aspekt der Medien begrenzen. Wichtig ist allein die Markierung des „Für andere“. Das theatrum machinarum dagegen kann überhaupt nicht zu einer Aufführung für andere Bezug nehmen – außer in der Ironie der Maschine80, nämlich in der grundlosen Beschäftigung mit sich selbst. Eine Abwehr gegen Techniken des Grundes und der Identitätssetzung gerät maschinell in Widerstreit mit sich selbst; im Verklären als nachträglich fingiertem Grund wird kein Grund gesetzt, sondern ein Bewegungsspielraum, ein Motiv rapportiert. Abwehr und Identifikation im Spiel zu halten, das macht die Dauer des Motivs einer Inszenierung aus. Fischer-Lichte stellt das Verhältnis so dar: Wenn der autopoetische Prozess, in dem eine Aufführung sich selbst erzeugt, vollzogen ist, liegt nicht die Aufführung als sein Resultat vor, das sich als ein Werk bezeichnen ließe. Vielmehr ist damit auch die Aufführung vollzogen. Sie ist vorbei und unwiederbringlich verloren. Es gibt sie nur als bzw. im Prozess des Aufführens. Sie lässt sich insofern als ein Ereignis begreifen, das – im Unterschied zur Inszenierung, die auf Wiederholung angelegt ist – einmalig und unwiederholbar ist.81

Diese Unterscheidung von Aufführung (Präsenzverlauf ) und Inszenierung (Sinnverlauf ) berücksichtigt nicht, dass jede Aufführung im Kopf des Publikums als Deutungsinitiation (Sinnmotivation) fortwirkt, und sie bestimmt Inszenierung als das, was an Darstellungssubstrat materiell und somit wiederholbar ist. Hier zeigt es sich, dass es unzulänglich ist, Begriffe wie „Aufführung“, „Inszenierung“, „Wiederholung“ zwar für das theatrum mundi, nicht aber für das theatrum maschinarum zu denken. Wenn nämlich Inszenierung gerade der Akt der Wiederholbarkeit ist, muss man auf eine Differenz der Produktionsagenten (Maschinen versus Medien) zu sprechen kommen. Ob man die Fabrik, die Werkstatt, die Maschine eine Dienstleistung oder ein materielles Produkt erzeugen lässt, das ist gleichgültig geworden seit Inszenierungen im medialen Sinne Aufführungen ebenfalls 80

Diese Maschine zeigt sich im Apparat der Filmvorführung, dessen Rätselhaftigkeit sich im Genre Film im Film immer wieder Bahn bricht. Beispielhaft mag dafür stehen: Der Kameramann von Buster Keaton (USA 1928); Sein oder Nichtsein von Ernst Lubitsch (USA 1942); Die Verachtung (Frankreich/Italien 1963); Die amerikanische Nacht von FrançoisTruffaut (Frankreich 1973).

81

Erika Fischer-Lichte: Die verwandelnde Kraft der Aufführung. In: Erika Fischer-Lichte / Adam Czirak / Torsten Jost / Frank Richarz / Nina Tecklenburg (Hg.): Die Aufführung. Diskurs – Macht – Analyse. München 2012, S.15.

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wiederholbar machen oder, präziser, Präsenzen ökonomischer und sozialer Verwertbarkeit zuführen. Fischer-Lichte hat also darauf hingewiesen, dass der Blick auf das Theater, wenn es um Inszenierung geht, zu kurz greift. Präsenzverlauf (Produktion) und Sinnverlauf (Gebrauch) sind nämlich ubiquitäre Techniken – Szenografien – geworden, die sich auf keine Bühne mehr beschränken lassen, es sei denn, man präzisiert sie eigens für den theaterwissenschaftlichen Diskurs, aus dem sie mindestens seit dem frühen 18. Jahrhundert aber schon ausgebrochen waren, nämlich im theatral inszenierten Experiment der Wissenschaftler, die ihre Aufführungen als grundsätzlich wiederholbar beweisen müssen. Keineswegs kann die Dauer der Aufführung das Inszenieren beenden. Im Gegenteil, wenn Aufführungen nur diesen einmaligen Ereignischarakter hätten, wären sie überhaupt nicht inszenierbar und würden sich von einer bloßen Situation nicht unterscheiden. Deswegen ist das Ritual der Aufführung nur insoweit von Interesse, als sich hier das „Für andere“ in kathartischer und direkter Form als Präsentifikation zeigt. Aber die Einmaligkeit des Ereignisses im Verlauf des Lebens rührt doch an ganz andere Grundformen nicht des Theaters, sondern der Memorialität und des Besitzes als ein „anderes für mich“, wie wir noch zeigen werden. Im Verlauf ihrer Ausführungen beschäftigt Fischer-Lichte sich nicht mit dem logischen Problem der Wiederholung, das immer in Korrelation zur Zeitlichkeit und Elementarität der Dauer betrachtet werden muss. „Reine Wiederholung“ und „reine Präsenz“ sind Begriffe, die in einer Logik der Inszenierung nur aporetisch gebraucht werden können. Wie riskant ist die These Fischer-Lichtes, Aufführung als situativ und unwiederholbar zu deuten, wo sie doch innerhalb der Inszenierung als Szenifikation, eben als eine Elementarisierung der Zeit begriffen werden muss, die abhängig von der Normalzeit eine Synchronität konstituiert, die als Vergesellschaftung innerhalb einer Gesellschaft aufgefasst werden kann – und zwar, weil es die Singularität eines Individuums (autonom und autark) im ödipalen Sinne gar nicht geben kann? Das Problem ist offensichtlich ein älteres, philosophisches, nämlich das der Frage nach der Autonomie des Subjekts, das gerade in der Inszenierung durch die wechselseitige Anerkennung von Autorschaft und Andersheit eigentlich spätestens mit Heideggers Verweis auf die Präsenz des Daseins verabschiedet worden war. An diesem Punkt der Analyse muss man vom Theater als einer Kunstform von Subjektbildung Abschied nehmen und auf den wirklichen Sinn, die Konstitution von Parteilichkeit (Andersheit) innerhalb der Gesellschaft, wie sie Sartre beispielsweise analysiert hat, zurückgreifen.

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Auch wenn sich die Inszenierung in der Aufführung annihilieren kann, so kann sie dennoch nicht die Intention des Aufführens als eines memorablen Zeitraum öffentlicher Präsenz und somit Sinnverlaufs negieren. Die Frage, ob es eine Selbstinszenierung, also Identität von Aufführung und Inszenierung außerhalb eines hysterischen Motivs und seiner neurotisch-ödipalen Motorik geben kann, betrifft ebenfalls den Versuch, die Zeit anzuhalten und sein eigener gründender Grund zu werden. Die Kette dieser Argumentation ist theologisch im Begriff der Offenbarung und dem der Erlösung fundiert, oder bei Heidegger in den der Lichtung und der Befreiung vom Zwang hermeutischer Identifikation. So ist denn der Effekt der Aufführung doch nur der, dass sie eine Ekphrasis (Ausgrenzung, Insularisierung (Gumbrecht)) als Ereignis unter anderen darstellt und somit eine Reflexion ex negativo erfolgen muss. Die Negation bedeutet nicht, ins Jenseits abzugleiten, sondern schlicht, das Theater zu verlassen und den Spielort situativ zu wechseln. Die Wiederholung der Aufführung ereignet sich also auf jeden Fall in einem anderen – wie auch immer rudimentär. Mir scheint, die Nichtwiederholbarkeit im Gedanken der Identität oder Wahrheit (der „wirklichen Realität“) ist der missing link der Zeit in der Raumvorstellung des Theaters, das von der Inszenierung als Ort der Versammlung und nicht von der Szenifikation als Zeitigung ausgeht. Erst das Motiv der Nichtidentität macht es möglich, Deutungsversuche als Wiederholungsversuche zu akzeptieren, weil gerade darin Wiederholung niemals realisiert werden kann. Und das genau gilt es gegen eine Welt anzuwenden, die in der maschinellen Reproduktion ihr Überleben sichert.82 Die Nichtwiederholbarkeit ist nichts anderes, als die Negation des Sinn von Sinn. Statt den komplexen logischen Sachverhalt der Synchronie als Raum zu explizieren, sollte bedacht werden, was in der Lektüre von Texten zum Problem der Performanz und nicht nur der Aufführung wird: die Inventio. Die Inventio ist ein Begriff des theatralen Barock. Er meint die Realisierung einer projektiven Identifikation, deren Vorverständigung im Medium der geschulten Vorstellung immer schon stattgefunden hat – was eine Geisteswissenschaft des 19. Jahrhunderts mit ihrem 82 Heidegger hat in dieser Hinsicht von zwei Sprachen gesprochen: Die eine ist die tech-

nische des Gestells, die andere die hermeneutische der Suche nach Verständigung. In der technischen Sprache ist die Vorverständigung als Auslöschung der tragenden Differenz der Sprache immer schon geschehen. Vgl. Stanley, Die gebrochene Tradition, a.a.O., S.266. Stanley betont, dass Heidegger sich gegen eine Sprache wendet, die schon in Bedeutungen erstarrt ist, und nicht mehr das „lebendige Spiel“ (das Gadamer in Wahrheit und Methode noch evoziert) des Denkens eröffnen kann. Eigentlich spricht Heidegger somit nicht von zwei Sprachen, sondern von einer Bewegung des Denkens, die für andere zur Sprache kommt.

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Faible für den Kraft- und Feldbegriff völlig vergessen hat, wie Kittler analysiert. Mit der Inventio ist eigentlich das „Ingenium“ des Ingenieurs gemeint. Der Begriff „Situation“ wurde aber, außer in konkreter Beziehung auf die Situationisten oder das Theater der Situation Sartres – wir kommen später darauf zurück – erst jüngst unter dem Phänomen der Präsenz aufgearbeitet.83 Unter Rückgriff auf Heideggers Daseinsbegriff, nicht aber auf die Analyse gesellschaftlicher Dialektik bei Sartre hat man sich ausgangs der Postmoderne-Diskussion der Frage nach der „Präsentifikation“ eines notwendig immer evidenteren Technikumgangs gewidmet, wobei Sartre, das werden wir im Folgenden aufarbeiten, seine Quelle sowohl bei Heidegger als auch in der französischen Tradition des Strukturalismus gefunden hat, in der das Theater weniger durch Sinn als durch Handlung geprägt war. Es ist ein Kennzeichen der Informationsgesellschaft, dass Präsenzen an die Ubiquität eindeutiger Zeichen (Signale) überantwortet werden. Man muss die Ökonomie der Existenz dabei als einen Prozess der Integration und der Exkludierung erfassen, indem Zonen der Indifferenz das Ereignen erlebbar werden lassen, gerade weil das Subjekt sich zeigt als das, was es ist: ein Phantasma. So heißt es quasi symptomhaft bei Fischer-Lichte in den Abschnitten zur Aufführung: Aus den [dichotomischen; R.B.] Begriffspaaren [die die Begriffe „Aufführung“ und „Inszenierung“ evozieren; R.B.] lassen sich unterschiedliche Rahmensetzungen deduzieren, wie ‚Dies ist Kunst‘ oder ‚Dies ist eine soziale Situation‘. Diese Rahmen beinhalten Vorgaben für ein angemessenes Verhalten in einer von ihnen gefassten Situation. Indem Aufführungen scheinbar gegensätzliche oder auch nur verschiedene Rahmen miteinander kollidieren lassen, indem sie auf diese Weise unterschiedliche, ja zum Teil einander diametral entgegengesetzte Geltungsansprüche nebeneinander stehen lassen, sodass sie einerseits alle gleichzeitig gelten, andererseits aber sich gegenseitig annullieren, schaffen sie Situationen eines Dazwischen: Sie versetzen die Zuschauer zwischen alle hier aufgerufenen Regeln, Normen, Ordnungen, sie versetzen sie in diesem Sinne auf eine Schwelle bzw. in den Zustand der Liminalität.84

Das bedeutet, dass die Aufführungen miteinander kommunizieren, was sie aber qua Singularität gar nicht können. Man kann also wiederum nur positiv die Inszenierungen, nicht aber Aufführungen miteinander vergleichen. Prüfen wir den dreifachen Gebrauch des Begriffs „Situation“: Unter einer „sozi83 84

Ich verweise auf die Arbeiten von Dieter Mersch und Lambert Wiesing.

Fischer-Lichte, Die verwandelnde Kraft der Aufführung, a.a.O., S.15. Fischer-Lichte weist auf Turners Begriff der Liminalität hin.

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alen Situation“ wird in der Regel eine kommunikative Synchronizität verstanden, in der z.B. das Sprechen und das Zuhören situativ geregelt und partitioniert wird, ohne dass eine Hierarchisierung intendiert ist. Situation meint jede unveränderte Lage in ihrer Präsenz (1), die Aktualität in ihrer Dauer (2), das Hier und Jetzt von ich und anderem (3). Wie in einer Situation die Verhaltenssequenzen (Handlungen) dauern, bleibt einer Rahmung vorbehalten, die in der Regel das uneingelöste Identitätsversprechen des situativen Negats darstellt und nicht hinterfragt wird: „Es gehört sich so“ – „die Situation verlangt es“ – „es versteht sich von selbst“. Wenn die Deutungsoder Verhaltensrahmen in einer Aufführung durch eine Inszenierung gestört werden, wenn man unter gleichen Situationen die Bedingungen der Praxis verändert, werden die Situationen thematisch und bedürfen einer provisorischen Grundlegung. Sie werden zu Szenifikationen, deren Motive außerhalb ihrer selbst liegen. Ihr Status in actu wird ein Status in motu, d.h., er öffnet sich in einer Szene, distanziert die vorausliegende normierende Intention (Erfahrung als Praxis) hin zu einer spekulativen Überprüfung oder Vorstellung davon, wie die Situativität als Szenifikation reproduzierbar gehalten werden kann. Es kommt zu einer Entfremdung der Praxis mit sich selbst. In diesem „Dazwischen“ wird erstens ein normierender Grund gesucht, zweitens der Grund extrinsisch fingiert (die Inszenierung ist legitimiert und autorisiert), drittens die Reversibilität einer möglichen Aktion evaluiert, viertens der Zirkel der Deutung des nachträglichen Grundes selbst bedeutsam. Die Situation ist als wiederholbar erlebt, wenn die Autorisierung durch den anderen (sei er fiktiv oder real) erfolgt: Es geht darum, in der Deutung die Intention einer Autorschaft zu fingieren, das heißt aber nichts anderes als die Inszenierung einer Aufführung als Norm der Normüberschreitung reintegrierbar und somit wiederholbar im Sinne einer dialektischen respektive homosexuellen Erfahrung zu gestalten – homosexuell im Sinne der Inversion, also Abwehr und Anziehung von „ich“ und „anderem“ problematisierend –, auf der Ebene des Tauschs und nicht auf der Ebene der Produktion. Eine völlige Relationalität ist dabei ausgeschlossen, da die Welt selbst mit dem Erlöschen des Lichts im Theaterraum nicht bei Null anfängt, sondern sich im Gegenteil geradezu als zeitliche Welt kenntlich macht. In dieser Hinsicht ist auch zwischen Fingierung und Fiktionalisierung zu unterscheiden: Fiktionalität setzt Übereinkunft in das Fiktive voraus, während eine Fingierung asymmetrisch als Täuschung, Verführung oder Illusion angesehen werden kann, in der die Sachlage vom anderen nicht gewusst zu werden braucht, obwohl sie als objektiv wahrgenommen wird. In Metier der Zauberei wird darauf auf

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einverständliche Weise angespielt und in der Verführung auf konstruktive Weise darauf hingewiesen, dass die Übereinkunft selbst eine Konstruktion ist. Selbstentfremdung ist der Ort der Subjektbildung.85 Zur Unterscheidung der Ebenen bedarf die Situation eines Motivs, also eines Zeitrahmens, in dem Handlungen und Deutungen erprobt werden, wodurch die Inventio sich weiterträgt. Spontanes Theater in der Fußgängerzone ist keine Inszenierung mehr, wenn sie nur spontan, d.h. rein situativ erfolgt und aufgefasst wird. Es muss der sozialimperative Gestus des Zeigens für andere (Darstellung) gegeben sein, wie Spencer Brown ihn in der Anweisung „Mache eine Unterscheidung!“ formuliert hat. Daran und an seiner Auflösung im Rahmen des Films, der von Anfang an eine realistische Kunst ist, ist letztlich auch das Situationistische Theater zugrunde gegangen; es hat sich in seiner Praxis aufgelöst. Das gilt nicht nur für Aufführungen, sondern ebenso für Bilder und für Texte und für alle Arten von kultureller Performances.86 In Bezug auf die Situativität eines normierenden Grundes bescheinigt Fischer-Lichte, dass in der Aufführung, der Performance, das aktiv-passive Verhältnis zwischen Akteur und Zuschauer durch Inszenierung in der Bedeutungsentwicklung Partizipation erfährt. Es ist geradezu der Sinn einer jeden Aufführung, das Einverständnis zu einer Überschreitung a priori erwirkt zu haben. Die Inszenierung ist also keine „Manipulation“ des Zuschauers, der Zuschauer ist als Aktivist der Deutung derjenige, in dem sich die angeblich unwiederholbare Aufführung überhaupt erst erfüllt – als eine besondere „Grundsituation aller sozial verfasster Wesen, nämlich das Produzieren des Subjekts über den Blick

85 Thomas

Klein hat mit Manfred Pfister (Das Drama. Theorie und Analyse. München 1988) auf die Unterscheidungen zwischen Fiktionalisierung und Fingierung verwiesen und gebraucht in seiner Analyse des Theaters im Film den Begriff der Rahmung, um die unterschiedlichen Ebenen des „Spiels im Spiel“ zu differenzieren. Die unendliche Verschachtelung kann aufgehoben werden, indem man sich auf die substanzielle (primäre) Ontologie der Körper und der Dinge bezieht – so wie Hamlet auf die Affekte seines Onkels Claudius. „Unter dem ‚primären Spiel‘ versteht Pfister die erste Ebene der Fiktionalität, in der das Spiel sozusagen noch keinen selbstreflexiven Charakter besitzt. Diesem primären Spiel ist nach Pfister das ‚Spiel im Spiel‘ untergeordnet, weil es eine Fiktion in der Fiktion verortet. Durch die Anwendung dieses dramaturgischen Elements werde die dramatische Illusion selbst thematisiert und problematisiert.“ Thomas Klein: Ernst und Spiel. Grenzgänge zwischen Bühne und Leben im Film. Mainz 2004, S.30f. Dass der Gegensatz zwischen Ernst und Spiel im Film ausgesetzt werden kann, zeigen insbesondere „Nazi-Komödien“ wie: Sein oder Nichtsein von Ernst Lubitsch (USA 1942), Das Leben ist schön von Roberto Benigni (Italien 1999), Zug des Lebens von Radu Mihaileanu (Frankreich/Ungarn 2000).

86

Ebd., S.17.

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des Anderen.“87 Wir wollen deshalb den Begriff der Szenifikation unabhängig vom eingängigen Exempel des Theaters und des theaterwissenschaftlichen Begriffsinstrumentariums betrachten und zwischen „Inszenierung“ und „Szenifikation“ unterscheiden. Im Begriff der Szenifikation muss der der Offenbarung, der Selbsterkenntnis als Selbstentfremdung, so mitgedacht werden, dass diese Selbstdistanz diejenige „Szene“ ist, in der ein Subjekt sich sozial verhält, d.h. als Verhältnis zu anderen Subjekten. Baudrillard hat als konstitutives Prinzip das der Verführung mit keineswegs nur negativer Intention ausdifferenziert und gezeigt, dass in der Verführung Subjektivität als eine konstitutive asymmetrische Unterstellung aufgefasst werden muss.88 Das heißt, die Verführung ist nicht ökonomisierbar. Wenn sie in der Warenverführung auftaucht, dann gerade, um den projektiven Überschuss von Imagination gegenüber dem Mangel des Produkts zu rechtfertigen. Mangel des Produkts, das heißt, seine situative Gebundenheit an den Gebrauch von Dingen. Seit aber nun die Medienprodukte selbst in die Hände der Zuschauer geraten sind, zeichnet sich immer mehr der Mangel an Imagination, nämlich die Standardisierung der Narrative ab. Als nachträglich, regressiv auf die Veranlassungen des Grundes (Medien), gründet Inszenierung ein Zeitverhältnis und verführt damit die Szenifikation, die ein agonal-zirkuläres Gebilde ist, zum Schein in eine narrative Dramaturgie. Das ihr Vorgängige kann dann nicht in der positiven Zeit sein – so wie ja auch der Grund entweder in der Unendlichkeit oder in der Zeitlosigkeit selbst gründet. Die Philosophiegeschichte hat eben für die Zeitlosigkeit des Grundes – entgegen romantischer Hermeneutiktradition – den in der Aktualität verankerten Begriff Situation reserviert. Die Situation ist insofern zeitlos (im Sinne dessen, dass in ihr alles synchron in der Normalzeit passiert), als sie das Außer-der-Zeit-Sein meint, die Synchronisierung und Simultaneität aller gegenwärtigen Bezugssysteme 87 Barbara Gronau: Ausstellen und Aufführen. In: Erika Fischer-Lichte / Adam Czirak / Torsten Jost / Frank Richarz / Nina Tecklenburg (Hg.): Die Aufführung. Diskurs – Macht – Analyse. München 2012, S.37. Es ist hier noch nicht der Moment, auf den Unterschied zwischen reflexivem Blick und der Inversion des Begehren des anderen einzugehen. 88 Vgl. Baudrillard, Von der Verführung, a.a.O., S.18: „Der Verführung wohnt die Macht

inne, alles seiner Wahrheit zu berauben und wieder in das Spiel eintreten zu lassen, ins reine Spiel des Scheins, und dort im Handumdrehen die Sinn- und Machtsysteme zunichte zu machen.“ Baudrillard macht zentral auf den Zusammenhang zwischen dem Freud’schen Todestrieb und der Verführung aufmerksam (S.80). Beide sind Strategien der Derealisierung, die sich dem Telos (Tod), das sie negieren, nähern als auch dieses abwehren. Das ist die Epigenese, die Humboldt als Sprache wahrnimmt, das wiederum Heidegger auf die Zweiseitigkeit der Sprache (informativ und kommunikaiv zu sein) anwendet, nämlich das Denken für andere als „Für-sich“ zu eröffnen.

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der physikalischen und der sozialen Zeit. Gleichzeitigkeit bedingt, dass die Zeit in der Situation gleichsam nicht vorwärts schreitet. Die Situation ist also ein Haltepunkt, genauer ein zirkulärer Agon, ein Widerstreit in der Zeit.89 Ein eingängiges Bild gewinnt man von einer Situation, wenn man sich mehrere Revolverhelden vorstellt, die sich gegenseitig in Schach halten. Meistens wird ein externes Ereignis (Inventio), ein Geräusch etwa, das allen Beteiligten gleichzeitig zukommt, die Handlung ruckartig vorwärts treiben: Die Situation kennzeichnet eine äußersten Bannung, Paralyse und Spannung, denn keiner der Revolverhelden darf im Duell zuerst und keiner zu spät schießen. Während dieser paralytischen Szene dreht sich oft die Kamera um die Duellanten oder zeigt im Schnitt die Anspannung ihrer Gesichter, um die Zeitlosigkeit der Situation zu inszenieren. Inszenieren heißt hier, eine Choreografie zwischen der synchronen und der diachronen Zeit ohne Schuldvollzug zu gestalten. Dabei muss gesehen werden, dass zwischen der physikalischen Zeit, die unerbittlich linear verläuft und deren Ende der Tod als letzter Grund ist, und der sozialen Zeit, die eine Zeit des Handelns, des Handels, des Austauschs und der auf Zukunft angelegten Kreditierung und Gabe von Bedeutung und Sinn ist und somit reversibel verläuft, ein Unterschied gemacht werden muss. Die diachrone Zeit, die das Gesetz der ewigen Wiederkehr mit der Einführung des Todes korrumpiert, kann dramaturgisch vollständig in Handlungen aufgelöst werden. Damit haben wir die beiden Grundsituationen der Zeitgestalt bestimmt: Die situativ fingierte ist die des Bildes oder der Übertragbarkeit (Technisierung) im Element des Zeigens (Darstellung). Das Zeichen als Träger eines auf den anderen – als fremden oder abwesenden – verweisenden Sinns hat eine Bedeutung, die es übertragbar macht, gleich in welcher Situation es gebraucht wird – bis hin zur Arbitrarität. In der medialen Repräsentation ist das Verhältnis der symbolischen und der funktionalen Lesart als Differenz zwischen der Verlaufsform und der Sinnübertragung jederzeit möglich. Die funktionale Lesart intendiert kein 89

Vgl. Ramón Reichert: Situation, Kontext, Kontingenz. Biologische Analogien in der Wissenschaftstheorie. In: Diskurs und Praxis. Der Symbolgebrauch in den Wissenschaften. Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst. Wien 2002, S.3f: „Welche Schlussfolgerungen werden nun aus der Annahme einer Situationsgebundenheit des sozialen Handelns gezogen? Wissenschaftliche Theorien müssen ‚opportunistisch‘ und ‚situativ‘ angepasst sein. Etwas ‚Privates‘ wie ein cartesianisches Ich oder eine Leibnizsche Monade kommt dagegen als Bezugspunkt wissenschaftlicher Innovation nicht in Betracht. Anstelle dessen rückt der raum-zeitliche Rahmen, in den konkrete Handlungsbezüge vermittels des Begriffs der ‚Situation‘ einbezogen werden und der sich als Bedingung der Identifizierbarkeit von wissenschaftlicher Praxis darstellt.“

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anderes Motiv als das der Nachvollziehbarkeit und Wiederholung des Produktionsprozesses selbst – also der Aufführung. Situation und Szenifikation müssen, um als getrennte in Beziehung stehen zu können, im Inszenierungsverhältnis aufgefasst werden. Inszeniert wird also nur das, was sich – wie Natur – nicht von selbst versteht, also seines Grundes frei ist und sich ihn nachträglich zu erschaffen hat. Der Witz der szenischen Gleichzeitigkeit ist nun der, dass dem, was als grundlos fingiert ist, der Grund nicht entzogen werden kann. Die Szene zerfällt und sichert symbolisch und funktional gleichzeitig ihren eigenen Grund. Vom Standpunkt der qualitativen Zeit als einer Handlung auszugehen, heißt das nicht, dem Theater die Exklusivität zu rauben, die es als einmalige, unwiederholbare Aufführung auszeichnet? Das kann man doch auch vom Akt der Konsumation sagen, ja vom Produkt selbst, dessen Inbesitznahme über kurz oder lang sein Verschwinden (Verbrauchen) begleitet. Der Punkt ist nun der, dass es im Motiv der Handlung selbst ein extrinsisches Moment geben muss, das den doppelten Charakter einer Theaterproduktion wie der maschinellen Produktion überhaupt kennzeichnet, und zwar als eine Unterscheidungsmöglichkeit zwischen dem Theater der Arbeit und dem Theater der Muße im weitesten Sinne.90 Dies ist das Publikum als der andere (Beobachter), der durch die Aufführung hindurch sich als mit den anderen identisch erfahren kann, insofern die Reaktionen des Publikums aufeinander abgestimmt sein können, denn das Publikum ist schon inszeniert als die „identischen anderen“. Oder, bedeutsamer, indem eine Person aus dem Publikum einen Einspruch geltend macht und somit die gesamte Inzenierung in eine Inventio umorganisiert. Der Prozesscharakter ist das Wesentliche, wie Turner meint: „Man erfaßt eine Bedeutung, indem man auf einen zeitlichen Ablauf zurückblickt.“91

90 Vgl. Victor Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt

am Main 2009. Turner verifiziert im liturgischen, den Göttern zugewandten Ritual durchgängig die Sphäre der Arbeit und nicht, wie heute, einen Gegensatz von Arbeit und Spiel (Entspannung, Freizeit). Erst im Zeremoniell wird die Trennung von „Spiel“ und „Arbeit“ durch die Privation des Einzelnen bezüglich einer Wahlmöglichkeit an der Teilnahme vollzogen. Dem eigentlichen Ritual kann sich aber privatistisch niemand entziehen. „Wir erkennen hier ein Universum oder ein Werk, ein ergon- oder organisches Universum, in dem der Hauptunterschied der zwischen sakraler und profaner Arbeit, nicht der zwischen Arbeit und Muße ist.“ (S.46)

91

Ebd., S.121.

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e. Möglichkeiten der Kritik wider die Aufführung Die Negation der Evidenz taucht im Theater als dessen Ironie auf. Jens Roselt etwa hat sich der Ironie des Theaters auf folgende Weise genähert: Abgesehen von der bekannten verbalen Ironie des Wortes, die das Publikum dem Kontext entnehmen kann und die ihm sagt, wie eine Bedeutung zu verstehen sei, wie also Kontextualität deplatziert werden soll, kann mittels Inszenierung auch ironische Handlung gleichsam als Wechsel der Signifikatsebene arrangiert werden. Roselt wählt folgendes Beispiel: Während einer Aufführung von Julius Cäsar der belgischen Theatergruppe Needcompany in der Inszenierung von Jan Lauwers fällt in einer Szene ein Scheinwerfer scheppernd aus dem Schnürboden und baumelt an der Sicherungskette über der Bühne. [...] Zu fragen ist, [...] was meint die Inszenierung mit dem vermeintlichen Malheur.92

Der Trägheit des Publikums gemäß kann das Vorkommnis auf zwei Weisen gedeutet werden: als Missgeschick oder als geplanten Eingriff. Ein ‚geplanter Zufall‘ schließt sich selbst aus. Roselt spricht von „zwei Bedeutungen“. Als inszeniert lässt sich das Ereignis erst nachweisen, wenn man die Aufführung mehrere Male besucht. „Betrachtet man den Vorgang aus dem Blickwinkel der Semiotik, ist zunächst festzustellen, daß im Theater grundsätzlich nichts einfach geschieht, sondern daß jeder Vorgang die intentionale Herstellung einer Wirkung, besser gesagt einer Bedeutung, ist. Denn die Zeichen des Theaters können aufgefasst werden als ‚Zeichen von Zeichen‘.“93 Markant an dieser Differenzierung von Roselt ist, dass er dem theatralen Effekt von vornherein überhaupt Bedeutung unterstellt und nicht eben sagt, dass diese doch erst kontextualisiert werden muss, um gedeutet werden zu können und zwar als ein zu deutendes Ereignis. Der Besuch einer Theater92 Jens Roselt: Die Ironie des Theaters. Wien 1991, S.17f. Vgl. zur Inszenierung eines Außen

am Anfang der Truman Show den herabfallenden Scheinwerfer, der den Protagonisten zum ersten Mal erahnen lässt, das sich sein ganzes Leben innerhalb einer künstlichen Fernsehwelt abspielt, in der er der einzige ist, der sein Leben nicht als Schauspieler verbringt. Die Truman Show mit Jim Carrey von Peter Weir (USA 1998). Der Film spielt quasi alle Indizien durch, die das theatrale Leben vom ‚normalen‘ trennt. Beziehungsmedium ist aber nicht der Film, sondern die Daily Soaps des Fernsehens und kritisch muss man feststellen, dass doch die Relation „Innen-Außen“ das grundlegende Schema des Filmes beherrscht, auch wenn Truman zweitweilig wenigstens Gegeninszenierungen entwirft.

93 Ebd., S.18; Zitation: Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Band

I: Das System der theatralischen Zeichen. Tübingen 1994, S.19.

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vorstellung wird als immer schon bekannte Bedeutung vorausgesetzt und gilt somit selbst nicht als Ereignis, jedenfalls nicht als Offenbarung, wie sie Kinder erleben, wenn sie zum ersten Mal das Theater besuchen. Der Kontext der medialisierten Inszenierungen (z.B. das Theatergebäude selbst) entzieht sich als Inszenierung vielleicht allein dadurch, dass ein Abonnement ihn zu einem praktischen Ritual hat werden lassen. Die Szenifikation findet vor der Inszenierung statt. Szenifizieren heißt nicht, Bedeutungen zu verleihen, sondern Deutungsmöglichkeiten zu eröffnen, d.h., sie erschafft ein Negat der evidenten Welt. Wenn also nur im wiederholten Besuch der gleichen Aufführung die Inszeniertheit des herabfallenden Scheinwerfers erfahren werden kann, muss die Einmaligkeit einer Aufführung als Inszeniertheit den Einbruch der Plötzlichkeit immer schon gebannt haben und nur als Sonderfall zulassen. Genau diese Plötzlichkeits- oder Spontaneitätsbannung, also die Kontrolle der Präsenzen, unterliegt der Inszenierung. Wenn ein Autor Sinn schafft, so schafft die Aufführung die Verwandlung von Sinn in Präsenz. Im Falle des sich deplatzierenden, interventionistischen Scheinwerfers kann der Effekt der Eindeutigkeit bifurkativ als ironisch gedeutet werden. Das Publikum als lose Gruppe erwacht quasi in einer Entscheidungssituation. Nun handelt es sich in der Tat um das von der Norm abweichende Erlebnis innerhalb einer „kommunikativen Situation“94, in der theatrale Ereignisse produziert werden. Das ist der Witz, um den es im interventionistischen Theater geht: Das Theater prädisponiert Situationen als Szenifikationen in Ereignisfolgen, innerhalb deren Kontextualisierungen/Rahmungen verschoben werden. Dieses Theater arbeitet metonymisch, es symbolisiert nichts und schon gar nicht sollte es die Autorität einer Vermittlung des richtigen Verstehens eines Autors befehlen. Die Aufführung zeigt. Dadurch wird das Theater zu einer der möglichen Figuren bestimmter Negation von Dasein. „Das Theater ist etwas anderes als es ist, und doch, indem es dieses andere ist, existiert es erst. Der Ausdruck, den das Theater für diese Antinomie findet, sei: Die Ironie des Theaters.“95 Die unbestimmte Negation davon ist in jedem Fall außerhalb und innerhalb des Theaters durch eine Situierung allererst zu bestimmen. Inszenieren zeigt sich sowohl als extrinsische Funktion von Selbstseins – das ist, was es nicht ist – und von Zeit, die ebenfalls ist, was sie nicht ist. 94

Ebd., S.19.

95

Ebd., S.23.

176

Wenn man die Strukturen und Genealogien der Momente beschreibt, in der die Motive als inszeniert erfasst werden, dann einzig und allein darum, die Scharte der Aufführung, ein einziges irreduzibles Moment der Präsenz (Zeit und Selbstsein) zu sein, in Erinnerung zu verwandeln – freilich in Erinnerung von Prozessualität.96 Diese Aufgabe kommt der Kritik zu: Der Zuschauer, der deutet (zwischen zwei Optionen unterscheidet), handelt.97 Aber er handelt nicht als er selbst, sondern als ein anderer: Er lacht und er weint und er applaudiert und gehorcht oder widerspricht so den intendierten Affekten der Inszenierung. Das ist das glückliche Bild der theatralen Gemeinschaft. Doch dieses Bild einer Bedingtheit von Effekt und Affekt ist nicht das, was das Theater will. Hierin unterscheidet es sich vom Zirkus und vom Fernsehspiel. Die Theatergemeinde ist in den meisten Fällen – wie jene des Kinos oder einer Vereinsversammlung – eine körperlich präsente Gesellschaft von Individuen – und zwar so lange, bis ein Scheinwerfer vom Himmel fällt. Erst dann wird aus dieser zufälligen (!) Gesellschaft ein Kollektiv von 96

Ebd., S.25. „Jede Aufführung ist einzigartig und nie exakt reproduzierbar.“ Vgl. auch Fischer-Lichte, Die verwandelnde Kraft der Aufführung, a.a.O., S.14f: „Da Aufführungen aus der Interaktion zwischen Akteuren und Zuschauern hervorgehen, lassen sie sich angemessen nicht als Werke begreifen, sondern vielmehr als Ereignisse.“ Ich bleibe dabei: man kann nie zweimal als gleicher in den selben Fluss steigen. Es geht um das Paradox der Wiederholung von Einmaligkeit, nicht um deren Produktion, also um Gedächtnisbildung, letztlich um die Unterscheidung und Unterscheidbarkeit von Imagination und Erinnerung.

97

Jacques Rancière: Der emanzipierte Zuschauer. Wien 2010. Auf die veränderte Rolle des Zuschauers und seine Bedeutung in der Philosophie geht Rancière mit einer Kritik an Platon und an Guy Debords Begriff „Spektakel“ ein, indem er darauf verweist, dass das Theater stets eine Mischung aus Spektakel (S.16) und Ernsthaftigkeit (Arbeit) war und dass diese beiden Positionen durch die aktive oder passive Stellung angezeigt war, die dem Zuschauer zukommt. Zur Passivität ist der Zuschauer verurteilt, indem er vom allegorischen Wissen des Theaters eingeschüchtert wird, was sich bis auf das Bildungstheater der Schulen niederschlägt. Wissen und Unwissenheit sind aber nicht hierarchisch, sondern korrelativ in Bezug auf die Inszenierung. (S.19) Der Schüler weiß immer auch anderes und mehr als der Lehrer. So geht es im Theater darum, stets auch die alternativen Deutungen und Wahlmöglichkeiten (S.23) in einer gegebenen Inszenierung greifen zu lassen. Die Verführung hält die Zügel der Macht lose in der Hand. „Zuschauer zu sein ist nicht der passive Zustand, den wir in Aktivität umwandeln müssten. Es ist unsere normale Situation. Wir lernen und wir lehren, wir handeln und wir wissen auch als Zuschauer, die in jedem Augenblick das, was sie sehen, mit dem verbinden, was sie gesehen und gesagt, gemacht und geträumt haben. Es gibt überall Ausgangspunkte, Kreuzungen und Knoten, die uns etwas Neues zu lernen erlauben, wenn wir erstens die radikale Distanz, zweitens die Verteilung der Rollen und drittens die Grenzen zwischen den Gebieten ablehnen. [...] Wir müssen das Wissen anerkennen, das im Unwissenden am Werk ist und die Aktivität, die dem Zuschauer eigen ist.“ (S.28) Wir setzen primär nicht eine Ordnung des Wissens, sondern eine Praxis der Handlungsvollzüge als Normierungsgrund voraus.

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Zweiflern, die in der Gemeinsamkeit ihrer Situation plötzlich (!) erwachen, die aus der Situation heraus sich in einer Deutung überschreiten müssen. In der Überschreitung werden sie als Identische für sich selbst und für andere zu Individuen einer sich wechselseitig als verunsichert versichernden Gemeinschaft. Nicht das Theater lässt die Individuen sich verschmelzen, sondern der für das Theater der Kerzen und Gasbeleuchtung prekäre Ruf „Feuer!“ – dessen Signal die zufällig Versammelten zur Einheit der Fliehenden vereinigt. Anders gesagt, die Voraussetzung einer rituellen Vergemeinschaftung gleich welcher Art setzt Individualität und den anderen als Anderen voraus.98 Die Ironie des Theaters mag einer doppelten Semiose unterliegen, aber es ging dem Theater nicht um die Vermittlung von deklamierten Bedeutungen, sondern um die Inszenierung von Deutungshaltungen, um eine mögliche Auflösung der Bedeutungen im Zwiespalt der Handlungen. In dieser Hinsicht hat sich der Inszenierungsbegriff als Antizipation dessen, was der Bedeutung vorausgeht, als Technik zur Inszenierung des Lebens hinaufgearbeitet.99 Nicht mehr feste Bedeutungskopplungen (Kompetenzen) sind relevant, sondern funktionale Deutungsmotive, gleichsam Lebenspraktiken, bestimmen die Produktivität des Menschen für sich selbst. Die immer schon vorauseilende Bedeutung muss als väterliche Projektion im Namen des Sohnes realisiert werden. Die Projektionsgründe bleiben hinter den Designkulissen des Produkts, des Warenfetischs verborgen. Genau diese Gründe müssen nun von den Inszenierungen nachgeliefert werden: als künstliche Idealisierungen von 98

Es war Sartre, der gegen Vereinnahmungsversuche der Kommunistischen Partei die Priorität des Individuums gegenüber der Gemeinschaft behauptet hat, und zwar entgegen dem Telos von der möglichen Aufhebung der Klassengegensätze. In Bezug auf den Ruf „Feuer!“ sieht man die Einheit auch darin, dass jeder gegen den anderen zuerst dem Ausgang zustrebt.

99 Vgl. einführend zur theaterwissenschaftlichen Problematik von Inszenierung und ihrer

Begriffsgeschichte Erika Fischer-Lichte: Theatralität und Inszenierung. In: Erika Fischer-Lichte / Christian Horn / Isabel Pflug / Matthias Warstat (Hg.): Inszenierung von Authentizität. Theatralität Bd.1. Tübingen und Basel 2007, S.9-28. Sie bindet den Aufführungsbegriff an den der Theatralität, d.h. der leiblichen Ko-Präsenz. Ob eine „Situation als theatral oder nicht-theatral betrachtet wird“ (S.17) macht sie vom „Wahrnehmungsmodus“ (ebd.) abhängig. Das scheint mir zu kurz gegriffen. Wir werden zeigen können, dass die Wahrnehmung immer schon der (verspätete) Reflex eines Deutungsentwurfs ist, d.h., sie ist in einer existential gedachten hermeneutischen Abhängigkeit, in der gerade der Aspekt der Gegenwärtigkeit (der Synchronie von „ich“ und „anderem“) problematisch ist. Wenn Fischer-Lichte sagt, „Denn die Inszenierung produziert nicht Schein, sondern läßt etwas als gegenwärtig in Erscheinung treten“, so muss auch gefragt werden, was unter der Gegenwart des Subjekts gemeint ist. Das hieße aber die Konstruktivität auch des Bewusstseinsbegriffs aufzuarbeiten, also das Problem der Selbstinszenierung als Selbstdeutung ohne Selbst zu akzeptieren.

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Situationen, in deren Genuss andere schon stehen und handeln. Die Inszenierung ist demnach die (im Rahmen einer jeden Aufführung professionalisierte) Darstellung eines Vor-Gangs in doppeltem Wortsinn und in doppelter Funktion. Die gedoppelte, also ironische Funktion heftet sich an etwas, „was auch ohne sie wäre“, sagt Roselt. Er verweist damit auf den Aspekt, dass das, worauf die Ironie sich bezieht, ein „Vorbild eigentlicher Rede“, nicht existiert, sondern die Situation als symbolische Ordnung meint, in der das Geschehen erst überhaupt die Ironie von sich absetzt; die gleiche Ordnung in einem anderen Kontext. Semiologisch gewendet werden im Theater nicht mehr die Signifikanten, sondern die Signifikate problematisiert. So markiert Ironie einen fehlenden „Ursprung“, der erst in der Deutung, also nachträglich konzipiert werden kann, als Negat – weswegen die Auslegung als eine Form der Transgression, als eine Kunstform angesehen werden muss, die mit Dingen spielt, die es nicht zu geben braucht, die nicht zu vergegenständlichen sind. Man kann das auch „Magie“ nennen. Schleiermacher nennt es moderner Divination. Er meint damit nicht eine „Wahrsagekunst“, sondern eine Rückerfindung als Ursprungsvergegenwärtigung.

f. Protosemantische Einwände auf Ironie und Theatralität Manfred Frank hat darauf hingewiesen, dass die Unterscheidung zwischen der (Eindeutigkeit) eines Zeichens und der Mehrdeutigkeit des Symbols selbst nicht eindeutig ist, sondern als „motiviert“ verstanden werden muss.100 Der Akt der Divination in der Hermeneutik vergegenwärtigt nicht magisch Zukunft, sondern konstituiert erst das, was der Autor im Stilzug seiner Rede 100

Manfred Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher. Frankfurt am Main 1977, S.326: „Die konstruktive Interpretation des Sinns einer konkreten Zeichenanwendung (die Deutung der Singularität eines Stils) hat notwendig diesen ‚divinatorischen‘ Sprung nachzuvollziehen, der sich dem Verstehen als Überschreitung der Grenzline darstellt, die die Seinsweise des Zeichens von der des Symbols trennte. Durch ‚Nichts‘ nämlich ist das identisch Schematisierte und Kodifizierte der ‚unübertragbaren‘, der noch ‚unvergleichlichen‘, der noch schlechthin ‚neuen‘ Combinationsweise eigentümlicher Sprachverwendung vermittelt: es gibt nichts, das die Bedeutung einer Äußerung von ihrem Stil trennte; aber es gibt auch nichts, das einen kontinuierlichen Übergang zwischen beiden stiftete.“ Frank folgert daraus, dass die Behauptung der existentiellen Hermeneutik von der radikalen Entfremdung des anderen falsch ist, weil dies eine eindeutige Bestimmung wäre, die der Hermeneutik selbst widerspricht. Man kann also nicht einmal von der Andersheit des anderen ausgehen: Man ist mit ihm durch die Freiheit verbunden.

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gar nicht explizit hat machen können, nämlich die nicht in Geschichtlichkeit aufhebbare, realisierbare Konstitution seiner Subjektivität, also die Motivation zur Darstellung, die ihm selbst von außen zukommt. Im Theater bedeutet „Stil“ deshalb die Aufführung als Szenifikation und die Realisierung ex negativo als Inszenierung. So wird einsichtig, dass Inszenierung von Simulation, die stets ein reales Vorbild hat, unterschieden werden muss. In Bezug auf die Ironie des Theaters spricht Roselt von der „Form einer gleichzeitigen Gegenrede“101, die ob ihrer Synchronizität als Form der „Inversion“ einer Situation verstanden werden muss. Was aber invertiert wird entgeht – vice versa – der Ursprungsthematik und verleiht so dem Deutungstheater die Form einer autopoietischen Bivalenz: Es handelt sich beim Theater um das Phänomen einer in der Zeit gefalteten Fläche, auf der sich die Evidenz selbst begegnen kann. Auch Roselt geht hier und im gesamten Text nicht auf den ansonsten sehr häufig gebrauchten Begriff der Situation ein, was ihn zu einem Exempel dafür macht, dass Situation (im engeren Sinne „Praxis“ oder „Präsenz“ – oder mit Heidegger „Seinsvergessenheit“) in der Theatralik den blinden Fleck der Inszenierung und vor allem des wissenschaftlichen Diskurses darüber ausmacht. „Erst die Beherrschung der kommunikativen Situation verleiht die Souveränität, mit deren Bedingungen zu spielen, wie es im Falle der Ironie geschieht.“102 Der Begriff „kommunikative Situation“ ist hier nichts anderes als die Praxis, also das, was selbst weder Gegenbild noch Vorbild hat. Das Versäumnis mag im Zusammenhang mit der vorzüglichen Analyse Roselts keine Rolle spielen, nur stellt sich damit die Frage, wie denn die Theaterwissenschaft ihre Rolle als Fluchtort gesellschaftlicher Arbeit erkennen will, die sie mit ihrem interventionistischen, „ironischen“ Charakter evoziert. Das kann doch nicht die einzige Legitimation des seit Reinhardt beliebten Künstlercharakters des Regisseurs sein? Das zwingt uns, immer wieder den Fokus der Inszenierungsprofession aus dem Theater herauszunehmen und die Frage der Amplitude von Situation und Szenifikation als Zirkel von Praxis und Offenbarung in der gesellschaftlichen „Ko-Präsenz“ auszulegen. Dabei gibt uns Roselt den Hinweis, wie in Sachen theatralischer Gleichzeitigkeiten zu verfahren ist: „Eher werden die Bedingungen des Verstehens selber thematisiert“103 werden müssen. Eine Szenolo101

Roselt, Die Ironie des Theaters, a.a.O., S.47, Zitation: Uwe Japp: Theorie der Ironie, Frankfurt am Main 1991, S.327. 102

Roselt, Die Ironie des Theaters, a.a.O., S.49.

103

Ebd., S.52.

180

gie ist als spezifischer Vorgriff auf die situative Voraussetzung von Deutung (und Selbstdeutung) anzustreben. Den provisorischen Begriffen nach ist von folgenden hypothetischen Orientierungen auszugehen: Situation: das Erlebnis der Synchronitäten (Abkappung der Grund-Folge-Verhältnisse); „das der Inszenierung zugrundeliegende Interaktionsmuster.“104 Situativität: Dasein als Nichtwiderständigkeit, aktuale Existenz, Praxis, Präsenz (Sartre: Hexis). Szenifikation: die Realisierung eines Ortes der Transgression von symbolischer und funktionaler Deutung; Produktion von Dauer qua Handlungszeit. Inszenierung: die Fingierung einer Kopplung zwischen Situation und Szenifikation; Produktion von Ereigniszeit, narrative Linearisierung, Wiederholbarkeit eines Vorgangs unter gleichen Prämissen; Ursprungsfingierung. Szene: Datum der Szenifikation; Realität subjektiver Wahrnehmung in ihrer Aktualität, „Lichtung“. Szenografie: Notation oder Verschriftung von Ereigniszeit und Handlungszeit; die wiederholbare Vermittlung von Ereignis (Szene) und Erlebnis (Interaktion); Technisierung und Professionalisierung von Inszenierung und deren Resorbtion in Praxis. Aufführung (Performance): synchrone Darstellungseinheit fingierter Situationen in Erlebniszeit. Alle diese Begriffe gehen von einem dynamischen, reziproken also sozialen Zeitbegriff aus, der qualitative Veränderungen, Rück- und Vorgriffe durch Handlungen ermöglicht – unter der Übereinkunft, dass der physikalische Zeitbegriff als Erklärungsparadigma und mit ihm das Moment der Realität ebenso wie das der Unausweichlichkeit des Todes akzeptiert sind. Die Unterscheidung von Spiel und Arbeit, die Turner gegen die von Huizinga (Spiel und Ernst) setzt, zeigt, dass unter Normzeit mit Arbeit und Arbeitswerten gerechnet wird, während für die Verhandlungen der Zeitqualitäten, also der Zeitgestalten ein Außer-Kraft-Setzen der Normzeit und affektive Intensitäten dominieren. Hier fällt besonders auf, dass das Spiel eine Wahlmöglichkeit der Zeithandlungen offen lässt. In der Muße, der Freizeit, im Theateroder Kinobesuch – stets wird die Inszenierung im Gegensatz zur Realität mit einer Überwertigkeit an Möglichkeit, d.h. Gleichzeitigkeiten versehen. In Folge dessen muss einerseits das theatrum machinarum das Drama und 104

Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion, a.a.O., S.171.

181

andererseits das Drama die Ordnung – als hysterische – vom Wiederholungszwang befreien, um die Zufälle und Unfälle (wie das Herabfallen eines Scheinwerfers) antizipierbar zu machen. Der Konflikt der Darstellung dieser in sich gebannten zwei Zeitordnungen (der linearen und der perturbierenden) ist theatral. Theatral kann etwas sein, was völlig außerhalb des Theaters und der Szenografien geschieht:105 Theatral ist jeweils die Überschreitung der szenischen Nichtwiederholbarkeit auf Rückholbarkeit (Inszenieren) über den anderen. Der Transgression der Zeitqualitäten, die für einen Zeitraum in dieser Überschreitung als Möglichkeit dauern, kommt das Prädikat „Inszenierung“ zu. „Theatral“ meint hier „kritisch“ respektive „krisenhaft andauernd“, immer auch „hysterisch“ im Sinne der Selbstüberschreitung und des Selbstansichtsparadoxons. In der Idee einer ursprungslosen Produktion steht die Frage nach dem Anfang, der Initiation, der Stiftung – also der Gabe einer Initiative der Reziprozität als Problem der Divination von „einmaliger“ Vergangenheit an den Anfang der Untersuchungen. Der Anfang kann nachträglich als Motiv mit Sinn belegt werden. Es genügt nicht, ihn als göttliche Fügung einfach nur zu setzen; respektive ist die Setzung einer solchen Verfügung schon ein Akt der Szenifikation dessen, was sich als Gewalt nicht selbst über sich erheben kann. In einer performativen Weltsicht, in der Handlungen sich selbst produzieren, ist eine ursprüngliche Setzung als Identität (Namen-des-Vaters) nicht mehr möglich. Das Prinzip der Emergenz setzt spontane qualitative Veränderung voraus: Inszenierung als Nichtinszenierung. Wie beim Urknall beginnt hier alles mit einer chaotischen Instabilität, deren (rituelle) Vergesellschaftung Sinn für die Gemeinschaft (Sprache) und somit Integrierbarkeit des Spontanen bedeutet. Womit also anfangen? – Drei Akteure stehen beisammen, jeder jederzeit im Blickfeld der anderen, das nennt Luhmann Situation. Die Situation gibt sich mir zunächst als ein statisches Bild, dessen symbolische Präferenz erst nachträglich in den Handlungen der Figuren (oder der Zuschauer) sze105 Dass in diesem Sinne Inszenieren immer ein politischer Vorgang ist, hat Heiner Wil-

harm dargelegt. In: Ders.: Die Ordnung der Inszenierung. Szenografie & Szenologie Bd.8. Bielefeld 2015. Wilharms Ausführungen sind vor allem semiologisch begründet – meine hier dagegen vor allem handlungstheoretisch. Beide schließen sich nicht aus, sondern führen – wie der Disput zwischen Sartre und Lévi-Strauss gezeigt hat – zu unterschiedlichen Akzentuierungen: Will man die Paranoisierung eines Übergangs zum anderen in diskreten Schritten oder in kontinuierlichen Zeitdauern verfolgen, wählt man also einen elementarisierenden (symbolischen) oder einen medialen (funktionalen) Bezug, um die Ambivalenz des szenifikatorischen Übergangs verständlich zu machen.

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nisch gedeutet werden kann. Welchem der drei Akteure gilt der Blick zuerst? Und schon ist die Situation zentriert und gerichtet, sie ist szenifiziert. Wolfram Hogrebe hat auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass eine Situation im Prinzip nicht hintergehbar im physikalisch zeitlichen Sinne sein kann, sondern dass sie sich als Vorhergehendes nur im Lichte einer szenischen Selbstdistanzierung als Fiktion eines ‚Naturzustandes der Indifferenz‘ ermöglicht. Die Referenz „Fiktion“ ist gerade von der Art, das sie das, was nicht darstellbar ist – wenn auch ironisch – zur Darstellung bringt, nun aber als Nichtdarstellbares aufführt. Auf die Frage „Was zeigt sich zuerst?“ antwortet Hogrebe wie folgt: Referenz beginnt transferenziell, als veranlasste Übertragung, d.h. szenisch und intim wie im Zwiegespräch mit einer Katze hingewandt wie im Vernehmen eines fernen Tons. Die adaequatio der adaequatio rei et intellectus empfiehlt sich an der Basis einer musikalischen Interpretation als Klangvernehmen.106

Was vor der Szenifikation stattfindet, ließe sich dann als „Anspruch“, „Gabe“ im Heidegger’schen Sinne107 oder „Ruf“ im Sinne von Max Weber auffassen. 106 Wolfram Hogrebe: Protodeixis. Was zeigt sich zuerst? In: Gottfried Boehm / Sebastian

Egenhofer / Christian Spieß (Hg.): Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren. München 2010, S. 378.

107 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., §56-58. Zur Differenz von Hören, Zuhören und

Vernehmen vgl. Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt am Main 1990. „Das Zuhören, das auf dem Hören aufbaut, ist durch das Erfassen von Entfernungsgraden und die regelmäßige Rückkehr der Schallerregung vom anthropologischen Standpunkt aus der eigentliche Sinn für Raum und Zeit.“ (S.250) „Erstens ließ sich, Jahrhunderte hindurch, das Zuhören als ein intentionaler Hörakt definieren (zuhören heißt, mit vollem Bewußtsein hören wollen), während man heute die Fähigkeit (und beinahe die Funktion) zuerkennt, unbekannte Räume abzutasten“ [...] „Zweitens haben die durch den Hörakt bedingten Rollen nicht mehr dieselbe Starrheit wie früher; es gibt nicht mehr auf der einen Seite den Sprechenden, der sich ausliefert und gesteht, und auf der anderen den Zuhörenden, Schweigenden, Urteilenden und Bestrafenden [...]. Die Orte des Sprechens sind immer weniger durch die Institution geschützt.“ (S.261f.) Es scheint erwähnenswert, dass die szenografischen Kompetenzen auch dann, wenn sie sich der atmosphärischen Rauminszenierung widmen, das Auditive gegenüber dem Visuellen immer noch vernachlässigen, obwohl sie von „gestimmten“ Räumen sprechen. So sind z.B. auch Pop-Konzerte, wenn sie sich nicht auf Musikdarstellung beschränken, in ihren Bühneneffekten meist visuelle Dekorationen ihrer Musik, kaum aber Einrichtungen von leiblichen Klangräumen, es sei denn, es handelt sich, wie z.B. durch John Cage initiiert, um ausdrückliche Klangkunst. Andererseits ist die klassische Musik bis in ihre ‚Kostümierung‘ hinein in ihrem Gestus vollständig von der Unveränderlichkeit ihrer Inszenierungswelt des 19. Jahrhundert überzeugt. Barthes weist zu Recht darauf hin, dass die heutigen technischen Möglichkeiten der Beschallung gänzlich neue Spielarten von Raum- und Leiberfahrungen

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Die fingierte Rekonstruktion einer Situation kann demnach gerade im Status der Fiktion vom Ursprung als eines Abwesenden berichten, weil die Intention einer gegebenen Szene sich auf das Undarstellbare als eines Konkreten beruft, das mit einem magischen oder fetischistischen Sinn (Stimme) besetzt ist. Situation und Szene sind als solche aneinander gekoppelt. Es macht keinen Sinn, von einer „realen“ Szene zu sprechen. Andererseits darf die Fiktion nicht als eine bloße Erfindung angesehen werden, da sie sonst ebenfalls unter das Verdikt unkalkulierbarer Spontaneität fällt. Besser ist, sie im Sinne einer Divination als „Rückeroberung“ oder „Verstehen“ zu begreifen, die tröstend dem nie sich zeigenden „Vorweg“ einen medialen Aufenthalt beschert. In diesem Sinne argumentiert auch Hogrebe: Wie jede personale Begegnung ist der später sogenannte Sachbezug der Referenz in diesem Sinne ursprünglich ein partizipatives Resonanzphänomen. Wir sind in jeder Sachzuwendung nicht bloß aktiv oder passiv, sondern im Sinne der griechischen Grammatik ‚medial‘. Diese Medialität ist der bisherigen Erkenntnistheorie, die in der Regel bloß mit Handlungen und Widerfahrnissen operiert, völlig entgangen. Im Griechischen ist grammatisch schon jedes Sehen (aistanomai) nicht bloß ‚aktiv‘ oder ‚passiv‘, sondern ‚medial‘ verstanden. Im Sehen ist so schon eine Reflexivität eingebaut, die erkenntnistheoretisch nicht unterschlagen werden darf. [...] Im Sehen trete ich mir im Gesehenen immer auch als einem mich Sehenden entgegen.108

Bemerkenswert ist, dass Hogrebe sich von der Klangmetapher zu der des Sehens durcharbeitet, da doch vom Klang her die mediale Position eindeutiger als Selbstaffektion auszumachen ist. Das begleitende Verhältnis kann wiederum nur als Bewusstsein gedeutet werden, das in obigem Sinne eben nicht als autonomes Medium, sondern als Erlebnisform sich selbst fiktionalisierender Unterscheidung von Imagination und Realität kündet – und zwar so, dass die Fiktivität dafür sorgt, dass die Einholung tatsächlich nicht gelingt, dass also die Imagination vorweg nicht vollständig in Erinnerung aufgehen kann. Das ist ja unser primäres Problem: Wie kann in der Präsenz des Theatralen Erinnerung (Wiederholung von Realität) und Imagizulassen würden, wenn man die Schranke aktiv/passiv im Verständnis von Hören/Zuhören, Ruf/Stimmung fallen lassen würde. Vgl. Martin Zenck: Der Gegen-Raum/die Heterotopie und der virtuell-mobile/szenographische Raum. Überlegungen zu Michel Foucault und den „Répons“ und dem „Dialogue de l'ombre double“ von Pierre Boulez. In: Ralf Bohn / Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung und Ereignis. Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie. Szenografie & Szenologie Bd.1. Bielefeld 2009. 108

Hogrebe, Protodeixis, a.a.O., S.377.

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nation (unverfügbare Spontaneität) unterschieden werden? Im Moment der Identität würde nämlich die Dynamik des Bewusstseins erlöschen oder, moderierter ausgedrückt, wäre man zurückgeworfen auf eine paranoische Existenz. Die Pointe der Überlegungen Hogrebes zielt nicht auf ein erkenntnistheoretisches Bewusstsein, das in seine Objektivität durch die Eliminierung des subjektiven Anteils irgendwie sich gewahr würde, als Hüter der Selbst-Unterscheidung, sondern in einer Inversion des zeitlichen Ablaufs. Was wäre denn, wenn wir die Situation nicht als Grund, sondern als Motiv einer jeden Fingierung, Inszenierung begreifen – wenn die Szene nicht als Ort des Aufenthaltes einer undarstellbaren Vergangenheit, sondern als Zeit eines uns vorweg zukommenden Vernehmes aufgefasst würde, als etwas, was uns aus der Zukunft anspricht? Der Ursprung des Theatralen wäre das Theatrale selbst: als Praxis, die zu sich selbst zurückkehren könnte – über den Umweg der Selbstinszenierung. „Wo wir nicht definieren können, können wir ja immerhin noch explizieren“, stellt Hogrebe mit Frege fest, dessen Terminus „Gebrauchsweise“ aufgreifend.109 Unter „Gebrauchsweise“ wird die offensichtlich situative Stellung der Begriffe im Satz (à la Wittgenstein) verstanden. Sie, die Sätze als szenische Umschreibungen, „dienen dazu, wie auch Frege wörtlich sagt, ‚auf das Gemeinte hinzuführen‘.“ Sie sind als „Propädeutik“110 zu verstehen, deren provisorische Fingierung einer zukünftigen Ganzheit nicht als eine Setzung im Fichte’schen Sinne, also einem Akt der Selbstantizipation – der Gewalt –, sondern als ein Entgegenkommendes – als „entgegenkommender Sinn“111, wie Barthes sagt – verstanden werden kann. Die Inszenierung setzt also in mehrfachem Sinne etwas voraus, indem sie, einfach gesagt, die Zeitlichkeit (Dauer) in das Bild einführt und nicht indem sie die Fiktivität des Bildes in Raum verwandelt. Die Inszenierung setzt voraus und vertraut auf ein zukünftiges Ereignis, das sie selbst heimholen können wird. Die Finalisierungskompetenz wie die Freiwilligkeit am Spiel gibt auch dem Publikum eine mediale Position. Denn das Publikum, der andere, 109

Ebd., S.379.

110

Ebd.

111 Vgl. Barthes, Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, a.a.O.. Barthes bezieht

sich auf einige Filmausschnitte Eisensteins und auf die Frage, ob der Sinn sich aus der Montage und Geste aktiv entwickelt oder sich dem Dekor und damit dem Realitätsgehalt des Films verdankt. Er macht damit auf den Unterschied zwischen dem Filmischen und dem Film wie auf den des Bildlichen und des Bildes aufmerksam. „Das Filmische ist ebenso weit vom Film entfernt, wie das Romanhafte vom Roman (ich kann Romanhaftes schreiben, ohne jemals Romane zu schreiben.“ (S.64)

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das ist meine mir entgegenkommende/gedeutete Zukunft, das Für-anderefür-mich. Die Frage, ob das Inszenieren eine Manipulation, eine Täuschung oder ein Zaubertrick sei, stellt sich nur angesichts der Forderung nach einem ursprünglichen Geheimnis im Geheimnis des Ursprünglichen – also von der Allgegenwart der technischen Produktion und ihren Zeitkausalitäten, durch Knopfdruck die Zukunft als Wiederholung antizipieren zu können, so vorläufig sie in ihrem Vollkommenheitsversprechen auch sei. Doch die eine Bewegung der Zeit ist nicht ohne die andere. Beide treffen sich am dramatischen Ort der Szene – und zwar, weil sie sich als das jeweils andere ihrer selbst ausgeben können: keine Inszenierung ohne die Heimsuchungen der Technik, also ohne den Vorausblick auf die Reaktion, Affekte und Intention des Publikums. Inszenierung kann geradezu als eine Technik der Fingierung des Entgegenkommenden, der Erwartung aufgefasst werden. Sie braucht dann auch notwendig ein empfangsbereites Publikum. Die Darstellung dieser Konstellation genügt, um den Krisispunkt der Szene als einen Ort des Aushaltenkönnens der Abständigkeit von Realität zu erkennen. Als exemplarisch für diesen Ort der Klangversammlung und Ausbreitung kann die Architektur des Griechischen Theaters dienen. Die Architektur bildet auf vollkommene Weise die initiale Situativität des Medialen ab: Resonanz, Synchronität und Simultanität. Ihre Dramatisierung, also Selbstansicht setzt allerdings eine Störung dieser himmlischen Dreieinigkeit voraus, sodass die Vektoren und Motive sich nicht in einer Geste oder Antwort erschöpfen, sondern weitere Überschreitungen hervorrufen. Der Vorgang lässt sich von der Theatermaschine auf die Gesellschaftsmaschine übertragen. Indem drei Arbeiter in ihrer Arbeitssituation ein Produkt fertigen, dessen Gebrauchsversprechen den vorläufigen Zustand einer demnächst weitaus besseren Universalmaschine erstrebt. Das Produkt in seiner Realisierung wird durch die Idealität der Fiktion inszeniert. Andererseits zeigt der Zustand unserer kapitalistischen Produktionsweise das Simulakrum eines Welttheaters, in dem die wirkliche Welt mittels einer Reklame-Idealität als bloß vorläufige, mangelhafte erlebt wird. Solche Inversionen als Bemächtigungen der Weltinszenierung zu verstehen, ist schon ein Ansinnen barocker Inszenierungs- und Ingenieurskünste: Beide Künste haben sich auch noch als gleichrangig verstanden – vor allem in solchen Kreisen, denken wir an Versailles, in denen es einer fest hierarchisierten Ordnung der Gesellschaft verboten war zu arbeiten und damit in die Sphäre des Tauschkreislaufs von Realität einzutreten. Ihre Macht war symbolisch, das Theater niemals spontan. Solchen Ordnungen kann es erlaubt sein,

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zwischen der Realität und dem Theater der Repräsentation keinen Unterschied zu machen und den Horror der Langeweile und der Angst vor dem Tode durchgängig zu überspielen. Dieser sich selbst transgredierende Barock behauptet, dass die Reziprozität der theatralen Handlungen keinen anderen Effekt hervorrufte als den der monadischen Wiederholung (und der absoluten Langeweile). Das barocke Theater dachte den Anfang nicht als exklusiv, sondern erging sich in ewiger Vergegenwärtigung. Sinn war der Präsenz eines ewigen Festes gewichen: „Die barocke Illusion ist nämlich eine bewußte und gewollte, sie will nie die Seele verführen oder auch nur den Verstand täuschen, sondern immer nur die Sinne.“112 Im Umgang mit Maschinen gibt es in enklavischen Refugien eine theatrale Welt, die sich mit der Überschreitung der Zeitgestalten beschäftigt. Entgegenkommenden sind wir immer schon mit Szenarien der Krisenbewältigung zuvor. Inszenieren heißt, Deutungsmöglichkeiten schaffen, offerieren und dirigieren, und nicht, Bedeutungen liefern. Das Problem sticht als hermeneutisches hervor: Es gibt Deuter und Deutungen, und es gibt jene, die als Zuschauer die der Bedeutung vorausgehende Deutungsintention kreditieren, indem sie mit Geduld auf das ihnen Zukommende warten. Die Deutung hat eine Wahl schon entschieden. Sie handelt zunächst nicht. Die Initiation, die zur Handlungsinitiative führt, werden wir im Folgenden untersuchen.

112

Alewyn/Sälzle, Das große Welttheater, a.a.O., S.64.

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III. Der allegorische und der symbolische Blick a. Ein Paradigma: Die Präsenzauffassung barocker Inszenierungskünste Die Voraus-Setzung, kritisiert Heidegger – im Gegensatz zu Positionen des Triebs, der Kraft oder eines élan vital als – „Wider­ständigkeit“.113 Widerständigkeit steht quasi als Membran der Präsenz (Dasein) zwischen den logischen Modalitäten von Möglichkeit und Zufälligkeit. Der Realitätsbegriff, ebenso wie der des Subjekts und des Bewusstseins spielen beim Heidegger der „Kehre“ keine Rolle mehr; sie waren auch in Sein und Zeit schon ausgesetzt worden. „Möglichkeit“ kann als eine Aberation oder Amphibolie, ein Innehalten/Aussetzen von Wirklichkeit und somit als Initiation der Denkbewegung verstanden werden. Dieses Aussetzen der Wirklichkeit in einem „als ob“ der Darstellung (des Denkens durch die Sprache) erfüllt aber schon ein Gedanke der barocken Inszenierung, als Kunst die Gegenwärtigkeiten dauern zu lassen und damit eine Instanz des kontinuierlichen Bewusstseins als Phantasma vorzubereiten. Für den katholischen Barock ist typisch, dass Simultaneitäten und Reversionen der Zeit nicht abstrakt gedacht werden, sondern szenisch. Man kann die Theatralität des Barock als Reflexion einer Zeitgestalt auffassen, in der die Akzeptanz simultaner Weltkonzepte durch Inszenierung, Simulation und Zeremoniell gebannt worden ist, indem man die Macht über Möglichkeiten der Macht über die Realität vorzieht. Das hat zur Folge, dass nicht mehr an Werken (an der Widerständigkeit der Dinge), sondern am ästhetischen Scheinen, an Möglichkeitswelten Handlungen erprobt werden, die sie vereinigen. Zum Beispiel kann es sich Ludwig XIV. leisten, seine Macht als Kriegsherr dadurch beweiskräftig zu machen, dass er seine Widersacher nach Versailles einlädt und ihnen zeigt, wie der König den Blick eines jeden 113

Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S.209. „Realität ist Widerstand, genauer Widerständigkeit.“ Heidegger kritisiert eine „triebhafte“ Auslegung des Realitätsbegriffs bei Dilthey. Dagegen verweist er „auf das Phänomen der Sorge“ (S.211) und bestimmt Realität „grundlegender“ durch Existenz: „Die Substanz des Menschen ist die Existenz.“ (S.212) Auch Bergson hat auf diese Funktion des Widerstandes aufmerksam gemacht, moderiert jedoch den Vorgang logisch als Hemmung von Zeit: „Die Zeit ist das, was verhindert, daß alles auf einmal gegeben ist. Sie hemmt, bzw. sie ist eine Hemmung.“ Henri Bergson: Denken und schöpferisches Werden. Hamburg 1993, S.112. Als solches ist die Sorge Ausdruck einer ungehemmten Zukunft. Vgl. auch Stanley, Die gebrochene Tradition, a.a.O., S.257ff.

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nach Belieben entwenden und verführen kann. Ob man sich Versailles leistet oder den Krieg – das zu entscheiden hat der absolute Monarch die Möglichkeit. Er kann wählen. Er ist, wie Virilio sagt, im Krieg derjenige, der den Blick beherrscht. Die strategische Aufgabe ist die gleiche: die Möglichkeit auf die gesamte Wirklichkeit auszudehnen, d.h., die Welt mit einem symbolischen Schein der Mehrdeutigkeiten zu überziehen, um die Gegenwärtigkeit zu befreien, deren Zwang durch Arbeit vermindert wird. Also auch hier schon gilt die Unterscheidung zwischen Spiel und Arbeit, und zwar so streng, dass es dem Adel verboten ist, durch Arbeit Geld zu verdienen. Die Zeitauffassung des Barock – ich rede von seiner repräsentativen Spitzenleistung – ist davon eingenommen, die Negation des Ereignisses und der Realität, die Langeweile, das Warten auf den Zwang des Todes durch eine Welt der grotesken Gleichzeitigkeiten und Möglichkeiten dem Zufall oder Schicksal zu entreißen und in den Inszenierungstechniken, den Szenografien im engeren Sinne, beherrschbar zu machen, d.h., die Synchronizität der Situation der absolutistischen Machtstruktur nicht aus dem Auge zu verlieren. Im aufkommenden Roman, nicht zuletzt im Don Quichotte, wird mit den modalen Möglichkeiten als medialen Möglichkeiten des Buches noch intellektuell gespielt. Mangels realem Fixpunkt zerstreut sich die Langeweile in der Belebung der Sinne. Alles kann nun allegorisch mit allem verbunden werden, und wenn die Affekte kalkuliert werden können, dann lassen sie sich auch manipulieren. Auf diese Weise schafft es der Barock, ohne Reflexion unter Instrumentalisierung des göttlichen Auges eine monadische Welt, ein theatrum mundi zu etablieren.114 Die immer noch gegenwärtige Theatralität des Barocks als Warenkultur lässt verstehen, wie in jeder Fingierung des Imaginären der Realitätsaspekt (Widerstand) Verdinglichung hintertreibt. Für die Institutionalisierung des modernen westlichen Theaters ab dem 16. Jahrhundert wird plurale Medialisierung entscheidend sein. Während die realen Dinge in ihrer monströsen Gleichzeitigkeit und Beharrlichkeit den Tod des Ereignisses und die Herrschaft über die Präsenz sabotieren, muss es gelingen, alle 114 Die Barockmenschen „fühlen nicht nur, sondern sind ihrer eigenen Gefühle auch gewahr. Während ihre Herzen vor Erregung zittern, bleibt ihr Bewusstsein neutral und ‚wissend‘. Manch einem Betrachter mag das nicht gefallen. Nur sollten wir nicht vergessen, dass dieser psychologische Riss die logische Folge der historischen Situation ist und zugleich die Grundlage dessen, was wir die ‚moderne‘ Form von Imagination und Denken nennen. […] Nun bedeutet Bewusstsein, wie die Bibel besagt, den Verlust der Unschuld, auf der anderen Seite jedoch die Möglichkeit ‚wie Gott‘ zu sein, das heißt erhaben über das eigene Verhalten und Empfinden.“ Erwin Panofsky: Was ist Barock? Hamburg 2005, S.83.

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Hervorbringungen animistisch zu bekleiden: Die Allegorien, die Spieluhren, die Wunderkammern, die Falten, Drapperien und Zurichtungen der Natur tragen Spuren einer Wiederbelebung des Toten und einer Auslöschung der Schuld vergänglicher Zeit. Es beginnt eine Kommunikation über Intensitäten der Zeiterfahrung, in der nicht mehr die Nähe (Anwesenheit der Dinge) nur als Raumerfahrung und die Distanzen unter die Dominanz der Zeit fallen. Dieses Verhältnis von Nähe und Ferne ist der Grund dafür, „daß ältere Gesellschaften Raum und Zeit nicht vollständiger von einander ablösen können.“115 Die Art, wie über Zeit kommuniziert wird, ist nicht unabhängig davon, wie über Sachen (res) kommuniziert wird, und umgekehrt können in der Sachdimension des Sinnes Limitationen gesetzt sein, die die Möglichkeit der Zeiterfahrung beschränken. So steht in manchen älteren Kulturen die Zeit in engem Zusammenhang mit der Divinationspraxis; sie wird begriffen als Dimension des Verbergens (sowohl des Zukünftigen, als auch der Bedeutung von Vergangenem, als auch von Gegenwärtigem, zum Beispiel des Aufenthaltsortes von Dingen und Menschen) und sie wird daher mit Hilfe der Unterscheidung verborgen/offenkundig „lesbar“ gemacht.116

Auf diese Weise werden die Linie und die Falte zu einer noch nicht zu sich gekommenen Anschauung der Zeit, denn die Falte und die Monade sind Sachen, die offenkundig und zugleich rätselhaft mit der Präsenz auch im Modus der Abwesenheit spielen. Selbst das Tafelbild wird zu einem Bild, das, indem es herausfordernd darstellt, zeigt und verbirgt: Es zeigt sich als allegorisch-animistisches Objekt der Vermischung von Planung und Plastik in membranhaft osszillativ „vergoldeter“ Medialität, und nicht als ein Objekt der Verweisung auf Eindeutigkeit. Weil Allegorien vielfältigen Möglichkeiten der Deutung unterliegen, muss die richtige gewusst werden, um vom Darstellen als Zeigen auf das Darstellen des Gezeigten schließen zu können. Die Deutung wird zu einer Frage der Macht. Deuten im Sinne von Verstehen heißt in der Allegorie, das Geheimnis als Inszenierung zu sehen und zugleich nicht zu sehen; darin besteht die Simultaneisierungsleistung von Vorder- und Hinterbühne. Denn das, was sich zeigt, soll die Zeit als Produktionsfaktor, Schuld, Opfer und Arbeit als Zwang verbergen. Die Hierarchisierung des Sehens und der Beginn inszenatorischer Autorschaft im Concettismo verknüpft mit dem Wissen um 115 Niklas Luhmann: Gleichzeitigkeit und Synchronisation. In: Ders.: Soziologische Aufklärung

3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Wiesbaden 2005, S.99.

116

Ebd., S.94.

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Macht führen erst später über Umwege in die frühromantische Kunstauffassung, in der „das Imaginäre sehen“ heißt „zu reflektieren“. Reflexion ersetzt die Macht durch die Selbstbemächtigung. Ihre Voraussetzung liefert die Fiktion der Vernunft als Medium der Realitätsanschauung, von dem also die nachkantianische Philosophie sie wieder befreien will. In ihrer weltlichen Funktion ist die Allegorie seit dieser Zeit ein Bazillus gegen Aufklärung und eindeutigen Zeichengebrauch ebenso wie einer verhärteten Hermeneutik.117 Macht wird zu einer Frage der Darstellung (der Kunst), des Wissens (der Techniken) und der Reflexion (des Erklärens), aber sie lässt sich nicht mehr absolutistisch universalisieren. Das Theater als Aufführungsmaschine operiert zwar gegen diese Präferenzen des Sinns, zerfällt aber in ein spontanes Theater der Burlesken und in ein literarisches Theater der Mythologien. Seit dieser Zeit gibt es die Fehde zwischen der symbolischem und der allegorischen Lesart. Manfred Frank formuliert den Übergang so: Denn in der Kunst ist uns ein Gebilde gegeben, dessen Sinnfülle von keinem möglichen Gedanken erschöpft wird. Darum kann der unausschöpfliche Gedankenreichtum, mit dem uns die Erfahrung des Kunstschönen konfrontiert, zum Symbol werden jenes in Reflexion uneinholbaren Einheitsgrundes, der der Fassungskraft des dualen Selbstbewusstseins aus strukturellen Gründen entgehen muß. Diesen Typ von symbolischer Repräsentation nennt die Frühromantik in polemischer Absetzung vom klassizistischen Wortgebrauch Allegorie. ’Allegorein bedeutet: anderswie reden und anderes sagen, als man (es) meint. Man meint das Absolute und sagt das Relative. Darum, so lautet die frühromantische Demarche,

117

Vgl. dazu die instruktive Einleitung von Arthur Henkel und Albrecht Schöne in: Dies. (Hg.): Emblemata. Handbuch der Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart/Weimar 1996. Henkel/Schöne gehen ausführlich auf die Differenzen ein, die sich in der emblematischen Allegorie durch den Bezug von Motto, Pictura und Inscriptio ergeben und so Deutungen und Bedeutungen aneinander bildlich und textlich verweisen. Dabei ist es auch stets möglich, die Deutungsvorgabe als Reaktion auf die Inszenierung der Pictura „anders“ zu verstehen und somit den Verstehensprozess selbst transparent zu machen. „Die Wirkungen der Emblematik blieben keineswegs auf die Motivik beschränkt. Auch für die bildende Kunst, aber vor allem wohl für die Literatur hat sie vielfältig verwendungsfähige Darstellungsmuster und Strukturmodelle bereitgestellt. Ihre dreiteilige Anlage, ihre Kombination abbildender und auslegender Formen, ihre Doppelfunktion der Darstellung und Deutung haben offenbar sehr bedeutende und weitreichende Anregungen gegeben. Das Publikum dieser Zeit aber war durch die Emblembücher dazu angeleitet oder darin bestätigt worden, die Gegenstände, Figuren, Geschehnisse dieser Welt als verweisungskräftig, bedeutungsmächtig zu verstehen, und hatte durch sie gelernt, die in einer solchen sinnbildlichen Auffassung der Dinge gründenden emblematischen Formen auch andernorts zu begreifen.“ (S.XIX)

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gilt es, das Relative so sagen, daß im Gestus des Sagens das Gesagte zugleich vernichtet wird als das nicht Vermeinte. Das Geschieht durch die Ironie.118

Die Deutung selbst und die Inszenierung ihres Vollzugs sind im Barock Aufgabe derjenigen, die die rechte Deutung mit der rechten Technik lenken, die das Concettismo und die Inventio beherrschen – die Präsentationsformen der frühen Wissenschaften.119 Unter den Konzeptionisten des Dekors sind die professionellen Regisseure von Ereignissen aufgerufen, das künstlerische und technische Werk in Bewegung zu halten – gerade auch vorausschauend in die des Blicks, der – noch in Heideggers „Lichtung“ – als absolute Metapher von Präsenz gilt. Der point de vue wird der Nullpunkt der Szene, er richtet sich nach außen, auf die technisierte Realität, bevor er in der Reflexion das Innere erobert. Der Beobachter ist nicht länger passiv, er ist Gegner im Wettstreit der Sinne. Szenografie wird ein Handwerk, eine Technik und eine Kunst der Zeitgestaltung, Situativitäten als Möglichkeiten in Szenifikationen ohne Macht- und Bedeutungsverlust umzusetzen, erscheinen und verschwinden zu lassen. Als „Kunst“ im von Technik befreiten Sinne wird das erst viel später begriffen, am wenigsten noch in den Virtuosen der Musik und in der Funktion von Architektur. Denn von „Möglichkeit“ zu sprechen heißt nicht, eine Zeitfolge zugunsten aller anderen zu präferieren, sondern alle möglichen Konstellationen in einer Abfolge ihrer Momente, ihrer Szenen, Bilder und Gestalten transformieren zu können, die funktionale Lesart mit der symbolischen in Deckung zu bringen und quasi das monadische Drama der Verwandlung des Imaginären in das Reale als eine totalisierende Bewegung andauern zu lassen: Progression, Regression, Transgression. Es gilt die Frage zu erläutern, wie im Verstehen (eines anderen) nicht die Wiederholung als Identität auftritt, sondern die überquellende Maschine Macht erzeugt. Das ist die zentrale Frage des Barock, die Frage der Ökonomie der Macht, nicht die der Macht der Ökonomie. Durch technische Produktivität zugerichtete, ökonomisch und sozial organisierte Zivilisation, deren Trägheitszustand durch die Dauer der Dinge, Sachen und Institutionen versichert ist, richtet den Blick nach innen. Heidegger spekuliert mit Kant und im Sinne der Frühromantiker auf eine der Realität entgegengesetzte Zeitform, die Einbildungskraft, deren Flüchtigkeit 118

Frank, Stil in der Philosophie, a.a.O., S.62f.

119 Vgl. die in Bezug auf Inszenierung, Zeremoniell, Repräsentation, Desegnio und Con-

cettismo vorzügliche Studie von Hermann Bauer: Barock. Kunst einer Epoche. Berlin 1992, hier insbes. S.183ff.

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zu beherrschen sehr schlecht mit einer Vorstellung von Dauer, Vernunft und Bewusstsein beizukommen ist. Einbildungskraft ist eine nach innen gewendete Produktionsquelle, die die Modalität der Zeit intensivierbar und reversibel macht und so das Dasein unscharf werden lässt. In Bezug auf Kants Metaphysikvorlesungen bestimmt Heidegger das Einbilden als einen Zug, Präsenz nun irgendwie einkreisen zu können: Demnach besteht das Bildungsvermögen [der Einbildungskraft; R.B.]: 1. aus dem Vermögen der Abbildung, welches Vorstellungen der gegenwärtigen Zeit sind: facultas formandi; 2. aus dem Vermögen der Nachbildung, welches Vorstellungen der vergangenen Zeit sind: facultas imaginandi; 3. aus dem Vermögen der Vorbildung, welches Vorstellungen der zukünftigen Zeit sind; facultas praevidendi.120

Alle Modi können als zeitantizipierende Zeitproduktion festgestellt werden. Heidegger fährt fort: „Zeit als reine Anschauung heißt weder nur das im reinen Anschauen Angeschaute, noch nur das Anschauen, dem der ‚Gegenstand‘ fehlt. Die Zeit als reine Anschauung ist in einem das bildende Anschauen seines Angeschauten. Dies erst gibt den vollen Begriff der Zeit.“121 Das Korrelat dieser Zeit ist nicht ein Angeschautes, sondern etwas, das sich zeigt. Heidegger gibt an dieser Stelle keine weiteren Vermerke. Aber der Begriff der Performanz erlaubt uns zu vermuten, dass es sich bei diesem Produktivvermögen um eine Inversionsfigur von Zeit (Außen) und Zeigen handelt, also um eine mediale Dichotymie, deren Instabilität vorausgesetzt sein muss, damit Anschauung auch Anschauliches produziert. Man kann von der Resonanz dieser Instabilität sprechen, die sich scheinbar in der semiologischen Differenz objektivieren lässt. Gerade der semiologischen Anschauung gereicht das Fehlen der Zeitperspektive zum Vorteil. Sie ist situativ, nicht szenisch. So kommt Heidegger mit Kant zu einem Schluss: „Die transzendentale Einbildungskraft vielmehr läßt die Zeit als Jetztfolge entspringen und ist deshalb – als diese entspringenlassende – die ursprüngliche Zeit.“122 Die Szenifikation dient nun der Aufgabe, jenen Quellpunkt als „Zeigezeugen“ des anderen zu initiieren, der meinen Blick präformiert und lenkt. Die innere und die äußere Anschauung erweisen sich so als Konzept von etwas, 120

Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, a.a.O., S.168f. Zitation: Pölitz, Kants Vorlesungen über die Metaphysik, a.a.O., S.88, vgl. auch S.83.

121

Ebd., S.169.

122

Ebd., S.169f.

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das sich im Entzug zeigt. Daher kann man die Idee des Verbergens und Zeigens, die der Flügelaltar des Matthias Grünewald in den Zusammenhang mit der jahreszeitlichen Folge der Kirchenfeste stellt, die im Barock als Dauerfest organisiert wird, bei Heidegger als eine Gabe auffassen, die ob ihrer ironischen Negation szenische Einbildungen hervorbringt, die das Unerklärliche in Verstehensmomente untergliedern. Heidegger gibt zu bedenken, dass die Verhältnissetzung von transzendentaler Anschauung und ursprünglicher Zeit aus den „wenigen Andeutungen Kants“123 durchaus gewagt ist. Dennoch wird die These „die transzendentale Einbildungskraft ist die ursprüngliche Zeit“124 vom frühen Heidegger nach eingehender Untersuchung der drei Zeitmodi bestätigt. Und er geht noch weiter. Die „endliche Anschauung“ präzisiert Heidegger als „Sinn“, indem er sagt: „Die Form des Sinnes ist das reine Hinnehmen.“125 Sinngenese ist offenbar kein passiver Zustand, sondern jener der Mediation, von dem Hogrebe als einem Entgegenkommenden spricht, das der antizipierenden Zukunft der Techniken entgegengesetzt ist. Mit „Sinn“ ist nicht „Motiv“ gemeint, sondern das „ich denke“126 der mit der Plötzlichkeit des Bildes versöhnten Zeit – also der Zustand, von dem aus die Situation als „neutralisierte Zeit“ das Phantasma einer stillgestellten Anschauung als beruhigter Einbildungskraft annimmt. Aber dass die Zeit im Bild still steht, dies erweist sich als Phantom einer Bewegung, die sich auf der Ebene der Einbildungskraft abspielt. Für den Betrachter „zeigt ein Bild nicht etwas Reales, das nicht-anwesend ist, sondern das Bild zeigt etwas Nicht-Reales, das anwesend ist. Das heißt: Das Bild konfrontiert den Menschen mit einem ontologischem Freak: einem Phantom.“127 Für den Dritten erscheint die Situation aber als eine bewegungslose und zeitlose Versenkung ins Bild. Man kann den Blick nur über den Umweg einer List wieder in Bewegung bringen, nämlich mittels der Inszenierung von Zeigeakten, z.B. in einem Museumsbesuch, der Bilder verdeckt und sie in Konkurrenz zu anderen Bildern setzt. Die Inszenierung als Gabe von Autorschaften behauptet nicht, nach einem Wahlspruch Schleiermachers, „den Autor besser zu ver123

Ebd., S.170.

124

Ebd., S.181.

125

Ebd., S.185. Später wird Heidegger sich vor allem dem Problem der Technik im problematischen Kraftbegriff, einer aufgezwungenen Nähe widmen und versuchen, die transzendentale Anschauung durch eine kritische der Präsenz zu ersetzen, die sich als Unmittelbarkeit der Praxis zeigt. 126

Ebd.

127 Wiesing,

Sehen lassen, a.a.O., S.69.

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stehen als er sich selbst versteht“, sondern sie verweist auf das Ursprüngliche der Intention, auf das, was dem Autor selbst vorausgeht, nämlich die Möglichkeit, in Bewegung zu bringen und im Widerstreit zu zeigen, was sich an gleichem Begehren nach Dauer im Kopf des anderen abspielt: als dessen Einbildung. Sie will im Nachgang den Vorgang der Verinnerlichung nach außen tragen. Diese Bewegung ist eben nicht, wie die traditionelle Hermeneutik insbesondere mit Dilthey meint, nur ein historisches Problem, sondern ein prozessuales der Genese von „Selbsttechniken“, das sich im Übrigen eben nur mit der List der gefalteten, theatralen Zeit, nicht mit der auf ein stabiles „Selbstbewusstsein“ in Reflexion lösen lässt. Das Selbstbewusstsein ist eine beziehung zum anderen, derart, dass man in der Frage nach dem „Selbst“ auch die Frage nach dem Bild und damit nach dem Blick (des anderen) und seine Deutungsmöglichkeiten wieder neu denken muss.

b. Hermeneutik vor und nach Schleiermacher Die Formel „den anderen besser verstehen als er sich verstand“ geht auf Schleiermacher zurück. „Die Rede zuerst eben so gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber“128 übernimmt er in Hermeneutik und Kritik vermutlich von Friedrich Schlegel. Die wirkungsmächtige Bedeutung der Hermeneutik Schleiermachers kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Folgende Positionen Schleiermachers sind zum Verständnis hilfreich: Erstens: „Der Unterschied zwischen dem Kunstmäßigen und Kunstlosen in der Auslegung beruht weder auf dem von einheimisch und fremd, noch auf dem von Rede und Schrift, sondern immer darauf, daß man einiges genau verstehen will und anderes nicht.“129 (Das Motiv der selektiven Auslegung). Zweitens: Die Auslegung besteht aus zwei Methoden, der divinatorischen und der komparatistischen. „Die divinatorische ist die, welche, indem man sich selbst gleichsam in den anderen verwandelt, das Individuelle unmittelbar aufzufassen sucht. Die komparative setzt erst den zu Verstehen128 Vgl. zur näheren Quellenangabe der frühromantischen Bestimmung von Interpretation, Frank, Das individuelle Allgemeine, a.a.O., S.358. 129

Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament. Berlin 1883. Abgedruckt in: Manfred Frank: Hermeneutik und Kritik. Frankfurt am Main 1977, S.91.

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den als ein Allgemeines und findet dann das Eigentümliche.“130 (Inversion und die Reflexion des Individuellen und Allgemeinen). Drittens: „Nun können wir aber im Begriff des Gedankens folgendes unterscheiden: Sofern das Einzelne darin dominiert, hat er die Richtung, Bild zu sein, sofern aber das Allgemeine, Formel.“131 „Aber es folgt, daß wir es [das Ganze; RB] nur verstehen können, wenn wir die Genesis verstehen.“132 (Historische und aktuale bzw. technische und psychologische Interpretation – Beziehung auf funktionale Form und symbolisierten Sinn). Viertens: Schleiermacher bezieht sich in genetischer Rücksicht auf die Vorurteilsstruktur, die insbesondere durch die Infizierung des Bildes mit dem Allgemeinen gegeben ist. Es wird dann das Bild eines einzelnen Gegenstandes auf ein allgemeines Bild bezogen, ohne mit ihm identisch zu sein. Dies liegt aber nicht mehr im Gebiet der werdenden Begriffsbildung. Sofern wir von dieser abstrahieren können, haben wir also keinen Irrtum. Das falsche Beziehen ist ein Überereilen, das sich stets in der Form des Urteilens ausspricht. Es ist ein zu frühes Abschließen, ohne daß man die gehörigen Data hat.133

Die Inszenierung ist in ihrer divinatorischen Praxis eben nicht reflexiv theoretisch darauf gerichtet, allererst einen Vorgang zu provozieren, der von einem anderen mit Sinn versehen werden kann; das heißt, sie arbeitet mit der Entzugsform eines Negats. Was Schleiermacher unter „Verwandlung in den anderen“ (Divination) versteht, geschieht situativ vice versa simultan dem anderen. Hier lässt sich erkennen, wie sehr Schleiermacher dem Medium Text verpflichtet ist, würde er sonst doch das Allgemeine nicht als eine Formel (Codierung) auffassen, sondern als „die anderen“, d.h. als das, was dem Augenblick der Präsenz überhaupt erst einen Status von Nachträglichkeit („Sohnesstelle“) verleiht. Das bedeutet, die ursprüngliche Idee Schleiermachers bezieht sich auf einen „Urheber“, der selbst wiederum einer bestimmten Gesellschaft/Zeit angehört usw. und wichtiger noch: einer spezifischen Zeit der Verweisung zum anderen, d.h. der Geschichte und Techniken des Blicks. Das Interpretieren muss beide Agenten deshalb nacheinander 130

Ebd., S.169.

131

Ebd., S.211.

132

Ebd., S.212.

133 Friedrich Schleiermacher: [Ausgewählte Texte Schleiermachers zur Hermeneutik, Kritik,

Poetik, Dialektik und Sprachtheorie]. In: Manfred Frank (Hg.): Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Frankfurt am Main 1977, S.449.

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bewerten und verfehlt dadurch gerade die Situation, in der sie sich als aufeinander verwiesene gegenüberstehen. Deshalb begleitet die Szenifikation die duellhafte Position mit einem Blick des Dritten. Wie aber kann dieser motiviert sein als durch eine minimale Asynchronität der Dauer, des Allgemeinen, die einen der beiden Agenten als Deutenden präferiert. Dieses Allgemeine ist nicht mehr die tranzendentale Einbildungskraft, sondern die grundsätzliche Möglichkeit der Individualität innerhalb der vergesellschafteten Handlungen und Symbolisierungen. Diese kommunikative Situation so zu erfassen, entgeht nun Schleiermacher aufgrund der Tatsache, dass die Relation Deutender-Bedeutender nicht mehr, wie im Barock, unmittelbar lebendig ist, sondern durch jenen Text hierarchisiert, der selbst noch in der „Rede“ seinem „Urheber“ ein Primat zugesteht – und dieses Primat, das ist hier nicht eigens ausgewiesen, sei nun einmal seit Kant die Vernunft, wenn nicht ein sensus communis, auf dem sich Personen zueinander kommunikativ verhalten können, und nicht die Formeln der Medientechniken. Medienphilosophisch überbietet die Frage nach der Aufhebung der Paralyse des aufeinander verwiesenen Verstehens – in der der andere mir nicht erfüllen kann, was ich erwarte – die Tradition der Hermeneutik. Diese zeigt sich als grundsätzlich dramatisch und somit nicht auf Identifizierung und Identität aus. Man kann also andersherum sagen, die Inszenierung sei eine bestimmte – und hier verwende ich mit Absicht das Wort – „technische Weise“ der Interpretation – und zwar so, dass unter dem Fachbegriff „technische Interpretation“134 134

Schleiermacher unterscheidet zwischen grammatischer, psychologischer und technischer Aufgabe der Hermeneutik. Die technische ist nicht der Sprache und der Intention, sondern der Genese des Verhältnisses des Ganzen zu den Teilen, des Historischen (Allgemeinen) zu den aktualen Positionen (Stil) gewidmet und „beruht auf genauer Kenntnis der Eigentümlichkeit des Anderen im Verfahren des Denkens.“ Er benutzt den Terminus „Nacherfinden“, was nicht so sehr das Artifizielle einer „technischen Re-Produktion“ meint, sondern durch den Terminus „Divination“ in der Philosophietradition gedeckt ist. (Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, a.a.O., S.222). Vgl. auch Frank, Das individuelle Allgemeine, a.a.O., S.313ff. Frank kritisiert bei Gadamer, dass dieser den Terminus gemäß der „Dilthey- und Husserlschule“ mit „Einfühlung“ übersetzt. Das Stilphänomen weiste aber über eine semiologische oder linguistische Struktur hinaus und meint die Negatitäten oder Skansionen in ihrer zeitlichen Qualität, die als „Harmonie“ erfahren können würden. „Diese Harmonie ist keine Eigenschaft irgendeines oder auch aller Zeichen, sondern so etwas wie die synthetische Einheit ihrer unsichtbaren Skansionen, der Effekt der konstitutiven Leere zwischen den Signifikanten, die, durchs Symbol supplementiert, das Zeichen an seinen verdrängten Ursprung erinnert.“ (S.317) Diese Erklärung bringt die technische Absicht mit einer Ursprungssuche in Zusammenhang, die, metaphorologisch betrachtet, natürlich nur für eine „Nichtzeit“ den Spalt öffnet, der in der unendlichen metaphorischen Verschiebung sofort durch eine struktural gedachte Metapher besetzt wird.

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„mediale Differenz“ gemeint ist. Was aber geht dem Autor voraus? Doch wohl gerade die Nicht-Simultaneität dialogischer Individualität. Die Figur des Autors – wenn sie nicht gerade als Person namhaft wird – kann dessen eigene Einbildungskraft für sich nur reklamieren, indem sie von einem anderen als vorzeitig autorisiert wird. So bezieht sich in der Rede der Autor auf die Vorverständigung des Zuhörens. Diese erfolgt situativ und ist eine Handlungsform. Sie bestimmt die Initiation, aus der heraus die Interpretation sich als Bedürfnis nach Ursprünglichkeit formuliert. Um freilich dem, was die Worte sagen, dasjenige abzuringen, was sie sagen wollen, muß jede Interpretation notwendig Gewalt brauchen. Solche Gewalt aber kann nicht schweifende Willkür sein. Die Kraft einer vorausleuchtenden Idee muß die Auslegung treiben und leiten. Nur in Kraft dieser kann eine Interpretation das jederzeit vermessene wagen, sich der verborgenen inneren Leidenschaft eines Werkes anzuvertrauen, um durch diese in das Ungesagte hineingestellt und zum Sagen desselben gezwungen zu werden. Sie [die fundamentalontologische Interpretation; RB] ist vielmehr der Ausdruck des Versuches, das Wesentliche einer Grundlegung der Metaphysik ursprünglich anzueignen, d. h. der Grundlegung durch eine Wiederholung zu ihrer eigenen ursprünglicheren Möglichkeit zu verhelfen.135

Heidegger kennzeichnet das, was zu wiederholen ist, als die Seinsvergessenheit der „ursprünglichen Endlichkeit“136 des Menschen, die durch keine Anthropologie, wohl aber als Aufführungsnegat einzuholen ist. Reversiv dazu setzt er die „ursprünglicheren Möglichkeiten“, wie sie in der barocken Tradition aufgekommen waren. Beide Richtungen treffen sich im Status der Kunst und im Problem der Autorisierung von Autorschaft angesichts unendlicher, gesellschaftlicher Sprachinterventionen. Nicht nur die in Möglichkeit gesetzte Kunst, das Werk, sondern auch dessen Auslegung selbst werden zu Stil ist sozusagen das Verstehen der Präsenz und Gegenwärtigkeit eines Autors, sodass die positive Dimension der Divination das Fingieren dieses nie erscheinenden (‚horizontal‘ gleitenden) Ursprungs ausmacht. Die Pointe dieser Darstellung ist die, dass diese Präsenz eines „anderen Schauplatzes“ (Freud) vom Autor selbst nicht „gewusst“ sein muss. Lacan hat auf diese Position hin seine Bestimmung des Unbewussten aufgebaut. Frank geht, wie Schleiermacher, davon aus, dass die Sprache kein Substrat hat, das nicht durch Personen realisiert wird (S.320), sodass sich auch die Möglichkeit der Ableitung nur durch ein vorausgehendes, nachträglich indiziertes „Motiv“ ergibt, das zeigt, dass „die Interpretation [...] kein generativer, sondern ein interpretatorischer Akt eigener Ordnung [ist]“ (S.322), der der beständigen „Comparation“ zweier Individuen (oder „Gegenwärtigkeiten“) bedarf, um nicht „fanatisch“ zu werden. (S.328) 135

Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, a.a.O., S.196 und S.197.

136

Ebd., S.227.

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einer Kunstform der (Wieder-)Entdeckung ursprünglicher, also initiierender Möglichkeit. In diesem Sinne ist die Inszenierung als Form der Interpretation des Werkes zu verstehen, so aber, dass der Blick auf die Interpretation/ Inszenierung selbst als eigenständiges Werk beglaubigt werden kann. Diese Beglaubigung schränkt das Verstehen nicht auf einen definitiven Sinn ein, sondern zeigt die ursprüngliche dramatische Differenz, die die Sorge des Verstehens überhaupt erst entfacht: nämlich die Angst davor, die Kontinuität des eigenen Ichs in den Disparationen der Präsenzen zu verlieren und/oder in der unendlichen Dauer des eigenen Ichs die sich verändernden Bedingungen der Welt mir zu entfremden. Dazwischen, auf dieser kümmerlichen Membran der Subjektivität, kann das, was ich bin, sie wie auf einem Drahtseil schwebend gerade noch halten. Der Blick auf die Kunstform dessen, was als Fremdes integriert und wiederholbar gemacht wird, ist noch nicht alt. Vielleicht beginnt er mit den Wunderkammern botanischer und zoologischer Sammlungen als Einbruch in eine neue Welt – vielleicht beginnt er mit der Essayistik als Spiel mit den Möglichkeiten des Denkens und der Zeit. Sicher aber führt dieser Blick mit der modernen Nobilitierung des Regisseurs/Arrangeurs/Kurators/Szenografen/Choreografen/Intendanten eine Künstlertradition fort, die immer noch nicht den Anspruch an Autonomie und Intuition aufgegeben hat. Wenn man sich die Frage stellt, wer der Garant einer vorbedingungslosen Evidenz des Daseins sei, nimmt man sich aus der Situationen heraus und beginnt in Szenifikationen eine Produktion ohne Produkt zu simulieren, deren Sinn darin besteht, die Evidenzbedingungen, die als Inkorporationen des Sozialen (dessen, was mir vorausgeht) verstanden werden können, als vom anderen aus gegeben zu erfassen. Das soziale Feld oder die Struktur oder das System werden zu szenischen Modellen einer Praxis der Gleichzeitigkeit, die nur noch Nähe kennt. Evidenz schließt aber die Frage nach dem Grund aus. Im evidenten Sinne geht es bei jeder Inszenierung um die fingierte Produktion nicht kausalierbarer Zustände und Handlungen137. Kau137 Dass Handlungen nicht kausal sind, sondern motiviert, hat Frank unter Hinzuziehung des Divinations-Theorems Schleiermachers gezeigt. Frank, Das individuelle Allgemeine, a.a.O., S.324f. Vgl. auch Henrich, Denken und Selbstsein, a.a.O. Handlungen/Tätigkeiten beziehen sich nicht auf einen Mangel im Reellen, sondern auf die Grundlosigkeit (im Gegensatz zur wissenschaftlichen Begründung) des Subjekts: „Denn die Tätigkeit geht auf nichts anderes aus als auf die Stabilität des Subjektseins in Beziehung auf alle Dimensionen des Lebens und des Mitseins der Person in der Welt, in der sie positioniert ist.“ (S.217) So wird die negative Selbstbestimmung in der Positivität des Blicks des anderen als konstitutiver Mangel aufgefangen, entsprechend dem zentralen Argument Sartres, das

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salitäten brauchen keine Inszenierungen, da sie keine Möglichkeiten gelten lassen. Dieter Henrich spricht in dieser Hinsicht von der Selbststabilisierung der Subjektivität über und für andere, im dialogisch reziproken Sinne von „Handlungssituationen“ und nicht von „bewussten“ Konstruktionen, von Szenen.138 Auch wenn dieser Unterschied zwischen „Szene“ und „Situation“ (Praxis) im normalen Sprachgebrauch durcheinander gerät, scheint mir eine Festlegung genau in diesem, die Konstruktion der Subjektivität betreffenden Sinne maßgeblich. Jede Szenifikation setzt Individuation (unreine Anschauung) frei. Nur über diese Unterscheidung kann verstanden werden, warum die Freiheit des Spiels sich zugleich als legitime Infragestellung der personalen Selbstgewissheit des Subjekts versteht – einem Subjekt, das sich selbst aufs Spiel setzen muss, um sich als einen nichtabschließbaren Entwurf auf Zukunft hin auszuhalten. Einen Sinn, Inszenierung zur „Kunstform“ zu erheben, kann darin bestehen, den phantasmatisch unterstellten Ursprung als Ziel, das, was technisch nicht eintreten darf, im Werk zu fingieren. In diesem Sinne ist die Interpretation als Inszenierung ein „Zwischenzustand“, ein Dazwischentreten, eine Liminalität/Medialität. Auf diesem teils historisch, teils begrifflich argumentierenden Weg ist es plausibel, den Vorgang der Inszenierung einerseits von der Interpretation eines Werkes abzugrenzen, andererseits nicht von einer Relation Spiel-Ernst oder Arbeit-Muße abhängig zu machen. Es gilt, von der Irrealität der Selbstbestimmung und Selbstdeutung her die Unmöglichkeit als Möglichkeit positiv zu bestimmen. Ihr euphemistischer Begriff ist der der Freiheit. Die Suche wir gegen Heidegger einbringen werden. Wenn „in der wissenschaftlichen Welt [...] das Subjekt überhaupt keinen Ort mehr“ hat, dann ist das in dem Umstand zu sehen, dass „das Subjekt sich einen Grund voraus[setzt], weil es aus seiner eigenen Verfassung keinen Aufschluss über sich selbst zu gewinnen vermag.“ (S.54) Wir bestimmen nun, dass die Positivität des Blicks durch die Inszenierung als Darstellung eines anderen (des Intendanten oder Interpretanten) als Deutungsintention realisiert ist, und zwar, um nicht zugleich wieder mit der Welt zusammenzufallen, im Modus der Fiktion von Vergesellschaftung. 138 Henrich, Denken und Selbstsein, a.a.O., S.211ff. Dazu bedarf es aber der Erfahrung der

Begegnung „wirklicher Subjekte“ (S.215), da nur durch sie quasi die Leere des Verstehens im anderen diviniert und als motiviert verstanden werden kann. Warum sollte man sonst einen anderen verstehen wollen und nicht mit Gewalt vernichten, evoziert doch sein Blick mit Erschrecken eine Welt, deren Identität mir gleichzeitig mit meiner Welt prinzipiell verschlossen bleibt. Man kann aber verstehend (szenisch) in einer Welt sein. „Das bedeutet, dass jede Beziehung eines Subjektes auf andere Subjekte ihren Anfang mit der körperlichen Präsenz von Mitmenschen nehmen muss. Erst in der Folge kann sie auch eine der Formen indirekter Präsenz annehmen.“ (S.215) Die Logik des Theaters wäre von der körperlichen Präsenz her zu begründen und nicht vom Aufführungscharakter.

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nach Identität als Verfehlung derselben kommt in der anthropologisch nicht finalisierbaren (Selbst-)Inszenierung als Fiktion zur Darstellung. Fiktivität ist die Realität des Selbstbewusstseins. Die Szene ist stets die Produktivnachstellung und gleichzeitig das Dementi des Für-sichs der Selbsterkenntnis. Wir denken also auch Inszenierung als Offenbarung (Sich-Zeigen) dort, wo soziologisch keine funktionelle Unterscheidung von Zuschauer und Akteur vorhanden ist, da diese schon in der Selbstbeziehung des Selbstbewusstseins gründet und reflexiv kommunizierbar wird. In diesem Sinne ist jede Inszenierung die Reversion einer Produktivökonomie, die auf Verdinglichung aus ist und die Dinglichkeit animistisch negiert. So bin ich dreierlei: Subjekt als Inszenator von Selbstbewusstsein, Individuum als Initiator eines Einspruchs gegen die Instanz des „Vorwegseins“ und Person, die sich von Praxis zu Praxis als Dritter integriert.

c. Kafkaeske Formulierungen des Einspruchs Im Übergang von der Situation (Evidenz der Praxis) zur Szenifikation (Einspruch) geht es um die Frage, wer wann und durch was motiviert ist Einspruch zu erheben und einen Anfang zu setzen? Den Einspruch zu formulieren heißt zugleich, das Jetzt gegen seine Vorgeschichte abzuspalten. Kann man gegen sich selbst nur über den anderen Einspruch erheben? Wenn ich in einer Szene mich selbst oder eine Rolle spiele, dann besteht der Einspruch darin, in einer Inversion von Innerlichkeit mich mir selbst vom anderen aus vorzustellen. Erst wenn ein konkreter anderer hinzukommt, kann mir mein Zustand wirklich von Außen zukommen. Die hysterische Szene ist für sich selbst unfruchtbar, sie zeigt sich als das „Für-andere“, aber sie muss, um zur Zeichenkonvention zu gerinnen, in einem Drittenmoment aufgehoben werden. In den Gesten des Hasses beispielsweise sind zwar Körpertechniken immer schon symbolisch abgeleitet und im Symptom verstehbar. Das Symptom verbleibt aber unterhalb der Schwelle des Semantischen auf der mantischen Ebene: Es ist der Einspruch gegen die Unmöglichkeit, einen Ursprung des Einspruchs zu fassen und somit genetisch abzuleiten, die es so erschwert, ein Motiv, eine Urszene zu finden, die das Symptom reintegrierbar und szenifizierbar macht. Die hysterische Szene erhebt demnach Einspruch gegen die Symmetrie und Verspätung der Reflexion.139 139 Rudolf Heinz hat auf die Verschiebung der Termini Unbewusstes/Bewusstsein (Freud)

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Sartre hat den Analysen von individueller Deutung und sozialer Bedeutung seine Aufmerksamkeit geschenkt. Deren Tausch geschieht für ihn vornehmlich als Möglichkeit (Freiheit), im Spiel. Sartre fragt ganz konkret nach dem individuellen Einspruch in der Gemeinschaft, nach den Bedingungen für die Praxis und zugleich nach einer Strategie der Provokation dieses Einspruchs, gleich, ob dieser Einspruch ein Akt der Gewalt ist oder als Akt der Bewusstwerdung aufgefasst wird. Er stellt sich vor allem auch die Frage nach der Inversion des Selbstbewusstseins im Verlauf von Handlungen, als Philosoph, als Schriftsteller, als Autor und Regisseur. Wie können die Einsprüche (respektive Interventionen einer Szenografie) des Individuellen in die Gesellschaft reintegriert werden? Wie können aus praktischen Situationen kritische Szenifikationen werden? Die Reintegration bezeichnet die Arbeit des Verstehens. Wie aber soll verstanden werden können, wenn der Einspruch sich als Symptom, als nicht abzuleitende Individualität formuliert? Hier gilt es, die Frage des Verstehens einer jeden „revolutionären Aktion“ zu stellen. Sartre geht stets von der existentiellen Situation aus, also von einem Schema der Praxis, das er Hexis140 nennt. Was liegt nun näher, als die Vorarbeiten Sartres, insbesondere die des Theaters der Situation, für eine Initiative zur szenologischen Fragestellung zu sondieren? Wie Heideggers Kehre bezeugt, muss man nicht im Ungrund des Seins recherchieren, wenn das Geheimnis das ist, was uns in unmittelbarer Nähe, in der Aktualität der Alltäglichkeit umgibt: die Präsenz. Wie wir festgestellt haben, ist das Unsagbare nicht der verlorene Ort einer archäologischen Verdeckung, sondern die Evidenz und Banalität des Spektakels der Gleichzeitigkeiten. Die Inszenierung kann als Einspruch diese Distanz der Zeit („Zeitspielraum“) initiieren und sich gegen die Banalität absetzen, wenn sie mit dem Versprechen einhergeht, dass, einmal in der Szene befangen, aus ihr auch wieder hinausgefunden werden kann – dass sie also eine Präsenz mit festgelegter Dauer ist. Die Transluzidität von Selbstbewusstsein hat ihre Realität darin, sich verfehlen zu müssen, aber doch in einem gewissen Rahmen, der das dioauf die Momente von Erklären/Verstehen bei Sartre hingewiesen. Vgl. Rudolf Heinz: Jean-Paul Sartres existenzielle Psychoanalyse. Korrektur der Metapsychologie und narzißmustheoretische Antizipation. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Bd.LXII/1. Wiesbaden 1976, S.61-87. 140 Mit „Hexis“ ist im traditionellen Sinne der „Habitus“ als Seinsweise oder Grundstimmung gemeint, die durch Kultur und Gesellschaft vermittelt ist. Dazu gehören dann auch solche pathoplastische Formen wie Symptome als Spuren einer Befindlichkeit, die teilweise aus der Hexis heraustreten.

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nysische Umherstreifen oszillierend-medial auffängt. Das ist die Funktion des Symbolischen. Der Einspruch ist somit als Reaktion auf die Initiative der Inszenierung geschieden, und zwar dadurch, dass er sich positiv formuliert und dass das Subjekt des Einspruchs vom anderen, den es abwehrt, zugleich die Reintegration erwartet. Das aber heißt, schon in der Inszenierung ihre Totalisierung als Paranoia abzuwehren, den Ablauf strategisch vorherzusehen und sein Ende in der Realisierungsaneignung einer Autorschaft vorherzubestimmen. Die Inszenierung unterscheidet sich vom Spiel durch die strategische Komponente ihrer Zeitform, welche nicht durch einen Körpereinspruch wie Müdigkeit, Hunger, Schlaf begrenzt ist, sondern vornehmlich durch Aufmerksamkeit, also durch die Anerkennung des anderen. Einer der Schriftsteller, die sich mit den Fugen funktionaler und symbolischer Weltauslegung auseinandergesetzt haben, ist Kafka. Er erzählt folgende Parabel vom Einspruch wider das entgegenkommende Vernehmen: Auf der Galerie Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde [...], wenn dieses Spiel [...] sich fortsetzte [...], begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind – vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, riefe das: Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters. Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen; [...] – da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlussmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.141

Die Praxis der Inszenierung, so schreibt Kafka, beraubt dem Galeriebesucher des aggressiven Einspruchs seines Selbstbewusstseins. Er nimmt die Deutung an, die ihm zu sehen inszeniert wird. Der Einspruch erfolgt auf der Ebene des Textes als einer möglichen anderen Interpretationsvorgabe, die als mühselig und arbeitsreich den Alltag der Kunstreiterin vor die Demonstration ihres schwerelosen Könnens setzt. Inszenierungen – gar so markante und durchdringende wie die des Zirkusses, kontinuieren die Evidenz zwischen dem Ideal der Vorstellung und den Brüchen der Realität; werden im Kreislauf 141

Franz Kafka: Auf der Galerie. In: Ders.: Sämtliche Erzählungen. Frankfurt am Main 1980, S.129. Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich einem gemeinsamen Seminar mit Heiner Wilharm.

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des Lebens eingefangen als notwendige Stabilisierungen; verhindern, dass eine Differenz den Einspruch aufnötigt, zumal dann, wenn die schändlichen Produktionsbestimmungen der ästhetisierten Produktdarbietung nicht auffliegen. Nun habe ich die Parabel an jenen Stellen unzulässig gekürzt, an denen Kafka die Realität der „schwankenden“, „unermüdlichen“, „erbarmungslosen“ Darbietung der Kunstreiterin funktional, d.h. durch die Reihung der Satzkaskaden quasi auch akustisch zirkuliert und intoniert. „In die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft“ (Kafka) der Produktion, in der der Beifall des Publikums und die „Dampfhämmer“ der Industrie ein und dasselbe sind, sind die literarische Inszenierung und die Darbietung der Kunstreiterin durchgestaltet. Im zweiten Teil des Textes dagegen sind beide Ebenen, die funktionale, die den literarischen Kunstcharakter der Parabel ausmacht, und die des Zirkusgeschehens als offensichtliche Inszenierungen/ Vorspiegelungen durchgeführt. Kafka gibt die zweischneidige Illusion der Inszenierung als Motiv des Einbruchs des anderen zu bedenken, der gar nicht so recht weiß, ob er mit Applaus oder mit Pfiffen die Darbietung zu quittieren hat – ob er sich an die symbolische oder die funktionale Lesart halten soll. Die Zweifel halten sich nur so lange, wie die tatsächlichen, industriellen Produktionsbedingungen auch dieses Zirkusschauspiels im Rund der Manege als unendlicher Rundlauf in eine „öffnende, graue Zukunft“ sich nicht szenisch begrenzt. Die unendliche Karussellfahrt der Kunstreiterin mag in Wirklichkeit nur wenige Minuten dauern. Die Einübung der Techniken, die die Darbietung so leicht erscheinen lassen, sind aber der Fond unendlicher Produktionsmühen, die im „schweren Traum“ sich verausgaben: als Träne der Rührung, als melancholische Geste an die Unverhältnismäßigkeit des Trainings, der Mühen, der Opfer. Emotionale Affekte, Weinen als Selbstmedialisierung sind die Produkte dieser Zirkusnummer, nicht der Einspruch des „Halt!“, über den die Szenifikationen hinwegfließen. Das Kafkaeske an der Parabel sind tatsächlich ihr parabolischer Aufbau und die Weigerung des Galeriebesuchers, sich der vorherrschenden Inszenierung anzuschließen, im traurigen Wissen, dass, ganz gleich, ob man die leichte oder die schwere Variante der Darbietung erfüllt sieht, die Opfer entweder aufseiten der Kunstreiterin oder aufseiten des Besuchers auflaufen, keinesfalls aber entsorgt werden können. Die Enden der Parabel werden zur Möbiusschleife gebogen, und dort, wo sich die beiden Kreise ein- und derselben Manege treffen, könnte der Einspruch geschehen, der die Situation aufklärt: das Opfer der Produktion und die Perfektion der Aufführung. Kafka belässt den Einspruch im Konjunktiv. Mit ihm wäre zwar das Erwachen erfolgt,

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aber wohinein: in jenen unendlichen Kreislauf der Produktion/Konsumtion, in den hinein man fallen würde, wenn man das Verhältnis von Opfer und Gewinn als Schuldökonomie durchschaut. Durch welchen Popanz kann die Darbietung sich als große Nummer gegenüber dem Trainingsaufwand rehabilitieren? Sie tut das als Inszenierung, als Überschussveranstaltung, die sich über ihr Negat (Arbeit) als Möglichkeit und Möglichkeit der Wahl hinwegsetzt. Welchem Maschinisten hätte der Galeriebesucher sein „Halt!“ entgegenzuschleudern? Wird er von der Inszenierung auf den „Chef“ verwiesen? Der aber treibt nicht mehr nur die Inszenierungsmaschinerie an. Er ist auch aktiv im Spiel dabei. Der Galeriebesucher sieht, dass er nach dem Salto mortale „schließlich die Kleine vom zitternden Pferde hebt, auf beide Backen küßt und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet.“ Auch die Hexis „Chefsein“ ist nur eine „Nummer“. Wenn erkannt wird, dass die Kontingentierung in sich die Markierung des Selbst als einen Schutz oder Vorbehalt gegen die radikale Identität (Traum) bannt, so kann kein intrinsischer Grund aufklären, welcher Autor „den Wächter des Schlafs“142, den Traum vertreibt. Wer also formuliert den Einspruch? Das Ende des Inszenierens, das „Halt!“ selbst, und sei es eben fingiert, behauptet sich als einziger Moment, die Inszenierung als solche wahrzunehmen. Das Ende der Bewegung offenbart den leeren Signifikanten, den blinden Fleck der Inszenierung, da die symbolische Erzählung (Kafkas Parabel) und die funktionale Darstellung (des Lesezeitraums) für den Galeriebesucher nicht identisch sind: Der Text muss diachron Produktion und Konsumtion abarbeiten, versucht dieses Nacheinander durch den Konjunktiv aufzuhe142

Vgl. den Artikel „Aufwachen als Motiv des Träumens und der Traumdeutung“ von Hans Ulrich Reck. In Ders.: Traum. Enzyklopädie. München 2010, S.308ff. Tatsächlich ist die Lage ähnlich komplex wie die der Fiktion in einer Inszenierung. Innerhalb ihrer Darstellung ist es nicht möglich, „Wirklichkeit“ zu lancieren. Man kann also auch nicht eine Inszenierung für beendet erklären, nur weil der „Vorhang“ fällt oder das Wort „Ende“ im Film erscheint. „Was ist das nun, ein Traum, der seine eigene Erinnerung nur als Traum ermöglicht? Vielleicht ist dies der ‚wirkliche‘ Traum vom Aufwachen, da es ja nicht um das Aufwachen aus dem Traum geht, sondern um die Erweckungsqualität des Traums.“ (S.310) Ist dann dieser Traum vom Traum schon „nur“ Imagination? Dass es sich beim Traum um die Selbstdarstellung der physiologischen Selbstpräsentation handelt, zeigt Rudolf Heinz: „Schon von dieser allgemeinen Traumverfassung aus kann deutlich werden, daß es im Traum nichts anderes geben kann als die Permanenz der Selbstdarstellung/der Autosymbolik der ‚funktionalen Phänomene‘ dieser in sich gegenläufigen Bewegung, die allererst unter der weiter erklärbaren Kondition ihrer pseudologischen Autonomisierung den Stoff der längst verkommenen Inhaltshermeneutik von Träumen liefert.“ Rudolf Heinz: Somnium Novum. Zur Kritik der psychoanalytischen Traumtheorie Vol. I. Wien 1994, S.64; dort auch ein längerer Exkurs zum „funktionalen Phänomen“.

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ben. Der Galeriebesucher aber sieht Arbeitsaufwand und ihre inszenatorische Aufhebung synchron, sodass er keine Möglichkeit der Transzendierung hat. Die makroökonomischen Akzelerationen (der Kreislauf des Agon, die Motorik der Maschinen) haben an der gleichen unaufhaltsamen Bewegung teil wie die mikroindividuellen der Kontinuierung als Bewusstseins, das mit einem Programm der Selbstinszenierung der Symptomatik (Weinen) einspringt, um sich nicht tot laufen zu müssen. So ist denn jedes Bewusstsein von Inszenierung unerbittlich an die Situation einer Nichtinszenierung gefesselt, die es als hermeneutischen Grund herausfordert, nicht aber positiv belangen kann. Deswegen ist das Publikum immer ‚die anderen‘, aber es ist zugleich der subkutane Grund der Einheit und Totalisierung der Inszenierung. Kafka sagt, dies sei nicht die Heldengeschichte einer Kunstreiterin, diese Parabel folgte nicht der üblichen Erzähltradition, in der Anfang und Ende einer Erzählung dialektisch den wahren Ort der Geschichtlichkeit von der Geschichte trenne. Die Parabel sei funktional und symbolisch diejenige Form, die den Kreis sprenge, sie sei der schriftstellerische Einspruch, den der Galeriebesucher nicht wagt. Wann hätte man sein „Halt!“ in die Manege zu werfen? Nicht, wenn die „graue Zukunft“ von der Austeilung des „Glücks“ getilgt wird –, ja wenn überhaupt der Kreislauf der Zeit und des Gedächtnisses getilgt wird, der Traum seine zeitlose Herrschaft antritt –, sondern wenn die offenkundige Indifferenz der beiden Möglichkeiten der Interpretation (symbolisch vs. funktional) sich als heterogen erweisen, kurz, wenn die Inszenierung keine Synchronitäten für die gedachte Dauer ihrer Aufführung herstellt. Das erklärt nicht, warum es in der Mikroökonomie des Subjekts,selbst im Konjunktiv nicht möglich sein sollte „Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters“ zu rufen. Der Einspruch gegen sich selbst ruft sofort das affektive Symptom auf den Plan,143 zumal das sentimentale Weinen die Indifferenzierung zwischen dem Erhabenen und dem Profanen leistet und das allgemeine Syndrom internalisiert. Hier liegen die szenologischen Schwierigkeiten, aber auch die Chancen. Dirk Baecker hat das aus sozio143 Ich verweise erneut auf die Erklärungen Panofskys zur Spaltung des barocken Bewusstseins: Schuld auf der einen, Göttlichkeit auf der anderen Seite, die die Trennung von „Emotion“ und „Reflexion“ bewirken. „Sentimentalität ist nur ein negativer Aspekt dieses neuen Bewusstseins (wenn das Individuum seiner Gefühle nicht nur gewahr wird, sondern sich ihnen auch bewusst hingibt); ein anderer negativer Aspekt – und das logische Korrelat zur Sentimentalität – ist die Frivolität (wenn das Individuum seiner Gefühle gewahr wird, sie aber mit einem skeptischen Lächeln herabsetzt oder sogar zersetzt).“ Erwin Panofsky: Was ist Barock? Hamburg 2005, S.83 u. 87.

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logischer Sicht folgendermaßen formuliert: „Von einer Variation ist unter den Bedingungen sozialer Systeme, das heißt mit Blick auf die Fortsetzung von Kommunikation, immer dann die Rede, wenn jemand ‚Nein‘ sagt und damit einen Konflikt anbietet.“144 Allerdings ist die Emphase des ‚Nein!‘ in Bezug auf Inszenierungen meist nicht ausdrücklich, da die szenische Darstellung des Einspruchs sich in einer doppelten Negation aufhebt. Zudem: Man weiß heute nicht (und früher noch weniger), ob Clacqueure oder Schauspieler nicht schon im Publikum platziert sind. Denn gerade im dramatischen Widerstand wird die Szene intensiviert. Das gilt nicht nur für die klassischen Theaterformate, hier aber insbesondere. Hier nähern wir uns für das Theater einschlägigen Fragestellungen, weil die Dramaturgie, die das Theater interessiert, eine Dramaturgie des Umgangs mit Konflikten, ihrer Zündung, ihrer Ausbeutung, ihrer Beilegung ist, und weil sich keine Geschichte weder des Dramas noch der Komödie erzählen ließe, ginge es nicht um Inszenierung der Art und Weise, wie in sozialen Situationen das Nein und der Umgang mit dem Nein inszeniert, das heißt vorgeschlagen, ausprobiert, zurückgenommen, unterstrichen, abgeschwächt und abgelenkt wird.145

Umso eher darf also das „Nein!“ oder „Halt!“ kein extrinsischer Bestandteil der Aufführung sein. Die Ironisierung des Einspruchs gelingt zwar auch (man lädt die Kritiker ein und hofiert sie), aber nur dann, wenn die Kontexte des Einspruchs sich nicht während der Aufführung entfalten. Was deutlich wird, ist, dass die theatrale Situation sich durch den Widerspruch oder Agon bedingt reproduziert, der in seiner institutionellen Form die Situation der Protagonisten formiert, die einander Einspruch üben können, wenn sie das auf gleicher, protomedialer Ebene tun, also im Rahmen des Inszenierungsarrangements. Allein die Überschreitung von mehrfachen Kontextualitäten und Widerständen – und keine wie auch immer geartete Definition – kann den Unterschied von Spiel und Ernst (Arbeit), Situation und Inszenierung, Wirklichkeit und Kunst deuten. Die Überschreitung ist in hedem Fall einen Handlung, deren Folgen nicht kalkulierbar sind. Kunst wäre dann das Register einer Welt, die sich zu schnell mit ihrer eigenen Wirklichkeit verwechselt und in dieser Verwechslung stillstellt; und sie wäre dieses Register im Medium einer Menge von Neins zu jedem einzelnen Aspekt dieser Wirklichkeit. Diese Neins zerstören die jeweils negierte Wirklichkeit nicht, so sehr sie auch für einen Moment aus diesem Eindruck ihre eigene durchaus 144

Dirk Baecker: Wozu Theater? Berlin 2013, S.26.

145

Ebd., S.27.

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positive Lust, ihren Übermut gewinnen mögen, sondern sie zählen sie, das heißt, sie unterscheiden sie in ihrem eigenen Zusammenhang und geben ihr eine Stelle, die in diesem Moment so streng bezeichnet wie auch bereits relativiert ist. Genau das heißt Reflexion.146

Das Selbstverhältnis der Reflexion formiert sich als Einspruch. Das „An-sich“ hat, weil es ein Provisorium, eine Kulisse der Not des nie abbrechenden autopoietischen Imaginären ist, selbst Anteil am „Für-sich“ – und zwar genau in dem Moment, in dem es sich selbst als das kenntlich macht, nicht was es ist, sondern als das, was es nicht ist. Es ist gleichsam bei Bewusstsein nur, wenn es unlösbar in medialer Resonanz mit der Welt steht. Bewusstsein ist immer intentional, sagt Sartre mit Husserl.147 Damit wird jede produktive Entäußerung zum Teil meiner Sache, der es um sein „Fürsich-für-andere“ zu tun ist. Eine leibhafte Grenze lässt sich zur Welt gar nicht ziehen, eine körperliche schon. Die durch das Phantasma der Kontinuität des Bewusstseins versichernde Wirklichkeit geht in diesem Spiel nicht verloren, sondern wird im Medium ihres Verlusts gewonnen. Die Wirklichkeit ist genau das, was übrig bleibt, wenn ihr Spiel durchschaut wird. Sie benötigt die Fiktion, um sich als deren Anderes zu behaupten, so sehr dann auch die Benennung dieses Anderen wieder dem Verdacht der Fiktion verfällt.148

Wenn aber der Körper eine Grenze darstellt, die sich artifiziell über Armaturen der Sinne und Prothesen in die Welt hinein oszilliert, dann wäre von ihm aus der Einspruch zu begründen, der die Inszenierung von einer anderen Inszenierung abtrennt, damit sie als solche erkannt werden kann. Müdigkeit, unangemessene Lautstärke, falsche Bestuhlung oder eben, im Falle des Galeriebesuchers, sentimentale Selbstaffektion und nicht nur eine unsinnliche Dramaturgie sprengen vielleicht mehr Inszenierungen als intellektuelle Bedenken. 146

Ebd., S.107.

147 Vgl. Jean-Paul Sartre: Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intenti-

onalität. In Ders.: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931-1939. Reinbek 1982, S.33-37. „Sein, sagt Heidegger, ist In-der-Welt-sein. Verstehen Sie dieses „In-Sein“ im Sinne von Bewegung. Sein ist in die Welt zerbersten, von einem Nichts an Welt und Bewußtsein ausgehen, um plötzlich als-Bewußtsein-in-die-Welt-zu-zerbersten. Wenn das Bewusstsein versucht, sich wieder zu ergreifen [...,] dann vernichtet es sich. Diese Notwendigkeit für das Bewußtsein, als Bewußtsein von etwas anderem als von sich zu existieren, nennt Husserl ‚Intentionalität‘.“ (S.35) 148

Baecker, Wozu Theater? a.a.O., S.165.

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In Analogie zur Leib-Körper-Problematik betrachten wir noch einmal den Textkorpus bei Kafka. Das Kafkaeske liegt in der Identität von symbolischer und funktionaler Lesart vor, die eine äußerste Opaizität und Hermetik der Parabel (von der literarischen Form her eine Ellipse mit zwei Zentren; von der inhaltlichen her ein nicht ganz konzentrischer Kreis) garantiert. Indem die Choreografie der Denkfigurationen allein durch gegensätzliche Partikel markiert sind – „wenn ... dann“, „nicht so ... aber so“, „eigentlich ... uneigentlich“ –, die sich gegenseitig aufheben, fehlt tatsächlich der normierende Posten einer übergeordneten oder externen Perspektive, selbst vom Rund der Galerie aus. Es fehlt der Zirkusökonomie einen Widerspart des Zentrums, eine hyberbolische Bewegung, Fluchtlinie. Der mögliche körperliche Einspruch (die Musik macht zu viel Lärm, die Sicht ist verdeckt, die Bänke sind zu hart, die Scheinwerfer blenden etc.) verrinnt wie die Tränen des Träumenden. Nicht nur dies ist eine Entkörperlichung, auch die der Kunstreiterin wird im endlosen Applaus (wenn nicht schon durch die Artistik der Darbietung) prolongiert als schwebende Figur. Wir können es als eine List Kafkas bezeichnen, den Traum respektive den Wachschlaf an die Stelle des Körpereinspruchs zu setzen. Der Traum, so lehrt Freud, ist jedoch beides, Wächter des Schlafs und physiologische Markierung des Erwachens. Das funktionale und physiologisch funktionelle ist mit der kafkaesken Szenifikation identisch. Auch der Traum hat kein Zentrum, er ist sich selbst Subjekt. Freud macht uns in Die Traumdeutung mit dem Phänomen der Einspruchslosigkeit bekannt, die in der Interpretation, der Traumanalyse gerade jenes Moment der ursprünglichen Anschauung, also der Zeitgestalt zu erlösen hat, von dem Heidegger als „Seinsvergessenheit“ spricht. In diesem alltäglichen Zustand ist Subjekt nicht das Zentrum der Praxis, es verhält sich praktisch (Hexis). Genau das aber muss als das Unbewusste des Aktualsubjekts angesehen werden. Für diese Überleitung müssen folgende Stationen geklärt werden: Was versteht Freud unter „Funktionalität“, was unter „Symbolismus“, und wie formuliert er aus psychoanalytischer Sicht den Einspruch als Hinwendung zum anderen (Selbstansicht des anderen im inkorporiertem Symptom). Denn Kafka setzt das Syndrom (maschinisierte Arbeit) und die Zwanghaftigkeit (Symptomverhärtung) an die Stelle des beobachtenden Subjekts. In der Begleitung Freuds hier und an anderen Stellen geht es uns nicht um den psychoanalytischen Gehalt der bezüglich des Traums doch eher technischen Analysen Freuds, sondern um die anmaßende Frage, wie denn so

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etwas wie „situative Normalität“ als eine Art Wachtraum überhaupt möglich ist, wenn die ökonomische Zirkulation unaufhörlich Aufmerksamkeit erfordert, die sie in den Designinszenierungen kompensiert. Die Frage nach individueller Identität ist aporetisch. Wir haben aber mit Kafka zeigen können, dass die Zirkulation nicht in sich selbst zurückkehren kann, weil der Produktions-Konsumtionsübergang nicht opferlos aufgeht. Die Ökonomie des Selbst ist kein Perpetuum mobile. Hier zeigt sich die Inszenierung als eine Aberation ökonomischer Symmetrien, die nicht in Identität kompensiert werden können. Der Traum selbst sagt niemals aus, ob die von ihm gebrachten Elemente wörtlich oder im übertragenen Sinne zu deuten sind. [...] Es ist im allgemeinen bei der Deutung eines jeden Traumelementes zweifelhaft, ob es: a. im positiven oder negativen Sinne genommen werden soll (Gegensatzrelation); b. historisch zu deuten ist (als Reminiszenz); c. symbolisch oder ob d. seine Verwertung vom Wortlaute ausgehen soll. Trotz dieser Vielseitigkeit darf man sagen, daß die Darstellung der Traumarbeit, die ja nicht beabsichtigt verstanden zu werden, dem Übersetzer keine größeren Schwierigkeiten zumutet, als etwa die alten Hieroglyphenschreiber ihren Lesern.149

Freud bezieht dennoch das Traumgeschehen auf sich als demjenigen, der beabsichtigt zu erklären: eine Traumerzählung und somit eine Verwandlung einer Szenifikation in einen Text. Aus der Erzählung im Setting der Psychoanalyse müssen die Verschiebungen und Verdichtungen reinszeniert werden, weil im Traum der prozessuale, also zeitliche Ablauf reine Intensität ist. Jedenfalls trägt die Darstellung des Traums für den Träumer und den Analytiker Merkmale einer Aufführung, deren Skript erst nachträglich erstellt wird und zur analytischen Situation gar nichts beitragen kann. Der Traum ist eine Art Deutungsmetapher, in der das Dokumentierte und die Dokumentation im Idealfall synchronisiert sind, um so den Konflikt als Asynchronie signifikant werden zu lassen. Ein Einspruch erweist sich nur innerhalb gewisser Grenzen des medialen Gebrauchs möglich, die Freiheit somit in der Aporie beschränkt. Offensichtlich geht beides – wie in Inversionsfiguren in actu – gleichzeitig, während die szenische Selbstdeutung die Diachronie davon entwickeln muss: 149

Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Frankfurt am Main 1982, S.284; Kap. VI. D. „Die Rücksicht auf Darstellbarkeit.“

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Das heißt,, was gleichzeitig ist, muss in einem Nacheinander interpretativ entfaltet werden können, als Inszenierung verifiziert werden. Vom Diachronen aus, von der Textvorlage z.B., lässt sich dann jederzeit die synthetische Szene reanimieren, als individuierte Lesung oder Aufführung. Man kann an Inversionsfiguren auch nicht ablesen, ob es ein Original oder Primat der Deutung gibt: Das Virtuelle und das Reale schließen sich am gleichen Bildphänomen aus. Die Figur-Grund-Beziehung der Vexier- oder Inversionsfiguren sind im Rahmen gewisser kultureller Unterschiede stets gleichrangig, können aber nur nacheinander in ihren Bedeutungen erfasst werden und lassen so gemäß dem Zeittauschprinzip aller Deutung, der Inversion des individuellen Allgemeinen, die Zeit entspringen: die Zeit, das heißt die Differenzen einer Ökonomie, eine soziale, tauschbare Zeit, keine göttliche oder physikalische Zeit. Freud mahnt, man solle sich durch die antike Mantik, der Traum liefere eine Deutungsvorlage für die Zukunft, nicht irre machen, nur weil das zu Deutende von einem Bedeutenden uns angewiesen werde, was die besondere Aufgabe der Inszenierung sei: Anfang und Ende als das, was in der Existenz nicht vergegenständlicht werden könne doch wenigstens artifiziell zu setzen, so als ginge es der Inszenierung nur um die imaginäre Mitte einer Scena, deren Autorschaft mir von mir selbst zugewiesen werde, als das Erschrecken des Bildes meiner selbst. Wir haben vermerkt, dass Kafka ein Moment der Bewusstwerdung für die Frage nach der Inszeniertheit der Produktion voraussetzt. Die Inszenierung muss die Initiation nicht vorspielen, sie muss sie, wie beim Traum, herausfordern. Im intrinsischen Zirkel des Zirkus ist das „Halt!“ zwar möglich, erweist sich aber als vergeblich. Selbst die in der Realität annihilierte Inszenierung ist schwierig, weil sie sich z.B. in den Publikumsbeschimpfungen sehr schnell verifiziert. Wenn der Scheinwerfer vom Schnürboden fällt, ist nicht zu entscheiden, ob das zufällig oder mit Absicht geschieht, ob es Anfang oder Ende einer Inszenierung anzeigt; aber es geschieht wirklich. Die Indifferenz der Wirklichkeit ist das, was uns für einen Moment die Geschichte des Theaters vergessen lässt und zur Deutung zwingt. Sartre liefert uns jetzt mit einer weiteren Szenifikation die Möglichkeit auszuloten, was eine Situation zur Szenifikation werden lässt. Widmen wir uns an dieser Stelle den Ausführungen der Kritik der dialektischen Vernunft, die gesättigt ist von den dramaturgischen Beziehungen zum anderen und die im historischen Sinn die „wahre“ Geschichte der Französischen Revolution als Geschichte eines kollektiven Einspruchs verstehen lassen will.

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Beste Voraussetzungen also, um dem irreduziblen „Rest der Selbstbeobachtung“ in seinem Aufbegehren zuzusehen.

d. Der Einspruch als Inszenierung einer Gruppenpraxis Die Einsprüche von Kafka und Freud im Sog der Negation der Instanz, die über die funktionale oder symbolische Lesart entscheidet, verfehlen nicht, sich in Bezug auf die eigene Andersheit (das Imaginäre respektive den Traum) geltend zu machen. Inszenierung erfüllt kein passives Begehren einer untätigen Zuschauermenge, sie initiiert eine Selbstüberschreitung. Diese ist im Hinblick auf das bürgerliche Theater vollständig formalisiert. Einsprüche sollen z.B. nach der Aufführung, nicht in ihr erfolgen, und sie sollen stets als kritische Einsicht des Einzelnen oder im gemeinsamen Applaus formuliert sein. So das Ideal. Wenn Sartre sich dem Revolutionstheater im Vorfeld des Sturms auf die Bastille widmet, dann stellt sich die Frage nach dem Motiv oder der Spontaneität eines Einzelnen weniger als das jener Menge, die doch durch einen Mangel motiviert war. Die Hungernden, die Brotpreise, der Unmut der Marktfrauen, alle dies divergierenden Situativitäten werden durch eine Aktion zur Gemeinschaft (Ensemble) inszeniert. Der Sturm auf die Bastille ist eine Inszeneriung der Vergesellschaftung der Pariser Bevölkerung, die letztlich mit dem Mangel an Brot und den Wucherpreisen in keinem symbolischen Zusammenhang steht. Ein weiteres Moment, das der Konstitution der Quellen und Belege, d.h. der kausalen Ableitungen der Ereignisse, wollen wir beiseite lassen, da es vor allem eine literarischen Hermeneutik betrifft. Sartre nimmt sich für gewöhnlich alle Freiheit, die Geschichte effektvoll in Szene zu setzen. Die Frage, wie es zur Revolution kommen konnte, interessiert hier nicht historisch, die Frage, welche Legitimitäten sich als Optionen anbieten und wer sie wie diskursiv eröffnet und autorisiert ist entscheidender. Gibt es die Fingierung eines Motivs, dass sich als sich selbst erfüllende Prophezeiung einsetzt? Einen kausalen Grund dafür zu nennen verbietet sich, weil wir mit Bahr angenommen haben, dass die technische Realität selbst ein Ort der Fingierung eines kausalen Grundes darstellt, der die Reversion der Zeit, wie sie in sozialen Beziehungen möglich ist, ausschließt und somit als normierender Grund von Realität/Praxis oder „Existenz“ nachträglich konstruiert ist. Die Technisierung ist eine Inszenierung, die keinerlei Einsprüche erlaubt, es sei denn als kontrastive Kriegsform eines Widerspruchs zum Gebrauch. Die Marktfrauen, die die Bastille

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erstürmen, verfügen nicht über Inszenierungstechniken, aber über durchsetzungsstarke Körper; sie verstehen den Mangel in ihrem Jargon theatralisch zu verkünden. Sie setzen ihren Körper aufs Spiel. Wir haben bisher geglaubt, das Erwachen erfordere einen individuellen Einspruch, beziehe sich auf das Erkennen der individuellen Situation und bedinge deshalb für theatrale Riten das Publikum als eine sich kontrollierende Menge. Sartre rückt von dieser Prämisse ab. In seiner Kritik der dialektischen Vernunft will er zwar dem Individuum als solchem gegenüber der Gruppe Priorität einräumen, aber wenn es um die Frage der Situativität als Frage nach der Wahrheit des Subjekts geht, kann dieses natürlich nicht mit dem spontanen Erwachen irgendeines Vermögens namens „Selbstbewusstsein“ (Reflexion) beginnen – so wie im Freud’schen Urszenenmodell –, vielleicht aber in einer Selbstorganisation sich überschreiten. Doch halten wir dieses Argument noch zurück. Denn Sartre möchte nicht einfach das Schlagwort der Autopoiesis in die Argumentation werfen, sondern die komplexen Phasen dieses „αυτο-“ in einer konkreten Situattion nachzeichnen. Das heißt aber, da das Inversionsgeschehen nicht mehr spontan erfolgt, sondern Präsenzen erfordert, die dauern, ereignet sich die Szenifikation. Zunächst gilt es einen falschen, quasinatürlichen Organizismus in der Gruppenbildung abzulehnen – so als ob Zuschauer im Theater oder Kino allein durch die serielle Einheit ihrer Sitzreihen dazu verdammt, als stumme Herde den Blick auf die Bühne zu richten. Wir müssen uns die Situation eher als eine Art Vaudeville- oder Variete-Veranstaltung vorstellen, in der das Bühnengeschehen jeden Einzelnen als Einzelnen betrifft. Im organizistischen Gesellschaftmodell [...] einer transzendentalen oder idealistischen Dialektik wäre alles natürlich viel einfacher: Man würde sehen, wie die Integrationsbewegung, durch die jeder Organismus seine anorganischen Pluralitäten zusammenhält und beherrscht, sich von selbst, auf der Stufe der gesellschaftlichen Pluralität, in Integration der Individuen zu einer organischen Totalität verwandelte. Gegenüber den Einzelorganismen würde die Gruppe also wie ein Hyperorganismus funktionieren.150

Auf diese Weise ist es den reaktionären Gesellschaftmodellen, so sagt Sartre im Jahr 1960, möglich, die Klassengegensätze in einer nationalen Einheit zu negieren. Die Auffassung der „natürlichen Organizität“ (der Sprache, der Geschichte etc.) benötigt keinen revolutionären Einspruch. Das aber ist 150 Jean-Paul Sartre: Kritik der dialektischen Vernunft. Theorie der gesellschaftlichen Praxis. Reinbek 1980, S.370.

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eine Illusion: „Für uns [...] ist die organische Struktur vor allem der unmittelbare, illusorische Schein der Gruppe, wenn sie sich im praktisch-inerten Feld und gegen dieses hervorbringt.“151 Wie aber geschieht das? Das, was Sartre das „praktisch-inerte Feld“ nennt, ist ja nichts anderes als der status quo einer durch und durch vom anderen gemachten Realität, in die ich „geworfen“ bin. Wie sollte ich aus dem, was mich macht, heraustreten können als derjenige, der ich bin? – Oder muss man gleich sagen: als der, „der gemacht worden ist“? Denn die organische Illusion beruht darauf, dass die Gruppe von „außen“152 als organische Gruppe betrachtet wird, sodass ein Heraustreten dialektisch die heterogenen Bedingungen der Gruppe für sich verifiziert (man darf nicht aus der Partei austreten), weil die Außenansicht die „organische Totalität“ dementiert, die die Gruppe von außen antizipiert. Diese Bewegung wechselseitiger Gruppenbeziehungen (man wird das später als „System-Umwelt-Beziehung“ darstellen) ist dadurch bedingt, dass wir „unsere elementarsten Verhaltensweisen an äußere Kollektive richten, als wenn diese Organismen wären.“153 Es entsteht ein Widerstand oder eine Missweisung des Feldes – eine Situation, in der ich als Einzelner nur erwache, wenn diese künstlichen Organismen als gemachte (möglicherweise auch inszenierte und ritualisierte) von außen erkannt werden können. Dazu muss sich aber eine andere Praxis, ein „Spielraum“ auftun. Das ist im Falle der Revolution der Hunger, also die Praxis des Körpers, der immer der Körper der Einzelnen, der narzisstische Körper ist.154 Das Außen der Organizität ist also der organische Körper, während der organische Körper durch Körpertechniken (Arbeit) auf das Außen, das er selbst nicht ist, einwirkt. Es gibt ein Außen in der Gesellschaft, das ein Innen ist. Sartre bezieht sich auf den Organismus als einen nie verstummenden Anderen, der mit Gewalt den Einspruch formuliert, der durch die gesellschaftliche Produktion (Nahrungsmittel in der Stadt Paris) nicht gedeckt ist. Es sind nicht die Produzenten, sondern genau jene zur Untätigkeit verdammten Marktfrauen, die ihr theatrales, marktschreierisches Geschäft nicht mehr ausführen können, in denen die Befriedigung des Hungers eine Form angenommen hatte. Diese 151

Ebd.

152

Ebd., S.371.

153

Ebd.

154

Ich simplifiziere die äußerst differenzierten Ableitungen, die Sartre der Revolutionsvorgeschichte entnimmt. Es geht hier nur um den Einspruch als solcher, nicht um den spezifischen des Jahres 1789.

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Membran der Szenifizierung einer Situation durch eine andere verbindet eine Praxis mit einer anderen als eine Überschreitung. Denn die Marktfrauen sind die Vermittler des Hungers zwischen Produzent und Verbraucher, sie sind Medien der Revolution. Wohinein sollte man sonst erwachen als eben in die Vermittlungslosigkeit der Mitte? Die Membran hält sich als „unsichtbare und stets bewegliche Grenze des Allgemeinen“155 als Sprache der Praxis im Stadium der Szenifikation. Auf dem Markt spricht man über den Hunger als Skandal gestörter Evidenzbeziehungen. Sartre kommt auf eine korrespondierende paradigmatische Szenifikation des Theaters zu sprechen: Die Struktur des Skandals zum Beispiel ist für jeden die eines als Totalität genommenen Kollektivs. Jeder im Theater ist vor jeder Replik einer Szene, die er für skandalös hält, in Wirklichkeit durch die serielle Reaktion der Nachbarn bedingt; der Skandal ist der Andere als Grund einer Serie. Aber sobald es zu den ersten Äußerungen des Skandals kommt, das heißt zu den ersten Handlungen dessen, der für den Anderen handelt als Anderer als er selbst, schaffen sie die lebendige Einheit des Saals gegen den Autor, lediglich weil dieser erste, durch seine individuelle Einheit, für jeden in der Transzendenz diese Einheit realisiert.156 155 Frank, Das individuelle Allgemeine, a.a.O., S.295. Die Darstellung einer „beweglichen Grenze“ (Sartre) hat Paul Klee als ambivalente Linie und äußerste Grenze des medialen Widerstandes ausgemacht, die das Verhältnis von Realität und Imagination aufrecht erhält. Vgl. Ralf Bohn: Inszenierung als Widerstand. Bildkörper und Körperbild bei Paul Klee. Szenografie & Szenologie Bd.2. Bielefeld 2009. 156

Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, a.a.O., S.371. Der Übersetzer schreibt der oder das „Andere“ jeweils groß. Die Schreibweise wird für die Zitate beibehalten. An dieser zentralen Stelle des Engagements und der Selbstverführung – sich zu dem zu bekennen, was die anderen aus mir gemacht haben – kommt Sartres Spielbegriff zum Ausdruck, der in geläuterter Form an den Freiheitsbegriff in Das Sein und das Nichts anknüpft. Peter Bürger hat herausgearbeitet, dass für Sartres Freiheitsphilosophie der „konstitutive Akt der Selbstwahl [...] auf einem Als-ob [beruht].“ Peter Bürger: Sartre. Eine Philosophie des Alsob. Frankfurt am Main 2007, S.76. „Konsequent verbindet Sartre in seinen Eintragungen der Kriegstagebücher seinen Freiheitsbegriff mit dem des Spiels: ‚Es ist nicht möglich, sich selbst als Bewußtsein zu erfassen, ohne das Leben als Spiel zu denken.‘ “ (S.76f. Zitation Jean-Paul Sartre: Carnets de la drôle de guerre. Neue erweiterte Ausgabe, Hg. Arlette ElkaimSartre, Paris 1995, S.579.) Dadurch ergibt sich für Bürger eine Rollenstruktur, die eine jede kontingente Situation in einen bewussten Akt der Akzeptanz verwandelt, gesetzt den Fall, dass die Selbstanerkennung keine Verführung durch den anderen darstellt. Das wäre dann ja der vierte Fall: 1. Anerkennung der anderen, die mich machen; 2. Anerkennung dessen, was die anderen aus mir gemacht haben; 3. Überschreitung als Selbstanerkennung der Kontinuität des Gemacht-Werdens und des Machens; 4. Die Aufdeckung des unendlichen Spiels der Selbsttäuschung als Unbestimmtheit des anderen (nach Lacan) und des Ichs in der wechselseitigen Inszenierung. Die Wendung (3.), dass Ich akzeptiere, dass Ich das bin, was die anderen aus mir machen, ist eine negative Formel der romantischen Ironie, die (4.) positiv als Spiel (Freiheit) verstanden wird. „Nicht das, was man aus uns macht, ist das Entscheidende, sondern was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.“

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Was ist passiert: Erstens das Theater inszeniert einen Skandal, indem es sich selbst überschreitet: sagen wir, dafür sei ein Autor oder eine Regie verantwortlich und nicht das Theater als Institution oder Spielstätte – Sartre spricht aus der Erfahrung des Dramaturgen. Zweitens die meisten Zuschauer warten ab. Vielleicht ist die Inszenierung nicht eindeutig; gehört der herabgefallene Scheinwerfer zum Stück oder ist er aufgrund eines Defekts oder Zufalls auf die Bühne gestürzt? Die Situation reizt jedenfalls nicht zum Einspruch. Dann eilte „ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, riefe das: Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.“157 – Nun, so spektakulär ist der Skandal nicht. Aber erste Pfiffe werden doch laut: Wer ist der erste, der sich vorgewagt hat? Roselt geht in seiner Beschreibung dessen, was dem Fall des Scheinwerfers folgt, auf einer anderen Ebene nach. Zu fragen ist nicht, was meint die Figur mit ihrer Äußerung, sondern was meint die Inszenierung mit dem vermeintlichen Malheur. Ist es eine Panne oder soll es eine sein? Die Zuschauer sehen sich damit keiner besonders komplizierten interpretativen Aufgabe gegenüber. [...] Ob es sich um einen Kunstgriff oder um einen Mißgriff handelt, bleibt zunächst dem Publikum überlassen. Irritierend dürfte jedoch sein, daß, wie auch immer die konkrete Entscheidung ausfallen mag, stets ein Rest an Ungewißheit zurückbleibt.158

Zu einem Skandal mag es in der Beschreibung eines real erlebten Bühnengeschehens bei Roselt heute gar nicht mehr kommen. Auch im Theater hat (Bürger, ebd., S.31) „Das ist der Ursprung seiner [Sartres; R.B.] Philosophie der Freiheit, die es dem Individuum zur Pflicht macht, die kontingente Situation, in die es sich gestellt sieht, nicht nur anzunehmen (accepter), sondern auf sich zu nehmen (assumer).“ (S.37) Bürger leitet seine Darstellung hauptsächlich aus den Frühschriften Sartres bis Das Sein und das Nichts ab. Für den späteren Sartre stellt sich die Aufgabe – vor allem in der Kritik der dialektischen Vernunft –, das dialektisch-duale Schema zwischen Ich und anderem in den Epochen der Konstitution der Gesellschaft zu studieren und den Umschlag von der kontingenten Situation (Geworfenheit) zur sozialen Integration (Szene) nicht mehr als plötzlichen Akt der Überschreitung, sondern als „emergente“ Genese der Selbstwerdung in Auseinandersetzung mit den anderen Menschen zu erarbeiten und sich somit vom duellhaften Dualismus seiner Frühzeit zu verabschieden. Dass die Denkfigur des „Als-ob“ für eine Hermeneutik der Szene eine ganz andere sein muss, als es die strukturale Metaphorizität des Textes meint – und zwar aufgrund des Einspruchs des Körpers – hat auch Stanley hinsichtlich des Ursprungs der Gadamer’schen und Heidegger’schen Hermeneutik in Abwehr der Phänomenologie Husserls gezeigt. (Vgl. Stanley, Die gebrochene Tradition, a.a.O., S.294ff ). 157

Kafka, Auf der Galerie, a.a.O., S.129.

158

Roselt, Ironie des Theaters, a.a.O., S.18.

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der Zirkus Einzug gehalten. Dafür setzt Roselt eine Erfahrung im Umgang mit dem Theater voraus, die es vielleicht zu Zeiten des klassischen Theaters, das Sartre mit seiner Organizismuskritik attackiert, trotz Pirandello, Artaud, Brecht und Beckett – und natürlich Sartre selbst – lange nicht gegeben hat: den Skandal und die geübte Reaktion darauf. Es ist im Alltag keineswegs selbstverständlich, dass bei Missbehagen jemand ausgepfiffen wird – setzen wir mal die Eventpolitik des Sports davon aus. Pfiffe: Man will sowohl von der Bühne als auch von den anderen gehört werden. Wenn man aber von einem lernenden Publikum ausgeht, also die Konfrontation Bühne vs. Zuschauerraum als eine mediale Einheit der Blicke versteht, deren situativer Vorzustand auf eine insgeheime Übereinkunft hin die inszenatorische Differenzen bewertet, kommt man zum Schluss, dass Skandale wie Einsprüche dann nicht mehr möglich sind, wenn sie zur Praxis des Theater geworden sind und diese es sogar als Stilmittel evoziert (beispielsweise bei Brecht), wenn es also keine Differenzen zwischen den Vorgaben und den Erwartungen mehr gibt, sich also der Zeithorizont der Inszenierung synchron entfaltet. Ich wiederhole die bereits zitierte Stelle: Betrachtet man den Vorgang aus dem Blickwinkel der Semiotik, ist zunächst festzustellen, daß im Theater grundsätzlich nichts einfach geschieht, sondern daß jeder Vorgang die intentionale Herstellung einer Wirkung, besser gesagt einer Bedeutung ist. Denn die Zeichen des Theaters können aufgefasst werden als „Zeichen von Zeichen“.159

Wir haben hier bemerkt, dass eines der Zeichen nicht als Metazeichen, sondern als Symptom respektive als Vermittlung des anderen verstanden werden muss, indem das Zeichen sich als Zeichen von seiner Negation (Präsenz) her rhythmisiert, choreografiert, oszilliert. Nun erlaubt das Zitat uns in der Analyse präziser zu werden und nach der intentionellen Herstellung, also dem Vorzustand, dem Deutungsverhalten oder -motiv zu fragen, mittels dessen die Präsenz/Plötzlichkeit selbst zum Zeichen für alle anderen Handlungseilnehmer werden kann. Sartre legt sich darauf fest: Es bedarf einer unvermittelten „Handlung“ als „Äußerung“, gedeckt durch die Präsenz des Körpers als Positivität des Negats des göttlichen (autorialen) Einspruchs. Roselt verweist nicht darauf, dass es zu Äußerungen des Skandals kommt, sondern dass das Außen durch die ironische Inszenierung der Aufführung als Negation der Aufführung selbst dispensiert ist, – wie jeder Einspruch, wie er etwa im ironisch-sarkastischen Kabarett usus ist – zu einer Pointe verwandelt wird: 159

Ebd.

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Spontaneität als Inszenierung darstellt, auch die externalen Konditionen betreffen muss. Ironie ist immer situativ gebunden. Das verlangt z.B. vom Kabarettisten, situativ zu reagieren. Insofern gehört er noch der mittelalterlichen Stegreifbühne an, auch wenn er abliest. In der Szene, in der ein Scheinwerfer auf die Bühne fällt, passiert so etwas nicht. Bei Sartre aber nehmen die Zuschauer „die kommunikative Situation des Theaters“ selbst über den Einspruch eines Einzelnen als von Außen betrachtet in den Blick. Wir haben es also hier mit einer Bedingung zu tun, die im Barock unter allen Umständen dadurch vermieden werden kann, weil die Inszenierung kein Außen und mehr oder weniger auch kein Ende kennt. „Die Inszenierung [bei Roselt und im Barock; R.B.] vergewissert sich ihrer Zuschauer, indem sie sich ihnen gegenüber ironisch verhält und damit beweist, daß sie mit dem Publikum rechnet.“160 Dadurch, dass das Situative in die Annihilierung einer Inszenierung einbricht – sich dementiert, wenn Welt und Theater identisch werden –, wird die Ironie als Wahrheit der Welt gefeiert.161 Man muss aber nicht einverstanden sein mit dem Fazit, das Roselt zieht und das Sartre von der Seite des Publikums aus zeigt. Roselt meint: „Theater stiftet Gemeinschaft, weil es im Ereignis eine Gruppe von Menschen in einem raum-zeitlichen Kontinuum bindet.“162 Von der Architektur und dem Zeremoniell her, die das Theater als Institution sich quasi haben verdinglichen lassen, ist das rich160

Ebd., S.19.

161 Darauf hat Walter Benjamin zuerst wirkungsmächtig hingewiesen. „Der romantische

terminus technicus für das Verhalten, welches nicht nur in der Kunst, sondern auf allen Gebieten des Geisteslebens dem Grundsatz der Unkritisierbarkeit des Schlechten entspricht, heißt ‚annihilieren‘. Er bezeichnet die indirekte Widerlegung des Nichtigen durch Stillschweigen, durch seine ironische Lobpreisung oder durch die Lobeserhebung des Guten. Die Mittelbarkeit der Ironie ist im Sinne Schlegels der einzige Modus, unter dem die Kritik dem Nichtigen geradezu entgegenzutreten vermag.“ Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd.I. Frankfurt am Main 1980, S.80. Zwar bezieht sich Benjamin auf eine Wertsetzung der Kritik, betont jedoch, dass die Ironie ein existentialer Modus ist, der sich als „intentionale Einstellung“ (S.81) inszenieren muss. In einer Anmerkung geht er auf die Unendlichkeit im Endlichen bezüglich der Ironie als Deutungsfigur ein, die sich auf mehreren Ebenen zu reflektieren weiß, um Reflexion transparent zu machen: „Der reflexive Charakter der Ironie ist in Tiecks Dramen besonders deutlich. Bekanntlich spielen in allen Literaturkomödien die Zuschauer, der Autor, das Theaterpersonal mit. Pulver weist eine vierfache Reflexion an einer Stelle nach: das ‚Gemüt der Genießenden‘ bezeichnet die erste Spiegelung, der ‚Zuschauer auf der Szene‘ die zweite; dann ‚beginnt der Schauspieler über sich selbst in seiner Eigenschaft als Mime‘ zu reflektieren, und endlich ‚versinkt‘ er ‚in ironische Selbstbetrachtung‘.“ (Zitation: Max Pulver: Romantische Ironie und romantische Komödie. St. Gallen 1912) 162

Roselt, Ironie des Theaters, a.a.O., S.19.

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tig. Aber was ist mit den neuen Erfahrungen, die doch das Theater immer noch zu bieten hat? Man möchte doch nicht davon ausgehen, dass mit dem Kauf der Eintrittskarte der Pakt schon besiegelt ist? Die Aufführung als Ware mit Garantieanspruch? Man kommt aus dem Dilemma des Einspruchs nicht heraus, wenn man nicht die Prädisposition des Theaters als ein Gemeinschaftserlebnis negiert. Lesen wir die Stelle über den „Skandal“ als Einspruch bei Sartre weiter: Allerdings bleibt in jedem ein tiefer Widerspruch zurück, weil diese Einheit die aller Anderen, einschließlich seiner selbst, als Andere und durch einen Anderen ist: Jener erste hat nicht die gemeinsame Meinung offenbart oder ausgedrückt. Er hat in der objektiven Einheit einer direkten Aktion (Zwischenrufe, Schmähungen usw.) zum Ausdruck gebracht, was für jeden nur erst als Meinung der Anderen existierte, das heißt als ihre zirkulierende serielle Einheit.163

Sartres Argumentation setzt den ersten Zwischenruf tatsächlich als Ausdruck einer spontanen Situation, der in dieser Spontaneität sich keiner Dauer vermitteln kann. Aber das ist eine Setzung, die innerhalb der Deutungsmöglichkeiten des Theaters bleibt, welche Roselt beansprucht: Der Widerspruch besteht darin, dass man (nach Pirandellos Überschreitung der Rampe) nicht mehr weiß, ob eine Publikumsbeschimpfung nicht inszeniert sein kann, und sie besteht gleichzeitig darin, ob ich mich der Meinung eines Einzelnen anschließe, um damit wieder in den Sog der Masse zu geraten. Oder kann ich, zum Dritten, erkennen, dass der Einspruch gar nicht auf die Aufführung, sondern auf externale Positionen referiert. Das hieße, die Ungewissheit der Szene würde in eine unvermittelte Situation zurückstürzen, die die Situierung der Inszenierung aufhebt: Nicht mehr Bedeutungen, sondern Deutungsofferten werden durch den Bruch der Inszenierungserwartung ermöglicht. Diese Offenheit der Entscheidung kann nur für einen Moment bestand haben, wenn sie Effekt ist; sie kann dauern und unentscheidbar sein, wenn sie unter künstlerischem Engagement selbst als Störung inszeniert ist. Will sie dauern, muss sie sofort den Widerstreit aufnehmen, d.h., sie muss dramatisch werden. Das würde bedeuten, dass der Einzelne als Einzelner die Zügel in die Hand und damit die Regie über die Präsenzeffekte übernimmt. Der Einspruch löst also nicht das ganze System der Beziehungen auf, er verschiebt lediglich die Prädispositionen einer Autorschaft. Das ist das Entscheidende am (politischen) Erwachen des handelnden Subjekts, das jetzt nicht mehr unter dem 163

Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, a.a.O., S.371.

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Zwang der Arbeit steht. Exakt diese szenifikatorische Strategie ist aus dem Stück Cyrano de Bergerac wohlbekannt: Während Montfleury, der Schauspieler, vor dem applaudierenden Publikum zu einem Monolog ansetzt, tritt Cyrano mit Mantel und Degen als der personifizierte Einspruch auf: Eine Stimme (mitten im Parterre). Schurk’, hab ich dir nicht untersagt zu spielen? (Allgemeine Verblüffung. Man dreht sich nach dem Sprecher um. Gemurmel.) Verschiedene Stimmen. Wie? – Was? (Die Insassen der Logen erheben sich, um zu sehen.) Cuigy. Er ist’s! Le Bret (entsetzt). Cyrano! Die Stimme. Strauchdieb, räumen Wirst du die Bühne! Alle (entrüstet). Oh! Die Stimme. Ohne Säumen! [...] Cyrano (aus dem Parterre auftauchend, auf einem Stuhl stehend, mit gekreuzten Armen, kriegerisch aufgestülptem Schlapphut, gesträubtem Schnurrbart und furchtbarer Nase). Nun werd ich wild! (Sensation bei seinem Anblick).164

Der Skandal („Sensation“ – also unvermittelter Sinnenaffekt) weitet sich als Stück im Stück aus. Die ausführlich von Rostand geschilderte Situation des Theaters vor dem Beginn des Stücks wird dann zum Präludium des eigentlichen Stücks, dessen Held Cyrano den Einspruch mit und als Gewalt verkörpert, aber poetisch formuliert – der also in sich das allegorische Doppelspiel von Bild und Stimme des Theaters realisiert und die Stimme als Spontaneität gegenüber den Handlungen mit dem Degen herausfordert. Diese Asynchronie ist ja auch der Plot des späteren Liebeswerbens von Cyrano. Cyrano spricht dem Schauspieler Montfleury das Recht ab spielen zu können, weil dieser seinen Körper eben nicht einsetzt. Fragen wir parallel nach den Vorstellungen des Philosophen und nach denen des Literaten Sartre, der durchaus theaterkritische Ambitionen in seinen Stücken durchblicken lässt. Sartre lässt seinen Einspruch dadurch zur Geltung kommen, dass in der szenischen Medialisierung – nämlich den Einspruch als Kritik, Kommentar oder Bericht aufzufassen und als solchen für einen dem Ereignis abwesenden Zuhörer repräsentabel zu machen – der 164

Edmond Rostand: Cyrano von Bergerac. Stuttgart 1994, S.19 (1.Aufzug, 3.Auftritt).

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Skandal sich zu einem unmittelbar sinnlichen Gruppenerlebnis formiert, das überhaupt erst die Bedeutung eines Skandals annehmen kann, von dem beim ersten Zwischenruf ja noch gar keine Rede war. Auch der Skandal muss als solcher umgearbeitet, d.h. konkret: „situiert“ werden, um ihn von einem Effekt des Stücks zu unterscheiden. Aber sobald der Skandal erzählt und kommentiert wird, wird er in den Augen all derer, die nicht dabei waren, das Auftauchen eines synthetischen Ereignisses, das dem Publikum, das diesen Abend das Stück sah, die provisorische Einheit eines Organismus verleiht. Alles wird klar, wenn wir die Nicht-Gruppierten situieren, die sich durch ihre Ohnmacht gegenüber der Gruppe, die sie entdeckten, als Kollektiv erkennt.165

Die Inszenierung muss, will sie auf Politik des Körpers und der Sinne umschalten, diese durch den Sinnverlauf und die rituellen Regeln des Theaterspiels bändigen, d.h. rückvermitteln in desituierte symbolische Operatoren. Im Verlauf der langwierigen Untersuchungen, die Sartre am Gruppenbildungsprozess im Ablauf der Französischen Revolution analysiert, kommt er nicht mehr auf die Intervention eines Einzelnen im Prozess des Aufbegehrens zurück. Stets ist der oben angekündigte „Dritte“ bzw. das Drittenmoment als Schein der Projektion eines Organischen (Gesellschaft) kontaminiert. Der Einzelne kann nur aufbegehren „im Namen von“. D.h.: Nur „im Namen von“ (als symbolische Konnexion des Einzelnen mit dem Allgemeinen) kann sich das Aufbruchunternehmen halten und eine sinnvolle Wirkung entfalten. Dies schützt und verwandelt den Einspruch in eines Genese, aufgrund derer der Name des Vaters artikuliert werden kann. Doch der Übergang kann sich schon in einer fingierten Situation etabliert haben. „Hoffnung“ oder das praktisch inerte Feld der „Stadt“ (Paris) sind nicht mehr Serialitäten, sondern in Bestimmung auf ein Kollektiv gedacht. Das Serielle ist dual, das Kollektive drittenimplikativ, das Individuelle durch Gewalt (setzende Gewalt, Spontaneität) definiert.166 Soweit etabliert, setzt sich die skandalisierte Gruppe in ihrer Kritik durch ein positives Moment 165

Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, a.a.O., S.371f.

166 Ebd., S.382 u. S.383. Sartre macht sich die Mühe, auf beinahe 300 Seiten minutiöser

Analyse die Vergesellschaftungsvorgänge des Revolutionsgeschehens zu beschreiben, sodass die Darstellungen der Situationen, in der sich die Revolutionäre als Handelnde in Freiheit erkennen, in ihren Widersprüchen deutlich werden. Vor allem geht es ihm auch um die Phantasmen der Selbstkonstituierung.

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(eine Negation der Negation) ab. Die Fingierung erschafft ein Ziel, eine Differenz, die ein Außen etabliert, das Sartre „als schemenhafte Möglichkeit, sich selbst im Feld der Freiheit zu erzeugen“167 bezeichnet. Umgekehrt bezieht die Fingierung aus den Problemen und Krisen der Praxis ihr Motiv. Es handelt sich um eine Unterstellung von Motivierung auf Wechselseitigkeit auf der Grundlage des „Eintritts des Realen“ und der „Überschreitung von Realität“. Ersteres wird als menschliche Unwägbarkeit, letzteres als Defekt der Technik bezeichnet. Auf das Ziel der Einandervermitteltheit hin entwirft sich eine Spannung des Kollektivs, die sich in einer kollektiven Handlung entlädt. „Der Dritte ist strukturell die menschliche Vermittlung, durch die die Vielheit der Epizentren und der (identischen und getrennten) Zwecke direkt nach einem synthetischen Ziel organisiert werden kann.“168 Es ist wichtig, dass das Motiv als ein Außen, ein Ziel oder Zweck einer realen Handlung organisiert ist und sich in einem Fetisch (z.B. in einem Manifest oder Medium) verkörpern kann. Erst hier ist die Stufe der parteilichen Organisation erreicht, die durch eine Ideologie – weil sie als nicht direkt erreichbar ihren Selbstaufschub erfährt – in Dauerhaftigkeit gehalten werden kann, sodass sie sich in Praxis verwandelt. Gemeinschaftsbildung aufgrund der Dingbeziehung des Individuums (Konsumziele) sind von Sartre nicht intendiert bzw. verfehlen ihre Dauerhaftigkeit. Auch hier ist unter Inszenierung kein Werk, sondern ein Vorgang (Wechselwirkung der Vermittlung) angesprochen. Entsprechend kommt der theatrale Einspruch mit einer Gabe entgegen, die die Irrealisierung der Aufführung realisiert: Das ist das Erwachen des Subjekts. Aber der geläufige Fehler vieler Soziologen liegt darin, hier stehenzubleiben und die Gruppe als eine Zweierbeziehung (Individuum-Gemeinschaft) aufzufassen, während es sich in Wirklichkeit um eine Dreierbeziehung handelt. Kein Bild, keine Skulptur wird direkt wiedergeben können, daß das Individuum als Dritter in der Einheit der gleichen Praxis (also der gleichen Wahrnehmung) an die Einheit der Individuen, als von der nicht totalisierten Totalisierung untrennbare Momente, gebunden ist und an jedes von ihnen als Dritten, das heißt vermittels der Gruppe. In Wahrnehmungsbegriffen: ich erfasse die Gruppe als meine gemeinsame Realität und gleichzeitig als Vermittlung zwischen mir und jedem anderen Dritten.169

167

Ebd., S.389.

168

Ebd., S.392.

169 Ebd.,

S.399f

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Die entscheidende Wendung Sartres wird von Kafkas Parabel aus deutlich: Kafka lässt sämtliche vermittelnden Drittenmomente (Ideen der Linearisierung des Zirzensischen auf eine Idee hin) in seiner Erzählung aus und konfrontiert sie als zwei Inszenierungen einer Situation. Die Inszenierungen (als Vorstellungen im doppelten Wortsinn) lassen sich aber nicht beide realisieren, da beide Interpretationen ein und desselben unvermittelten Galeriebesuchers sind, der nun als das Medium dieser Vermittlung sich selbst negiert (träumt). Die Paradoxie Kafkas besteht darin, die Gegensätze als unvermittelbar zu setzen und sie dem Leser vorzuwerfen. Es gibt kein Drittenimplikat, kein Zentrum und keine externe Perspektive. Das ist sowohl grotesk als auch zynisch. Von Ironie kann im Falle der Kunstreiterin nicht gesprochen werden. Zu welchem Zweck also sollte der Einspruch erfolgen? Sie kann nur von der Funktionalisierung des Textes selbst erfolgen, d.h. von dessen „Stil“: der Text ist das, was die organische Einheit des Mediums zwischen Autor und Leser als ein Drittes vermittelt. In der Episode, die uns Roselt darstellt, ist immerhin die Vermittlung a priori durch die Situation definiert, dass nichts im Theater ohne Absicht passiert, da die Welt des Theaters als inszenierte gängige Praxis ist, auf die ich mich mit dem Kauf des Billetts einlasse. Die Französische Revolution betreffend wird man wenig von Inszenierung, aber viel von Gewalt sprechen. Die Gründe sind nun erkannt. Die ersten Phasen des revolutionären Prozesses sind mehr oder weniger planlos und spontan: Es sind Handlungen der Praxis, deren Ziel nicht negativ fingiert und zugleich positiv in der Gruppe implementiert ist. Hunger ist nur ein, aber vielleicht das wichtigste, unmittelbarste Motiv: Denn der Hunger beherrscht alle gleichermaßen. Das Ziel ist die Handlung zur Gruppe, es ist performativ.170 Bezeichnenderweise verlangt dieses Stadium „keinen Anführer, oder, wenn man will, die Situation kann zufällig bewirken, daß ein 170

„Indem die Gruppe als Ziel erscheint und sich als aufrechtzuerhaltende gemeinsame Praxis entdeckt [...].“ Ebd., S.452. In diesem Fall sind die Handlungen natürlich auch Sprachhandlungen, nicht theoretisch, sondern praktisch. Der Begriff „Praxis“ lässt sich mit Einschränkung durchaus mit dem der „Performativität“ übersetzen. Es geht nicht um argumentative, sondern um kommunikative Akte, in der in der Gruppensituation das mimetische Potential eine dominierende Rolle spielen kann, wie überhaupt zwischen Sprachgewalt und Handlungsgewalt unterschieden werden soll. Vgl. Sybille Krämer: Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität. In: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2002, S.341f. „Jede Aufklärung läuft darauf hinaus, den Unterschied von Wort und Sache, Zeichen und Bezeichnetem, Handeln und Reden über das Handeln sich zum Programm zu machen. Ist also mit dem Denken des Performativen immer auch ein Stück ‚Gegenaufklärung‘ verbunden?“ (S.346)

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einziger Dritter den Beginn der Aktion bezeichnet, bedeutet und entworfen hat.“171 Der einzige Dritte ist aber immerhin noch ein Dritter im Sinne des Kollektivs, so wie Cyrano im Sinne des „Kollektivs der Dichter“ seine Wut an Montfleury auslässt, der die Verse der Dichter verhunzt, auch wenn das nur ein Vorwand ist: Montfleury hatte einer Dame sich zu nähern gewagt, auf die auch Cyrano ein Auge geworfen hat. Also: Cyrano inszeniert diesen Skandal, nicht aber das anschließende Duell: „Denn beim letzten Verse stech ich“ – so der sprichwörtliche Reim vor dem Todesstoß. Das Duell ist im 17. Jahrhundert ein formalisiertes Ritual auf Leben und Tod, und der eigene Tod ist bekanntlich keine Inszenierung, das Sterben unter dem Beisein der Sekundanten als verkörperte Dritte schon. Zwei Phasen sieht Sartre als konstitutionell für die Führerschaft dieses „Dritten“ an. Erstens einen Plan, also die Fingierung eines Zielweges, eines Motivs, das vermittelnd von Außen kommt (die Idee/Genie/Intuition eines Führers, der sich zum Medium aller anderen macht) und die materiellen Bedingungen der Situation zu überschreiten im Stande ist, d.h. Überwindung des Widerstandes; und zweitens den Eid. Sowohl der Plan als auch der Eid sind in ihrem Wesen Kreditierungsformen und erscheinen als Simulationen der Materialisierung des Ziels, also als sinnvoll. Beide thematisieren sich als der Beginn und als die Vollendung der Gruppe im jeweiligen Status ihrer Situation. Sie geben ihr die Bedeutung eines historischen, also zeitlich realen Ereignisses durch sich selbst in der Kreditierung eines kompensierten Außen. Der Eid (im Theater wäre das die Versicherung der Bedeutsamkeit jeder Handlung auf einer Ebene des Zeigens und des Zeichen des Zeigens) umfaßt notwendig folgende Merkmale: 1. Das Merkmal eines Losungswortes, einer regulativen Aktion, dessen (überlegtes) Ziel es ist, die Dritten mitzureißen: Ich biete mich an, damit sie sich anbieten; das Angebot meiner Dienste (meines Lebens usw.) ist schon das gleiche wie das ihre. Auf dieser Ebene ist mein Engagement wechselseitiges und vermitteltes Engagement des Dritten. 2. Das Merkmal eines an sich selbst vorgenommenen Kunstgriffs: Schwören heißt geben, was man nicht hat, damit die Anderen es einem geben und man Wort halten kann.172

Ein Schwur, ein Eid, ein Versprechen oder sei es auch nur der gegenseitige Händedruck vermögen das Kollektiv in Folge der Fingierung ihrer 171

Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, a.a.O., S.423.

172

Ebd., S.454.

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Vermittlung auf die Dauer ihrer Kreditierung hin in Schutz halten. An diesem Punkt der kreditierenden Gewalt tritt die Sorge um das Erreichen des Ziels (der Einlösung der Gabe, die die Zeit ist) zurück und beugt dem möglichen Zerfall des Kollektivs vor. Warum? Weil die Kreditierungen sich als Fingierungen von sozialer Zeit erweisen, deren Bedeutung durch jeden in der vereidigten Gruppe (zumindest im Namen der Gruppe) erfahren werden kann. Es liegt nahe, an den Ballhausschwur zu denken. Das heißt aber, dass die unvermittelte, gar zufällige Szenifikation sich als eine Handlungsgemeinschaft von der Einlösung der Zukunft als Realität her entwirft und deutet. Von dieser Zukunft her ergeben nun alle Handlungen eine Sinnkette. „Der Sinn des besonderen Unternehmens – selbst wenn es als solches gelungen ist – liegt darin, daß es woanders von anderen Unternehmen, anderen Spielern benutzt wird.“173 Es klingt profan, aber Sartre denkt z.B. an die Ballstafetten eines Fußballspiels und an eine Gruppe von Aufständigen. Beide richten sich auf ihrem individuellen Terrain für die anderen als Dritte ein, womit sie als Personen austauschbar werden und somit indifferenzieren. Es kommt nicht zu einer Reziprozität der Orte, sondern zu einer Rekursion der Zeit der einzelnen Individuen, die auf die Regeln des Spiels vereidigt sind und diese Funktion als natürliche Praxis ansehen können. Denn der Sinn, auf den sie sich berufen, symbolisiert die soziale Zeit. „Taufen, Initiation usw. haben die eigentliche Funktion, die vereidigte Funktion als freien Eid rückzuverinnern.“174 Die Initiation ist weniger durch den Augenblick als durch die magische Kompensation der Zukunft gedeutet, als Prophetie, wodurch sie eben den Mangel des Hier und Jetzt kompensiert. D.h., die Inszenierung erschafft, indem sie die Verinnerlichungen veräußerlicht, sie für sich und andere szenifiziert und die ursprüngliche Handlung negativ dem anderen als freie Möglichkeit unterstellt, als ein Versprechen des Aufschubs des Todes und somit als eine Dauer an Präsenz. Sehr viel später in seinen Ausführungen widmet sich Sartre dem aktuellen Beispiel einer Werbegruppe, die über die konkreten Ziele der materiellen Inbesitznahme hinaus demonstriert, dass der Besitz den Status einer fingierten Gruppe als gegenwärtige reduziert. Inszenierung in der Werbung meint, wie im kommunikativen Bereich überhaupt, zu beschwören und zu kreditieren, dass der Besitz keineswegs ein individueller Gewinn, sondern zugleich auch ein kollektives Erlebnis „rückverinnerlicht“, dass sich in einer 173

Ebd., S.486.

174

Ebd., S.516.

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wenn auch nur fingierten Gruppe bildet. Wenn wir heute von Szenografien sprechen, betonen wir das Erlebnis einer gegenwärtigen Gruppe, respektive wird das Ereignis selbst als Event (Pop-Konzert, Tag der offenen Tür, Straßenfest) einer Gruppenbildung, als performative Zeit realisiert. Die Interventionen, Wettbewerbe und Produktvorteile, „Bestsellerlisten“ und andere ritualisierte Handlungen bestimmen die durch sie gesetzte Zeit der Rankings als „Konsumtionseinheit“, die durch Resonanz der Käufer sich selbst verstärken und profilieren: Als deren Negat erscheinen die sogenannten „sozialen Netzwerke“ durch die Vereinzelung hindurch selbst als Ausgebeutete ihres Engagements für Dritte: eine Milliarde User, einige Hundert kommerzielle Gewinner. Ein Eid wird nicht auf Zukunft, sondern auf Technik geleistet, welche jene ohne Aufschub realisiert: Die Gruppe steht und zerfällt in Echtzeit. Der Mechanismus der Kollektivierung als soziales Motiv, das sich performativ propagiert, kann mit dem selbstbestimmten Eid nicht in Deckung zu bringen sein. Schon Sartre kritisiert: „Man war allzusehr geneigt, bestimmte kollektive Aktionen als das Produkt plötzlich entstandener Gruppen zu sehen – kurz, als das Produkt einer ‚Spontaneität‘ der Massen – oder als das bloße Resultat einer mehr oder weniger verkleideten Aktion der Machtbefugnisse.“175 Ist die Inszenierung einiger Weniger für die Vielen keine Frage des Aufbegehrens, sondern eine Frage der Intervention der Macht? Zu welchen Zwecken wird „interveniert“ in den heutigen „urbanen Interventionen“? Vermutlich ist diese Art aktueller Gruppenbildung allein durch die Geschwindigkeit überrascht, mit der sie sich bildet und verschwindet. Die funktionale Bedingung der Zeit schließt die Verführung nicht aus, aber gerade durch die Geschwindigkeit komprimiert sich die soziale Zeit zur Gewalt. Die Empörung als Affekt ersetzt die Verführung als kalkuliertes Spiel. Halten wir fest: Die Inszenierung erscheint als ein Implement des Außen für ein Kollektiv – als Fingierung eines Ziels, dessen Erreichen einen Eid und einen Plan entfaltet, nach dem die Mitglieder einer Gruppe (und seien es Zuschauer) austauschbar und somit individuiert und als Dritte handeln können, aber nicht handeln müssen. In beiden Funktionselementen, – „Ziel“ und „Widerstand“ – wird Sinn als lebendige Instabilität zwischen dem funktionalen und dem symbolischen Ereignis motiviert. Kreditierung und Hypothek der Hexis konstituieren in diesem Spiel eine Paralyse der vermittelten Gewalt, die die Situation als zufällige herausfordert und in der 175

Sartre, ebd., S.690.

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das Unvermittelbare als duellhafte Positionen – denken wir an Cyrano – das Drittenmoment unterminieren, wie ja auch Cyrano bei Roxane zwar Gehör (Geisteffekt), nicht aber Gesicht (Körpereffekt) finden kann. Das nächste Problem, das in der Darstellung der dialektischen Vernunft bei Sartre auftaucht, ist das der (paradoxen) Inszenierbarkeit von Spontaneität, das in Historie nicht zu implementieren ist und somit den dialektischen Verweis auf eine Praxis erfordert, die vorgeblich völlig situativ erfolgt. Darin liegt ein Widerspruch, den Claude Lévi-Strauss 1961 in einer direkten Antwort auf die im Jahr zuvor erschienene Kritik der dialektischen Vernunft einerseits affirmativ, andererseits kritisch vom Standort der Ethnologie aus aufdeckt. Lévi-Strauss legt es darauf an, die verschiedenen Deutungsansätze gesellschaftlicher Legitimierung (Tradition oder Macht) und des individuellen Sinns struktural zu bestimmen und ist durchaus bereit, die wertvollen Ausführungen Sartres für seine Methode fruchtbar zu machen. Es ist angezeigt, diese nicht sehr lange Betrachtung wegen der Schärfe ihrer Darstellung nachzuvollziehen, weil in ihr die Frage nach dem Inszenierungsstil von Argumentation oder „Ideologie“ gerade nicht metatheoretisch formuliert wird, sondern es um die Aufarbeitung des notwendigen Vermittlungsrestes einer kohärenten Theorie geht. Zudem trifft die kritische Auslegung vier Bereiche, die ich hier ebenfalls diskursiv nebeneinander bestehen lasse: die Ethnologie (Lévi-Strauss, Mauss), die Soziologie als materialistische-Dialektik (Sartre, Marx, auch Luhmann), die Phänomenologie (Husserl, aber auch das, was sich „Neue Phänomenologie“ nennt (Hermann Schmitz, Gernot Böhme)) und die Ontologie bzw. existenziale Hermeneutik (Heidegger und Gadamer).

e. Strukturale Aspekte des inszenatorischen Einspruchs Bezug nehmen wollen wir auf den letzten Abschnitt von Das wilde Denken (Kapitel IX: Geschichte und Dialektik). Lévi-Strauss beginnt mit einer Frage an Sartre: „Wie kann die analytische auf die dialektische Vernunft angewandt werden und sie begründen wollen, wenn beide sich durch Eigenschaften definieren, die sich gegenseitig ausschließen?“176 Während Sartre der „dialektischen Vernunft eine Realität sui generis“ zuschreibt, geht LéviStrauss von einer relativen Beziehung der analytischen und der dialektischen Vernunft aus. Dabei bemüht er das Bild, das Musil in seinem Roman 176

Lévi-Strauss, Das wilde Denken, a.a.O., S.282f.

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Der Mann ohne Eigenschaften für die Analogiebeziehungen beschreibt: Sie sei eine „Brücke ohne Widerlager“, ein Sprung ins Ungefähre: Als „Überschreitung“, bezeichnet Sartre den konstitutionellen Einspruch einer jeden hermeneutischen Progression. Sartre betont, dass dieser existentielle Sprung des Einzelnen immer schon durch eine Praxis der Drittheiten (Freiheit von etwas) vermittelt ist. Die dialektische Vernunft, so Lévi-Strauss, „ist der unaufhörlich verlängerte und verbesserte schmale Steg, den die analytische Vernunft über einen Abgrund baut, dessen anderes Ufer sie nicht erkennt und von dem sie doch weiß, daß es existiert, sollte es auch beständig weiter in die Ferne rücken.“177 Wenn der analytischen Vernunft das Primat der Realisierung zukommt ohne die Genese der gesellschaftlichen Vermittlungen (Ethik) implementieren zu können, dann muss nun gefragt werden, auf welche Weise sich die Deutungen der Analytik selbst mit Gewissheit erfüllen. Dem Fortschritt scheint ja die Moral immer nur aufgepfropft. Wenn das Ziel vorweg in einer Identitätsbeziehung besteht, dann muss dieses Setzen sich auf etwas stützen, das man weniger die „Erfahrung“ oder „Intuition“ als vielmehr „gesicherten Erkenntnisse“ nennt. Kurzum: Es stellt sich die Relativität der deutenden Erkenntnis als Ahistorische gegen den Telos der analytischen Erklärung. Wir haben nun gesehen, dass es in Bezug auf die Realitätsoptionen „inszeniert-nichtinszeniert“ nicht darum geht, eine objektive Entscheidung, sondern eine Deutungswahl zu generieren, die sich von dem Ausgangspunkt „Praxis“ als einer Welt der „zwanghaften“ Arbeit – so die Definition Hannah Arendts – unterscheidet. Man muss also nicht den Wahrheits-, sondern den Realitätsbegriff konstituieren als das, was in einer weitgehend normierten und gebrauchsgerechten Praxis immer schon und seit jeher geschieht. In dieser Hinsicht wirft Lévi-Strauss Sartre vor, das Cogito zu soziologisieren. „Fortan ersetzen ihm die Gruppe und die Epoche eines jeden Subjekts das zeitlose Bewußtsein. [...] Sartre, der eine Anthropologie begründen will, schneidet seine Gesellschaft von den anderen Gesellschaften ab.“178 Das Monitum ist das gleiche wie das von Niklas Luhmann, der von „Gesellschaft der Gesellschaft“ spricht, indem er sich auf jene Gesellschaften bezieht, die sich abstrakt und medienvermittelt konstituieren können, ohne sich quasi direkt aufeinander einschwören zu müssen – mit dem Unterschied, dass das Klassenbewusstsein diesen Schwur oder Eid (Sartre bezieht sich auf den 177

Ebd., S.283.

178

Ebd., S.287.

228

Ballhausschwur) als geleistet voraussetzt: Sie werden als Bürger geboren. Lévi-Strauss will damit sagen, dass Sartre durchaus gegen sich selbst argumentiert, da er noch eine Form des „wilden Denkens in der Philosophie Sartres“ ausmacht.179 Umgekehrt kann Sartre argumentieren: Die Nichtnegierbarkeit des ethnologischen Denkens muss begründen können, wie sie das Auftreten der Geschichtlichkeit als eines dominierenden Entwurfsprozesses an die Analytik delegieren kann.180 Zu beiden Seiten kann man sagen: Der Widerspruch besteht darin, dass Geschichte wie Bewusstsein nicht eben auch als Formen der desituierten Autorisierung erfasst werden. Dieses Problem, das Lévi-Strauss wohl sieht, besteht darin, dass Begründungen letztlich Denkvorgänge sind, in denen immaterielle Dinge zwischen Subjekten und Kollektiven zum Tausch anstehen, deren Wert höher sein kann als der von realen Gewaltoptionen respektive Subsistenzmitteln. Wahl, Tausch und Werthaltigkeit bedingen sich somit. Mit einer einzigen Vokabel annonciert Lévi-Strauss die Möglichkeit, dass Begründungen offenbar selbst inszeniert sind. Das Instrument, das Lévi-Strauss einem Begriff Hegels entborgt, ist das der „Bewegung“ des Denkens. „Man wird also einräumen, daß jede Vernunft dialektisch ist, was wir unsererseits zuzugeben bereit sind, da die dialektische Vernunft uns als analytische Vernunft in Bewegung erscheint.“ Der Unterschied, den Sartre zwischen „Denken“ und „manueller Arbeit“ macht, wird dadurch für den Ethnologen „gegenstandslos“.181 Es handelt sich um zwei mögliche Zustände, in denen die Einschränkung von Möglichkeiten (Logik und Funktion) für die Verwandlung von Autorisierungsfreiheit in „Arbeit“182 sorgt. Die Konzes179

Ebd., S.287, Anm.: „Für den Ethnologen dagegen stellt diese Philosophie (wie alle anderen) ein ethnographisches Dokument ersten Ranges dar, dessen Untersuchung unerlässlich ist, will man die Mythologie unserer Zeit begreifen.“

180 Man denke dabei nur an das historische Erscheinen der Null als Stellenwert der Zahl,

deren Gebrauch erst durch die doppelte Buchführung in der Kreditwirtschaft der Renaissance relevant wird, während sie im Römischen Reich noch völlig irrelevant ist.

181 182

Ebd., S.289.

Hannah Arendt hat auf die Unterscheidung von Politik und Arbeit aufmerksam gemacht, indem sie schon für die frühgriechische Gesellschaft den Unterschied von einem Zwang der Arbeit und einer Freiheit der politischen Handlungen ausmacht. Gerade die Freiheit der Handlungsoption erfordert von der Politik die Beherrschung theatraler Gesten und das Theater Ausdruck politischer Aktivität: „So ist das Theater denn in der Tat die politische Kunst par excellence; nur auf ihm, im lebendigen Verlauf der Vorführung, kann die politische Sphäre menschlichen Lebens überhaupt so weit transfiguriert werden, daß sie sich der Kunst eignet.“ Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, a.a.O., S.233f )

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sion, die Lévi-Strauss in Bezug auf seine Arbeit Les Structures élémentaires de la parenté (Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft,1949) macht, ist, dass er sich des gleichen Fehlers zeiht: Wir hätten deutlicher unterscheiden müssen zwischen dem Austausch, wie er sich spontan und gebieterisch in der Praxis der Gruppe ausdrückt, und den bewußten und überlegten Regeln, mit deren Hilfe diese selben Gruppen – oder ihre Denker – ihn zu kodifizieren und zu kontrollieren unternehmen. Wenn aus den ethnographischen Untersuchungen der letzten zwanzig Jahre eine Lehre zu ziehen ist, so die, daß dieser zweite Aspekt viel wichtiger ist, als die Beobachter – Opfer derselben Illusion wie Sartre – es gemeinhin vermutet hatten.183

Es scheint mir – eingedenk der Verkürzung unserer Darstellung – kein Fehlschluss zu sein, wenn wir aus diesem Bekenntnis ableiten, dass die szenifikatorische Funktion (oder wie Heidegger konkretisiert: der Zeitspielraum) des bewussten Denkens sehr viel schwerer die „Suche nach der unbewußten Genese des matrimonialen Austauschs“ zu erkennen und zu analysieren gibt als die rituelle, die die Überschreitung reintegriert, während das Denken stets eine Überschreitung bleibt. Im Zuge dieser Deutungen ist zu erkennen, dass gerade das ‚bewusste Denken‘ sich solcher Inszenierungsformen bedient, die sich annihilieren können, sodass Denkbewegungen sich nicht mehr als gesellschaftliche Doktrin enthüllen, sondern im Vollzug Zuspruch finden. Dass Denkbewegungen nur individueller Natur seien, ist eine Position, die Alfred Sohn-Rethel in seinen Untersuchungen als nicht stichhaltig abgewiesen hat. Erstens gibt es die Unterscheidung von Denkinhalt und Denkform gemäß der Intentionalität des Bewusstseins gar nicht, zweitens zeigt sich, dass die analytische Vernunft in Form des objektiven Denkens sich in Wahrheit an die ökonomischen und materiellen Bedingungen von Gesellschaft in bewusstem Austausch bindet – und zwar, so Sohn-Rethel, seit dem gleichzeitigen Aufkommen des gemünzten Geldes und der griechischen Logik um 600 v. Chr. im östlichen Mittelmeerraum.184 Im Zuge der perfor183

Lévi-Strauss, Das wilde Denken, a.a.O., S.289.

184 Ich verweise auf Alfred Sohn-Rethel: Das Geld, die bare Münze des Apriori. Berlin 1990,

und auf Jacques Derrida: Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie. Ein Kommentar zur Beilage III der „Krisis“. München 1987. Derrida deutet das Aufkommen der analytischen Legitimität durch einen Zwischenbereich der Geometrie begründet, die Endlichkeit und Besitzanmaßung (in Bezug auf die beginnende Landvermessung) als Zeit und Raum in Bezug setzt. „Die Invarianz der Tatsache, d.h. dessen, was als solches nie wiederholt werden kann, würde in einer Geschichte der Ursprünge de jure die eidetische Invarianz ablösen, d.h. die Invarianz dessen, was nach Belieben unbegrenzt wiederholt

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mativen Wende haben wir es leicht, das nächste Argument von Lévi-Strauss zu verstehen. Er spricht (wie der späte Heidegger) das Primat der Sprache an, die jeder Vernunft zugrunde liegt und die sich dialektisch nicht ableiten lässt. „Als reflexive Totalisation ist die Sprache eine menschliche Vernunft, die ihre Gründe hat und die der Mensch nicht kennt.“185 Die Sprache, da sie an die Körperfunktionen nicht gebunden ist, hat nun den Vorteil, ein Spiegel der menschlichen Handlungen zu sein, in denen Handlung (Arbeit) – wenigstens prinzipiell – opferlos reversibel gehalten werden. Die Sprache ist jedoch ein diachronisches Instrument; sie kostet und verbraucht Zeit. Außerdem singularisiert sie ihre Emittenden, denn es kann immer nur einer sprechen. Dass sie mit diesen Kosten spielen kann, beweist die Funktion des Eides, der von allen gleichzeitig gesprochen werden muss. Man darf Lévi-Strauss vorwerfen, hier ein Argument der analytischen Vernunft auf einem Gebiet angewandt und gegen Sartre verwendet zu haben, das umso dringlicher zeigt, was das Monopol der analytischen Vernunft verdeckt und was sich nur dialektisch an ihr kritisieren lässt. So kommt, werden kann. Die begründende Geschichte wäre der tiefe Ort der Unauflöslichkeit von Sinn und Sein, von Tatsache und Recht. Hier könnte der Begriff des ‚Ursprungs‘ oder der Genese nicht mehr in dem rein phänomenologischen Sinn gefaßt werden, den Husserl so nachhaltig unterschieden hat.“ (S.61) Derrida zielt darauf, dass der Besitzer eines Landstücks weder auf die Existenz seiner Vorfahren noch auf den einmaligen Aneignungsvollzug ein ewiges Recht begründen kann, da das Stück Land nicht distribuierbar ist. Der Besitz muss also in einem „spontanen“ Notariat durch den Akt der Verschriftung abstrahiert werden. Dazu aber muss das Stück Land selbst „verschriftet“ sein, was eine Geometrie notwendig macht. „Gleichzeitig sind Kultur und Tradition der Wahrheit von einer paradoxalen Historizität gekennzeichnet. In einem bestimmten Sinne scheinen sie von aller Geschichte entbunden zu sein, da sie vom empirischen Gehalt realer Geschichte und von bestimmten kulturellen Zusammenhängen nicht innerlich affiziert werden. Diese Emanzipation könnte mit einer Befreiung von Geschichte überhaupt verwechselt werden. Sowohl für die, die sich an historische Faktizität halten, als auch für die, die sich auf Idealität der Geltung beschränken, kann die historische Originalität erzählter Wahrheit nur die eines Mythos sein.“ (S.78) „Schließlich: es genügt nicht, die Wahrheiten der Wissenschaft, die Husserl mit Bolzano ‚Wahrheiten an sich‘ nennt, aufzulösen; vielmehr muß das Verhältnis der subjektiv-relativen Wahrheiten der Lebenswelt zu den objektiv-exakten Wahrheiten der Wissenschaft ständig problematisiert werden. Das Paradox ihrer wechselseitigen Beziehung macht beide Wahrheiten zugleich ‚rätselhaft‘. Eben in dieser Unsicherheit des Rätsels, der Unbeständigkeit des Zwischen, erstreckt sich die epochè: zwischen arché und dem télos eines Übergangs. Aufeinanderbezogen bleiben zwei Wahrheiten, die der dóxa und die der epistéme, deren Sinn und Apriori an sich heterogen sind.“ (S.159) Die Konklusion besteht nun darin – bezüglich der Kritik von Lévi-Strauss an Sartre – „Spontaneität“ (Einspruch) und „Geschichte“ (Dauer) als zwei Pole oder besser als zwei Bögen (regressiv und progressiv) der Amplitude des hermeneutischen Ereignisses anzuerkennen. 185

Lévi-Strauss, Das wilde Denken, a.a.O., S.290.

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wenn von Sprache die Rede ist, nicht nur Deutung ins Spiel, sondern auch Technik. Sprechen und Verstehen sind immer schon szenische Techniken. Lévi-Strauss bezieht sich damit unmittelbar auf das hermeneutische Konzept Sartres, dessen „progressiv-regressive“ Methode, die dieser in den ersten beiden Teilen seiner Kritik der dialektischen Vernunft entwickelt. Hier sei nur vermerkt, dass Lévi-Strauss diese Methode als „alten Hut der Ethnologen“ für seine Profession reklamiert, die diese Methode allerdings umgekehrt im regressiv-progressiven Sinne verwenden. Diese Methode könnte auch den Namen „progressiv-regressiv“ für sich beanspruchen; in der Tat ist diejenige, die Sartre unter diesem Begriff beschreibt, keine andere als die ethnologische Methode, wie die Ethnologen sie schon seit vielen Jahren praktizieren. Aber Sartre schränkt sie auf ihr einleitendes Stadium ein. Denn unsere Methode ist nicht einfach progressiv-regressiv: sie ist es zweifach.186

Soll man Sartre vorwerfen, dass er nur den initialen Akt der Deutung aufweisen will, der die gesamte Maschinerie der Vermittlungen sich unendlich wiederholen lässt, oder soll man ihm vorwerfen, dass er unterschlägt, dass die zweifache Bewegung jeden revolutionären Elan wieder in eine bürgerliche nichtrevolutionäre Epoche zurückwirft und das „wilde Denken“ „wissenschaftlich“ diszipliniert? Zum Verständnis muss so viel gesagt sein: Im ganz einfachen Sinne ist die Progression eine Wahrnehmung, die in einer Regression auf das reflektiert (zurückblickt), was sie als Bedeutung projektiv ausweist, so dass danach gefragt wird, welche Deutungsvorgänge immer schon vorhanden sind, wenn ich spontan das Sujet eines Bildes verifiziere ohne eigens wissen (reflektieren) zu müssen, dass es sich um das Sujet eines Bildes und nicht um die unmittelbare Wirklichkeit handelt. Ich muss also auf das zurückgehen (regressiv), was mir voraus ist (progressiv), nämlich den Gestus des Zeigens, der meine Relation zum Objekt als vermittelt impliziert.187 Nun passiert die Bewegung 186 Ebd., S.291. „Zweifach“ im Sinne der Umkehrbarkeit und der Verkettung: regressiv-progressiv. 187 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung von Wiesing, Sehen lassen, a.a.O., S.42f. „Etwas zeigen ist eine Handlung! […] Da jede Handlung ein Subjekt voraussetzt, hat eine Beschreibung des bildlichen Zeigens die Beschreibung einer Praxis des Zeigens zu sein: Wer beschreiben will, was es heißt, dass ein Bild etwas zeigt, muss die Handlungen beschreiben, in denen Menschen Bilder als Instrument zum Zeigen verwenden. […] Doch vollkommen unzweifelhaft ist, dass tote, materielle Gegenstände welcher Art auch immer prinzipiell nicht das Subjekt einer Handlung sein können und damit auch prinzipiell nicht etwas zeigen können.“ Da aber Bilder Präsenzen auf Dauer sind, sind in ihnen Handlungen szenifiziert, übergeordnet solche, die in der Begegnung zweier Subjekte situativ abwesend sind.

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entgegen dem Denkzwang nicht nacheinander, sondern als ein Zerfall von Figur und Grund – und zwar als ein solcher, der, wie in den Vexierfiguren, nur liminal dafür sorgt, dass die Oszillation auf die eine oder andere Seite der Bedeutung fällt. Es gilt nun für Inszenierungen auszumachen, ob hier eine optionale Deutungsautorisierung überhaupt gewünscht ist oder ob nicht alles nach den Regeln der Praxis durch diese selbst (ermergent) organisiert ist. Inszenieren heißt, wie in der Politik, sich seine Optionen offen halten und solche dem anderen anbieten oder unterstellen. Die regressiv-progressive Wendung wird als Inversion bestimmt; als Ästhetik formuliert sie sich in einer äußeren Praxis (aisthesis) des so und immer auch anderen Wahrnehmens.188 Das Problem in der Auseinandersetzung zwischen Sartre und Lévi-Strauss ist die Nichtbestimmung der Inversion als einer irreduziblen Bewegung mit und in einer Aktualität, die jede Deutung subjektiv infiziert – und die sich nicht hintergehen lässt. Warum ist die Methode der Ethnologen zweifache Hin- und Herbewegung? In einer ersten Etappe beobachten wir die erlebten Gegebenheiten, wir analysieren sie in der Gegenwart, suchen ihre Vorgeschichte zu erfassen, so tief wir in die Vergangenheit dringen können, und holen dann alle diese Tatsachen an die Oberfläche, um sie einer signifikanten Totalität zu integrieren.189

Man vergleicht den Einzelfall (Situativität) in seiner Entwicklung mit dem ethnologischen Wissen der Gegenwart in einer historischen, aber oft nicht datierbaren Dimension. Dann beginnt die zweite Etappe, die die erste auf einem anderen Gebiet wiederholt: diese interiorisierte menschliche Sachen, die mit ihrem ganzen Reichtum und ihrer ganzen Originalität auszustatten wir bestrebt waren, zeigt der analytischen Vernunft lediglich den zu überwindenden Abstand und den erforderlichen

188 „In puncto Individualität scheint die spezifische Leistung der Ästhetik auf das hinauszu-

laufen, was Iser ‚Defizitbilanzierung‘ nennt und frei nach Marquard als ‚kompensatorisch‘ gelten könnte. Das erste betrifft die ästhetische Seite der ‚Darstellung‘, das zweite die hermeneutische Seite des ‚Ausdrucks‘. Beide Seiten komplementär aufzufassen, verbietet indes das Thema Individualität. Auf Seiten der Darstellung ginge Individualität Hand in Hand mit einer Umgewichtung im Repräsentationscharakter von Darstellung, die vom Mimetischen zum Performativen verläuft.“ Manfred Frank / Anselm Haverkamp: Ende des Individuums – Anfang des Individuums? In: Individualität. Poetik und Hermeneutik XIII. Herausgegeben von Manfred Frank und Anselm Haverkamp. München 1988, S.XVII.

189

Lévi-Strauss, Das wilde Denken, a.a.O., S.290.

233

Schwung, damit sie die Kluft zwischen der immer unvorhergesehenen Komplexität dieses neuen Gegenstandes und den ihr zur Verfügung stehenden intellektuellen Mitteln überwinden kann.190

Jetzt heißt es, die historische Auslegung, die vom gegenwärtigen Wissen ausging, selbst zu thematisieren, also die ‚vorschnelle‘ Reflexion noch einmal nachträglich auf den Fall zu beziehen, um an ihm epigenetisch – also nach dem Muster der Sprachbildung – das Wissen der Gegenwart zu ergänzen und es von den eigenen konstitutiven Vorurteilen zu reinigen und erneut zu sehen, ob sich dadurch die erlebten Gegebenheiten der ersten Etappe vervollständigen lassen. Die Bewegung kann so lange vollzogen werden, wie die Minimierung der Lücken noch einen signifikanten Zuwachs an Sinn ergeben. Während Sartre, so Lévi-Strauss, diesen „Rückzug auf sich selbst“ als „Beweis“ ansieht, sieht der Ethnologe lediglich eine „Verifizierung“.191 Sartres Versäumnis bestehe darin, dass er die Modifikation der dialektischen Methode durch die Erkenntnis des Gegenstandes der ersten Etappe nicht in die Untersuchung implementierte: Die Dialektik bleibt dann was sie ist, sie ist der Epigenese und Fortentwicklung nicht fähig, d.h., sie ist linear, statisch (im Sinne der Vereinigung der Klassengegensätze) und somit das einzige Element, das im historischen Prozess unveränderlich bleibt – als „stalinistisches“ Element.192 Die Frage für den Ethnologen ist nicht die nach der Erfüllung eines Telos der Geschichte, sondern die nach der geschichtlichen Offenheit – das ist das Spiel der strukturalen Lücke, das der Struktur ihre generative Offenheit und Unabschließbarkeit verleiht und die analytische Vernunft als Teil hermeneutischer Vernunft offenbart. „Die eigentliche Frage ist nicht, ob man, wenn man zu verstehen versucht, Sinn gewinnt oder verliert, sondern ob der Sinn, den man bewahrt, mehr wert ist als der, auf den man weise verzichtet. In dieser Hinsicht scheint es uns, als habe Sartre von der aus Freud und Marx kombinierten Lehre nur die eine Hälfte behalten.“ Lévi-Strauss 190

Ebd.

191

Ebd.

192 Vgl. dazu die Kritik Luhmanns unter Rückgriff auf Gotthard Günther: „In der Logik

besteht dagegen ein Umtauschverhältnis zwischen den beiden Werten wahr und unwahr. Sie ist symmetrisch, man könnte sagen: seinsmäßig symmetrisch gebaut. Diese symmetrische Zweiwertigkeit steht jedoch voll im Dienst der (Erkenntnis der) ontologischen Einwertigkeit. Sie definiert die Freiheit des Beobachtens als Möglichkeit korrigierbaren Irrens (und nicht etwa transzendental oder dialektisch oder konstruktivistisch).“ Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Zweiter Teilband. Frankfurt am Main 1997, S.904f.

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fügt hinzu, dass der „Sinn nie der richtige ist“ in Beziehung auf den Telos von Gesellschaft, sondern nur in Bezug auf die aktuale Situation als angemessen bezeichnet werden kann, so wie man mit der Zahl π beliebig genau, aber niemals exakt rechnen kann. „Die Überbauten sind sozial ‚erfolgreiche‘ Fehleistungen.“ Zu hoffen, dass sich eine Erzählung der Geschichte als richtig erweist, ist ein Mythos des Erzählens im dezidierten Sinne – ein vorläufiges und passendes Erklärungsmodell, dem die Mitglieder einer Gemeinschaft zustimmen können. „Im System Sartres spielt die Geschichte genau die Rolle eines Mythos.“193 Und: „Diese Wahrheit ist situationsgebunden.“194 Die Gültigkeit dieser Aussagen bestätigt aber, dass die Funktion des Erzählens, wo immer sie auftritt, an die Funktion der Macht, der Vaterschaft und der (Selbst-)Autorisierung gebunden ist. Kurzum, sie erweist sich als narzisstische Spaltung respektive als eine patriarchale Geburtsnachstellung und -aneignung. Der Übergang von der analytischen zur hermeneutischen Vernunft markiert somit auch für das Denken von Lévi-Strauss der 1960er Jahre die Wende zum Neostrukturalismus.195 Jedoch: Verschiedene, sich rekursiv optimierende Deutungen, heißt nicht „beliebige Deutungen“. Mit der Hinwendung zur situativen Wahrheit erscheint das Motiv ihrer Zeitlichkeit. Situationen sind Synchronitäten, Bewegungen im Stillstand. Das generative und das historische Modell unterscheiden sich u.a. durch die Kontinuierung (Dauer) der Betrachtung: „Der Ethnologe hat Achtung vor der Geschichtswissenschaft, aber er räumt ihr keinen bevorzugten Platz ein. Er begreift sie als Forschung, die die seine ergänzt: die eine entfaltet den Fächer der menschlichen Gesellschaft in der Zeit, die andere im Raum.“196 193

Lévi-Strauss, Das wilde Denken, a.a.O., S.292.

194

Ebd., S.293.

195

Vgl. Manfred Frank: Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt am Main 1983. Franks Argumentation betont jedoch, dass Sartre durchaus Positionen einer „transzendentalen Hermeneutik“ im Begriff des „universel singulier“, des „individuellen Allgemeinen“ (Frank mit Schleiermacher) übernimmt und dass die für die „deutsche“ Hermeneutik kritische Position in derjenigen Gadamers liegt, der quasi die frühromantische Tradition in seiner „wirkungsgeschichtlichen Hermeneutik“ abgeschnitten hatte. (S.15) Im Ansatz einer Hermeneutik der Inszenierung will ich hier nicht die einzelnen Positionen beurteilen – dazu haben die Darstellungen von Frank einen zu reichhaltigen Grund schon gelegt, die er in Bezug auf den Neostrukturalismus in seiner Untersuchung in folgende Fragenkomplexe unterteilt: „1. Wie stellt er [Gadamer, R.B.] sich zum Phänomen der Geschichtlichkeit? 2. Wie stellt er sich zum Phänomen der Subjektivität? 3. Wie erklärt er Sinn und Bedeutung?“ (S.609) Zur Wende bei Lévi-Strauss vgl. 4. Vorlesung, S.66ff. Frank geht nicht auf die Kritik von Lévi-Strauss an Sartre ein, sondern verbindet sie mit der Konzeption von Derrida.

196

Ebd., S.294f.

235

Wir haben anfangs schon darauf hingewiesen, dass wir uns weniger für die Ausstattung des Raumes (und somit die konkrete Inszenierung) als vielmehr für die Logik der szenifizierten Zeit interessieren, also für die Frage, wie Präsenzen auf Dauer (aus)gehalten werden, wie affektive Sinnenereignisse zugleich erlebt und bewahrt werden können. Wir haben unterstellt, dass das Gedächtnis die Funktion bietet, das Erlebte nicht zu repräsentieren, sondern eine parallele Oszillation, d.h. eine Synchronisation von Gegenwärtigkeit und Vergangenheit zu leisten. In Wahrheit ist deswegen der Gegenstand des Gedächtnisses nicht im Gehirn, sondern im leiblichen Zustand als Präsenz präsent. Geschichte dagegen folgt einer datierbaren „Chronologie“, verifiziert aber nicht die unterschiedlichen „Klassen“ und „Intensitäten“ von Ereignissen. Der „kontinuierliche Ablauf“ erweist sich damit als fingiert, ist schon (Fehl-)Deutung.197 Im Folgenden richtet Lévi-Strauss sein Augenmerk auch eher auf die Unterschiede der Zeitauffassung. Ob die Französische Revolution „Epoche “oder nur eine Reihe von einzelnen Erlebnissen ist, die zu einem Ereignis verschmolzen werden, das ist keine Frage, die man an die Datierungen stellen darf – was man wahrlich auch Sartre nicht unterstellen sollte. Sartre zeigt sehr deutlich, wie sich aus den Einzelerlebnissen qualitativer Sinn im Bewusstsein von Kollektivität erzeugt – z.B., dass die Bevölkerung von Paris sich als „Pariser Kommune“ zu begreifen beginnt und so den Mehrwert an Sinn zu neuen Deutungsoptionen führt, die etwa den Begriff „Franzosen“ als ein Versprechen statuiert. Das Problem liegt in der Implementierung neuer Erlebnisse, die als Dokumente historischer Ereignisse etwas „lehren“ sollen. Die Geschichte lehrt nichts, sie kann als Erklärung der Praxis nur eben jene mythische Form transzendieren, die die Komplexität der gesellschaftlichen Ereignisse so inszeniert, dass sie als Folge von Daten oder Klasse von Daten lesbar werden. „In Bezug auf jedes der Geschichtsgebiete, auf das der Historiker verzichtet, liegt seine relative Wahl immer nur zwischen einer Geschichte, die mehr lehrt und weniger erklärt, und einer Geschichte, die mehr erklärt und weniger lehrt.“198 Soll die Geschichte ein pädagogisches Theater sein oder soll die Wahl der Inszenierung als Geschichte – denn jede Inszenierung ist eine Auswahl, die zu einer Wahl verführt – nur durch den Umstand gerechtfertigt sein, dass sie sich optimal vergegenwärtigen lässt, sodass ihr ganzer Sinnüberschuss darin besteht, die Totalität zu universali197

Ebd., S.297 u. S.299.

198

Lévi-Strauss, Das wilde Denken, a.a.O., S.301.

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sieren und global verfügbar zu halten? Hier wird auffällig, dass Lévi-Strauss als Wissenschaftler, Sartre aber als Philosoph Erklärungen gibt, deren Sinn sich ihnen erst nachträglich erschließt – und zwar jeweils in einer biografischen Korrektur ihrer vorherigen Erkenntnispositionen. Sartre gibt zentral seinen frühen existentialistischen Freiheitsbegriff auf, Lévi-Strauss den der nur schematisierenden Struktur. Der Vorwurf an Sartre, er ziele auf eine Vollendung der Geschichte, statt sie als Ausgangspunkt zu nehmen, mag politisch verifizierbar sein. Dann muss aber auch Lévi-Strauss der Vorwurf gemacht werden, er hätte den Zeitcharakter seiner hermeneutischen Form nicht begriffen, wenn er das romantische Modell der abgründigen, gegenüberstehenden Spiegel bemüht, dessen Revision Sartre durch den Blick und Lacan durch das Phänomen der Angst überboten haben. Das wilde Denken ist seinem Wesen nach zeitlos; es will die Welt zugleich als synchronische und diachronische Totalitäten erfassen, und die Erkenntnis, die es daraus gewinnt, ähnelt derjenigen, wie sie Spiegel bieten, die einander gegenüberliegenden Wänden hängen und sich gegenseitig [...] widerspiegeln. [...] Das wilde Denken vertieft seine Erkenntnis mit Hilfe von imagines mundi. Es baut Gedankengebäude, die ihm das Verständnis der Welt erleichtern, um so mehr als sie ihr gleichen. In diesem Sinne konnte man es als Analogiedenken definieren.199

Es ist natürlich nicht die Rede davon, dass Lévi-Strauss selbst „wild denkt“, sondern dass die zugrundeliegende hermeneutische Struktur unterschiedliche Interpretations-, Wahl- und Inszenierungsmöglichkeiten bietet, differentielle Ereignisse als Erlebnisse in ihrer Zeitlichkeit aufzufassen und wiederzugeben. Jede Vernunft, jedes Denken muss, um sich zu artikulieren und für einen anderen verständlich zu machen – um überhaupt als Sinn relevant zu werden – schon Einspruch sein. „Wenn wir also das wilde Denken als ein System von Begriffen beschreiben, die in Bildern verdichtet sind“200, dann muss die Diagnose erlaubt sein, dass wir in unserer Gesellschaft zunehmend von diesem Denken beherrscht werden, um nicht an unserer eigenen technischen Komplexität und der unendlichen Länge der Erzählungen (oder 199 Ebd., S.302f. Man kann in diesem Bilderdenken auf Godard verweisen, der in einem

seiner Zwischentitel in Histoire(s) du Cinema (1989) Oscar Wilde zitiert: „Eine genaue Beschreibung dessen zu geben, was nie stattgefunden hat, ist die wahrhafte Aufgabe des Historikers.“ Vgl. Jean-Luc Godard / Youssef Ishaghpour: Archäologie des Kinos. Gedächtnis des Jahrhunderts. Zürich 2008, S.19.

200

Ebd., S.304.

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Programmierungen) zu ersticken. Auf den Umstand der Komplexitätsreduktion diachronischer Formen macht Lévi-Strauss aufmerksam, indem er auf die spielerische Artistik hinweist, mit der in den ideologiereichen Zeiten der frühen 1960 Jahre (Medien-)Bilder beargwöhnt und Argumente noch ausgetauscht wurden. In den Gesellschaften mit Initiationsriten bieten Geburt und Tod Stoff für eine reiche und vielfältige Begriffsbildung, insofern eine wissenschaftliche Erkenntnis, die sich auf das praktische Ergebnis richtet – das ihnen fehlt –, diese (und viele andere) Begriffe nicht des größten Teils eines Sinnes beraubt hat, der den Unterschied von Wirklichem und Imaginärem transzendiert: eines vollen Sinnes, von dem wir auf der reduzierten Bühne der Bildersprache fast nur noch ein Fantom beschwören können. Was uns also als Verdichtung erscheint, ist das Kennzeichen eines Denkens, das die Worte, deren es sich bedient, ganz einfach ernst nimmt, während es sich für uns unter ähnlichen Umständen lediglich um Wort-„Spiele“ handelt.201

Nun ist es eben jener Spielbegriff, der im Untergang des Leitmediums „Geschichte“ und in der Dekonstruktion der Wissenschaften im hermeneutischen circulus vitiosus verfemt worden war. Es lohnt sich, eine Rehabilitierung der Hemeneutik, die nicht im Text, sondern in der Analyse komplexer, optionaler Darstellung (Präsentifikation) ihren Weg sieht, nachzuzeichnen.

201 Ebd., S.304f. Redlicherweise muss ich diese Kritik auch auf meine Analyse beziehen,

die keine Abbildungen und nur einige szenische Darstellungen bietet. Angesichts der Vielzahl der Inszenierungen und Visualisierungen erscheint es mir angemessen, mich mit diskursiven „Wortspielen“ im Sinne der Wittgenstein’schen Tradition, also philosophisch auseinanderzusetzen. Ich verweise ansonsten auf die anderen Bände der Reihe Szenografie & Szenologie – und auf ein Wort von Lévi-Strauss: „Das wilde Denken setzt eine Philosophie der Endlichkeit in die Praxis um.“ (Ebd., S.307)

238

239

IV. Die Situation und die Techniken ihrer Bemächtigung a. Von der Praxis der Präsenz zu den Möglichkeiten der Deutung Wir beziehen uns nun auf das, was Sartre mit dem Begriff „praktisch-inertes Feld“ meint, also mit der Anfänglichkeit einer Situation. Sartre sagt, dass „der Mensch genau in dem Maße durch die Dinge ‚vermittelt‘ ist, wie die Dinge durch den Menschen ‚vermittelt‘ sind. [...] Man nennt das dialektische Zirkularität.“202 Die Exzentrizität der dialektischen Situation wird durch das „Bedürfnis“ ausgelöst, das sich als „Mangel kund tut“. Diese „Lücke, eine Negativität“ tritt als „unorganisierte“ Form auf. Dialektik ist Widerspruch: gegen den Mangel und gegen dessen Auflösung. Die unorganisierte Form tritt als „Isolierung“ des „Organismus“ auf: „das ist die Todesgefahr.“ Um die „Auflösung“ abzuwenden müssen die Dinge organisiert werden, ebenso die Menschen, die sich zu Mitteln für ihre Zwecke machen. Die Organisation beruht darauf, sie in die Zirkularität zurückzuführen, sodass ihr Konsum einen Mangel affiziert. In einer Konsumgesellschaft muss es deshalb nützlich sein, den Mangel zu inszenieren. Das ist der aktuelle Zustand der Warengesellschaft: Es mangelt am Mangel. „Der Mensch des Bedürfnisses ist also eine organische Totalität, die sich ständig im Medium der Exteriorität zu ihrem eigenen Werkzeug macht.“203 Dieses Sich-zu-sich-Verhalten der Totalität zur Totalisierung der organischen Vermittlung von Menschen und Dinge entbindet sich als eine weitere Totalität der Bewegung, als „Zeit“. „Dieses zeitliche Verhältnis der Zukunft zur Vergangenheit durch die Gegenwart ist nichts anderes als die funktionale Beziehung der Totalität zu sich selbst. [...] Mit einem Wort, die lebendige Einheit ist durch die ‚Dekompression‘ der Zeitlichkeit des Augenblicks gekennzeichnet.“204 Diese abstrakte Dimension der „Dauer“ von Zeit ist Szenifikation; sie entbindet jedoch noch nicht die Fiktionalität einer Inszenierung und somit Sinn, der als Opponent den Mangel an Präsenz imaginiert. Da der Mangel die ständige Unterbrechung des „Austauschs“ bewirkt, kommt es zu einer elliptischen, schließlich linearen „Verschiebung“ des zyklischen Prozesses: zur Geschichte. 202

Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, a.a.O., S.83.

203

Ebd., S.85f.

204

Ebd., S.86f.

240

Die Verschiebung ist die notwendige Bedingung dafür, daß der Organismus nicht mehr das Medium und das Schicksal seiner Funktion, sondern sein Zweck ist: der einzige Unterschied nämlich zwischen der ursprünglichen synthetischen Zeitlichkeit und der Zeit der elementaren Praxis rührt von der materiellen Umgebung, die, durch das Fehlen dessen, was der Organismus in ihr sucht, die Totalität als zukünftige Wirklichkeit in Möglichkeit verwandelt.205

In der Möglichkeit als vermittelbarem Verhältnis von projektivem Mangel und realer Erfüllung ist es möglich, das Schicksal unter Beibehaltung der funktionalen Form der lebendigen Zeit als Struktur zu erkennen, in der auf inverse Weise mit dem Mangel an Präsenz in einer Präsenz des Mangels gespielt werden kann. Das ist die Phantasmatik von Fiktionalität. So wird die Totalität wiederum aufgespalten in eine negative und eine positive Form, mit der das Bedürftige jeweils als Fiktion (Möglichkeit) in die Welt kommen kann, ohne allerdings – darauf weist Sartre hin – den Grund seiner selbst (den Mangel) aufgeben zu müssen. Die tatsächliche Seinsweise der Fiktion (des ästhetischen Scheins) und des Fingierens (der konstitutiven Täuschung und konstruktiven Verführung) tritt hervor, wenn die bloße Erfüllung der Möglichkeit durch einen „Plan“ aus der zyklischen Welt heraustritt und „die umgebende Welt auf sein eigenes Ziel hin durchquert.“206 Die Inszenierung realisiert die Projektion einer negativen Realität auf ihre Fülle (Verdichtung) hin als – struktural gesagt, Verschiebung der Lücke, des leeren Platzes. Die Inszenierung findet dort statt, wo ein Ding, eine Sache oder eine relative Totalität diesen Weg der Leerstellen in einer lebendigen Zeit verfolgt, in der der Tausch (Deutungsoption) durch einen Mangel (fehlende Erklärungsautorität) dramatisiert wird. So spielt Deleuze in seiner Darstellung der strukturalen Analyse auf eine abwesende Anwesenheit der Objekte an, die eine Inszenierung als Spur des Begehrens verlangt, die die abwesenden, fehlenden oder geraubten Dinge als Entzug präsentiert: „Schuld, Brief, Taschentuch oder Krone, die Art dieses Objekts wird von Lacan präzisiert: es ist immer im Verhältnis zu sich selbst verschoben. Es hat die Eigenschaft, nicht dort zu sein, wo man es sucht, aber dafür auch gefunden zu werden, wo es nicht ist. Man kann sagen, daß es ‚an seinem Platz fehlt‘.“207 Die universelle Form dessen, was an seinem Platz fehlt (dessen Mangel nur in Bezug auf eine Ordnung besteht), repräsentiert die symbolische Form schlechthin, so Deleuze 205

Ebd., S.87.

206

Ebd., S.92.

207

Gilles Deleuze: Woran erkennt man den Strukturalismus? Berlin 1992, S.43f.

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mit Lacan. Denn eine Welt ohne Mangel kann nicht aus sich heraustreten, sie kann für sich nicht dauern, bleibt „planlos“ situativ wie der Streit der Götter. Inszenierungen zeigen sich als planvolle Projektionen der Orte der Tauschunterbrechung im fingierten Mangel von Möglichkeitswelten; denn die Präsenz wie der Einspruch schöpfen immer aus der Option einer Entscheidung. Wer könnte dies besser szenifizieren als Robert Musil, der in Der Mann ohne Eigenschaften dem „Möglichkeitsmenschen“ ein literarischphilosophisches Monument gesetzt hat: Der Möglichkeitsmensch hat einen „Möglichkeitssinn“. Musil gebraucht das Bild einer inversen Erweckung der Möglichkeit: Es ist die Wirklichkeit, welche die Möglichkeiten weckt, und nichts wäre so verkehrt, wie das zu leugnen. Trotzdem werden es in der Summe oder im Durchschnitt immer die gleichen Möglichkeiten bleiben, die sich wiederholen, so lange bis ein Mensch kommt, dem eine wirkliche Sache nicht mehr bedeutet als eine gedachte. Er ist es, der den neuen Möglichkeiten erst ihren Sinn und ihre Bestimmung gibt, und er erweckt sie.208

Nun muss man sich unter dem Möglichkeitsmenschen keinen Dramaturgen, Poeten oder Intendanten vorstellen. Die Dinge, dem Gebrauch als Erfüllung des Mangels zugetan, verlieren in der Pluralität der Möglichkeit den Zweck, der in der Requisite, aber auch im Inszenierungsspiel als magisch-fetischistische Besetzung getauscht wird. „Möglichkeit“ heißt, den Gebrauch und somit Praxis zu verkennen, Fehler und Irrungen im Umgang mit Menschen und Dingen zu wagen und den Verschuldungen nicht entgehen zu wollen, indem man den Gebrauch theatralisiert und das Opfer heiligt.209 208 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. In: Ders.: Gesammelte Werke Bd.1. Reinbek 1978, S.17. 209 Musil hat dabei stets betont, dass die, wie Bohrer sagt, „Auflösung der Grenze zwischen

Phantasie und Wirklichkeit“ weder dem Wahnsinn, noch der Anarchie noch der Ästhetisierung das Wort redet, sondern den Blick auf die Evidenz der Handlungen richtet, in denen die Dinge und der Mensch sich nicht mehr unvermittelbar, sondern spielerisch als vermittelt gegenüberstehen. „Dazu gehört im wissenschaftstheoretischen Bereich, daß die ‚Logik der Forschung‘ Subjekt und Objekt nicht mehr scharf trennt, sondern von Wechselwirkungen beider und den dadurch entstehenden Unschärfen ausgeht. Die Rolle der Hermeneutik in den Kulturwissenschaften steht hierfür. Hierzu gehört auch, daß der Begriff Kausalität durch den der Wahrscheinlichkeit ersetzt wird. Zu kritisieren ist hingegen jenes rein subjektivistische Manöver, die Welt zur narzistischen Phantasie zu erklären, Cervantes’ Ambivalenz aufzugeben und das Mißverständnis seines Helden Don Quixote, die Kunst

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Es genügt, wenn wir uns den gesamten Vorgang, der die unvermittelte Situation mit der Fülle der Realität vermittelt, am Beispiel des ersten Kapitels des Mann ohne Eigenschaften vor Augen führen. Der Titel dieses ersten Kapitels kann als Motto über jede Inszenierung stehen: „Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht“. Beginnen wir mit der Evidenz der Situation: Ich gehe in einer großen Stadt über die belebte Straße. Ich werde sie unfallfrei überqueren können, ohne im Mindesten bemerken zu müssen, wie mich in dieser Situation die Autos umkreisen. Da die Bewegungen fließend sind, haben wir es dennoch mit einer Statik zu tun: der Statik des Dauerns. Hier, etwa an der Place de la Concorde, mitten in Paris, hat jede Geste der Autofahrer und der (mutigen) Fußgänger, wie jedes Verkehrsschild und jede Ampel, eine der Vernunft gemäße Bedeutung, sodass die Opazität der Inszenierungsform des Verkehrs nur solche Situationen zulässt, die als vollständige Szenifikationen negiert werden und im Ausdruck „Fußgänger in der Großstadt“ praktisch Unfallfreiheit garantieren. Jedoch wäre das geringste Zögern, die kleinste Reflexion auf die Unwägbarkeit der Ziele, Anlass, das gesamte Verkehrsgefüge durcheinander zu bringen, da es die Signaleinheiten mit einem Vektor deutenden Zweifels belegt. Im Plan auf die Möglichkeit dieses Falles als Unfall hat die Stadt Paris vorsorglich für die misstrauischen Touristen eine Unterführung zum Triumphbogen bauen lassen. Die Brücke oder der Tunnel erweisen sich somit als Misstrauensobjektive gegenüber dem Vertrauensobjektiv, der Zeitbrücke des Triumphbogens. Sobald – so heißt es bei Musil im Romananfang des Mann ohne Eigenschaften – eine „quer schlagende Bewegung“210 im Getriebe der Großstadt (bei Musil ist es das Wien der Jahrhundertwende) einen solchen Fall ankündigt, konkretisieren sich die atmosphärischen Möglichkeiten, verdichtet in der Beschreibung des berühmten Romananfangs: „Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit.“211 Die Banalität dieser Aussage ist durch nichts zu überbieins Leben hinein zu verlängern.“ Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt am Main 1981, S.90 u. S.91. 210

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S.10.

211 Ebd., S.9. Das erste Kapitel umfasst nicht ganz drei Seiten (S.9-11). Ich gebe die Zitate

hieraus nicht einzeln an.

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ten. „Seinesgleichen geschieht“ – ist die Formel Musils für die Praxis. Die anschließende Schilderung widmet sich – ohne jede präzise Angabe der konkreten Stadt – ihrem Verkehrsgetriebe auf den Straßen und auf den vollen Bürgersteigen. Dann werden zwei Personen in den Fokus gerückt. Der Autor oder Beobachter der Situation beeilt sich aber, von der reinen Zufälligkeit der Fokussierung von Mann und Frau zu sprechen. Mag sein, dass die Anfänge großer Romane Spektakuläreres aufbieten sollten. Aber gerade die Neutralisierung eines Mangels schafft ein Begehren nach dramatischen Komplikationen, ansonsten würde man diesen 2000seitigen Roman, der schon strukturell kein Ende hat und finden kann, nicht durchhalten. Dem Roman Musils, wie jedem Roman seit seiner Kultivierung in der arbeitsfernen Gesellschaft von Versailles,212 geht es um die Vertreibung der leeren, situativen Zeit, der Überfülle (wie sie eine Stadt zu bieten hat) durch einen Mangel: als Aufhebung/Entscheidung einer fluiden Tausch-, sprich: Verkehrssituation. Also inszeniert Musil einen Unfall, aber er inszeniert ihn als ein spontanes Ereignis. Diese beiden hielten nun plötzlich ihren Schritt an, weil sie vor sich einen Auflauf bemerkten. Schon einen Augenblick vorher war etwas aus der Reihe gesprungen, eine quer schlagende Bewegung; etwas hatte sich gedreht, war seitwärts gerutscht, ein schwerer, jäh bremsender Lastwagen war es, wie sich jetzt zeigte, wo er, mit einem Rad auf der Bordschwelle gestrandet dastand. Wie die Bienen um das Flugloch hatten sich im Nu Menschen um einen kleinen Fleck angesetzt, den sie in ihrer Mitte freiließen.

Ein Mann war durch einen Lastwagen zu Schaden gekommen. Es ist eine eigene Analyse wert, mit welcher Meisterschaft Musil aus einer atmosphärischen Situation, einem Wetterbericht, den Roman einleitet und dem Unfall

212 Vgl. Wolf Lenepies: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt am Main 1981. Es geht, wie bei Musil, um die Trennung der Welt der Tätigkeiten und Zwecke von der der Emotionen, die in den Inszenierungen als enteignete „Gespenster“ in der Welt umherirren. Lenepies macht die Genesis der Gewalt ihrer Wiederaneignung insbesondere am Beispiel des Hofes von Versailles deutlich: „So entwickelt sich aus der Langeweile des aktionsbeschnittenen Adels erst die Satire, dann die Konspiration und schließlich die Fronde.“ (S.50) Zur Brechung des Widerstandes entwickelt Ludwig XIV. mit Le Nôtre, Mansart und Colbert ein Konzept, in dem die Vertreibung der Langeweile durch eine Politisierung der Inszenierung als besonderer Art der Machtästhetik in eine solche (Zwangs-)Arbeit ausartet, die Victor Turner (a.a.O) als wahre Form des Zeremoniells, vor seiner Aufteilung in die bürgerlichen Sphären „Arbeit“ und „Muße“ (Freizeit, Privatheit), anzeigt. Auch der Roman hat darin die Funktion, die leere Zeit mit fingierten Ereignissen zu füllen.

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zutreibt, ohne dass ein geringstes Motiv zur Hand ist.213 Hier sei nur die Anmerkung erlaubt, dass der „Lenker“ des Lastwagens, der den Unfall verursacht hat, „grau wie Packpapier [,...] mit groben Gebärden den Unglücksfall“ erklärt und somit in einer körperrettenden Gestik die Inszenierungsform teils als Entschuldung, teils als motorische Abfuhr reflektiert und sich vor der voyeuristisch sammelnden Menge zum Vortrag bringt: Die Reinszenierung des Unfallhergangs rettet die Situation als Szenifikation. Hier, in dieser kleinen Menschentraube, die um das Opfer steht, regiert noch der Ursprung des theatralischen Agon in solidarischer Gemeinschaft: Einer hat sich als Opfer der entfesselten Dinge für alle anderen gemacht. Etwas weiter weg, einige Sekunden nach dem Unfall, sind „die Dame und ihr Begleiter“, denen der Autor durch die Straßen der Stadt gefolgt war, durch vornehmen Stand und eben diese Verspätung von der solidarischen Gemeinschaft der Voyeure getrennt, der Teilhabe an der Reinszenierung als einer Möglichkeit nicht mehr fähig, gleichwohl die Dame doch ein ungutes Gefühl wahrzunehmen vermeint. Die entsprechende Entschuldungsreinszenierung ihres Begleiters ist nicht auf unmittelbare körperliche Beteiligung, sondern auf personalisierte Vergesellschaftung aus, d.h. auf sofortige Kompensation der Möglichkeit des Unfalls in eine kausalistisch unumkehrbare Realität, auf die Fesselung der Dinge. So klagt er auch nicht den Fahrer an, der sich seinerseits mit der Erklärung über den Unfallhergang entschuldigt, sondern die verbesserungswürdige Technik. Die Perspektive wechselt im Licht der Selbsterkenntnis vom Opfer zum technischen Mittler, dringt darauf, die Technik zu optimieren, den Mangel zu beheben und die Opferökonomie als solche zu verschieben. Die Vermittlungen waren nicht vermittelt genug: Differenz hat sich einen Weg gebahnt. Aber die Verschiebung eliminiert sie nicht, sie reißt notwendig ihre Lücken woanders auf. Der von Musil eingefügte Unfall zeigt, dass die Langweile, der ewige Kreislauf des Verkehrs der Stadt, diese Lücke ist. Diese wird nicht durch Arbeit, sondern durch ein buntes Inszenierungsprogramm geschlossen werden können, also durch eine Umleitung, nicht durch eine Unterbrechung des Äquivalenztauschs: Ohne Überschuss keine Freiheit, ohne Freiheit kein Spiel. Es ist dann doch besser, wenn der Überschuss, statt einen Passanten zu streifen oder gar in den Dingen zu ruhen, sich in der Fiktion realisiert. Die „Dame und ihr Begleiter“, die diskret an den Ort des Geschehens herangetreten waren, vermitteln sich das Schauspiel, nachdem sie sich 213 Vgl.

Bohn, Transversale Inversion, a.a.O.

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ebenso diskret wieder zurück gezogen haben, folgendermaßen: Die Dame „fühlte etwas Unangenehmes in der Herz-Magengrube, das sie berechtigt war für Mitleid zu halten; es war ein unentschlossenes, lähmendes Gefühl. Der Herr sagte nach einigem Schweigen zu ihr: ‚Diese schweren Kraftwagen, wie sie hier verwendet werden, haben einen zu langen Bremsweg.‘“ Die Distanziertheit dieses Auftritts ist für Musils Reflexion auf die Ironie der „Wirklichkeitsmenschen“, der Techniker und Ingenieure, zu denen er selbst gehört, mit Händen greifbar. Hier schon entfaltet sich monadisch das Konzept des ganzen Romans: das essayistische Verhältnis von technologischer Wirklichkeit und emotionaler psychischer Affektion, von „Genauigkeit und Seele“ – der Parallelaktion, die zur Inszenierung der realen „Parallelaktion“, dem österreichischen und deutschem Kaiserjubiläum, zu entwickeln die beratende Aufgabe des Mannes ohne Eigenschaften werden soll. Der ganze Roman entwickelt also die Vorarbeiten und die Vorbereitung einer Inszenierung, die niemals stattfinden wird: „Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht.“ Hier (im Roman) löst sich das Inszenieren in sich selbst auf, bindet sich als Tat nicht ab, realisiert sich nicht. Diese Art der Ereignissabotage und -travestie von Inszenierung – es geht wirklich nichts daraus hervor – zeigt sich im Verweis des Mannes auf die entpersonalisierte, entsubjektivierte Aussage einer Diagrammatik: „‚Nach den amerikanischen Statistiken‘, so bemerkte der Herr, ‚werden dort jährlich durch Autos 190.000 Personen getötet und 450.000 verletzt.‘ “ Für 1913 – dem Jahr in dem Musil seinen Roman beginnen lässt – eine erstaunliche Zahl. Aber darum geht es nicht, es geht um eine Darstellung des Menschen in seinen Möglichkeiten anhand der vor- und fürsorglichen Materialisierungen der Stadt: „Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen.“214 Am genauesten erkennt man sie in ihren Einsprüchen gegen das Getriebe. „Halt!“ – aber schreit hier nicht mehr das Subjekt, sondern die unfallträchtige Maschine, die aus ihrer Zyklizität und dem funktionellen, geraden Verlauf geworfen wird und nicht berechnet, dass jemand „durch seine eigene Unachtsamkeit zu Schaden“ kommt. Der Unfall stellt sich als Folge einer nicht geradlinigen Bewegung heraus, lebhafte Bewegung der Fußgänger: „Schon einen Augenblick vorher war etwas aus der Reihe gesprungen, eine quer schlagende Bewegung; etwas hatte sich gedreht, war seitwärts gerutscht, ein schwerer, jäh gebremster Lastwagen war es.“ Der unfallträchtige Einspruch der Dinge wird sogleich durch zwei mögliche Inszenierungsprozedu214

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S.9.

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ren aufgehoben: Resorption in die Gemeinschaft, die sich als Solidargemeinschaft versteht (Mitleid) und eine intrinsische Form von Selbstbewusstsein darstellt, also kontigentierten Operationen der ‚Unfall‘-Verwesung. Diese Prozedur der Verarbeitung wird als Gefühl distanziert beobachtet und ist schon die Selbstinszenierung eines Gefühls: „Die Dame fühlte etwas Unangenehmes in der Herz-Magengrube, das sie berechtigt war für Mitleid zu halten.“ Die zweite Inszenierung ist die vom Mann her vollzogene Schuldverschiebung in die Drittenmomente der Technik zur Eliminierung des Mangels der Produktionsvermittlung, die ja immer nur gegenwärtig und vorläufig realisierte Idealitäten sind: „Diese schweren Lastwagen, wie sie hier verwendet werden, haben einen zu langen Bremsweg.“ Unmittelbares Subjekt ist nur der Lastwagenfahrer: Seine Inszenierungsform ist die reichhaltige Geste im Nachvollzug des Unfalls, den er den Umstehenden vermittelt. Sie löst sich vom eigenen Körper nicht ab, bleibt ihm vermutlich traumatisch verhaftet, wird inkludierendes Ding im Körper, Gedächtniskörper und Körpergedächtnis, Symptom, das in Griff zu bekommen ewige Selbstbeobachtung verlangt und eben Hinweise an die Konstrukteure der Lastwagen. Das erste Kapitel von Musils monadologisch konzipiertem Romans Der Mann ohne Eigenschaften konstruiert das szenografische Programm einer Szenifizierungsamplitude, einer qualitativen Zeit, die in ihrer Dauer die Unmittelbarkeit der Erfüllung durch die Mittelbarkeit eines funktionalen Plans sich zu vermitteln vermag: durch eine projektive Darstellung einer retroaktiven Deutungsvergabe im Rahmen dessen, was ein Roman situativ vorgibt. Das Kapitel gibt den Deutungsanspruch vor, im gesamten Roman die Latenz zwischen Deutung (positiver Mangel) und Bedeutung auszuhalten (verschobene Erfüllung desselben in eine Sache, die es künstlich erlaubt, einen Mangel der Realität festzustellen), und zwar als funktionale Dopplung. Ich muss den Roman lesen, also den szenifikatorischen Prozess begleiten und ich muss den bedeutenden Inhalt auf seine symbolischen Komponenten hin identifizieren (bedeuten): kurzum, ich bin angewiesen auf divinatorische Synchronisierung und permanente Deutungsentscheidungen. Als erfahrener Leser darf ich zugleich bemerken, wie die funktionelle Struktur das Lesen selbst als ein bivalenter Vorgang (weiblicher und männlicher) Signifikationsprozesse szenifiziert. In der Tat ist es genau diese letzte Ebene, die die Selbstthematisierung der Literatur leistet und den Leser zu einem Komplizen des Autors macht: Komplizität, das meint, am gleichen Ziel teilhaben, als Drittenmoment. Hier, in diesem ersten Kapitel entfaltet Musil den hermeneutischen Einspruch gegenüber einer Kompetenz des Wissens, und er betont die

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Bedeutung einer szenischen Logik für eine literarische Hermeneutik oder, mit Kittler, eine materialistische Auslegung medialer Vermittlungen, da diese eben nicht nur „Gespenster“ sind. Amplitude einer Wellenbewegung ist der Ablauf deswegen, weil die Richtung einen kontinuierlichen Kompetenzzuwachs erfährt, sodass zunehmend eine Achronie zwischen ‚Gefühl und Verstand‘ aufbricht, deren Vermittlungsproblematik darzustellen das Hauptanliegen dieses essayistischen Romans ist, in dem nicht gehandelt, sondern gedacht wird.215 Die Frage der Selbstinszenierung, das hysterische Moment des Nicht-aus-sich-heraustreten-Könnens in eine individuierte Situation der Allvermittlung, scheint das zu sein, was die Renaissance der Inszenierung heute ausmacht: dem zynisch mangellosen, global vermittelten Menschen (westlicher Prägung) seinen Mangel an Mangel zu inszenieren und zu dramatisieren. Musil ist in der Lage, die Genealogie einer Szenologie auf den drei Seiten des ersten Kapitels systematisch für die dynamische Relation der szenologischen Differenz zu entfalten: a. Atmosphäre, b. Situation, c. Unfall/ Einspruch, Szenifikation, d. Affekte, e. Affektreduktion (Kausalierung, Statistik, Differenzanmahnung als Schuldverschiebung), f. Opferausweis (Anteilnahme), g. Optimierung der Dinge. – Er deutet damit an, dass jede Situativität (Sache oder Praxis) – durch einen spontanen Mangel veranlasst – ihr abhanden gekommenes Signifikat nachträglich durch eine Deutung inszenieren muss, um die Spontaneität des Ereignishaften als erlebbar zu kompensieren.216 Inszenierung ist immer Verwaltung eines Mangels (an Erklärungen oder Problemlösungskompetenz), im Hegel’schen Sinne „Aufhebung“. Die universellste Form dieser Aufhebung ist die, die der Totalisierung am nächsten kommt: die Abstraktion. Sie ist zugleich der Szenifikation 215 Adorno gibt in seiner Darstellung des Essays ausschließlich negative oder komparative

Definitionen. Dadurch ergibt sich die Idee, dass anstelle der Unmöglichkeit einer unendlichen, positiven Darstellung eines Gegenstandes oder eines Problems ein Panoptikum der Sichtweisen und Blick erstellt wird, wie es in Musils Roman intendiert ist. Das stellt eine besondere Schwierigkeit der szenischen Versammlung dar, denn die gleichzeitigen Ansichten müssen im Essay im Nacheinander abgewickelt werden. Das führt zu einer kristallinen Zersplitterung des Romans in sehr kleine Kapitel. Ihre Bindung erhalten die Prospekte, indem sie in der Lesbarkeit des Essays inszeniert werden. Die vornehmste Aufgabe des Essays ist die Verwandlung der uneinlösbaren Totalisierungen in eine Form der Lesbarkeit. Vgl. Theodor W. Adorno: Der Essay als Form. In: Ders.: Noten zur Literatur I. Frankfurt am Main 1969.

216 Vgl. Ralf Bohn: Am Nullpunkt der Szenografie. Zur Einführung einer szenologischen Differenz. In: Ralf Bohn / Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung und Effekte. Die Magie der Szenografie. Szenografie & Szenologie Bd.7. Bielefeld 2013, S.281-347.

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am fernsten. Die monadologische Essayistik Musils sucht beide Möglichkeiten zu vereinen. Nun ist es Musils besonderes Anliegen, den Gleichnischarakter von Selbst- und Fremdinszenierung hervorzuheben und damit das Argument der Vergesellschaftung des Mangels, wie Sartre ihn beschreibt, ebenfalls zu entwickeln. Das demonstriert er in der Kapitelfolge 119 bis 121, die mit der Schilderung eines „hysterischen Anfall(s)“217 beginnt, um im Kapitel 120, dem sogenannten Inversionskapitel des Romans, mit einer kollektiven Hysterie die Bestimmung der Unmöglichkeit der Selbstansicht in einer rationalisierten Wirklichkeit zu prüfen. Wir sind jetzt wieder an dem Punkt, an dem die Evidenz der Praxis einer notwendigen Störung/Mangelsituation ausgesetzt werden muss. Vor dem Palais, in dem die Parallelaktion geschmiedet wird, braut sich der Volkszorn zusammen – in einer Art Feldwirkung, in der die Menschen „mit einem kleinen Merkzeichen versehen zu sein“ scheinen.218 Diesen „Vorzustand“ der Demonstration (gegen die übergeordneten Pläne) beobachtet Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften (der Möglichkeitsmensch) aus dem Palais heraus als „Zuschauer“ mit Abscheu und „Ekel“. Die zentrale Passage seiner Inversion, in der die Masse gleichsam durch ihn hindurchströmt, muss man wegen ihrer Dichte in Gänze zitieren: Aber plötzlich brach er mit Ekel ab. Und während sein Auge noch abwechselnd in die drohenden Münder [der Demonstranten vor dem Palais; R.B.] und nach den heiteren Gesichtern [der mit ihm im Palais Versammelten; R.B.] sah und die Seele sich weigerte, diese Eindrücke weiterfort aufzunehmen, ging mit ihm eine seltsame Veränderung vor. „Ich kann dieses Leben nicht mehr mitmachen, und ich kann mich nicht mehr dagegen auflehnen!“ fühlte er; aber zugleich fühlte er hinter sich das Zimmer, mit den großen Bildern an der Wand, dem langen Empireschreibtisch, den steifen Senkrechten der Klingelzüge und Fensterbehänge. Und das hatte nun selbst etwas von einer kleinen Bühne, an deren Ausschnitt er vorne stand, draußen zog das Geschehen auf der größeren Bühne vorbei, und diese beiden Bühnen hatten eine eigentümliche Art, sich ohne Rücksicht darauf, daß er zwischen ihnen stand, zu vereinen. [...] „Eine sonderbare räumliche Inversion!“ dachte Ulrich.219

217

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S.623 Vgl. auch Bohn, Transversale Inversion, a.a.O., Abschnitt III, Die Verwendung der Inversion im Roman; die Interpretation. Dort auch eine ausführliche Interpretation der Kapitel 119 bis 123 des Mann ohne Eigenschaften.

218

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S.625.

219

Ebd., S.631f.

249

Stellen wir uns diese Inversion im Sinne der Monadenlehre vor. Die Monaden, so interpretiert Deleuze Leibniz, sind fensterlos, weil sie als inversive Faltungen einer totalisierten Fläche das Phantasma eines Außen negieren.220 Die Totalität ist eine Art Textur, eine Membran als zweidimensionaler Widerstand in einem an sich inexistenten Raum, eine mediale Grenze. Die Faltungen verbergen zuweilen die Flächen oder führen zu Begegnungen entfernter Orte auf der gleichen Fläche. Aber als Widerstandsfläche gedacht, kann man eine Vorder- und eine Rückseite der Fläche nicht ausmachen, sofern sie grenzenlos ist. Die Verhältnisse ihrer Beziehung sind nicht reflexiv, sondern inversiv. Die Inversion, die Ulrich erlebt, ist gleichnishaft für ein Bühnengeschehen, in dem der Zuschauer (Ulrich) mit der aktivierten Menge in einen Tauschsog gerät, dessen Ekelgefühl für Ulrich anzeigt, dass in einer gleichnishaften Möglichkeitswelt die Realisierungen einen Überschuss an Sein erzeugen. Keine der beiden Parteien, weder die Demonstrierenden da unten noch der Adel da oben, kann aus ihrer Haut heraus. Sie sind, was sie sind. Musil nimmt in seinen typischen essayistischen Abschweifungen hier Bezug auf die „Kulturperioden“221 und auf die Veränderungen, die das Kriegsgeschehen in „Kakanien“ (K.u.K.-Österreich-Ungarn) als „aparallele Evolution“ bewirken wird. Je höher der Grad an differentieller Bestimmung, umso geringer der totalisierende Überblick. Das ist auch die Meinung von Arnheim, dem Protagonisten der Parallelaktion, der als Pendant zu Ulrich stets die rationale Seite der Wirklichkeitsauffassung betont: „Wir haben die Teilung der Tätigkeiten ausgezeichnet organisiert, dabei aber die Instanzen für die Zusammenfassung vernachlässigt; wir zerstören die Moral und die Seele fortwährend nach den neuesten Patenten und glauben, sie mit den alten Hausmitteln der religiösen und philosophischen Überlieferung zusammenhalten zu können!“222 220

Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock. Frankfurt am Main 2000. Die Faltungen bestimmen sich durch Verschiebungen und Verdichtungen der gleichen (mathematischen) Ebene. Elementarität wird ausgeschlossen, die Inszenierungen werden tatsächlich zu katholischen Totalisierungen, in denen die Offenbarung eben nicht von außen (reflexiv), sondern mittels Inversion erfolgt, also durch Thematisierungen der Vermittlungen. Leibniz, so Deleuze, gibt dafür den Begriff „lesen“ vor. „Man weiß genau, daß das totale Buch der Traum von Leibniz wie auch von Mallarmé war, obgleich beide unaufhörlich fragmentarisch vorgehen.“ (S.55f.) Lesen ist nachgerade der Akt, der den unterschiedlichen Deutungsperspektiven zu einer szenografischen Einheit verhilft und das Unendliche dem Endlichen einverleibt.

221

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S.633.

222

Ebd., S.639.

250

Arnheim sieht, dass die Vermittlungen nicht hinreichen, die Differenzen in Schach zu halten. Ulrich/Musil reflektiert in einem inneren Monolog diese Ansichten Arnheims, indem er sie auf die Kontingenz des Selbstbewusstseins bezieht. Man weiß in diesen Momenten der Reflexion im Übrigen nie genau, ob der Protagonist oder der Autor (Musil) spricht. Ulrich also bezieht sich auf Arnheims Argumentation: „Man begriff neben ihm, was Selbstbewußtsein heißt: Das Bewußtsein vermag nicht, das Wimmelnde, Leuchtende der Welt in Ordnung zu bringen, denn je schärfer es ist, desto grenzenloser wird, wenigstens vorläufig, die Welt; das Selbstbewußtsein aber tritt hinein wie ein Regisseur und macht eine künstliche Einheit des Glücks daraus.“223 Das ist an Deutlichkeit für die Bestimmung der Selbstinszenierung nicht zu überbieten. Wenn Arnheim, der gewiefte Stratege der Parallelaktion, ein Alleskönner auf dem Parkett der Gesellschaften, ein Tatmensch erster Güte so seiner Selbstinszenierung enttarnt wird, dann kann man davon ausgehen, dass Ulrich genau dieser Inszenierung müde wird, dass er den Gleichnischarakter von Welt und Bewusstsein zugunsten irgendeiner Seite zu öffnen versucht. Wenn er „dieses Leben nicht mehr mitmachen“ kann, dann ruft er seinen Einspruch in das Rund der inversiven, hermetischen Welt. Sein Einspruch wird Erfolg haben: Er trifft wenig später beim Tod seines Vaters (!) seine Zwillingsschwester Agathe und versucht sich daran, mit ihr ein Leben in der Möglichkeitswelt, die freilich inzestuöse Züge trägt, zu führen. Das Unternehmen der Vereinigung der Glieder des Gleichnisses scheitert, wie auch die Pointierung eines Romanschlusses, der konstitutiv ist: Die Vereinigung des Gleichnishaften von „Genauigkeit und Seele“ würde auch die Repräsentation der Schrift wie jede Fiktionalität zerstören. Genau das bedenkt Ulrich als Folge der Unmöglichkeit des „Rücktauschs“: „Ihm fiel ein, daß das Gesetz dieses Lebens, nach dem man sich, überlastet und von Einfalt träumend, sehnt, kein anderes sei als das der erzählerischen Ordnung!“ Musil greift mit dem Begriff „erzählerische Ordnung“ kryptisch insbesondere Thomas Manns erzählerische Fähigkeiten an, sieht er sich ihm gegenüber mit dem Konzept seines Romans, an dem er dreißig Jahre arbeitet, zuerst zwar gefeiert doch dann von der Kritik vergessen.224 223

Ebd., S.645.

224 Dass Musil besondere Leser verlangt, ist nicht von der Hand zu weisen. „Es heißt, die

Bücher hätten heute keine Größe und die Schriftsteller vermöchten große nicht mehr zu schreiben. Das mag unbestritten bleiben; aber wie wäre es, den Satz einmal umzukehren und die Annahme zu erproben, die deutschen Leser vermöchten nicht mehr zu lesen?“ Robert Musil, GW, a.a.O., Bd.7, S.513 (Unter lauter Dichtern und Denkern). Bergson

251

„Jener einfachen Ordnung“, so fährt Ulrich/Musil mit seinen Gedanken fort, die darin besteht, daß man sagen kann: „Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet!“ Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten „Faden der Erzählung“, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht. [...] Das ist es, was sich der Roman künstlich zunutze gemacht hat [...] und das wäre schwer zu begreifen, wenn dieser ewige Kunstgriff der Epik, mit dem schon die Kinderfrauen ihre Kleinen beruhigen, diese bewährteste „perspektivische Verkürzung des Verstandes“ nicht schon zum Leben selbst gehörte. Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. [...] Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dies primitive Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem „Faden“ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet.225

Erzählungen, Strukturen, Netze – je mehr Vermittlungarten stattfinden, desto mehr Differenzierungen sind auf höherer Ebene wieder in Praxis rücjzuvermitteln. Wie lassen sich die Vermittlungen vermitteln? Durch die totalisierende Wirkung von Szenifikationen, deren Präsenzketten aber ebenfalls begrenzt werden müssen: durch Körperwiderstand. Wenn die normale und normierende Wirklichkeitsbetrachtung eindimensional linear, die Wirklichkeit selbst aber zweidimensional flächig für ein Selbstbewusstsein in Szene gesetzt wird, dann muss der Möglichkeitsmensch sich in einer dreidimensionalen Sphäre davon absetzen: Das haben wir in der Parabel Kafkas schon zur Kenntnis genommen. Nur der Galeriebesucher regrediert in einen Traum, in welchem die Welt nicht episch ist, sondern synchronisch und simultan verwoben wie die Wirklichkeit selbst. Es macht keinen Sinn für ihn, das „Halt!“ in die Manege zu rufen. Nun geht nach der Postmoderne die Behauptung um, dass die „großen Erzählungen“226 nicht abgedankt haben, hat das im Kapitel Das Mögliche und das Wirkliche in Denken und schöpferisches Werden auf den Punkt gebracht: „Das Mögliche ist also das Spiegelbild des Gegenwärtigen im Vergangenen.“ Ders., Denken und Schöpferisches Werden, a.a.O., S.121. 225 226

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S.650.

Vgl. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien 1993. „Die Sehnsucht nach der verlorenen Erzählung ist für den Großteil der Menschen selbst verloren. Daraus folgt keineswegs, daß sie der Barbarei ausgeliefert wären. Was sie daran hindert, ist ihr Wissen, daß die Legitimierung von nirgendwo anders herkommen kann als von ihrer sprachlichen Praxis und ihrer kommunikationellen Interaktion. Vor allem anderen

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sondern nicht groß genug waren und deswegen die rechte Balance sich nicht einstellen will. Nennen wir bidirektionale Inszenierungen ‚episch‘, die unter Einbeziehung einer Drittheit ‚dramatisch-dialogisch‘, dann müssen die darüber hinausgehenden in einer umfassenden Inszenierung der Wirklichkeit,als ‚zynische Ironisierungen‘ verstehen. Als positive Formen davon wären insbesondere die kommerziellen Szenografien aufzufassen, in denen jeder Passant zum Akteur zu werden gezwungen ist, in der Regel zur Kaufentscheidung. „Die Umkehrung“, lautet das den Inversionsvorgang abschließende Kapitel 123. Hierin wird gegen die „Herde“ konstatiert: „Das ungeheure Drama der Einzelnen hatte begonnen!“227 Die Formel, die sich der Einsamkeit aus solch einem Drama entwindet, ist die der Übereinkunft Ulrichs mit Agathe, seiner Schwester. In dieser nicht mehr gleichnishaften Begegnung soll sich die Vereinigung von totalisierender Abstraktion und konkret lebendiger Differentiation vollziehen – die Synthese, nach der „man mit allem, was dasteht, durch die Luft wie ein zusammengewachsener Zwilling verbunden“ ist.228 Dann macht es keine Sinn mehr, zwischen inszenierter und nichtinszenierter Welt zu unterscheiden. Ob in dieser Indifferentiation das Spiel mit dem Dritten bedacht ist, das die Medien heute spielen, das hätte Sartre wohl an Musils Konzeption zu fragen gewagt: Das eine Spiel ist inzestuös, das andere, das der Medien, homosexuell: Die Vermittlungen beziehen sich (insbesondere binnenhermeneutisch) nicht mehr auf das, was der Dauerpräsenz fehlt.

b. Das ökonomische Problem der Initiation: Gabe und Reziprozität Wir müssen konzedieren, dass Musils Inversionsmodell die Frage, wie denn der Einspruch in der Wirklichkeit als Moment der Selbstbestimmung veranlasst und gebändigt werden kann, einerseits mit Sartre übereinstimmt: Es ist Glauben hat sie die Wissenschaft, die ‚in ihrem Bart lächelt‘, die raue Nüchternheit des Realismus gelehrt.“ (S.122) Lyotard bezieht sich mit der Metapher der Wissenschaft auf das Kapitel 72 des Mann ohne Eigenschaften: „Das in den Bart Lächeln der Wissenschaft oder Erste ausführliche Begegnung mit dem Bösen“. Musil bemängelt insbesondere die „Utopie des exakten Lebens“, kommt aber naturgemäß gerade mit dem Inzest nicht weiter, der ja verhindert, dass Ereignisse möglich werden. Der Roman paralysiert sich gegen sich selbst und spiegelt mit zunehmendem Verlauf die zunehmende Einsamkeit Musils wieder. 227

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S.656.

228

Ebd., S.659.

253

der Ekel, ein Zuviel an Sein, seine heterogene Verfassung; es ist andererseits die Unfähigkeit, in einer gleichnishaften Möglichkeitswelt einzutreten, die Sartre glaubt in der Kollektivierung des Dritten als ein Innen-Außen kompensieren zu können. Das heißt, dem Vater-Sohn-Übergang muss die Differenz eingeschrieben sein, die sich opferlos gibt: Es gibt Zeit.229 Derrida spielt auf den Zusammenhang zwischen Tausch, Zeit und Erzählung mit eben diesem opferlosen Bewusstsein an: „Allem Anschein nach und nach der gängigen Logik und Ökonomie kann man nur, metonymisch, das, was in der Zeit ist, austauschen, nehmen oder geben.“230 Was nicht in der Zeit steht, kann nur als Gleichzeitigkeit existieren; das ist dann der fingierte Zeitraum, wie wir ihn als kreditierenden Aufschub und als Dauer kennen. Die Rolle der Erzählung ist damit stets funktional die, hervorzubringen – über einen anderen. „Der Erzähler nimmt hier den Platz der Natur ein“ 231: auf der Grundlage des Unerklärlichen; und unerklärlich ist bekanntlich der Gabencharakter der Natur (respektive der Gottes). Die zweite, historisch frühere Quelle zur opferlosen Gabe ist Marcel Mauss’ Die Gabe 232, eine der jüngeren Quellen sind von Niklas Luhmann.233 Luhmann kommt auf das Verhältnis von Normierungen und Situativität zu sprechen und fragt, wie es bei der Vielzahl von Situativitäten zu Normierungen kommen kann, die in der Regel nicht durch Abstraktion, sondern durch Praxis geregelt werden. Er fragt weiterhin nach der situativen Austauschbarkeit und stellt solche Formen als „Inszenierungen“ fest. Dadurch, dass diese eine Eigenzeit bewahren, ist es ihnen möglich, das zu tauschen, was, nach Derrida, keine Zeit hat respektive also in fiktiven Formen deklariert wird, ohne verstanden werden zu müssen. 229 Zur Gabenproblematik siehe Jacques Derrida: Falschgeld. Zeit Geben I. München 1993. „Wir verstehen es zu rechnen, wir können eine Rechnung [...] aufstellen, wir verstehen es, entsprechend den Prinzipien der Vernunft, zu erklären, eine Rechnung aufzustellen oder Rechenschaft zu geben [...] und diese Geschichte des Zählens und der Zahlung zu erzählen: Wir sind Menschen des Wissens und des Rechnens, aber auch gute Erzähler, sogar gute Literaten usw.“ (S.199) Derrida untersucht, in welcher Rolle der Erzähler Zeit gibt, um das, was sich dem Tausch entzieht, durch Erklärungen austauschbar zu machen. Das verschafft der Gesellschaft eine gewisse Abstraktion und Freiheit (Übertragbarkeit). 230

Ebd., S.12.

231

Ebd., S.216.

232

Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. In: Ders.: Soziologie und Anthropologie 2. Frankfurt am Main 1989. 233 Luhmann,

Die Gesellschaft der Gesellschaft, a.a.O., insbes. S.644.

254

Diese Schwierigkeit der Bildung von Rechtsnormen in der Form feststehender Entscheidungsregeln scheint mit der multifunktionalen Inanspruchnahme der vorhandenen Institutionen zusammenzuhängen. Multifunktionalität bedeutet ja: Mitwirkung in ganz verschiedenartigen Situationen. Das wiederum verhindert Universalisierungen und Spezifikationen der die Situation definierenden Merkmale. Die Situationsmerkmale dominieren das Erleben und die Erinnerung.234

Für den juristischen Fall gilt dann geradezu unabdingbar, dass die Norm (das Gesetz) wieder situativ platziert werden muss und dass Schuld nur dann ausgesprochen werden kann, wenn die „Erzählung“ und die Genesis der Tat in die Situation so eingebettet werden, dass alles Fingieren und Inszenieren (aller Lug und Trug) zweifelsfrei identifiziert werden kann. Auf diese juristische Realisierung der Situation verweist z.B. das Ritual; wir kennen solches Überschreiten der Situation als Normüberschreitung auch in der Kunst. Die Überschreitung der Situation durch Inszenierung verschafft der Gesellschaft eine gewisse Abstraktion und Freiheit (Übertragbarkeit), die sie als Gemeinschaft tausch- und kreditierbarer Vertrauensformen akzeptiert, ohne einen Anlass, ein Motiv, einen Grund oder gar eine Causa angeben zu müssen. Vertrauensformen sind als Gewohnheitsformen zeitneutralisierend. „Aus der Fülle des Materials auswählend, beschränken wir uns auf zwei Beispiele: auf Magie und auf die Normen der Reziprozität.“235 Die Wahl Luhmanns scheint nicht irgendwie zufällig zu sein, sondern betrifft eben jene grundlegenden sozialökonomischen Szenen, in denen der Tausch selbst als Annihilisation der Zeitfunktion grundsätzlich das Unerklärliche in paradoxer Weise als unerklärlich erklärt, d.h. in eine zeitlich-narrative Folge verwandelt. Das Überschreiten der Situation knüpft sich an eine Möglichkeit der Fiktion, deren Realisierung (Konkretion) als Inszenierung zur (für alle verbindlichen) Darstellung gelangt. Das Gedächtnis stützt sich zunächst auf einen bekannten Raum. Es nimmt topografische Formen an und benutzt erst später auch eigens dafür geschaffene symbolische Formen. Es beruht vornehmlich auf Objekten und auf Inszenierungen [!] wie Riten oder Festen, die hinreichend typisiert sind, um in einer über die Situation hinausreichenden Bedeutung erkennbar zu sein.236

„Mythische Erzählungen“ bieten dabei eine relativ späte Erscheinungsform zur desituierenden Deutung an, da in ihnen die Einzelsituationen 234

Ebd., S.639.

235

Ebd., S.645.

236

Ebd., S.644.

255

miteinander verbunden werden müssen. Dafür und für den magischen Vorgang, der in der Erzählung als Darstellung evoziert ist, gebraucht Luhmann den Begriff der ‚divinatorischen Praktik.‘ 237 Die divinatorische Praktik deutet die sozialen Beziehungen, ohne sie erklären zu müssen, da ihr Vater nicht erscheint und jeder sich potentiell an seine Stelle (Drittenposition) versetzen kann. Zwischen der Praxis des erklärenden Erzählens als einer Form mündlicher (oder schriftlicher) Szenifikation, und dem Verstehen muss demnach ein Unterschied gemacht werden. Denn im Verstehen wird die Inszenierung als Inszenierung selbst problematisierbar und überschritten, womit sie im eigentlichen, modernen Sinne erst beginnt, die Inszenierung einer (anderen) Autorschaft zu sein, in der nicht mehr jeder andere zum anderen der Dritte ist (so Sartre), sondern indem der patriarchale Signifikant als Person eingesetzt wird – mit allen Modifikationen, denen der Dritte nun durch die Einzelnen ausgesetzt ist, da jeder zu ihm einen anderen Blickwinkel einnimmt. Die Stelle der Person wird zur Rolle. Wir tragen dieser Umorganisation Rechnung, indem wir zwischen „Szenifikation“ und „Inszenierung“ unterscheiden. Die Rollenbesetzung ist also eine magische Form der Animation des Dritten. Als dieser Dritte muss die Übereinstimmung von Darstellung und Form, von Handeln und Mitteilen gewahrt werden. Denn der Dritte ist zugleich (als „Sohn“ des „Vaters“) ein A(a)nderer.238 Luhmann fasst zusammen: Denn bei Magie handelt es sich nicht, wie oft angenommen, um eine Art Zusatzkausalität, mit der unvollständiges technologisches Wissen (im Bewußtsein seiner Unvollständigkeit!) ergänzt wird. Sondern Magie bietet die Möglichkeit, die vertrauten Kausalitäten im Unvertrauten zu parallelisieren durch Praktiken, die ihrerseits als vertraut zur Verfügung stehen. Entsprechend wird magisches Handeln oft durch entsprechendes Reden begleitet, so als ob dies die Form sei, in der das Unvertraute behandelt werden könne; aber das heißt natürlich nicht, daß der Magier meint, die Worte seien eine Ursache für die Wirksamkeit der Mittel. Es geht nicht um die Symbolisierung dieser Differenz, es geht um ihren operativen, lebenspraktischen Vollzug.239

In Bezug auf Reziprozität geht Luhmann vom Gabenvollzug als etwas aus, das in der Reihenfolge der Zeit nicht verhandelt werden kann. Jeder kann das nachvollziehen, wenn er mit einem Kredit ein Haus bezahlen will, 237 Ebd.,

S.646.

238 Vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München

2013, S.31: „Denn wenn die Tätigkeit des Einzelnen Bedeutung für andere gewinnen soll, muß er sie so gestalten, daß sie während der Interaktion das ausdrückt, was er mitteilen will.“ 239

Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, a.a.O., S.646f.

256

zu dessen Sicherheit er das Haus schon besitzen muss, um den Kredit zu bekommen. Also vereint man bei einem Dritten (dem Notar) die Beglaubigung des Tauschs in einer Zeit außerhalb der Zeit. Dazu sind Funktionen der Reziprozität notwendig: Reziprozität scheint das wichtigste Mittel der Bindung von Zeit zu sein. Mit der Gabe beginnt soziale Zeit. Sie teilt die Zeit in Erinnerung und Erwartung und kennt mittendrin vorläufig nichts: Aufschub, Verzögerung, Warten auf Gelegenheiten. Jede Gabe schafft vorläufig unausgeglichene Situation. Reine Geschenke (ohne Auslösung von Dankbarkeitsverpflichtungen) sind unbekannt. Und da die Gesellschaft keinen Anfang hat, sondern in einem rekursiven Netzwerk von Erinnerungen und Erwartungen kommuniziert, gibt es streng genommen keine „freiwillige“ Leistung, die nicht schon Gegenleistung wäre und zu Gegenleistungen verpflichtete.240

Diese Ausführungen gelten nun auch für die „Selbstgabe“ der Imagination. Selbstbewusstsein, das ich nur als ein anderes, entäußertes Selbst zu fassen bekomme, also auf dem Grund einer Subjekt-Objekt-Spaltung, die wiederzuvereinigen eine Drittendifferenz, die Sphäre des Dazwischen, der Mediation ist, hat ebenfalls Gabencharakter. Das, was sich gibt, ist das Imaginäre: Die Anwesenheit des Abwesenden zu präsentieren und die Vergangenheit gegen eine Zukunft inversiv einzutauschen, dies macht den inneren Sinn einer Hermeneutik des (Selbst-)Verstehens aus. Denn der „Zeitabstand“ „verlangt die Intervention einer Deutung.“241 Die Formel der Frühromantiker, „das Bewusstsein ist nicht, was es ist, und ist, was es nicht ist“242, geht dialektisch nicht vollständig in der Präsenz auf. „Bewusstsein“ hält sich in 240 Ebd., S.651f. Vgl. dazu auch Derrida, Falschgeld, a.a.O., S.19. Diese Gabe muss des-

wegen absolut anonym sein und sich wie in einer Stiftung quasi selbst hervorbringen, so Derrida. „Da überall, wo es Zeit gibt, überall, wo die Zeit der Erfahrung beherrscht oder konditioniert, überall wo die Zeit als Kreis herrscht (ihr vulgärer Begriff, wie Heidegger sagen würde), die Gabe unmöglich ist.“ Derrida spielt mit der Homonymie von Präsent (Geschenk, Gabe) und Präsenz (gegenwärtig sein), um zu zeigen, dass, wenn der Zirkel der Zeit durchbrochen werden soll, die Legitimität und Autorschaft der Gabe sich dem Erklären als einem Ableiten entziehen und auf den Offenbarungscharakter des Verstehens deuten. Wir werden später mit Heidegger darauf hinweisen, können aber hier schon sagen, dass das Fingieren in modernen Inszenierungswelten (etwa der Medien- oder Reklamegaben oder des Internets) in dieser Form sich der kausalen Legitimierung zugunsten einer magischen entzieht, weil alle diese Formen sich auf die Indifferenzgaben der Medialisierung als einzelne und dritte beziehen – worauf der Plural „die Medien“ beständig hinweist.

241

Manfred Frank: Ansichten der Subjektivität. Frankfurt am Main 2012, S.69.

242

Ebd., S.254.

257

einem „Skopus“, einem „Lichthof“243 (der Szene) bei sich selbst auf und schiebt das Begehren vor seiner unmittelbaren Vernichtung in der Erfüllung (Telos) auf. Das Begehren begehrt sich selbst und verschafft sich so das Bewusstsein von Zeit als einer Dauer. Vom Typ „Skopus“ ist auch der Freud’sche Todestrieb geprägt, weil Begehren als Bewusstsein vom Tode und zugleich als Aufschub verstanden werden muss – wobei dieses „Zugleich“ zwar synchron, nicht aber simultan verläuft.244 Das „Selbst“ markiert diesen Aufschub. Wie kommen der Kredit und das Gaben-/Schuldverhältnis zustande, wenn schon ein minimales Ungleichgewicht, eine zeitliche Entfernung von sich (Reflexion oder Selbstbewusstsein) „Vertrautheit-mit-sichselbst“ meint?245 Uns darf dabei nicht so sehr die psychoanalytische Rede vom ödipalen Vatermord oder das strukturale Spiel der Lücke, die dieser hinterlässt, interessieren, sondern gesucht ist ein positives Motiv, das in der Nachträglichkeit einer Interpretation den ursprünglichen Sinn der Divination von „ich“ beglaubigt. Man muss noch der Gabe der Zeit zuvorkommen. Da man aber nicht schneller sein kann als die Zeit, bleibt nur die andere Variable: d.h. die der Gesichtspunkte der Gemeinschaft als einer nichtorganischen, heterogenen Totalität von Blickwinkeln, die meinen Rollenstatus (den Drittenstatus) trotzdem beglaubigt als das, was mir voraus ist. Das Selbst ist eine Vergegenwärtigungslücke – das, was ich als Dritter bin. Mit dem Tode des Vaters kann hermeneutisch traditionell gemeint sein, „den Autor besser zu verstehen als er sich versteht.“246 Was immer man 243

Ebd., S.92.

244

Zum Todestriebmodell vgl. vor allem Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. In: Ders.: Das Ich und das Es und andere metapsychologische Schriften. Frankfurt am Main 1982. Unter „Todestrieb“ versteht der späte Freud die Bewegung vom organischen Zustand in den anorganischen, als dessen Extraktion die Dinge den früheren, befriedeten Zustand bewahren, zugleich aber als Todesrepräsentanzen abgewehrt (animiert) werden müssen. Das Leben besteht in der Aufrechterhaltung dieser ambivalenten Energiepositionen, in der der „Lichthof“ oder die „Offenbarkeit des Seins“ sich durch sich selbst erhalten. 245

Frank, Ansichten der Subjektivität, a.a.O., S.255.

246 Adorno hat in seiner Ästhetischen Theorie Bedenken geäußert, den psychoanalytischen

Gebrauch der „Vaterabschaffung“ anders als in einem revolutionären Gestus zu verstehen. Mir geht es hier nicht um einen ideologischen oder gar theologischen Streit, sondern um die Aufdeckung der reversiblen Zeitstruktur des Fiktiven in der Singularisierung des Dritten, also um das Phänomen „Selbstbewusstsein“. Adorno: „In der Befreiung der Form, wie alle genuin neue Kunst sie will, verschlüsselt sich vor allem anderen die Befreiung der Gesellschaft, denn Form, der ästhetische Zusammenhang alles Einzelnen, vertritt im Kunstwerk das soziale Verhältnis; darum ist die befreite Form dem Bestehenden anstößig. Gestützt wird das von der Psychoanalyse. Ihr zufolge begehrt alle Kunst, Negation des

258

von der Verdopplung aus erschafft, folgt einem Vater, der sich nur in der Nachträglichkeit als der gebende Gott verklärt: ein Sohn. Diese Repräsentation geht im „bürgerlichen“ Theater über das Medium des Textes, nicht von der unmittelbaren Präsenz und dem unmittelbaren Verhalten (Aktion) aus.

c. Von der Initiation zum Spiel Der Tod des Vaters ist als Text schon revidiert; das zu zeigen und die matriarchale Produktion ins Licht zu rücken als ein „Sich-Zeigen“ ist das Anliegen Artauds. Artaud will als Initiation des Theaters Autorschaft verabschieden: Der Text und der Diskurs sollen aus dem situativen Register der körperlichen Darstellungen gestrichen werden. Derrida zeigt in seiner Analyse des Theater Artauds, die aus dem Jahre 1966 datiert und die performative Wende noch nicht aufnimmt, dass Artaud im Gestischen den „Triumph der reinen Inszenierung“ feiern will247: Reinigung vom Vater, d.h. ein „Theater der Grausamkeit“, dass der Nichtreproduzierbarkeit der Aufführung huldigt. Das Theater soll sein: „Ein Fest der Grausamkeit, das nur einmal stattfindet“.248 Dem Theater ohne Dramaturg stellt Artaud, so Derrida, eine Theatermaschine entgegen, die im Namen einer Darbietung matriarchale Produktionen feiert. Was ist grausamer: die Maschine oder die Einmaligkeit? Wenn das Theater durch die Geste und die Szene im Sinne der Darstellung als „Verräumlichung“ 249 präsentiert wird – Artaud geht implizit auf die Hieroglyphik der Freud’schen Traumdeutung 250 ein – und der „Mord“ am Wesen der Macht der Textur rüttelt, was bleibt dann noch anderes zu „geben“ als die Einbehaltung der Selbstvermittlung? Im Fest, dessen Vorschrift nicht der Text ist, soll die Situation, insofern sie rein und zwanglos dargeboten wird, als Bejahung erscheinen. Weil sie bereits begonnen hat, hat die Repräsentation demnach kein Ende. Die Geschlossenheit dessen, was kein Ende hat, läßt sich nichtsdestoweniger denken. Realitätsprinzips, gegen die Vaterimago auf und ist insofern Revolutionär.“ Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1981, S.379. 247 Jacques Derrida: Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main 1976, S.357, Zitation: Artaud, Das Theater und sein Double, a.a.O., S.189. 248

Derrida, Das Theater der Grausamkeit, a.a.O., S.374.

249

Ebd., S.359.

250

Ebd., S.364.

259

Die Geschlossenheit ist die kreisförmige Grenze, innerhalb derer die Wiederholung der Differenz sich unbegrenzt wiederholt. Das heißt sein Spielraum. Diese Bewegung ist die Bewegung der Welt als Spiel. „Und für das Absolute ist das Leben selber ein Spiel.“ Dieses Spiel ist die Grausamkeit als Einheit der Notwendigkeit und des Zufalls.251

Wir werden noch einmal auf diese Position Artauds zurückkommen, die uns ein grausames Schauspiel verspricht – ein Theater, das an seine Ursprünge als heiliges Opfer dem Agon und der Aporie der Zeit entspringt. Fürs Erste verspricht uns dieser Einschub, dass, wenn man das Theater der Inszenierungsmächte beraubt, man in die Situation eines unvermittelten Außer-sichs gelangt, dessen Substanz nicht geopfert werden kann, weil sie heilig ist: Das, was nicht vergegenständlicht werden kann, ist das Heilige; das ist nun der dezentrierte, zirkulierende Dritte als das, was ich nicht bin. Man darf einwenden, das Motiv sei in diesem Fall eine Befreiung vom Anfang – das Spiel bilde die Unabhängigkeit der Situation, indem es sie der beständigen Wiederholung unterwirft. Die Situationen sind als solche aber nicht bewusst, sondern an den Körpern der Individuen angeschlossen. Das Fest ist eher ein Rausch. Greifen wir der Darstellung dieses antihermeneutischen Theaters vor. Gadamer versteht das Spiel von der Ursprünglichkeit der schwankenden Interpretation her, indem er die Welt als Text versteht. Sie als Text zu verstehen, heißt, zu akzeptieren, dass der erste, nie dagewesene Ursprung (das Sich-selbst-Verstehen) sich erst in einem inversen zweiten Ursprung, der der hermeneutischen Techniken, repräsentieren lässt als ein „Für-andere“. Wiederholung besteht im Fingieren eines fiktiv Ursprünglichen, nicht in dessen Repräsentation. Gadamer hat diesen Umstand in seiner Auslegung von Hermeneutik stets mit dem Spielbegriff in Zusammenhang gebracht, ohne jedoch dessen strategische Option in Bezug auf Inversion anzuwenden, was am Festhalten der phänomenologischen Tradition liegt, die nicht mehr von der Übernahme des frühromantischen Zeitbegriffs profitiert hat. „Inversion“ ist nicht mit „Einfühlung“ gleichzusetzen. Abgesehen von der Auslegung der Aporie des „individuellen Allgemeinen“ findet man bei Gadamer jedoch die wesentlichen Probleme in Wahrheit und Methode ausführlich behandelt, – mit dem Vorteil, dass er sich nicht exklusiv einer literarischen Hermeneutik widmet, sondern aus allen Bereichen der Kunst und des Spiels schöpft. Symptomatisch für Gadamers Ausführung ist, dass er sich an ein positives 251

Ebd., S.379, Zitation: Artaud, Theater und sein Double, a.a.O., S.171.

260

Verstehen eines positiven anderen orientiert und die Negate nicht mitdenkt. „In Wahrheit kommt es darauf an, den Abstand der Zeit als eine positive und produktive Möglichkeit des Verstehens zu erkennen.“252 Damit kommt er aber nicht der Frage nach, was innnerhalb der Dauer einer Inszenierung (die nicht mit dem allgemeineren „Spiel“ gleichzusetzen ist) diese selbst bedeutet. Offensichtlich bietet eine negative (stilanalytische) Thematisierung hier Vorteile: Wenn das Wesen der Freiheit darin liegt, die Zeit umkehren zu können – mehr Freiheit geht nicht –, dann verschließt die positive Situation sich darin, die Sprache als Abstand dieser Zeit wiederzugeben. Die Sprache repräsentiert den anderen aber nicht als den, der er ist, sondern als den, der er in der Totalisierung seines Begehrens gewesen sein wird. Noch prekärer wird die Lage, wenn man a priori ein Bewusstseinsmodell, also einen extrinsischen Vermittlungsagenten einsetzt. Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein ist zunächst Bewußtsein der hermeneutischen Situation. Die Gewinnung des Bewußtseins einer Situation ist aber in jedem Falle eine Aufgabe von eigener Schwierigkeit. Der Begriff der Situation ist ja dadurch charakterisiert, daß man sich nicht ihr gegenüber befindet und daher kein gegenständliches Wissen von ihr haben kann. Man steht in ihr, findet sich immer schon in einer Situation vor, deren Erhellung die nie ganz zu vollendende Aufgabe ist.253

Das, was in der Situation autopoietisch produziert wird, was also in seiner Absolutheit nicht aufgeht, ist das Movens der Zeit: Ich sage deutlich „Movens der Zeit“, nicht „Zeitlichkeit“ (Geschichte, Epik, Narration etc.) 252 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 4. Auflage, Tübingen 1975, S.281.Die Idee der Einfühlung kommt dem späteren Gadamer nicht mehr zu, ist aber auch, so Frank, kein Argument bei Schleiermacher, der die Idee der Inversion (Tausch „ich-anderer“) präferiert. Figal führt aus: „So ist der Gedanke des Vollzugssinns Gadamers stärkster Einwand gegen Schleiermachers Plädoyer für eine Hermeneutik der Einfühlung und Divination. Der Schritt über Schleiermacher hinaus ist allerdings erst auf einem Umweg gelungen. Daß man die Wahrheit von Werken und Texten als ‚Vollzugswahrheit‘ erfährt, ließ sich erst sehen, nachdem der Vollzugssinn des menschlichen Daseins überhaupt deutlich geworden war.“ Positiv betrifft das die Verfehlung des anderen in seiner Darstellungsform und die Verfehlung der Darstellungsform in der Wiederaufnahme der Deutung: „Verstehen heißt nämlich: auf etwas zurückkommen können.“ „So ist das Verstehen durchherrscht von einem spannungsvollen, nie wirklich kalkulierbaren Zusammenspiel von Verschiedenheit und Selbigkeit, von sich ändernden Situationen und Zugangsweisen und dem, was sich in ihnen als das beständig Präsente erweist. Im Verstehen erschließt sich das Zusammenspiel von Zeit und Präsenz.“ Figal, Der Sinn des Verstehens a.a.O., S.7. 253 Gadamer, Wahrheit

und Methode, a.a.O., S.285.

261

selbst. Unter diesem Movens hält sich das Spiel als Szenifikation, nämlich als Dritter in Selbstvermittlung, ohne dass von „Inszenierung“ gesprochen werden muss: Es gilt, das Unvermittelte als Vermitteltes auszuhalten. „Das Subjekt des Spiels sind nicht die Spieler, sondern das Spiel kommt durch die Spielenden lediglich zur Darstellung.“254 Das diskreditierende Argument gegen den Modus der „Einfühlung“ besteht jedoch nicht in der Einführung eines „Vollzugssinns“, sondern in der Erkenntnis, dass auf der Szene wie im Text der andere stets im Modus seiner „Selbstabwesenheitsdarstellung“ („Rolle“) erscheint und somit genau die Leerstelle füllt, die mein eigenes Fehl als Deutungsabsicht motiviert und kontingentiert. Der andere ersetzt also die Kategorie „Bewusstsein“, so wie diese selbst durch das Vorweg des Anderen (der Dinglichkeit) ersetzt wird als Praxis. Damit konstituiert sich ein Dialog, in dem beide Tauschpartner sich als Negate begegnen, welche sie jedoch irgendwie auch positiv zur Darstellung bringen müssen, indem sie diese ironisieren/inszenieren. Daraufhin verständigt sich die Situation in einem medialen Dritten als Negat – nicht per se, sondern per anthropologischer Symbolisierung, wie wir von Winnicott erfahren werden: über die Unterscheidung von Anwesenheit und Abwesenheit (bei Freud: „Fort – Da“) und die Mediation durch Besitz (Dauer der Anwesenheit), und gerade nicht über die Bewegung „hin und her“, die eine Bewegung auf gleicher, positiver Ebene ist und somit doch wieder eine Bewusstseinsinstanz voraussetzt. Das ist aber genau der Vorwurf, der an Gadamer haften bleibt, auch wenn er die Subjektkategorie im Spielbegriff aussetzt. Die Darstellung des Spiels, in dem das Subjekt seinen Selbstverlust kompensiert, hat kein Drittenmoment außer der Performanz einer funktionalen Zeit. Die Zeit ist durch die Bewegung des Körpers markiert, derart, dass Lust oder Erschöpfung in der Regel Anfang oder Ende des Spiels bewirken. Die Definition Gadamers über das Spiel ist von geradezu naiver Einfachheit, aber sie sagt alles über das Movens der Zeit aus: Unter „Spiel“ ist „das Hin und Her einer Bewegung gemeint, die an keinem Ziele festgemacht ist, an dem sie endet. Dem entspricht auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Tanz [...]. Die Bewegung, die Spiel ist, hat kein Ziel, in dem sie endet, sondern erneuert sich in beständiger Wiederholung. [...] Das Spiel ist der Vollzug der Bewegung als solcher.“255 254 Ebd., S.98. Zu dieser Funktion des Spiels vgl. meine Einzelanalyse des Versteckspiels

in: Ralf Bohn: Versteckspiel. Ecksteine einer Genealogie der Szenifikation. In: Ralf Bohn / Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung und Ereignis. Beiträge zur Theorie und Praxis der Szenografie. Szenografie & Szenologie Bd.1. Bielefeld 2009, S.62-104. 255

Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S.99.

262

Daraus kann man ableiten, dass das ursprüngliche Spiel kein Movens der Subjektivierung, also keine Frage des Selbstbewusstseins und somit des Verstehens enthält, wenn nicht der Körper als ein vergegenständlichter Dritte interveniert. Und erst wenn er das tut, taucht „Präsenz“ als eine Form von „Nicht-Spiel“ auf. Das fehlende Partikel in der Gadamer’schen Hermeneutik ist also der Präsenzbegriff. Die Pointe dabei ist, dass nun gerade der Körper als situative Einspruchsinstanz durch den intelligiblen Einspruch ersetzt werden soll. Verlassen wir an dieser Stelle vorerst Gadamer, der mit präzisen Worten eine szenische Beschreibung der Maschine gibt, die man Pendeluhr nennt: eine Hin- und Herbewegung, die in eine epische Linearität überführt wird, die als zirkulare Bewegung auf einem Zifferblatt die Zeit angibt, die mittels einer einfachen Hemmung in der Lage ist, die Zeit darzustellen, sie als Ort eines Spiels der Kräfte aufzuführen; eine „Spieluhr“. Das Motiv des Spiels tritt erst dann als Vorstellung (im doppelten Wortsinne: von „Aufführung“ und „Imagination“) hervor, wenn dieses Hervortreten sich gleichsam an den Rändern von der Trägheit verabschiedet, die sie ursprünglich antreibt. Die Marge des Selbstbewusstseins aber kann stets nur als eine Abstoßung vom (Gegenstands-)Bewusstsein (Reflexion) begriffen sein, die – nach Musils Konzeption einer „Brücke ohne Widerlager“256 – im Imaginären aufruht. Aus der Szene des Spiels geht dessen Inszenierung nicht notwendig hervor.257 Das „Hin und Her“ Gadamers bedarf einer inversiven Wen256

Vgl. Dieter Fuder: Analogiedenken und anthropologische Differenz. Zur Form und Funktion der poetischen Logik in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Musil-Studien 10. München 1979, S.165. „Musils Paradox von der Dichtung, die eine Brücke ist, die sich so vom Boden wegwölbt, als besäße sie im Imaginären ein Widerlager ist das ‚Sprachbild einer Denkform‘, und diese ist als Analogie auszuweisen.“ Die Analogie, spielt schon seit Kant die unverdiente Rolle, Diskreditierung einer Form zu sein, die sich nur szenisch artikulieren kann, da sie eine Relation aus zwei Relationen mit zwei Unbekannten darstellt. In der Folge dieser Besetzung, die mathematisch nicht aufgeht, empfiehlt Kant eine kreuzweise Beziehung der Relate (Chiasmus), so dass sich das Abstrakte im Bild und das Konkrete in Abstraktion einer Form auszudrücken haben. Genau diese transversale Form hat, nach Musil, die Dichtung. Insofern kann man sagen, dass die szenische Bestimmung die einer Selbstbegegnung ist, die sich permanent verfehlt. Gerade in den Kapiteln, in denen Musil auf die intimen Begegnungen und Aussprachen zwischen den Geschwistern Ulrich und Agathe eingeht (z.B. Kapitel 52 Atemzüge eines Sommertages in Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, a.a.O., S.1232ff.), sind in einem völlig schwerelosen, Zeit anhaltenden Zustand geschrieben. („Der Mensch denkt aus der Zeit, der Engel aus dem Zustand.“) (S.1202)

257 Hier schließen alle Analysen nach extrinsischen oder intrinsischen Regeln eines Spiels

an. Die Frage stellt sich, ob das Theater der Grausamkeit sich nicht einfach nur einer

263

dung, die sich, wenn sie nicht als Einspruch/Affektion von Außen kommt, in symptomhaft verdichtet und verdinglicht: Sie zeigt sich bei ihm in dem Maße, wie das Subjekt sich selbst negiert; das ist aber für die hermeneutische Situation völlig inakzeptabel. Solche „Einfühlung“ würde sich rauschhaft ins Unendliche fortpflanzen. Ich folge in dieser komplexen Analyse der Phantasmatik der Instanz von Bewusstsein Manfred Frank, der auf der anderen Seite den Vorausentwurf eines Telos aufführt, der die informatorische Kraft des Zeichens in Bezug auf seine symptomatische Kompetenz miteinbezieht. Diese gilt ihm aber nicht in erster Linie durch psychoanalytische, sondern durch bewusstseinsphilosophische Begriffe repräsentiert. Lacan wird ebenso wie Sartre zeigen, dass diese nicht zueinander konträr stehen müssen. Zeichen sind keine Naturgegebenheiten, ihr Sinn gründet in Deutungsprozessen, die letztinstanzlich immer individuell, mithin ohne feste Identität, mithin veränderbar sein werden. [...] Löst aber ein Phänomen Wirkungen erst aus unter der Bedingung, dass Individuen es als dieses oder jenes deuten, dann bewegt sich im Zirkel, wer die Wahl nachträglich als durchs Phänomen determiniert ausgeben möchte […]. Man nennt solche auf vorgängiger Phänomen-Interpretation beruhenden Wirkungen motiviert, im Gegensatz zur Kausation, die in der physischen Welt deutungsfrei und zielbildend sich vollziehen. Individuelle Sinnentwürfe beruhen auf Motiven, mithin auf selbst entworfenen Auslösern.258

Erst in der Motivierung erwacht quasi ein „Für-sich“ des Bewusstseins. Wie das Symptom sich im Körper zeigt und das Verbergen des Motivs sich als der offenbare Vorgang der Verdinglichung inszeniert, so erweist sich das Szenifizieren als eine Form „vorgängiger Phänomen-Interpretation“, der es darum zu tun ist, den Quellpunkt des Motivs zu zeigen, eine zeitlich-räumliche Ordnung von Zeichen und Symbolen wieder in einer narrativ-dramaturgische „Technik“ als „Natur zweiten Grades“ auszugeben. Vergleichen wir das mit dem Kinderspiel, das darauf aus ist, eben jene symptomatische Müdigkeit zu provozieren, die es durch die Intensität der Aktion motiviert. Das Motiv ist in diesem Fall die Erzeugung eines Ziels, das sich im Spiel aufschiebt und erzeugt und dessen Pointe es ist, das „Erwachen“ des Körpers (in diesem Fall: Müdigkeit) zu provozieren: Bewusstwerdung selbst. Spiel und dessen Variante „Sport“ sind insofern Körperprovokationen als Selbstdarwinistischen Praxis überlässt, wenn es sich der Regeln einer textuellen/konzeptuellen Vorlage beraubt. 258

Frank, Ansichten der Subjektivität, a.a.O., S.321.

264

autorisierungen. Es geht hier nicht um die „Vorgängigkeit, die ein Indiz der „Interpretation-für-andere“ ist. Das Subjekt als Bewusstsein gewinnt im Motiv sein Selbstbewusstsein. Vor allem zeigt sich in heutigen szenografischen Strategien die Inventio des Motivs (als Drittenirritation) als Spiegelung der Vorstellung, dass das Individuum seiner eigenen Subjektivität (‚Kreativität‘) soll mächtig sein können. Das gibt dem Subjekt zu verstehen, dass der Hunger nach Selbstbewusstsein das einzig legitime Motiv seiner Verdinglichung sei. Das unterminiert den großen hedonistischen Erfolg der Subjekt-Objekt-Spaltung informationeller, zeichenbasierter Ökonomie und Gesellschaft, die, um in ihrer Komplexität zu funktionieren, sich auf die Produktion von Eindeutigkeit und Indifferenz festgelegt hat, ohne jedoch in der homosexuellen, inzestuösen Ökonomie auf ihr Heteron verzichten zu können: die Arbeit und die Produktion von Energie. Frank wirft im Hinblick auf die Kompetenz des Subjekts die Frage nach zu viel Freiheit im Spiel auf: „Woher rührt eigentlich die Furcht, Individualität in den Rang eines Erklärungsprinzips zu erheben?“259 Furcht lässt sich moderieren, indem das narzisstische Spiel der Selbstauflösungsmöglichkeit erkennt, dass es sich im Dritten erlöst. Das ist nun heute die mediale Sphäre der autorisierten, hochtechnisierten Inszenierungen als Rückvermittlungsformen der Aporien. Nicht zuletzt weist Frank auf das juristische Problem der Selbstbehauptung von Individualität hin, die einerseits ein Recht der Selbstausbeutung (Kreativität), andererseits eines des „Eigentums“ und eines „unveräußerlichen Eigenrechtes“260 ist. Hier ist die der marxistischen Produktionsanalyse nicht entgegengesetzte Bedingung zur Bildung von solchen Objekten zu ahnen, die als „Übergangsobjekte“ – einem Begriff Winnicotts nach – die Sphäre des Besitzes betriffen: Erinnerungen, Erfahrungen und Erlebnisse gehören als Besitz einem nichtsubstanziellen Dritten. Hier stellt sich mit der Frage der Intensität gerade auch die der Dauer ihrer Verfügbarkeit in Gedächtnismedien. Die Zeitdynamik Gemeinschaft stiftender Verbindungen – z.B. Vertrauen, dem das Ich-als-meinen-Besitz (Selbstbewusstsein) dialektisch entgegengesetzt ist – stiften Fetischobjekte, die als Tabu der Dauer des Besitzes deren Interiorisierung (Erinnerungen) ersetzen. Hier zeigt sich die stabilisierende Funktion des Besitzes sowohl in der Verdinglichung wie in der individuellen Gedächtnisverfügung (Bildung!) in ihrer jeweiligen 259

Ebd., S.322.

260

Ebd., S.323.

265

Einheit, die die Rede von einem inneren oder äußeren Motiv zu einem bequemen Ordnungsschema werden lässt, von dem man besessen ist. Die durch den Fetischismus erworbene Anteilnahme am besitzlosen Eigentum bedarf der Verdeckung respektive Mystifikation seiner Autorschaft. Frank ist in seiner umfänglichen Kritik des Subjektbegriffs so umsichtig, stets darauf hinzuweisen, dass auch der philosophische Diskurs sich seiner Objekte nur innerhalb einer paranoischen Inszenierungswelt versichern kann, in der „Identitäten (nicht) gleichgeschaltet sind.“261 Das daraus sich ergebende unendliche Spiel der Kommunikation – und sei es noch so argumentativ, verdinglicht und waffenförmig – ist in der Makroökonomie (Zivilisation) auf der Ebene der Besitzverhältnisse nicht von der vornehmlich symbolischen Kultur zu trennen. Ich verweise auf ein Konzept, das Rudolf Heinz unter dem Begriff Pathognostik instruiert hat und das sich auf die Sartre’sche (Psycho-)Analyse als „Psychoanalyse der Sachen“262 bezieht. Heinz folgt damit einer Verschiebung der Freud’schen Begriffe „Unbewusstes – Bewusstsein“ in die Begriffe „Erklären – Verstehen“, gemäß der existentialistischen Vorgabe, dass das Unbewusste die Praxis als Verdeckung der makroökonomischen Motive der Kausalisierung sei. Das Unbewusste ist zweifelsohne bei Sartre an die Dingproduktion gebunden respektive spiegelt die Konstitution von Gesellschaften auf einem praktisch inerten Feld wieder; kurzum: Die Existenz ist in jeder ihrer Situationen unbewusst. Das Unbewusste ist die Undarstellbarkeit dessen, was sich nur in einer Verschiebung zeigt. In dieser Realdialektik kann Heinz, anders als Frank, das Problem des Motivs „auf die nicht zu bewälti-

261 Ebd., S.322: „Tatsächlich müssen wir miteinander nicht darum kommunizieren, weil

unsere Identitäten gleichgeschaltet sind, sondern weil sie es nicht sind: Fremder Sinn ist aus der Perspektive keines Individuums antizipierbar, bei keiner Gesprächsäußerung kann ich des Verständnisses, bei keinem Wortgebrauch seiner vollständigen und gleichsinnigen Mitteilbarkeit sicher sein.“ 262

Vgl. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek 1982, S.701ff. Zur existentielle Psychoanalyse vgl. auch Heinz, Jean-Paul Sartres existentielle Psychoanalyse, a.a.O., sowie Christoph Weismüller: Jean-Paul Sartres Philosophie der Dinge. Zur Wende von Jean-Paul Sartres Kritik der dialektischen Vernunft sowie zu einer Psychoanalyse der Dinge. Düsseldorf 1999. Weismüller thematisiert die Wende in der Abkehr von Sartres frühem Freiheitsbegriff in Das Sein und das Nichts. „Es gibt keine von den Dingen unabhängige Freiheit oder Wahl.“ (S.13) Dass die Dinge einerseits realitätsnormierend, andererseits deutungs- und gebrauchsoffen sein können, markiert, wie schmal der Grad der Freiheit ist und welche Ermöglichung es für eine Psychoanalyse der Sachen und der Handlungen gibt.

266

gende objektive Situation als solche“263 zurückführen, die die Verschiebung auf den Tod mit sich führt. Man sollte, nach Heinz, die Einsicht haben zu verstehen, dass die Schuld- und Opferverschiebungen sich nicht nachträglich durch Motivation auf ein „Wahreres“ aus der Welt schaffen lassen. Was es gibt, bezeichnet Winnicott als Übergangsphänomen. Sartre spricht im Zusammenhang mit Individualität nicht von einem rekursiv fundierenden Motiv, sondern von einem „Bedürfnis“ als Regulativ der interior-exterioren Bewegung, unter der er die Wechselseitigkeit des organisch-anorganischen Austauschs versteht, der die gesamte Produktionsökonomie durchdringt. „Das Bedürfnis bildet den ersten Widerspruch.“264 Der Status des Subjekts verdankt sich der Rekursivität in die Nichtidentität des Bedürfnisses, da es nicht gelingt, die anorganische Materie in organische zu verwandeln, außer in einer Verwandlung der „Dialektik-als-Natur (als ursprüngliches Interioritätsverhältnis zwischen dem Organismus und seiner Umwelt)“, in eine „Dialektik-als-Kultur (als einem gegen die Herrschaft des Praktisch-Inerten konstruierten Apparat)“, also in technische Produktion als Überbietung der matriarchalen Produktion.265 Was Freud in seiner späten Todestriebkonzeption zu denken begonnen hat, analysiert Sartre als „Vereinigung“ von Physis und „Anti-Physis“ durch Praxis. Er meint damit, wie Blumenberg, eine dialektische Freiheit des Fingierens einer imaginären ersten Natur in eine zweite der Technik: die der kausalen Identitäten. Sie versucht, die erste im Hinblick auf das Inzestverbot zu umgehen. Auch Sartre 263 Rudolf Heinz: Hinführung zu einer Psychoanalyse der Sachen (Pathognostik). Düsseldorf

2011, S.17.

264 Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, a.a.O., S.85 – Natürlich ist Frank an anderer

Stelle gerne bereit, sich auf Sartre als Gewährsmann einzulassen (z.B. in Das individuelle Allgemeine, a.a.O.), ohne dessen Marxismuskritik als Teil einer Praxis aufzunehmen. Es geht aber, so werden wir mit Winnicott später erfahren, in der Tat um den Besitz als einer Ablösung vom Körper, das heißt um eine Verkörperung der Welt. Es scheint wohl ein hier nicht näher zu erörterndes Problem in der Entschlossenheit für eine Hermeneutik der Dinge oder, genauer, der Sachen zu geben, dass die Produktionshintergründe stets durch eine gewisse Abstraktion der Zeitlogik, wie etwa des Sartre’schen „cogito préréflexif“ (Frank, Ansichten der Subjektivität, a.a.O., S.252) entsubstanzialisiert werden, sodass zwischen den Menschen und den Dingen Leib- und nicht Körperphänomene namhaft werden. „Durch den Leib ist es auch, dass die Bewusstseinszeit – metaphorisch gesprochen – mit der Weltzeit und mit der En-soi-Zeitlichkeit der bewegten Dinge ‚synchronisiert‘ ist, so dass die ekstatische Zeit der Entwürfe eingreifen kann in den Prozess kontinuierlicher Veränderung der Dinge.“ (S.253) Von Seiten der Dinge rettet eigentlich nur deren Besitz die Rückaneignung der Entwürfe. Alle anderen Formen verfehlen dies, z.B. die Sprache, die allen gehört und keinem.

265

Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, a.a.O., S.364f.

267

wählt als Moment der Überschreitung des Bewusstseins (Wahrnehmung) zur Erkenntnis (Verstehen, Selbstbewusstsein) ein Movens der Seinsweisen der Zeit, den Entwurf (Plan) und die Kreditierung (Eid) auf Zukunft (Möglichkeit) hin, in der nach dem Begriff der „Trägheit“ der Vorschein des seriellen, prozesshaften Kollektivs schon vorgedacht und zugleich abgewehrt werden muss. Der Einspruch der Identität ist im Entwurf als ausstehende Technik immer schon dementiert. Die Praxis des Individuums (oder der Gruppe) [ist] in jedem Augenblick Verständnis des Anderen (und strebt danach, dessen totalisierendes Verständnis zu sein) und bringt sich selbst als Überschreitung der durch den Anderen erreichten materiellen Resultate hervor, insofern sie diese Praxis in der Perspektive ihrer eigenen Ziele versteht.266

Das Schachspiel ist eine Szenifikation dieses Gedankens der Überschreitung des Bedürfnisses hin zu einem Motiv. Das Spiel selbst wird zum Motiv, weil jeder Zug des anderen meine (zukünftigen) Züge antizipiert. Die Strategie des Spiels besteht darin, die Züge des anderen vorauszuberechnen, wobei jeder Zug die Gegenwart (Konstellation der Figuren, Situation) und die Zukunft verändert. Auch wenn die Gruppe in diesem Spiel nur aus zwei Mitgliedern besteht, impliziert sich in ihren Regulativen (oder in ihrer Programmatik) ein Drittenmoment, das in der Übereinkunft in die Regeln des Spiels als seiner Szenifikation besteht. Von daher bestimmt sich das Reale des Spiels als Szenifikation. Die Überlegungen zur aprioretischen Initiation bringen Sartre dazu, nach Die Transzendenz des Ego von den eigenen solipsistischen Bewusstseinsmodellen ebenso Abstand zu nehmen wie von der Radikalität seines Freiheitsbegriffes. Das Schachspiel ist die Parabel der intelligiblen Gruppe: Es handelt sich also um ein praktisches Feld in Miniatur, das an Strenge und Präzision gewinnt, was es an Ausdehnung und Komplexität verliert, und das immer (von jedem Gegner) in seiner synchronen und diachronen Totalisierung betrachtet wird. Jeder Zug ist in Wirklichkeit eine vollständige Umgestaltung, Veränderung der Beziehungen zwischen allen Figuren innerhalb des synthetischen Feldes. Die Zukunft ist relativ begrenzt (die Partie könnte theoretisch bis in alle Ewigkeit fortgesetzt werden; praktisch ist sie ein ziemlich kurzes Drama), aber innerhalb einer doppelten wechselseitigen Verzeitlichung muß man eine Serie von aufeinanderfolgenden Zielen unterscheiden.267 266 Ebd., 267

S.860.

Ebd., S.860f.

268

Es genügt „uns zu zeigen, dass das Verständnis des anderen die dialektische Intelligibilität seiner eigenen Aktion in jedem ist, und zwar zugleich als ihre Kehrseite [das Spielerische; R.B.], ihr Kontrollorgan [das Regulativ/ Narrativ; R.B.] und das Mittel der Überschreitung [der Spielpartner, der andere; R.B.]. Gleichzeitig setzt sich dieses Verständnis übrigens als provisorisch, weil es den Feind [...] in die siegreiche Praxis zu integrieren strebt.“268 Der Nachsatz zum provisorischen Charakter des Spiels ist Ausdruck der strategischen Komponente antizipierter Zukunft. Weil im Spiel auf doppelte Weise mit dem anderen gespielt wird, liegt der „Skandal“ des Mangels nicht mehr in einem „Kampf ums Leben“, sondern „in der erlittenen (oder drohenden) Gewalt, das heißt im verinnerlichten Mangel.“ Diese Tatsache, dass der Mangel das Motiv eines Bedürfnisses an meiner „Andersheit“ ist, das man in seiner Interiorität nicht beseitigen kann, erlaubt mir das Verstehen meiner selbst als einem Werdenden. Selbstbewusstsein ist kein Wissen-von-sich, sondern retardierende Inversion der Hermeneutik des Verstehens am anderen. „Unmittelbar verstehen heißt nämlich, die Praxis des Anderen durch die Zwecke und Mittel bloß als objektive und transzendente Verzeitlichung erfassen.“269 Es handelt sich, nach Sartre, beim inszenierenden Vor-Entwurf des Verstehens um die Bewegung von einer Praxis zu einer anderen Praxis unter der Befreiung vom unmittelbaren Zwang des Mangels im aufgeschobenen Bedürfnis. Das Bedürfnis ist kein Trieb, sondern ein Aufschub, eine Dauer, welche die inzestuöse Symmetrie prinzipiell zu verfehlen hilft. Produktionsgründe, als deren Abwehr Selbstbewusstsein letztlich resultiert, standardisieren sich unter dem Bühnenlicht und der Maske von Technik. Im Verhältnis zur Maske fragen wir nach der persona, nicht nach dem Subjekt. Die Inszenierung hat in der Hexis der Praxis ihr Widerlager. Sonst ist sie als Entwurf unkenntlich. Nennen wir dieses Widerlager der freien Handlungen mit Foucault „eine Synthese der Ordnung des Wissens durch die Körpertechniken“.

268

Ebd., S.862.

269

Ebd., S.863.

269

d. Theatralität ohne Theater: Telos und Skopus Von Kafka über Musil zu Sartre und zum Theater Artauds werden das Theater wie die Philosophie (Nietzsches) nobilitiert oder verworfen als eine Praxis der reinen Intelligibilität; als ein Theater, das durch Aufführung Offenbarung realisiert. In dieser Befragung wird das Inszenieren zu einer Technik über alle Techniken der Gabe, die nicht negierbar ist: die Zeit. Folglich ist der dramatisierte Tod das bestimmende Motiv des Theaters. Seine Ableitung aus den österlichen Festspielen und den ihnen vorangehenden Agone schon seine Inversion ins Lebendige. In dem Moment, in dem der Tod vom individuellen Einspruch befreit zu einer therapeutischen Sache des Kollektivs, der Schaulust eines Bürgertums wird270, das seine Wiederholungen in der Industrialisierung der Produktionsvorgänge feiert, invertiert die Ironie über die vergebliche Arbeit an Todesaufschub in der Befreiung vom Zwang, die Utopie zu realisieren: Die Arbeit wird Stuck, Lattenwerk, Gips; ihr Zeitmoment das Feuerwerk. Das Theater und die Neurose bedürfen in ihrer Ekzentrik eines therapeutischen Programms der paranoischen Selbstdisziplinierung. Dann war das Theater zweihundert Jahre lang eine sich perpetuierende und ritualisierende Veranstaltung der Klassiker gewesen – der inneren Abwehr als Innehalten, des Einspruchs als permanente und zunehmend professionalisierte Organisation des Skandals, nur begrenzt und verschämt fähig, die Zeit zu verführen. Seine vormals nomadischen Institutionen, die oft ein Stück nur einmal an einem Ort aus der Geste des Stegreifs und auf Zuruf eines heterogenen Publikums spielten, hielten sich noch im Vaudeville, im Varieté, als Gassenmusik und erneuern sich unaufhörlich seit der Nouvelle Vague im Film, der wie die Fotografie jedermann eröffnet, den eigenen Blick dem anderen zu eröffnen. 270 Man braucht nur auf die Geschichte des Theaters und seiner zweifelhaften Promiskuität

zu verweisen, um zu sehen, dass das bürgerliche Theater seit der Neuberin die Begierde durch die Neugierde ersetzt und der Skandal zum Amüsement wird. Vgl. Roland Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule. Das Theaterpublikum vor der vierten Wand. Berlin 1993, S.135ff. Dreßler zeigt, dass die Pädagogisierung des Theaters fallweise mit gesetzlichen Restriktionen durchgesetzt wurde, um aus dem Lustgewinn (wie etwa noch in der Commedia dell’Arte oder im Vaudeville) Erkenntnisgewinn zu schlagen. „Vier entscheidende Grundlagen der Theaterrezeption änderten sich: erstens der Zugang zur Bühne, zweitens die Bestuhlung des Parterres, drittens die Reglementierung des Beifalls und viertens die Eindunkelung des Zuschauersaales.“ Noch in Cyrano de Bergerac bezieht sich Rostand auf ein gänzlich undiszipliniertes Renaissance-Theater, in dem sogar der Akt der Bezahlung noch zum Theater gehörte.

270

Aber weichen wir doch noch einmal vom historischen Theaterdiskurs ab. Abgeleitet von Erving Goffmans Darstellung Wir alle spielen Theater formuliert Dirk Baecker eine Minimalformel für eine Unterscheidung von Theater und Spiel: „A spielt (B) und C schaut zu.“271 B ist die Rolle, deren Vermittlung nicht allein durch den Schauspieler A, sondern auch durch einen Autor und durch eine Inszenierungsarbeit vermittelt sein können. Es bedarf also eines Drittenmomentes in der Geste von A oder in der Szenifikation der Situation (Rahmungen, Extempores, Verkleidung etc.).272 Die Trennung zum Publikum (Beobachter) oder zum Blick verkörpert dabei die intrinsische Schleife, die das Subjekt auch zu sich selbst reflexiv spielen kann. Sind alle A gleich C, haben wir es nicht mit Theater, sondern mit Spiel zu tun, und C kann eine paranoische Funktion sein: Das Publikum kann imaginiert sein. John Cage hat gezeigt, dass das Spiel auch vollständig vom Publikum übernommen werden kann.273 Alle diese „Shifter“-Funktionen, Klammerregeln und Tauschpositionen möchte ich gar nicht als substanziell für die Möglichkeit des Inszenierens bedenken. Wesentlich ist in der Ablösung einer Situation durch eine Szenifikation die Tatsache einer wie auch immer marginalisierbaren Vermittlungsgrenze zwischen einem Akteur und einem Beobachter, grundlegender, zwischen ich und anderem. Dieser Abstand situiert eine Beziehung, die die Frage aufkommen lässt, was denn das Ich in einer körpernahen Kommunikationssituation anderes sei als eine Inszenierungssituation, in der, für den Fall des Theaters, merkwürdigerweise der Autor, meistens auch der Agent der Inszenierung, durch die Institution ausgeklammert bleibt und durch die Phantasie oder fiktionale Verweisung als Negation präsent gehalten werden kann. Die Idee ist doch die, dass der 271

Baecker, Wozu Theater?, a.a.O., S.163.

272 Brecht besteht nicht einfach darauf, das Theater auf die Straße zu entlassen, sofern auf

der Straße die immer schon vorhandenen Inszenierungen eben nicht dazu führen, dass das Publikum unbedarft ist. Es muss vielmehr bewusst gemacht werden, dass es schon mehr über die Dramatik inhaliert hat als es sich einzugestehen erlaubt. Brecht plädiert insofern für eine dialektische Vorgehensweise, die die situativen „Zustände“ in „Prozesse“ auflöst ,von denen aus sie sich als zirkulär erweisen. Damit wird gleichzeitig auf das dialektische Verhältnis von „Realität“ (Straße) und „Inszenierung“ (Aufführung) verwiesen und darauf, dass es keinen natürlichen, undramatischen Raum gibt. Vgl. Bertolt Brecht: Der Weg zum zeitgenössischen Theater. 1927-1931. In: Ders.: GW Bd. 15, Schriften zum Theater, Frankfurt am Main 1968, S.220.

273 Cage macht dies dadurch, dass das Publikum mit seinen Geräuschen für die „Musik“

sorgt, die der Pianist trotz seiner Bühneninszenierung nicht spielt. Es findet eine Inszenierung statt, die zeigt, dass man A und C umkehren kann.

271

andere mir fortwährend signalisiert, dass er auch ein anderer Andere, ja sogar „ich“ (derselbe für einen anderen) sein kann. Ist also, anthropologisch gesehen, die Szene immer schon eröffnet, sodass deren Selbstthematisierung fingierter Prositionen, Projekte, Protagonisten bedarf, um sich als unhintergehbar zu zeigen – d.h., geht es der „Inszenierung“ stets darum zu erklären, dass sie unhintergehbar sei? Goffman hat ja nur deswegen das Theaterspielen universalisieren können, weil das Rollenspiel eine Differenz von Handlung und Artikulation (Darstellung) thematisiert, in der grundsätzlich die Unterscheidung wahr/ falsch und zeigen/verdecken als nicht definitiv entscheidbar vom anderen (oder sogar von einem selbst) aufgenommen werden muss– was erstens bedingt, dass der andere die Handlungen/Artikulationen gewähren lassen muss, um sie durchschauen und bewerten (deuten) zu können, d.h., er gewährt eine Zeitdauer; zweitens bleibt in der Deutung seine Rolle niemals vollständig passiv oder neutral, kurzum: Die verschobene Bedeutung der Signifikation eröffnet und aktiviert Deutungshandlungen. Die eigentliche Relation, die sich über die Szenifikation aufbaut, ist demnach von einem Apriori der festgelegten, d.h. der technisch-realen Bedeutungs- und Handlungszuweisungen bestimmt. Wenn das aber so ist, dann ist nicht mehr das Drama des Todes das Thema der Theatralik, sondern es sind die Komödie des Missbrauchs (Clown und Narr) und die Missachtung der Naturgesetze (Slapstick und Vaudeville). Die gesellschaftlichen und juristischen Gesetze, können von den Abweichungen der Ausdrucks- und Darstellungsmittel (Körperdisziplinierungen und -techniken) vornehmlich über deren subkutane Regelverstösse, Moral und Sitte verschoben werden.274 Die Entscheidung „Regel oder Gesetz“ (Spiel oder Zwang) wird aber nicht im Gesetz getroffen, sondern im medialen Funktionszyklus der aneinander verwiesenen Individuen, die sich als Gleiche und Verschiedene erkennen. Manfred Brauneck hat das so ausgedrückt: In der Theatralik der Alltagshandlungen, in den Formen der Selbstdarstellung und des Rollen- und Inszenierungsverhaltens in aktuellen Interaktionen entwi274 „Es gibt aber Situationen, die man in der Umgangssprache ‚Szenen‘ nennt, in denen ein Einzelner so handelt, daß er den höflichen Anschein der Übereinstimmung zerstört oder ernsthaft gefährdet; und während er das vielleicht nicht einfach darum tut, um Unfrieden zu stiften, so ist er sich doch dabei bewußt, wie leicht eine solche Unstimmigkeit entstehen kann. Die umgangssprachliche Formel ‚eine Szene machen‘ trifft den Tatbestand genau, weil durch derartige Störungen wirklich eine neue Szene geschaffen wird.“ Goffman, Wir alle spielen Theater, a.a.O., S.191.

272

ckelt das Subjekt seine theatralische Wahrnehmungs- und Handlungskompetenz, erlernt es die in spezifischen Kommunikationsgemeinschaften gebräuchlichen theatralischen Zeichensysteme, ja es baut seine personale Identität in szenischen Interaktionsarrangements auf, die die Grundlage theatralischer Handlungen darstellen.275

Für Brauneck macht der „Doppelaspekt von Produktion und Rezeption, deren aktuelle Gleichzeitigkeit“, die „Theatersituation“ aus.276 Gleichzeitigkeit und Situativität sollen sich als Inszenierung und Dramatik entsprechen. Beides bildet den Welt- und somit den Verstehensaspekt des Theaters aus. Das Medium, in dem dies als institutionelles Geschehen abläuft – also die Aktualisierungen (Aufführungen) –, hat die „szenisch-situationale Darstellungsform der Phantasie“277, innerhalb der Regeln getestet und überschritten werden können und Periodisierungen von Dauern auf ihre Beständigkeit befragt werden. Die Inszenierung ist somit der Test auf die zeitliche Beständigkeit von als semiotisch bewertbaren Übereinkünften. Brauneck gibt aber noch ein wichtige Unterscheidung im Zusammenhang von Situation und Szene vor, um eine bestimmte Form des Verstehens (nicht aber eine bestimmte Technik der Hermeneutik) als Regulativ für das Theater isolieren zu können: Nähern wir uns dem gleichen Problem von einer anderen Seite her, von der Frage des Theater-Verstehens, das als szenisches Verstehen zu bestimmen ist. Damit ist folgendes gemeint: Während sich das logische Verstehen auf die Motivationsstruktur des Sprechers richtet, hat das szenische Verstehen „die Verwirklichung des Subjekts in seinem Beziehungsfeld“ zum Gegenstand.278

Der Gegenstand einer szenischen Hermeneutik konstituiert nicht was unabhängig von der theatralen Situation die kommunikative Korrespondenz 275

Manfred Brauneck: Theater, Spiel und Ernst. Ein Diskurs zur theoretischen Grundlegung der Theaterästhetik. In: Ders.: Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Reinbek 2001, S.29.

276

Ebd., S.27.

277

Ebd., S.30.

278

Ebd. Brauneck geht dabei von Alfred Lorenzers Sprachzerstörung und Rekonstruktion aus. Goffman hat nicht von „Beziehungsfeld“ sondern von „Ensemble“ gesprochen: „Wenn ein Vermittler in Gegenwart der beiden Ensembles, deren Mitglied er ist, arbeitet, sehen wir ein wundersames Schauspiel, als schauten wir einem Mann zu, der verzweifelt versucht, Tennis mit sich selbst zu spielen. Wiederum gelangen wir zu der Einsicht, daß die natürliche Einheit für unsere Untersuchung nicht der Einzelne ist, sondern das Ensemble und seine Mitglieder.“ Goffman, Wir alle spielen Theater, a.a.O., S.136.

273

in der positiven Verständigung sucht, die irgendein Autor symbolisch zum Ausdruck bringt oder einfordert, sondern was in der sozialen Praxis („Verhalten im Beziehungsfeld“) sich körperlich ereignet: Bewegung, Aktion, Emotion, aber auch und gerade die Banalität und die Hexis der Lebenszusammenhänge, die sozusagen das Drama des Privaten wie das der Masse ausmachen. Hinzu kommt immer der Körper als ein Agent, dessen vollständige Erfahrungskontrolle mir affektiv, pathologisch oder absichtsvoll seinen Dienst verwehren kann. Man kann argumentieren, dass es gerade um den Widerspruch und den reziproken Ausschluss zwischen der Differenz von Sprechen und Handeln geht, zwischen dem Signifikanten und dem Nichtsignifikanten geht. Das bedingt nach Lorenzer ein rekursives Element, das den Rollenstatus eines jeden Subjekts sukzessierend offenzulegen imstand ist, ohne dass eine symbolische Übertragung erfolgen muss: Solches aber leisten Medien in ihrer prädisponierten Kontinuierung als technische Natur. Deswegen wird ein jeder Autor sie (Ort, Zeit, Licht, Töne, Tages- und Jahreszeiten etc.) in einer Bühnen- oder Szenenanweisung vorgeben wollen. Aus diesem Grund ist die Probe eines Stücks selbst immer schon ein Spiel. Es bedarf der Zwischenvermittlung eines „Inszenators“, der anstelle eines imaginierten Publikums die „angemessene“ Dramaturgie der menschlichen und medialen Bewegungen koordiniert, die sich, von jeder Probe frei, sonst spontan koordinieren müssten, wie es bei Artaud oder im Stegreif der Fall ist. Dass aber genau das den höchsten Grad an Körpererfahrung und somit Inszenierungsfähigkeit darstellt, weiß man von den Improvisationen des Jazz, in dem jede Phrase mit jenen der anderen Ensemblemitglieder synchron harmonieren muss.279 Brauneck isoliert im nächsten Schritt aus dem szenischen Verstehen den Rollencharakter, der anzeigt, dass jemand sich in einer Vorstellung vorstellt, ohne dass in der Aufführung auf einen Inszenator verwiesen wird. Der 279 Vgl. dazu Hans Ulrich Reck: Spiel Form Künste. Zu einer Kunstgeschichte des Improvi-

sierens. Hamburg 2010, S.16. „Die Improvisation bedarf aus verschiedenen [...] Gründen der Sequentialisierung, also einer Entwicklung und Inszenierung im Medium der Zeit. Sie setzt eine Bühne voraus und kann ohne Einheit der Zeit/Rhythmen der Entwicklung, der künstlerischen Produktion und der kontemplativen Rezeption nicht vorgestellt werden. Die ihr zugeneigten Künste sind transitorische, zeitbasierte, zeitbezogene, zeitbedingt. Nur prozessual lässt sich die Schemenbildung des Improvisierens überhaupt beobachten.“ Reck zieht aus der Tendenz der heutigen Kunst, zu improvisieren, den Schluss: „Entscheidendes handelt heute von Gesten, ihrem Raum und ihrer Zeit, nicht mehr vom Ausdruck.“ [...] „Die Sprache der Kunst [...] wird präsenzfähig in dem Maße, wie sie sich selbst als Experiment und Handlung mediatisiert.“ (S.273)

274

Schauspieler kann sich über die geprobten Gesten hinaus nämlich noch als dieser Schauspieler inszenieren; das Beziehungsfeld ist dann nicht das der Inszenierung (Regie) bzw. ist nicht die konkrete Situation, die ein Verhalten kontingent macht, sondern „die Vorstellungen sind als Darstellung der Beziehungssituation zu verstehen. [...] Dabei kommt das Verstehen des Sinns einer Szene in der Regel ohne reflektorische Anstrengung zustande.“280 Denn der Betrachter muss zwischen der Inszenierung an diesem konkreten Abend (der Aufführung) und der Inszenierung als Intendanz nicht unterscheiden. Das ist der entscheidende Punkt: Das Verstehen geht nicht über Reflexion, sondern über Inversion, d.h. die Bewegung der Beziehungsfelder; der eine übernimmt des anderen Position, ohne dessen Intention als Motivation gedeutet haben zu müssen, da jedes Theaterstück als inszeniertes auch eine Praxis darstellt. Das Inszenieren stellt eine Praxis artifiziell her, aber es ist die gleiche (Medien-)Praxis, die außerhalb des Theaters funktioniert: in der Reklame, dem Marketing, der Politik. Nur werden in theatralen oder künstlerischen Räumen oder Dauern die Regeln freier konvertierbar. Das ganze Arrangement einer szenischen Hermeneutik besteht darin, dass nicht auf der Ebene der Bedeutungen oder Informationen – des Sinns –, sondern auf der Ebene der Handlungen oder Performancen (Präsenz) kommunikativ Bedeutung wiederhergestellt, ihre Abweichung bemessen wird. Solches Bemessen in Bezug auf die Maßgaben des Körpers und seiner Sinne können wir dann „Szenografie“ nennen. Würde man eine Situativität, etwa die einer ganz alltäglichen Unterhaltung, aufschreiben – man wird sich wundern, mit wie wenig artikulierten Bedeutungen kommunikative Situationen, Rituale, Korrespondenzen alltäglich verstanden werden, ohne Erklärungen zu bedürfen. Man kann auch sagen, das Verstehen sei einer Mantik zuzuordnen, die auf der Ebene sich selbst stabilisierender Verweisungen ohne Erklärungen auskommt. Es handelt sich für den Betrachter nicht (primär) um den reflexiven Vorgang einer Auslegung, die ja stets – insbesondere, wenn sie im frühromantischen Verständnis kunstmäßig als Kritik betrieben wird – Synchronität und Diachronität auseinander lesen will, und zwar ihrer eigenen Situativität des Doppelaspekts von Rezeption und Produktion gewiss,sondern um die Synthese, die nicht die Sache der professionellen Kritiker ist. In Aufführungen von 280

Ebd., S.31, ebenfalls mit Hinweis auf Lorenzer und C.G. Jung. Man muss weiter berücksichtigen, dass jeder hoch gehandelte Schauspieler heute ein Produkt seiner Marketingabteilung ist. Das heißt, dass schon sein „wahres“ Leben professionell szenografiert wird.

275

Klassikern, nehmen wir Hamlet, spielt dagegen die Handlungsebene keine Rolle mehr, weil alle Handlungen und vielleicht sogar der wörtliche Text allgemein bekannt sind. Umso mehr hier der diskursive Sinn, in den Vordergrund aber auch die spezifische, einmalige Inszenierungsform in den Vordergrund treten, die eine Abweichung darstellt. Nun haben wir mit Sartre gezeigt, dass das „Duett“ oder „Ensemble“, eine Form verschworener Vergesellschaftung prozessiert. Das ist jedoch nur die eine Seite der Emergenz. Die andere ist spannender: nämlich die der Aktualisierung von Vergemeinschaftung unter wechselnden Koalitionen und Übertretungen. Da sich Identität in szenisch angelegten Beziehungen aufbaut, ständig interpretiert und aufrechterhält, ist das Theaterspiel, das das inszenatorische Moment des Handelns offenlegt, geradezu als Modell dieses elementarsten Moments der psychischen Kondition des Menschen anzusehen. Handelt das Subjekt in der Alltagskommunikation in der Regel unbewußt nach szenischen Mustern und Rollenkonglomeraten, so macht das Theater diesen Aspekt des Handelns bewußt, bringt ihn unmittelbar zur Anschauung. [...] Der Zuschauer ist an diesem Prozeß verstehend beteiligt. [...] Im szenischen Verstehen stellt sich die aktuelle Identität von Spielern und Zuschauern her.281

Identität oder Demarge des Nichtidentischen? Sowohl bei Baecker als auch bei Brauneck wird mit einer idealen Minimaldefinition von Theater argumentiert, die für Alltagssituationen, wie sie Goffman aufzeichnet, wechselseitig paradigmatisch ist, solange eben die Frage nach dem Einspruch und seiner Inszeniertheit nicht gestellt wird. Dann erst verlangt das szenische Verstehen nach einer Reflexion. Ich muss also tatsächlich verifizieren, was ich an der Stelle des anderen über mich selbst in Erfahrung gebracht habe, und ich muss – Grundlage aller Dramatik – die dabei vakante Position meines „Vorher“ durch den anderen besetzen, was Schleiermacher „divinieren“ nennt. Die Setzung des anderen an dem Ort, wo ich nicht bin, beschwört alle magischen Gespenster herauf, die bei dem Platztausch einer vorgestellten (phantasiemäßigen oder paranoischen) Vorstellung Platz greifen – mit allen psychoanalytischen Kaskaden, die vor allem Lacan hinsichtlich der Signifikationsketten zu bedenken aufgegeben hat. Kurzum: Aus dem Verhältnis der Verschiebungen und der Platzwechsel erwächst eine bewegliche Struktur, ein System oder ein Komplex, die zu überschauen man dann doch der intuitiven Bewegung im Raum, der sich konstellierenden Subjekte und ihren „Roma281

Ebd., S.33.

276

nen“ überlassen möchte. Intuition ist aber auf jeden Fall ein schlechter Ratgeber, wenn es um das Heraustreten aus Provisorien geht. Auf die Unabgeschlossenheit des Begriffs als reflexiver Besetzung des Platzes des anderen hat der Kritikbegriff der Frühromantik gegen Hegel Stellung bezogen. In etwas anderer Hinsicht macht Brauneck darauf aufmerksam: Inszenatorische Arbeit darf sich nicht verstehen als bloße Umsetzung einer vorausgedachten Spielmöglichkeit oder als szenisch-theatralische Veranschaulichung einer vorgefaßten Idee, sondern sollte die Produktivität der Handlungsdialektik der Theatersituation aufnehmen. Inszenierungen sind deswegen auch nie wirklich abgeschlossen, sondern Stationen eines im Grunde endlosen Erfahrungsprozesses.282

Man kann sie deswegen als kontextuelle respektive reszenifikatorische Darstellungen von Deutungsangeboten verstehen. In Bezug auf ihren Gabencharakter manipulieren sie den zeitlichen Erwartungshorizont des anderen in einem Beziehungsfeld, das ihn als Beobachter (Publikum) konstituiert. „Inszenieren heißt also auch, Bewegungen im Raum zu ordnen“283, meint aber gleichzeitig eine ökonomische Beziehung, die der darstellenden Vorstellung eine Aufmerksamkeit sichert, indem der Beobachter sich der Szene, also dem Beziehungsfeld des anderen überlässt, ohne dass dieser ihm das seinige offenbart. Ein Mindestmaß an kreditierendem Wohlwollen oder an Nichtidentität muss bei dem Identitätstausch also a priori vorhanden sein, damit die kommunikative Prozession jeweils anschlussfähig bleibt. Genau dagegen Einspruch zu erheben, also kritisch zu sein, wenn auch nur als kritischer Zuschauer, heißt eigentlich, ein Signal zu geben, dass man nur allzu gut verstanden hat. Man darf jedoch nie „allzu gut“ verstehen wollen, also den anderen auf seine positive Realität reduzieren, ihn zum Objekt erklären, wie das z.B. dem Voyeur und dem Exhibitionisten eigen ist: Diese beiden „Realisten“ entlarven die theatralische Situation, indem sie den Blick sich vollständig zu verkörpern zwingen. Der Skandal als inszenierter Einspruch, der sich als Gegenwurf artikulieren muss, der politisch und revolutionär oder polemisch ist, ist das, was Goffman im hysterischen Sinne „eine Szene machen“ nennt. Wird qua Programmatik die Bühnenwirklichkeit überschritten, teilt der Autor selbst das Publikum (und damit die Serie) in zwei widerstreitende Gruppen – gemäß 282

Ebd., S.34.

283

Ebd., S.35.

277

der dialektischen Tatsache, dass der Einspruch (oder ein herabfallender Scheinwerfer) zur Inszenierung oder zum Zufall erklärt werden kann. Wie Roselt formuliert hat, bleiben dem Besucher innerhalb der Regel „alles im Theater ist inszeniert“ die Annahmen, dass der Skandal die Inszenierung sei oder dass die Inszenierung jeden Skandal ausschließe. Es ist nun ein besonderes Zeugnis, dass der „echte“ Skandal eine Entscheidungshandlung oder Deutung provoziert, die dann am intensivsten ist, wenn die technisch signifikantesten Naturen übertreten werden: d.h., wenn in der Inszenierung sichtbar wird, dass sie ein technisches Produkt ist, d.h., wenn Darstellungsmittel und -form nicht getrennt sind und wenn der Aufführungscharakter als solcher zum Ausdruck kommt. Der Einspruch als Skandal kann innerhalb der Serie der Ausschließungen und Gleichschaltungen der Inszenierung sein eigenes Ausschlussmoment erhalten und setzen. Die Inszenierung simuliert damit eine göttliche, nicht negierbare Autorschaft. D.h., es gilt in der Szene nicht zu wissen, dass es sich um eine Inszenierung handelt, es gilt nur zu verstehen, dass mit Erklärungen die Deutung sich nicht zufrieden geben kann. Hier haben wir es aber mit der reinen, schicksalhaften Dramatik des Lebens und des Todes zu tun – weswegen es ein heiliges Gesetz des Inzesttabus ist, dass auf einer Bühne niemand wirklich sterben darf, d.h. das unter allen Umständen die Rückkehr in die Realität und die normierten Gründe gewahrt werden muss, um die Asymmetrie der Inszenierungswelt zu erkennen. Manfred Frank verwendet für den Aspekt des „Sich-selbst-Erscheinens“ der „Subjektivität als Negation“ den linguistischen Begriff „Skopus“284: „Selbstbewusstsein hat vor allen anderen Identitätsrelationen die Auszeichnung, dass diese Relation nicht nur bestehen, sondern als bestehend auch gekannt werden muss. Noch anders gesagt: Im Selbstbewusstsein tritt die Identität der Relate selbst notwendig in den Skopus des Bewusstseins, ein quantifying in ist ausgeschlossen.“ Der Begriff, den Frank, soweit ich sehe, in seinen früheren Darstellungen zur Subjektivität nicht gebraucht, scheint mir weniger in jener Tradition zu stehen, die mit dem Wortstamm „skop“ verbunden ist und ein „Sehen-in-Richtung-auf“ (und nicht in-Richtung-von, wie in „Fokus“) meint. Der philosophische Gebrauch wird im Gegensatz zum Begriff „Telos“ fundiert: „Telos“ meint in Richtung auf ein Ziel hin, 284 Frank, Ansichten der Subjektivität, a.a.O., S.92, und zum Begriff „Skopus“: S.391. Vgl.

zur genaueren Verortung von „Skopus“ den Artikel in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. 13 Bände, 1971–2007, Volltext-CD-ROM des Gesamtwerks. Basel 2010, Bd. 9. Sp.986.

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„Skopus“ meint performativ das „In-den-Blick-Nehmen“ des Problems eines Telos. Diese Rücksicht auf Differenz hat Luhmann stets als eine Form der dialektischen Reversion (nicht in Bezug auf einen Autor/Gott, sondern in Bezug auf ein Paradoxon/Aporie) begriffen. Der Skopus hat bewusstseinslogisch die gleiche Funktion, wie das Lesen einer Dauer in Bewegung. Das Bewusstsein ist in dieser Parallelbewegung nur für den Spalt seiner Aktualisierung (Verspätung) Selbstbewusstsein. So verstanden ist das (Selbst-) Bewusstsein keine subjektive (gar mediale) Instanz, sondern die sich dem Subjekt öffnende und entziehende Selbstbewegung, die sein Selbst nicht nur vermögens einer winzigen Verspätung (Umweg über den anderen) „zu sich“ erfassen kann. Es bleibt ein Begehrenswiderstand, der als Entwurf meiner selbst („zu früh“, „vor der Zeit“) in keiner Erkenntnis wird aufgehoben werden können. Als Realisierung dieses syndromischen Restes mag nun der Begriff der hystrionischen Szene dienen. In ihr läuft das Subjekt sich selbst hinterher und funktionalisiert genau den liminalen Zeitspalt, der sich als Freiheit öffnet. Was sich so als permanentes Inzestdementi zeigt, kann provozierenderweise im Gestus des Einspruchs definitiv nicht durch Kausalität oder Erklärung entschieden werden. „Skopus“ lässt sich mit Einschränkungen als ein Modus der „Vorstellung“ der Bewegung des Bewusstseins von sich selbst verstehen. Damit zwischen „eine Szene machen“ und „inszenieren“ eine Differenz auftaucht, bedarf es des Dritten als Regulativ, der an den Grenzen der Aufführung die „Intervention der Realität meines Leibes [ist].“285 Wenn ich im syndromhaften (neurotischen) Verständnis „eine Szene mache“, fällt die kritische Replik als Drittenmoment aus – was sie im Falle der Hysterie auch soll, denn die Hysterie in der Kierkegaard’schen Diagnose ist der verzweifelte Versuch, der Darstellung das Mit-sich-selbst-identisch-Werden für einen Betrachter, der ich auch noch selbst sein will, als Wahrheit der Undarstellbarkeit von Selbstbewusstsein zu vermitteln, was für einen Therapeuten sofort eine Kaskade an Deutungsosziallationen zulässt, bis hin zur Spur jenes traumatischen Moments, in dem der Hysteriker tatsächlich drohte mit sich selbst zu verschmelzen, also gänzlich Affekt zu sein. Goffman sagt es eingängiger: Das ist, wie jemanden zu beobachten, der mit sich selbst Tennis spielt und zugleich der Beobachter diese Matches sein will. Das Inzestprodukt wird nicht veräußert, sondern verdinglicht als Symptom, als Abfall einer neurotisch-zwanghaften Wiederholungsform. Aber das Symptom ist 285

Ebd., S.238.

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gerade auch in einer Rollensituation der ungewünschte Einspruch, und zwar als Aussage der Wahrheit der Unmöglichkeit von positivem Selbstbewusstsein. Das Symptom ist noch nicht Ding, weil es nicht auf sich selbst verweisen kann: Es zeigt sich. Frank fasst seine Überlegungen zum Skopus des Bewusstseins in Einklang mit der Analyse von Brauneck als logisches Motiv ohne Beziehungsfeld auf: Ich möchte mir die Konstitution selbstbewusster Individualität als eine Folge kontinuierlicher Transformation von Zuständen vorstellen, die eine Person zu einer Zeit [respektive einer Szene/Skopus; R.B.] zukommen. Diese Transformation geschieht nicht grundlos (ist also mit einer kausalen Erklärung vereinbar), doch sind die Gründe hier keine Wirkursachen, sondern Motive. Ich verstehe unter einem Motiv einen Grund solcher Art, dass er nur im Lichte einer ihn als Grund erschließenden vorgängigen Interpretation meine Handlung bestimmen könnte. Nezessitiert (durch physische Ursachen blind ausgelöst) wäre dagegen ein Ereignis, das aufgrund gegebener empirischer Konstellationen unmöglich nicht eintreten könnte.286 286 Ebd., S.71. Es sei der Hinweis gestattet, dass es Frank um eine ausführliche Ableitung

verschiedener Modelle zum Problem „Selbstbewusstsein“ in philosophischer Rücksicht geht. Mir geht es darum zu zeigen, dass die u.a. in Ansichten der Subjektivität von Frank mit Rückgriff auf Husserl, Brentano und Sartre explizierte Auslegung von Selbstbewusstsein als Identität ihren Grund in einer notwendig nachgängigen Subjekt-Objekt-Spaltung auf Grundlage der Produktionsverhältnisse hat, die in Wirklichkeit aber keine getrennten Sphären darstellen. In dieser Weise muss der Besitz von Bewusstsein in den Dingen selbst angezeigt sein (respektive negativ im Wunsch). Auch vonseiten der Freud’schen Analyse des Dualismus der Triebe und der Bewusstseinsmodi wird auf diesen selbstinstrumentellen Umstand gerade in der Körperdarstellung des Symptoms aufmerksam gemacht. Der projektive und in den Realisierungen eingeholte Selbstdarstellungsappell zeigt sich gerade an der unmittelbaren Schnittstelle zwischen Produktion und Konsumation dadurch, dass der Tausch keinerlei Zeitraum hat, in welchem der Nachweis der Vergesellschaftung möglich wäre. D.h. die Spalte des Selbstbewusstseins fällt in den gleichen abstrakten Tausch wie der pekuniäre – so ja vor allem der kritische Ansatz von Sohn-Rethel und Luhmanns Hinweis auf die Zeitfunktion der Reziprozität. Statt aber diesen Übergang zu begreifen, wird das an ihm Unbegreifliche (die Inversion des Selbstbewusstseins) im Skopus beständig szenisch gesperrt. Mir scheint, dass – ähnlich wie in der Systemtheorie die Desemantisierung einer körperlosen Logik – entgegen aller Bemühungen die Frage des Selbstbewusstseins stets unzulässig mit der Frage der „Identität“ gekoppelt wird. Wenn im unvermittelbaren abstrakten Warentausch die Zeit stillsteht (so Sohn-Rethel), ist das geradezu der Aufweis einer Nichtexistenz von Identität. „Eine gesellschaftliche Synthesis zwischen den separaten Einzelnen wurde möglich nur dadurch, daß in ihrem Verkehr miteinander, im Warentausch also, eine Handlung erwuchs, die an der ganzen Sphäre der Inkommensurabilitäten vorbeiführt und nur noch durch radikale Abstraktion von ihr gekennzeichnet ist; eben die Tauschhandlung in ihrer Getrenntheit vom Gebrauch der jeweiligen Gegenstände während der Zeitdauer der Transaktion.“ Alfred Sohn-Rethel: Geistige und körperliche Arbeit. Zur Epistemologie der abendländischen Geschichte. Weinheim 1989, S.67f. Wenn für SohnRethel der Tausch in der Tat keine „Zeitdauer“ einnimmt, dann, weil sich die Beziehung

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Nun steht das selbstbewusste Subjekt oft genug im Widerstreit. Die Opponenten müssen sich in einem aktiven Prozess erst einmal gegenseitig gelten lassen. Die aggressive Ungeduld, mit der zeitgenössische Inszenierungen das Recht des Zuschauers auf Passivität in ein „Theater zum Mitmachen“ verwandeln will, traut entweder ihren eigenen Motiven oder ihrer Inszenierungskompetenz nicht. Aus diesem Grunde ist eine Analyse der Szenifikation und ihrer narrativen Szenografie außerhalb des Theaters ebenso aufschlussreich wie die Analyse einer Straßenszene in der Stadt, die durch den allgemeinen, öffentlichen Verkehr inszeniert wird: als eine Beziehung Dritter unter Dritten, mit allen Mediationsregeln friedlicher Koexistenz. Husserl nennt die Intentionalität eine ‚gegenständliche Beziehung‘. Darin steckt, dass das Bewusstsein den Gegenstand, von dem es ein Bewusstsein ist, aus sich verstößt. Gegenstände sind immer außerhalb des Bewusstseins: sie sind intransparent, weil aspektereich, während das Bewusstsein aspektfrei und ebendarum für den Gegenstand durchsichtig ist. Husserl nennt die Kenntnis, die im Selbstbewusstsein vorliegt [...] ‚adäquat‘. [...] Sartre hat dafür die griffige Formel: Bewusstsein ist gewiss; wer Objekt sagt, sagt wahrscheinlich.287

Die Translucidität des Selbstbewusstseins ist positiv gar nicht ausweisbar. Die Abstoßung als jener Punkt, von dem aus ein „Halt!“ in die Manege der Makroökonomie geäußert werden könnte, liegt nicht in einem Jenseits, sondern in einer anderen Weise, das Sein aufzuheben. Objekte, die nicht sie selber sind, sondern in irgendeiner Weise inszeniert, übernehmen die Abstoßung von Realität (der Serie, der Produktionsökonomie) als einer negativer Form der „gegenständlichen Beziehung“. Es ist bezeichnend, dass Sartre eine nicht geringe Anzahl seiner Theaterstücke, z.B. Die Eingeschlossenen, aus dem Jenseits eines Prätextes heraus schreibt. Das besagt, dass zunächst alle situativen Sachverhalte in ihrer seriellen und gesellschaftlichen Bindung neutralisiert sind: Die Vorverständigungen haben im Jenseits keine zugewiesenen Plätze mehr. Diese sind aber nichts anderes als Situationen gewesen, in denen das Subjekt die Produktion sich hat verdinglichen lassen, um der Situation erhaben zu sein. An dieser Stelle gilt es, auf das Verhältnis des Begriff sder Situation in Bezug auf das gerichtete Feld des Ensembles einzu-

abstrakter Werte vornehmlich noch auf das Vorhandensein begehrender Körper und Leiber bezieht und nicht auf Kreditierung von Vertrauen als Zeit, was vermutlich den Erfolg der vollständigen Exklusion des Todes in unserer Gesellschaft ausmacht. 287

Ebd., S.382.

281

gehen. Wir richten den Blick zunächst auf die Modalitäten abstrakter Logik; sie werden seit Hegel unter dem Begriff der Kraft szenifiziert. Das abstrakte Feld der Szenifikation des Ensembles als Situativität ist das „Kraftfeld“.288

e. Das philosophische Theater Hegel hebt in der Phänomenologie des Geistes zunächst nicht auf den Begriff der Situation ab, sondern auf den der Erfahrung. Erfahrung manifestiert sich als Welt der medialen Selbstvermittlung und der Möglichkeit der Täuschung. „Es erhellt, dass die Dialektik der sinnlichen Gewissheit nichts anderes als die einfache Geschichte ihrer Bewegung oder ihrer Erfahrung und die sinnliche Gewissheit selbst nichts anderes als nur diese Geschichte ist.“289 Die Bewegung wird in der Logik als eine „Kraft“ eingeführt, die aus der Zeitstruktur der Modalitäten „Wirklichkeit“, „Möglichkeit“, „Zufälligkeit“ und „Notwendigkeit“ abgeleitet wird, wodurch das Verhältnis „des Ganzen und der Teile“ in eines von „Gesetztsein und Vermittlung“ übergeht. „So ist das Verhältnis des Ganzen und der Teile in das Verhältnis der Kraft und ihrer Äußerung übergegangen.“290 Die Definition des Begriffs „Situation“ ist auf einem „Kraftfeld“, dem der „Mediation“ aufgebaut: Denn die Situation überhaupt ist die Mittelstufe zwischen dem allgemeinen, in sich unbewegten Weltzustande und der in sich zur Aktion und Reaktion aufgeschlossenen konkreten Handlung, weshalb sie auch den Charakter sowohl des einen als anderen Extrems in sich darzustellen und uns von dem einen her zu dem anderen hinüberzuleiten hat.291

Zu Recht setzt Hegel „Situation“ nicht als Anfang, sondern als Ausgangslage. Die Amplitudenbewegung hat keinen Anfang und kein Ende. Sie ist Präsenz ihrer Negation oder, wie Hegel sagt, „im Werden“. Man muss in der Mitte beginnen, also mit der Praxis. In der Verbindung von logischer Analyse und konkreter Form und Kunstform ist Hegel vermutlich der Erste, der Inszenierungen (in Roman 288

Ich beziehe mich auf: Bohn, Am Nullpunkt der Szenografie, a.a.O., S.286.

289

G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt am Main 1980, S.90.

290 G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Werke, Bd. 6, Theorie Werkausgabe. Frankfurt

am Main 1986, S.170 u. S.171. 291

G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Stuttgart 1977, S.290.

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und Theater) als Formalisierungen der Selbstbewusstseinsproblematik wie der Welt (respektive der Geschichte) vollständig abzuleiten versucht – und nicht auf eine anthropologische Finte setzt, die auch Heidegger stets verdächtig war. Den die anthropologische Auslegung von „Voraussetzung und Deutung“, die aus dem Herausarbeitung des Menschen aus der Natur den menschlichen Fortschritt (und den Menschen) folgert, verdeckt eine Zwangslogik, die mit dem Problem der Geschichtlichkeit des Wissens verbunden ist: Identitätszwang (Inzest), dessen Logik Hegel einerseits dialektisch entgegenarbeitet, andererseits zur vollen Entfaltung bringt. An dieser Stelle hatten wir über die Kritik von Lévi-Strauss an Sartres Dialektik berichtet. Aus dem Absoluten das Konkrete und Endliche zu entwickeln und dabei die Situation als reines Dasein einer Setzung zu entwickeln, flieht diejenige Voraussetzung, die Kant in seiner transzendentalen Analytik der Kritik der reinen Vernunft als „metaphysisch“ bezeichnet hatte und die die Wissenschaft der Logik als ihre eigene Voraussetzung neutralisieren muss. Mit Kant gegen Hegel (und Aristoteles) zu argumentieren, führt der Ansatz von Kant und das Problem der Metaphysik aus, der in Sein und Zeit unter der Frage nach dem „Ursprung des vulgären Zeitbegriffs“ abgebrochen worden war.292 Der § 82 ist dem Hegel’schen Geschichtsbegriff gewidmet, als der Verknüpfung von „Geist“ und „Zeit“, von Situativität und Geschichte. Heidegger reißt aber die äußerste Ausprägung des „vulgären Zeitbegriffs“293 bei Hegel nur an, indem er auf die Differenz von „Sein“ und „Nichts“ und die anschließende Modifikation des „Nichts“ als „Jetzt“ („Punktualität“) verweist. Dagegen formuliert der Heidegger von Sein und Zeit „Jetzt“ als Existenz im Verhältnis von Gabe und Opfer im Dasein. Auch Bergson, so Heidegger, habe (nach Aristoteles) mit der Setzung von „Dauer“ (durée) auf eine Verräumlichung einer qualitativen Zeit hingearbeitet. Dennoch erscheint ja gerade dieser Zeitbegriff Bergsons, den wir hier nicht weiter entfalten, für das Problem der Szenifikation, also der Verwandlung von Handlung in Raum und von Zeit in Dauer relevant, wie Deleuze das exemplarisch in seiner Kinotheorie nachgewiesen hat.294 292

Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., § 83, und Vgl. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, a.a.O., mit Hinweis auf Sein und Zeit, S.225ff.

293

Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S.432.

294 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino I. Frankfurt am Main 1989, und Das Zeit-

Bild. Kino II. Frankfurt am Main 1991. Die Interpretationsfolie der Analyse bedient sich durchgehend der Thesen von Bergson, um am Film unterschiedlichste szenifikatorische Ebenen und historische Entwicklungen des Kinos zu entfalten.

283

Weil sich aus der Frage nach dem eigentlichen Vorverständnis und der „Abwesenheit der Zeit“ in der Präsenz überhaupt erst die Möglichkeit in der Endlichkeit nach dem Verstehen zu fragen entwickelt, präzisiert Heidegger seinen Ansatz einer existentiellen Zeit. Uns interessiert jetzt nur, wie man aus der Vorgängigkeit die Möglichkeit einer Inszenierung für andere realisiert, die sie als Nachgängigkeit aneignend erleben. Heidegger setzt zuerst einmal nicht eine Theaterlogik ein, sondern das Philosophieren.295 Über den Zusammenhang von Philosophie und Paranoia296 braucht man sich in diesem Zusammenhang ebenso wenig auszulassen, da der Grund der szenischen Dialoge Platons dies schon markiert hat. Sie als theatral aufzufassen, trifft den Kern all dessen, was man „die Frage nach der Abwesenheit des Seins im Denken“ nennen kann, dessen Positivität entgegen dem aristotelischen Positivismus immer auch inszeniert, d.h. medialisiert und an Autorität gebunden sein muss. Gehen wir kurz vorgreifend den Schritten Heideggers nach. Sie führen uns zur Auffassung der Philosophie, die Sartre für sein Theater der Situation auferstehen lassen will. Heidegger geht auf das Zeitproblem der Vorzeitigkeit mit dem Argument einer „Vorursprünglichkeit“ ein, die nicht zeitlich gedacht ist. „Ursprünglicher als der Mensch ist die Endlichkeit des Daseins in ihm.“ 297 Diese Bestimmung schließt die anthropologische als eine Herleitung des Menschen durch das „Menschliche“ aus. Man kann nicht aus dem Gemüt und Verhalten des Menschen den Menschen ableiten. Insofern ist die Theaterlogik der Hegel’schen Ästhetik, die dem Geistschönen huldigt, ebenso wie psychologische Erkenntnis nicht „falsch“ (S.228), greift aber zu kurz. Die „strukturale Einheit“ (S.229) von Sein und Zeit muss erkannt werden als Erkenntnisproblem, und zwar im Verhältnis von Entwurf und Konstruktion. Entscheidend ist dabei der „schöpferische“ Aspekt des Menschen im Umgang mit seinem Sein, das ihm nicht nur ein äußerlicher ist und „dessen er im Grunde bei aller Kultur und Technik nie Herr werden kann“ (S.221), wie die berühmte Paraphrase Heideggers zusammenfasst. Entwurf und Konstruktion sind das Verhältnis in einer Endlichkeit, die nur weil sie endlich ist, überhaupt deutend rekonstruiert und reduziert werden kann, und zwar in 295

Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, a.a.O., S.235.

296

Wir kommen auf diese Darstellung und Probleme Freuds mit der Philosophie noch zu sprechen. 297

Ebd., S.224. Alle folgenden Zitate sind wegen ihres dichten Bezugs nicht eigens angegeben. Sie beziehen sich auf die Seiten 222-237.

284

einem Entwurf des Verstehens respektive in einer künstlerischen (Heidegger meint dabei stets das Poetische) Konstruktion. Das „ursprünglicher“ in der Endlichkeitsbehauptung meint, wie gesagt, kein zeitliches Vorweg, sondern eine konstitutive und konstruktive „Vergessenheit“, die „notwendig“ und „ständig“ sein muss und so dem vulgären Zeitbegriff eine Unmöglichkeit, die Dauer von Präsenz anders erscheinen zu lassen, denn als Gleichzeitigkeit im Raum (S.226). Das, was in der Frage nach dem Sein nicht darstellbar ist, ist das, was vergessen worden ist (oder verdrängt, wenn man das Freud’sche Register nimmt). „Metaphysik ist daher eine ‚Wiedererinnerung‘.“298 Die Vergessenheit ist kein defizitärer 298 Ebd., S.227. Adorno spricht von „Anamnese der Genese“, meint aber etwas völlig anderes, als er Heidegger unterstellt. Vgl. am radikalsten in: Theodor W. Adorno: Ontologie und Dialektik. Nachgelassene Schriften Abteilung IV, Vorlesungen (1960/61) Bd.7. Frankfurt am Main 2002. Ich will dabei die einseitig unternommenen Unterstellungen Adornos gar nicht bewerten, insofern prinzipiell davon auszugehen ist, dass die Widersprüche andernorts ausgetragen werden müssen, auf der Ebene der Praxis des Denkens, wie Adorno betont (S.330). Wenn dann ein vermeintlich „Zeitloses und Überzeitliches“ bei Heidegger seinem eigenen Entwurf des Daseins vorgeordnet sein soll und sich so der „Anamnese der Genese“, also der negativ dialektischen Auslegung entziehe, dann doch nur so, als das Vorgängige in dem Normierungsgrund der Technik als kausal, wissenschaftlich und objektiv jede situative Zeitlichkeit abgeschüttelt hat, die sie erst im verbrauchenden Konsum wieder einführt und aufholt. Selbstverständlich geht Adorno nicht auf diesen späten Heidegger ein. Er konzediert aber etwas ganz anderes, was in unserem Zusammenhang wichtig ist. Abwertend kritisiert er das „Archaische“ Heideggers als „kunstgewerblich“, „also ein Moment der Fiktion.“ Adorno will hier nicht sehen, dass Heideggers existenzialhermeneutisches Anliegen genau auf diesen notwendigen Punkt der Fiktionalisierung des Telos einer technischen Rationalität als einer schon fingierten, zweiten Natur hinweist, wie Norbert Bolz (Das Gestell, München 2012) mit Blumenberg das insbesondere am späten Heidegger gezeigt hat. Das uns in der Alltäglichkeit Zukommende, ist in Gestalt der Realisierungsmacht „Technik“ immer schon da. Adornos Unterstellung bezieht sich auf eine Ursprungsbehauptung, die ich in Sein und Zeit wohl als Stil, nicht aber als Argument herauslesen kann: „Das hängt nun damit zusammen, daß die archaisierende Sprache, die hier verwandt wird, gar nicht eine des Ursprungs ist, – so wenig wie ein Denken des Ursprungs, wie Heidegger es vorhat, ein Denken des Ursprungs sein kann; sondern daß das eine Sprache ist, die den Ursprung fingiert, die den Ursprung nachahmt mit Sprachfiguren, die ihrerseits der jüngsten Vergangenheit angehören.“ (S.231f.) Im Grunde kritisiert also Adorno, dass Heideggers „Aufführungsstil“ zu profan und zu wenig artifiziell ist – nicht gemäß dem großbürgerlichen Stil, den Adorno pflegt. Der Witz dieser nicht unbedeutenden Auseinandersetzung ist nun genau der, dass Fingierungen – auch ideologische – dort erscheinen, wo Erklärungen den Übergang zum Verstehen blockieren und z.B. als Literatur zu verstehen sind. Adorno will doch wohl nicht im Ernst behaupten, dass die Anamnese sich ihres Ursprungs erinnert, und diesen konstitutiven Mangel dann als gesellschaftlichen Mangel in Bezug auf „Fingierung“ ausgeben? Jedenfalls verstehe ich unter Fingierung nicht nur eine Deutungsvorgabe, die

285

Aspekt des Menschen und keine „Vergesslichkeit“ im Sinne Freuds, auch wenn Heidegger die „Verinnerlichung“ (S.227) der Erinnerung mitdenkt. Das, worauf gezielt wird, wird uns sogleich bei Sartre begegnen: Alltäglichkeit und somit die Zeitlichkeit des Daseins als objektive Aktualität (und logisches Problem). Damit hat Heidegger nichts anderes im Sinn, als die bloße Situativität (Negativität der Alltäglichkeit als einer Seinsvergessenheit) als eine konstruktive Operation der Abwehr der Grundbefindlichkeit der Angst zu situieren, der das Verstehen in ihrer Momente aufgrund der (todesverheißenden) „Erinnerung“ der Endlichkeit entgleitet. Verstehen heißt, gegen das Momentum der Angst vor der Unmittelbarkeit die Zukunft im Griff der Alltäglichkeit (des Verstehens, des Erkennens und der Erfahrung) vermittelt zu halten – als Unendlichkeit in Endlichkeit; das aber ist das Argument Hegels für die Kunst! Eine Analytik des Daseins muß nun von Anfang an darauf sehen, das Dasein im Menschen zunächst gerade innerhalb derjenigen Seinsart des Menschen sichtbar zu machen, die es ihrem Wesen nach darauf angelegt hat, das Dasein und dessen Seinsverständnis, d. h. die ursprüngliche Endlichkeit, in der Vergessenheit niederzuhalten. Diese – lediglich fundamentalontologisch gesehen – entscheidende Seinsart des Daseins nennen wir die Alltäglichkeit.299

Alle Kultur der Hervorbringung und Darstellung muss sich dem Entwurfs­ charakter alles „schöpferischen Handeln[s] des Menschen“ rückversichern und ist ihr zugleich „verfallen“ (S.228f ). Heidegger bleibt – wie üblich und anders als Sartre – beim Selbstverhältnis stehen. Was heißt denn dann die Maxime: „den anderen besser verstehen, als er sich selbst versteht“ in der alltäglichen Handlung anderes, als das endliche Vermitteln der Verstehensdifferenzen, die die Szenifikation als unendliche Unmöglichkeit stets evoziert? Das hat dann mit literarischer Hermeneutik nichts mehr zu tun, sagt Heidegger: „Die je erneute Besinnung auf die Endlichkeit kann nicht gelingen durch ein gegenseitiges Ausspielen und vermittelndes Ausgleichen von Standpunkten, um schließlich doch noch die versteckterweise angesetzte ‚an sich wahre‘ absolute Erkenntnis der Endlichkeit zu gewinnen.“ (S.229f.) in ihrem „vor“ Phantasmatisch gesetzt ist und somit per se unhintergehbar ist, sondern auch die Unterstellung eines Denkzwanges, den Ort zu divinieren, der von der Fingierung als eines niemals stattgehabten fiktionalisiert worden ist, weil dieser sich systematisch der Realisierung entzieht. Was man Heidegger sicherlich vorwerfen kann – und hierzu gibt es genug Zeugnisse – ist schlechter literarischer Stil – dass muss nicht heißen, dass seine pädagogische Inszenierung micht außerordentlich verführerisch ist. 299

Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, a.a.O., S.227.

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Es wird nicht vermittelt, da alle Differenzen schon elementarisiert sind es wird getauscht. Und Deutungen werden provoziert, indem die Differenzen innerhalb der Reproduktionskünste künstlich und vornehmlich ästhetisch hergestellt werden. Das geschieht durch den Vorgang des Inszenierens gerade auch der dinglichen Warenwelt. Nicht auf die Kritik der Vermittlungen, sondern auf die Erkenntnisform und damit auf die Auslegung der Kritik der reinen Vernunft als Erkenntnislehre (und somit gegen die Anthropologie Cassirers)300 zielt Heidegger. Seine Philosophie versteht er als „Wiederholung“ und bezieht sich dabei ausdrücklich auf die szenische Darstellung in Platons Sophistes, mit der er Sein und Zeit beginnen lässt und die nicht bloß „Dekoration“ sei (S.232), sondern als Kampf gegen das „Anwesen, den unmittelbar und jederzeit gegenwärtigen Besitz, die ‚Habe‘ “ (S.233) geführt werde: als Repräsentationen einer angeblichen unendlichen Dauer von Dingen und nicht als Bedenken der Endlichkeit des Körpers. Nicht die „Beständigkeit in Anwesenheit“, sondern den „Entwurf des Seins auf die Zeit“ gilt es als „Vorgängigkeit“ zu verstehen. (S.233) Was der Endlichkeit verfallen ist, ist auf listige Weise dramatisch und im Drama der Alltäglichkeit entrissen, ohne dass Heidegger hier „Drama“ im inszenatorischen Sinne meint. An das Drama zu erinnern und es gleichzeitig in der Alltäglichkeit einer Szenifikation zu bewahren, heißt, ein unendliches Spiel mit der Endlichkeit anzusetzen. Auf dem Wege zu diesem Ziel der Fundamentalontologie, d.h. zugleich im Dienste der Herausarbeitung der Endlichkeit im Menschen, wird die existenziale Interpretation von Gewissen, Schuld und Tod notwendig. (S.235)

So zumindest muss Sartre, der Dramatiker und Philosoph, den der Dichtung zugewandten frühen Heidegger verstanden haben. Er nimmt die Kehre vorweg, die vom Primat der Alltäglichkeit als einer Geworfenheit ausgeht, die es zu überschreiten und zugleich zu verändern gilt. Denn in welchen Szenen wird denn eigentlich „Gewissen, Schuld und Tod“ tatsächlich noch interpretiert, wenn nicht in jenen der Theatralität? Aber lassen wir doch Sartre mit seinem Anliegen, mit der Trennung von Philosophie und Dramatik aufzuräumen, selbst zu Worte kommen. Zwischen den 1920er Jahren und den 1950er Jahren des 20. Jahrhunderts passiert eine entscheidende Entwicklung hin zur Alltäglichkeit des Theaters 300

So der Anhang des Davoser Gesprächs zwischen Ernst Cassirer und Heidegger, abgedruckt in: Kant und das Problem der Metaphysik, a.a.O., S.235.

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selbst, dessen ubiquitärste Dimension die der heutigen Szenografie ist: ein professionelles Handwerk wie jedes andere auch. Sartre gibt den Schlüssel dafür, wie man bei aller Aneignung-für-einen-anderen an die grundlegenderen Motive des Verstehens und Inszenierens – was immer reziprok ist – heranlangt. Wenn schon Heidegger mit Kant dessen Behauptung zitiert, dass die Kritik der Vernunft „niemals populär werden [kann], [es] aber auch nicht nötig [hat], zu sein“301, und Heidegger sich indirekt über das unzureichende Verstehen seiner Darstellung in Sein und Zeit beklagt (S.227) und dabei seine eigene ungeheure Popularität indigniert zur Kenntnis nimmt, dann sollte man froh sein, wenn Sartre im Geist eines fröhlich-urbanen Populismus aus politischen Motiven heraus sein Engagement inmitten des alltäglichen Menschen aus der Situation seiner existentiellen Nöte und Sorgen (der Kriegsgeneration) zur angemessenen Darstellung bringt. Denn, erinnern wir uns, Ranciére sagt es: Das Problem des Regisseurs ist nicht das der Dummheit des Zuschauers, sondern dass dieser auf andere Weise weiß und an die Möglichkeit einer anderen Auffassung als Befreiung vom Bedeutungszwang erinnert werden muss. Dieser veräußerlichende Charakter der Bedeutungsverschiebung kann der von Heidegger eingeforderten Verinnerlichung entgegengesetzt werden.302 Es ist unsere Aufgabe, wenigstens in Ansätzen zu zeigen, dass im Szenischen diese Vermittlung als Unvermittelbarkeit sich weder gegenüber einem Innen noch einem Außen zeigt. Sie zeigt sich als Verhältnis zur Praxis. Nur so können die kontinuierlichen Widersprüche erzeugt werden, von denen Sartre zeigt, dass die falsche Kontinuität ihre Grundlage in einer räumlich gedachten Entgegensetzung fundiert, in der es keine synchronen Besetzungen geben kann. Hier haben wir es tatsächlich mit einem geopolitischen Imperialismus zu tun. 301 302

Ebd., S.230. Zitation: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B XXXIV.

Vgl. dazu die Kritik von Pierre Bourdieu an Heideggers politischer Ontologie. In: Pierre Bourdieu: Die politische Ontologie Martin Heideggers. Frankfurt am Main 1988. Bourdieu geht explizit auf Heideggers Argumentation im Davoser Disput ein (S.85ff.) und weist auf das Problem des Gründens als einer „Anschauung“ hin, die Heidegger in einem Ruf-Gaben-Verhältnis lokalisiert, also einer Verinnerlichung. „Noch stets den Weg nach innen wählend, wie es in der Tradition des völkischen Denkens hieß, sucht er die Begründung für das mythische Denken in einer ‚vorgängigen Ausarbeitung der ontologischen Grundverfassung des Daseins überhaupt.‘“ (S.87) Man darf historisch dabei nicht übersehen, dass insbesondere der angelsächsische Positivismus mit seinem „Weg nach außen“ hundert Jahre vorher genau die imperiale Gebärde sich aneignet, die auf völkischer Seite ein „Imperialismus nach Innen“ zu bilden sich gezwungen sah. Die Positionen waren nicht einmal kriegslogisch zu vermitteln.

288

Bourdieu sieht das noch materialistischer. Demnach ist auch die Philosophie nur der Ausdruck der Produktion, wenn sie wahr ist. Genau das meint aber auch ihr poietischer Grund. „Die Kulturprodukte verdanken demnach ihre charakteristischsten Merkmale den sozialen Bedingungen ihrer Produktion und genauer, der Stellung des Produzenten innerhalb des Produktionsfeldes.“303 Bourdieu bezieht sich, der frühen Heidegger’schen Wende nach Innen entgegen, nicht auf das szenische Aufblitzen des Selbst, der Szene; er sagt „Markt“ – um eine Kritik Gadamers abzuweisen – mit Austin: „Es gibt so viele Bedeutungen eines Wortes, wie es entsprechende Verwendungsweisen und Märkte gibt.“304 Freilich, aber die Märkte sind ja nicht vor den Evaluationen der Bedeutungen da, sie werden durch deren Inkommensurabilität notwendige Freiräume, die das abbilden, was sie eigentlich zum Verschwinden bringen wollen, nämlich die Erkenntnis der Unmöglichkeit des gerechten, restlosen Tauschs, also der Fingierung des Ursprungs. Um dieses Dilemma anzuzeigen, müssen sich die Märkte wenigstens teilweise als Inszenierungsorte protegieren. Genau darin besteht Heideggers „stilistische“ Meisterschaft, auch in der Akrobatik der Begriffe: verschiedene Märkte gleichzeitig zu bedienen und ihrre Rezeption im Vorhinein multisemantisch zu inszenieren. Wenn das für Heidegger gilt, dann auch für Sartre, möglicherweise für alle Kulturprodukte, deren Telos im Skopus gründet. Bourdieu bezieht sich auf niemand geringeren als Duchamp, um diese Kulturtechnik des fingierenden Inszenierens zu objektivieren: Die Beziehung, die sich zwischen dem Werk eines großen Autors und den Interpretationen oder Überinterpretationen, die es nach sich zieht und herbeizitiert, oder den Selbstinterpretationen ergeben, die den verunglückten oder übelwollenden Deutungen zuvorkommen oder sie zurechtrücken und die angemessenen Deutungen legitimieren sollen, sind – bis auf Humor – voll und ganz jenen ähnlich, die seit Duchamp sich auch zwischen dem Künstler und den Interpreten einstellen: In beiden Fällen geht in die Produktion vorab die Deutung ein. [...] Heideggers Philosophie dürfte denn auch das erste und vollkommenste der philosophischen ready mades darstellen, jener Werke, dazu gemacht, um interpretiert zu werden.305

Ich glaube, eine genauere Definition dessen, was Inszenierungen zu leisten haben, ist gegenwärtig nicht auf dem Markt. Duchamp geht es gerade 303

Ebd., S.93.

304

Ebd., S.97.

305

Ebd., S.120.

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darum, die Situativität als solche zu überschreiten und Szenifikationen zu schaffen, nicht Werke. Er ist der erste Künstler, dessen Kunst in der reinen Inszenierung besteht: in der Generierung von Märkten, präzisen Tauschund Kommunikationsorten.

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V. Die Inszenierung der Philosophie a. Das Theater der Situation Sartre bekennt 1960 in einem Interview zur Lage der Literatur Folgendes: Heute glaube ich, dass die Philosophie dramatischen Charakter hat. Es geht nicht mehr darum, die Unbeweglichkeit der Substanzen zu betrachten, die sind, was sie sind, noch die Regeln für eine Phänomenfolge zu finden. Es geht um den Menschen – der zugleich ein Agent und ein Akteur ist –, der sein Drama hervorbringt und spielt, indem er die Widersprüche seiner Situation bis zum Zerspringen seiner Person oder bis zur Lösung seiner Konflikte durchlebt. [...] Deshalb ist das Theater philosophisch und die Philosophie dramatisch.306

Die Frage, die sich heute, 50 Jahre und einige vermittlungstechnische Revolutionen später und angesichts der Erfahrung der zunehmenden öffentlichen Inszenierbarkeit der televisionären Welt stellt, lautet: Was ist die heutige Situation, und von welcher Distanz aus ist Situativität als solche erfassbar? Wenn diese Frage noch philosophisch angegangen werden soll, dann doch im Geist zunehmender Spreizung der Widersprüche. 1961 wagt Sartre die Prophezeiung einer anderen Drittenvermittlung zu verkünden: Ich hoffe, dass so etwas Ähnliches wie die Gegenreformation kommt, die auf den Protestantismus gefolgt ist, eine Bewegung in die andere Richtung. Ebenso wie der Katholizismus seine eigene Art von Protestantismus hervorgebracht hat, warte ich auf den Tag, wo der Westen sozialistisch wird, ohne jemals durch den Kommunismus hindurchzumüssen. Dann, das glaube ich ernsthaft, wird die Einfachheit neu entstehen.307

Der Sozialismus als Indifferenzierung einer Differenz, den Sartre beschwört, ist da, und er zeigt sich als katholische Welt einer universellen Waren- und Medieninszenierung auf der Grundlage reproduktionstechnischer, nicht sozialer Indifferenz. Sartre beginnt mit der Unterscheidung zweier Begriffe: dem der Situation und dem der Szenifikation bzw. der dramatischen Bearbeitung des 306 Jean-Paul Sartre: Was kann Literatur? Interviews, Reden, Texte 1960-1976. In: Ders.:

Gesammelte Werke Bd.6. Reinbek 1985, S.11. 307

Jean-Paul Sartre: Mythos und Realität des Theaters. Schriften zu Theater und Film. Aufsätze und Interviews 1931-1971. Reinbek 1991, S.138f.

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patriarchalen Agens der Alltäglichkeit in einer politischen Situation. „Politisierung“ meint die Simultaneität von Agent und Akteur als synchronisiertes, nichtsimultanes Tauschverhältnis. Um zu vermeiden, dass der Begriff der Szene – Ort und Produktion einer Inszenierung – mit dem der Situation verwechselt wird, wird jeder Inszenierung ein konkreter politischer Hintergrund als Handlung in Gesellschaft unterlegt. Die wechselweise aktive Passivität und passive Aktivität, Rezeption und Rezitation von Akteur und Agent, fordern dem Theater künstlerische und politische Stellungnahmen ab, in denen mehrere Optionen gleichrangig vorhanden sind. Dieser die Szene situierende Hintergrund führt dazu, dass Sartre von einem Theater der Situation spricht. Sartre geht von der aktuellen Situation seiner Zeit aus, um eine geschichtliche und konzeptionelle Einheit für das Theater als Ort der Inszenierung aufgeklärter Situativität zu präsentieren. Über eine beliebige Szenifikation auf einer belebten Straßenkreuzung lässt sich sagen: „Die Situation ist unübersichtlich.“ Die Szene ist dabei immer die Situation einer Wahl zu einem gegebenen Standpunkt von Gleichzeitigkeiten, die man geschehen lässt (Musils Formel: „Seinesgleichen geschieht“). Sie involviert keinen Beobachterstatus, da die Szenifikation die Selbstbeobachtung, also die Wahl unterdrückt. Das geschieht im Drittenmodus: Die Ampel zeigt Grün, alle gehen über die Straße – Interventionen wären gefährlich. Handlung und symbolischer Ausdruck, funktionale und symbolische Serien laufen synchron. Die Szenifikation impliziert einen Rahmen, der Komplexität reduziert. Die Situation bleibt der Ort einer konfliktfreien Wahrnehmung, in der die Gegenstände dieser Wahrnehmung die Konflikte absorbieren. Nun bezieht sich die Sartre’sche Dramatik aber auf die Situation der Szenifikation selbst, auf den Ausfall der Reflexion. Sartre geht es darum, Situationen so zu inszenieren, dass die Komplexitätsreduktion als Verdeckung eines inneren Konflikts aufbricht. Schon in der Kritik der dialektischen Vernunft wählt Sartre solche Situationen, die in der philosophischen Reflexion niemals inszeniert sind, z.B. das banale Warten an einer Autobushaltestelle. Während Sartre aus seinem Pariser Hotelfenster blickt, formt sich ihm die Szene (bzw. das Bild der Wartenden) zu einer gesellschaftlichen Situation. Es ist gleichgültig, wer da gerade an welcher Haltestelle wartet; die aktive Beobachtersituation inszeniert geradezu die Situation unten auf der Straße als Situation.308

308 Vgl. Bohn, Inszenierung als Widerstand, a.a.O., S.99ff. Hier lag die Analyse des Blicks allerdings vordringlich in der Verhältnisbestimmung von Exhibition und Voyeurismus.

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Ich sehe außerdem eine Gruppe von Personen, die auf einen Autobus warten und von denen keine von der anderen Notiz nimmt: alle Augen sind nach der Rue de Rennes gerichtet und halten nach dem Autobus Ausschau, der jeden Moment kommen muß. In diesem Zustand einer Halb-Isoliertheit werden sie zweifellos von den Straßen, dem Platz, den Pflastersteinen und dem Asphalt, den Fußgängerpassagen, dem Autobus vereinigt, das heißt von der materiellen Kehrseite einer passivierten Praxis. Aber diese Einheit ist selbst die eines materiellen Systems und insofern vieldeutig.309

Das Warten wird nicht als eine leere Zeit empfunden, weil es hier keine Wahl gibt. Die Wartenden können vor sich hindösen, Zeitung lesen oder sich umschauen. Gesetzt den Fall, ich schaue mich als einer der Wartenden um, so habe ich zwar ein diffuses Bewusstsein von mir in der Stadt, aber nur, wenn ich gleichsam als Autor in die Begebenheiten der Stadt eindringe und etwa die Verspätung des Busses zu einer Tirade gegen die Verkehrssysteme nutze. – Ich sehe jetzt, wie einer der Passanten von einem Radfahrer geschnitten wird und verfolge den Disput, der sich daraufhin entzündet; wenn ich der Situation einen Sinn (Krise) verleihe, kann ich darauf zurückschließen, dass etwas in der Realität widerständig geworden ist; dann kann ich auf diese Realität hin mögliche Inszenierungen entwerfen, z.B., dass ich in den Konflikt zwischen Radfahrer und Passant vermittelnd oder Partei 309 Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, a.a.O., S.235. Es gibt eine ähnliche Beschreibung einige Seiten weiter. Hier setzt Sartre folgende Situation: „Eine Gruppierung von Personen auf der Place Saint-Germain wartet an der Haltestelle vor der Kirche auf den Autobus. Ich verwende das Wort ‚Gruppierung‘ hier im neutralen Sinn: Es handelt sich um eine Ansammlung, von der ich noch nicht weiß, ob sie als solche das inerte Resultat getrennter Tätigkeiten ist oder eine gemeinsame Realität, die als solche die Handlungen eines jeden lenkt, oder eine vereinbarte oder vertragliche Organisation. [...] Diese Personen kümmern sich nicht um einander, reden sich nicht an und beachten einander im allgemeinen nicht; sie existieren nebeneinander um den Haltepfosten herum. [...] Jeder Mensch ist nicht nur durch seinen Körper als solchen isoliert, sondern durch die Tatsache, daß er seinem Nebenmann den Rücken zuwendet.“ (S.273f.) Was die zufällig Versammelten einen könnte, zugleich aber die Situation in eine Szene verwandelt, ist erst durch die Beziehung der Blicke gegeben, oder durch den Moment, in dem der Einstieg in den Autobus ihr „gemeinsames Interesse“ (S.276) offenbart. Der A(a)ndere, der als Dritter die Einheit der Fahrgäste bestimmt, ist keineswegs nur der Fahrer des Busses, sondern „der Andere, als Vernunft der Serie.“ (S.284) In diesem Moment verwandelt sich die Gruppe in ein „Kollektiv“ (S.287) gegenüber einem Einzelnen (dem Beobachter) – das heißt in diesem Fall, in eine durch eine Funktionsstruktur bestimmte Gemeinschaft. Sartre geht mit dieser soziologischen Grundlegung der Selbstinszenierung völlig ab vom Ursprungskonzept Heideggers oder etwa der Ethnologie (höchsten fingiert Sartre eine Ethnologie der Gegenwärtigkeit). Der Dritte als Ursprung ist nicht patristischer Art, sondern durch die aktuelle Handlung von Serialitäten und Normierungen in jeder gegebenen Situation funktionell implizit. Das heißt, er ist eine Sache.

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ergreifend interveniere. Wie das geschieht, hat Musil im Eingangskapitel des Mann ohne Eigenschaften gezeigt. Die Szenifikation, die sich selbst motiviert, gibt der leeren Zeit der Situation ein Motiv zur Reflexion. Es wird offensichtlich, dass die wechselseitige Motivation nicht instantan oder spontan erfolgt, sondern sich als Szenifikation versteht, womit kein passiv ablaufender Prozess gemeint ist, sondern eine aus dem realen Widerstand abgeleitete und sich öffnende Möglichkeit des vermittelnden und handelnden Verstehens als einer Wahl: Immer ist es jedoch die Situation der Wartenden in Bezug auf eine immer schon geleistete Vermittlung (Verkehrssystem), also auf die Politizität der Gemeinschaft am Rande des Bürgersteiges, die das eine oder andere Drama bewirken kann. Sartre hat aber durchaus erkenntnistheoretische Gründe, die Offenbarung als Krise in dieser politisierten Ordnung zu entdecken, um von der situativen Verdeckung zum Einspruch zu kommen: Es gibt zu viele Passagiere, die Autobusse fahren nicht pünktlich etc. Entweder muss er das Theater selbst als Einspruchsort auffassen (so Brecht) oder als Instanz, in dem die Replik eines Einspruchs gezeigt wird. Z.B. gibt es bei Sartre Stücke, die aus dem „Jenseits“ (im Übergang zum Himmel oder zur Hölle) spielen, in denen nach dem versäumten Einspruch der Personen gefragt wird, die in diesem Zwischenzustand vor dem Jüngsten Gericht sich selbst Rechenschaft über ihr Leben abgeben müssen, also zur Reflexion gezwungen sind. Die Dritten sind sie selbst. Auf diesen Unterschied baut er die Begriffe „erklären“ und „verstehen“ auf. Sein Theater versucht zu erklären, wie Alltäglichkeit zu verstehen sei. Dadurch charakterisiert es sich als philosophisches Theater, dem die Affekte weitgehend fremd bleiben. Diese frei umherschweifenden Aktionen ohne Urheber [... – h]ier muß das – komplexere – Erklären auf Grund der ablaufenden Totalisierung sowohl ihren Ursprung als auch die innerhistorischen Gründe ihrer Unmenschlichkeit und Durchlässigkeit, so wie sie sind, für die totalisierende Anthropologie erfassen können: es muß sie entstehen und sich in der Einheit eines dialektischen Prozesses auflösen sehen, das heißt in direkter Verbindung mit der Praxis selbst und als vorübergehende Exteriorität einer Interiorität. Ich nenne also Erklärung alle verzeitlichenden und dialektischen Evidenzen, insofern sie alle praktischen Realitäten totalisieren können müssen, und ich beschränke den Begriff Verstehen auf das totalisierende Begreifen jeder Praxis, insofern sie durch ihren oder ihre Urheber intentional hervorgebracht wird.310

Hier müssen Erklärungen als Komplexionen reduziert werden auf szenische Beispiele/Modelle/Aufführungen. Dann heißt verstehen deuten 310

Ebd., S.79.

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und Möglichkeiten reduzieren, und erklären kausal ableiten, auf eine paradoxale Differenz (Kraft) hin, logisch und technisch. Gleich, ob wir der Annahme folgen, dass Sartre hier die Begriffe „Erklären“ und „Verstehen“ im Sinne einer Verschiebung des Unbewussten und Bewussten der Freud’schen Differenz oder im Sinne der progressiven und der regressiven Überschreitung seines hermeneutischen Modells311 annonciert: Auf der konkreten Ebene der Totalisierung erscheint es geeignet, beide Stufen der Praxis als hermeneutischen Sinn der Kontingentierung von Präsenz, also von Ereignishaftigkeit zu verstehen und als Aneignung und Externalisation eines (philosophischen) Problems oder eines dramatischen Konflikts (auf der „Straße“) zu konkretisieren. Wir haben auf der einen Seite die technisch-logischen Zwänge eines funktionierenden, aber überkomplexen Systems, auf der anderen Seite die moralische Freiheiten einer Gesellschaft, die sich psychologisch nicht mehr monomotivisch disziplinieren will und – mittels Design, Events, Inszenierungen – Erzählungen als Reduktionen dieser Komplexitäten erwartet. Nur: Diese Erzählungen entstehen nicht als Totalisierungen, sie beinhalten selbst den dramatischen Widerstreit zwischen Motivation und kausaler Rationalität in medialer Funktionalität und symbolischer Kontiguität. In Folge dessen kann man das Erklären nicht von dem Verstehen, und das Verstehen nicht vom Erklären isolieren. Die wechselseitige Attraktion in eine sich totalisierende Form der Praxis folgt somit einer technischen und einer 311 Vgl. Jean-Paul Sartre: Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Methodik. Reinbek 1971, S.70ff., Kap. III „Die progressive-regressive Methode“. Ich verweise nicht im Einzelnen auf Sartres Hermeneutik, die er hier darstellt und in der großen Flaubert-Interpretation ausarbeitet. Sartre geht von der „Funktion des Entwurfs im Situationserlebnis“ (S.79) aus, so eine Abschnittsüberschrift. Dabei wird die Situation nicht als ein Anfang, sondern eine Anfänglichkeit dargestellt. „Damit die die menschlichen Beziehungen beherrschenden materiellen Verhältnisse auch zur eigentlichen Bedingung der Praxis werden, müssen sie in der Besonderheit spezieller Situationen erlebt werden.“ Für Sartre sind es die Überschreitungen der Situativitäten in der Gleichzeitigkeit einer Wahl, die immer andere Möglichkeiten ausschließen und so erneut die Objektivierungen als Strukturen eines Mangels hervorbringen, die Sinn generieren. Die Überschreitung, der Einspruch, die Handlung erfolgen demnach aus einem subjektiven Überschuss, dem ein realer, paradoxaler Mangel entgegensteht. Die implizite Dialektik eines objektiven Mangels veranlasst nicht durch außen (durch „Identität“, ein „göttliches Gesetz“) den historischen Prozess, sondern „man erkennt den Einzelmenschen die Fähigkeit der Selbstüberschreitung durch Arbeit und Aktion zu. Allein diese Lösung ermöglicht es, die Totalisierungsbewegung auf das Wirkliche zu gründen.“ (S.81) „Allein auf Grund dieses Überschreitens und des erneuten Überschreitens dieser Überschreitungen kann sich ein gesellschaftliches Objekt bilden, das mit einem Schlage eine sinnhafte und sachhaltige Realität und damit etwas ist, in dem niemand eine Spur von sich zu erkennen vermag, kurz: ein menschliches Werk ohne Urheber.“ (S.82, Anm.)

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psychologischen Interpretation (nach Schleiermacher), die sich als pro- und regressives Spiel selbst thematisieren lässt – und zwar: in der Inszenierung. Das Theater aber, dieser Auffassung ist Sartre, kann das nur erreichen, indem es die Wirkung seiner Zeremonialität nicht zerstört und es sich selbst als Motiv einer bestehenden Krise in alltäglicher Situation widmet.312 Deleuze hat im Hinblick auf die Typen der Zeit eine Ökonomisierung der einen (physikalischen) Zeit in Intensitäten vorgeschlagen, in der die Reflexionen zwar spontan erfolgen, ihr „Umschlag“ aber selber Zeit als Erzählung (eine Jetztfolge) in dieser monadischen Zeit ordnet. Zweifellos ist die Materie noch nicht Raum, immerhin aber ist sie doch schon ausgedehnt. Eine unendliche gelockerte, dekontrahierte Dauer, die ihre Momente einander äußerlich setzt: Das eine Moment muß verschwunden sein, bevor das andere auftaucht. Was diese Momente an gegenseitiger Durchdringung verlieren, gewinnen sie an Ausdehnung. Was sie an Spannung verlieren, gewinnen sie an Ausspannung, und zwar in einem Maße, daß sich alles ständig in einem Augenblickskontinuum auseinanderzulegen trachtet, das abbricht, um aber sofort in einem ständigen Vibrieren im folgenden Augenblick neu zu erstehen.313

Deleuze nimmt folgendes Gedankenmodell Bergsons auf: Greifen wir nochmals auf das Bild vom auf dem Kopf stehenden Kegel zurück: Seine Spitze (unsere Gegenwart) stellt den höchstkontrahierten Punkt unserer Dauer dar, aber auch unser Eingeschaltetsein in das Geringstkontrahierte, d.h. in eine unendlich abgespannte Materie. Deshalb kennzeichnen, Bergson zufolge, den Verstand zwei korrelative Aspekte, die den ihm eigenen Doppelsinn ausmachen: Er ist Kenntnis von der und ein Anschmiegen an die Materie; er prägt sie, kann das aber nur kraft des Geistes oder kraft der Dauer, nur kraft der Fähigkeit, sich in ein Spannungszentrum der Materie einschalten zu können, über das er sie beherrschen kann. Am Verstand sind deshalb Form und Sinn zu unterscheiden: Er hat und entwickelt eine Form in der Materie; seinen Sinn hat und findet er aber im Kontrahiertesten, durch ihn beherrscht er die Materie und bedient sich ihrer.314

Der Reiz der Ausführungen von Deleuze zu Bergson besteht darin, dass er einerseits ein Schema liefert für die Kritik Heideggers, Bergson ordne alles einem Raum zu und berücksichtige nicht die Endlichkeit des Körpers als Materie, die unentwegt im Kontinuum der Korrelation negiert werden 312 Baecker, Wozu Theater? a.a.O. Auf konstruktivistischer Grundlage untersucht Baecker in verschiedenen Aufsätzen das Theater als beispielhaften Ort gesellschaftlicher und individueller Selbstüberschreitung an aktuellen Produktionen. 313

Gilles Deleuze: Henri Bergson zur Einführung. Hamburg 1997, S.111f.

314

Ebd., S.113f.

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müsse und andererseits ein Schema für die Kritik Sartres an Bergson und Heidegger, das die Relevanz der begrenzten Dauer des menschlichen Lebens, seine Existenz, gesichert sieht in der Unendlichkeit und der Begrenztheit einer Praxis (Jetztfolge) der Vergesellschaftung und ihrer sie überschreitenden Reflexion (Sinn und Symbolisierung, d.h. Materialisation als Medialisierung). Mit der Analyse dieser Typen der Dauer nähern wir uns dem an, was die Präsentifikation im Spiel hält, was also Szenifikationen motivieren. Das ist eben nicht nur abstrakter Sinn, sondern eine Narration im weitesten Sinne – eine sinnlich aufgefasste Folge eines fiktionalisierten Kontinuums von Präsenzen als Präsentifikation, so wie sie Gumbrecht als Gegenstand einer Diesseitigkeit der Hermeneutik („Produktion von Präsenz“) mehr historisch und weniger systematisch u.a. aus der Erlebnisgenerierung des Theatralen abgeleitet hat.315 Um genau diesen Prozess zu zeigen, schaffen Inszenierungen „artifizielle Präsenzen“316, die eine Darstellung des Intelligiblen schematisieren (Aufführen), indem sie die Totalität der Situation (Aktualität) in eine negative Totalität der Szenifikation fingieren – einer Fiktion, die stets in Bezug zur Realisation gedacht wird, in welcher aber die Frage der Inszeniertheit selbst negiert ist. Es ist wohl gewiss, dass Sartre gegenüber Heidegger und Bergson den Vorteil hat, sich von den abstrakten Positionen der Thematisierung der Existenz am meisten in deren Szenifikation vorgewagt zu haben – obgleich sicher Adorno die Theatralitäten des „Jargons“ bei Heidegger nicht gerade gering einschätzen würde.317 Bei Bergson dagegen ist vielleicht ein Moment entwickelt, dass wir als „die mediale Auflösung der Körper“ bezeichnen können; Auflösung, aber zugleich auch Aufhebung und Rettung, also ein positives Moment, mit der gegenwärtigen Kultur konstruktiv und nicht nur kritisch umzugehen. „Die These lautet dann: ‚Virtuelle Realitäten – historisch wie 315

Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik, a.a.O., S.127.

316 Lambert Wiesing reserviert den Begriff zunächst für Bildphänomene, geht dann aber

auch auf Inszenierungsmodi wie Animationen, Simulationen, virtuelle Realität ein. In: Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt am Main 2005, S.107. 317

Adorno, Ontologie und Dialektik, S.142f: „Bei Heidegger [...] wird Subjektivität zu etwas wie zu einem Schauplatz der Ontologie; und in diesem Schauplatzdenken, also darin, daß Sein nur im Dasein erscheint oder sich zeigt, steckt natürlich noch etwas von diesem alten subjektiven Moment drin.“

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aktuell – sind essentiell immersiv.‘ “ Unter einem immersiven Bild wird die Art von Bildern verstanden, welche den Betrachter glauben läßt, daß die im Bild gezeigte Sache wirklich präsent ist.“318 Nur so kann die fingierte Sache im Modus ihrer Negation (Fiktion) als glaubwürdige Möglichkeit der „äußeren Rettung der Zeit“ (Krakauer) erscheinen. In dieser Beziehung sind auch Erklärungen Fingierungen von Kontinuität, was dem Verstehen in Regel aufgrund der Komplexität, also der Überschreitung der Aktualität entzogen ist.319 Kierkegaard hat sich in seiner Philosophie der paradoxen Freiheit der Wiederholung gewidmet. Er hat sie noch als Mangel erfahren, Welt (Situation) und Entweltlichung als unvereinbar zu begreifen.320 Die Wiederholung bei Kierkegaard hat die Funktion einer neutralisierten Wahl, die sie zugleich als Moment auf die Unfreiheit der Praxis zurückwirft. Adorno hat Kierkegaard vorgeworfen hat, sich damit aus dem gesellschaftlichen Handeln herauszuhalten.321 318

Wiesing, Artifizielle Präsenz, a.a.O., S.107. Zitation: Oliver Grau: Virtuelle Kunst in der Geschichte und Gegenwart. Visuelle Strategien. Berlin 2001, S.22.

319 Vgl. Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, a.a.O., S.158f.: „Das Besetzen von Vorenthaltenem ist ein Vorgang der Komplettierung. ‚Eine der Weisen, in der die Fiktionen dieses tun, ist das Herstellen von Gebilden, die alles enthalten, was in Übereinstimmung mit allem anderen existiert, und jenseits dessen es nichts mehr gibt; dadurch ist impliziert, daß diese Organisation sowohl den möglichen als auch den aktuellen Plan eines Schöpfers spiegelt.‘ Kermode hat die aus solchem Bestreben resultierenden Gebilde ‚concord-fictions‘ genannt, weil sie im Stiften von Verbindungen zwischen dem Gegebenen und dem Entzogenen das Gegebene dadurch mit Sinn ausstatten, daß sie dieses in eine von ihnen entworfene Totalität einbeziehen. Auf diese Totalität zielen die ‚concord-fictions‘ insofern, als durch sie Anfang und Ende besetzt werden und damit in dem jeweils erstellten Zusammenhang aufgehen.“ (Zitation: Frank Kermode: The Sense of an Ending. Studies in the Theory of Fiction. New York 1967.) Iser nimmt in dieser Funktion das Bild von den Fiktionen aus, da es nicht die Funktion der Einklammerung, sondern die der Totalisierung erfüllt. Inszenierungen (der Reise, des Weges, der Szenografien) sind in Rücksicht auf diese Ableitung ebenfalls ‚Fiktionen relativer Dauer‘ und nicht ‚inszenierte Bilder‘, die zunächst nicht als „narrative Aufführungen“ aufgefasst werden – obgleich es Techniken gibt (etwa die barocke Deckenmalerei), sie so auffassen zu lassen. 320

Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O., S.104.

321 Th. W. Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. Frankfurt am Main 1974.

Adorno macht deutlich, dass Kierkegaard, gerade weil er sich in Bezug auf die Wahl in das Moment der Verzweiflung stürzt, die Situation nicht überschreiten kann, gleichwohl er das in einer dezidiert szenischen Philosophie immer wieder versucht. Verzweiflung wird geradezu zum Symptom für Innerlichkeit, die das Opfer der Wahl revidieren will. Adorno: „Dem Begriff ‚Gleichzeitigkeit‘ für die vergangene Offenbarung entspricht der Begriff ‚Situation‘ für Kierkegaards eigene Gegenwart, der aus der geschichtlichen Kontinuität

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Im Theater der Situation ist es nicht die aufgehobene Welt, sondern die (im Hegel’schen Sinne) „aufgehobene“ Wahl, die dafür einsteht, dass das Theater sich von dem psychologischen Theater unterscheiden will, dessen Verfehlung darin liegt, dem Menschen eine psychologische oder anthropologische Substanz aufzuzwingen. Sartre geht nicht von den latenten, sondern von den immer schon entschiedenen Positionen, von ihren Verdinglichungen aus. Doch wir müssen zurück zum Problem der Wahl und der Verzweiflung, um den Sinn des Sinns in Sinnlichkeit zu finden – ein Problem, das Kierkegaard als Wahlmöglichkeit einer noch genuin ästhetischen oder ethischen Bestimmung stellt. Wir gehen vor Heidegger und Sartre auf die Abspaltung der Wiederholbarkeit durch eine monopolisierte technische Wahl zurück, in einer Zeit, als das Theater fast noch ein Aufführungsmonopol besaß. So war Kierkegaard ein fleißiger Theatergänger, um das einmalige vom zwanghaft Wiederholten unterscheiden zu lernen. Wenn Kierkegaard eine Aufführung mehrfach besuchte, dann, weil er gerade auf die Wiederholungsmöglichkeit eines Ereignisses im Erlebnis setzte. Eine ausgezeichnete Situation der Initiation der Wahl ist die Krise, die Kierkegaard unter dem Begriff „Verzweiflung“ verzeichnet. Bei Kierke­gaard findet man alle Motive für die Theaterkonzeption Sartres vorgedacht. Er fühlt dem Moment vor, in dem im Theater jeden Abend das Licht erlöscht, bevor der Vorhang sich hebt. Die Anfänglichkeit ist eigentlich ein vorgezogenes Ende. Das Wählen oder Nichtwählen wählen? Die vielfach beschriebenen Zusammenhänge, Verwandtschaften, Differenzen zwischen Kierkegaard und Sartre lassen sich für unseren Sachverhalt auf einige Aspekte reduzieren. Kierkegaard geht es darum, die Krise der Realität, die mit der Vermittlung der Wiederholung322 einhergeht, als herausgebrochen ist. Wohl enthält er historisch-reale Momente in sich. Diese aber sind isoliert und ordnen der Person sich unter. Situation ist für Kierkegaard nicht, wie für Hegel die objektive Geschichte, durch Konstruktion im Begriff faßbar, sondern allein durch die spontane Entscheidung des autonomen Menschen. In ihr sucht Kierkegaard, idealistisch gesprochen, die Indifferenz von Subjekt und Objekt. Ihrer vermag er solange zu entbehren, wie Innerlichkeit als objektlose sich verschließt. Sie wird zur Zuflucht des Subjekts, sobald einmal Objektivität es überwältigt.“ (S.56f.) Kierkegaard scheitert also an einer mangelhaften Medialisierung wie Vergesellschaftung, gerade weil er seine Philosophie auf die Ebene gesellschaftlicher Szenen, Existenzbedingungen reduziert, in der das spielerische Hin- und Her der szenischen Oszillation als Zwang, Verzweiflung noch von einem theologischen Idealismus kündet, der der alten, idealistischen und systematischen Philosophie verpflichtet ist. Die Überschreitung ist bei Kierkegaard auf halbem Wege stecken geblieben. 322 Sören Kierkegaard: Die Wiederholung. In: Ders.: Die Wiederholung. Die Krise. Hamburg 1991.

300

Selbstbeziehungsdifferenz, als Verzweiflung, Selbstvergegenwärtigung des Menschen zu analysieren. Durch diese Vergegenwärtigung (Augenblick)323 wird Unendliches in ein Endliches verwandelt, ohne aber das Unendliche selbst nichten zu können, denn das hieße, auch noch den Tod in die Vergegenwärtigung einzubeziehen. Das Stück Antigone macht uns diese Situation deutlich: Es gilt, den toten Bruder in die Stadt zu schaffen. Den „Tod zu töten“324 heißt einerseits, das Spiel zu nichten, andererseits, die Präsenz in eine Unendlichkeit aufzulösen. Umgekehrt, so Heidegger, ist der Tod das Mittel, um das Leben als Widerstreit von Endlichkeit und Unendlichkeit zu wählen – so wie Cyrano im Duell dies „beim letzten Verse“ beendet. Das ist die kritische Situation, die jede Inszenierung als solche in die Vermitteltheit einer ästhetischen Präsenz aufhebt, die den Anfang als Ende setzt. Die Frage stellt sich, ob die Selbstsetzung in Verzweiflung eine Selbstinszenierung ist oder ob diese Verzweiflung als irreduziblen Aporie der Wahl der Selbstbestimmung nicht die Existenz als solche bezeichnet. Die Verzweiflung ist eine lebendige Möglichkeit, die Aporie auszuhalten, ihre Ästhetisierung im Drama die Möglichkeit, das Aushalten selbst zu begrenzen. So gesehen gibt es kein Recht, die Sphäre der ästhetischen Dramatik geringer zu schätzen als die der ethisch motivierten Handlungen. Kierkegaard lässt also Wiederholung (Inszenierung) und Aktualisierung (Aufführung) als aufeinander bezogen gelten, wendet sich aber – das ist bekannt – gegen eine „Mediation“325 derselben, also den Hegel’schen Geist der dialektischen Vermittlung. Warum sollte man die Sphäre der ästhetischen Vermittlungen geringer schätzen als das Handeln in der „Wirklichkeit“? Hat nicht Hegel schon den ästhetischen Schein als konstitutive Bedingung der Freiheit des Ästhetischen betont? Es ist zu bemerken, dass Kierkegaard das Moment der Wiederholung durchaus im Sinne der Erinnerung einer Abwehr denkt, jedoch die chronologischen Vorgänge, die progressiv-regressive Methode bzw. das Verhältnis von Inversion und Reflexion nicht entfaltet. Nun könnte die Inszenierung gerade so ausfallen, dass Aufführung und Inszenierung zusammen sich als unwiederholbar erwiesen – im Gegensatz zur Simulation, die, weil sie sich vom Realen desituiert, beides als wiederholbar ansetzen kann. Dann müsste aber der funktionale Moment der Aufführung mit den symbolischen Techniken zusammenfallen. Es gilt ja die Wiederholung als Krise der Innerlichkeit 323

Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Hamburg 1991, S.17.

324

Ebd., S.18.

325

Kierkegaard, Die Wiederholung, a.a.O., S.22.

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(Imagination) zur Äußerlichkeit als Unterscheidungskriterium von Erinnerung und Imagination zu wahren. Diese Krise ist bei Kierkegaard ein geschichtlich begründetes Symptom – einerseits durch das theatrale Herstellen von Imaginationen, andererseits durch die Entwertung der gesellschaftlichen Phantasmen zugunsten individueller Vorstellungen. Als Folge davon ist die Verzweiflung eigentlich ein Aspekt einer gleichgültig gewordenen Welt, deren ästhetische und ethische Motive ineinanderstürzen. Denn Wiederholung ist der entscheidende Ausdruck für das, was bei den Griechen ‚Erinnerung‘ war. [...] Wiederholung und Erinnerung sind dieselbe Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung. Denn was da erinnert wird, ist gewesen, wird nach rückwärts wiederholt, wohingegen die eigentliche Wiederholung nach vorwärts erinnert. Deshalb macht die Wiederholung, wenn sie möglich ist, einen Menschen glücklich, während die Erinnerung ihn unglücklich macht.326

Weiter heißt es, „Wiederholung, das ist die Wirklichkeit und der Ernst des Daseins.“327 Davon wären das Spiel als eine Negation, die Erinnerung oder Mimesis abzuheben. Ihr Abhub erfolgt als Widerstand der Endlichkeit der Wirklichkeit gerade dadurch, dass eben sowohl im Fingieren als auch im Wiederholen der Zeitpfeil gleichsam ausgesetzt wird und so die Inszenierung überhaupt dauern kann, ohne in der Voreiligkeit des Betrachters nach jeder Szene in eine wirkliche Situation zurückfallen zu müssen. „Die Erinnerung hat den großen Vorteil, daß sie mit dem Verlust beginnt, deshalb ist sie sicher, denn sie hat nichts zu verlieren.“ Der Verlust, das haben wir eben gesagt, beginnt symbolisch damit, dass im Theater das Licht bei geschlossenem Vorhang verlöscht. Diese Neutralisierung als Dauer (die Indifferenz der Wiederholung) bestimmt Kierkegaard als modern, was auf den ersten Blick verwundert, aber durchaus im Geist einer Medienlogik gestellt wird: Das Medium ist ja das Sich-selbst-Gleiche, indem sich eine Differenz als Zeit einschreiben kann. Denn was die Wiederholung und die Reproduktivkraft leisten können, ist die Herausstellung oder Neutralisierung der Opferdifferenz der Zeit: ihre totalisierte Vergegenwärtigung (Praxis). In diesem Sinne arbeitet jede Aufführung an einer Wiederholung dessen, was sich nie ereignet hat und somit nie Vergangenheit war. Nur weil Inszenierungen aufgeführt werden müssen (sich in Szene setzen), können sie sich selbst zur Deutung aufgeben.

326

Ebd., S.7.

327

Ebd., S.8.

302

In dieser Hinsicht ist die griechische Erwägung des Begriffes kinesis, die der modernen Kategorie des ‚Übergangs‘ entspricht, in hohem Grade zu beachten. Die Dialektik der Wiederholung ist leicht; denn das, was wiederholt wird, ist gewesen, sonst könnte es nicht wiederholt werden, aber gerade dies, daß es gewesen ist, macht die Wiederholung zu dem Neuen. […] Die Erinnerung ist die heidnische Lebensanschauung, die Wiederholung die moderne; die Wiederholung ist das Interesse der Metaphysik und zugleich das Interesse, an dem die Metaphysik strandet; die Wiederholung ist die Lösung in jeder ethischen Anschauung, die Wiederholung ist die conditio sine qua non für jedes dogmatische Problem.328

Die Missachtung der Inversion der Zeit, die die Paradoxien der Bewegung (kinesis) gerade auch in Kierkegaards psychologischen Deutungen hervorrufen, z.B., dass Erinnerungen nicht authentisch sind, führt listig ein, dass das Reproduktionsprinzip der Moderne darauf beruht, die notwendigen Zeitdifferenzen dessen, was sie wiederholt – die Datierungen – vollständig austauschbar zu machen, d.h., von ihrer Situativität technologisch abstrahieren zu können. Die produzierten Dinge sind zeitlos, neu, aber letztlich Wiederholungen oder Wiederauferstehungen. Anders, aber nicht neu, sondern auf Erinnerungen beruhend, sind die jeweiligen Inszenierungswelten autopoietische „Selbstverschiebungen“, also eigenzeitliche Konstrukte. Letztlich ist es ein Moment des Vergessens, das die Wiederholung sichert: Darin besteht ihr praktischer Vorteil. An das Vergessen – nicht an etwas Vergessenes – zu erinnern, ist die letzte Aufgabe der Metaphysik, von Kant über Kierkegaard bis zu Heidegger. Kierkegaard erzählt die folgenden Ausführungen im Rahmen von persönlichen Erfahrungen, die er mit dem Theater als jener Zuschauer gemacht hat, der sich in die Schematik der Schauspieler hineinversetzt. Der Zweck ist die Darstellung der Unterscheidung von Wiederholung und Erfahrung zum Ziel der Persönlichkeitsbildung, als Progression von Selbstbewusstsein oder „Selbstanschauung“329 – dem zentralen Gedanken der Genealogie des Verstehensprozesses, der Erweckung oder Bewusstwerdung, je nachdem, welches Register der Dauer man wählt. Es gibt wohl keinen jungen Menschen mit etwas Phantasie, der sich nicht einmal von dem Zauber des Theaters gefesselt gefühlt und sogar gewünscht hätte, selbst mit in jene künstliche Wirklichkeit hineingerissen zu sein, um als ein Doppelgänger sich selbst zu sehen und zu hören, sich selbst in seine größtmögliche Ver328

Ebd., S.23.

329

Ebd., S.28.

303

schiedenheit von sich selbst abzuspalten und doch so, daß jede Verschiedenheit wiederum ein Selbst ist.330

Wo und wie schafft man es, als Verschiedener „Selbst“ zu sein und nicht dem „Dämonischen“ als inzestuösem Zirkel zu verfallen – dem Opferagon des Selbstwählens zu unterliegen? In der Verzweiflung, in der theatralischen Szene: Um da [im Dämonischen; R.B.] nicht einen Eindruck seines wirklichen Selbst zu bekommen, ist für das verborgene Individuum eine Umgebung erforderlich, leicht und flüchtig wie die Erscheinungen es sind, wie das schäumende Brausen der Worte es ist, die ertönen ohne Widerhall. Eine solche Umgebung ist die szenische, die sich daher gerade eignet für das Schattenspiel des verborgenen Individuums.331

In der Posse, die Kierkegaard im Folgenden als uninszenierteste, spontanste, unwiederholbarste Gattung traktiert und in der quasi die Straße in den Abstand einer Szene genommen wird332, zeigt sich, dass die Szene von einer bestimmten Verfassung sein muss, um die Individualität für sich selbst einerseits durchsichtig, andererseits schattenhaft wiederständig und beständig zu machen. In der Posse passiert, was Sartre für das bürgerliche Theater fordert. Es kommt zur Individuierung und nicht zu einer Kollektivierung des Publikums – einem Zustand, „in dem nicht nur eine einzige Stimmung gegenwärtig ist, sondern die Möglichkeit zu allen.“333 Gerade die vorzügliche Identifikation des Einzelnen mit der Posse, die unmittelbar ist, bewirkt im Szenischen die Motivierung des Spontanen. Deswegen braucht die Posse nicht eigentlich „Situation, Handlung, Dialog“, sondern nur die „Kunstwelt der Szene“. Wenn ich also Einmaligkeit als Spontaneität und Authentizität herstellen will, brauche ich nur die Darstellung, nicht aber die Inszenierung, da die Inszenierung Reflexion als Wieder-Holung herausfordert. Das spontan Gezeigte zeigt sich performativ selbst. Die Frage, die sich stellt, ist die, ob die Posse (Stegreif, Vaudeville etc.) nur ein Spiel ist, das verschwindet, indem es sich vollzieht, oder ob der ganze Produktionsvorgang in die Verinnerlichung der Possenspieler empirisch eingewandert ist, da sie ja kein Stück, sondern sich selbst produzieren. Hat das nicht Verwandtschaft zur hysterischen 330

Ebd., S.27f.

331

Ebd., S.29.

332

Ebd., S.32.

333

Ebd., S.33.

304

Inszenierung? Und führt das nicht zu einer „intuitiven“ Vergemeinschaft in Form einer Zwangsvereinigung der Masse? Man wird nicht leugnen, dass in künstlerisch sorgsam durchdachten Inszenierungen die Simulation an ihrer eigenen Universalität, d.h. durch die als technisch gesetzte Realität, die Negation ihrer Differenzsetzung annihiliert. Baudrillard hat für die Simulation in Anspruch genommen, dass sie dort auftritt, wo die Originalität dessen, was simuliert werden soll, nicht mehr existiert, dass es also nicht um „Imitation, um die Verdopplung oder um die Parodie“334 geht, sondern um „das Ende einer Dialektik.“335 Die Allgegenwärtigkeit der Inszenierung der Welt verschlingt ihr Differenzmoment. Wir wären dann ganz barock in den Atmosphären des Spiels gefangen, wie der Adel in Versailles: der Arbeit enthoben, der Langeweile ausgesetzt, auf den einen Moment einer neuen Fronde wartend. So vertreibt man sich mit Romanen als Handlungssimulationen die Zeit. Aber die Simulation ist nicht identisch mit der Fiktion. Die Fiktion ist immer eine Erklärung mit Hinblick auf das Verstehen als eines Unendlichen im Endlichen. Die Simulation dagegen zielt darauf ab, etwas herzustellen, was sich selbst herstellen kann. Sie ist im Sinne Kierkegaards das Dämonische oder Histrionisch-Hysterische. Wolfgang Iser hat auf diese fundamentale Unterscheidung bezüglich der Wiederholbarkeit von etwas, was keinen Ursprung hat, mit dem Begriff „Urszene“ hingewiesen, der uns später mit Freud noch tiefer beschäftigen wird. Anders als die strukturale konstruiert die generative Anthropologie eine hypothetische Urszene (Eric Gans), die minimalistisch verfaßt sein muß, damit aus ihr Kultur von Sprache bis zur Kunst als deren variantenreiche Ausdifferenzierung begriffen werden kann. Die Urszene ist eine Rückprojektion des in der Kultur beobachtbaren Erzeugungsvorgangs, der die Entfaltung des Menschen als Rhythmus von Einschränkung und Überbietung des Eingeschränkten begreift. Bei aller Plausibilisierungsleistung bleibt sie ein Konstrukt, das im Gegensatz zu einem konstruktivistischen Verständnis nicht etwas herstellen, sondern erklären soll; das aber macht das Konstrukt transzendental zu seinen Vorgaben.336

Damit zeigt die Simulation, dass sie die Vollständigkeit des Verstehensprozesses (auch eines subjektiven Selbst) als Herstellung in der Erklärung einer Deutung entzieht – sonst würden nämlich Simulationen offenbaren, dass sie nur Verschiebungen dessen sind, was sich nicht erklären lässt. Des334

Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin 1978, S.9.

335

Ebd., S.61.

336

Iser, Das Fiktive und das Imaginäre, a.a.O., S.13f.

305

wegen müssen Simulationen das wiedergeben, was sich zeigt. Die Urszene erklärt selbst nichts, dazu muss sie sozusagen in einer Aufführung wiederholt, also erinnert werden – und zwar als Verstehen einer fundamentalen Abwesenheit von ‚Selbstinitiation‘. Man kann behaupten, das einzige, was in einer Aufführung wiederholbar sei, sei ihr fehlender Ursprung, denn die Aufführung ist Ausdruck von etwas, was sich nicht erklären lässt. Die Realität des Wählens heißt, die Gabe der Wählbarkeit als eine Unverfügbarkeit anzuerkennen „das ich wählt sich selbst, oder richtiger es empfängt sich selbst [, ...] empfängt die Persönlichkeit.“337 „Das Ästhetische in einem Menschen ist das, wodurch er unmittelbar ist, was er ist: das Ethische ist das, wodurch er wird, was er wird.“338 Simulation und Fiktion sind dadurch, dass sie als Momente eines genetischen und eines strukturalen Wissens unterschieden werden, als Wählbarkeit überhaupt ins Licht gesetzt, und zwar als zwei Momente der Imitation: das Anamnestische als prozessuale Funktion und das Mimetische als symbolische Form. Beide Versionen der Wahl hat Heidegger im Begriff der Gabe weiterentwickelt.339 Beide Verhältnisse zur Wahl geben Richtungen vor. Die passive nennt Kierkegaard „das Genießen“.340 „Genieße dich selbst: im Genuß sollst du dich selbst genießen.“341 Psychoanalytisch und mit Lacan geschult, könnte man für das andere Dispositiv der Tat die Lust nennen – wobei Lust als Arbeit zum Ausdruck kommt. Man muss den Begriff der Begierde bei Sartre unterscheiden lernen als eine organisch-anorganische Beziehung. „Genuss“ bei Sartre läuft unter dem Begriff der Träg-

337

Ebd., S.728.

338

Ebd., S.729.

339

Martin Heidegger: Kants These über das Sein. In: Ders.: Wegmarken. Frankfurt am Main 1976, S.479: „Im unscheinbaren ‚ist‘ verbirgt sich alles Denkwürdige des Seins. Das Denkwürdigste darin bleibt jedoch, dass wir bedenken, ob ‚Sein‘, ob das ‚ist‘ selbst sein kann, oder ob Sein niemals ‚ist‘ und dass gleichwohl wahr bleibt: Es gibt Sein. Doch woher kommt, an wen geht die Gabe im ‚Es gibt‘, und in welcher Weise des Gebens?“ Vgl. auch Sören Kierkegaard: Entweder – Oder. Teil I und II. München 1993, S.732: „Wie groß nun die Differenzen innerhalb des Ästhetischen auch sein mögen, alle Stadien haben doch die wesentliche Gleichheit, daß der Geist nicht als Geist, sondern unmittelbar bestimmt ist. Die Differenzen können außerordentlich sein, angefangen von völliger Geistlosigkeit bis hin zu dem höchsten Grad von Geistreichigkeit; aber selbst in dem Stadium, in dem die Geistreichigkeit in Erscheinung tritt, ist doch der Geist nicht als Geist bestimmt, sondern als Gabe.“ 340

Kierkegaard, Entweder – Oder, a.a.O., S.731.

341

Ebd., S.744.

306

heit, der Prozesshaftigkeit, der Serialität.342 „Gerade durch Arbeit macht der Mensch sich frei, durch Arbeit wird er Herr über die Natur, durch Arbeit zeigt er, dass er höher ist als die Natur.“343 Man wählt, man wird nicht gewählt. Kierkegaards Argument für die Szene des Theaters ist, dass hier die Prüfung, egal auf welchem Gebiet, immer eine zeitlich begrenzte ist. Das Wesen des Theaters ist – anders als in den gleitenden Situationen des Alltags, die schlecht experimentell zu isolieren sind –, sich auf die Krise dieser Zeitlichkeit selbst zu beziehen, und zwar als Form der Wiederholung von Inszenierungen, deren „Bedeutungs-Vorlagen“ identisch sind, deren Aufführung aber je verschieden auf diese Idealität durch die Präsenz der Schauspieler und Zuschauer reagieren kann. Dadurch erweist sich Wiederholbarkeit als kritische Funktion, die die Realität als eine schicksalhafte hervorbringt, womit das ganze technische Reproduktionswesen entzaubert wird. „Die gesamte traditionelle Form der Kausalität wird hiermit in Frage gestellt.“344 Zurück zu Kierkegaards Kategorie der Prüfung, die er an der Hartnäckigkeit des Hiob verdeutlicht, der nicht an den Botschaften Gottes verzweifelt.345 Sartre gibt mit Verweis auf seine Begriffsanstrengungen in Marxismus und Existentialismus folgende Überlegung zur Prüfung vor: Man wird zweifellos die enge Verwandtschaft bemerkt haben zwischen dem Verstehen, [...] und dem Erklären, wie wir es bestimmen müssen, wenn die Dialektik existiert. Tatsächlich ist das Verstehen nichts anderes als die Durchsichtigkeit der Praxis für sie selbst, sei es, daß sie durch ihre Konstituierung ihre eigene Aufklärung hervorbringt, sei es, daß sie sich in der Praxis des Anderen wiederfindet. Jedenfalls geschieht das Verstehen der Handlung durch die (produzierte oder reproduzierte) Handlung [...].

Dann folgt die Pointierung der Darstellung der progressiv-regressiven Bewegung, die Überschreitung in den Phasen „Entwurf“ und „Reversion“: [D]ie teleologische Struktur der Aktivität kann nur in einem Pro-jekt erfaßt werden, das sich selbst durch sein Ziel, das heißt seine Zukunft, bestimmt und das 342

Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, a.a.O., S.270ff.

343

Kierkegaard, Entweder – Oder, a.a.O., S.853.

344

Baudrillard, Agonie des Realen, a.a.O., S.49.

345

Gott stellt Hiob auf die Probe, weil dieser selbst, durch den Satan verführt (mittels einer Wette), an Hiobs Gottesfürchtigkeit zu zweifeln beginnt. Die Verführung thematisiert somit den Zweifel, der wiederum die Grundlage der cartesianischen Selbstbestimmung ist.

307

von dieser Zukunft her zur Gegenwart zurückkommt, um sie als Negation der überschrittenen Vergangenheit zu offenbaren.

Schließlich kommt Sartre im dritten Schritt zu einer diskursiven Einordnung, die den spezifischen Begriffsgebrauch im Verhältnis zur allgemeinen Ordnung des Erklärens von „vertikaler und horizontaler“ Totalisierung unterscheiden will: Es scheint also, daß das Erklären nur ein neuer Ausdruck zur Bezeichnung des Verstehens ist. In diesem Fall könnte man ihn überflüssig finden. Tatsächlich pflegt man das Erklären (vorbehalten für die Verfahren der analytischen Vernunft) dem Verstehen (das man nur in den Geisteswissenschaften antrifft) gegenüberzustellen.346

Es ist wichtig zu verstehen, dass das Erklären darauf aus ist, „Ursprung als auch innerhistorische Gründe“ zu finden, die die „frei umherschweifenden Aktionen ohne Urheber“ totalisieren.347 Das heißt, das Erklären ist quasi die Form der horizontalen Totalisierung, der Vernetzung und der diskursiven Praktiken. Aber das Verstehen, wir haben es weiter oben von Sartre übernommen, meint ein „totalisierendes Begreifen“ des Verstehens und Erklärens als ein je Meiniges oder Individuelles. Rhetorisch gesprochen handelt es sich um das Verstehen des Stils (der Individualität), als das, was auch im anderen nicht begründbar ist, und zwar prinzipiell nicht. Man kann hermeneutisch die Phasen des Verstehens erklären – und Sartre gelingt das auch mit der Darstellung seiner methodischen Darstellung der „Hin- und Her-Direktion“348, 346

Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, a.a.O., S.77f.

347

Ebd., S.79.

348 Diese Grundstruktur finden wir genauer bei Winnicott wieder, der sie vermutlich auch

der Anregung Freuds (Fort-Da-Spiel) verdankt. Freud macht in Jenseits des Lustprinzips auf den Wiederholungszwang aufmerksam und bestimmt die Bewegung als „Amplitude.“ (S.141) Allerdings spannt er sie vom Spielmoment bis zur anthropologisch/kosmologischen Struktur, weswegen er auch nicht anders kann, als einen Trieb (force) dafür einzusetzen. „Ein Trieb wäre also ein dem belebten Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes.“ (S.146) Der frühere Zustand wird bei Winnicott auch auf das ursprüngliche Spiel des Kleinkindes bezogen. In der Form der Inbesitznahme des Körpers und seiner dinglichen Ablösungen gewinnt die Bewegung, die den Erkenntnisspielraum eröffnet, jedoch einen ökonomischen Charakter. Bei Sartre bezieht sich diese Bewegung auf eine Zeitinversion bezüglich des cogito praereflexiv – wie eben auch bei Schelling, wo sie sich auf eine Elementarstruktur der Reflexion bezieht. Die entscheidende Frage ist also, wie die Interpretation der notwendigen Verfehlung des „Ausgangszustandes“ (S.147) sich der Analyse der Zeitdimension widmet, die sie von der Geschichte bis zum Augenblick eröffnet. Offensichtlich ist es die Aufgabe des Spiels, dieser subkutanen Zeitverpflichtung

308

die von Schelling bis Gadamer als Ausweis des Spiels, als Kinesis der Erfahrungsbildung und des Verstehens gilt. Man muss aber dann auch zur Auffassung gelangen, dass sich nicht alles erklären lässt, sondern dass das Erklären ein ausgezeichneter Spezialfall, eine Prüfung des Verstehens ist, das vom Hier und Jetzt meiner Praxis absieht, sie in einen allgemeinen Zusammenhang stellt, zugleich aber in ihrem Reichtum reduziert. In dieser Situation der Überschreitung der Totalisierung oder des Durchschreitens des Verstehensprozesses führt Kierkegaard seinen wichtigen zu entgehen und sie dadurch demonstrabel zu machen: Viele Kinderspiele funktionieren in ihrer Rhythmik wie Uhrwerke. Vgl. Freud, Jenseits des Lustprinzips, a.a.O. Wenn Schelling versucht, die innere Dynamik des menschlichen Spiels aus den logischen Prinzipien des Bewusstseins abzuleiten, will er sich auf kein (der Freiheit entgegengesetztes) Kraft-Prinzip berufen. Insofern bleibt seine Philosophie Geist-Philosophie. Gerade aus diesem Grunde muss er nun ein Medium der Selbstbezüglichkeit kontingentieren, dass aus dem Zirkel der Reflexion eine Linie des Bewusstseins (des biografischen Ichs) macht. Er muss dazu die Einheit des Ichs in der Synthesis der Zeit setzen. „Das Ich ist also selbst eine zusammengesetzte Tätigkeit, das Selbstbewußtsein selbst ein synthetischer Akt.“ (F. W. J. Schelling: System des transzendentalen Idealismus. Hamburg 1962, S.58) Als Mittel der Synthesis dient die Idee der „transcendentalen Vergangenheit“, deren WiederHolung im Spiel der Freiheit zum Ausdruck kommt. Walter Schulz schreibt über Schellings spätere Deutungsversuche seiner frühen Idee in einer Einleitung: „Demgegenüber habe er – Schelling – den Nachweis erbracht, daß das gegenwärtige wirkliche Ich sich diesen Zusammenhang von Außenwelt und Ich nicht anders erklären könne als durch die Setzung einer dem jetzigen Bewußtsein vorausgehenden ‚transcendentalen Vergangenheit‘. In dieser habe das Ich diese Welt notwendig produziert. Nachdem es sich aber zum wirklichen Bewußtsein emporgearbeitet habe, trete ihm das ursprünglich von ihm Gesetzte nun als selbständig gewordenes äußeres Produkt entgegen.“ (Walter Schulz in der Einleitung zu Schelling, System des Transzendentalen Idealismus, a.a.O., S.XXVI). Auch wenn Schelling noch auf den Kraft-Begriff in Bezug auf das Verhältnis von Materie und Geist eingeht (hier sind „Magnetismus“ und „Elektrizität“ genannt: S.113ff.), so übersieht er, dass empirisch der Körper selbst die Fundierung seiner Einheit in der Fort-Da-Bewegung, seiner Leiblichkeit als Selbstdistanz auslöst, wie wir mit Winnicott noch sehen werden. Die Resultierende ist entsprechend für Winnicott die Personalisierung (der Körper in der Gemeinschaft), für Schelling das Bewusstsein (die Vergemeinschaftung im Geist). Gerade dadurch kommt aber Schelling zu seinem Zeitbegriff: „Wie wird denn nun aber das Ich sich als innerer Sinn zum Objekt? Einzig und allein dadurch, daß ihm die Zeit (nicht die Zeit, insofern sie schon äußerlich angeschaut wird, sondern die Zeit als bloßer Punkt, als bloße Grenze) entsteht. [...] Die Zeit ist nicht etwas, was unabhängig vom Ich abläuft, sondern das Ich selbst ist die Zeit in Tätigkeit gedacht.“ (S.133) Zusammengefasst: Der Gadamer’sche Hinweis auf die dem Spiel zugrunde liegende Bewegung geht nicht auf das logische Problem der Hermeneutik der Pro- und Regressionen, also der fingierten Tauschbarkeiten der Zeitmodalitäten als sozialer Kategorie ein, so wie Luhmann das unter dem Begriff der Reziprozität als Schema der sozialen Verbindlichkeit und des Austauschs darstellt. Vgl. Ralf Bohn: Inszenierte Zeitgestalten. Zu Adolf Winkelmanns Szenografie des U-Turms. In: Ralf Bohn / Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung der Stadt. Urbanität als Ereignis. Szenografie & Szenologie Bd.6. Bielefeld 2012.

309

Begriff der „szenischen Spannung“ ein.349 Wie keine andere ist diese Begriffsbildung dazu geeignet, die in der Szene auftretende aporetische Differenz innerhalb der Realität selbst zu offenbaren. Denn selbstverständlich gibt es keine Szene, die außerhalb des Prüfstandes der Techniken, z.B. der Körpertechniken stattfindet. Aber im Schauspiel ist nicht der technische Blick gefragt, sondern einer auf die Selbstbeziehung, das heißt auf die Identifikation des Zuschauers mit dem Schauspieler als die Frage, wie Andersheit verstanden werden kann, wenn man den anderen verstehen will.

b. Vom Ereignis zum Erlebnis: die Kunstbetrachtung Die Referenz auf Gadamers Wahrheit und Methode lassen wir mit dem Problem des Sinn von Authentizität im Begriff „Erlebnis“ beginnen. Gadamer greift mit diesem Begriff eine Flanke der lebensphilosophischen Konzeptionen an, deren problematischer Begriff der der „Einfühlung“ ist. Er bezieht sich auch auf eine durch Dilthey angeregte Wende in der geschichtsphilosophischen Betrachtung, in der Darstellung oder Nachstellung eines historischen Ereignisses im Sinne des authentischen Erlebnisvollzuges gefordert wird. Ebenso greift er die Frage auf, die Kierkegaard unter der differenzierten Beobachtung der Wiederholung und der Wiederholbarkeit eines Ereignisses als einer unmittelbaren Aufführung/Darstellung (ohne Inszenierung) stellt, kehrt aber in Bezug auf die Betrachtung des geschichtlichen Ereignisses die Reihenfolge um. Das Ereignis existiert zumeist nur in den Quellen des Erlebnisses, sodass für die Historie das Erlebnis primär ist – der Augenzeugenbericht. Das Ereignis selbst ist zwar in den Materialisierungen vielleicht zu rekonstruieren und zu datieren, aber die Datierung ersetzt nicht die von Menschen erlebte Geschichte in ihrer Autorschaft. Die Probleme beginnen damit, dass etwa mit dem Aufkommen der Fotografie nicht mehr nur Texte (Verträge, Briefe etc.), sondern auch solche Quellen vorhanden sind, die zwischen der subjektiven und der objektiven Dokumentation (den „Fakten“ und den „Erzählungen“) stärker differieren. Sind geschichtliche Erlebnisse als solche wiederholbar oder nur unter dem Opfer der Darstellung in Ereignissen erklärbar? Hierzu muss man die Frage angehen, wie aus Affekten „Erlebnisse-für-mich“ werden, um den idealistischen Status der Begriffe zu kritisieren. Das Kriterium der Augenzeugenschaft wird zunehmend von der 349 Sören Kierkegaard: Die Krise. In: Ders.: Die Wiederholung. Die Krise. Hamburg 1991, S.95.

310

medialen Perspektive abhängig. Der Begriff des Authentischen muss reformuliert werden. Die Fragestellungen lassen ahnen, dass das „Ich verstehe“ mit der Identität des Ichs sehr differenziert umgehen muss, um sich nicht dogmatisch zu verschließen.350 Wir gehen von der Prämisse aus, dass das Verstehen immer über den anderen vermittelt erfolgt, und in der Moderne über den vermittelten Anderen als Dritten (Medien). Als solcher liefert der Dritte (die menschlichen und maschinellen Sachbeziehungen) nicht nur eine ethische Norm, wie zu handeln (und zu verstehen) sei, sondern auch die Voraussetzung, eine spekulative Inszenierung dort auszuführen, wo Normen, Verhalten und Handlungsformen überschritten oder delegitimiert sind. Szenifikationen erklären solche Überschreitungen, Initiativen und Interventionen zumal als reproduzierbares „Bild“, insbesondere aber auch prozessual (Modell, Simulation), insofern die Norm hier nicht patriarchal gesetzt ist, sondern sich performativ/autopoietisch selbst hervorbringt und sich in der Totalisierung negiert (Alltäglichkeit; Hexis als „Vergesellschaftung der Fakten“, als Signifikant). Eine der bedeutsamsten Inszenierungsvorgaben bieten die Techniken der Warenkultur, die vorgeben, wie zu verstehen/gebrauchen sei. Eine solche Normierung der Handlungen des Gebrauchs bildet die Konstruktivität von Realität. Die Historie ist die nachgeholte Reflexion. In dieser Hinsicht hat man das Theater zu einer Instanz erklärt, in der das unmittelbare Ereignis in Erlebnis umschlägt, was beispielsweise beim Fernsehen nicht mehr so ist.351 Aus der Fusion von Ereignis und Erlebnis soll ein indi350 Turner

verweist im Zusammenhang mit dem Verständnis von Erlebnissen auf deren Nachvollzug bei Dilthey, der wiederum auf Goethe verweist. Turner, Vom Ritual zum Theater, a.a.O., S.20. Jürgen Hasse zeigt die Ambivalenz auf, die zwischen einem Ruf nach Erlebnissen und einem Vollzug des Erlebens aufklafft. „So ist es nicht das Erleben, das immer ein selbstreflexives Moment emotionaler Ver-Arbeitung beinhaltet, sondern die Fokussierung der Punktualität einer Situation zur Abtrennung des Erlebens, worauf Ästhetisierungen ausgerichtet sind. [...] Angeregt von einem tiefen Bedürfnis nach ‚Authentizität‘, ‚Echtheit‘ und ‚Unmittelbarkeit‘ verspricht die kryptosprachliche Symbolik des Erlebnisses utopische Entlastung. [...] Die Gründe der unaufhörlichen Suche sind nicht solche mangelnder Erlebnisse, sondern solche defizitären Erlebens.“ Jürgen Hasse: Erlebnisräume. Vom Spaß zur Erfahrung. Wien 1994, S.29.

351 Vgl. Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen. Frankfurt am Main 1998. „Die politischen

Gefahren, die mit der üblichen Nutzung des Fernsehens verbunden sind, kommen daher, daß es erzeugen kann, was Literaturkritiker den effet du réel nennen, den Wirklichkeitseffekt: Es kann zeigen und dadurch erreichen, daß man glaubt, was man sieht. Diese Macht, etwas vor Augen zu führen, hat mobilisierende Wirkungen. Sie kann Gedanken oder Vorstellungen ins Leben rufen, aber auch Bevölkerungsgruppen konstituieren.“ (S.27) Während das Fernsehen heute als Institution der Fiktionalisierung begriffen wird – denn die Nachrichten sind durch die sehr viel schnelleren Internetkanäle entwertet, leisten die

311

viduelles Verständnis erwachsen, in dem die Inszenierung die Aufgabe hat, eine Haltung zu provozieren, die von der Norm abweicht, zu dramatischen Konflikten führt und die Suche nach dem „richtigen“ Verstehen und dem „richtigen“ Handeln destabilisiert. Dieses Resonanzphänomen der Vermittlung führt zur Frage, wer denn unter den gegebenen Situationen Deutungsund Auslegungsmacht protegieren, also mit der antizipierten Krise umgehen kann und sie als Herausforderung und Bestätigung der Macht einsetzt. Eine Machtverschiebung der Selbstbemächtigung macht Sartre in der minutiösen Analyse der Revolution der „Pariser“ gegen das Ancien Régime beispielhaft deutlich. Dazu, das hat Sartre gezeigt, muss aber erst eine handelnde Instanz, „die Pariser“, gezeugt sein. Dabei ist nachzuvollziehen, wann sich die Gruppe der Marktfrauen gegen die Bastille erhebt und wann die Bevölkerung von Paris ihr Selbstbewusstsein gewinnt, dadurch dass sie sich performativ und in einer beeindruckenden Performance zum Selbstbewusstsein eines Kollektivs formiert, das die Inszenierung der Macht an sich reißt und im Ballhausschwur diese Kollektivierung beeidet und kreditiert, für das Volk von Frankreich. Der Ballhausschwur ist ein Eid für sich und für andere, er will den unerklärlich epigenetischen Vorgang bedeutsam werden lassen, wie ein Volk zu Bewusstsein von sich selbst kommt, seine Handlungsinitiativen und -wahlen strategisch überschreiten kann. Das Volk will nicht im umfassenden Sinne verstehen, solange es selbst als Handelnder auftritt. Das Verstehen kommt nachträglich, das ist eine Sache der Historiker, aber auch der Regierungsvertreter, der Diplomaten usw. und derjenigen, die wie Bailly die Situation zu verstehen wissen und daraus symbolische Handlungen inszenieren, so wie man es auf dem Gemälde von Jacques-Louis David (Ballhausschwur, 1791) sieht. Der Entwurf des Schwurs geht der Renormierung durch die Verfassung voran. Die Verfassung selbst kann deswegen keine szenische oder inszenierte Form haben, weil sie die Totalisierung beglaubigt, als nachvollziehbar und reproduzierbar festhält und die unmittelbare Aktion für alle erdenklichen Situationen nachträglich sanktioniert und präformiert. Die Verfassung reguliert als Ort der Legitimität die Ereignisse, die eine Authentizität von revolutionären Handlungen nicht reflektieren kann. Ihr sogenannten ‚Sozialen Netzwerke‘ eine tatsächliche Mobilisierung, da deren totalisierte Inszenierung darin besteht, die Handlungen der Nutzer als Handelsware zu offerieren. Die politische Doktrin enthüllt sich dabei vollends, wenn man den Profit weniger im Verhältnis zu den Milliarden von Kunden gegenüberstellt, die effektiv die Opfer der Wirklichkeit werden, die sie nur in ihrer Entwirklichung erleben. Sowohl die einen wie die anderen Netzwerke sind nur zum Schein partizipatorisch, sie sind dogmatisch.

312

Schriftstück ist ein Dokument des Sich-Erklärens, oder sagen wir besser, es verwandelt das Erlebnis der performativen Unmittelbarkeit in ein funktionales Ereignis, das sich verschiedenen Krisen als Ereignissen gegenüber gewachsen, repräsentabel erweist, jedoch juristisch angefochten und reinszeniert werden kann. Das Gesetz ist auf situative Rückbindung und Auslegung hin angelegt. Dagegen gehört zum Kernbestand der Kunstwissenschaften, dass sie den Werkcharakter des Verstehens von Kunstwerken dadurch transzendieren, dass sie die Rezeption an ein wiederholbares Erlebnis knüpfen, wie die heilige Achtung, die man vor dem einmaligen Moment gewinnt, die das Gemälde von David vermittelt. Gadamer geht, ohne auf die Autorisierungsmächte zu achten, vom unmittelbaren Erlebnis aus. Der Begriff des „Erlebnisses“, existiert erst seit Beginn des 19. Jh. Vermutlich verdankt seine Existenz sich ebenfalls der medialen Möglichkeit, Ereignisse in unterschiedlichen Medien zu reflektieren und sie zugleich subjektiv auf sich zu beziehen – was eine Individuierung von Beobachterpositionen voraussetzt. In einer Anmerkung zu einem Brief, den Hegel auf seiner Parisreise im Jahre 1827 verfasst, schreibt er „meine ganze Erlebnis“352, also mit femininem Artikel. „Die Erlebnis“ konnotiert den prozessualen Charakter stärker als „das Erlebnis“ und meint eher im romantischen Sinne eine Impression. An anderer Stelle, so Gadamer, verwendet Hegel den Begriff „Lebewesen“ sehr wunderlich. Er erzählt in einem Brief „nun von meinem Lebewesen in Wien“353, was soviel wie „Lebensweise“ oder „Lebensführung“ (während eines Wienaufenthaltes) meint. „Die Erlebnis“ wird zu einer Schilderung eines performativen Vorgangs, der sich auf die Tagesgeschäfte der Hegel’schen Reisetätigkeit bezieht, nicht auf mögliche Ereignisse, die eher punktuellen Charakter hätten. Außerdem ist „die Erlebnis“ deutlich passiver konnotiert. So kann man sagen: „Ich habe das Erlebnis einer Sommernacht gehabt“ oder: „Ich habe die Erlebnis einer Sommernacht gemacht“. Gadamer bezieht sich auf zwei weitere Präzisierungen: „Das Erlebte ist immer das Selbsterlebte“. Der Begriff „erleben“ taucht verstärkt in der „biografischen Literatur“ auf, sodass nachvollziehbar wird, dass eine Ereignisform des Erlebens sich im Leben als kontinuierlich und dauernd (reflektierbar) erweist – dass sie dieses als Bewusstsein von sich beglei352 Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S.56. Zitation: Hegel, Briefe III, ed. Hoff-

meister, S.179.

353

Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S.57, Zitation: Hegel Briefe III, S.55.

313

tet. „Etwas wird zum Erlebnis, sofern es nicht nur erlebt wurde, sondern sein Erlebtsein einen besonderen Nachdruck hatte, der ihm bleibende Bedeutung verleiht.“354 Im Erlebnis sollen Deutung, Bedeutsamkeit und Bedeutung evozierbar zusammenfallen. Gadamer bemerkt im Gebrauch des Terminus bei Dilthey, dass hier Kräfte am Werk sind, die eine Kritik am Rationalismus begünstigen. Er verweist auf Rousseau sowie Goethe und dessen Aufsatz Das Erlebnis der Dichtung. Goethes Einschätzung leitet sich vom Verständnis der Poesie ab, die „Darstellung und Ausdruck des Lebens“ sei: „Sie drückt das Erlebnis aus, und sie stellt die äußere Wirklichkeit des Lebens dar.“355 Hier bekommt das Erlebnis einen performativen Zug, den das Ereignis nicht hat. Das Zugleich oder die Synchronie bestimmt die Poesie als eine situative Erfahrung, in der das funktionale Verhältnis mit einem symbolischen sich in „Resonanz“ hält. Man kann aber hier und im romantischen Sinne sagen, dass es sich um ein jedesmaliges Erlebnis handelt, dessen reales Analogon sich als unerschöpflich und somit als Deutung ausweist. Wichtig ist, dass daraus der Poesie eine Authentizität erwächst, in der erst die Rezeption oder die „Kritik“ – so der frühromantische Zentralbegriff 356 – das Werk vollendet, indem dieses die Einzigartigkeit des Erlebnisses über das geschichtliche Moment hinaus verfügbar macht – mit allen Folgen der Inszenierungskünste und der Ereignisbildung. Umgekehrt ist daraus zu folgern, dass die Selbstreflexivität der Erlebnisform immer schon eine Szenifikation beinhaltet, aufgrund der sie „subjektives Erleben“ meint – nur ist die Szenifikation die einzig angemessene Form der jedesmaligen Authentifizierung. Die Inversion, die sich hier anbahnt, ist die folgende: Dadurch, dass das historische Moment im Laufe des 19. Jahrhunderts zu dominieren beginnt, löst sich die Kunst von ihrer Funktion der Geschichtsstilisierung und muss im Zuge der Romantik einen Erlebnisbegriff entwickeln, der nicht an den Ort des Ereignisses gebunden ist. Diese Veränderung wird aber erst allmählich, vielleicht erst um die Wende des 20. Jahrhundert. – bei Wagner und Nietzsche womöglich früher – erkannt, als Lebensvollzug und der Distanzierung zu diesem. Als Folge der 354

Ebd.

355 Ebd., S.59. Goethes Sprachgebrauch dürfte, so Gadamer, der prägende für den Begriff

des „Erlebnisses“ gewesen sein.

356 Vgl. Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, a.a.O., S.51ff.

„Für die Romantiker und die spekulative Philosophie bedeutete der Terminus kritisch: objektiv produktiv, schöpferisch aus Besonnenheit. Kritisch sein hieße die Erhebung des Denkens über alle Bindungen so weit treiben, daß gleichsam zauberisch aus der Einsicht in das Falsche der Bindungen die Erkenntnis der Wahrheit sich schwang.“

314

Möglichkeit der „Selbstdistanzierung“ (Freiheit vom Zwang der Geschichte im Geiste der Französischen Revolution) folgt Dilthey der Behauptung, dass im Kunstwerk „Erlebniseinheiten“ selber „Sinneinheiten“ seien und ersetzt, so Gadamer, die Begriffe „Sensation“ oder „Empfindung“ gegen die der Konkurrenz „mechanistische[r] Modelle[]“.357 Das ist aber nicht der einzige Versuch von der Lebensphilosophie her die Rationalität und Autorisierung der sogenannten historischen Fakten anzugreifen. Viel früher, so berichtet Benjamin, steht eine Auseinandersetzung – oder vielleicht eine gegenseitige Missachtung – zwischen Goethe und den frühromantischen Kunsttheoretikern, den Schlegels, Tieck, Novalis, Schelling. „Die ganze kunstphilosophische Arbeit der Frühromantiker kann also dahin zusammengefasst werden, daß sie die Kritisierbarkeit des Kunstwerks prinzipiell nachzuweisen gesucht haben. Die ganze Kunsttheorie Goethes steht hinter seiner Anschauung von der Unkritisierbarkeit der Werke.“358 Die Frühromantiker müssen – über den Umweg der Kritik – ein ganz anderes Verständnis, nämlich eine subjektives Modell von Authentizität entwickeln, d.h., ihr revolutionstheoretisches Konzept auf die Frage verlegen, wie und mit welchen Darstellungstechniken sich die sogenannte „wahre“ Geschichte anmaßt, die wirkliche Geschichte wiederzugeben, wenn doch die instantane Dauer der Wiedergabe des „eigentlichen Erlebnisses“ Aufgabe der Kunst sei. Das rührt an einem wunden Punkt der Macht, der schon im Barock augenfällig war: dem Zusammenhang scheinhafter Ästhetik mit realer Macht, der durch die Prozessualität und Narrativität vormals statischer Bilddarstellungen medial erweitert worden war. Bilder taugen nun einmal nur unvollkommen, – das zeigt unser Prolog um Grünewald – zur Erlebnisberichterstattung, und erweisen sich deshalb als Bannungsorte des Schrecken was die Spontaneität des dem Subjekt Vorausgehenden ausmacht. Richard Alewyn hat das Dilemma zwischen ästhetischer Realisierungsmacht (im Bild) und realer Macht über Bewegungen im Raum (imperialer Macht) in einem für die Zeit folgenschweren Dilemma gesehen: Man kennt die Ungeduld Ludwigs XIV., Versailles entstehen, die Ungeduld Urbans VIII., die Peterskirche vollendet zu sehen. Im Mittelalter hatten Jahrzehnte an einem Mosaik gearbeitet, Jahrhunderte an einem Dom. Die Lebensspanne des Individuums zählte wenig. Das Barock ist eine ungeduldige Kultur. 357

Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S.62.

358 Walter Benjamin: Die frühromantische Kunsttheorie und Goethe. In: Ders.: Gesammelte

Schriften Bd.I. Frankfurt am Main 1980, S.110ff.

315

Es kann nicht warten. Es kann den Abstand zwischen Entwurf und Ausführung nicht ertragen. Lieber baut man unsolid. Bloße Kulissen, die sich an einem Tag aufrichten lassen, zieht man einem soliden Bau vor, dessen Fertigstellung sich ins Unabsehbare hinzieht.359

Die Gründe für diese Ungeduld liegen in der Ereignislosigkeit des adeligen Lebens, in der das Verbot der Arbeit jedes Erlebnis aufsaugt, um die Unvermitteltheit des Todes nicht zu evozieren. Das höfische Leben ist totales Fest. In ihm gibt es nichts als das Fest, außer ihm keinen Alltag und keine Arbeit, nichts als die leere Zeit und die lange Weile. Und es sieht aus, als ob es der horror vacui sei, der das höfische Fest erzeugt habe, der gleiche horror vacui, der dem barocken Auge eine leere Wand zu einem so unerträglichen Anblick macht, daß die Künstler angehalten werden, sie mit einem Netz von Pomp oder Zierlichkeit zu überspinnen.360

Im Zuge des Klassizismus nach dem Rokoko erwächst eine Kultur der subjektiven Fülle, deren zentraler Begriff der der Phantasie ist. Er und die unendliche Arbeit der Kritik vermitteln die Distanz zwischen der ästhetischen Anschauung und der politschen Macht auf neue Weise. Wie der Barock im Aushalten der Zeit versagt, wird nun die Eroberung der Zeit in der kristallinen Zersplitterung des Sinns – des individuellen Sinns und der individuellen Blickpunkte (nach 1789) – im Begriff der Freiheit justierbar. Diese Konzeption wirkt bis in die Schiller’schen Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen und darüber hinaus weiter.361 Damit sind die Fronten der Ästhetisierungsmächte geklärt. Welchen Totalisierungen verpflichtet sich eine Interpretation des Ästhetischen: dem Erlebnis und demWiedererleben, das nicht teilbar und rationalisierbar ist, oder aber einem fingierten „Urbild“, das sich im Typus der Erlebniseinheit aus einem „Dokument“ speist, das sich der Ursprünglichkeit bemächtigt? Kunst oder Historie, oder Kunst und Historie? Das eine in das andere zu übersetzen, dienen sich hermeneutische Techniken an und protegieren Inszenierungsformen. Goethe ordnet den Erlebnisbegriff den „Musen“ zu und argumentiert mit dieser allegorischen Verweisung auf den Prozess der Reanimation

359

Alewyn/Sälzle, Das große Welttheater, a.a.O., S.12

360

Ebd., S.13.

361 Vgl. dazu auch Heideggers Vorlesung in, Ders.: Übungen für Anfänger. Schillers Briefe

über die ästhetische Erziehung des Menschen. Wintersemester 1936/37. Marbach 2005.

316

bzw. auf den Gleichnischarakter der Rezeption.362 Die Frühromantiker dagegen setzen das Ideal der Einheit aufs Spiel, indem sie die Lebendigkeit und den Erlebnischarakter quasi wörtlich nehmen: Denn das Lebendige ist nur lebendig, wenn es den Kreislauf des Werdens und Vergehens nicht im Ewigen leugnet. Genau dadurch, dass es dauern kann, wird das Kunstwerk Werk. Zufällige und historische Gestalt wird im Durchgang durch Kritik als einer Reaktualisierung der Geschichtlichkeit allererst universal erkannt als Wahrwerden des Werks. Von diesem Wahrheitsbegriff leitet das romantische Genie sich ab. Das Problem des Authentischen und des historischen Verstehens bekommt eine logische Form, die das Unendliche im Endlichen vermittelt: die Kunstkritik. Dem Ideal gegenüber ist der Torso eine legitime Gestalt, im Medium der Formen hat er seine Stelle. Das Kunstwerk darf nicht Torso, es muß bewegtes vergängliches Moment in der lebendigen transzendentalen Form sein. Indem es sich in seiner Form beschränkt, macht es sich in zufälliger Gestalt vergänglich, in vergehender Gestalt aber ewig durch Kritik.363

Im Medium der Kritik erscheint das Kunstwerk als „Fragment“ in seiner Zeit. Kritik ist nichts anderes, als das Medium des zeitlichen/historischen Verstehens. Von daher kommt die Frühromantik, so Benjamin, zu dem lapidaren Schluss: „Die Idee der Poesie ist die Prosa.“364 Die Prosa der Kritik – also der Differenzsetzung und -bildung – ist im engeren Sinne Reflexion als endlose Arbeit,365 bzw. nach einem Athenäums-Fragment von Friedrich Schlegel „Recherche“ und „Experiment“. „Kritik ist die Darstellung des prosaischen Kerns in jedem Werk. Dabei ist der Begriff ‚Darstellung‘ im Sinne der Chemie verstanden.“366 Gadamer geht es in seiner Hermeneutik der Kunst darum, die Frage nicht eines idealen, platonischen Verstehens zu stellen, sondern die Frage der Überzeitlichkeit als Quelle des Verstehens der Werke zu studieren. Kunstwerke sind keine Feuerwerksfeste, sondern sie zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Sinngenese nie versiegt, solange ihre Präsenz dauert. Erinnern wir uns, dass Heidegger am Schluss seiner metaphysischen Fragestellung 362

Benjamin, Die frühromantische Kunsttheorie und Goethe, a.a.O., S.111.

363

Ebd., S.115.

364

Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik, a.a.O., S.100f.

365

Ebd., S.104.

366

Ebd., S.109.

317

die durch Kant vermutete Abhängigkeit von Zeit und Einbildungskraft als das „Schöpferische“ voraussetzt – eine Voraussetzung, die als „unendlich“ begriffen werden muss.367 Wie kann dann überhaupt das Unendliche in der Kunst, das Goethe im Erlebnis situiert, verstanden werden, außer durch eine Wechselbeziehung zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, die selbstschöpferisch, also performativ ist? Nun ist der Begriff des Performativen zur Zeit der Abfassung von Wahrheit und Methode noch gar nicht in Gebrauch. Und tatsächlich verschleiert er auch nur die Tatsache einer Situativität, in der der symbolische und der funktionale Akt, die Kinesis und der Einspruch (Genesis und Geltung) sich aneinander inversiv vermitteln. Die performative Wende ist weiter nichts als die Beobachtung der Gleichzeitigkeit von Produkt und Produktion respektive der Umstand, dass die Produktion selbst zum Produkt geworden ist. Das ist dann nichts anderes als die Aufführung respektive Selbstdarstellung mit der Schleppe einer nicht mehr zu durchschauenden Authentizitäts- und Aktualisierungsbehauptung. Das hat Humboldt schon begriffen, indem er die Sprache als ein System verstand, das sich durch Sprechen selbst hervorbringt.368 Insofern gibt es einen Konnex zwischen dem inflatorischen Gebrauch des Begriffs „Medium“ und dem der „Performanz“, in dem Ereignisse als Erlebnisse in Echtzeit vermittelt werden können, wo vordem der Kritik nur die Nachträglichkeit ermöglicht war. Wesentlich ist, dass das Erlebnis zu einem Effekt der Empfindung führt – womit wir wieder 367

Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, a.a.O., S.239.

368 Die Produktionsthese Humboldts geht dabei von einem Organbegriff der Sprache aus,

dessen Einheit die Sprecher manifestieren, und nicht von einer Substanz der Sprache, denn eine solche kann sich wiederum nur auf die Fiktion der Sprache respektive auf ihre Inszenierung in Darstellungen beziehen. Der Atem als Substanz des Sprechens ist ja irreduzible Voraussetzung für Sprache. Repräsentation verlangt Ausweis unzweifelhafter Präsenz. „Die Sprache heißt schließlich bei Humboldt auch deshalb zurecht ‚Organ‘, weil sie in einer weiteren biologischen Analogiebedeutung dieses Terminus (nämlich: Wahrnehmungs-Sinn) wie z.B. das Auge der Sinn des Sehens der Sinn des Denkens oder der Gedanken-Sinn genannt werden kann. Dabei besteht die Aporie-Gefahr dieser biologisch-physiologischen Bildlogik – von Humboldt selbst nicht als Problem thematisiert – darin, daß das sachliche progressive Ergebnis der Organ-Metaphorik von dessen eigenen Erklärungsmitteln zurückgenommen zu werden droht, sofern nicht der fiktive Status der vorsprachlichen Materialien ebenso bewußt gehalten wird wie die transkausale Pointe, daß die Erzeugung der Gedanken im Organ der Sprache gleichzeitig auch erst die Bildung dieses Organs selbst bedeutet: als eine Art sprachtheoretischer Epigenesis.“ Hans-Werner Scharf: Das Verfahren der Sprache. Ein Nachtrag zu Chomskys Humboldt-Reklamationen. In: Achim Eschbach / Jürgen Trabant (Hg.): History of Semiotics. Amsterdam/Philadelphia 1983, S.221 (unter Hinweis auf Wilhelm von Humboldts Kawi-Einleitung, GS VII).

318

bei Goethe wären. Wenn das Erlebnis die Dauer des Erlebens sichert, dann ist die Erlebniskunst als die eigentliche Kunst zu verstehen. Im Disput um Erlebnis und Kritik ringen bis heute die Diffamierungen einer schwarzen Romantik und falschen Empfindsamkeit romantischer Melodramen mit dem Vorwurf des Spektakels und des Hedonismus einerseits, andererseits mit einer Kunstkritik, die gerade das Apräsente, das nicht Vorbildliche und die Abwesenheit eines Ursprungs zum Ausgangspunkt nimmt, in der Divination die eigentliche Vollendung zu sehen, weil Kunst auf diesen fehlenden Grund hin reaktiv erst produziert ist als ein quasiautonomes Selbstsetzen (Sich-selbst-setzender-Grund). Deswegen gibt es eine eigenständige Kunstgeschichte. In der kunstwissenschaftlichen Diskussion hat sich eine Kritik der Allegorie etabliert. Gadamer greift diese Kritik auf, da er mit der Beharrung auf „Erlebniskunst“ nicht einverstanden sein kann. Kunst soll stets Deutungsangebot, nicht selbst bedeutend (im Sinne einer semantischen Besetzung) sein. Er sieht, dass Goethe seine Erlebnis(kunst) nicht so sehr als eine „ästhetische-“, sondern als eine „Wirklichkeitserfahrung“369 begreift, die unmittelbar zu erfolgen hat und in der das Kunstwerk die Funktion einer Membran oder einer Restwiderständigkeit aporetischer Vermittlung (zwischen Gefühl und Verstand beispielsweise) hat. Das steht einerseits im Gegensatz zur symbolische Kunstauffassung in der die Darstellung als „ein Symbol für die Reflexion“370 im frühromantischen Sinne gedacht wird. Andererseits zielt die eigentliche Kritik Goethes auf die Allegorie, die durch Wissen vermittelt ist. „In dem Augenblick, wo sich das Wesen der Kunst von aller dogmatischen Bindung löste und durch die unbewußte Produktion des Genies definiert werden konnte, mußte die Allegorie ästhetisch fragwürdig werden.“371 Die frühromantische Konzeption erhält im Gegensatz zur Allegorie – und damit schließt sich das Dreiecksverhältnis – im Begriff der Kritik das Moment der auslegenden Deutung als „Andichtung der Genese“, was etwas anderes ist als der durch Wissen erklärbare allegorische Zusammenhang, der als eindeutig lösbares Rätsel, etwa unter dem Schema der mythologischen oder biblischen Erzählungen, seine Genese selbst beigibt. Deswegen gilt die Allegorie als eine Form der katholisch-absolutistischen Deutungs- und Ableitungsmacht, während das Symbol im gleitenden Übergang von der Eindeutigkeit 369

Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S.72.

370

Ebd., S.71.

371

Ebd., S.75.

319

zur Deutungsvielfalt die Differenz von erklärender Szene (Sichtbarkeit) und reflexionskritischem Begriff (die auf das ursprungslos Unsichtbare zielt) als interpretativ, kritisch und individuell akzeptiert. Das heißt, Kritik soll nicht als Wissen, sondern als Inszenierung einer historischen Zeit begriffen werden, in der die Historizität mit der kritischen Perspektive als generativ erst entsteht. Daraus entfaltet sich die Aufgabe der Kunstgeschichte. Das Wort ‚Symbol‘ kann von seiner ursprünglichen Verwendung als Dokument, Erkennungszeichen, Ausweis nur deshalb zum philosophischen Begriff eines geheimnisvollen Zeichens gesteigert werden und damit in die Nähe der Hieroglyphe geraten, deren Enträtselung nur dem Eingeweihten gelingt, weil das Symbol keine beliebige Zeichenannahme oder Zeichenstiftung ist, sondern einen metaphysischen Zusammenhang von Sichtbarem und Unsichtbarem voraussetzt. Die Untrennbarkeit von sichtbarer Anschauung und unsichtbarer Bedeutung, dieser ‚Zusammenfall‘ zweier Sphären, liegt allen Formen des religiösen Kultus zugrunde.372

In dieser Argumentation weist Gadamer auf das Wesentliche der allegorischen Deutungspolitik (und nicht eben auf ein „Hin und Her“ des Spiels) hin, die sich im Spätbarock als Präsenz der Sichtbarkeit feiert und den wichtigen, textuellen Deutungsteil, den die Emblematik noch mitinszeniert, erst im Symbol vernachlässigt.373 Es ist eine Konsequenz der Geschichte der Kunst des 19. Jahrhundert, dass die Wirklichkeitsauffassung des Erlebens gegenüber jener des sich Ereignens im frühromantischen Sinne ins Hintertreffen gerät, sich in der späten Romantik und dem Biedermeier wieder der Allegorie zuwendet, um sozusagen einen künstlichen Erlebniszusammenhang zu konstruieren, der in den ersten Schüben der Industrialisierung (auch der Künste) wieder allegorisch und somit krisenhaft wird. Genau in diesem Moment beginnt die For372 Ebd. – Der Kult verweist auf Deutung und Bedeutung, Darstellung und Dargestelltes, und variiert, aber negiert nicht die Referenzen. „Die Kulte interpretieren auf vielfache Weise den Gesamtzusammenhang aller Dinge und die besondere Stellung der Menschen inmitten der Natur und vor dem Angesicht der Götter. Der Kult ist ein Sinn-Deutungsspiel.“ Eugen Fink: Spiel als Weltsymbol. Stuttgart 1960, S.187. 373 Das wird auch in der Barockforschung so gesehen. Vor allen Dingen macht sich das an

den performativen Stegreifspielen fest, die bewusst auf eine literarische Vorlage verzichten. „Das Stegreifstück ist der äußerste Gegensatz zum Lesedrama. Es ist wie das Barockdrama Gelegenheitsdichtung im höchsten Sinne. [...] Das Stegreifstück ist die Kunstform schöpferischer Schauspieler, Theaterkunst schlechthin.“ Josef Nadler: Das bayerisch-österreichische Barocktheater. In: Richard Alewyn (Hg.): Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche. Köln/Berlin 1965, S.105.

320

cierung der Inszenierung als einer Konstruktion von Deutungs- und Ableitungsangeboten, deren Wahl eigens hergestellt oder vorgeführt werden muss, weil sie – ausgenommen von Spezialisten – weder gewusst noch abgeleitet werden kann. Die bürgerliche Ästhetik hält sich in der universalen Gebärde des Imperialismus noch für mächtig genug, die Deutungskonventionen zelebrieren zu können. Mit den technischen Entwicklungen der Medien – z.B. mit der aufkommenden Fotografie und gerade in ihrer Frühzeit mit der inszenierenden Fotografie – hat sich ihr ein adäquates Mittel angeboten, durch das die Frage der Faktizität ein neues Spielmoment gewann.374 Sie erschafft künstliche Dokumentarität, ist aber nicht in der Lage, sie als Kunst zu reflektieren.375 In dieser Hinsicht kann Gadamer hundert Jahre später darauf hinweisen, dass eine (selbst-)kritische, interventionistische Kunstund Künstlerpolitik seit dem Impressionismus auf die Mehrdeutigkeit einer nicht einmal mehr symbolischen gebundenen, sondern mediatisierten Kunst setzt, die die singulären Werke miteinander zur Kunst der Gesellschaft verkoppelt – also beständig neue Bedeutungsverschiebungen generiert. Kritik und Kunst verschmelzen. Auf die Frage, was dem ästhetischen Bewusstsein entgegengesetzt wird, kann man mit Benjamin dialektisch antworten: Die „Politisierung der Ästhetik“ und die „Ästhetisierung der Politik“ sind Techniken weniger der Beherrschung des Raumes und der Aktion als Beherrschung der Zeit und des Erlebniswertes.376 In diesem letzten Punkt, Benjamin hat 374 Vgl. Bazon Brock: Fotografische Bilderzeugung zwischen Inszenierung und Objektivierung.

In: Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie III, 1945 – 1980. München 1999. „In der Mitte des vorigen Jahrhunderts konnte sich die Fotografie nur dadurch als eine wesentliche neue Realisationstechnik behaupten, daß sie sich überlieferten und ausgewiesenen Realisationstechniken aus dem Bereich der bildenden Kunst anglich. Dieser Weg zur Durchsetzung des neuen Mediums bleib für das Medium selber folgenschwer, ja, er erzwang eine Polarisierung des medialen Charakters der Fotografie nach zwei Seiten, die wir einfachheitshalber als einerseits ‚inszenierende‘ und andererseits ‚objektivierende‘ Fotografie unterscheiden wollen.“ (S.236) Diese Unterscheidung ließe sich, weil die Techniken und Maschinen der Szenografie von ihr selbst nicht durchschaut und reflektiert werden, auch für die erweiterten Inszenierungsmodelle nutzen. Denn einerseits werden durch die Antizipierungen der Techniken die Objektivierungen verstärkt (und somit der Mangel eines nur technisch-handwerklichen Verfahrens), andererseits müssen die affirmativen Tendenzen durch Inszenierungen künstlerisch und somit die hochkomplexen Techniken ästhetisch reduziert und gebrauchsfertig werden, um eine Selbstreflexion der Fotografie zu ermöglichten und damit auch ihre Anerkennung als Kunst.

375 Fotografie war Handwerk, oder wie der Film, Industrieproduktion. Erst Benjamin und die Nouvelle Vague, insbesondere Godard, haben sie daraus programmatisch befreit. Vgl. Rolf H. Kraus: Walter Benjamin und der neue Blick auf die Photographie. Ostfildern 1998. 376 Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, a.a.O., S.508.

321

den Faschismus im Blick, favorisiert einerseits das armselige Repertoire der faschistischen Kunst wieder das falsche, allegorische Moment – das der Eindeutigkeit, die lediglich noch eine gewisse Kombinatorik zulässt, was andererseits der Montage des Films eine für die faschistische/kommunistische Propaganda führende Rolle zuweist. „Die neue Schätzung der Allegorie, von der wir sprachen, weist darauf hin, daß in Wahrheit auch im ästhetischen Bewußtsein ein dogmatisches Moment seine Geltung behauptet.“377 Wenn in diesem Sinne die Phrasen des Designs zu ästhetischen Imperativen werden (form follows function), dann ist das dogmatische Moment getroffen, aber um der Technik willen: Der Gebrauch der Waren verlangt Eindeutigkeit. Das ist der Status, an dem wir die auch kunstgeschichtlichen Untersuchungen Gadamers verlassen können, um dort einzusetzen, wo sich die Deutungsfreiheit als individuierte Inszenierung einer gesellschaftlichen Praxis autopoietisch/epigenetisch legitimiert: Das ist zuerst im Bereich des Kinderspiels zu beobachten, das eine Art Selbstbemächtigung zelebriert.

c. Vom Erlebnis zum Ereignis: das Spiel der Szenifikation Wenn in der Deutung „das Verstehen der Begegnung mit dem Kunstwerk selber“378 geschieht, dann müssen die Regeln der Deutung im Kunstwerk impliziert, autorisiert sein. Das geschieht offensichtlich nicht durch eine begriffliche Vorlage, so wie man den Bildern und Objekten der Museen kleine Merkzettel oder den Emblematiken Inscriptio und Subscriptio zuweist, die in der Regel auf das zurückgreifen, was man von ihnen wissen sollte, sondern durch Inszenierung, deren profanste Form das Zeigen ist, d.h. die Vorgabe der Richtung oder Fokussierung des Blicks. Damit kann Zeigen sowohl eine soziale Funktion als auch eine solche haben, die auf einen Grund verweist und den/das Zeigende/n zur Ursache erklärt.379 Wenn aber die Zeigefunktion eine Auszeichnung aller Bildwerke ist, was ist dann die Besonderheit der Kunst? Ihre Mehrfachverweisung? Oder der Umstand, dass Kunstwerke den Zweck der Verweisung, die Mitteilungsfunktion, in die Aufführungsfunktion verlagern? Die Inszenierung eines Kunstwerks soll nicht eine dogmatische Bedeutung vorgeben, sondern zeigt Deutungswege 377

Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S.77.

378

Ebd., S.96.

379 Vgl. Wiesing,

Sehen lassen, a.a.O., S.201ff.

322

auf. In der Szenografie können durchaus Bedeutungsvorgaben so beauftragt sein, dass sie sich als Verführungen zu einer bestimmten Bedeutung oder zu einem bestimmten Zweck veranlassen. Es wird beispielsweise nicht auf den Kauf einer Ware hingewiesen, sondern auf eine Inszenierung des Gebrauchs. Damit verschieben sich die Deutungshoheit und die Bedeutungsrealisierung auf einen Agenten, der mit der Verschiebung von Ereignis zu Erlebnis arbeitet: das illudische Scheinen der Kunst initiiert oder das Eindeutige mit der Aura der Mehrdeutigkeit umgibt – und das auf sehr eindeutige Weise. Alle Kombinationen werden in dieser szenografischen Kompetenz denkbar. Wenn im Konjunktiv der Deutungsmöglichkeit geredet wird, dann deshalb, weil dieses Spiel um den Vorschein der Deutung (des Hindeutens als Zeigen) in der Kunstbetrachtung erst die Regeln erzeugt, die es zur Bedeutungserfüllung bewegen. Damit wird das Kunstwerk performativ und erfüllt die Regeln, die Gadamer für das Spiel aufstellt. „Das Subjekt des Spiels sind nicht die Spieler, sondern das Spiel kommt durch die Spielenden lediglich zur Darstellung.“ – „Immer ist da das Hin und Her einer Bewegung gemeint.“380 Mit dieser Bewegung ist eine Darstellung in der Oszillation von Präsenz und Sinn intendiert. Gadamer zitiert Huizinga: Spielen ist ein „Zeitwort“; „[m]an spielt ein Spiel.“381 Der Zeitspielraum (Heidegger) des Spiels ist als solcher nicht an ein Telos gebunden: Die Bewegung, die Spiel ist, hat kein Ziel, in dem sie endet, sondern erneuert sich in beständiger Wiederholung. Die Bewegung des Hin und Her ist für die Wesensbestimmung des Spieles offenbar so zentral, daß es gleichgültig ist, wer oder was diese Bewegung ausführt. Die Spielbewegung als solche ist gleichsam ohne Substrat. Es ist das Spiel, das gespielt wird oder sich abspielt – es ist kein Subjekt dabei festgehalten, das da spielt. Das Spiel ist der Vollzug der Bewegung als solcher.382 380 Gadamer, Wahrheit 381 382

und Methode, a.a.O., S.98.

Ebd., S.99, mit Bezug auf Huizinga, Homo Ludens, a.a.O., S.43.

Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S.99. Dazu auch Ders.: Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest. Stuttgart 2006. Gadamer greift in diesem Aufsatz, der auf Vorträge von 1974 zurückgeht, seine in Wahrheit und Methode gemachten Ausführungen wieder auf: „Es ist die Funktion der Spieldarstellung, daß nicht irgend etwas Beliebiges, sondern die so und so bestimmte Spielbewegung am Ende steht. Spiel ist also letzten Endes Selbstdarstellung der Spielbewegung.“ (S.31) Wenn Gadamer das Spiel einem gewissen Wiederholungszwang unterwirft, wird damit natürlich schon die hysterische Tendenz des gelingenden Nichtgelingens als „erster Schritt auf dem Weg zur menschlichen Kommunikation“ (S.31) im Ritual und später im Kunstwerk deutlich – im Gegensatz zum informatorischen Umgang mit Technik, die im regelgeleiteten Gebrauch eines imperativischen Individuums eine notwendige Eindeutigkeit und somit Ökonomisierung

323

Im Begriff des Spiels liegt der Einspruch nicht als augenblicklicher, als „Halt!“ vor, sondern als Bewegung des Aufschubs; er ist medial gedacht. Wenn Kafka in seiner Parabel davor zurückschreckt, den Galeriebesucher sein „Halt!“ in das Rund des Inszenierungsspiels der Manege rufen zu lassen, dann, weil der Einspruch selbst erneut die Bewegung aufnehmen muss, in dessen Namen er erhoben worden ist. Die Seinsweise des Spieles ist also nicht von der Art, daß ein Subjekt da sein muß, das sich spielend verhält, so daß das Spiel gespielt wird. Vielmehr ist der ursprüngliche Sinn von Spielen der mediale Sinn. So reden wir etwa davon, daß etwas dort und dort oder dann und dann ‚spielt‘, daß sich etwas abspielt, daß etwas im Spiele ist.383

Es muss nun einleuchten, dass im medialen Sinne das Spiel sich subjektlos als Ereignis abspielt. Das Spiel ereignet sich. Hier sind wir nicht einmal mehr im Goethe’schen Register einer Erlebniskunst, denn das subjektive Erleben des Spiels als Spiel ist nicht reflektorisch vorausgesetzt, sondern intentional: Spiel vollzieht sich. „Der Primat des Spiels gegenüber dem Bewußtsein des Spielenden [wird] grundsätzlich anerkannt.“ In dieser Hinsicht ist Spielen ein „Naturvorgang“, dessen entscheidendes Moment mit der Frage der Selbstdarstellung verbunden ist, zunächst aber nicht auf Selbstinszenierung-für-einen-anderen im Sinne der kritischen Stellungnahme abzielt. Das „natürliche“ Spiel hat keine Zuschauer und keine Interpretanten oder Initiatoren: „Auch der Sinn seines [des Naturvorgangs; R.B.] Spielens ist, gerade weil er und soweit er Natur ist, ein reines Sichselbstdarstellen.“ – Eine theatrale Logik wird ausgeschlossen. Man kann aber von einem Symptom der Selbstaufhebung sprechen. „So wird es am Ende überhaupt sinnlos, in diesem Bereich eigentlichen und metaphorischen Gebrauch zu unterscheiden.“384 „Das Spiel ist wirklich darauf beschränkt, sich darzustellen“, und wie der Traum seine Darstellung als die der Wiederholung in „Spielbewegung“ zu halten.385 verlangt, auf deren Grundlage, nämlich der Mediatisierung, aber erst die Dialektik des Spiels Ausdruck sein kann. In dieser Hinsicht kann man ganz unmetaphorisch von einer „Motorik des Spiels“, in welcher der Wiederholungszwang alle anderen sozialen Momente inzestuös überlagert, sprechen. 383

Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S.99

384

Ebd., S.100.

385

Ebd., S.103.

324

Aber auch wenn die „Spielwelt“ ohne „Übergang und Vermittlung“386 ist, kann sie doch nur im Gegensatz zu den Zwecken existieren. Gadamer argumentiert dabei eher vom „Verhalten“ her, weniger von dem Zusammenhang des Mangels und des Begehrens, sodass hier offensichtlich die philosophische Dimension zugunsten einer psychologischen oder anthropologischen präferiert ist – und das an entscheidender Stelle: erstens, weil der Komplex der Zwecke erst über die Rationalisierungen der Verweisungen eintritt; zweitens, weil damit die technische Welt der Zwecke und des Gebrauchs nicht rückvermittelt wird auf die praktisch inerte Ebene der Alltäglichkeit, von der überhaupt erst die Unterscheidung „Spiel“ gegenüber der Fremddarstellung oder Reflexion Sinn macht, wie Sartre und Heidegger zeigen; drittens muss die Frage gestellt werden, ob Gadamer den Akt des Verstehens, dessen Interpretationsspektrum oder Deutungsreichtum er durch das Spielmoment aktiviert sieht – im Gegensatz zur Erlebnis und zur Kritik, erstere im Sinne der Einfühlung, letztere im Sinne der Analyse der Zeitlichkeit des Sinns – ,ebenfalls als ein notwendiges Verhalten ansieht oder ob er bereit ist, unter „Verstehen“ ein Existenzial zu begreifen, zu dem der Mensch sich überhaupt nicht verhalten kann. „Spiel“ so betrachtet wäre dann die äußerste Form des Zwangs und insofern ein Naturverhältnis des Menschen. Spiel wäre reine Präsenz, von der erst die Distanzierung des Selbstverhältnisses erlöste, also die Konstitution des anderen und schließlich die Konzeption des Sinns, der als szenischer von der Situativität des Spiels erlöst. Zumindest läuft jetzt alles auf die Frage der Vermitteltheit des Unvermittelten, also auf die Frage seiner Darstellung, gar seines „Sich-zeigen-fürandere“ hinaus. Denn das Spiel ist Spiel nur innerhalb einer nicht durch unmittelbaren Mangel gekennzeichneten Freiheit möglich. „Freiheit von“ (Zwecken) und „Spiel“ sind identisch – wobei die Frühromantiker sicher den Freiheitsterminus präferiert und das Spiel als Konkretion der Freiheit im „Fragmentarischen“ begriffen hätten.387 386

Ebd., S.102.

387 Wenn Novalis bestimmt „Spielen ist ein Experimentieren mit dem Zufall“ (Fragmente

und Studien 1799-1800, S.535) dann verweist er auf die konkrete Ambivalenz des Spiels als eines Raumzeit-Tauschverhältnisses, in dem der Zufall die Freiheit der jeweiligen Bestimmung der Spielbewegung offen lässt. So ist „Ausdruck der bloßen Tätigkeit, ohne Gegenstand und Inhalt – erstes Spiel“. (Fragmente und Studien bis 1797, S.306) Was als Bewegung zum Ausdruck kommt, schlägt auf Poesie zurück. „Der Dichter betet den Zufall an.“(Aus dem Allgemeinen Broullion‘ 1798-1799, S.492) Im Allgemeinen Brouillon hört sich das „Hin und Her“, spielerisch so an: „Zeit ist innrer Raum – Raum ist äußre Zeit (Synth[ese] derselben) Zeitfiguren etc. R[aum] und Z[eit] entstehn zugleich. Die

325

Nun behauptet Gadamer, dass das Spiel in seiner Zeitlichkeit nichts anderes sei als ein „Sich-selbst-darstellen“… „Das Spiel ist wirklich darauf beschränkt, sich darzustellen. Seine Seinsweise ist also Selbstdarstellung“ eines „Subjekts“, dass das Spiel ist – und zwar als ein Sich-Ereignen.388 Das Erleben erst bindet das Subjekt an die zentrale, aktive Position. Das Problem bei Gadamer ist nun, dass er das Spiel als eine kindliche und somit ursprünglichere Form der Selbstdarstellung und nicht als eine alternative Form begreift, so als ob sich aus dem Spielerischen des Kleinkindes allmählich reflexive Formen kristallisieren. Damit wird aber die Ambivalenz von Naturzwang und Spiel nur umso deutlicher. Die Kulturvierung des Spiels würde in der Beschränkung einer ursprünglichen Freiheit bestehen, die aber gar keine Freiheit ist, sondern zwecklose Selbstaffektion, Wiederholung ein und derselben Hin- und Herbewegung. Diese kulturelle Regression könnte man für viele Formen des Events beschreiben als eine Selbstaufhebung der Freiheit in sozialen Sinn. So setzt etwa Fischer-Lichte Austins Begriff des „untitled event“ unter anderem für die „Kultur der Inszenierung [...] oder Inszenierung der Kultur“ ein – speziell im Hinblick auf das (moderne) Theater, das ein „besondere[s] Verhältnis der performativen Funktion zur referentiellen [...] als performative Kunst schlechthin“ hat.389 Dem Theater – man muss hinzufügen: dem Theatralischen – ordnet Fischer-Lichte vier Aspekte zu: die Inszenierung, die sich auf die Zeichenverwendung bezieht; die Korporalität, die den Aspekt der Darstellung vertritt; die Wahrnehmung, die den Zuschauer intendiert; und die „Aufführung/Performance, die als Vorgang einer Darstellung“ aufgefasst wird.390 Man sieht, dass der für das Theater angemessene Blick auf die „cultural performance“ im Spielbegriff Gadamers intendiert ist. Die Analyse muss sich wieder dem entscheidenden Punkt des Einspruchs und der AußenwenKraft d[er] zeitlichen Ind[dividuen] wird d[urch] d[en] Raum – die Kraft der räumlichen Individuen d[urch] d[ie] Zeit (Dauer) gemessen. Jeder Körper hat seine Zeit – jede Zeit hat ihren Körper. Zeitkonstruktionen. (Zeittriangel – Zeitfiguristik – Zeitstereometrie – Zeittrigonometrie.)“(Fragment 113, S.494) Alle Zitate aus: Novalis Werke. Hg. Gerhard Schulz, Studienausgabe. München 1981. 388

Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S.103.

389 Fischer-Lichte, Grenzgänge und Tauschhandel, a.a.O., S.291: „Im „untitled event“ tritt

zu diesen drei verschiedenen Begriffsabschattungen von Performativität noch eine vierte hinzu: ‚Performativ‘ im Sinne ästhetischer Praktiken von performance als Inszenierung, wobei es hier vor allem um den bei jedem sprachlichen und nicht-sprachlichen Handeln spürbaren performativen und körperlichen ‚Überschuß‘ an sinnlichem Selbstzweck geht.“ 390

Ebd., S.299.

326

dung zuwenden, die mit einer Verschiebung, ja allererst mit der Konstitution von Subjektivität als Spiel zu tun hat. Denn das Subjekt ist im Spiel als Produzent seiner selbst manifest. Wenn es Subjektivität als Werden gibt, dann nur als Spiel respektive im Moment der Wahl. Dennoch, das Problem bleibt: Handelt es sich um einen evolutionären Vorgang, in dem das Selbst allmählich durch eine Selbstdistanz verräumlicht und sinnvoll wird, oder ist die Urszene der Spaltung von Natur und Freiheit ursprünglich und entfaltet sich dann mit der kindlichen Entwicklung, d.h., haben wir es mit einem strukturellen oder einem anthropologischen Problem zu tun? Wenn nämlich das Spielen die „Seinsweise“ der „Selbstdarstellung“ ist, dann ist damit die Relation eines kinetischen und somit zeitlichen Vorgangs als möglicher Tauschrelation intendiert, die das Subjekt veranlasst, sich in diesem Tausch, also der Inversion von Darstellung und Dargestelltem, zu konstituieren. Der Tausch bedarf aber schon der Abspaltung von Andersheit. Etwas zu schnell geht Gadamer vom Kinderspiel zur Darstellung in der Kunst über: „Alles Darstellen ist nun seiner Möglichkeit nach ein Darstellen für jemanden. Daß diese Möglichkeit als solche gemeint wird, macht das Eigentümliche im Spielcharakter der Kunst aus.“391 Zunächst muss konstatiert werden, dass es sich um einen Möglichkeitsbereich (intermediären Bereich) handelt, in dessen Dauer sich nicht Bedürfnis und Mangel austauschen als eine Bewegung der Selbstdistanzierung, die in statu inversa ja nur die Selbstdarstellung des Individuums (des ungeteilten Einen) als ein diesem performativen Vorgang unterlegtes sub-jectum sein kann. Gadamer erschließt das Spiel also nicht als Deutungsraum, sondern als Freiraum, genauer natürlich als Freizeit von Deutungen. Das macht auch den Abschließungs- und Syndromcharakter und jenen der Wiederholung des Spielens (play) aus: „Das Offensein zum Zuschauer hin macht vielmehr die Geschlossenheit des Spieles mit aus. Der Zuschauer vollzieht nur, was das Spiel als solches ist.“392 So konsequent Gadamer dies auch betont, es bleibt in seiner Argumentation eine Lücke, die die Konstitution ursprünglicher Subjektivität (Gadamer spricht oft nur vom spielenden Kind) als generatives Moment einer „Urszene“, „Urspaltung“ übergeht. Manfred Frank hat Gadamer in einem mit Sartre gegengeführten Entwurf der Theorie der Interpretation vorgeworfen, das Moment der Inversion, das in die hermeneutische Theorie schon durch die Frühromantiker eingeführt worden war, genau an 391

Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S.103.

392

Ebd. S.104.

327

diesem wichtigen Punkt nicht zu erkennen.393 Wenn der „Spielende [...] das Spiel als eine ihn übertreffende Wirklichkeit“ erfährt, muss er doch schon seine Wirklichkeit erfahren haben und somit zum Zuschauer seines eigenen Spiels geworden sein. Dieser konstruktivistische Zirkel ist leicht einzusehen, und in der Tat ist es genau dieser Zirkel der Reflexion, der nur aufgefangen werden kann, wenn man für das Spiel selbst die Ordnung der sozialen Zeit in einem Tauschverhältnis zum Körper respektive zur Korporalität bestimmt, gesetzt, dass der ursprüngliche Bezug zum Körper ein leibhafter ist, der sich aus der Szenifikation heraus erst allmählich materialisiert. Um das zu erkennen, bedarf es aber einer Entsubstanzialisierung und Desituierung des Selbst in einem anderen/etwas anderem. Wenn Spiele durch Müdigkeit beendet werden, dann zeigt das diese Ent- und Resubstanzialisierung des Subjekts an. Wir werden gleich mit Winnicott erfahren, an welcher psychologische Stufe das einsetzt, wann und wodurch was der „Selbstbesitz“ in eine symbolische Tauschordnung eintreten kann, also in das Verhältnis von Anwesenheit und Abwesenheit des Selbst. Denn es ist eine Auszeichnung des Spiels, dass im Darstellen das Wesentliche nicht gezeigt werden kann, nämlich diese Vorgänge aus der Zeit „springender“ Tausch- respektive Inversionsakte, die Zeit und mithin Selbstverortung allererst begründen – sonst wäre Möglichkeit gar keine die Freiheit bedingende Form des Spiels, wie Gadamer zu Recht betont. Dass damit Zeitstrukturen gegenüber Raumstrukturen erst sekundär sind, kann man nur von einer Position außerhalb des Spiels behaupten. Da es aber dieses Außerhalb in der sozialen Beziehung und der Verdinglichung immer schon vorher gibt (und gegeben hat), ist das, was im Spiel als Possessivität der Zeit existiert, ursprüngliche Zeit. Die Pointe dieser Volte der Inversion von Raum und Zeit, die Novalis genauestens erfasst hat, ist aber die, dass Gadamer sie als „totale Wendung“ erkennt, jedoch nicht in Bezug auf ein Selbstverhältnis, sondern in Bezug auf einen anderen, den Zuschauer. 393 Vgl. zur historischen Genealogie des „ordo inversus“ Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt am Main 1989, S.248ff. Die Grundidee geht von Novalis aus, der „Reflexion“ mit „Umkehrung“ übersetzt, woraus dann progressivregressiv die Umkehrung als Zeitprodukt erfolgt. Tausch schafft Zeit. Zunächst wird dieses Konzept jedoch noch sehr räumlich interpretiert, anhand des gewöhnlichen Spiegels: „Novalis charakterisiert diese Richtung als ‚scheinbares Schreiten vom Beschränkten zum Unbeschränkten‘, [...], also vom Ich (als bestimmter intellektualer Anschauung) zu dem, was im Ich mehr ist als dieses selbst: das wahrhaft Eine, das verfehlte Vor-reflexive. Novalis sagt ‚scheinbares‘; denn der Schein, wonach wir im Vollzug der intellektualen Anschauung vom Beschränkten zum Unbeschränkten schritten, entsteht ja nur aus der RichtungsVerkehrung aller reflektierten Verhältnisse seitenverkehrt zurück; ‚im Bewusstseyn‘ zeigt sich falsch, was ‚im Grunde‘ oder ‚eigentlich‘ der Fall ist.“ (S.254 mit Verweis auf Novalis)

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Damit hat er aber ein Drittenverhältnis schon gesetzt, das in der Logik des Theaters das der Regie ist: nämlich zu planen und zu sehen, wie das duale Verhältnis von Zuschauer und Spieler von den realen Körpern in Leibbeziehungen übergeht. Winnicott aber wird nachweisen, dass der andere zunächst der eigenen Körper ist, und zwar konkret: dessen Mangel der Totalisierung. Wir sehen stets den gleichen Fehler: Um den Vorgang zu beschreiben, setzt die Metapher des Theaters zu früh ein und verdeckt in ihrer Universalität das sozusagen inzestuös-hysterische Moment der Szenifikation als Gleich­ ursprünglichkeit von Zeit und Raum, Präsenz und Sinn, Einmaligkeit, Gleichzeitigkeit und Nachzeitigkeit, entweder mit dem Faktum einer patriarchalen Inszenierung einer paradoxen „ursprünglichen Indifferenz“ oder einer Selbsthervorbringung, die in Freiheit aus dem Nichts, also aus dem Orte der Nichtdarstellung spontan wie ein Gespenst aus dem Jenseits der Zeiten erscheint. Es ist nicht die Identität, sondern die Differenz, also die ursprüngliche Zeit das richtige Äquivalent für die Darstellung der Vorgeschichte des Subjekts, als Fingierung einer Vaterschaft, die angeblich despotisch den Normenhaushalt der Praxis beherrscht, aus der sie ihren Handlungsbezug legitimiert. Ist der Zuschauer als (matriarchales) Außen aber erst einmal eingeführt, geschieht der Tausch an ganz anderer Stelle, jedoch mit der gleichen Bewegung der Vertauschung: Das bedeutet für die Spieler, daß sie ihre Rollen nicht wie in jedem Spiel einfach ausfüllen – sie spielen vielmehr ihre Rolle vor, sie stellen sie für den Zuschauer dar. Ihre Art der Teilhabe an dem Spiel ist nun nicht mehr dadurch bestimmt, daß sie ganz in ihm aufgehen, sondern dadurch, daß sie ihre Rolle in Bezug und im Blick auf das Ganze des Schauspiels spielen, in dem nicht sie, sondern die Zuschauer aufgehen sollen. Es ist eine totale Wendung, die dem Spiel als Spiel geschieht, wenn es Schauspiel wird. Sie bringt den Zuschauer an die Stelle des Spielers. Er ist es – und nicht der Spieler –, für den und in dem das Spiel spielt. [...] Im Grunde hebt sich hier die Unterscheidung von Spieler und Zuschauer auf.394

Aufhebung schon, aber sie hebt sich nicht zwischen Spieler und Zuschauer, sondern in ihnen selbst als das auf, was sie im Spiel nicht sind, indem sie werden, was sie nicht sind: nicht Seiende, sondern Werdende. Gadamer beschreibt das zu kurz greifend als eine „Verwandlung ins Wahre“, in der Spiel im „Zukunftshorizont“ sich von „Wirklichkeit“ abheben kann. Der Fehler, den Gadamer begeht, ist eben, mit der Dualität zugleich eine Triplizität einzuführen. Zuletzt ist dann die „Unentschiedenheit der Zukunft“ 394

Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S.105.

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das Lustmoment („Freude der Erkenntnis“), welches das Verstehen von seiner Eindeutigkeit ablenkt und sie zugleich als eine Antizipation derselben bedeutsam den Zwecken unterordnet.395 Das Spiel selbst ist „Energeia, die ihr Telos in sich hat“396, die sich auf Zukunft hin entwirft und das irreduzible Moment der Kraft meint. So verführerisch die Ableitung vom Kinderspiel ist, sie verschleiert schlicht die Tatsache, dass jedes Spiel eine Vorgeschichte hat, die als Unbegriffene im Spiel gezeigt wird, aber natürlich nicht für einen anderen (Zuschauer) vorgemacht werden muss. Auf diese Vorgeschichte als Körperbezug hat Winnicott hingewiesen. Gadamer schließt an diesem Punkt seine Analyse des Spiels ab und kehrt zum kunsttheoretischen Faktum des auslegenden Verstehens zurück, bei dem er zwischen der Goethe’schen und der frühromantischen Fakultät um den Streit der Interpretationsmächte vermittelt. Die These ist also, daß das Sein der Kunst nicht als Gegenstand eines ästhetischen Bewußtseins bestimmt werden kann, weil umgekehrt das ästhetische Verhalten mehr ist, als es von sich weiß. Es ist ein Teil des Seinsvorganges der Darstellung und gehört dem Spiel als Spiel wesenhaft zu.397

Was man nicht weiß, muss man deuten. Was nie gewusst werden kann – der Tausch dessen, was mir stets voraus ist –, muss fingiert oder szenifiziert werden. Beides ist von der Simulation einer Vorbildlichkeit zu unterscheiden und beides versucht in der Szenifikation, Darstellung als Undarstellbares zu bewahren. Ihr Credo ist nicht die „‚richtige‘ Darstellung“ oder „Inszenierung“, sondern diejenige, die das Kunstwerk auf „Zukunft hin sichtbar geöffnet“ hält.398 Das geschieht nur, wenn die situative Gleichzeitigkeit, also „Simultaneität“, durch das „Wort [...] die Vermittlung der Gleichzeitigkeit zu leisten“ im Stande ist.399 Das führt erst die narrative (symbolische und allegorische) Umsetzung in Dramatik oder in einer dramatischen Aufführung durch Inszenierung ein. Auf Prinzipien dieser Linearisierung der Gleichzeitigkeit, der Verzeitlichung (Dauer) des Raumes, werden wir mit Paul Ricœur eingehen, denn wir hatten uns anfangs darauf festgelegt, die Situation als eine (gebannte) Gleichzeitigkeit als Neutralität des sich Ver395

Ebd., S.107.

396

Ebd., S.108.

397

Ebd., S.111.

398

Ebd., S.113.

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Ebd., S.121.

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haltens (Hexis) zu verstehen, die Szenifikation dagegen als Voraussetzung der Möglichkeit der Auslegung dieser Gleichzeitigkeit in ein rhetorisches (literarisches) oder argumentatives (philosophisches) Programm (Inszenierung) und seiner Technisierung (Szenografie). Wir verlassen die Ausführungen Gadamers, wenden uns aber später noch einmal seinem Bildbegriff zu, der auf die raum-zeitliche Disponierbarkeit des Spielmomentes aufbaut und damit das Moment der Selbstdarstellung externalisiert. In diesem Sinne sind Bilder zuerst einmal nur Dinge, in denen die Darstellung im Schein einer Verweisung dessen, was sie nicht sind, erfolgt. Das ist aber der Vorteil aller Dinge, zumal dann, wen sie als Externalisationen und Extremitäten des Körpers verstanden werden, der seinerseits das erste Ding ist, was man in Besitz nehmen kann. Diese Ausgangsposition der Frage nach dem Körper als Ding wählt Winnicott, um seine der beobachtenden Psychologie (und Psychoanalyse) entnommene These von der illudischen Vermittlung zu entfalten, deren Problem nicht im Verstehen von etwas, sondern im Selbstverstehen gründet. Wir erhoffen uns dadurch eine Präzisierung dessen, was räumlich und zeitlich „Szenifikation“ vor aller theatralen Szene meint. Dann werden wir uns der Frage nach der Dauer/Narrativität der Inszenierung mit Ricœur zuwenden.

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VI. Deutungszeit und Plötzlichkeit im szenischen Übergang zur Narration a. Die intermediäre Zeit und das Übergangsobjekt Der von Schmitz und Hogrebe400 vorgeschlagene (neo)phänomenologische Begriff der Resonanz für eine Übertragung emotionaler Körperlichkeit in atmosphärische Umräumlichkeit kann durch die Arbeiten Winnicotts konkretisiert werden, zumal Winnicott mit den Begriffen „Übergangsobjekt“ und „Übergangsphänomen“ ein szenisches Modell der Genese entwickeln kann, dessen empirische Grundlage die Beziehungen des Kleinkinds zu seinem Körper und der analen Elemente der Ablösung in den Umraum ist. Winnicottt geht von der Beobachtung aus, dass das Kleinkind zunächst zwischen Körper und Welt nicht unterscheiden kann. Die anthropologische Größe des Spiels darf deshalb nicht einfach nur als „menschliche“ hingenommen werden. Die Übertragung vom Körper zu den Körpern lässt den Begriff „Welt“ als den Ort schrittweise anschaulich werden, an dem die Übertragungen und später die Tauschverhältnisses von „ich“ und „anderem“ (Ding, Sache) stabilisiert werden. Winnicott führt hierzu den Begriff der Illusion in einer Weise ein, die mit dem erweiterten Wiederholungsbegriff von Kierkegaard korrespondiert. Ein wichtiges Problem in dieser Hinsicht betrifft den ontologischen Status des Bildes, dessen Präsenzdimension wir erst wieder am Schluss der Analyse aufgreifen werden. In der Tat werden wir feststellen können, dass das Bild respektive Bildlichkeit ein Phänomen der sekundären Wahl der Beziehung des Leibes zur Welt darstellt. Denn das Bild muss als eine Erscheinung wahrgenommen werden, deren Bedeutung darin liegt, als eine Wahl a priori – der Anschauung einer anderen Wahl respektive einer Vorzeitigkeit der Wahl, einer Voranfänglichkeit – zu entspringen, die sich als Subjektivität auf das Fehlen eines „Verursachers“ zurückbiegt. Hier resultiert das, was wir später mit „Schrecken des Bildes“ erklären werden. Bild ist in jedem Fall eine Zeitgestalt, mit der soziale Beziehungen schon intendiert sind. Als Bild wiederholt und verschiebt sich demnach das, was zwischen Situation und Szenifikation aufgebaut wird, mit der Präzision, dass, welche Handlung auch 400

Siehe Hogrebe, Protodeixis, a.a.O., S.377.

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immer vollzogen wird, die Gegenstände der Welt des Bildes nicht verändert oder verfügbar gemacht werden können – es sei denn eben über eine sekundäre Illusion, die des Fetischismus und des Blicks des anderen. Bilder provozieren die progressiv-regressive Umkehr der Zeit als Illusion, indem sie nicht sind, was sie sind. Der Rätsel- und Prüfungscharakter des Abwesenden geht, wie Kierkegaard beschreibt, im Bild verloren.401 Die Argumentation der Stabilisierungsfunktion der Medien unter falschen Voraussetzungen lässt sich im Detail, eine Urszene des Menschlichen betreffend, mit Winnicotts Beobachtungen an Kleinkindern plausibilisieren. Wie schon mehrfach betont, geht es darum, die Voreiligkeit der Wahlen abzuwehren, in der die Begriffe „Mensch“ – „Ding“, „Situation akzeptiert werden, und daraus eine Spaltung der Welt abzuleiten, die angeblich verloren gegangen ist und nun in einer Gestaltganzheit aus den Grenzsituationen als „kindliches“ Spiel wiedererobert werden müsse. Diese vorgängige Ganzheit ist eine Illusion. Spaltung als Differenz, nicht irgendeine „versöhnte Natur“ muss an den Anfang gesetzt werden, um Dinge überhaupt als gemachte abzuleiten und den Fetischismus ihrer Rückeroberung vom Körper aus diagnostizieren zu können. Die alte Ordnung war, dass die „Vertreibung aus dem Paradies [...] den Menschen zum Erfinder einer neuen Welt [macht].“402 Die neue Welt, so Bolz mit Heidegger, muss voraussetzen, dass es das Paradies nur als Konstruktion einer sich einholenden Vorzeitigkeit gegeben hat, als im Grunde hochdifferenzielle zweite Natur, Technik. Die Genesis als szenografische Option muss das Paradies simulieren, wie der Ingenieur im Verbund mit dem Designer es empfänglich macht als eine zweite Natur. Der Monotheismus hat die Welt für den Zugriff von Wissenschaft und Technik entdämonisiert – jetzt trifft der Mensch nur noch auf Gott und die Maschine. Am Ende des Modernisierungsprozesses, also der Entzauberung der Welt durch die Technisierung, kommt es zur großen Konfrontation. „Gott und die Maschine haben die archaische Welt überlebt und begegnen sich nun allein.“403

In einer dritten Phase der Weltorientierung muss nun gesehen werden, dass die ursprüngliche Spaltung sich im Fetischismus der Maschine und in der Bestimmung des Subjekts selbst zurückgezaubert hat. Gemäß der For401 Vgl. Ralf Bohn: Technikträume und Traumtechniken. Die Kultur der Übertragung und

die Konjunktur des elektrischen Mediums. Würzburg 2004, S.189.

402

Bolz, Das Gestell, a.a.O., S.37.

403 Ebd., S.37, Zitation: Arnold Gehlen: Urmensch und Spätnatur. Wiesbaden 1986, S.254.

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mel, dass der wahre Zauber darin liege, das verzauberte Ding, das nur zum Schein da war, zurückzuzaubern, aber als reales: Es ist real und gleichzeitig verzaubert. Genau diese Position nimmt das Übergangsobjekt als Fetisch ein: Die Simulation dessen, was niemals ganz zu mir gehört hat.404 Aber es handelt sich um eine Simulation, die sich auf werdende Produktion bezieht. Inszenierungen treten – außer in der Reklame – nicht mehr im alten Verhältnis allegorischer Emblematik, in welcher Motto, Pictura und Interpretatio in einem gegenseitigen Deutungsverhältnis auftreten, in Erscheinung.405 Als weiteres Ergebnis ist die bedenkenlose Fundierung der Reflexion für die Konstitution von Selbstbewusstsein anzusehen, die im Regress der Antizipation der Dinge glauben machen will, dass tatsächlich das Selbstbewusstsein ein Vermögen sei, dass durch einfache Reflexion (positiven Tausch) eine Verschmelzung hervorbringe. Wie nun Winnicott zeigt, 404 Zur Funktion des „Prestigio“, der Inszenierung eines Objekts, das zuerst als imaginäres gezeigt wird, um dann zu verschwinden und als reales wiederzukommen – Vorgang der „Verlebendigung“ in der Zauberei –, vgl. Heiner Wilharm: Magische Effekte oder Vom Verschwinden der Endlichkeit. Zur Ökonomie und Logik von Inszenierung und Szenifikation. In: Ralf Bohn / Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung und Effekte. Die Magie der Szenografie. Szenografie & Szenologie Bd.7. Bielefeld 2013. Wilharm untersucht die für eine Reihe von Zaubertricks grundlegende Funktion des Prestigio zum einen am Film The Prestige (Regie: Christopher Nolan, 2006), der auf Christopher Priests Roman The Prestige (dt.: Das Kabinett des Zauberers) beruht. Zum anderen geht er der Frage nach der semiologischen Inversion von Imagination und Realisation in der Funktion des Zeichens nach, in der die barre die Realität des Bedeutens garantiert. So bezieht sich Wilharm im Wesentlichen auf diese Bedeutungsfunktion, weniger auf die der Deutung, die nicht Effekt des Inszenierens ist, sondern diesen Vorgang selbst bezeichnet. „Warum konzentrieren wir uns auf die Frage nach der Bedeutung von ‚Bedeutung‘? Weil im Spiel von Inszenierungen und Szenografien, Szenifikationen und Szenen nicht nur, was Objekt unseres Verstehens ist, leicht im Nebel verschwimmt, sondern in solch elementaren Lagen unseres Sinnverstehens auch zweifelhaft werden kann, was es überhaupt heißt, zu bedeuten. Mit Blick auf das Thema, wir wollen das Ergebnis vorwegnehmen, lautet unsere Hypothese zur begrifflichen Fassung von ‚Effekt‘ zunächst lapidar, das, was den Effekt einer Inszenierung ausmacht, seine Bedeutung ist.“ (S.348) 405 Es wird in der Emblematik auf die temporale Dramaturgie der Wahrnehmungsweisen

Rücksicht genommen: Pictura – die Plötzlichkeit des Bildes; Motto – die Wahrnehmung; Interpretatio – die Lesung, wobei in der Allegorie insgesamt versucht wird, in der Lesung die Instantaneität des Bildes zu verzeitlichen, d.h. das Gleichzeitige ungleichzeitig zu machen. Vgl. Walter Benjamin: Der Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd.I. Frankfurt am Main 1980, S.342f.: „Jene Weltliche, die geschichtliche Breite, die Görres und Creuzer der allegorischen Intention zuschreiben, ist als Naturgeschichte, als Urgeschichte des Bedeutens oder der Intention dialektischer Art. Unter der entscheidenden Kategorie der Zeit, welche in dies Gebiet der Semiotik getragen zu haben die große romantische Einsicht der Denker war, läßt das Verhältnis von Symbol und Allegorie eindringlich und formelhaft sich festlegen.“

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kommt es auf die zeitliche Dynamik und Wechselwirkung einer doppelten Bewegung an. Erst auf der Ebene der Körperdifferenz kann eine Einheit der Zeitlichkeit – außerhalb von der Signifikationsdifferenz – die Identität der Differenz intelligibel werden.406 Es ist angezeigt, die dichte Definition wiederzugeben, die Winnicott aus den empirischen und psychoanalytischen Erfahrungen ableitet, weil sie – anders als die orthodoxe Psychoanalyse – nicht von einem „Urtrauma“ spricht, sondern von einem „intermediären Raum“ als einer Ur-Szenifikation – um direkt den Freud’schen Begriff der „Urszene“, der verschiedentlich bei Freud als biografisch erste (traumatische) Szene des Erscheinens des Mangels im Für-sich reklamiert wird, aufzunehmen. Die Ur-Szenifikation als Wahrnehmen einer ursprünglichen Differenz wird von Winnicott zwar für die früheste Zeit der Kindheit verifiziert, weil hier die Beobachtungen weniger komplex sind, sie kann aber als generative Etappe der Bildung des Bewusstseins-von-sich-selbst betrachtet werden, als Identitätsabwehr respektive der Vorbeugung der Gefahr der Verschmelzung von Realität und Imagination. Winnicott beschreibt den Vorgang zunächst unter folgender Situativität, die er aus vielen Fallszenen seiner Praxis ableitet: Ich habe die Begriffe ‚Übergangsobjekt‘ und ‚Übergangsphänomene‘ eingeführt, um einen ‚intermediären Raum‘ zu kennzeichnen, den Erlebnis- und Erfahrungsbereich, der zwischen dem Daumenlutschen und der Liebe zum Teddybär liegt, zwischen der oralen Autoerotik und der echten Objektbeziehung, zwischen der ersten schöpferischen Aktivität und der Projektion dessen, was bereits introjeziert wurde, zwischen frühester Unkenntnis einer Dankespflicht und der Kenntnisnahme dieser Verpflichtung („sag: danke!“). Nach dieser Definition gehören das Lallen des Säuglings und das Sich-in-den Schlaf-Singen als Übergangsphänomene ebenso in den intermediären Bereich wie die Verwendung von Objekten, die nicht Teil des kindlichen Körpers sind, jedoch noch nicht völlig als zur Außenwelt gehörig erkannt werden.407

Diese bereits in den 1940er und 1950er Jahren gewonnenen Erkenntnisse einer fetischisierenden/entfetischisierenden Beziehung zum Körper und zu den Körpern gehen von einem intermediären Raum aus, der leiblich dispo406 Auf den Fetischismus, den die Semiologie nicht nur mit dem Begriff des Signifikanten

veranstaltet hat, und auf den ideologischen Charakter der Semiologie – u.a. mit Hinweis auf den Kraft-Begriff – geht Jean Baudrillard ein. In: Jean Baudrillard: Fetischismus und Ideologie. Die semiologische Reduktion. In: Jean-Bertrand Pontalis: Objekte des Fetischismus. Frankfurt am Main 1972. S.315ff.

407

D.W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität. Konzepte der Humanwissenschaften. Stuttgart 2010, S.11.

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niert ist – und zwar durch alle die Objekte, zu denen das Kind eine Körperbeziehung derart hat, dass es zwischen seinem Körper und der Außenwelt keine vollständige Trennung feststellen kann, da die erste Beziehung der Fremdheit durch die orale Beziehung zu seinen eigenen Extremitäten empfunden wird. Die Ansicht einer ursprünglichen Einheit des Kindes ist hiermit schon abgewiesen. Das daumenlutschende Kind ist in einer Schleife über die Außenwelt mit sich verbunden und kann den Objektbesitz des Körpers (Finger, Zehen ...) als jederzeit verfügbar (und somit des Mangels enthoben) ansehen. Neben der Unterscheidung „innere Realität“ und Außenwelt setzt Winnicott einen in der Entwicklung vorgängigen „dritten Aspekt“ an. „Dieser dritte Bereich des menschlichen Lebens, den wir nicht außer acht lassen dürfen, ist ein intermediärer Bereich von Erfahrungen, in den in gleicher Weise innere Realität und äußeres Leben einfließen.“408 Der intermediäre Bereich bildet sich durch die Erfahrung der Abspaltung als Objektivationen, die erst die Verfügbarkeit der Außenwelt als eine nicht dauernde Verfügbarkeit ausmachen. In diesem dritten Moment bildet sich „die Fähigkeit, das [sich ablösende; R.B.] Objekt als ‚Nicht-ich‘ (das heißt nicht zum Selbst gehörend) zu erkennen“, ebenso die lokale Stellung des Objekts „(außen – innen – an der Grenze)“, sowie „die Fähigkeit des Kindes, ein Objekt zu erschaffen: es sich vorzustellen, zu erdenken, zu erfinden, hervorzubringen.“409 ‚Selbst‘ gibt es somit nur als Differenzprodukt auf der Folie der Illusion seiner Einheit, deren Fetischcharakter es zu einer Einheit der Vergangenheit macht. Die Vergangenheit ist als Gedächtnis das, was sich überhaupt erst als Selbst von sich abstößt. Nun setzt Winnicott gerade nicht ein „Ich“ voraus, um ein „NichtIch“ erkennbar zu machen (Reflexion), sondern eine Unterscheidung der Verfügbarkeit von Körper/Ding in einer Erfahrung der Dauer, Nähe und Ferne, Abwesenheit und Anwesenheit der Dinge (primordial der Mutterkörper). Es ist anzunehmen, dass sowohl die imaginierten als auch die gemachten Dinge nicht dauern können respektive dass ihre Dauer der Präsenz in 408 Ebd. Vgl. auch Gabrielle Schwab: Die Nicht-Ich Fiktion eines Icherzählers. In: Manfred Frank / Anselm Haverkamp (Hg.): Individualität. Poetik und Hermeneutik XIII. München 1988, S.538: „Die sogenannten Übergangsobjekte sind nach Winnicott die ersten Nicht-Ich-Objekte in der Subjektgenese und zugleich die ersten Objekte, mit denen das intermediäre Feld gebildet wird. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie paradoxerweise zugleich als Ich und als Nicht-Ich erlebt werden. In der Folge setzt Winnicott die Erfahrung von Paradoxa als grundlegend für die Erfahrung im intermediären Feld der Kultur voraus.“ 409 Winnicott, Vom

Spiel zur Kreativität, a.a.O., S.10f.

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der Wahrnehmung entzogene (vergangene) Teile des Körpers sind, die zu retten sind in der Stellvertretung von solchen Imaginationen, die bildhaft (erinnernd) wiederholt werden können und also Repräsentanzen der Körpergedächtnisdinge, Szenifikationen ausmachen. Dadurch erwächst allererst ein Umgang und eine Vorstellung der Tauschbeziehung als Zeitbeziehung, die das Isolat der Dinglichkeit in eine Beziehung zum Menschen bringen – sonst hätten wir tatsächlich nur besinnungslose Natur. „Einbildungskraft“ meint das Realisieren von Vorstellungen aus Erinnerungsvorstellungen auf künftige Dinge hin. Zwei Eigenschaften dieser übergängigen Objekte/Phänomene, die den intermediären Raum konstituieren, nehmen für Winnicott eine zentrale Stellung ein. Erstens die Ableitung eines „Objektbesitzes“, der nicht mein Körper ist und dessen Verfügung jederzeit gefährdet ist, wie das Freud in dem Fort-Da-Spiel als Spiel der Trennungen und Näherungen aus der Verfügbarkeit der Mutter ableitet.410 Zweitens, und das ist für szenologische Überlegungen von Relevanz, die Fähigkeit des Objektes, anstelle seiner Verfügung einem illusionierten Zustand Platz zu geben; d.h., ob ein Objekt da ist oder nicht, geschieht nicht im Nu, sondern im Widerstand der Zeit. Dieser illusionierte Zustand ist eine Art inverse Phasendarstellung des Erscheinens und Verschwindens von Objekten/Phänomenen, ähnlich der Techniken, die es dem Schauspieler anhand von Objekten und Wegen erlaubt, seinen Text zu memorieren. Sonst wäre das Kind quasi in einer Zauberwelt gefangen, die es ihm unmöglich macht, zwischen der Phantasie und dem die Kausalität begründenden Anspruch der Dinglichkeit zu unterscheiden. Die Dinge wären zeitlos da oder fort und könnten nicht mit dem handelnden Körper (Arbeit, Motilität) in Verbindung gebracht werden. Auf diese „Leistungsdifferenz“ („Kraft“) gründet sich die Evidenz der Vertrautheit als Selbstbewusstsein, das ist, was es nicht ist, und nicht ist, was es ist. Und dieser intermediären Zeit steht das entgegen, was die „Plötzlichkeit“ des Bildes verheißt. Verinnerlichung geht also nur über den Vorgang der allmählichen Abspaltung. Der intermediäre Ort ist also kein Vermittlungsraum, der irgendwie 410 Vgl.

Freud, Jenseits des Lustprinzips, a.a.O., S.127: „Das Kind hatte eine Holzspule, die mit einem Bindfaden umwickelt war [... . E]s warf die am Faden gehaltene Spule mit großem Geschick über den Rand seines verhängten Bettchens, so daß sie darin verschwand, sagte dazu ein bedeutungsvolles o-o-o-o und zog dann die Spule am Faden wieder aus dem Bett heraus, begrüßte aber deren Erscheinen jetzt mit einem freudigen ‚Da‘. Das war also das komplette Spiel, Verschwinden und Wiederkommen“. Dass der Bindfaden hier die Funktion hat, die Zeit zu erleben – und zwar über die Vermittlung einer körperlichen Tätigkeit –, ist evident.

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medialisiert ist, sondern eine sich auflösende Dauer der Selbstermächtigung. Es ist die Erfahrung von Zeitlichkeit selbst, eine schmale Phase, eine Sakkade des Blicks, ein Einschub des Aufschubs, der dem Objekt seinen Seinsstatus verleiht. Diejenige „Sache“, die die Anwesenheit des Körpers als eine dauernde Abwesenheit präsentiert (im Sinne einer Resonanz), ist dann „Selbstbewusstsein“ – also der andauernde Vorgang der fingierten Ursprungssetzung und ihrer Abwehr. Neben der in der freudianischen Psychoanalyse eingeführten „Realitätsprüfung“411 setzt Winnicott eine „Illusionsprüfung“ ein, in der die Nichtverfügbarkeit des Objekts als Phantasieproduktion ersetzt werden kann. Die Prüfung geht bipolar vonstatten: Einerseits ist das Objekt durch ein Phantasma versichert, dass die Phänomenologie „den Leib“ nennt, der auch der Leib der Gemeinschaft (Gruppe) sein kann, andererseits repräsentiert sich die Nichtverfügbarkeit als Verfügbarkeit in einer Fetischisierung, die ihren Wert von einer phantasmatischen Projektion bekommt und einen realen Körper annehmen kann: eine alte kaputte Puppe, eine Decke, eine Rassel, aber auch – hinsichtlich des Phantasmas von Gemeinschaft – ein markanter Berg, ein heiliger Stein, eine Stellung der Gestirne und letztlich Körper, die Wert ausdrücken, nicht Wert sind, und deren wesentliche Funktion darin besteht, eine Abwesenheit, eine Verlusterfahrung oder einen Mangel durch einen illusionären Entwurf (Requisite) zu komplettieren. Therapeutisch betrachtet – unter diesem Aspekt waren Winnicotts Untersuchungen in den 1930er Jahren begonnen worden –, wird die Aner411 Vgl. Sigmund Freud: Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose. In: Ders.: Schriften

zur Krankheitslehre der Psychoanalyse. Frankfurt am Main 1991. Vgl. Jean Laplanche, Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Bd. II. Frankfurt am Main 1982, S.431. Freud beschreibt mit dem Begriff „Realitätsprüfung“ einen Vorgang, die von „der Außenwelt stammenden Reize von den inneren zu unterscheiden.“ Das geschieht mittels eines möglichen Aufschubs des Erinnerungsbildes, also quasi in der Unterschiedenheit von Wahrnehmung und Erkennen, die im Inneren ja identisch sind, im Äußeren jedoch als Bild- oder symbolische Phänomene imponieren. „Damit das Realitätszeichen [...] den Wert eines sicheren Kriteriums erhält, ist es notwendig, daß eine Hemmung der Erinnerungsbesetzung oder des Bildes erfolgt, was die Bildung eines Ichs voraussetzt.“ Daraus folgt, dass die Realität eben nicht das Faktische ist, sondern das, was erst realisiert werden muss. In Freuds Die Verneinung heißt es, dass die Urteilsfunktion quasi erst ein Effekt der Unbestimmtheit sei, indem „das Denken die Fähigkeit besitzt, etwas einmal Wahrgenommenes durch Reproduktion in der Vorstellung wieder gegenwärtig zu machen, während das Objekt draußen nicht mehr vorhanden zu sein braucht.“ S.434. Zitiert nach: Ebd. Die aporetische Bestimmung von Realität wird, sowohl im Fort-Da-Spiel als auch in der „Illusionsprüfung“ bei Winnicott durch eine Zeitwahrnehmung als Ich-Realisierung weniger aufgelöst als fortgetragen.

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kennung der Besitz- und Verlustverhältnisse durch ein frühkindliches, von Erwachsenen oft gefördertes Spiel mit Verlusterfahrungen angeregt. Durch die Zeugnisfähigkeit von Abwesenheit (Entfernung des Fetischs unter den Augen des Kindes) wird die Fähigkeit geschult, den intermediären Raum zu akzeptieren und „illusorisch“ mit ihm umzugehen. Winnicott verweist in seinen empirischen „Szenendarstellungen“ auf die Resultate seiner Erfahrungen: Ich möchte hier die Aufmerksamkeit auf ein Stadium lenken, das zwischen der völligen Unfähigkeit und der wachsenden Fähigkeit des Kleinkindes liegt, die Realität zu erkennen und zu akzeptieren. Deswegen untersuche ich das Wesen der Illusion, die dem Kleinkind zugebilligt wird und im Leben des Erwachsenen einen bedeutsamen Anteil an Kunst und Religion hat.412

Die Unterscheidung zwischen „Übergangsphänomenen“ und „Übergangsobjekten“ ergibt sich aus der Verfügbarkeit von Substanz (Zipfel einer Decke, Fäden, Windeln, Puppe), aber auch ersten Lautbewegungen, in denen das Objekt nicht als ein vom Körper vollständig isoliertes wahrgenommen wird. Außerhalb des intermediären Raums wird die Kontroverse zwischen Realität und Illusion als Verfügbarkeit oft an mediale Objekte gebunden. Mediale Objekte haben eine höhere Verfügbarkeitswahrscheinlichkeit, weil sie losere Kopplungen enthalten als symbolische. Genauer gesagt: Alle Sachen, die sich im Verfügungsbereich aufhalten, die mehr als einmal erscheinen und verschwinden und die also eine Eigendauer haben, werden als reale Dinge interpretiert. In Folge der zivilisatorischen Entwicklung werden diese Dinge vom Körper (Arbeit) hervorgebracht und als Besitz (Kraft) kumuliert. Die Pointe dieser Überlegung ist: Ein Subjekt-Objekt-Verhältnis braucht empirisch nicht vorausgesetzt zu werden und durchbricht somit das Apriori der Subjekt-Objekt-Spaltung. Eine Reflexion findet nicht statt, aber eine präreflexive Instanz der Initiative zur Dingbildung kann als Selbstbewusstsein (Zeitlichkeit, Arbeit) der Interpretation sich ausbilden, die nun fähig wird, zwischen vergangenen, gegenwärtigen, anwesenden und vermutlich wiedererscheinenden Objekten eine Art Urselbstvertrauen in die Folgen und Stasen der Zeit aufzubauen. Im Ganzen ergibt sich dadurch eine genauere Differenzierung der Selbstbestimmungsvorgänge, als der Begriff der Inversion (des Tausches der Negate) es annonciert. Illusion und Realität stehen sich nicht antinomisch gegenüber, sie differieren modallogisch: Die Illusionszeit ist eine Realität der Abwesenheiten, die Realität eine der Gegenwärtigkeiten, 412 Winnicott, Vom

Spiel zur Kreativität, a.a.O., S.12.

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dazwischen (und nicht nur am Ding, wie Husserl meint) gibt es eine Zone der Abschattungen der Übergänge und der Wahrnehmungsmodalitäten, die als Begehren, Erwartung und schließlich als die Stasen der Zeit erkannt werden. Die Dynamik dieser Vorgänge erschließt sich dem Kind über eine Brücke, in der die Anwesenheit als Illusion unter dem Aspekt möglicher oder realer Abwesenheit evozierbar gehalten wird – und zwar letztlich durch Produktion der Dinge. Diese, zwischen dem „vierten und dem zwölften Lebensmonat“ auftauchenden Phänomene, aus deren Funktionalisierung das „Denken und Phantasieren“ freigesetzt werden, können sich dann auf ein Objekt übertragen, das in konstanter Weise in der Besitzverfügung des Kindes verbleibt.413 Dieses Objekt nennt Winnicott „Übergangsobjekt“ – im Gegensatz zum Fetisch, der nur die Abwesenheit als solche magisch antizipiert. Der geliebte Teddy, die Schmusedecke, die Puppe, die das Kind überall mitnimmt, verliert in der Regel allmählich seine Bedeutung, was eine Ausweitung des intermediären Bereichs bewirkt, sofern erstens die Besitzforderung gegenstandslos wird und zweitens die Verfügbarkeit immer weniger an den tatsächlichen Besitz und den körperlichen Kontakt gebunden ist, sodass sich der intermediäre Bereich schließlich über alle Objekte der Zivilisation ausbreiten und als Dingkörper mit der Realität des Gedächtnisses und schließlich der Ordnung des Wissens identisch wird. Eine Ausnahme bilden jene Funktionen und Szenifikationen, in denen auf eine abwesende Realität in einer fingierten Anwesenheit verwiesen wird, dem inszenierten Zeit-Raum, den das Kind als Spielraum aus seinem Körper heraus illusioniert und von dem es sich faszinieren lässt als einem Subjekt (Gadamer), das sich invers von sich selbst abspalten kann, indem das Kind sich selbst als Ding, das dauert, eintauschen kann. Winnicott zählt die Illusionsräume auf, die für den Bereich dieser szenischen Arbeit – der (dramatisch-narrativen) Sperrung von Situation und Szene als Inszenierung (Spiel) im Verhältnis zu den faktischen Objekten – weiterhin unbestimmt bleiben: „Damit umfasst mein Thema auch das Spiel, künstlerische Kreativität und Kunstgenuß, das Phänomen der Religion, das Träumen, aber auch Drogenabhängigkeit, Zwangsrituale usw.“414 – kurzum: den ganzen Bereich der (symbolisch und medial) konnotierten Kulturinszenierungen, die sich als Übergangsräume, nämlich Aufführungen in intermediären Zeitdauern erstellen lassen. 413

Ebd., S.13.

414

Ebd., S.15.

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Diese kurzen, an einer generativen Dynamik orientierten Analysen der Arbeiten Winnicotts darf man als phylogenetische Ableitung des „intermediären Raumes“ mit dem „Inszenierungsraum“ identifizieren. Meines Wissens ist dieser Ansatz Winnicotts wegen der unterschiedlichen Diskurskonzepte der Szenografie und der Theaterwissenschaften noch nicht zureichend im Hinblick auf einen narrative Dauer, also eine intermediäre Zeit gewürdigt worden. Die Illusionen sind keine im landläufigen Sinne „Hirngespinste“ (schlimmer noch neurophysiologisch: „Gehirngespinste“), sondern sie zeichnen sich als Phänomene einer Weltbeziehung aus, die die Phänomenologie unter dem Einfluss von Merleau-Ponty als „Leibphänomene“ charakterisiert hat. Wegen der Unmöglichkeit der frühkindlichen Trennung von Objekt und Körper scheint es interessant, die Lösungen, die Winnicott unter seinem Illusionsbegriff anbietet, näher in den Blick nehmen, zumal sie doch vonempirischen Belegen und Fallgeschichten wuchern, die eine gewisse Modellbildung erlauben. Wir haben dabei etwas über die Realität der Illusion und über die Funktion des Spiels erfahren, nämlich erstens, dass es Objekte gibt, die als nicht vom Körper abgelöst gelten; zu ihnen muss als Effekt das Selbstbewusstseins als präreflexive Inversion anwesender Abwesenheit gelten; und zweitens, dass die Seinsweise abhängig ist von einer Progression und Regression in der Zeit, die das ausmacht, was die Sartre’sche Hermeneutik unter gesellschaftlichen Bedingungen (Appropriation) als Interpretation versteht und worin sich die Wertsetzung des Bewusstseins-für-mich ausdrückt. Außerdem liefert uns Winnicott eine Idee des Kreativitätsbegriffs, der weniger abgedroschen ist als der kurzschlüssige einer idealen, autonomen und unableitbaren Autorschaft, der die vulgäre Form des Geniebegriffs des 19. Jahrhunderts fortführt. „Illusion“ im Sinne der Erfahrung eines Übergangsphänomens ist zunächst der Möglichkeits(zeit)raum, der durch die infantile Erfahrung der Grenze meines Körpers als Besitz erschlossen wird – dann eben als realer, vorhandener oder abwesender Besitz im Sinne einer Reziprozität, der nicht mit dem aktuellen Leibraum identisch sein muss, sondern durch die Stellvertretung eines Fetischs konstituiert sein kann. Auf diese Weise bildet sich Gemeinschaft als eine Gruppe mit gemeinsamen Illusionen, deren Identität in der illudischen Sphäre des Vertrauens „im Bunde der Dritte[n]“, wie es in Schillers Ballade heißt 415, sich in einem Phantasma oder einer Organisation 415 Vgl. Ralf Bohn: Bürgschaft des Vertrauens. Die Inszenierung als sanktionsfreier Ort. In:

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konkretisiert. Unabhängig von den empirischen Analysen Winnicotts hat Hermann Schmitz in seiner Neuen Phänomenologie auf die Bedeutung von Verlusterfahrungen für die Realitätsbildung hingewiesen, und zwar mit einer Unterscheidung von Ganzheitserfahrungen und konstellativen Elementerfahrungen. Das Wesen des Verlustes oder des Nicht-Besitzes bestehe darin, dass das sich (vom Körper) ablösende Moment den Status eines Einzeldings bekomme und als Einzelheit realistisch repräsentiert würde. Das erfolge von zwei Seiten aus: Der Körper löse sich als Subjektgrundlage von der Außenwelt, indem gleichzeitig die Dinge zu Elementen würden, dazwischen konstituierten Übergangsphänomene realistische Situationen. Schmitz zielt auf einen Gegensatz ab, der auf der einen Seite die Illusionen, auf der anderen die Realität(en) sichert. Es bleibt aber die Frage, ob die Realität als Ganzheit aus der Sicht des Subjekts, oder ob sie als Elementarität aus der Sicht der realen Person betrachtet wird. Was von wem sich ablöst kann ja zunächst nicht durch einen Status von cartesianischer Subjektivität aus entschieden werden, sondern, wie Winnicott hervorhebt, nur durch die empirische Wiederholung eines Vertrauens, das sich als „Quasiinstanz“ von „Vorstellung“ als Selbstbewusstsein, d.h. von „Zeit“ konstituiert. Besser ist es, das Verhältnis als jene wechselweise Inversion aufzufassen, in der Subjekte und Dinge eben nicht als Elemente getrennt vorkommen können – es sei denn unter dem Regulativ der Ursache, der Kausalität und der Uhrenzeit. Dann aber ist so etwas wie Gedächtnis oder Phantasie einerseits zu erklären unmöglich, bzw. wird einem völlig überfrachteten Selbstbewusstseinsbegriff oder einer gespenstischen Erfindungsgabe, Plötzlichkeit aufgebürdet. Andererseits etablieren sich als Ursprungsbewegungen die Begriffe der Kraft oder der Energie als Scheininstanzen der wechselweisen, reziproken Beziehungen von realemRaum und realer Zeit, die überwunden werden müssen. Die realistische Sicht auf atmosphärische Ganzheit hin nennt Schmitz Situation, die auf Elemente und Elementarereignisse nennt er Konstellation. Beide Produktionsabspaltungen bzw. -abschließungen sind polar aufeinander bezogen. Bezieht man sie aber auf sich selbst – die Zeitfigur der Synchronität und der Diachronität liegen nicht im Blick von Schmitz –, erhält man ein Übergangsobjekt, dessen Tauschwert (als Kollektivfunktion; soziale Zeit) in der manifesten Vermitteltheit über den phantasmatischen Wert von IlluRalf Bohn / Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung und Vertrauen. Grenzgänge der Szenografie. Szenografie & Szenologie Bd.4. Bielefeld 2011, S.281ff. Ich gehe dort ausführlich auf das Motiv des Vertrauens in Schillers Ballade Die Bürgschaft ein.

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sion und Realität entscheiden kann, nämlich als Ausprägung der einen oder anderen Szene der Gemeinschaft, in der, vermöge der Fetischisierungen und Ritualisierungen, die Wahlen der Interpretationen und Entwürfe, d.h. der Ideologien der Macht und Bemächtigungen, und nicht der statische Besitz das entscheidende Moment darstellen. Einzeln ist, was als Element einer endlichen Menge deren Anzahl um 1 vermehrt; da Mengen Umfänge von Gattungen sind, kann etwas einzeln nur als Fall einer Gattung sein, d.h. unter irgendeinem Gesichtspunkt, der für Subsumtionen in Frage kommt. Dazu bedarf es einzelner Sachverhalte des Fallseins und einzelner Gattungen, die auch Sachverhalte sind: statt dessen stehen dem präpersonalen Erleben nur ganze Situationen zur Verfügung, die sich in leiblicher Kommunikation bilden und umbilden und durch oft hoch intelligente Anpassungsleistungen verarbeitet werden. Eine Situation in hier gemeintem Sinn ist charakterisiert durch Ganzheit.416

Worauf es ankommt, ist die Illudierung der Szenifikation aus der Situation, nicht als eine Sonderform des gemeinten Spiels oder der aufgehobenen Realität, sondern gemäß ihrer konstitutiven Dynamik, aus der heraus die Unterscheidung von Spiel und Realität, von Ganzheit und Elementarität (im logischen Sinne der Phänomenologie) überhaupt erst sinnvoll unternommen werden kann – und diese Position kann nicht a priori die eines „phänomenologischen Subjekts“ sein, das in der ersten Phase von Kindheit, die Winnicott untersucht, nicht gegeben ist. Im Grunde genommen haben wir es hier mit einem Grundproblem der Phänomenologie zu tun, nämlich der unredlichen Reduktion auf die beschreibende, phänomenale Vernunft. Wir können auf die Arbeit von Schmitz verweisen, der die Position der Szene von der Situativität aus als „implantierende Situation“, eine solche der „Vergemeinschaftung“ gegenüber der „Vergesellschaftung“ als „includierender Situation“417 versteht, die eine konstellative von gleichwertigen Individuen (Elementen der Gesellschaft) ist. Denn zur Konstitution des anderen gehört auch, ihm eine Dauer zuzugestehen, die ihm Besitz zugesteht und zu meinem Konkurrenten macht. Sartre hat gezeigt, dass der Dritte als Übergangsobjekt einer gemeinschaftlichen Gruppe nicht real sein muss, sondern die Konstellation in diesem Sinne eine gemeinsame Interpretation, d.h. Wertsetzung ihrer Szenifikation darstellt, die sie von anderen Gemeinschaften auf begrenzte 416

Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung. Neue Phänomenologie Bd.1. Freiburg/München 2005, S.22.

417

Ebd., S.25.

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Zeit hin abgrenzt. In diesem Sinne sind Ganzheit und Totalisierung zeitlicher Medialisierung unterworfen und müssen aus diesem Grunde ritualisiert – dauernd wiederholt und versichert – werden. Abgesehen davon,ist der Begriff der Konstellation – im Sinne Benjamins der „Konstellation von Sternbildern“ – stets auch in der Evokation einer szenischen Allegorese, eine Deutungsintention vorausgesetzt.418 Die Rede vom Einzelnen (als Element der Gesellschaft) erscheint mir auch nur vom Körperbegriff her angemessen, der sich aber nach Winnicott eben nicht als ein Singularum, sondern als eine leibliche Gedächtnisfunktion bildet. Ähnlich wie Winnicott sieht Schmitz jedoch, dass die Elementarität in Zeitlichkeit fundiert, damit die Dynamik der Gedächtnisfunktionen erklärt werden kann: Die Situationen sind voller Protentionen, d.h. unwillkürlich erwarteter Sachverhalte, die vor einer Überraschung oder Enttäuschung nicht einzeln hervortreten. Sowie sich aber nach dem Säuglingsalter diese frühe Zuversicht an einer Enttäuschung bricht, springt aus dem binnendiffusen Hof der Protentionen mindestens ein einzelner Sachverhalt heraus: Man merkt, was man erwartet hatte, weil es ausbleibt. An dessen oder deren Stelle treten weitere einzelne Sachverhalte, nämlich die harten Tatsachen, mit denen man sich nun abfinden muß.419

Nicht jede Verlusterfahrung ist negativ zu werten. Denn geradezu phobisch wird ein Objekt dann besetzt, wenn es real oder phantasmatisch nicht mehr aus dem Blick geraten kann. Die Ableitung der szenischen Vermittlung darf nicht vergessen machen, dass die „Abwesenheit des Vaters“ als Verlusterfahrungen – die Vorzeitigkeit der eigenen Konstitutionsbedingungen im psychoanalytischen Sinne – durch Autonomie und Autarkie abgewehrt werden. Erst durch diesen Abwehrvorgang kann ich mich in die Kette der Kontingenzen der Welt von dieser als frei abheben und zugleich durch Techniken der Zeichen, Symbole, Texturen, Inszenierungen mit ihr verbunden bleiben. In welcher Weise substituiert und dominiert wird und die Seiten der barre gewechselt werden, das ist prinzipiell nicht präformiert dass aber das „Fort-Da“ und nicht das „Hin-Her“ dominiert, kann nun einsichtig sein. Einsichtig ist auch, warum Gadamer mit seinem Spielbegriff eine künstliche Einheit schafft, die letztlich nur einen Teil der Illusion des Selbstbewusstseins ausmacht, weswegen „Spiel“ einem korrespondierenden Begriff gegenübergestellt wird: dem der „Arbeit“. Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass es ein Selbstbewusstsein nicht qua Instanz, sondern 418

Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, a.a.O., S.214.

419

Schmitz, Situationen und Konstellationen, a.a.O., S.23.

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nur empirisch gibt, das sich aus dem Entwurf einer kindlichen Situativität herausarbeitet und allmählich als aktive Bewegung mit unverbrüchlicher Treue die Verluste im Imaginären ausgleicht, die im Realen entstehen. Vorläufig zusammengefasst stellt sich die Lage der Untersuchung wie folgt dar: Sartre bestimmt in seiner existentiellen Analyse die Illusion als einen Aufschub der Wahl, verfolgt aber wie Kierkegaard die Ansicht, dass auch das Nicht-Wählen, die Passivität und also der Aufschub selbst eine Illusion derart bilden, dass in der ästhetischen Handlung zugleich das Wählen als Nicht-Wählen einen positiven Illusionsbegriff konstituiert. Der Illusionsraum stellt eine Marge zum Telos und zur Unbedingtheitsbehauptung kausaler Ökonomie (Trieb, Kraft, Besitz) dar. Diese Marge ist von Anfang an menschlich bestimmt durch die Konstitution eines intermediären Raumes, der die zeitliche Beziehung (Besitz) eines realen Objekts zu meinem realen Körper anzeigt, der selbst zeitlich ist. Dabei ist in der Regel der Sehsinn als Fernsinn dominierend, während abwesende Objekte (die Mutter) auch gehört werden können. Szenifikationen sind deshalb vornehmlich visuell. Die Kenntnis dieser Sinnenspaltung findet in der Regel als fundamental begleitende Korrespondenz von Sehen und Hören statt.420 Als Basisschema reflexiver Form des Substitutionsvorgangs von Realität durch Subjektivität kann das Schema der Signifikationsdifferenz angesehen werden. Es geht jetzt darum, den intermediären Bereich zu konkretisieren, möglicherweise seine konstituierenden Wechsel zu beeinflussen. Eine geglückte Möglichkeit, so weist Winnicott anhand einer Fallstudie nach, ist die Fingierung der Erfahrung des Verlustes durch die Eltern. Nicht nur dass das Übergangsobjekt (die Brust, der Faden, die Puppe, schließlich der Fetisch)421 entfernt oder nah verwahrt werden kann und eine Leibbeziehung anzeigt, sondern dass z.B. ein schon völlig beschädigter und verschmutzter Teddy von der Mutter entsorgt wird, gehört zum notwendigen Erfahrungsprogramm, wie eben das Vorhandensein von solchen Objekten überhaupt. Fehlen diese und fehlen gar die Verlusterfahrungen, kann es zu Störungen in der Welt-Beziehung des Kleinkindes kommen. Aus dem therapeutischen Ziel heraus ist verständlich, dass der Illusion als eines phantasmatischen Besitzes mehr als eine Ersatzfunktion zukommt. Der phantasmatische Besitz ist als Vorstellungs- oder Erinnerungsprodukt nicht vom anderen zu enteignen, insbesondere, wenn er sich zur Zwangs420

Das habe ich ausgeführt in: Bohn, Inszenierung als Widerstand, a.a.O., S.80ff.

421 Winnicott, Vom

Spiel zur Kreativität, a.a.O., S.19.

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neurose verfestigt oder sozialisiert (z.B. als Religion). Weit ab von künstlerischen Fundierungszusammenhängen ist der gesamtkulturelle Progress, der sich zunehmend an die Fetischisierung der Medienobjekte, die sich digital als instantane und plötzliche „Fort-Da“-Erscheinungen zeigen, die weder Arbeit noch Zeit verbrauchen, pervertiert. Die Aufhebung des Opfers geht mit einer unendlichen Ausdehnung an Leiblichkeit einher. Die vermeintliche „Besitzlosigkeit“ und „Opferlosigkeit“ des Internets, die Debatten um die Urheberschaft und das geistige Eigentum sowie die Panik der sich versichernden Dauerpräsenz und Daueranwesenheit der Fetische und Ideologien (Transparenzgebot) halten den Leibraum in einer globalen Illusion gefangen, nicht an ein Ding (Gadget) gefesselt zu sein, wie weiland der westliche Mensch seit hundert Jahren an die Armbanduhr, mit der er die Aktualität in Besitz bringt. Es sind diese Indizien des Ausfließens des intermediären Bereiches, dem ein Gegengewicht entgegengestellt werden muss: Hier bieten sich ästhetische Inszenierungen an, die auf körperliche Präsenz und auf reale Raumerfahrungen, kurz auf das Zusammenspiel von Situation und Szenifikation und anwesender Abwesenheit verpflichtet sind, und deren Genuss oder Arbeit in der Regel für begrenzte Zeit ausgerichtet ist. Es fehlt, nach Winnicott, die „Hauptaufgabe der Mutter[:] die Desillusionierung.“422 Diese freilich besteht darin, den intermediären Erfahrungsbereich für das Kind offen zu halten, indem sie den Wünschen des Kindes nicht nur unmittelbare Folge leistet, sodass die intermediäre Bindung sich von der Mutter auf die Objekte verschieben kann und die Funktion eines Fadens sich entpersonalisiert.423 Wesentlich ist stets die Verschiebungs- oder Übertragungserfahrung als solche, die das Kind leistet, wenn es in der Realität einen solchen Übertragungsraum als Spielraum genießt, also seinerseits die Mutter (Mediator) der Objekte wird, die es umgeben, indem es von der Begierde als Reaktion auf den Mangel zwei Daseinsweisen ableitet: erstens die Lust, die Produktion und die Arbeit, sich Dinge zu beschaffen und herzustellen (fetischisierend zu benennen – z.B. eine Decke als Welt auszulegen etc.), zweitens den Genuss von Abwesenheit als Reorganisation des Körpers, der selbst ohne die Dinge dauern kann (Kreditierungen und Vertrauen) und um die Möglichkeit gedächtnishafter Dingillusionierung weiß, deren Besitz nicht angezweifelt werden kann. Als ein solcher surrender Faden bildet sich die Sprache heraus, die die unmittelbare visuelle Welt der 422

Ebd., S.23.

423

Ebd., siehe die beiden Zeichnungen Winnicotts S.22.

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Anwesenheit überschreitet. Es fehlt aber in dieser Szenifikation auch nicht an Gewalt. Die Selbstaufhebung des Kindes wird mit der Enteignung der Produktivkraft der Mutter erkauft, also mit der prüfenden Abstoßung ihrer Präsenz – einer Autonomisierung, die mittels Sprache die visuelle Sphäre (und die der motorischen Mängel) überschreitet. Das mutet als ein erster, negativer ödipaler Vorgang an: Die Mutter töten, sich als Vater – als sich selbst-setzen. Oder genealogisch gesagt: Das Kind und der Faden bilden eine Sohn-Tochter-Beziehung ab, in der die kulturelle Produktion die menschliche relativiert, und trägt so die Gewalt in den Besitz. Wir behaupten nun, dass die Akzeptierung der Realität als Aufgabe nie ganz abgeschlossen wird, dass kein Mensch frei von dem Druck ist, innere und äußere Realität miteinander in Beziehung setzen zu müssen, und dass die Befreiung von diesem Druck nur durch einen nicht in Frage gestellten intermediären Erfahrungsbereich (in Kunst, Religion usw.) geboten wird (vgl. Riviere, 1936). Dieser intermediäre Bereich entwickelt sich direkt aus dem Spielbereich kleiner Kinder, die in ihr Spiel ‚verloren‘ sind.424

Aus dieser Definition lässt sich weiter präzisieren, was unter „intermediär“ zu verstehen ist. Es gibt, als Winnicott seine Untersuchungen beginnt, noch keinen inflationären Medienbegriff. „Mediär“ meint von der Wortbedeutung eher „Sphäre“, nichtsignifikative Quantität von Nähe und Ferne, Anwesenheit und Abwesenheit, mit Merleau-Ponty: einen unorganisierten Leibraum. Der Sinn dieses Begriffs ist jedoch der, das passive Genießenkönnen zur Grundlage der Möglichkeit eines Spielraums so zu akzeptieren, dass beide Verlustbereiche sich ökonomisch in wenigstens relative Gewinne verwandeln: Erfahrungen, Vorstellungen und Vertrauen, also Zeit, die die Leere der Abwesenheit füllt. Winnicott spricht von „intermediärer Szene“ z.B., wenn das Kind schreit, um die Mutter anzulocken. Es schließt die Augen, damit sie sich wieder abwenden kann. Diese inszenatorischen Gesten sind keine Reflexe, sondern szenifikatorische Spiele des Kleinkindes, und deuten der Mutter, indem sie ihren möglichen anderen Präsenzstatus vorwegnehmen. In dieser Versicherung vorweg erhebt sich die Szenifikation zu einer zeitlich gegliederten Welt voller verlässlicher Effekte. Es handelt sich kaum um die Konstitution eines logischen, regelgeleiteten Spiels, was das Kind als Subjekt zugleich externalisiert, sondern um den archaischen Modus einer Bezugnahme auf den Entwurf des anderen als einer Verfügungsgemeinschaft, in der der „Andere“ 424

Ebd., S.24.

347

(Körper) der Komplize meiner selbst wird. Diese Effektgemeinschaft hat keinerlei explizite Regeln. In einer Fallgeschichte hebt Winnicott die konstitutive Funktion des (ökonomischen) Verlustes (Nicht-Besitz) hervor. Eine Patientin spricht davon, „dass [...] die Lücke das einzige Reale ist; das heißt der Tod oder die Abwesenheit oder die Amnesie.“ – „Daraufhin stellten wir fest: Das Reale ist das nicht Vorhandene.“425 Diese Erfahrung lässt sich jedoch nur machen durch eine Negation der Realität des Wahrnehmungsbewusstseins. „Das Reale ist das, was nicht täuscht“, was den Namen-des-Vaters verweigert und somit das Genießen stimuliert. Lacan nennt das mit Freud „den anderen Schauplatz“.426 Realität ist somit eine Wahrnehmungskomplexion von Erscheinen, Dauern, Verschwinden, die im (technisch-reproduktiven) Produktzyklus ins Gigantische vergrößert ist und ihr eigenes Verschwinden inszenieren kann. Wir nehmen mit Sartre an, dass dieser Bereich sich gänzlich „draußen“ abspielt427, stets jedoch eine Lücke zur Selbstfühlbarkeit seiner selbst offen halten muss. Es liegt uns daran, nicht von den Pathologien als „Grenzsituationen“ auszugehen – also den Erfahrungen des Therapeuten Winnicott einen jenseitigen Wert hinzuzufügen. Von „Pathologien“ kann man nur im gleitenden Übergang sprechen, ebenso von „Fetischismus“. Es geht darum, das ökonomische Gelingen des Eintritts und Austritts in einen Spielraum und dessen intermediäres Spiel überhaupt zu evaluieren. Für die Marge des Aufschubs bestimmt Winnicott den „Zeitfaktor“ als ausschlaggebend – das, was ich die „Dauer des Besitzes“ (Sichtbarkeit, Wissen) und den Deutungsraum seiner Genese und seines Zerfalls nenne. Auch hier interpretiert Winnicott das Spiel als eine intermediäre Form des Aushaltenkönnens von Nichtproduktivität. „Beim Phantasieren geschieht alles sofort.“ Weil das so ist, ist das Spiel eher Bannung. Es kann sich zwischen der Phantasie und der Realität ansiedeln. Diese Ansiedlung muss in der Abwehr der Unmittelbarkeit vermittelt sein, und zwar nicht als reine, sondern als qualitative Zeit, die im Kinderspiel die allegorische Transformation aller Objekte ausmacht. Im 425

Ebd., S.33f.

426

Lacan, Die Angst, a.a.O., S.47.

427

Winnicott, Vom Spiel zur Kreativität, a.a.O., S.42: „Es lässt sich beobachten, dass schöpferisches Spielen in Beziehung zum Traum und Leben steht, in seinem Wesen jedoch nicht zum Phantasieren gehört.“

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Spiel der Erwachsenen (Winnicott bezieht sich auf die therapeutische Situation) – in Sprachspiel, „Wortwahl“, „Stimmführung“, „Stimmung“ – finden alle diese gleichzeitigen Dinge in einer Praxis des gestimmten Raums statt, z.B. als Gespräch, sodass deren Wahrnehmungsbesetzung ein Fort-Da-Spiel mit mehreren Fäden und einer Palette von Wahlmöglichkeiten beinhaltet.428 Für das Spiel der Kleinkinder gilt, dass es durch Handlung bestimmt ist: Handlung aktiviert Zeit. Natürlich handelt es sich nicht um dezidierte Handlungsentscheidungen (Wahlen), sondern um ein mit- und gegeneinander von aktiven und passiven Situationen, die normalerweise nicht zielgeleitet sind. Beim frühen Kinderspiel werden keine extrinsischen Regeln formalisiert. Alle Regeln müssen selbst erst im Spiel erfunden werden. „Das Wagnis des Spiels ergibt sich daraus, dass es stets an der theoretischen Grenze zwischen subjektiv und objektiv Wahrgenommenem steht.“429 Das Ergebnis des Spiels ist die motorisch und kinetisch geformte Zeit und somit eine in Besitz genommene Fähigkeit, Verlusterfahrungen als Gedächtnismoment nicht gänzlich verloren zu geben. Spielzeit, Gedächtniszeit und narrative Zeit beziehen sich in der Erinnerungsbildung aufeinander. Hier verbirgt sich wesentlich, was man die „Konstitution des Sinns“ nennen kann, also die Abstoßung des Körpers als Entwurf und der Illusion simulativer Nachspielung eines Ursprungsmomentes als Urszene (Szenifikation). Sartres Psychoanalyse der Sachen legt auf diese in den Sachen versteinerten Subjektivitäts- und Zeitdynamiken großen Wert. Es muss dieser Dispositionsunterschied zwischen dem Erinnerungsobjekt (das ich bin und nicht verlieren kann) und der Sache gemacht werden, die die Relation der Verwahrung der Freiheit der Ablösung beinhaltet. Dinge sind sozusagen nicht nur Leichen der Arbeit, sie sind auch Evokationen des Genusses, vornehmlich dann, wenn sie sich dienstbar wie Maschinen und zuvorkommend wie Medien generieren, also wenn sie sich für einen anderen inszenieren. Auf diese Weise unverbunden und vereint stabilisieren sich die Subjekt-Objekt-Positionen ohne Amnesie. Denn das Zeitmoment verhindert die Fusion: Ein Ding kann nicht ohne Schrecken zugleich erscheinen und nicht erscheinen, wenn es dies nicht selbst von einem anderen moderiert bekommt, d.h., zum diaphornen Gebrauch von Zeichen verfugt wird. Die Praxis gelingt, weil sie sich beständig im Mangel ihrer Verfügbarkeit überschreitet. Winnicott fasst zusammen:

428

Ebd., S.51.

429

Ebd., S.62.

349

Übergangsobjekte und Übergangsphänomene gehören zum Bereich der Illusion, die dem Beginn des Erlebens die Grundlage bereitstellt. Diese Frühphase der Entwicklung wird durch die besondere Fähigkeit der Mutter ermöglicht, sich den Bedürfnissen ihres Säuglings anzupassen und so dem Säugling die Illusion zu vermitteln, dass das, was er erschafft, wirklich existiere. Dieser Zwischenbereich des Erlebens, bei dem nicht die Frage gestellt wird, ob er zur inneren oder zur äußeren (mit anderen geteilten) Realität gehört, macht den größeren Teil im Erleben des Kleinkindes aus und wird in dem intensiven Erleben beibehalten, das der Kunst, der Religion, der Phantasietätigkeit und der schöpferischen wissenschaftlichen Arbeit eigen ist. Wir können daher sagen, die Illusion habe einen positiven Wert.430

Damit soll hinreichend bestimmt sein, dass der Raum einer Szenifikation unter zwei, drei oder mehr Personen von etwas bestimmt sein muss und zusammengehalten wird, dessen Signifikat außerhalb der Gruppe selbst liegt – „außerhalb“ meint hier auch „intrinsisch“ oder „transzendiert“, „konstituiert“, –, etwas, das als Signifikat einen eigenständigen Zeitraum der Dispositionen und Wahlentscheidungen präformiert. Der Mensch ist deshalb Mensch, weil er die Unvermitteltheit des Begehrens nicht nur aufschieben, sondern auch geniessen kann. Daraus erfolgt die Produktion eines illudischen Bereichs, der eigens produziert sein muss: als eben jener Illusionsraum, in dem der Zauberer eine fingierte Sache verschwinden lassen kann, die dann als Reale erscheint. Der Ingenieur macht es ebenso: Aber die Sache, die er meint sind Begründungen, denen der Grund mangelt. Das aber macht ihr Reales aus. Damit steht und fällt das ontologische Problem des Spiels einer Szene und die Bestimmung der szenologischen Differenz als Differenz von einfachen positiven oder negativen Situationen. Ihr Entwurfscharakter, derjenige der Delegation von Autorschaft und der vermittelnden Regie, wirdgegen eine Totalisierung des Menschen gestellt, der sich autonomisiert. Bei Freud gibt es allerdings noch diesen anderen Hintergrund: Er betrifft den Willen nach Autonomie und Autarkie, von der Gemeinschaft zur Restitution einer vollwertigen Persönlichkeit herausgefordert zu werden, den Willen, den Vaterstatus positiv einzunehmen, den die Gemeinschaft invertiert, und zwar unter dem geheimen, intelligiblen Wissen (Drittenmoment), dass es weder einen autonomen Ursprung noch einen realen Vater als wiederholbares, sich selbst darstellendes Ereignis geben kann. Freud drängt zu der Zeit, als er sich mit dem Problem der Urszene beschäftigt, immer noch darauf, die Psychoanalyse als eine medizinische Wissenschaft in diese 430 D.W. Winnicott: Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse. Aus den Collected Papers.

München 1976, S.311.

350

Sphäre der Vaterschaft aufzunehmen, deren Rationalität scheinbar widerspruchsfrei unter den Signifikanten der Geschichte der Aufklärung gleitet, den szenischen Aspekt und damit den hermeneutischen aber ebenso unterminiert wie den der Makroproduktion als Unbewusstes in den Dingen. Wobei unter „Hermeneutik“ bei Freud verstanden wird, die Frage zu klären, warum einige Dinge in die Abwesenheit entlassen werden, wo sie zu Tage treten und einiges im Binnenspiel des Körpers als Symptome verdinglichen, als Disponent, der weder zur Disposition noch in verfügbaren Besitz gestellt werden kann. Wenn man die Gesellschaft der Individuen durch die Autonomie und Autarkie ihrer Teilnehmer bestimmt, muss man das in einer nicht vergesellschafteten Darstellung zum Ausdruck bringen, das heißt aber, einen privativen Solipsismus zu wählen, der das Unvermittelbare vermitteln soll, also die Präsenz der Szene als nicht wiederholbare Intensität, die sich allein durch die Intensität ihres Wiederholungszwanges, ihrer Neurotisierung, Medialisierung hervorbringt: histrionische Szene als Versuch der Selbstinbesitznahme. Was ist aber ganz konkret mit dem Eigentum? Reicht es, auf die Objekte des Fetischismus sich zu berufen, oder dringen wir hier bis zur Marx’schen Analyse der Besitzverhältnisse oder der historischen Analyse von Hannah Arendt vor?431 Die Szene – das zeigt die demythologisierte Rolle des Theaters im Laufe seiner Geschichte – reagiert auf die Fiktion einer Mythologie des Ursprungs, indem sie als dessen Wahrheit die Wiederholung, also Spielbarkeit und Inszenierbarkeit unterschiedlicher gesellschaftlicher Entwürfe als Vermittlung von Zeitlichkeit zu erleben erlaubt. Als Spiel mit dem phantasmatischen Ursprung setzt sie sich als künstliche Form – dionysisch oder apollinisch – ihrer eigenen Aporie aus. Aber genau das verleiht ihr sowohl einen 431 Dass Eigentum und Besitz durchaus unterschiedlich sein können, hat schon Marx fest-

gestellt, indem er den in den Waren latenten Fetischcharakter als „Abstraktion“ bezeichnet. „Diese Verkehrung, wodurch das Sinnlich-Konkrete nur als Erscheinungsform des AbstraktAllgemeinen, nicht das Abstrakt-Allgemeine umgekehrt als Eigenschaft des Konkreten gilt, charakterisiert den Wertausdruck. Sie macht zugleich sein Verständnis schwierig. Sage ich: Römisches Recht und deutsches Recht sind beide Rechte, so ist das selbstverständlich. Sage ich dagegen: Das Recht, dieser abstrakte Begriff, verwirklicht sich im römischen Recht und im deutschen Recht, diesen konkreten Rechten, so wird der Zusammenhang mystisch.“ Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Köln 2000, S.71 (Das Rätsel der Äquivalentform). Der Fetischismus der Ware „bürgerlicher Ökonomie“ (S.88) ist eine Folge der Abstraktion der Vergesellschaftung. „Aller Mystizismus der Warenwelt, all der Zauber und Spuk, welcher Arbeitsprodukte auf Grundlage der Warenproduktion umnebelt, verschwindet daher sofort, sobald wir zu andren Produktionsformen flüchten.“

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dramatischen als auch einen kritischen Wert. In dieser Hinsicht entspricht jedem positiven Mediengadget als Übergangsobjekt eine Form der neurotischen (syndromischen) Darstellung der Nicht-Darstellbarkeit, die im Gebrauch einer Neurose histrionisiert wird. Vor allem in der Genese der Psychoanalyse Freuds ist dieser Zwang zur Ursprungsfixierung in seinen Befreiungen und Bindungen noch nachzuvollziehen, die den späten Freud dazu zwingen, mehr und mehr von den naturwissenschaftlichen Paradigmen sich zu distanzieren und hermeneutische und kulturwissenschaftlich-anthropologische zu favorisieren. Wir zeigen, wie Alfred Lorenzer das psychoanalytische Problem auflöst, indem er zwischen einer situativen, semantischen und einer szenisch-„stilistischen“, pragmatischen Hermeneutik unterscheidet. Denn es ist eine Besonderheit in der Deutungsarbeit der psychoanalytischen Szene, dass sie die aktuale Situation des Settings auf die der Inszenierung zugrunde liegenden Interaktionsmuster funktional abzubilden hat.432 So erscheinen die Variationen der Erzählungen eines Analysanden von einem Wiederholungszwang durchsetzt, der stets auf das nicht vollständig symbolisierte, ursprüngliche Interaktionsmuster (Klischee, Struktur) verweist. Man muss dabei beachten, welchem Modus die Aufmerksamkeit gilt, wenn für das Theater behauptet wird, dass jede Aufführung einzigartig sei, obwohl sie durch einen Eingriff der Inszenierung sich als wiederholbar erweist. Die Einzigartigkeit ist nämlich nur zu halten, wenn der Skopus der Deutung sich auf die Aufführung der Inszenierung konzentriert, auf die ihn auch der Neurotiker lenkt. Offenbar krankt das Modell der Einzigartigkeit einer Aufführung an einer bestimmten verfemten bürgerlichen Praxis ihrer Eigentumslosigkeit, die den einmaligen Effekt (Besitz) goutiert, statt den stilistischen Varianten insgesamt zu folgen. So lässt sich der Stil eines Autors als dessen „Eigentümlichkeit“ nur dann lesen, wenn man mehrere seiner Texte gelesen hat – nicht aber, wenn man nur einen Text mehrfach gelesen hat. Das Problem, das bei Lorenzer allerdings nicht angegangen worden war, ist das des hermeneutischen Vorgangs der Vorgängigkeit in der Praxis der Interaktion, in der die Kontinuierungen eines Settings schlicht durch den Gebrauch der Praxis (die Periodizität der immer gleichen Sitzungen) kontinuiert wird. Wir müssen unterscheiden zwischen einer funktionalen, einer symbolischen und einer Hermeneutik der Dinge und Sachen, die Sar432 Vgl. Ralf Bohn: Agon und Agonie. Das theatrale Opfer. In: Céline Kaiser (Hg.): SzenoTest. Pre-, Re- & Enactment zwischen Theater und Therapie. Bielefeld 2014.

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tre dann mit Recht – und nicht weit entfernt der materialistischen Dialektik von Lorenzer – eine „Psychoanalyse der gesellschaftlichen Produktivorganisation“ genannt hat, die sich in der Medialisierung respektive der Verunbewusstung der praktischen Handlungen (z.B. der des Geldes, der Macht) jeder positiven Symbolisierung (und somit „Erklärung“) notwendig entziehen muss.

b. Erleben und Verstehen als korrespondierende Zeitgestalten Nach der Analytik des positiven Illusionsbegriffs und seiner Darstellungsfunktion für das Bewusstsein des Einzelnen in der Beziehung zum Besitz und zur Gabe des anderen ist die Frage beantwortet, wie es zu entscheidbaren Realitäts- und Simulationseffekten, also zur Selbstabstoßung kommen kann. Sie bildet sich auf Grundlage der Übertragung der Körpermotorik auf jene der Mutter (Bezugsperson), die anwesend und abwesend sein kann, während das Kind seine unbewegliche Lage über den Blick und die unartikulierte Stimme verändern kann. Das Kind muss verstehen, die Möglichkeiten der Rhythmik nicht nur seiner Körperreize, sondern auch die des anderen zu deuten. Es muss sie deuten als eine Bezugnahme von Anwesenheit und Abwesenheit, als dessen Sache die Signifikation erscheint. Winnicott hat mit dem Moment der illudischen Erfahrung einen intermediären „Raum“ differenziert, in welchem die Dauer der Oszillation von Abwesenheit und Anwesenheit allmählich und medial moderiert (erstes Medium ist der Blick) die Funktionen des Gedächtnisses und der Zeitdauern herausbildet, indem es zu Repräsentationen einer Rhythmik kommt. Er hat betont, dass in Analogie zu den höheren Graden von Reziprozität (Potlach, Warentausch), die Dauer von Abwesenheit und Anwesenheit einen Rhythmus sozialer Zeit fundieren kann, in der die Unmittelbarkeit aufgeschoben wird und die Illusions- sowie Erinnerungsfunktion in Gang kommt. Nun schiebt sich in diese Signifikanz der Deutung von Zeitmustern das illusorische Bild als Plötzlichkeit einer anwesenden Abwesenheit und konditioniert die Muster auf einer höheren Ebene um. Die Initiativen Winnicotts müssen deswegen in Bezug auf die inszenatorische Kraft weitergedacht werden – auf eine Szenifikation der eigenen Zeit als „Selbstbewusstsein“ und eine Ironisierung derselben im Bild als Repräsentation des Blicks des anderen. Denn nur die Szenifikation verwahrt die Allmählichkeit des Übergangs; das Bild, so unsere Bestimmung, wird spontan als eine Totalität erfasst. „Etwas zeigen“ und „auf etwas verweisen“

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(„hindeuten“) machen die Autorschaften der Deutungsdemarge uneindeutig. Man muss in abermaliger Reflexion den Aufschub der Unvermitteltheit vermittelbar machen. Sehen wir uns im Zuschauerraum nicht auf jenes Fehlen motorischer Möglichkeiten reduziert und mit einer illudischen Welt konfrontiert, die nach wie vor mit einem kindischen Applaus jubilierend empfangen wird, weil hier das (Bühnen-)Bild mit den lebendigen Auf- und Abgängen und den anderen dialogischen Momenten korrespondiert? Offenbar handelt es sich hier um die Genese einer Differenz, die das unmittelbare Ereignis (Bedeuten) vom disponiblen Erleben (Deuten) unterscheidbar macht und die keine Frage einer professionellen Auslegung, sondern einer Selbstjubilatorik nachspürt, nämlich jener der Selbstinversion, in der ich als anderen-meiner-selbst und Andersheit als Teil von mir verstehen kann. Der illudische Raum, der sich für eine bestimmte Dauer halten kann, ist kein beliebiger Raum von Deutungsmöglichkeiten. Die Möglichkeiten sind eingeschränkt auf den Konflikt, den die Struktur des Besitzes, der Anwesenheit und der Wahlen ihre Negationen dramatisch, also im Körperbezug organisieren. Aber sie tun es im festen Vertrauen darauf, dass die Inszenierung sich nur eine begrenzte Zeit, bis der körperliche Einspruch die Sinne wieder auf die Situativitäten lenkt. Die Unmittelbarkeit des Ereignisses und die daraus folgende Verwandlung oder „Übertragung“ in ein datierbares Erlebnis als anwesende Abwesenheit (Geschichte), also die Evokation eines realen Vorgangs, Datums oder einer Tat, kann sich nur als Schein reproduzieren. Dilthey, der mit der Totalisierung des „Erlebnisses“ als Grundstruktur des Bewusstseins in der Goethe’schen Tradition steht, hat dieses Problem des Sichverhaltens zu dem, was nicht dauert, was als Dokument der Geschichte bewahrt werden muss, sich jedoch im historiologischen Sinn der Identität verpflichtet, was Konfusionen dort verursacht, wo es um das konkrete Verstehen eines anderen (mithin der eigenen Andersheit) geht. „Das Verstehen ist an sich eine dem Wirkungsverlauf selber inverse Operation. Ein vollkommenes Mitleben ist daran gebunden, daß das Verständnis in der Linie des Geschehens fortgeht.“ Für Dilthey bedeutet „Verstehen“ das „Nacherleben“ einer „äußere[n] Situation“433, für Winnicott war dagegen ausgemacht, dass die Ereignisse schon beim Kleinkind intelligibel sind, nämlich Prozeduren der Selbstbildung durch Handlungen, die nicht durch spontane Spiegelung, 433

Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt am Main 1981, S.264 u. S.265.

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sondern je Akt allmählich vollzogen werden. Deswegen ist es in dieser Situation angebracht, dem Kleinkind unter allerlei Vorspiel eine neue Decke oder einen neuen Teddy schmackhaft zu machen und die alten Besetzungen nicht augenblickshaft zu entreißen. Am besten, sie entreißen sich selbst durch die Hinfälligkeit, die ihr Gebrauch erzeugt. Absolut verboten und deswegen nur als Inszenierung erlaubt ist das spontane Erscheinen, das beim Kleinkind ein Erschrecken erzeugt. Das „Verstehen“ der Mutter beruht auf der Möglichkeit ihres Entzugs, nicht auf der Evokation ihrer Restitution in der Präsenz. Das Identitätsproblem der Einfühlung und des Nacherlebens, das wiederum, wie in der Traumanalyse, in symbolische Einheiten verwandelt werden muss, um erneut vermittelt zu werden, hat seit jeher die Hermeneutiker beschäftigt. In der Psychoanalyse handelt es sich um die Konzeption der Homosexualität, also der Vermittlung ohne Vermittelndes. Einfühlung beruft sich im Gegensatz zum Tausch auf ein Identitätskonzept, in welchem die Identität des anderen positiv gesetzt sein muss, damit sich die Opponenten im Negativen (im „Gefühl“) begegnen können. Dilthey beruft sich auf die Logik der kantischen Analogie, die mit einer Setzung eines sensus communis die medialen Voraussetzungen zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen kontingentieren will. Ohne weitere Erläuterung wird die Differenz zwischen dem Erleben als Verstehen und der Interpretation als einer Technik vollzogen, so wie Schleiermacher das unterschieden hat. Das kunstmäßige Verstehen dauernd fixierter Lebensäußerungen nennen wir Auslegung. Da nun das geistige Leben nur in der Sprache seinen vollständigen, erschöpfenden und darum eine objektive Auffassung ermöglichenden Ausdruck findet, so vollendet sich die Auslegung in der Interpretation der in der Schrift enthaltenen Reste menschlichen Daseins. Diese Kunst ist die Grundlage der Philologie. Und die Wissenschaft dieser Kunst ist die Hermeneutik.434 434 Ebd., S.267. Der wirkungsgeschichtliche Aspekt einer Einführung des sensus communis mit Kant, der bei Arendt beispielsweise als „Politik“ oder als „Öffentlichkeit“ figuriert, bedenkt in der Regel nicht, dass es sich stets um eine medialisierte Form handelt und nicht um eine spontane Organisation von Disputationen auf einem Marktplatz. Vgl. Stanley, Die gebrochene Tradition, a.a.O. Stanley zeigt, dass Gadamer „die Gefahr des Relativismus umgeht, indem er die Geschichte mit dem Begriff des sensus communis verquickt.“ (S.344) Gadamer geht es darum, im Vorgang der Bildung durch Deutung einen höheren Grad an Allgemeinheit in Bezug zum Individuellen zu erhalten und somit die Situativitäten übersteigen zu können. Man könnte sagen, das beinhalte der Begriff der Praxis, wenn mit diesem unseren Bezug nicht ein Sinn, sondern die Funktionsmatrix der Technik als eine normative Kraft und nicht als eine „moralische Instanz“ gemeint ist. Dilthey hat in diesem Zusammenhang von einer „anonymen Lebenswelt“ (S.350) gesprochen, die aber

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Das aber würde doch heißen, dass die Dokumente, die Schriften, und nicht die Ereignisse zum Gegenstand des Nacherlebens werden, also der Faden des Kindes sich in seiner fetischistischen Besetzung hält. Hier ist der größte Gegensatz zu einer szenischen Hermeneutik, in der die Dokumente (die Skripte, die Drehbücher und Libretti) nichts gelten gegenüber der Aufführung, in der sie nicht nur imaginiert, sondern materialisiert und realisiert werden müssen. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob man ein Schriftstück auslegt oder eine Imagination realisiert. Auch wenn wir in dieser Zusammenfassung das Dilthey’schen Programm – es handelt sich dabei um Überlegungen, einen „Plan“, der „Entwürfe“ enthält,435 – nicht auf die Goldwaage legen dürfen, wird doch deutlich, dass die von der Lebensphilosophie inspirierte Hermeneutik nicht an die differentielle und kritische Raffinesse der frühromantischen Tradition und vor allem der Zeitmodalitäten der Aktualität mit ihren Fragestellungen um „Plötzlichkeit“, „Performanz“ und „Bild“, also mit dem Umgang mit Synchronitäten, die nicht schon a priori, in Medien und deren Moderation umgewandelt gedacht werden, heranreicht. Kurzum, hier werden die Aporien und Paradoxien gleichzeitiger Anwesenheit und Abwesenheit ausgehalten werden, weil sie „multimedial“ und „multisensoriell“ differenziert kombinierbar geworden sind. Lacan und Sartre beispielsweise haben auf je eigene Weise die Zeitstruktur und Genese zu entwickeln versucht, die stets dann am weitesten tragen, wenn sie mit dem Selbstbewusstseinsphantasma verbunden werden, dem Agens der Selbstkontinuierung. Umso verwunderlicher ist, dass Dilthey sich insbesondere auch auf Schleiermacher beruft, der vermeintlich auf das genialische Moment eines „geistigen Schaffens“ reüssiert und nicht auf intelligible Kritik, wie Benjamin in den Thesen der Schlegels vor allen Dingen herausgearbeitet hat. In Bezug auf Fichte und Schlegel und dessen „Entwurf einer Wissenschaft der Kritik“ heißt es bei Dilthey: „Auf dieser neuen Anschauung vom Schaffen beruht der kühne Satz „Schleiermachers, es gelte, einen Autor besser zu verstehen als er sich selbst verstand.“436 Wenn die Auslegung sich dadurch als unabschließbar so anonym nicht sein kann, da jede Funktion unmittelbar die Direktive gelungener oder misslungener „Übertragung“ anzeigt und signifikant flankiert, also spontane „Fehler“ auszuschließen wünscht. 435 So der unausgeführte Teil der Dilthey’schen Hermeneutik, der um die Begriffe „Erle-

ben“, „Ausdruck“ und „Verstehen“ kreist. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt, a.a.O., S.235. 436

Ebd., S.268.

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erweist, dass der Autor sich in der Darstellung (oder Inszenierung – Dilthey spielt hier auf die Verlebendigung des Erlebnisses auf der Bühne an)437 annihilieren muss, dann ist der Nachvollzug insbesondere der geschichtlichen Situativität, um die es Dilthey im historischen Progress in erster Linie geht, ebenso „unergründlich“438 wie das Sich-selbst-Verstehen des Autors. Es ist aber eines, den Autor eines Stücks verstehen zu wollen, und ein anderes, die Inszenierung zu verstehen, da die Inszenierung sekundär (sofern der Autor nicht zugleich Regisseur ist, was den Kunstcharakter evoziert) vorgibt, dass man stets nur eine unter vielen Deutungen realisieren kann, die der Situation angemessen ist oder nicht. Mit dieser „Angemessenheit“ werden „die Grenzen des Verstehens“ der Differenz von Autorschaft und Grund (Ursprung) des Genies im Erleben erklärt. Und das ist bezeichnend für die allegorische Unterscheidung „Bild“ (Spontaneität) – „Text“ (Diachronität). Kurz gesagt, im Text wird die von Winnicott als unabdingbar angesehene Sinnendifferenz unterschlagen zugunsten eines längeren Übergangsmoments der Bildung von Sinneinheiten; in der Szene dagegen wird die Sinnenvielfalt mit einer Verbildlichung reduziert und auf Schnelligkeit umgestellt. Die Inszenierung kann sowohl mit signifikanten Ketten wie mit emergenten Handlungen operieren, und zwar als asymmetrische Beziehungen von Sprechen und Sehen, die, so Kierkegaard, die Bühnenangst mitverursacht: als Exposition des Körpers, der zunächst auf seine visuelle Präsenz (den Auftritt) reduziert ist, obgleich es ihm doch um sein Sprechen geht. Die in der „Schrift enthaltenen Reste des menschlichen Daseins“ erscheinen uns nicht hinwiederum als Schrift, sondern in Vorstellungsbildern. Das Bild ist aber die Form des präsentischen Verstehens (der Anwesenheit von Abwesenheit), die in einer Inszenierung die „künstliche“ oder „kunstmäßige“ Gleichzeitigkeit in den illudischen Raum einer diachronen Abwicklung versetzt, deren Dauer instabil ist, sodass die Einheitlichkeit sich mit allerlei dramaturgischen Techniken über die Stunden der Aufführung retten muss. Die eigenste Natur des Verstehens liegt eben darin, daß hier nicht, wie im Naturerkennen mit eindeutig Bestimmbarem operiert wird, das Bild als eine äußere Realität zugrunde gelegt wird. Im Naturerkennen wird das Bild als feste, in der Anschauung auftretende Größe zugrunde gelegt. Aus den Bildern wird der Gegenstand als das Dauernde konstruiert, das den Wechsel der Bilder erklärlich macht. Verhältnis der Operationen im Verstehen durch die Beziehung des Äußeren auf ein Inneres, des Ganzen auf Teile usw. Ein Bestimmt-Unbestimmtes, ein Versu437

Ebd., S.265.

438

Ebd., S.277.

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chen des Bestimmens, ein Niezustandekommen, ein Wechsel zwischen Teil und Ganzem.439

Nun ist es nicht einerlei, ob man das „ ‚Erlebnis‘ für den Index der Realität überhaupt“ setzt und damit von einer bewusstseinsphilosophisch fundierten Phänomenologie ausgeht,440 oder ob man eine Unterscheidung zwischen Bild und Handlungsgenese macht. Es sieht so aus, als ob Dilthey zwischen Naturraum (Bild) und Erlebniszeit (Text) unterscheidet, vermöge der das Verstehen sich als Tausch von Raum und Zeit konstituiert, nicht aber zwischen synchronen und diachronen Argumenten. Das entkräftet zumindest den Einwand, der Dilthey, so Riedel, zuerst von Otto Neurath vorgeworfen wurde, er protegiere eine spätromantische Einfühlungstheorie. Wie die von Dilthey skizzierte Lösung der Aufgabe lehrt, setzt die Methode des „Verstehens“ keineswegs jene mystische Einfühlungs- oder Identifikationshypothese voraus, die ihre positivistischen Kritiker unterstellen. Und sie lehrt ferner, daß in der Perspektive der Forschungspraxis die Grenzlinie zwischen Verstehen und Erklären nicht so scharf ausgezogen sind, wie das die Theorie vorschreiben mag.441

Das Versäumnis Diltheys muss vielmehr darin gesehen werden, die Amplitude zwischen der Pro- und Regression, der Elementarisierung und Totalisierung in ihrer „Hin- und Herdirection“, was Gadamer später einfach als „Spiel“ bezeichnet hat, nicht aufgenommen zu haben. Wer Naturwissenschaft gegen Geisteswissenschaft auszuspielen oder letztere dann später als poststrukturalistisch erweiterte Kulturwissenschaft aus der Geschichte zu isolieren versucht, verkennt, an welchem Datum die naturwissenschaftliche Erkenntnis und an welcher Relation die menschliche Kommunikation bestimmt sein muss: an der sozialen Zeit, die die Naturwissenschaften so gut es geht neutralisieren (desituieren), zugleich aber dieses Opfer mit der Realisierung der Techniken mehr als nur kompensieren. Wenn Naturwissenschaften der Deutungsmodus des Erklärens zugeschrieben wurde, heißt das in der Tat nicht, dass alle Dimensionen des Verstehens erfüllt sind, sondern, dass sie vollständig desituiert als Abstraktionen abgeleitet sind. Sie zu reszenifizieren bedeutet dann, die magischen Momente der Unendlichkeit des Verstehens einer gegebenen Situation wieder zu verzeitlichen. Denn für 439

Ebd., S.281.

440 Vgl. 441

die Einleitung von Manfred Riedel, ebd., S.42.

Einleitung von Riedel, ebd., S.72f. Riedel führt hier die Gedanken Neuraths aus.

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die Naturwissenschaften442 soll gelten, dass ihre Erkenntnisse in der Zeit stillstehen, was bedeutet, dass die elementaren Erklärungsschritte nicht epigenetisch und in einer Nachträglichkeit aufeinander aufbauen, sondern kausal, d.h., die Zeitprobleme und das Problem der Unwiederholbarkeit der Präsenz sind demnach in notorisch in Raumprobleme verwandelt und negieren den Zeithorizont von Subjektivität. Diese Simplifikation ist Heidegger schon an Bergson aufgefallen. Gegenüber diesem Erkenntnisraum, in dem die Synchronizität der Ereignisse gegeben ist, steht die Bewusstseinsform des „Begehrens zu Wissen“ in einem Sinnmodus, der von der Kontinuität der Zeit im Übergang ausgeht, die die Identität unmöglich macht. Diese ist aber auch in der desituierten Normativität moderner technischer Leistungen gar nicht mehr erforderlich. Ohne das Spiel der Zeit, das sich immer auf die Unmöglichkeit der Selbstbegründung, also die patriarchale Genese stützt, ist so etwas wie ‚Verstehen‘ nicht zu erklären. Zeitsinn kann selbst nicht ohne Rückgang auf körperliche Situiertseit ‚erklärt‘ werden, bedingt dies doch die Versammlung aller Deutungsgeschichten in einem Raum der Gleichzeitigkeit. Genau hier schiebt sich die Psychoanalyse, auch einer der Sachen, wie sie Sartre vertrat als Instrument der Deutung wider der Unerklärlichkeit, in die Wissenschaften ein. Im Bezug auf Dilthey sollte deutlich werden, dass das Problem des Verstehens, das unter dem Modus des sukzessiven historischen Entzugs des Erinnerungsbesitzes die Erlebnisvermittlung favorisiert, einerseits als eine Art natürliches Verstehen in der Analogie des Bildes als Objekt der Präsentifikation anerkannt wird, andererseits aber die Struktur des Geistes sich traditionsgemäß in der narrativen Zeit als Schein realisiert: Stillgestellte Zeit, also Bildlichkeit, ist das absolut Neue, in dem überhaupt so etwas wie der Schrecken der Spontaneität begriffen und abgewehrt werden kann – Schrecken als der jeder Genealogie baren Unmöglichkeit eines Rücktausches –, unerachtet der ubiquitären Einübung in das Bild. Das zeigt die Schwierigkeit, Genie und Geist aus den „Geisteswissenschaften auszutreiben“.443 Damit beraubt 442

Gemeint sein können hier nur Wissenschaften im Sinne von Descartes und in der Prägung von Newton. Mit der paradigmatischen Öffnung von Einstein und der Relativierung des Zeitbegriffs tauchen die überwunden geglaubten Probleme der Dauer erneut auf.

443 Vgl. Kittler, Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, a.a.O. Dabei geht Kittler, noch vor dem Einzug des Internets, von einer Allverfügbarkeit des Wissens aus, das ob seiner inflatorischen Konsistenz keine Machtposition mehr darstellt, sondern, nach Foucault, eine Ordnungsfunktion. „Die Kombination von Geist und Mensch ist ohne Belang bei der Analyse des Wissens, das alle Leute haben, ohne das noch einmal wissen zu müssen.“ (S.9) Offensichtlich geht Kittler nicht davon aus, dass es nicht um die Identifizierung von

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sich Dilthey der Konstruktion, alle Erlebnisse als Szenifikationen einer Struktur abzuleiten, die in der Entgegensetzung von unbewusst-bewusst – Lacan übersetzt strukturalistisch: von Signifikant und Signifikat – als Narration, Abfolge von Bedeutungen, Bedeutungschoreografien und -rhythmiken gründen. Die Jahrhunderte der Schrift werden seit der Etablierung des bürgerlichen Theaters zu einem Jahrhundert der bewegten Szenen, in denen, vor allem in Paris, das Theater, die Kritik und der Roman sich wechselseitig befruchten, bis der Film die Szenifikationen von Dauer wieder auf die von den Postmodernisten beklagte „fehlende große Erzählung“, auf Bildhaftigkeit reduzieren. Aber der Film ist auch das ausgezeichnete Medium, das seine Genealogie in den Momenten entfaltet, in denen er geschieht, nämlich als Einheitlichkeit des Zwangs, den Film unterbrechen zu dürfen. In der Synchronität aller Medien werden Probleme der Dauer und der Alternationen des Verstehens suspekt. Die Konstitution göttlicher Gleichzeitigkeit bringt das Fort-Da-Spiel ins Wanken. Man muss also spontanere, schnellere Dramaturgien einsetzen, um die Leute an jeder Straßenecke damit zu überfallen, bevor sie sich wieder ihren Geschäften zuwenden. Die Polemik verdeutlicht, dass das Erleben und das historische Verstehen von Bild und Schrift mit der Szene als einer Karte, einer geographischen Übersicht, eines Prospekts, Panoramas oder sonstiger Diagrammatik unvereinbar ist, aber tatsächlich die aktuelle Wirklichkeit der Paranoia als Abwehrvorgang homosexueller Genese darzustellen versucht. Medienfusionen bedürfen umso mehr dieser Abwehr und somit der Konstitution des Phantasmas eines anderen. Die Erklärung wird als szenisches Interpretament immer schon einer Deutung vorgeschaltet und soll – bis auf das Refugium „künstlerischer Inszenierungen“ – nicht situativ erfolgen. Damit müssen wir uns auf ein weiterführendes Problem einlassen, das im Wissenschaftsparadigma der Psychoanalyse am auffälligsten geworden ist, weil hier das Autogenetische am Problem der Körperhermeneutik auftritt. In Freud gewinnt auch erst allmählich die Überzeugung Gestalt, dass die Medien der (symptomatischen) Äußerungen nicht nur in der Schrift, sondern in allen Formen kultureller Darstellung sich auf identische Strukturen (symbolisch) und Vollzüge (funktional) beziehen, sodass das Übertragungsproblem wie das des Verstehens und des szenischen Interagierens grundsätzInformationen geht, sondern um die Akte situativen Verstehens, also der konstitutiven Verfehlung als Kommunikation, die jede Ordnung zum konkreten menschlichen Ereignis werden lässt und Bildung als Deutung des Allgemeinen überflüssig zu machen scheint. Nicht das Kontinuierliche muss gelernt, sondern das Diskontinuierliche ertragen werden.

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lich einer Form der Kommunikation zugänglich ist, in der Aufführung und Darstellung sich dialektisch bedingen.444 Dieses Verhältnis von Opfer und Erfüllung, von Anwesenheit und Abwesenheit ist das Grundverhältnis der Psychoanalyse. Hinsichtlich der transmedialen Form der Erlebnisvermittlung muss nach der Urszene als einer entweder funktional bestimmenden Struktur oder einem symbolischen Ereignis gefragt werden, das sich quasi unendlich (und bisweilen eben zwanghaft) anthropologisch wiederholt, um mit der Anthropologisierung den dramatischen Verlauf der Menschheitsgeschichte ableiten zu können. Man kann mit einiger Berechtigung behaupten, dass Freud mit seinem psychoanalytischen Ansatz die Hermeneutik von ihrer Schriftfixiertheit befreit und diesen Geist durch den des szenischperformativen Blicks ersetzt hat. Diese Erlösung von der einen Geschichte auf die vielen, die zugleich eine Pluralisierung ist und die in seinen späten kulturkritischen Schriften massiv aufbricht, verhindert nicht, dass er bezüglich der Frage der „Urszene“ die Psychoanalyse auf dem besten Wege sieht, individuelle Situativität als Szenifikation für einen anderen übertragen zu können, wobei der Analytiker eine Art medialer Widerstand oder Projektionsfläche darstellt, die dem Analysanden erlaubt, sich seiner Urszene als lebensbegleitendem intermediären Zeitraum zu bemächtigen und damit des rhythmisierenden Zwangs seiner Handlungen und deren Aussetzung im Schrecken/Trauma/Unfall, also im Dysfunktionalen bewusst wird. Freud verkehrt damit die Schleiermacherformel. Nun heißt es: „dem Autor ermöglichen, sich besser zu verstehen, als er sich (bisher) verstand.“ Damit wird das Verstehen kein Aneignungsprozess mit Mehrwert, sondern ein Gabenprozess, was einen fundamental anderen Umkehr- oder Übertragungs-, sprich: Inversionsprozess des Verstehens begründet. Verstehen und szenifizieren sind 444 In der Traumdeutung wird das anhand der in den späteren Auflagen eingefügten Textstellen

zum „funktionalen Phänomen“ anschaulich, das bekanntlich im Film auf eine Indifferenz zustrebt. Der Effekt davon soll ja die „Glaubwürdigkeit“ der Handlungen und Motive sein, gegen die beispielsweise Godard sich immer gesträubt hat, indem er zunehmend auf diesen symbolisch-funktionalen Zusammenhalt verzichtet und Filme ohne Narrationen dreht. Dass damit natürlich nicht eben der illusorische, traumaffine, sondern der materiale, also symptomatische Charakter betont wird, hat Rudolf Heinz in einem offenen Brief an Friedrich Kittler ausgewiesen. Heinz, Somnium Novum, a.a.O., S.84f. „En detail würde es recht lustig, Filmstories auf ihre Potentiale der medialen Selbstsymbolisierung hin, typologisierend etwa, zu untersuchen. Wirkungsästhetische Paradoxie dabei: je vollständiger der Aufgang des Inhalts in der Form, der story in der Selbstdarstellung rein ihres Mediums, und je verdeckter zugleich dieser Aufgang, also je isolierter jene bis zur Eskamotierung von diesen, umso demokratisch wohlgefälliger das opus selber, der Film. Eine manierliche Filmästhetik, die es noch nicht gibt, müßte mit solchen Gedanken beginnen.“

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identisch, nämlich Praktiken, die mit Schrift und Sprache überhaupt nichts zu tun haben müssen, da das Aktionsfeld das der Selbstspaltung/-distanzierung ist. Denn wie sollte sich ein Autor je den Grund seiner „Schickungen“ aneignen können, ohne nicht absolut dokumentarisch „er selbst“ zu sein, also in der Praxis zu leben oder einfach: zu leben. Das „besser“ verstehen ist nicht quantitativ, sondern ökonomisch, nämlich im Willen latent, der das Verstehen als unbegrenzt erweist, damit es nicht zur bloßen Information (Identitätszwang), zur Erklärung verkommt. Denn der Psychoanalytiker erklärt nichts. Die Pointe der Volte Freuds ist die, dass der Psychoanalytiker nichts weiter ist als ein Regisseur, der in der Nachinszenierung des Settings ein Deutungsspiel, ein Deutungsangebot und eine Deutungssituation für einen anderen sichtbar macht.445 Ihm geht es um eine Nachspielung der Urszene auf der Ebene des Nachvollzugs der funktionalen Ereignisformen (gleich welcher Medialität), nämlich die Entfaltung der Selbstdeutung, die nicht eindeutig sein darf, es aber will. Nur, bezüglich der „Urszene“ bieten sich vielfache normative Zeitformen an: die früheste Szene, die intensivste Szene, die Offenbarung der Szenifikation überhaupt, diejenige die sich am zwanghaftesten wiederholt. Kurz: Die Urszene kann, weil sie ursprünglich, aber nicht anfänglich ist, kein historisierbares Ereignis sein, sondern nur das Erscheinen von Szenifikationen überhaupt, nämlich der irritierende Einbruch einer Präsenz, d.h. einer Weise, eine zeitliche Distanz und Dauer von Anwesenheit mit Schrecken, ableitungs- und vermittlungslos zu offenbaren. Daher die Illusion des Subjekts, es könne mittels Motiven, Ursachen oder Vaterschaftszuweisungen die Kontinuität herstellen, die es in jedem seiner Akte überschreitet. Bevor wir auf die Momente eingehen, die uns im Spannungsfeld zwischen strukturaler Analyse und Hermeneutik der Psychoanalyse begegnen, müssen wir die Vorarbeiten aufnehmen, die Freud in seinem anthropologischen Entwurf als Grundsituation, die er unter den Begriff der Urszene stellt, mutmaßt. Es scheint so zu sein, dass Winnicott Gründe hat, das gesamte Modell der Urszene oder des bestimmenden Elementarereignisses bei Freud als individualgeschichtliches Moment abzulehnen. Denn die Szene ist ja beides: Deutung und Bedeutendes, Symptom und Zeichen. Das Urtrauma kann nur darin bestehen, dass das Einmalige des Traumas sich nicht als 445 Vgl.

Céline Kaiser: Noise and Voice. Zum Einsatz von Stimme und Geräuscheffekten in der Geschichte der Psychotherapie seit dem 18. Jahrhundert. In: Ralf Bohn / Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung und Effekte. Die Magie der Szenografie. Szenografie & Szenologie Bd.7. Bielefeld 2013.

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Abwesenheit präsentieren kann, sodass die Urszene unendlich wiederholt werden muss, um das Selbst zu kontinuieren. Im Wolfsmann stilisiert Freud seine analytische Gabe (die eigentlich eine synthetische „Sehergabe“446 ist) als formelle Methode der Psychoanalyse. Nicht aber in der Komplementarität eines Sinns, also hermeneutisch, sondern in der Komplementarität einer aktuellen Inszenierung löst sich die Szene auf, und zwar in der ‚hysterischen‘ Abwehr des Wolfsmannes beim Verlust oder drohenden Verlust eines geliebten Signifikantenfetischs (und nicht etwa z.B. beim Verlust seines Milliardenvermögens nach der Russischen Revolution, den er gelassen hinnimmt). Wenn es also ein Urtrauma gibt, dann ist es das jederzeit aktualisierbare der Unvereinbarkeit meines Körpers mit den Körpern der Dinge und den Körpern der Gemeinschaft, unter der Maßgabe der Rationalisierung und Diversifizierung der unmittelbaren Gewalt in den Gebrauch von Dingen und Institutionen. Das Symptom wird nun eine „Vergesellschaftung mit mir selbst“, eine Binnenverleiblichung. Freuds Politik vor allem im Wolfsmann gibt dazu Anlass, dem Leser und dem Renegaten Jung447 vorzuführen, dass die Realität des Traumas in Form einer Urszene das begründende Faktum der Wissenschaftlichkeit einer jeden Psychoanalyse (um 1913) beweist, obwohl, wie Pontalis mutmaßt, eher von einer „Urphantasie“448 zu sprechen wäre. Ob nun Urszene oder Urphantasie – es scheint sich jedenfalls um einen Bereich zu handeln, dessen Realität weder nachgeprüft werden kann, noch sich als bloße Phantasie gibt, wenn man dieses „Ur-“ sozusagen individualhistorisch darstellt. Exakt diese hybride Form verhindert den kontingenten Anschluss an die Kette des Sinns. Man darf auch sogleich einen Hinweis von Samuel Weber aufnehmen, der betreffend der Freud’schen Urszene und ihrer Politisierung eine abweichende Auffassung vertritt: nämlich die einer Ursprungsenteignung, die 446

„Diese Tendenz zu sehen, was er dachte, spiegelt sich in seinen Schriften wieder. In ihnen findet man viel Bildhaftes, selbst wo es sich um höchst abstrakte theoretische Begriffe handelt. [...] Freuds Anhänger konnten nicht all das sehen, was er sah; sie besaßen ohne Zweifel nicht seine Sehergabe. Sie vermochten ihm nicht voll und ganz zu folgen.“ Herman Nunberg / Ernst Federn (Hg.): Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, Bd.1, 1906-1908. Frankfurt am Main 1976, S.XXIX. Nunberg geht nicht direkt auf die Verwandtschaft von „Sehen“ und „Deuten“ als Szenifizieren ein. Das „Sehen“ scheint stets ein wahres Sehen zu sein, das alternative Sichtweisen diskriminiert.

447 Freud, Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, a.a.O., S.191, Anm.1 „Ich gestehe

dafür etwas anderes ein: daß ich die Absicht habe, die Diskussion über den Realwert der Urszene diesmal mit einem non liquet zu beschließen.“ (S.240)

448

Laplanche/Pontalis, Urphantasie, a.a.O.

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in der Suche nach dem Ursprung als Subjektivität inszeniert werden muss, da das Subjekt in seiner „Form und Funktion als Geschichte“, nämlich nur eine einzige Möglichkeit hat sich realisieren zu können. Überlegen wir, was ‚Kastration‘ bei Freud eigentlich bedeutet. Das Wort visiert nicht ein objektives Ereignis, sondern eine Deutung. [...] Was aber bisher kaum gewürdigt worden ist, ist die Tatsache, daß dieser Deutungsprozeß sich als eine Fabel artikuliert: aus einer Wahrnehmung (des weiblichen Genitals [betreffend der Urszene des Wolfsmannes; R.B.] wird eine Geschichte gemacht – mit Anfang, Mitte und Ende. Vermöge dieser simplen narrativen Strukturierung aber versucht das Ich nichts weniger, als seine Identität als eine ungebrochene, ungeteilte zu inszenieren [!]. ‚Das Interesse an seiner Selbstwahrnehmung‘, ist, psychisch gesehen, nichts anderes als die Bewahrung eines einheitlichen Selbst, und genau dies wird durch die Erfindung der Kastration als Erzählung versucht.449

Um der möglichen Deutungsvielfalt entgegenzuwirken, die die abgespaltenen, kastrierten Elemente fördern, möchte ich ‚dieselbe‘ Geschichte nun anders erzählen, und zwar als Geschichte des Erzählens selbst. [...] Nun aber ist ein Erzähler nicht allein von sich und auch nur von ‚seiner‘ Geschichte abhängig. Denn diese Geschichte muß auch gehört und in gewissem Sinne verstanden werden. Hörer sind also verlangt, damit ein Erzähler erzählen kann.450

Als besondere Art eben dieser Erzählkonstellation, die sich als roter Faden durch die ‚restlose‘ Analyse des Wolfsmannes zieht, sieht Weber den Witz, in dem es um die besondere Form der „Nachträglichkeit“ in der Konstitution des Selbst über den anderen geht. „Zum Lachen aber gehört, zumindest beim Witz, folgende Eigentümlichkeit: es muß ein Anderer sein, der über den Witz lacht und ihn dadurch überhaupt erst zum Witz macht. Der Witz impliziert daher drei ‚Personen‘: den Erzähler, die Objektperson [...] und drittens den Zuhörer.“451 Der Witz des Witzes ist, dass er das Lachen spontan erzeugen muss, dass seine Inszenierung darauf abzielt, eine Nichtinszeniertheit zu erzeugen. Freud, so Weber, gehe dabei in seiner Analyse des Witzes nicht mehr von einer kindlichen „Spiellust“, sondern von dem Eintritt des Dritten und dessen Verführung zum Lachen aus, sodass 449 Samuel Weber: tertium datur. In: Friedrich A. Kittler (Hg.): Die Austreibung des Geistes

aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus. München 1980, S.213f.

450

Ebd., S.214f.

451

Ebd., S.217.

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sich in der psychoanalytischen Hermeneutik durch die trianguläre Konstellation der Entlarvung der Inszeniertheit des Ichs über die Verführbarkeit des anderen die Urszene als die Struktur der hermeneutischen Verfassung der Welt offenbart. Das geschieht, indem die situative Szene der Witzkonstellation als Narration inszeniert (von einem Sprecher autorisiert) wird, um sogleich aber vom Lachenden destruiert zu werden, und zwar in einer physiologischen „Hin- und Herbewegung“, nämlich dem stoßweisen Ausund Einatmen: Lachen.452 Auf der dritten Ebene ist der Witz natürlich der Moment, wo die Pointe der Erzählung als ihre Erlösung verstanden wird. Weber kommt in seinem Aufsatz zu dem Schluss, dass sich die Hermeneutik Freuds über die Funktion der Repräsentation „des Anderen als dritter Person und als Überich“ im Sinne der Rücksicht auf ein „Publikum“ zu entfalten habe und somit die Schnittstelle zwischen dem „Individuellen und de[m] Gesellschaftlichen“453 stärker zu berücksichtigen sei, und dass es sich bei der Urszene um den Eintritt der theatralischen Szenifikation handele, in der die funktionale Konstellation des Sozialen, die Aufführung und nicht das Wahrgenommene die entscheidende Aufklärung hervorrufe, z.B. die Tatsache, dass sich der Wolfsmann während seiner Urszene zum ersten Mal als sich beobachtendes Objekt erfährt, woraufhin auch die Rahmungen und Öffnungen der Traumszene verweisen, die Freud auf die ursprüngliche Szene abbildet. Wenn man so will, ist die Urszene die Unverfügbarkeit der Erklärung eigener Reflexivität als Deutung. Diese sehr präzisen Gedanken Freuds, die er im 17. Protokoll der Mittwochsgesellschaft im März 1907 äußert454, liefern das wichtigste Argument für die Verstehensoption und Deutungsinitiative der Psychoanalyse wider die Philosophie: Nicht besser oder richtiger, sondern vollständig soll verstanden werden, das heißt, eine „dauernde Veränderung“455 muss erreicht werden. Es genügt die Bildwerdung selbst, nicht im Sinne der Erstellung eines Tableaus, sondern im Sinne der Situierung einer Szenifikation, in der der Patient in die Lage versetzt werden kann, aus dem neurotischen Regress heraus auf das zu schauen, was seine neurotische Selbstinszenierung zeigt, 452

Vgl. Ralf Bohn: Witz der Pathognostik. Zur nicht mehr ökonomischen Struktur von Erkenntnis. In: Christoph Weismüller (Hg.): Kontiguitäten. Texte-Festival für Rudolf Heinz. Wien 1997.

453 Weber,

tertium datur, a.a.O., S.219.

454

Und die schon in der Traumdeutung und in seinen metapsychologische Schriften formuliert wird.

455

Nunberg/Federn, Protokolle, a.a.O., S.96.

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den Verweis auf sich selbst, Einübung in Reflexion. Im 45. Protokoll kommt Freud noch einmal auf „sein eigentümliches Verhältnis zur Philosophie, deren abstrakte Art ihm so unsympathisch sei, daß er auf das Studium der Philosophie schließlich verzichtet habe“, zu sprechen.456 Mit dem Hinweis auf die Abstraktion (der um die Jahrhundertwende avisierten Abschließbarkeitshoffnung des Hilbert-Programms, das noch die Principia mathematica beherrscht) ist der Gegenbegriff zum szenisch-funktionalen Moment, das des Symbolischen angesprochen und natürlich die Unbildlichkeit.457 Adler konzipiert – wie die Diskussionen der Mittwochsprotokolle 1907 und 1908 zeigen – mit dem Verweis auf die Minderwertigkeit der Abstraktion die Auslegungstechnik der Psychoanalyse als einer Weise zu „schauen“. Das Schauen als Korrelat des Zeigens ist Divination im alten Sinne. Im Schauen wird der Blick, nicht das Gesehene thematisch. Die Mantiker, die Propheten, die Priester schauen die Zukunft, d.h., sie lesen und geben die Deutungsinitiativen als Rätselfragen und Probleme vor. Im Hinblick auf deren Unlösbarkeit sind sie so klug, keine Lösungen anzubieten, sondern die Interpretation denen zu überlassen, die sie als definitiv für ihre Handlungen einfordern. Denn eine Interpretation initiieren, heißt ,die Zukunft durch einen fingierten Ursprung hindurch zu bestimmen. „Er [Adler] glaube aber, daß es überhaupt keinen Dramatiker ohne minderwertigen Sehapparat geben könne: er schaffe ja im Gehirn die Szene und müsse sie so sehen, wie sie dann auf dem Theater wirklich aufgeführt werde.“458 Strukturell verstanden ist das Bewusstwerden der Urszene die Durcharbeitung, d.h. das Inszenieren des hermeneutischen Zirkels. Das Verstehen als Szenifikation selbst anschaulich zu machen, ist die spezifische Art des Wählens seiner selbst als „Selbstbewusstsein“. Wir haben es mit einer Produktion zu tun, die sich in der Selbstproduktion zugleich verweigert und exhibitioniert. Die Phantasieproduktion überlagert den Realbereich, sie wird „hysterisch-hystrionisches“ Spiel. Von dem, was Laplanche/Pontalis undifferenziert als „Bilder“, „Sequen­ zen“ bezeichnen – denn eine Reflexion kann nicht universalisieren, sie bedarf der Zeitlichkeit –, ist der Sprung in eine Entfaltung des Begriffs der Szene als einer Form der Selbstexplikation möglich. Laplanche/Pontalis beschränken sich auf die Frage der szenologischen Kompetenz. 456

Ebd., S.338.

457

Ebd.

458

Ebd., nach einem Beitrag Adlers, S.322.

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Konsequenzen: Obwohl das Subjekt in der Phantasie ständig präsent ist, kann es darin in einer entsubjektivierten Form vorkommen, d.h. in der Syntax der angesprochenen Sequenz selbst. Insofern als der Wunsch nicht bloßes Auftauchen des Triebes ist [und damit eine Transzendierung der „Instinkte“ als phylogenetische „Urphantasien“ – so Freud; R.B.], sondern im Satz der Phantasie artikuliert wird, ist dieser Satz der Ort, an dem die primitivsten Abwehroperationen ausgewählt werden, z.B. die Wendung gegen sich selbst, die Umkehrung ins Gegenteil, die Projektion, die Verleugnung. Diese Abwehrformen sind sogar unauflöslich an die erste Funktion der Phantasie gebunden – die Inszenierung des Wunsches –, wenn es denn zutrifft, dass der Wunsch selbst sich als Verbot herausbildet, dass der Konflikt Urkonflikt ist.459

Mithin greift die Winnicott’sche Konsequenz des Kulturfortschritts, Abwesenheit zuzulassen, wenn ein phantasmatischen Ersatz zu schaffen möglich ist: sich selbst im zuhandenen Ding filial sein eigener Vater und seine eigene Mutter sein können, denn die Phantasie ist an ihre eigene Ausbeutung gebunden. Der Abwehr des Indifferenzierungssogs wird durch die Verdinglichung (wider die drohende Zeit des Falls in den anorganischen Zustand) organisiert. Bei den „Abwehroperationen“ handelt es sich um solche der Szenifikation, also der zeitlichen und räumlichen Dissoziierung als Widerständigkeit von Körpern gegenüber dem Körper, aber auch als deren Erleichterung. Umkehrung, Projektion, Verleugnung, dass sind doch die Techniken des interpretativen Entwurfs der Deutungen zur fingierten Einholung eines Ursprung, der niemals Realität gewesen war, weil kein Autor sich jemals selbst versteht; wozu sollte er sich sonst an einen anderen wenden? „Was die Erkenntnis betrifft“, so Laplanche/Pontalis weiter, „wer denn die Inszenierung signiert, so dürfte der Psychoanalytiker bei der Entscheidung darüber sich nicht mehr nur allein auf die Hilfsmittel seiner Wissenschaft und auch nicht auf diejenigen des Mythos verlassen. Er müsste auch noch Philosoph werden.“460 Der kühne Angriff auf die Philosophieaversion Freuds durch Lacan ist als Angebot zu verstehen, sowohl die Logik des Satzes bis zu Wittgen459 460

Laplanche/Pontalis, Urphantasie, S.59.

Ebd., S.58f. Womit dann gerade die Fusion von Literatur (Kunst) und Wissenschaft auf einen gebrochenen Abwehrvorgang von Homosexualität in Philosophie referiert – und zwar als Selbstvergöttlichung, „Auto-Autorschaft“. Vgl. Laplanche/Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, a.a.O., S.367: „Wir weisen lediglich darauf hin, daß die Paranoia in ihren verschiedenen Wahnformen durch ihren Abwehrcharakter gegenüber der Homosexualität definiert wird.“ Das Basisphantasma der Hermeneutik beruht demgemäß auf die Eliminierung „böser Teilobjekte“ (des Anderen), so Laplanche/Pontalis in ihrem Artikel zum Begriff „Paranoia“, Melanie Klein zitierend.

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stein, – die Logik des Bildes, also der Sequentialität der Szene (chronometrisch, chronologisch, räumlich und atmosphärisch) – als auch die politischökonomischen Folgen zwischen Autoerotismus und Vergemeinschaftung betreffend der Fingierung „homosexuell-patriarchalischer“ Maschinen als Narrative weiter zu analysieren. Auszugehen ist nicht von konkreten Szenen, sondern vom psychoanalytischen Metadiskurs Alfred Lorenzers – und dann vom philosophischen Diskurs, sofern Versatzstücke einer Logik der Szene sich in ihr Niederschlagen. Vor allem interessiert uns nun vordringlich die Frage, was neben Wittgenstein und Austin unter „Szenifikation des Satzes“ und seiner funktionellen Struktur in den Narrativen szenografischer Strategien zu verstehen sei. Hier helfen uns die Arbeiten Ricœurs weiter. Ist die Struktur des Satzes identisch mit der Struktur der Szene? Wie begegnen wir einer Übersetzungsproblematik zwischen der Simultaneität von Sehen, Hören und Schauen, die sowohl in der Szene als auch in einem Text, jedoch hier in diachronen Ordnungen existiert? Der existenzialhermeneutische Aspekt, der daraus folgt, dass die Auslegung sich Sätzen als sinnvollen Einheiten und nicht Begriffen als Trägern von Bedeutungen zu widmen habe – mit der Konsequenz, dass die funktionalistischen Lesarten und Inszenierungen präferiert werden –, ist weiteres Thema. Schließlich wird eine Problematisierung und Dynamisierung des Aspektes Phantasiebild (Imagination) und Bild (Plötzlichkeit, Präsenz) gegenüber Szene und Satz (Autogenese, Autopoiesis) und endlich eine Logik der Vergemeinschaftung, also der wechselweisen Geltung illudischer und realer Phantasmen unter der Maßgabe der abwesenden Anwesenheit als Dritten, angeregt. Wir bleiben zuerst mit Ricœur im Diskurs der Philosophie, werden uns dann der anthropologischen Deutung der Vergemeinschaftung (dem Ritual als einer „Satzaussage“) und schließlich dem „Bild“ zuwenden.

c. Szenische Hermeneutik und Psychoanalyse Ich hatte bei der Darstellung Lorenzers in Bezug auf seine szenische Hermeneutik darauf verwiesen, dass die Grundstruktur des Satzes in der Sprachphilosophie bei Wilhelm von Humboldt als nicht allein bedeutungstragend aufgefasst wurde und nicht nur informationell identifiziert werden kann. Im Um- und Vorfeld der Untersuchungen Wittgensteins im Ausgang des

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Wiener Kreises461 in Anmahnung des Hilbert-Unternehmens462 der Vollständigkeit der Mathematik wurde der sprachliche Satz mehr und mehr im pragmatischen Kontext einer Sprechsituation gelesen, und nicht mehr auf Referenz dinglicher Zusammenhänge. Satz und Blick fallen demgemäß auseinander. Daraus leitet sich der für Lorenzer bestimmende Ausgangspunkt der Dilthey’schen Unterscheidung von Erklären und Verstehen ab. Ich will nun versuchen, die Ansätze Lorenzers so darzustellen, dass nicht der Verdacht aufkommt, wir handelten über eine exklusiv auf die freudomarxistische Psychoanalyse zu beziehende szenische Hermeneutik, in der Sätze durch Szenifikationen ersetzt werden könnten. Das Problem, das uns allenthalben begegnet, ist das der Unterscheidung von diachronen und synchronen Einheiten – wenn man will, ein Basisproblem jeder Musikalität. Es ist möglich, in Sätzen komplexe Beziehungen von Gleichzeitigkeiten zu formulieren, die ein Leser oder Zuhörer in imaginäre Szenifikationen verwandelt. Allerdings bieten sich für solche Darstellungen andere als textuelle respektive arbiträr (oder scheinarbiträr) codierte Formen an, z.B. die technische, an die Simultaneität der Echtzeit gekoppelte Vorführung des Films mit seinen Standardwiederholungen (24 Bilder pro Sekunde bei variabler Zeitmontage), sodass in diesem Fall besser von Medien als von Sprache gesprochen wird. Allein der Umstand, dass der Autor, anders als in der literarischen Analyse, in der szenischen Hermeneutik als zwischen- und selbstvermittelt – im Sinne der Sperrung des Selbst gedacht ist – kompliziert eine szenische Hermeneutik, macht sie aber auch zugleich einfacher, da man nach der Deutung des Films, nicht nach der Intention eines Autors fragt – es sei denn es handelt sich, wie bei Godard oder Hitchcock, um eine autorisierte Sprache. Will man sich der Deutung einer theatralen Szene überlassen, so wird man in der Inszenierung nur sekundär auf einen Autor verweisen können, kann jedoch dem Betrachter unterstellen, selbst der „erweiterte Autor“ zu sein. Somit ist man in dieser Situation stärker an die Beobachtung der Selbstdeutung gebunden als bei einem Text. Die Schwierigkeit liegt im Wesentlichen darin, nicht zu übersehen, dass die Ersetzung eine Verdrängung des Szenischen durch das 461 Vgl. Rainer Hegselmann: Otto Neurath – Empiristischer Aufklärer und Sozialreformer.

In: Otto Neurath: Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus. Frankfurt am Main 1979.

462 Die Problematik des Hilbert-Programms wird anschaulich in der Biografie Kurt Gödels, der schlicht die ‚Unabschließbarkeit‘ von Mathematik beweisen konnte und somit deren imaginative Fundierung. Vgl. Rebecca Goldstein: Kurt Gödel. Jahrhundertmathematiker und großer Entdecker. München 2006, S.123ff („Hilbert und die Formalisten“).

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Symbolische derart ist, dass das Symbolische sich unabhängig und variabel von der jeweiligen konkreten Handlungssituation machen kann und somit die Aktualität verdrängt, und zugleich auch repräsentiert, die sich szenisch aufführt. Es geht uns und Lorenzer eben um diesen Akt der Verdrängung, der die Lust an der Deutung entfacht, wobei „Deutung“ nicht für die Vervollständigung eines Mangels, sondern für die Rhythmisierung einer Struktur entscheidend ist, d.h. die Wiederherstellung einer Fort-Da-Struktur in einem ableitbaren Übergang, also der Dauer eines „Narrativs“ oder einer „Sinneinheit“. Es ist dialektisch davon auszugehen, dass es keine symbolische Darstellung ohne funktionale und keine funktionale ohne symbolische Darstellung gibt. Aufgabe der psychoanalytischen Hermeneutik ist es, nachzuweisen, dass auch die symbolischen, nicht nur die pragmatischen Situierungen des Analysanden durchsetzt sind von funktionalen Dispositionen, d.h. von Selbstinszenierungen. Es kommt also nicht nur auf den Sinn des Satzes an, sondern auch darauf, in welcher medialen Form er sich in die Praxis der Situativität einfügt. In diesem Zugeständnis, das aus der Methodik Freuds folgt, spricht Lorenzer per se jeder der von Wittgenstein als Sprachspiel bezeugten Satzhandlungen zwei Formen zu, die im Normalfall kohärent sind und die Normalverdrängung der Praxis des Gebrauchs der Sprache ausmachen, von der jeder zunächst wünscht, dass sie die Rationalität des Erklärens auszudrücken hat – z.B., wenn man einen Passanten nach einem Weg fragt. Fremdsprachige Passanten werden schon an der Frage erkennen, dass es besser ist, dem Fremden den Weg mittels Handzeichen zu erklären als mit Worten. Doch auch diese Handzeichen können signifikative Zeichen werden. Im Interaktionsraum der Kommunikation, wo es um die Vermittlung von imaginativen oder emotionalen Ereignissen geht, öffnet sich allerdings eine Lücke zwischen den Emotionen, die spontan von jedem verstanden werden und den Inszenierungen solcher Emotionen, die z.B. ein lange zurückliegendes Ereignis hervorruft. „Bewußte, eigener Reflexion zugängliche Aktivitäten werden durch Agiertwerden von situationsgebundenen ‚bestimmten Interaktionsformen‘ ersetzt.“463 An diesem Punkt steht der Analytiker vor der Wahl, die Interaktion entweder als eine aktuelle, einmalige Schilderung zu vernehmen oder sie als eine situierte Struktur aufzufassen, die sich permanent durch die Schilderungen des Analysanden zieht – als das, was wiederholt (inszeniert) werden muss, weil es sich nicht symbolisiert hat. Diese symptomhafte Privat463

Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion, a.a.O., S.34.

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sprache, ist oft durch ein Ereignis verursacht, das die Symbolisierung deshalb abwehren muss, damit es sich nicht auf alle Symbole psychotisch überträgt, die irgendwie mit dem Ereignis in struktureller Verbindung stehen und die aufgrund der Zeitstruktur auch nicht vergessen werden kann. Man kann Zeit nicht vergessen. Der Kranke macht aber nun genau dies: Er inszeniert die Ähnlichkeit der Szene in seiner Nachspielung und ersetzt im Falle z.B. der Objektphobien die Struktur durch ein Isolat (Symptom). So ist der Brückenphobiker von der Brücke, ja manchmal schon von dem Wort „Brücke“ auf die verdrängte, ursprüngliche Szene bezogen, die eine bedingte „ewige“ Präsenz haben muss, weil sie sich weder in einem Symbol noch in der real produzierten Brücke selbst abspalten lässt, wobei im Symbol die Signifikationsdifferenz selbst die durch die barre überbrückte Abspaltung latent hält, wie auch die Brücke nachgerade den Abgrund manifestiert, den sie überbrückt – denn die Brücke ist in ihrer notwendigen Kontinuierung immer auch die Strasse.464 Musils Satz von der Analogie als einer „Brücke ohne Widerlager“ zeigt als „absolute Metapher“ die Unmöglichkeit der Vermeidung des phobischen Objektes, Objekt, das der funktionalen Koordination von struktural bestimmten Orten dient, da der Phobiker sich ja irgendwie zu den Objekten (Platz, Höhe, Bewegung, Übergang, Entfernung) szenisch verhalten muss. Es ist dieses „Verhalten zu“, das als temporale Struktur gestört ist – als Übergang – und nicht das Objekt selbst. Man darf behaupten, dass der ethnologisch fundierte Strukturalismus genau diese Positionsbestimmungen und -relationen im Verhalten der Menschen aufgefunden und schematisiert hat, womit er sich selbst zu einem funktionalen Schema des Gegenstandes macht, den er behandelt. Denn das Subjekt, so Lacan, das ist das, was an seinem Platz fehlt – das keinen Platz hat. In der Phobie gibt sich ein Verhältnis von Sinnenkoordination und Architektur im weitesten Sinne kund. Der Analytiker hat nun die gleiche Aufgabe wie jeder Hermeneut. Es gilt das, was im „Satz“ respektive in der strukturalsemiologischen Übersetzung im Zeichen sich funktional ausdrückt, zu individuieren und zu zeigen, dass der Wiederholungszwang (Symptomatik der Eigenzeit) sich nicht auf die Struktur der Situativität, sondern auf die szenische Interpretation derselben bezieht. Dann nämlich wird verstanden, dass das traumatische Ereignis grundsätzlich auch einer anderen Bedeutungszuweisung („Übertragung“) fähig ist, die in der talking cure diachron entzerrt wird. Denn Erzählungen sind – wie Architektur – semantisch verdinglichte Zeit. Wenn es sich nicht um 464 Vgl.

Heinz, Hinführung zu einer Psychoanalyse der Sachen, a.a.O., S.45ff.

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ein reales Ereignis handelt, das die Desymbolisierung ausgelöst hat, ist solches im Setting zu inszenieren. Lorenzer geht es, anders als Freud, nicht um die Resozialisierungsfunktion der Analyse, sondern um die Anerkennung der Individuation der Deutung. Lorenzer unterscheidet wie folgt: Das Verstehen der sinnvollen Realität ist gleichbedeutend mit der Fähigkeit, die Beziehungssituation der Subjekte zu ihren Objekten und die Interaktionen der Subjekte zu verstehen. Richtet sich das „Nacherleben“ auf die Vorgänge im Subjekt, so sucht es die Realität der Subjekte zu erfassen; beschäftigt sich das lo­gische Verstehen mit den irrealen Sinngebilden, mit den „objektiven Werten“, so wendet sich das hier beschriebene Verstehen der Interaktion der Subjekte mit ihrer Mitwelt und Umwelt zu.465

Im Verstehen eines Interaktionsmusters aus verschiedenen Szenen, die ganz unterschiedliche „Rollenbedeutung“466 haben können, gilt es die situative Identität abzuleiten, und zwar progressiv im Verlauf der Darstellung der Szene und regressiv nachträglich aus der emergierenden Gesamtheit der Szenen. Im Roman ist das sicherlich einfacher als in der heterogenen psychoanalytischen Kur. Aber der Nouveau Roman hat gezeigt, dass die Interaktion gerade aus der Heterogenität als psychischer Geschichte und nicht als linear narrative Geschichte abzuleiten ist. Für jedermann war das plötzlich bewusst, als Godard in Außer Atem (Frankreich 1959) die Konventionen des Schnitts und der Anschlüsse befreite.467 Die Nachträglichkeit der Erklärung (dass es sich nicht um eine fehlerhafte, ungeschickte Montage handelt) verlangt jedoch die Progressivität einer ersten Annahme, eines Vorurteils als spontanem Verstehen, „die Notwendigkeit, dort eine Situation sogar künstlich zu inszenieren, wo eine Lücke im Erinnern des Patienten klafft.“468 Umgekehrt gilt für die inszenatorische Praxis, dass sie dort ihren Ort findet, wo die symbolischen Strukturen sich als unfähig erweisen, ihre eigene Referenz aus der Praxis anders als genetisch nachzuvollziehen. Dafür sollte der Begriff der Inszenierung einstehen. Lorenzer bezeichnet den Prozess (Performativität) als sinngebend und unterscheidet nicht zwischen Präsenz und 465

Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion, a.a.O., S.141.

466

Ebd., S.155.

467 Jean-Luc Godards Schachzug war alles andere als improvisiert, sondern von dem Wunsch

getragen, den industriellen Fertigungssprozess eines „Kinos der Qualität“ zu individuieren und Denormierungen gerade als Signifikanten künstlerischer Freiheit sowohl zu markieren als auch zu ironisieren respektive sie als Stilzitate zu entlarven.

468

Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion, a.a.O., S.190.

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Repräsentation der Sinnelemente, bezieht sich aber eben auf dieses paradoxe Phänomen der Gleichzeitigkeit als eines der Selbstbeziehung. Weil Lorenzer den Begriff „Performativität“ nicht gebraucht, kann er die differentiellen Momente der szenischen Hermeneutik womöglich genauer bestimmen als Austin. Denn die symbolischen Strukturen müssten sich selbst desymbolisieren, um den Ort anzugeben, dem sie sich verdanken, nämlich der szenischen Bewegung psychischer Kinese, die sich unentwegt entzieht, wenn man sie verdinglicht und determiniert – dadurch, dass man das Symbol zum Zeichen einer (sozial) geronnenen Wiederholung ansehen muss. „Singuläre und privative Konventionen“ (ein paradoxer Begriff ) irritieren dagegen den Sinn. Doch gehen wir die Stationen von Lorenzer Schritt für Schritt durch. Sie enthüllen nämlich einige systematische Vorgänge, die in den klassischen Hermeneutiken unterschlagen werden, ohne dass wir von Lorenzer verlangen dürfen, dass er uns eine philosophisch ausgearbeitete Hermeneutik vorlegt. Wir werden danach aber auch zeigen müssen, dass bei ihm der Produktionskontext, auf den die „Wahrheit der Szene“ verweist, also das inversiv-reflexive Tauschmoment der Deutungsamplitude, ausgespart bleibt, weil dies sich eben nicht auf einen Defekt der Symbolisierung zurückführen lässt, sondern, streng gesagt, auf die logische Ambiguität des Selbst, Synchronitäten in Diachronitäten zu überführen, um, wie Winnicott sagen würde, auch mittels genetischer Analyse und Synthese (Lesen) in den Besitz der Zeichenbedeutungen zu kommen. Das Symptom, als das, was nicht täuscht – so hat Lacan formuliert –, was zeigt und nicht bedeutet, deckt nämlich genau das auf, was in der Pragmatik der Gesellschaft zugunsten ihres technischen Funktionierens im Symbolischen ausgespart bleiben soll, nämlich die Frage, wie denn überhaupt Gesellschaft funktioniert, da die Brücke kein Widerlager hat, weil es den großen Beobachter, die eindeutige Autorschaft nicht gibt. Es ist die Praxis, nicht der aufzufindende Brief, der in der berühmten Interpretation Lacans von der Erzählung Poes völlig offen vor aller Augen liegt respektive der Blick, der in den Dingen als Begehren des anderen aufscheint.469 Und dieses Begehren, solange es sich szenifizieren und manipulieren lässt, kann nicht symptomatisch sein: Es täuscht, im Gegensatz zur Angst, von der Lacan sagt: Sie ist das, was nicht täuschen kann. Die Vergesellschaftung im Verstehen birgt die Möglichkeit der Freiheit (Spielraum und relative Dauer, Übergangsphänomene) vom und zum 469 Vgl.

Jacques Lacan: Schriften 1. Frankfurt am Main 1975. Lacan bezieht sich auf die Interpretation einer Erzählung von Edgar Allen Poe mit dem Titel Der entwendete Brief.

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anderen. Nun, das glaubt der Analysand erst einmal nicht, hat er doch in seiner Störung erfahren, dass die Latenz des Vertrauens zum anderen ebenfalls nur eine fingierte sein kann, sodass die Selbstresonanz der projektiven Identifikationen sich strategisch im Körper selbst paradox verhält als Symptom. Es ist die Latenzform des Deutungsvertrauens (also die Übergangszeit des Vertrauens, der Reziprozität), die bei Lorenzer als Baustein einer allgemeinen szenischen Hermeneutik fehlt, die aber genau das ausmacht, was die psychoanalytische Redekur versucht: die Narration wieder herzustellen. Zunächst geht Lorenzer davon aus – das ist psychoanalytisch einschlägig –, dass der „Verstehensprozess“ und nicht die „erklärenden Operationen“ im Setting dominieren.470 Dennoch gilt es naturgemäß auch, Informationen zu sammeln, bis sich ein Muster der Interaktion herausbilden kann. Man muss validieren, auch intuitiv. Lorenzer bemüht den Humboldt’schen Begriff des gegenseitigen Stimmens eines „geistigen Instruments“, das nicht zunächst auf die „Faktizität“ des Mitgeteilten zielt.471 Denn das, was der Analysand sagt, stellt sich gerade nur in der defizitären Symbolrealität dar, nämlich in der Pragmatik und Interaktion, und kann ad hoc zwar identifiziert, nicht aber in seiner Zeitstruktur verstanden werden, so wie man eine Gleichung mit Variablen zwar identifizieren kann, aber die Variablen durch Zahlen austauschen muss, um sie zu lösen. Dennoch ist im Sinne der Verschiebungen und Verdichtungen die Rücksicht auf Darstellbarkeit gewährt, sonst macht eine auf Sprache basierende Therapie keinen Sinn. Man kann sagen, der Analysand inszeniere sein Sprechen, aber man achte nicht auf die Aufführungen, sondern auf das je ihnen Gemeinsame der Inszenierung, auf das, was Lorenzer die „Situation“ nennt, also das Handlungsmuster der konstellativen Rollenelemente oder -figuren. Auch die sind nicht willkürlich, sondern figurieren in bestimmten Gesten und symptomatischen Darstellungen und Rhetoriken. Man einigt sich, während man im Symbolischen die Aussagen sich vollziehen lässt, auf eine Handlungskommunikation, die von der Desymbolisierung unbeeinträchtigt ist, aber die Frage aufwirft, ob nicht die Übertragung als Praxis nicht genau das ist, was in der Sprache nicht zum Ausdruck kommt, auf die man die talking cure beschränkt. „Das Unbewußte ist aber das von solchem Verstehen ausgesperrte, weil es außerhalb der symbolischen Kommunikation geraten ist.“472 Lorenzer erwähnt nicht, dass das 470

Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion, a.a.O., S.77.

471 Ebd., S.87, mit Hinweis auf Wilhelm von Humboldt, Akademieausgabe Bd. VII, I, S.169f. 472

Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion, a.a..O., S.104.

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Unbewusste als Dinge und Zeichen in deren Gebrauchsfunktionalität schon einmal ausgesperrt worden war, als das, was ängstigt, weil es sich prinzipiell, aporetisch der vollständigen Symbolisierung entzieht. Hier ist der Einsatzort für Sartres Thematisierung einer Psychoanalyse der Sachen zu sehen. Die Dinge müssen als Gegebenheit eines unlösbaren Konflikts (Todestrieb statt Ödipus) a priori konzediert werden. Dass sie nicht jeweils nur diese Krise vor Augen führen, ist ihrer gebrauchsmäßigen Zurichtung und ihrer Statik (Gestell) zu verdanken, mit der sie gleichzeitig die Räume bilden, die sie bewohnen. So ist jedes Ding in seinem Gebrauch die stillgestellte Situativität eines Problems oder Mangels. Es genügt nicht, sich über die „Normalität“ als hinwegerklärte Opferbeseitigung so zu verständigen, wie Freud das in einem Aphorismus behauptet: Die bürgerliche Hexis verstünde sich von selbst. Statt der so unheimlichen, passageren Übergangsobjekte der Symbole und dessen, was man als „Mediatisierung“ bezeichnet, retten den Bestand des Vertrauens doch allererst die Dinge, die in der gesellschaftlichen Konvention des Gebrauchs sich als verlässlich erweisen und aus der privativen Realität eine gemeinschaftliche machen.473 Als solche aber versammeln sie sich synchron als Praxis von der gerade der diachrone Charakter der lebensweltlichen Aufarbeitung einerseits befreit (im „Sinn“ kommen die Dinge desituativ in Bewegung), andererseits im Zwangscharakter der symptomatisierten Wiederholung (Narrative oder Mythen) ritualisiert werden. Der Zwang ist demnach die Reaktion auf eine im Körper verbleibende Produktion, die nicht vergesellschaftet disponiert werden kann, weil die reale Stelle schon funktional durch überwertige Dinge besetzt ist. Die Identität dieser doppelten Besetzung deckt aber die Wahrheit der Realität als Widerspruch auf. So wird das Unbewusste zum Reservoir der Binnenverdinglichungsaufhebung: „Einzig das Ich darf als eine formgebende, symbolbildende Instanz gelten, während umgekehrt die Funktion des ubw [Unbewussten; R.B.] als eines Reservoirs an reizaktivem, noch nicht oder nicht mehr 473 Heinz, Hinführung zu einer Psychoanalyse der Sachen, a.a.O., S.56f. Wir werden nicht weiter auf das avancierte Konzept von Heinz eingehen, das tatsächlich in vielfachen Publikationen den Zusammenhang mit der Realproduktion plausibel machen kann, insbesondere warum der Symptomzusammenhang stets die defizitäre Strategie der gesellschaftlichen Produktion, also ihre Möglichkeit der Verdeckungsinszenierung des Todes aufdecken muss – wider die fehlende Alternative nach einer Erlösung in gerechter Produktion gar deren Überantwortung an ein Maschinenwesen. Es nützt nicht, in einer revolutionären Attitüde entweder den Besitz zu vergesellschaften oder die Dinge und Institutionen zu zerschlagen, die ja schon gemacht sind, um die Gewalt wegzusperren und zu verwesen, was den einzigartigen Erfolg jeder Bürokratie ausmacht.

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bewußtseinsfähigem Material aufzufassen ist.“474 Diese verbleibt aber nicht im Innen, sondern vergesellschaftet sich erneut – und zwar in den Fiktionen, unter denen Medien Möglichkeiten evaluieren und Dinglichkeiten fingieren. Dieses Material, die Widersprüche der Dinglichkeiten, erschließt sich dann in einer wirksamen szenischen Hermeneutik als nicht so entmaterialisiert (traumhaft und gespenstisch) wie gedacht. Sie sind unter Opfern produziert und opfern sich dem Gebrauch. Gebrauchen heißt aber auch, sie zu verstehen als szenische Konfigurationen. Deuten ist also eine Form des Gebrauchens solcher Dinge, die mehrere, auch widersprechende Gebrauchsmöglichkeiten zulassen, weil sie abstrakt, arbiträr oder desituiert erscheinen. Das klingt bei Lorenzer noch etwas altbacken: „Die Triebbesetzungen spielen sich in Symbolen ab.“475 „Die bewußten Repräsentanzen haben den Charakter von Symbolen, die unbewußten Repräsentanzen sind dagegen nicht symbolische Strukturen. Ich habe vorgeschlagen, sie in Anlehnung an eine Freud’sche Formulierung ‚Klischee‘ zu nennen.“476 Unter „Klischee“ ist die nicht unabhängig von der Realsituation evozierte Auslösung durch ein „szenisches Arrangement“ zu verstehen, also eine Interaktion zwischen einer ursprünglichen Situation und einer zwanghaften Inszenierungsform derselben. Die erweist sich als verbindendes Element: Denn das Klischee kann, anders als das Symbol, nicht deplatziert oder dekontextualisiert erscheinen. Das Symbol referiert einen wählbaren Handlungsvollzug, das Klischee ein Reaktion/ Emotion. Die Auflösung der als Situation gegebenen Interaktionsfigur ergibt sich als die innigste Verbindung von Maske und Gesicht. Im Klischee werden Präsenzen desituierbar. „Wenn die Repräsentanz des Liebesobjektes desymbolisiert wird, trifft dasselbe Schicksal die korrespondierende Stelle der Selbstrepräsentanz, die ja der dem Objekt korrespondierende Anteil der Szene ist.“477 Zu Zeiten der Hysteriker(innen) Charcots hätte man gesagt, sie agieren das als Schauobjekte nach, was ihnen als Objekt fehlt, das heißt, sie verstehen, ohne sich symbolisch artikulieren zu müssen, indem sie den Blick des anderen Affizieren. Entsprechend stellt Lorenzer fest – und wir begegnen dieser Funktionalisierung in allen Aufführungen – „[M]it dem Übertritt der Symbole zu Klischees wird der gestisch funktionale Anteil“ verstärkt. [...] „Umgekehrt entschwindet bei zunehmender ‚Vergegenständ474

Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion, a.a..O., S.111.

475

Ebd., S.112.

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Ebd., S.113.

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Ebd., S.119.

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lichung‘ im Bereich der Zeichen der ‚szenische‘ oder ‚situative‘ Anteil der Objektrepräsentanzen weitgehend (oder ganz).“478 So wird jede Szenifikation zu einer dualen Form eines in sich medial durch die Produktionsökonomie und deren zyklischen Konsum vermittelten syndromischen Ausdruck eines Spiels mit der Verdinglichung namens „Makroökonomie“. In der Makroökonomie sind aber die Genesen Klischees: Sie basieren auf Reproduktion, Wiederholung des Immergleichen, d.h.,, der Inszenierungsaufwand ist minimal. Er setzt nur dort an, wo in der Reklame die Verheißung des „neu“ wider die Produktion als fingierte Genese intoniert werden muss. Man braucht nämlich nicht zu inszenieren, wenn sich die Dinge – und eher noch: die Symbole – als verlässliche Repräsentanzen einer gesellschaftlich kontraktierten Bedeutung erweisen, oder die Realitätsmächte der Handlungen sie dazu befehlen. Der Witz daran ist, dass die Funktionalisierung selbst sich als eine mythische Spur der Verdinglichung erweist in der die „Desymbolisierung plus totale Inszenierung“479 zu einer Fetischisierung der immer gleichen Praktiken führt, die das unaushaltbare System der Ver- und Entdinglichung, von Produktion und Konsumation, von Indifferenzierung und Differenzierung stabilisieren und in der Regel von Angst befreien, nämlich von der Angst matriarchaler Produktion, den Schicksalsmächten kontingent gedachter Natur. Die auf die (patriarchalische) Dingproduktion abgehobene Auslegung des psychoanalytischen Kontextes Lorenzers lässt sich bruchlos ableiten. Lorenzer macht (vor allem im Vorwort von Sprachzerstörung und Rekonstruktion) daraus keinen Hehl, wenn er die „Szene“ mit „gesell­schaft­licher Handlung“ gleichsetzt.480 „Szene“ ist die Vorform rettender (inszenierter) und sich aufhebender (aufführender) Dingproduktion im Handlungsdrama, das grundsätzlich aufgrund der aporetischen Struktur der Subjektgenese nicht verdinglicht werden kann. Wie werden denn ursprünglich die Dinge hergestellt? Im Wesentlichen durch mechanische Wiederholung (homosexuelle Onanie) handwerklicher Gesten, die mühsam mit immer gleichen Schlägen einen Stein bearbeiten und deren Rhythmus sich bis in die Stoßkraft der Dampfhämmer erhalten hat: theatrum mundi als theatrum machinarum. Nun ist die Pointe dieser Produktionsform im herkömmlichen hermeneutischen Anspruch, dass man glauben soll, die Vorgänge des Verstehens seien selbst in einer solchen, 478

Ebd., S.121.

479

Ebd., S.122.

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Ebd.

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allmählichen Annäherung der Pro- und Regressionen, des einholenden Entwurfs zu interpretieren. Dagegen steht aber das Moment der Inversion, das im Verstehen stets den anderen als den Sich-selbst-Unverständlichen setzen muss. Und dieser andere, wie das Fremde überhaupt, geht in der Medienglobalisierung verloren und sucht uns als Krise der Ökonomie wieder heim. Und selbstverständlich kann der Fremde auch ein Ding sein, dessen Gebrauch sich mir nicht erschließt, dessen empirische Genese verborgen ist. Sonst wäre „Verstehen“ ein rationalisierbarer Akt, der über informationelle Programme läuft – Heideggers Vision einer zur Kybernetik deformierten Philosophie. Die Frage darf gestellt sein, ob es überhaupt ein reines szenisches Verstehen geben kann, oder ob nicht insgeheim in der Inszenierung eines Festes beispielsweise das Verstehen gerade in der Szenifikation ausgeklammert werden kann, da es um das Spiel einer möglichen Verdrängung des Verstehens und seiner Widersprüchlichkeit geht, wenn nicht die Inszenierung Sinn aus dem Einspruch des Einzelnen der gefügten Gemeinschaft schlagen muss. Das heißt, man kann an einem Ritual beteiligt sein, ohne es verstehen zu müssen. Will ich es aber verstehen, so verweigert es sich mir als eine Sache, von der die Ableitung verloren gegangen ist, also als eine willkürliche, matriarchalische Produktion. Gerade das Fest entsteht nur unter der Vorverständigung von Einheit und lässt das Fremde (den unheimlichen Gast) nicht zu. Dass in der Psychoanalyse die Individuierung des Analysanden goutiert werden muss, ist evident. Aber was erzwingt seine Integrierbarkeit? Könnte es nicht genügen, die Privation der Interaktionen zu professionalisieren – auch wenn das in Geniekult oder Artistik münden sollte? Nun, das ist eben der Plot der arbeitsteiligen Gesellschaft, gegossen in die Toleranz demokratischer Strukturen: Die Funktionalisierung des Politischen als Gesellschaftlichem, die individualisierte Inszenierungsform als Beruf und als Besitzform in der Intimität des Privaten – beides sind vergesellschaftete „Pathologien“ dieser einen Großparadoxie der Unabschließbarkeit des Selbst. Die Unterscheidung von „logischem Verstehen“ und psychologischem Verstehen beruht bei Lorenzer im Kern auf einer Abstraktion der Zeitlichkeit der Situation. Aus der Ereignisform (der ursprünglichen Szene) kann so eine Erlebnisform angeeignet werden.481 Die szenische Hermeneutik zielt nicht auf die objektiven, überzeitlichen Strukturen in ihrer Variation (also auf die Ewigkeit der Aufführung, den Besitz als Ding), sondern auf das privative inszenatorische Konzept (respektive Verhalten), den Besitz 481

Ebd., S.140.

378

als Körpermemoria. Es gilt nicht den allgemeinen, sondern den individuellen Sinn, – jedoch in allgemeiner Struktur (Interaktionsform) – zu erfassen. Dabei spielt es keine Rolle, auf welche Weise die Privation oder Individualität erfolgt: neurotisch, genialisch, professionalisiert, abstrakt. Lorenzer gebraucht für diese Individuation den Terminus „Privatsprache“. D.h. eine solche Sprache, die sich irgendwie aus der Praxis des freien Gebrauchs her einem anderen Zwang verschreibt; die immer nur relative Privatsprache ist; eine solche, die dann gelegentlich der Neurose oder einer Verhaltensstörungen in der Praxis zur Gebrauchsverweigerung (Angst)482 führt. Das „psychologische Verstehen“ grenzt sich allerdings noch einmal von dem szenischen Verstehen ab, dadurch, dass ersteres sich auf die „realen Abläufe im Subjekt konzentriert“, während sich das „szenische Verstehen“ als dritter Modus „mit den Vorstellungen des Subjektes“ beschäftigt, „und zwar so, daß es die Vorstellung als Realisierung von Beziehungen, als Inszenierung der Interaktionsmuster ansieht.“483 Logisches, psychologisches und szenisches Verstehen stehen nicht in einem Meta-Verhältnis, sondern formieren sich ineinander als Artikulationen, die symbolisch, desymbolisiert oder gestisch erfolgen, wobei man zwischen der funktionalen und der symbolischen Darstellung und Lesart weiterhin unterscheiden muss. Wichtig bleibt, dass die jeweilige Präferenz des Beobachters, wenn kein Zwangsverhältnis vorliegt, von beiden Partnern des Dialoges oder von den Teilnehmern einer Gruppe inszeniert werden kann. Die Inszenierung bestimmt das Deutungsverhältnis und keinesfalls nur die Zeichen, die ausgetauscht werden. Vom psychoanalytischen Setting ist bekannt, dass auf eine größtmögliche Freiheit der „Sprachspiele“ wert gelegt wird. Allerdings hat, der Analytiker ebenso wie der Hermeneut, anders als der unbedarfte Theaterbesucher stets mit einem Fundus an widerständigen „Erwartungsmustern“ umzugehen, in der die Szene sich im aktualen Bild der Praxis nicht neutralisiert. Im Falle der Rollen des Analysanden spricht Lorenzer etwa im Sinne von Goffman von einem „Lebensspiel“, dessen Rol482

Heinz, Hinführung zu einer Psychoanalyse der Sachen, a.a.O., S.56. Heinz spricht durchweg von „Gebrauchsstreik“. Nicht aber, weil man die Dinge etwa in der Phobie nicht zu gebrauchen wüsste, sondern weil es aufgrund der arbeitsteiligen Form und der Trennung von Herstellung und Gebrauch unmöglich ist, die Vermittlung derselben tatsächlich zu verstehen. Man bleibt durchweg auf symbolische Verweisungen angewiesen, insbesondere auch im sozialen Umgang, traut ihnen aber nicht, weil sie fingiert die Probleme nur immer weiter aufschieben, statt von ihrer Unlösbarkeit zu künden. Es gilt, um es anthropologisch zu sagen, sie in kleine Stücke zu hacken und zu kochen, damit sie konsumierbar werden.

483

Lorenzer, Sprachzerstörung und Rekonstruktion, a.a.O., S.142.

379

lenverhalten herausgearbeitet und dessen individueller „Stil“ auf eine spezifische ursprüngliche Szene führt.484 Es stellt sich dabei die Frage, ob diese ursprüngliche Szene in der Biografie des Subjekts ein Ereignis darstellt oder eine abweichende temporale Organisation. In der Biografie des Wolfsmannes kann man ablesen, dass es die gesellschaftliche Unangemessenheiten von Geld, Zeit und Arbeit sind, die in gewisser Weise die persönlichen Krisen des „Milliardärs“ begünstigen, andererseits aber die in den Dingen und Institutionen verdichtete und verschobene Gewalt flüssig und konsumierbar halten. Wenn Geld keinen Tauschrhythmus zur Arbeit mehr darstellt, können sich die Werte kaskadenartig so verschieben, dass die psychotischen Komponenten um so zwanghafter auf einen Autor drängen, der sie befehligt. Es fällt auf, dass die Kapitalkrise sich bei Lorenzer nur auf der Ebene der „ansteigenden Entleerung der Bedeutungen“485 manifestiert, obwohl in der analytischen Therapieindustrie auch Geld getauscht wird und die Investition in Arbeit zirkulär ausgefeilt ist, z.B. in die Übergänge von: Situation (Datum) > Klischee (Szene) > Symbol > Zeichen > Ding/Produkt < Geste < Inszenierung < Spiel < Praxis Der Ablauf der Entleerung ist zwar ökonomisch durch eine ansteigende Verlebendigung bis hin zur freien Praxis in seinem ganzen Formenschatz denkbar, aber die Amplitude der mit ihr verbundenen drei Deutungsmodi greift in keiner Weise auf die ontischen Entitäten zurück. Zeichentheoretisch lassen sich die Abstraktionen in Begriffe überführen, auf der Ebene der materialisierten Praxis muss aber doch gefragt werden, welche Entleerung bei Lorenzer vorgeht. So heißt es doch in seiner Vorrede: „Die hier anvisierte Metatheorie der Psychoanalyse überschreitet das Terrain der psychoanalytischen Theorie in Richtung auf historisch-materialistische Gesellschaftstheorie.“486 Den Ansatz dafür sieht er darin, dass er dem rein sprachlichen Vorgang eine Ebene der makroproduktiven Interaktionsformen unterlegt, diese aber zugleich nicht als Materialisierungen, sondern als psychologische, intersubjektive Vermittlungen aufbaut, ohne zu sehen, dass die Problematik der Vermittlungen in den Dingen als eindeutigem Gebrauch festgelegt worden sind – gerade auch dort, wo man Medien benutzt. Ist das 484

Ebd., S.169. Lorenzer spricht von der „Rekonstruktion des „Originalvorfalls“.“

485

Ebd., S.119.

486

Ebd., S.8.

380

nicht auch ein Fehler der Inszenierungswut, die Dinge gegen ihre Attrappen zu tauschen, um gerade der Widerständigkeit der Dinge als Wiederkehr des Verdrängten aus dem Wege zu gehen? Vor dieser Konsequenz macht Lorenzer halt: Die Wiederkehr des Verdrängten zwingt den Patienten, in immer gleicher Weise szenisch zu agieren. Der Patient agiert in Szenen mit dem gleichen dramatischen Muster, demselben dramatischen Entwurf in tausenderlei Verkleidungen. Die Bedeutungen der sich immer wiederholenden, in ihrer Art und Struktur gleichbleibenden Szenen zu erfassen, ist, wie wir sahen, Aufgabe des szenischen Verstehens.487

Das hört sich doch schon an wie die spätindustrielle Schmiede der Verdinglichung mit ihren immer gleichen Hammerschlägen: Nur, die Verdinglichung geht hier selbst in das gesellschaftliche Symptom über, manifestiert in sich den terroristischen Gebrauchsstreiks. Ein wenig weiter im Herstellungsprozess werden Inszenierungen als Design zu Verdeckungshülle nn eines bis zur völligen Erklärbarkeit differenzierten elektronischen Gadgets, dessen reale Genese völlig hinter den wenigen Zeichenoperationen verborgen bleibt. Dabei hat z.B. das Spiel mit einem Handy die gleiche Funktion, die früher das Rauchen einer Zigarette hatte: Die Selbstvernichtung von Objektivität. Designinszenierungen sind kein ästhetisches Additiv, es soll die (ideale) Lesbarkeit und Gebrauchsfähigkeit erhalten und, künstlerisch prämiert, die Intervention in den Gebrauch als gesellschaftliche Form des legitimen Gebrauchsstreiks disziplinieren und zugleich differenzieren. Indem die Designinszenierungen vornehmlich aisthetisch prozedieren, differenzieren sie, was um der technisch-industriellen Produktion willen unterhalb der sinnlichen Schwelle identisch ist: Sinnlichkeit ersetzt Sinn.488 Dass sich der Eisenbau der vorletzten Jahrhundertwende im Funktionalismus vom Ornament befreite, um sich als zweite Natur, mit dem Jugendstil zu amalgamieren, zeigt, dass Produktionsform und Gestaltung sich noch in einer letzten grotesken Geste symbolisch verkleiden können. Die Differenz von Identifizierung und Differenzierung macht es in der Moderne notwendig, die Inszenierung als einen eigenen Bereich der Produktion zu etablieren, 487

Ebd., S.200.

488 Jochen Hörisch: Der Sinn der Sinne. Eine Geschichte der Medien. Frankfurt am Main

2001. „Die leitende These der vorliegenden Mediengeschichte lautet: die im Bann von Stimme und Schrift stehende frühe Mediengeschichte ist sinnzentriert, die neuere Medientechnik fokussiert hingegen unsere Aufmerksamkeit immer stärker auf die Sinne.“ (S.14)

381

der ebenfalls – insbesondere medientechnisch – so komplex geworden ist, dass man ihn im Making of wiederum eigens reinszeniert. Inszenierungen leisten nun beides: Sie werden zu Stellschrauben einer sich selbst nicht mehr erklärenden Produktivorganisation und repräsentieren in einer globalisierten Mediengesellschaft parallele Präsenzsysteme simultan. Lorenzer hat doch wenigstens angedeutet – und ich habe das zu verstärken versucht –, wie problematisch eine literarische Hermeneutik gegenüber einer existentiellen ist, wenn sie sich nur auf Bedeutungen und nicht auf Elementarperioden vom Typ „Satz“ oder „Szene“ konzentriert. d. Drei Fragen an die Rhetorik Freuds Paul Ricœur ist der Ansicht, dass Freud eine „‚Ökonomie der Verneinung‘ einer ‚Dialektik‘ der Wahrheit und Gewißheit“ entgegensetzt.489 Stets wird der frühe Freud das Unbewusste, den Instinkt, die Vorzeit, den Trieb und die Nachträglichkeit als Momente dieser Negationen einer Ursache in einer Szene wiederfinden, die durch die Situativität, die es zu rekonstruieren gilt, verdeckt, vergessen oder verdrängt worden war. „Im Zeitraum zwischen dem ‚Finden‘ und dem ‚Wiederfinden‘ liegt die Funktion der Verneinung“; so schließt Ricœur indirekt an die Position Winnicotts an, „die jedes, auch das positive Urteil besitzt; die Vorstellung ist in der Tat keine unmittelbare Vorstellung von den Dingen, sondern eine Reproduktion, die nicht mehr vorhandene Dinge wieder gegenwärtig macht.“490 Das lässt sich auch umkehren: Die Dinge besetzen die durch sie erfüllten Energien des Wunsches. Da aber das Urteil über Realität und Vorstellung nicht a priori aus der Gespaltenheit von Wunsch und Wirklichkeit gefolgert werden kann, muss in der „Urszene“ eine Urspaltung vorausgesetzt sein, die die Gleichförmigkeit der „Sätze“ der Phantasieproduktion unter einem Mangel an Wirklichkeit betrachtet, weil dieses Verhältnis inversiv tauschbar ist, was Inversionsfiguren demonstrieren können.491 Weil jedes Medium selbst kritischer Inhalt sein kann – die Dinge 489 Paul Ricœur: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud. Frankfurt am Main 1974, S.325. 490 Ebd., S.324; Ricœur bezieht sich hier auf Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. 491 Vgl. Bohn, Technikträume und Traumtechniken, a.a.O., S.214ff. Zu Inversionsfiguren

im Zusammenhang mit szenografischen Interaktionen ausgehend von Wittgenstein vgl. Birgit Wiens: Theaterszenografie, ‚Phänomenotechnik‘ und die Multimodalität räumlichen Wahrnehmens. Am Beispiel von Gisèle Viennes Projekt This is how you will disappear. In: Ralf Bohn / Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung der Stadt. Urbanität als Ereignis. Szenografie & Szenologie Bd.6. Bielefeld 2012.

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aus den Wünschen erarbeitet und die Wünsche aus dem Mangel entworfen und fingiert werden müssen – gibt es eine Allianz der Macht, die das Urteil der Hierarchisierung des Signifikanten moderiert. Die Szene wird zur Fabrik der „Wunschmaschine“.492 Der Satz ist ihr grammatologisches Relikt. Die Rede vom Satz als Urteil/Produkt des Sinns und schließlich die Dialektik der Realität sind die äußersten Pole der Ordnung szenischer Disposition. Damit entscheidet sich Ricœur gegen die Tendenzen der Politik Freuds, der noch zur Zeit der Abfassung des Wolfsmann der Psychoanalyse ein reales und kein symbolisch-hermeneutisches Fundament hat geben wollen. Erst Lacan wird die Einbindung Freuds in den Strukturalismus seiner Zeit einholen können. Ricœur hat bezüglich der Urspaltung der psychoanalytisch relevanten Ereignisse in seiner Interpretation vor allem der frühen Schriften Freuds drei wichtige Fragen gestellt, die hinsichtlich der Analogie der Satzstruktur der Szene von Bedeutung sind, denn die Negation des Satzes bestimmt sich, wie Adorno formuliert hat, wesentlich vom Punkt493, vom Ende her, nachträglich, verstärkt durch die oft irritierende Eigentümlichkeit, dass im Deutschen das Verb an das Ende des Satzes gestellt wird. Damit wird der Satz zu einem vollständigen Zirkel der hermeneutischen Bewegung und mit der szenologischen Ökologie gleichgesetzt. Das Subjekt muss fingiert gesetzt werden, damit von dessen Ende her das Motiv der Setzung aufgehoben und autark legitimiert werden kann. Soweit ich sehe, ist die Sprengung des grammatikalischen Satzes das, was die Einheit der Bedeutung, nicht aber die Zeitfigur des Sinns bei Austin realisiert. Searle etwa spricht von einer kommunikativen Einheit mit Hinweis auf Austin als „illokutionärem Akt“: Nicht das Symbol oder Wort oder der Satz oder gar das Token des Symbols, Wortes oder Satzes ist die Einheit der sprachlichen Kommunikation, wie man im allgemeinen angenommen hat, sondern es ist vielmehr die Hervorbringung des Tokens im Vollzug des Sprechaktes, was die grundlegende Einheit der sprachlichen Kommunikation ausmacht. Um diesen Punkt genauer zu formulieren: Die Hervorbringung des Satztokens unter bestimmten Bedingungen

492 Vgl. zu diesem Begriff Gilles Deleuze / Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und

Schizophrenie. Frankfurt am Main 1979. Vgl. zur kritischen Reflexion: Manfred Frank: Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt am Main 1983, S.422-454, sowie: Rudolf Heinz: Taumel und Totenstarre. Vorlesungen zur Philosophie und Ökonomie. Münster 1981.

493 Vgl. Theodor W.

Main 1969. S.163ff.

Adorno: Satzzeichen. In: Ders.: Noten zur Literatur I. Frankfurt am

383

ist der illokutionäre Akt, und dieser Akt ist die kleinste Einheit sprachlicher Kommunikation.494

Bezeichnenderweise beginnt Searle seine Ausführungen unter dem Begriff der „typischen Sprechsituation“, in der die Nichtbeachtung der Anschlüsse und Folgen der Situation – also der tatsächlichen unendlichen kommunikativen Deutungen – die Zeitstruktur einer progressiven Regression außer Acht lässt. Der Akt ist ein Ereignis, kein reversibles Erlebnis. An dieser Stelle kommt dann in der Regel der Begriff der „Performanz“ ins Spiel, der die Lage wohl identifiziert, aber nicht differenziert. Tatsächlich erwartet der Hörer eines im gesprochenen Jargon häufig unvollständige Satzes, nicht eine Rede, sondern, wie im poetischen Diskurs, die Komplettierung durch den anderen und produziert so fortgesetze Kommunikation. Am wenigsten hat die Frage der Totalisierung und Finalisierung des Satzes mit der Befriedigung einer Information (der Bedeutung) zu tun – weshalb es allen Psychotherapien nicht um einem Appell an die Vernunft, sondern um das Verstehen der Auslegbarkeit selbst gehen muss –; nicht alle Sätze sind Imperative. Bezüglich der Szenifikation muss unterschieden werden können, ob der Satz eine Aussage über einen Gegenstand ist, rein performativ – wie „Au!“, „Halt!“, „Ach!“ – eine spontane Reaktion, oder ob er sich auf sich selbst bezieht. In den meistens Fällen bleibt diese Verweisung unausgesprochen. Sie ergibt sich im Sprechen (anders im Text) situativ. In der Schrift werden dafür Satzzeichen zur Verfügung stehen. Die übergeordneten Aussagemerkmale führen auf die interpretative Vorbedingung eines sich totalisierenden Sinnagenten dieses unausgesprochenen unaussprechbaren „Selbstbewusstsein“ zurück, das das Schema der Progression-Regression erfüllt. Manfred Frank stellt das unter dem Begriff Skopus so dar: Anders gesagt: M und M* müssen nicht nur de facto für dieselbe Sache (res) stehen, sondern für dieselbe Sache als dieselbe. Noch anders gesagt: Selbstbewusstsein hat vor allen anderen Identitätsrelationen die Auszeichnung, dass diese Relation nicht nur bestehen, sondern als bestehend auch gekannt werden muss. Noch anders gesagt: Im Selbstbewusstsein tritt die Identität der Relate selbst notwendig in den Skopus des Bewusstseins, ein quantifying in ist ausgeschlossen.495 494 John R. Searle: Was ist ein Sprechakt? S.83f. In: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen

Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2002. Searle schließt an Austins How to do things with words an.

495

Frank, Ansichten der Subjektivität, a.a.O., S.391.

384

Unter Skopus versteht Frank also eine Perspektive, die – anders als ein Telos – als Methodus, als strategisch und projektiv aufgefasst werden muss. So ist das Ziel jeder Kommunikation im Gegensatz zur Information nicht das identische Verstehen, das sich finalisiert (ein Befehl wird in Handlung übersetzt), sondern die Aufrechterhaltung der Kommunikation selbst, wodurch sie sich niemals in einer Bedeutung (Telos) vollständig erfüllen darf. Kommunikation ist ein Sinn sui generis der nicht erfüllten Zeit. Selbstbewusstsein erscheint dabei als eine Art Leitstern, unter dem das Subjekt sich erfüllen, nicht finalisieren soll. Searle kann zwar die konstitutive Fiktion der anfänglichen Setzung als kommunikativen Anlass behaupten, aber er kann die Totalisierung nicht als Inklusion des Mangels an Finalisierbarkeit erkennen. Es ist nicht nur, was es nicht ist, es soll auch nicht sein, was es zu werden verspricht. Die Totalisierung entspricht einer Aufhebung der Elementarisierung. Die Formel von Zeit und Selbstbewusstsein muss in einem Aufhalten, einem Umweg von Zeit erfolgen. In dieser Hinsicht gilt die hermeneutische Methode als Umweg über den anderen. So suchen wir mit Ricœur nach einer Methode der (Re-)Inszenierung des Satzes als Sinn seiner sich selbst hinauszögernden Realisierung. Sofort wird man an die mythischen Strukturen der modernen Medien erinnert: Im Kriminalstück wird der Tote als Finalisierung vorausgesetzt, um die Totalisierung leisten zu können. Das Opfer ist also schon gebracht. Im Heldenepos wird die Totalisierung als Mangel vorausgesetzt, die der Held zu finalisieren hat und bei deren Arbeit er sich opfert. Muss man da nicht erwägen, ob das Verhältnis von Finalisierung und Totalisierung auf der Ebene der narrativen Strukturen anstatt auf der der symbolischen Darstellung zu suchen ist? Von diesem Ansatz geht Ricœur aus. Er fragt nicht mehr nach der Bedeutung, sondern nach der dramaturgischen Form, die eine Darstellung trotz ihrer Totalisierung nicht finalisiert. Das zeigt einsichtig etwa auch das klassizistische Sprechtheater, dem es um die Deklamation von Sätzen geht, nicht um die Simulation einer Handlung auf der Bühne. Die erste der drei Fragen, die Ricœur an den frühen Freud stellt, lautet: Was ist die Negativität?496 Ihre Beantwortung haben wir im Abschnitt über Winnicott formuliert: Es ist die Lücke der „Zeit-Spiel-Raum“, das „Fort! Da!-Spiel“497, in dem die Szene sich als Agent der Ersatzhandlung in Besitz der verlorenen Körperentlassung bringen will, ohne erneut – und darauf 496

Ricœur, Die Interpretation, a.a.O., S.319.

497

Ebd., S.322.

385

kommt es an – der relativen Abwesenheit im Symbolischen sich versichern zu müssen. Die Verneinung stabilisiert die Struktur der Wiederholung, der Wieder-Holbarkeit eines verschwundenen Objekts als Sachverhalt. Innerhalb des Spiels der Ökonomie der Verneinung, wie Ricœur es in den Schriften Freuds findet (unter gelegentlichem Bezug auf die Hegel’sche Dialektik) erscheint die Realität als ein Effekt der Konstanz einer Wieder-Holbarkeit, deren Zeugenschaft eine Drittenposition zunächst entbehrt. Das heißt, die Totalisierung ist für sich selbst durchsichtig. Die zweite Frage Ricœurs lautet: Wie kann sichergestellt werden, dass nicht ein „innerer Affekt“ oder ein traumatischer Aspekt das Wahrnehmungsurteil trübt? Diese Frage untersucht er unter der Überschrift „Lust und Befriedigung“.498 Das mag erstaunlich klingen, wo Ricœur doch gerade im Namen Freuds und in der Interpretation gegen ihn alle teleologischen ‚Triebdispositionen‘ auszuklammern versucht, die aus einer tieferen Ebene in die Ökonomie eindringen und einen falschen Kausalismus oder einen unendlichen Regress ausweisen könnten. Da die Ökonomie der Verneinung aber alles ist, was es gibt, kann es dieses Außen einer Nichtrepräsentanz nur als Verneinung geben. Die Erklärungen darüber sind lediglich Effekte der Urteilsfunktion und als solche zugleich Effekte (Telos) der Verdrängung des Todes (Skopus) – seiner Nichtrepräsentanz und seiner Nichtwiederholbarkeit. „Muß man noch eigens betonen, dass Konstanzprinzip und Todestrieb zusammenfallen?“499 Der Todestrieb ist kein „Trieb“ und die Konstanz keine Konstanz, weil sie unablässig durch die Dementis ihrer Erfüllung (Skopus) destabilisiert werden. „Die Kulturaufgabe bringt etwas Widersprüchliches und Unmögliches: den Egoismus des ich’s, von dem wir sagten, er sei biologisch dem Tod zugewandt, um den Drang zur Verschmelzung mit den anderen den wir altruistisch nennen, in der Gemeinschaft, zu koordinieren.“500 Alles das vereinigt sich in einer nicht aus der Theatergeschichte abgeleiteten Logik der Szene als Logik eines Widerstreits, wie ihn Lyotard dann just an dem aus der Opfergeschichte abgeleiteten Agon in der Vorgeschichte des Theaters noch ausmachen konnte501, und wie ihn 498

Ebd., S.326ff.

499

Ebd., S.327.

500

Ebd., S.331.

501

Jean-François Lyotard: Der Widerstreit. München 1989. Vgl. zum Agon auch Walter Benjamin: Briefe 1. Frankfurt am Main 1978, S.332ff. (Briefwechsel 1924 mit Florens Christian Rang); Roland Barthes: Das griechische Theater. In: Ders., Der entgegenkom-

386

Deleuze/Guattari ziemlich despektierlich als „Wunschmaschine“ beschrieben haben. Die dritte Frage Ricœurs lautet: Was ist Realität?502 Hat der Begriff ‚Realität‘ nach dem zuvor Gesagten noch seine Berechtigung? Es ist die Frage nach der politischen Macht oder den Übergangsobjekten als Justierungen, die sich eine Gemeinschaft unter der Selbsteinsicht ihrer Konstitutionsbedingungen stellen muss. Realität, das ist, was zu Handlungen veranlasst; Technik. Ricœur verweist auf Freud: „Zur gleichen Zeit nämlich, da Freud den Dualismus von Eros und Tod betont, betonte er auch den Kampf gegen die Illusion, den letzten Schlupfwinkel des Lustprinzips; damit verstärkte er das, was man seine ‚wissenschaftliche Weltsicht‘ nennen mag, deren Devise lauten könnte: jenseits der Illusion und des Trostes.“503 Ricœur greift den politischen Anspruch Freuds nach ‚restloser‘ Analyse auf, an dessen Ende die Negationsreste sich als Person zusammenfügen dürfen. Die (geheilte) Person ist das, was sich in die Realität vollständig eingliedert. Dagegen steht nun die Fiktionalität der Inszenierung als das, was sich der Realität nicht eingliedern lässt, weil es sich als innerer Widerspruch in einer Übergangszone von Individualität und Totalität (respektive Allgemeinheit) hält. Zu den Fragen, mit denen sich Ricœur nunmehr beschäftigen muss, gehören die der Bestimmung der Funktion der Erzählung als Zeitraum dieser Übergänge. e. Drei Aporien über die Linearität der Zeit als Bedingung von Szenifikation Im Zentrum der Untersuchung standen die Aporien der Szenifikation als logische Selbstbeziehungsfiguren. Die aus ihnen sich ergebende Bewegung von Inversion und Reflexion dehnt die Figur zur Zeit. Wenn nicht zwei Dinge zur gleichen Zeit an einem Platz sein können, Menschen dies aber in sozialer Beziehung sind, muss sich aus der Szenifikation eine Reihenfolge der Interventionen, der Inventionen und der Wiederholung, der aktiven und passiven Rollen ableiten lassen, die sprachlich als rhetorische Stilfiguren untersucht werden. Es gibt bislang keine Analyse (außer dem methodos) der Latenz und Dauer zwischen dem, was die Konstanz eines „Selbstbewusstmende und der stumpfe Sinn, a.a.O., S.69ff. sowie Ralf Bohn: Sendungsbewusstsein. Walter Benjamin und sein Medium. Würzburg 2005. 502

Ricœur, Die Interpretation, a.a.O., S.332.

503

Ebd., S.333.

387

sein“ und der Form seiner Objektentwürfe, die es als Dinge spiegeln, voraussetzt. Was ist dominierender: der Satz oder das Ding? Ich habe mich bislang wenig um die kompositorische Technik des Inszenierens selbst gekümmert. Das will ich mit der Hilfe Ricœurs nachholen. Ricœur legt wert darauf, Analysen von Szenen als Texturen/Strukturen zu interpretieren, ohne die Exklusivität des Textes, wie oft bei Derrida, als Schrift zu behaupten. Dennoch bleibt ihm die Schrift ein mediales Paradigma. Als hätte er die noch ausstehenden Darstellungen seines Versuch(s) über Freud erkannt, versucht Ricœur zwanzig Jahre später in seinem dreibändigen Werk Zeit und Erzählung, eine Ökonomie des Konstanzprinzips zu konzipieren und zu aktualisieren, indem er die Funktion der Szene als Satz, in dem der Körper präsent ist, im Verhältnis zur Geschichtlichkeit der sozialen Organisation denkt. Wie hält sich eine Szene trotz der ex- und implodierenden Momente ihrer „Grenzsituationen“, ohne dass sie von Außen durch eine Regel, ein Gesetz oder eine kuratorische Vorschrift, gesteuert wird – d.h., was außer den emergenten Gemeinheiten die Dauer und somit die Konstitution einer Inszenierung bestimmt – und betrifft diese auch die Konstitution von „Bewusstsein“? Wie kann die Totalisierung sich ohne Aussicht auf Finalisierung im Übergang halten? Diese Fragen verbinden zwei Relationen, die wir mit Gadamer kennengelernt haben: eine zwischen Individuum und Gemeinschaft, die andere zwischen Historie und Gegenwart, deren Formalisierung als Aufführung erkannt wird. Beide Relationen verfügen über unterschiedliche Zeitfolgen, indem sie unterschiedliche „Erzählungen“ in unterschiedliche, je dynamische Formen als Bewusstsein von sich selber realisieren, und das meint für Ricœur: zum Ausdruck bringen. Er reduziert diesen Ausdruck nicht auf eine Praxis der allgemeinen Produktion, sondern, wie der Titel sagt, auf die Bestimmung der Zeit durch die Erzählung und der Bestimmung der Erzählung durch die Zeit. Aufgrund dieser Relationsbeziehung zweier unterschiedlich organisierter Szenenfolgen, die durch einen Wechsel der Situativitäten (etwa dialogischer Wechselrede) rhythmisiert werden, bezieht sich Ricœurs Argumentation auf die „Diskrepanz von phänomenologischer und kosmologischer Zeitauffassung, nämlich auf die Aporie der Einzigkeit der Zeit.“ Wenn die Zeit (im Nachgang zu Kant) kein „singularum tantum“ 504 ist, dann gibt es grundsätzlich zwei unterschiedliche Satzprinzipien, zu denen sich Szenifikationen ordnen, ja es gibt gar zwei unterschiedliche Prinzipien der Szenifikation: die eine, deren Ursprung hysterisch 504

Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Band III: Die erzählte Zeit. München 1991, S.12.

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den Grund der Zeit, die Darstellung der Darstellbarkeit zu offenbaren und in die Zeit zu retten versucht, die andere, die auf der Grundlage von objektiv sich darstellenden Situationen die Szenifikationen in der Zeit der Geschichte und damit in einer universalisierenden und totalisierenden Szene, der Realität, von ihr als abgelaufene Ereignisse abzugrenzen versuch; abgelaufen, in der Deutung aber keineswegs vollendet. Der erste Versuch ist dialektisch und bezieht sich auf eine Negation des Satzes als Ganzem, etwa in der Negativität der Ironie: Anwesenheit und Abwesenheit und die Eigentumsverhältnisse (Autorisierungen des Verstehens) können sich tauschen. Wie kann man aber eine positive Logik der Zeit der Szenifikation (ihrer „Dauer“ im nichträumlichen Sinne) ansetzen? Auch diese Frage steht im Mittelpunkt der Untersuchung von Ricœur und formuliert zwei unterschiedliche Arten fundamentaler Differenz: die Offenbarung der Szene als Epigenese der Subjektivität auf der einen und die Differenz oder Identität von Geschichte, Ereignis und Person auf der anderen Seite. Beide Aussagen können auf die Stellung des Einzelnen zur Gemeinschaft respektive zur Gesellschaft und auf das mögliche Drittenexplikat (Besucher, Zuschauer, Chora, Kamera, Richter und Zeugen, Verschwörer, Agenten und Sachen, die als Dritte handeln) hin differenziert werden. Die Beziehungen sind dekonstruktiv aufzufassen, sie substituieren einander stets nur mit Absicht und in Beziehung auf die Reinlichkeit des Ursprungs, die autonome und autarke Verfügung, die das, was vorangeht, zum Opfer dessen macht, was folgt, aber so, dass dieses Opfer als retroaktive Performativität in die Produktion wieder Eingang erhält: Das schafft all die Gespenster, Geister, Medien und Illusionskünste, die mit dem Begriff des Inszenierens und seiner Verführungstechniken in Verbindung gebracht werden. Es handelt sich also um den Versuch, die eine Zeit in der anderen festzuhalten. Ricœur versucht eine positive Formulierung der Satzarten dieser unterschiedlichen Anschauungen von Zeit und unterscheidet zunächst wie Freud symbolische von funktionalen Lesarten. Die Frage ist, ob es sich dabei jeweils um unterschiedliche Lesarten ein und desselben Satzes handelt oder ob die Lesarten hermeneutisch durch die jeweilige Sprechsituation bestimmt sind, d.h., ob sich die Inszenierung ihre eigenen Situationen erschafft, um zu vermeiden, dass sich der andere als Opfer sieht. Der systemtheoretische Begriff der ‚Emergenz‘ berücksichtigt gerade nicht die konkreten Opferinklusionen, sondern konstituiert eine sich selbst regulierende Gleichzeitigkeit. Man könnte die Frage stellen, ob der Satz (etwa in der filmischen Bildmontage) in Zukunft noch, wie das die Linguisten beabsichtigt haben, vom Punkt her definiert werden kann. Ricœur weist auf folgendes

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Argument hin, das seit Leopold von Ranke in der Geschichtsschreibung diskutiert wird: Sobald man den Unterschied zwischen Fiktion und Geschichte deutlich machen will, appelliert man unweigerlich an die Idee einer gewissen Übereinstimmung der Erzählung mit dem, was wirklich geschehen ist. Zugleich aber ist man sich völlig bewusst, dass diese Re-konstruktion eine Konstruktion ist, die sich vom Ablauf der berichteten Ereignisse unterscheidet. Einige Autoren lehnen deshalb den Ausdruck ‚Repräsentation‘ ab, der ihnen zu sehr gezeichnet zu sein scheint vom Mythos einer Eins-zu-Eins-Reduplikation der Wirklichkeit im Bild, das man sich von ihr macht.505

Wenn man nun dieses „Eins-zu-Eins“ auf die Selbstabbildungsaporie der Szene bezöge, ließe sich nachweisen, dass schon strukturell das „Bild“ mit dem „Ereignis“ nicht identisch sein kann, weil jede Erzählung einen Austausch zwischen Situationen als krisishaft aporetisch darstellt – wirklich darstellt, also in Differenz zu einer vorlaufenden situativen Ereignishaftigkeit bringt und dieses Vorlaufende sozusagen retten will. Also kann die Szenifikation nicht das Ereignis reduplizieren, sie kann nur zeigen, dass die Differenz von Situation und Szenifikation genau das zur Entscheidung aufschiebt, was die Realität als Effekt verdrängt. Selbst wenn die Szenifikation zu einem klar begrenzten Ereignis würde, müsste sie das Problem der Aufführung ihrer selbst klären, also die Technik der Inszenierung positiv darstellen. Diese Inszenierungsform ist aber die Praxis. Der Kontraeffekt stellt Selbstbewusstsein nie als (beobachtbares) Ereignis zur Verfügung, das man von dem abziehen könnte, was das „wirkliche Geschehen“ ist. Die Historiker haben versucht, so Ricœur, verschiedene Typen dieser situativen Beglaubigungen in ihrem Medium, der geschriebenen Sprache, auszumachen und nach Analogien, das heißt „Proportionalmetaphern“ zu fahnden, in denen sich die beiden Relationen der Darstellung in den Sprachen des Körpers wiederfinden. Man arbeitet dabei nicht mehr mit einem Identitätsnachweis, sondern mit einem Modellbegriff, der das Universalmedium Sprache aus seinem Wahrheitsanspruch erlöst – wie das in den historischen Doku-Soaps geschieht. Entsprechend, so Sartre in Kean, kann der wahre Schauspieler sich nur simulieren, niemals dissimulieren, und kann, wie im Varieté, die Realität nur von einem inszenierten Dritten aus herbeizaubern, nämlich von dem des Publikums, das aus dem Rollenangebot eine bestimmte Deutung gemäß der inszenatorischen Verführungskraft 505

Ebd., S.242.

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wählt und sie nicht definiert.506 „Die Aufgabe des Historikers besteht dann darin, aus der narrativen Struktur ein ‚Modell‘, ein ‚Ikon‘ der Vergangenheit zu machen, das in der Lage ist, sie zu ‚repräsentieren‘.“507 Eben das ist funktionale Vermittlung des funktional gelesenen Ereignisses. Das fällt beispielsweise beim Film weniger auf, weil sich die Ereignisse unmittelbar in den Affekten der Beteiligten spiegeln und zwischen Schauspiel und Realität auf geheime Weise unterschieden werden muss. Was im Medium Film diese Ikonisierung der Zeit hervorruft, behandelt Ricœur in der Sprache unter dem Begriff der ‚Tropen‘. Sie stellen in der Rhetorik seit je die über den Satz hinausweisende Form der narrativen Einheiten dar und somit das Äquivalent zu den Ereignissen, die die Historiker im unabschließbaren Verlauf nicht simulieren können, denn das hieße sonst, eine Landkarte im Maßstab 1:1 herzustellen. Man muss 506 Ebd. Man kann auf das Beispiel der Filmszenen des Ersten Weltkriegs hinweisen. Angeblich gibt es keinerlei Realszenen von Kampfhandlungen, sodass diese, will man dokumentarisch von den Kämpfen berichten, allesamt Spielfilmszenen (oder Spielszenen) entnommen sein müssen. Aber dieser Darstellungsmodus des Kampfes ist aus dramaturgischen Gründen schon pars pro toto szenische Aussage. Es geht um die Nachstellung einer Situativität, nicht um die Nachstellung eines signifikanten Ereignisses, und noch weniger kann es um „dokumentarische Authentizität“ gehen, denn diese wird nur vom Publikum verliehen. Für das Theater der Theater der Situation stellt sich Sartre diese Frage anhand seines Lehrstücks Kean. Weil Kean sich als genialischer Schauspieler prostituiert, also als Einzelner ausgibt, stiftet er unentwegt Verwicklungen, die mit der sich selbst gestellten Frage nach der „wahren“ Rolle und der „wahren“ Identität einen falsche Dauer anpeilen. Kann sich denn überhaupt Genialität inszenieren, gilt sie nicht gerade als Ausweis von Authentizität? Kean, der Schauspieler, kann dem hochgeborenen, adligen Publikum, das sein Spiel bewundert, vorwerfen, es gebe sich einer Illusion hin, indem es die Bühnenrealität (die Rolle) mit der alltäglichen Person (Kean; eine andere Rolle) verwechseln. Aber das Publikum definiert nicht, es wählt! „KEAN: Sie und alle anderen! Die wahren Menschen nämlich bedürfen der Illusion: zwischen zwei Geschäften glauben sie gerne, dass man für anderes als Käse leben und sterben kann. Und was tun sie? Sie nehmen ein Kind und verwandeln es in ein Trugbild. Ein Trugbild, eine Phantasmagorie, das hat man aus Kean gemacht. Zum Scherz bringe ich Königreiche zum Wanken; zum Beifall der Käsehändler bin ich ein falscher Prinz [...] unter der Bedingung, dass ich mich nicht unterstehe, in Wahrheit zu existieren. Sehen Sie, gleich werde ich eine alte Hure umarmen, und England wird ‚Vivat!‘ schreien; aber küsste ich der Frau, die ich liebe, die Hände, so würde man mich steinigen. Verstehen Sie, dass ich mit meinem wahren Gewicht auf der Erde stehen will? Daß ich es satt habe, eine Laterna magica zu sein? Seit zwanzig Jahren vollführe ich euch zu gefallen Gesten; verstehen Sie, dass ich wünschen könnte, Taten zu vollführen?“ Jean-Paul Sartre: Dramen II. Reinbek 1966, S.330. 507

Ricœur, Zeit und Erzählung., S.243.

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notwendig mit ausgewiesenen Reduktionen oder Präfigurationen arbeiten. „Der eigentliche Zielpunkt dabei ist sicherlich das, was in der Vergangenheit wirklich geschehen ist“, wiederholbar zu machen, ohne es verdoppeln zu müssen – was ein ökonomisches Argument ist, kein finanzielles, eines einer gleitenden Ökonomie zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Mit diesem Argument bringt Ricœur das Argument der zeitlichen Distanz ins Spiel, die sich durch die Realisierungstechniken auszeichnet, d.h., Realität muss selbst das Signum ihrer Zeitnorm aufführen; wir vermögen es nur nicht zu lesen.508 „Das Paradox ist aber, dass sich dies aller Erzählung Vorausliegende sprachlich nur erfassen lässt, indem man es präfiguriert.“509 Die historische Wissenschaft kann sich bis heute nicht vom Primat der sprachlich-diachronischen Erfassung der Ereignisse trennen, indem sie unbewusst die sprachliche Linearität mit der Chronologie der Historie gleichsetzt, die sie erst herstellt und damit suggestibel macht, die szenischen Krisen seien in Form ihrer Historisierung erstens lehrhaft und lehrreich, und zweitens würden sich die heterogenen Ereignisse in einem quasikausalen Feld der Übersetzbarkeit erhalten lassen. Das Opfer der Geschichte ist somit in die Geschichte reintegriert, die ja potentiell nur eine überlange Erzählung oder ein Film in Echtzeit sein soll. Was darüber hinaus an synchronen Positionen zu erfassen ist, landet in Synopsen510, Geschichtsatlanten und Panoramen von Schlachten. Dass hieße aber, zwischen der poetischen Form des Mythos 508 Z.B. ist es für Filmwissenschaftler einfach zu lesen, wann ein Film entstanden ist, weil

die Materialisierungtechniken außerordentlich präsent sind. Eine Agfa-Kopie in Breitwand in Lichtton kann man auch ohne Credits in der Projektion sofort als die Technik einer bestimmten Zeit (z.B. Ende der fünfziger Jahre) identifizieren. 509 Ebd., S.244. Ich verweise auf die Titanic-Ausstellung des Atelier Brückner, die bewusst Realität technisch modifiziert, um nicht in Verdacht zu geraten, die tatsächlichen Teile der Titanic, die man geborgen hat, mit der ‚Idee des Titanischen‘ und ihres Scheiterns zu vermengen. Museal geht es in der Szenografie nicht darum, die Aura des Identischen, sondern die Auratik des Kultes der Identität, also den Fetischismus des Musealen selbst zu brechen und als Simulation zu zeigen. Szenografie ist eine Tendenz, den Mangel an Bedeutung zu kompensieren, indem man die nachgestellte Realität mit der ‚tatsächlichen‘ gleich stellt und so einen durchgehenden Modellcharakter von Wirklichkeit behauptet. Vgl. Uwe Brückner: Szenografie oder die Macht der Verführung. In: Ralf Bohn / Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung und Vertrauen. Grenzgänge der Szenografie. Szenografie & Szenologie Bd.4. Bielefeld 2011. 510 Ebd., S.249. So die Praxis von Otto Neurath zur Inszenierung abstrakter Sachverhalte.

Vgl. Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus, a.a.O., S.288ff.

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mit seiner funktionalen Verankerung und der symbolischen Form der rhetorischen Präfiguration wählen zu müssen: Literatur oder Geschichte oder Inszenierung lautet nun die Entscheidung, die in der Philosophie vor Platon noch memoria hieß. „Den vier Haupttropen der klassischen Rhetorik kommt das Privileg zu, für diese Präfigurationsarbeit Redefiguren anzubieten und derart den Bedeutungsreichtum des historischen Gegenstands zu wahren – einmal durch die für jede Trope charakteristische Äquivozität, zum andern durch die Vielfalt der verfügbaren Figuren.“511 Von der Rhetorik aus ließe sich dann eine Typenlehre idealer historischer Ereignisse in ihrer Zeitfolge ableiten. Man muss aber untersuchen, ob die Figuren der klassischen Rhetorik denen moderner Szenografie (noch) angemessen sind, oder ob diese durch den Simulationsbegriff, den der Modellbildung und den der inversen Technikdominanz der Praxis ihrer Funktionalisierung und ihres Verzichtes auf ein Leitmedium und eine Linearität entwertet sind. Hinzu tritt eine andere Auffassung der Verkörperung und der Reszenifikation des Körpers als in der klassischen Allegorie, in der der Körper auf eine ideale Ausdrucksform hin vorgestellt wird. Auf alle diese Fragen, Formen und Konfigurationen werden eine theoretische Szenografie und ihre Rhetorik, die übrigens keine Semiologie mehr sein wird, eine Antwort zu geben bemüht sein.512 Weitere Probleme einer dekonstruktiven Betrachtung der Geschichte schließen sich an. Z.B. kann hier nicht mehr von einer Modellkonstruktion ausgegangen werden, die auf der Grundlage eines Originals erfolgt. Eine 511 Ricœur, Zeit und Erzählung, a.a.O., S.244. Die vier Haupttropen werden nach Vico

in solche der Limitation und solche der Repräsentation unterschieden: die Metapher, die Metonymie, die Synekdoche und die Ironie.

512 Dazu bedarf es allerdings einer anderen Anstrengung. Neben einer szenologischen Differenz von Situation und Szenifikation müsste unter Einbeziehung einer Rhetorik heutiger Szenografie noch stärker das Produktivmoment der Technik in den Fokus genommen werden, als ich es hier unternehme. Wenn Ricœur in Die Interpretation sagen kann: „Das Kind inszeniert [im Fort-Da-Spiel; R.B.] das Verschwinden und Wiederkommen der Mutter mit dem ihm erreichbaren Gegenstand“ (S.293), dann sind damit dezidiert die Inzenierungsstrategien der Technik als des ‚Zuhandenen‘ angesprochen. Für den Bereich der Szenografien hat beispielsweise Bernadette Fülscher auf diesen Sachverhalt hingewiesen: „Diese Nähe und gleichzeitige Unvereinbarkeit zwischen Realität und Darstellung ist eine zentrale Eigenschaft der Szenografie.“ (S.26) Sie hat auch darauf hingewiesen, dass „in Analogie zur Semiotik [...] die Inszenierung als Übersetzung einer Metasprache [gleicht].“ (S.35) Bernadette Fülscher: Gebaute Bilder – künstliche Welten. Szenografie und Inszenierung an der Expo.02. Baden 2009. Fülscher unterscheidet analytisch sehr klar zwischen folgenden Inszenierungtypen: „Inszenierung als interpretierende Übersetzung“, „Inszenierung als effektvolle Präsentation“, „Inszenierung als Simulation“, „Inszenierung als künstlerische Konstruktion ohne Vorlage“. (S.35-42)

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Inszenierung muss also nicht unbedingt auf eine Referenz aufgebaut sein, sie kann gerade auf deren Verlust, den verlorenen Ursprung, in Persiflage, Posse, Ironie oder Karikatur als einer Art Tanz Bezug nehmen. Der Reiz des Nachspielens besteht gerade darin, dass trotz der Übungsmodalitäten stets etwas Unerwartetes, ein Skandal geschehen kann, fallweise sogar in der Inszenierung intendiert ist, um die Unmöglichkeit des Zusammenfalls mit der originalen Form (Realität) zu verhindern. Aber wenn das Unerwartete zum Ereignis werden soll, indem es inszeniert wird, ist es dann noch das Unerwartete? Und deshalb gibt es zwischen einer Erzählung und einem Ablauf von Ereignissen keine Beziehung der Reproduktion, der Reduplikation oder der Äquivalenz, sondern eine metaphorische Beziehung: Der Leser wird auf die Figur gelenkt, die die berichteten Ereignisse einer narrativen Form angleicht [...], wie sie ihm aus seiner eigenen Kultur vertraut ist.513

Kann unter diesen Verhältnissen dann noch von einem singulare tantum der Zeit, also von einer Geschichtlichkeit im universalen Sinne gesprochen werden, oder muss Geschichtlichkeit gerade als Kompensation die Korrespondenzen eines „Nicht-Besitzes“ von unwägbaren „Erinnerungsmanifestationen“ gelten – von Vertrauen und Glauben?514 Wenn Zufälle sich nicht inszenieren lassen, sondern allenfalls als Magie und Zauberei reüssieren, dann ist jede Zuschreibung von Autorschaft eine Beschwörung schon der Szenifikation, was selbstverständlich auch für kausale Zuschreibungen gilt. Als Ergebnis dieser Fragestellungen Ricœurs kann man festhalten, dass die Aporie über Fiktion und Realität der einzige Ort ist, von dem aus überhaupt sinnvoll ihre Bedeutung abgeleitet werden kann. Dieser selbst ist die Anerkennung einer jeden Szene als Entfaltung der Aporie, nicht Darstellung oder Reproduktion von Situationen der Realität. Die Verdrängung steht der Aporie gegenüber nicht als einer Lösung, sondern, sagen wir es im Hinblick auf die Geschichtsschreibung, als Punkt in einem Satz, durch das, was 513

Ricœur, Zeit und Erzählung, a.a.O., S.247.

514 Ebd., S.248: „Doch andererseits muß man natürlich auch sehen, dass der Rekurs auf

die Tropologie Gefahr läuft, die Grenze zwischen Fiktion und Geschichte zu verwischen.“ Um das zu vermeiden, wird Elementarisierung in den Geschichtswissenschaften Pflicht: Ordnungen in Daten, Orten, Archiven, Dokumenten. Vgl. dazu In: Ralf Bohn / Heiner Wilharm (Hg.): Inszenierung und Vertrauen. Grenzgänge der Szenografie. Szenografie & Szenologie Bd.4. Bielefeld 2011, insbesondere den Beitrag von Heiner Wilharm: Vertrauensökonomie und mediale Inszenierung.

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Schmitz die „Elementarisierung“ des Wirklichen nennt. Erst Elementarisierung verlangt die narrative Kontinuierung, die vom Mythos aus immer schon in der Funktionalisierung der Reise, der Fahrt, des Abenteuers totalisiert wird. Hier kann der Gegensatz von Zeitpunkt und Ereignisdarstellung nicht greifen. Daraus folgt, dass auch diese bestimmte Aporie zwischen der Fiktion und der Realität Figuren unterworfen ist, die in einer nicht elementar durch soziale Praktiken konstituierten Gesellschaft völlig andere Szenifikationen zur Folge haben (und andere Hysterien respektive Pathologien515), als solche, die sich um den Bestand der Wirklichkeit als eines Todesaufschubs sorgen, z.B. solche, in denen die Jenseitsnachspielung integrativer Bestandteil der Diesseitsdarstellung ist. Sartre hat das in seinem Theater der Situation in einigen Stücken immer dann versucht, wenn er, wie z.B. in Die schmutzigen Hände oder Bei geschlossenen Türen, auf die Isolation einer Gruppe, Partei oder Zwangsgemeinschaft und ihre existenziellen Wahlen hinweist. Man kann die Aporie der Szene nicht von der Aporie der Gruppenkonstitution, d.h. der Unterschiede der Lesarten trennen, wenn man sie nicht rituell in ihrer Verzeitlichung (Dauer) versteht. Die Aporie ist der Ausdruck eines Resultats des Individuums, in der Art, wie ein Subjekt sich zur Gruppe in- und extern verhält. Aus diesen vorgenannten Überlegungen heraus ist es verständlich, wenn man sich der „Geschichte der Aporien“ als einzig möglicher Erklärung von Historie widmet. Die Geschichte der Aporie, einer „opferlosen Aporie“, ist die der historischen, unendlichen Setzung eines für sich selbst sprechenden Ereignisses: eine histrionische Szene.516 Als Aporie wurden die Inszenierungen eines humanistischen griechischen Mythos ebenso favorisiert wie die Theaterwissenschaft stets das Modell des griechischen Theaters im Kopf hatte, um zu erklären, was Szenifikation bedeutet: Die Geschichte des Theaters ist eine Verdrängung der Frage nach der Szenifikation des Selbstverhältnisses als eines metaphysischen, keines historischen oder anthropologischen Problems, jenes der Wiederauferstehung 515

Zu Medienhysterisierungen schon im 19. Jahrhundert siehe mit vielen historischen Belegen zur Hysterie als Inszenierungsform vgl. Elaine Showalter: Hystorien. Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien. Berlin 1997, S.143ff. Kapitel Hysterie und das Theatralische.

516 Zur neueren Darstellung der Hysterien vgl. Rudolf Heinz / Christoph Weismüller (Hg.): Histrionissima. Neue Studien zur Hysterie. Pathognostica, Jb. 2009. Düsseldorf 2009, insbesondere mit Beiträgen zur Extension von Architektur und entsprechenden Dingphobien, etwa Rudolf Heinz: Körperexpression und dingliche Umgebung. Überlegungen zu Hysterie und Architektur. (S.12-37) und Ralf Bohn: Triumph mit Bogen. Expressionen des arc de cercle im Moment seines Verschwindens. (S.71-94)

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des Toten: der Prolog Johannes des Täufers. Die Frage der Szenifikation lässt sich nur entfalten, wenn man nicht geradezu manisch die Doppelung der Welt in eine fiktive und eine reale, in eine subjekthafte und eine objektive, eine wirkliche und eine theatrale aufrecht hält, wenn man also eine Analyse nicht nur der Theaterinszenierungen, sondern auch der Inszenierung als Theater (der „Medien“) zulässt, wie es die Ethnologie getan hat. Jetzt gehen wir näher auf Ricœur zu, der die Frage nach dem singulare tantum der Zeit (der Originalität der Geschichte) und der des Aufschubs/ der Verdrängung/der Aufhebung dieser Zwanghaftigkeit der Zeit, der Geschichte und des Elementaren und des Unendlichen in ihr noch einmal mit Hinblick auf Freud zu beantworten versucht. In einem Nachwort des dritten Bandes von Zeit und Erzählung kommt Ricœur auf die drei Aporien der Zeit zu sprechen. Die erste Aporie der Zeitlichkeit versucht in der „Poetik der Erzählung“ eine „Brücke“ zu sehen, die die „Bruchstelle“ zwischen „phänomenologischer und kosmologischer Zeit“517 bildet. Es gilt den Unterschied zwischen den Produktionen des Menschen (patriarchal) und der Natur (matriarchal) festzustellen und – insbesondere gemäß der Marx’schen Tradition – die Arbeitskraft der Fingierung einer phantasmatischen ersten Natur in einer zweiten technischen zu feiern, von der her sich die Elementarität auf die Inszenierung als deren Kontingentierung bezieht. Das ist einfach zu verstehen: Die uns unverständlichen Maschinen- und Sachvorgänge müssen im Design inszeniert sein, um sowohl die Zeit der Produktion annihilieren zu können als auch die Arbeitskraft dahinter als deren Äquivalent zu verbannen, damit die Maschinität einer jeden (nichtinterventionistischen) Aufführung in der Praxis dauern kann. Diese Korrespondenz in der Aporie der Produktion versteht Ricœur als „Zuweisung“. „Die Identität eines Individuums oder einer Gemeinschaft angeben, heißt auf die Frage antworten: wer hat diese Handlung ausgeführt, wer ist der Handelnde, der Urheber?“518 Die Zuweisung auf einen Autor kann als Erweiterung der Übergangsobjekte durch die fetischisierende Kraft des Sprechens verstanden werden, die deshalb den Wert einer Erzählung, eines Mythos, einer allegorischen Generativität oder einer familialen Genese annehmen kann, weil der Ursprung eines Urhebers keine positive Bestimmung erlaubt, da er auf einer unüberwindbaren Aporie der Zeitlichkeit auf517

Ricœur, Zeit und Erzählung, a.a.O., S.392.

518

Ebd., S.395.

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baut, die irgendwo in Gott gründet. Wenn man Kaiser Wilhelm II. für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verantwortlich macht, so entspricht das der Versorgung dieser ersten Aporie, um die Fiktion mittels eines poetologischen Konstrukts in die Wirksamkeit einer allegorischen Ursache zu verwandeln. Denn die Sprache kann nicht gesprochen werden außer in dem Moment, wo man sie zu sprechen erfindet. Anders gesagt, das Abstraktum Sprache entsteht im Sprecher, ist aber nicht dessen Eigentum. D.h. bezüglich des Sprechens versagt sich jede Autorschaft – weswegen der Zusammenhang zwischen dem Sprechen und der Szenifikation in Analogie gesehen werden muss. Die szenische Rücknahme oder Vorwegnahme der schlüssigen Narration geht, wie der poetische Akt, auf diese logische Folge ein, Autorschaft als einen ebenfalls aporetischen Grund zu verstehen. Tatsächlich ist es nur möglich, die Aporie von Schuld und Opfer in einem Subjekt zu bannen, das ich selbst nicht sein kann. Hier lauert das Problem der zweiten Aporie: Die Zuweisung eines Autors der Produktion – ich verallgemeinere Ricœur – ist eine Totalisierung der zeitlichen Ekstasen der Subjektivität: „Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart trotzen der Tatsache, dass wir den Begriff der Zeit zwangsläufig als einen Kollektivsingular denken.“519 Die Einheit der, nach Heidegger, Ekstasen der Zeit, die dieser als „Außer-sich“ übersetzt, münden in einen Skandal, der die individuelle Zeit in der geschichtlichen Person aufgehen lässt, und zwar „unvollkommen“.520 Die Historie ist demnach eine Analogie zur Überwindung der Nicht-Totalisierung der inneren Zeit in einer finalisierenden und verursachenden, als eine die Subjekte der Gemeinschaft umfassenden Erzählung und nicht, wie Marx wollte, als eine gesellschaftliche Dynamik. Hier wie in der ersten Aporie folgt auf ein Vermittlungsproblem ein narrativer Vermittlungsversuch, nicht aber eine szenische Darstellung des Problems selbst: die Problematik der Unvermitteltheit zwischen Körper und Realität. Die Vermittlungen kann man mehr oder weniger „technischpoietisch“ nennen, die voreilig die Totalisierung anstrengen, die als Ergebnis die Realität ist, während die Zeit der Szene von da aus gesehen eine (präreflexive) Vorzeit ist, die sich noch nicht „linearisiert“ hat. Rekursiv, d.h. emergent dramatisiert sind in dieser Aufdeckung die Aporien der Zeit, bevor diese aber 519 520

Ebd., S.400.

Ebd., S.407f., mit Bezug auf Heideggers Sein und Zeit und Grundprobleme der Phäno­meno­logie.

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noch als jeweilige, phänomenologische, kosmologische oder innere Zeit aufgefasst werden können. Die Aporie hat die natürliche Tendenz, sich entweder zu verkörpern (erste Aporie) oder sich als Erzählerlebnis zu reanimieren (zweite Aporie). Beides sind Formen der Vergegenwärtigung. Die dritte Aporie der Zeitlichkeit heißt bei Ricœur die Aporie der „Unerforschlichkeit der Zeit und die [der; R.B.] Grenzen der Erzählung.“521 Sie besteht darin, dass es kein Denken der Zeit als einem Denken außerhalb der Zeit geben kann. Dieser Aspekt rückt am weitesten aus dem hier mit einer Logik der Szene eingeführten Fragenkreis heraus, der sich insbesondere mit den Rekursivfiguren des ordo inversus als Voraussetzungen der Reflexionsfiguren beschäftigt, indem er die auch psychoanalytische Idee der „Vorzeit“ und der „Zeitlosigkeit“ sowie der retroaktiven Performativität eines Sinns der Zeit mindestens als philosophische Versuche würdigt. Ricœur gibt zu, sich der Suche nach den Quellen nur am Rande522 gewidmet zu haben. Offensichtlich weisen diese Spuren auf das Problem der Interpretation der Zeit selbst hin, das im Begriff der Erzählung nicht hinreichend gewürdigt ist: nämlich auf den Kreislauf zwischen „voreiliger“ insbesondere technischer Realitätskonstitution (Praxis) – sofern Technik als „Realitätsproduktion“ erst definiert ist – und einer als Quasinatur aufgefassten menschlichen Produktion, die ihre eigenen Produktionsvoraussetzungen, ihren ‚„Denkrohstoff“ durch sich hindurch als Entwurf vorsetzt und nachdenkt – und das sind nicht allein an das Medium der Sprache gebundene, je unzureichende Medienvermittlungen. Der Denkrohstoff, das sind stets die Versatzstücke der Realität selber, die außer-sich sind, aber in einem Außer-sich, das ein hysterisiertes Für-sich ist. Genau das aber ermöglicht allein einen entscheidenden Unterschied zwischen Realität und Fiktion als Szene auszumachen. Dieses Argument, die Aporien der Zeit zwischen der Voreiligkeit (Realisierungsmacht) und des Nachvollzugs (Fiktionsmacht) zu differieren, opfert vor allem Präsenz als Ort des Schreckens, Ort des Verlustes der Erzählung. Die Erzählung stellt in diesem Aufschub eine Alternative zur todesgeleiteten Zeit dar, indem sie jedoch szenisch auf die Krisen der Aporien verweist und die Außenwahrnehmung logischer Zeitauffassung sabotiert, so wie Godard das in seinen „Anschlussfehlern“ einer vom „industriellen“ Kino differenten Montage eines individuellen Kinos der Präsenz augenfällig inszeniert hat. Mit dieser Inszenierung von Präsenz kommt Godard der urbanen Bewegung der Wirklichkeit näher 521

Ebd., S.417ff.

522

Ebd., S.417.

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als mit den Erzählungen, die sie dokumentarisch begleiten. Die Szenifikation ist eine die Realität dekonstruierende Folge von Handlungen (Bewegungen und Produktionen), welche die Realität nicht aus dem erzählerischen Format der Zeit heraus ableitet, sondern auf Situationen dieser Realitätskonstitution hin agiert, die sie selbst als Gegenrealität aus sich entlässt: indem sie sie inszenatorisch prospektiert. Godard kommt es darauf an, dass seine Filme (die der siebziger Jahre etwa) nicht mehr Erzählstrategien und somit selektiven Bewegungen folgen, sondern dass die Wirklichkeit als eine Gleichzeitigkeit im Zwang diachroner Filmprojektion gezeigt werden kann. Inszenierung ist nicht nur die Erstellung eines Programms der Deutungsverführung durch Deutung als Verweisung auf Zeit, ihre Professionalität erweist sich dadurch, dass sie szenografisch die Situationen fingiert, in denen überhaupt von Normativität abgehobene Deutungsmöglichkeiten entstehen. Das kann bis zur höchsten Form der Paranoia, einer wahrnehmbaren, aber komplett fiktionalisierten Realitätsauffassung führen. Ob das Ende der (großen) Erzählungen durch eine Instrumentalisierung und Elementarisierung technischer Inszenierung selbst eingeleitet worden ist, ob die Welt schon Simulation ist, das stellt sich insgesamt als politische Frage, kann mit Hinblick auf die größte aller Erzählungen, nämlich die Apokalypse der Zukunft als Technisierte verstanden werden, oder auf die kleinste: die Aufführung als Dauer einer Präsenz. Die größte aller Erzählungen ist durch keine Szenifikation aufzufangen. Sie endet aber nicht in einer universellen naturwissenschaftlich gedeuteten Realität, sondern in einer universellen Praxis. In der rein situativen Praxis kommt ihr jegliches Zeitproblem abhanden, die Geschichte hat aufgehört zu existieren – so Baudrillard – in aporetischer Prophezeiung.523 Die metaphysische Erzählung besteht nicht darin, die Realität noch einmal zu verdecken, sondern die ökonomischen Beziehungen zwischen der Funktion der Fiktion und der Funktion der Technik, des Aufhaltens und des Beschleunigens der Zeit zu stellen. 523 Jean Baudrillard: Die Illusion des Endes oder Streik der Ereignisse. Berlin 1994. Baudrillard verkündet keine Apokalypse, im Gegenteil, er bemängelt einen „Streik der Ereignisse“, da eine globale Gegenwärtigkeit jegliche Form des Zufalls der Geschichtlichkeit kompensiert, sodass der Fortschritt in sich selbst gefangen ist. „Diese Gesellschaften erwarten nichts mehr von einem künftigen Beginn, sie haben immer weniger Vertrauen in die Geschichte, sie verschanzen sich hinter ihren Zukunftstechnologien, hinter ihren Datenbanken und in den in sich abgeschlossenen Kommunikationsnetzen, in denen die Zeit letztlich durch reine Zirkulation vernichtet wird.“ (S.22) Vgl. auch Bolz, Das Gestell, a.a.O., S.66. Im Zusammenfall von Bewusstsein und Handeln wird die Geschichte zum „Kollektivsingular“. Der Kollektivsingular „Geschichte“ ist demnach ein Effekt der Technisierung.

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VII. Zur Funktion des A(a)nderen im Bild a. Die Situation der Bilderproduktion Der folgende Abschnitt dient nicht dazu, die Probleme der Darstellung der Situation und ihre Extension als Szenifikation mittels Bilder zu illustrieren. Ich will versuchen, meine Positionierung einer szenischen Hermeneutik auch gegenüber einer als Bild aufgefassten Szene zu behaupten. Dazu muss auf die Situation des Bilderproduzierens und die Rezeptionssituation eingegangen werden, deren Praxis wir als völlig alltäglich hinstellen, sodass an der von Gottfried Boehm, Lambert Wiesing und anderen aufgenommenen Frage „Was sehe ich, wenn ich Bilder sehe?“ besonders erstaunlich ist, dass sie erst dann im Diskurs aufscheint, wenn auch die letzten Produktionshemmnisse durch die digitale Fotografie aufgelöst sind. Ich stelle zwei Fragen: Sind Bilder Übergangsobjekte, ein Besitz im Sinne Winnicotts? Und was passiert mit der Veräußerung der Bilder im Übergang zu deren Rezeption? Hat nicht deren totalisierte Präsenz zur Folge, dass der situativ-szenische Übergang ausfällt, sodass das Subjekt sich zu sich selbst verspätet und eine voreilige Andersheit in sich verspürt, deren erster Affekt der Schrecken ist, der sogleich im Bild selbst gebannt werden muss – als endlos-unendliche Produktion von Bildern? Beide Fragenbereiche thematisieren demnach die Praxis der derzeitigen Bilderproduktion angesichts des Zeitökonomie der Rede, des Arguments und der textlichen Darstellung, in denen mir die Aneignung nicht schreckhaft erscheint. Aber in der Vorstellung existieren „Bilder“ als phantasmatischer Besitz und nicht in der Wortbedeutung von „Vorstellung“, von „Aufführung“. Was sich evoziert, sind Szenen, Begleitungen, die allerdings im Hinblick auf die je technische Bildproduktion hin differenziert werden müssen. Das heißt, wenn wir nach dem inneren Zusammenhang (der Isomorphie) fragen, den das Szenische mit dem Bild hat, müssen wir uns abermals anstrengen, das Bild nicht als einen Gegenstand zu begreifen, der vor uns steht und ein Stück von Wirklichkeit verdeckt, die er zugunsten einer anderen, die gerade nicht anwesend ist, repräsentiert. Wir müssen nach der Aporie fragen, die sie heute je einzeln hervorbringt, und zwar, den Reproduktionstechniken geschuldet, gegenüber Text, der in Zeiten des Kupferdrucks eher schnell war. Das Problem der Bilder ist eines der existenziellen Zeit, ihrer Intensivierung. In der

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Amplitude der szenologischen Differenz kann es nicht darum gehen, etwas zu wiederholen, was gerade nicht anwesend ist, sondern das zu fingieren, was niemals anwesend war: Situationen. Bilder kommunizieren Szenen als Situationen. Ihre Erfassung lässt sich als Vorgang nicht abbilden, ihre Dauer ist von Spontaneität oder Plötzlichkeit „begleitet“. Hier taucht die Dialektik von Erlebnis und Ereignis als die von Diachronität und Synchronität in genau der umgekehrten Weise, wie sie Ulrich Sonnemann als Kritik der Deutungswut begreift, auf. „Spontaneität an die Macht“ heißt „die Bilder an die Macht“. Möglicherweise unterschlägt Sonnemann den Gedanken, dass unter „Phantasievorstellung“ und dem Treiben der Straße (im Sinne der situativen Proteste und Einsprüche der 1968er) einerseits und bilderzeugender Aufführung (Demonstrationsspektakel) andererseits ein Unterschied zu machen ist.524 Die „Straße“ erzeugt keine Texte, sie „macht“ Szenen. Wenn Hermeneutik die Geschichte notwendig hervorbringt, um sich finalisieren zu können, so bringen die Bilder die Fingierung deutungsloser Bedeutsamkeit hervor, immer gesetzt den Vorgang der spontanen Erfassung des Bildes als Bild – was eine detaillierte und differenzierte Lesbarkeit des Bildes, z.B. im allegorischen Modus keinesfalls ausschließt. Dann bin ich aber schon dabei, die Synchronität mit dem wandernden Blick in eine Diachronität zu verwandeln und das Bild als einen Schauplatz zu betrachten. Wir müssen jedoch den Moment der Spontaneität als ein Moment der Nichtdeutbar524

Daran wird auch deutlich, dass Sonnemann den falschen Isomorphismus zwischen „Innen“ und „Außen“ im Umschlag von situativer Spontaneität in reflektorische Aufmerksamkeit ersetzt sehen will. (S.175) „Der Grundirrtum ist dabei die gestalttheoretische Verwandlung des psychologischen Isomorphismusbegriffs – der die Übereinstimmung der ‚Innen‘-und ‚Außen‘-Seiten, wie von Phänomenen des Verstehens überhaupt, auch von solchen des Ausdrucks ins Auge faßt – in einem kausalen Prozeßfaktor: welche Mutation ihr Widersinniges hat, da der Isomorphismus gerade Grenzbegriff, Regulativ der theoretischen Vernunft im Sinne Kants ist, keine Entität für sich selber.“ Ulrich Sonnemann: Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals. Frankfurt am Main 1981, S.211. Deleuze hat in Die Falte (a.a.O.) (mit dem späten Lacan und unter Hinweis auf Leibniz) die Grenze als Falte einer zweidimensionalen (flächigen) Welt szenifiziert, die man nur invertieren, aber nicht transzendieren kann. Auf die Kritik an der romantischen „Dichotymie zwischem ‚spontanem‘ und ‘reflexivem‘ Bewußtsein“ (S.299) geht Sonnemann später unter Hinweis auf die Krisis der Einheit beider ein (ich nenne das „Einspruch“, „Invention“), was wiederum den Inversionsbegriff gegenüber dem der Reflexion stärkt – ohne dass Sonnemann hier gewahrt, dass die Frühromantiker gerade diese Unterscheidung schon theoretisch aufgearbeit hatten, wie Frank/ Kurz in Ordo inverso (a.a.O.) gezeigt haben. Wenn an dessen literarischem Ort die Ironie auftaucht, ist damit nichts anderes gemeint als die Position der Negation des Umschlags von Situation in Szenifikation, also „reflektorische Wahrnehmung“.

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keit für unsere Argumentation festhalten und verharren sozusagen in einem hermeneutischen Vorzustand, in dem der fingierte Ursprung sich selbst als Bild aushalten können muss. Das Bild ist sozusagen die materialisierte Ursprungslosigkeit, weil es stets das filiale Bild von etwas ist. Es gibt wohl keinen Bildbegriff, in dem nicht etwas als etwas gebildet würde. Das ikonische Darstellungsverbot Gottes hat nicht in Gott, sondern in der Problematik des Erscheinens von Bildlichkeit seinen Ursprung. Das schließt auch nicht aus, dass das Bild vorbildlos etwas zeigt. Dann handelt es sich aber um eine implizite Verweisung, die als Bild nicht erfasst werden kann, wenn sie nicht durch Liminalität inszeniert ist. Das betrifft übrigens auch das bewegte Bild mit seiner irritativen Kraft, die Wirklichkeit, die situativ ist, bis zur sinnlichen Ununterscheidbarkeit zu simulieren. Bleibt noch zu erwähnen, dass in der Ursprungslosigkeit und in der Nichtverfügbarkeit des spontanen Erfassens ein Entzugsmoment stark wird, das, wie wir später zeigen werden, stets den Schrecken des Bildes durch die – wenn auch nur geringste – Form der Inszenierung von Bildlichkeit bannen muss. Es handelt sich tatsächlich also um die extremste Form des inversen Umschlags von Inszenierung und Situativität. Die Offenbarung der anderen Seite ist der Schrecken des Bildes – wie er uns in dem Retabel bei Grünewald erschienen ist –, weswegen Bildlichkeit sich ständig selbst verdrängen muss, als Rettung eines (externen) anderen. In dieser Hinsicht ist der Begriff der Spontaneität oder der Intervention im Verlauf der szenologischen Amplitude ein Verweis darauf, dass die Szene gegenüber dem Bild die Zeitstruktur in actu zeigt, auf die im Bild in der Synchronität des unmittelbaren Erscheinens verwiesen wird. Der Benjamin’sche Begriff des Schocks leistet ähnliche Dienste. Es geht darum, die Spontaneität des Bildes als einen herausgehobenen Akt des Verstehens zu kennzeichnen, der zeigt, dass die Erkenntnis des Bildes an eine Situativität gebunden ist, deren Auszeichnung es ist, sich auszublenden. Das führt dazu, dass die Problematik des Bildes bei Sartre unter dem Begriff „Riss im Sein“ thematisiert ist. Die Filiationen und Genealogien werden durch das Bild verschieb- und tauschbar. Eigentlich behandelt die Bildproblematik das Erscheinen von etwas, was nicht erscheinen kann – es sei denn, es erscheint als die konkrete Bildlichkeit (Wirklichkeit der Bildsubstanz). Denn da das Bild seine eigene Situativität ist, fallen Erklärung und Verstehen als Zeitreversionen aus der Zeit. Zur Unvermitteltheit des Bildes gehört also die Unvermitteltheit von Offenbarung. Die Aufgabe unserer Analyse ist hier nicht, eine Propädeutik für eine Bildphilosophie abzugeben, sondern den Akt der Spontaneität in die

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Zeitlichkeit seines Verständnisse zurückzuübersetzen. Das Glück und die Attraktivität der Bilder liegt darin, die Zeit als solche opferlos verwahren und mobilisieren zu können, was den Schein birgt, dass sich damit Ereignisse als ‚Eräugnisse‘ invertieren lassen, indem man die Kette der Signifikationen, die sie fundieren, abkappt. In den Bildern ist die Abkappung der Zeit vorbildlich durch die Bildpräsenz selbst verdeckt. Das Bild macht keine Angst, aber wir werden mit Bahr sehen: Es ist der Schrecken selbst, der im Bild gebannt ist. „L’imagination au pouvoir!“ heißt soviel wie: Entmächtigt die Bildbannungen, bringt die Dinge wieder in Bewegung.525 Im Sinne der existenzialen Auffassung des Geburtsphantasmas in der Unterschiedenheit von Szene und Bild stellt Heidegger die Frage nach der Bestimmung von Einbildungskraft, im Sinne der doppelten Bedeutung des Wortes „Vorstellung“. Wer evoziert die Bilder, wer erfasst sie, wer ist im Bilde, wer versteht an der Grenze zum Bild? In einer Diskussion um die Frage der Funktion der Formen, die sprachlich verfasst sind, führt Heidegger mit Cassirer einen Agon um die Möglichkeit metaphysischer Sätze durch – metaphysisch im Sinne dessen, was mir vorausgeht. Auf dieses berühmte Davoser Gespräch, das im Anschluss an Sein und Zeit und im Hinblick auf Kant und das Problem der Metaphysik 1929 geführt wurde, will ich kurz eingehen. Cassirer bringt zur Sprache, dass das Problem der Einbildungskraft bei Kant möglicherweise durch eine Bestimmung des „Symbolischen“ als dem Unendlichen im Endlichen erscheinen könnte. Wobei die Parameter ‚unendlich‘ und ‚endlich‘ nicht axiomatisch, sondern im Sinne des Verstehens von Zeitlichkeit aufgefasst werden sollen. „Kant kommt es aber nicht auf die Synthesis schlechthin an, sondern in erster Linie auf die Synthesis, die sich der Spezies bedient. Aber dieses Speziesproblem führt in den Kern des Bildbegriffes, des Symbolbegriffes“, so Cassirer.526 Heidegger ist 525 Es ist bezeichnend, dass Sonnemann dabei nicht an die Ästhetisierung der Aktion, sondern an die Kritik und Politisierung der Psychoanalyse denkt, von der wir zeigen müssten, dass sie sich dem hermeneutischen Problem der funktionalen Szenifikation mit Silberers Einschüben in der Traumdeutung (Kapitel VI, Rücksicht auf Darstellbarkeit) so widmet, dass Freud im Wolfsmann gegen den Symbolismus Jungs von Urbildern und Archetypen polemisieren kann und allmählich zu einer dynamischen und strukturellen Auffassung der Urszene gelangt: Die Urszene ist dann nicht ein „Bild“, Abbild eines tatsächlich konkreten Ereignisses, das sich im Dunkel der Epigenese und der Phylogenese verliert, sondern die Szenifikation einer Situation. In der Urszene erscheint das Subjekt als Agent seiner selbst. 526 Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger. In: Heidegger, Kant

und das Problem der Metaphysik, a.a.O., Anhang II., S.248.

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dieser Übergang vom „Schematismus“ auf die „Typik“527 zu schnell formuliert; der Übergang wird ihm zu schnell „medialisiert“. Er bleibt vor dem „Übergang“ stehen beziehungsweise stellt sich das Problem als Bewegung des Verstehens selbst vor. Er verharrt bei der Situativität des Daseins, das sich erst einmal als ein Problem stellen muss, in dem das Erkennen und Erklären als ein Akt des Bewusstseins viel später auftritt. Deswegen wehrt er sich, „Dasein“ mit „Bewusstsein“ gleichzusetzen. „Was ich Dasein nenne“, so Heidegger, „ist wesentlich mitbestimmt nicht nur durch das, was man als Geist bezeichnet, und nicht nur durch das, was man Leben nennt, sondern worauf es ankommt, ist die ursprüngliche Einheit und die immanente Struktur der Bezogenheit eines Menschen, der gewissermaßen in einem Leib gefesselt ist“.528 Die ursprüngliche Einheit ist nicht als Bild, geschweige denn als Urszene gegeben, sondern sie ist die Einheit einer Aporie von Freiheit und Endlichkeit, in der die Freiheit nicht irgendwo entdeckt werden müsse, sondern sich als „fortschreitende Befreiung“ in einem „unendlichen Prozeß“ setzend vollziehe.529 Dieser Prozess der Befreiung von der Endlichkeit des Körpers in die Leiblichkeit des Daseins als einer ursprünglichen Einheit geschieht (beim Heidegger vor der ‚Kehre‘) durch den unendlichen Prozess des Verstehens, also der Re- und Progression des existenzialhermeneutischen Zirkels. Verkürzt gesagt ist nicht der Mensch unendlich, sondern das Verstehen. „Aber der Mensch ist nie unendlich und absolut im Schaffen des Seienden selbst, sondern er ist unendlich im Sinne des Verstehens des Seins.“530 „In der Einheit des Verstehens von Sein und Nichts springt die Frage des Ursprungs von Warum auf.“531 Wohlgemerkt, Heidegger fragt gegen die Kritik Kants nicht nach einem rationalen Verständnis, sondern nach dem Motiv des Verstehens, genauer nach dem Verstehen zum Grunde, dessen inversive Zeitproblematik er in Sein und Zeit zu entfalten versucht hat und dessen Lösung darin besteht, den Grund auf das Bild zu reduzieren, in dem die Zeit als „zufällige“532 zu Grunde gegangen ist. Die Unendlichkeit des Verstehens versteht sich selbst als Aufschub und Bewahrung des Grundes (sich vollziehende Offenbarung respektive „Lichtung“), in deren Differenz 527

Ebd., S.249.

528

Ebd., S.261f.

529

Ebd., S.259.

530

Ebd., S.252.

531

Ebd., S.256.

532 Ebd.,

S.253.

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der Grund zugleich ist und nicht ist. Das ist repräsentierbar (aktualisierbar) im Symbolischen, und zwar in besagter zweiter Ordnung, nachträglich. So ist der motivierte Grund die dialektische Antithese zur Spontaneität als Grundlosigkeit. Unter „Motiv“ ist weder das Habhaftwerden noch das Darstellen des Grundes zu verstehen, sondern die Szenifikation der hermeneutischen Bewegung als ursprünglicher Situation. Hermeneutik birgt und offenbart den Schematismus der Bewegung des Verstehens selbst. Cassirer setzt dagegen an die Stelle des Verstehens eine sukzessive Annäherung, die als Identität zwar ins Unendliche verweist, praktischerweise aber im Endlichen (symbolisch) substanzialisiert. Es erscheint Heidegger zu vorschnell, nicht der komplexen Organisation der Zeitgenese zu entsprechen und die Problematik zu überdecken, die darin liegt, dass ich verstehe, dass ich es bin, der (den anderen) versteht: ein voraussetzendes und ein vorausgesetztes Ich. Es geht also überhaupt nicht darum, den anderen mittels Symbole zu verstehen. Man weiß, wie schwer sich Heidegger mit der Problematik des „den anderen Verstehen“ tut. Auf Heideggers Frage, wie Cassirer sich die „Teilhabe an der Unendlichkeit“ denkt, antwortet Cassirer: Nicht anders als durch das Medium der Form. Das ist die Funktion der Form, daß der Mensch, indem er sein Dasein in Form verwandelt, d.h. indem er alles, was Erlebnis in ihm ist, nun umsetzen muß in irgend eine objektive Gestalt, in der er sich so objektiviert, daß er damit radikal von der Endlichkeit des Ausgangspunktes nun zwar nicht frei wird [...], aber indem er aus der Endlichkeit erwächst, führt es die Endlichkeit in etwas Neues hinaus. Und das ist die immanente Unendlichkeit.533

Für Heidegger ist davor jedoch zu bemerken, dass das Problem der Desituierung zunächst einmal im Auszug des Körpers in einen Leib zu übersetzen wären also in das, was er „Existenz“ nennt (und was wir bei Winnicott sehr viel plausibler erklärt finden). Führt man die Disputation zwischen Heidegger und Cassirer auf eine Differenz zu, so kann man zu dem Schluss kommen, dass bei Cassirer im Begriff der Form nicht das Verstehen, sondern das Verstandene zum Ursprung, aber auch zum Ende gekommen ist, während Heidegger das Verstehen selbst als ein unabschließbares Moment der Transzendierung in Endlichkeit vorweg beansprucht. Wenn man will, ist die Formbestimmung nicht an Cassirers Raumproblematik, sondern an die Zeitproblematik geknüpft. Heidegger argumentiert so: 533

Ebd., S.258.

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Der Unterschied ist am deutlichsten am Begriff der Freiheit. Ich habe gesprochen von einer Befreiung in dem Sinne, daß die Befreiung der inneren Transzendenz des Daseins der Grundcharakter des Philosophierens selbst ist. Wobei der eigentliche Sinn dieser Befreiung nicht darin liegt, frei zu werden gewissermaßen für die gestaltenden Bilder des Bewußtseins und für das Reich der Form, sondern frei zu werden für die Endlichkeit des Daseins. Gerade hineinzukommen in die Geworfenheit des Daseins, hineinzukommen in den Widerstreit, der im Wesen der Freiheit liegt.534

Ich meine, im Disput zwischen Heidegger und Cassirer drückte sich genau die Aporie aus, die in der Zeitgestalt des Bildes als das Verstehen von Bildlichkeit allererst differenziert, also in Szene gesetzt werden müsste. Das Formproblem ist nur ein verspäteter Ausdruck dessen, was später Luhmann unter einer Zwei-Seiten-Form ausführen wird. In diesem Vorverstehen des Bildes ist die Alltäglichkeit des Daseins nicht schon wie von selbst durch Bilder besetzt. Es ist gerade die Spontaneität des Erfassens, die zur Vermutung drängt, mit dieser Eiligkeit würde irgendetwas verdeckt und verdrängt, was Bilder heute kulturell so erfolgreich werden lässt. Texte sind gewiss weniger intensiv und gewiss langsamer. „Text“ meint nicht „Alphabetisierung“, sondern noch auch im hieroglyphischen Sinne „Diachronisierung“. Aber dann muss eine Reihe der Zeit, eine narrative Metaphorisierung schon stattgefunden haben, deren äußerste Spitzenleistung, das haben wir mit Blumenberg angemerkt, die Technik ist. Cassirer geht auf die Bildkritik von Heidegger deswegen auch weiter nicht ein, weil er sofort mit dem Argument der Sprache die Unterstellungen einer gewissen Statik seines symbolischen Denkens abwehrt und das Spontaneitätsargument unterläuft. Man darf sich nicht täuschen lassen: Nur weil der Mensch schnell und unproblematisch zur Sprache greifen kann, kann man nicht unterschlagen, dass er für den anderen doch zunächst ein Bild ist, dessen Riss durch die Differenz von Sprechen und Handeln hindurchscheint. Es scheint in der Kürze der aufgezeichneten Disputation, dass der Bezug auf die Spontaneität als Präsenz den beiden Opponenten nicht aufgefallen ist, dass „Symbol“ mit „Bild“ nicht identisch zu setzen ist. Cassirer reduziert kurzerhand die Problematik des Symbolischen, die er noch aus dem Erlebnisbegriff Goethes ableitet535, auf jene der Sprache: „Jeder spricht seine Sprache, und es ist undenkbar, daß die Sprache des einen in die Sprache des anderen übertragen werde. Und doch verstehen wir uns durch das Medium der Sprache. 534

Ebd., S.261.

535

Ebd., S.258.

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Es gibt so etwas wie die Sprache.“536 Ganz abgesehen davon, dass Heidegger gereizt gegenüber der Medialisierung und dem Begriff „Medium“ reagiert, indem er auf die unvermittelbare Differenz („Widerstreit“, Aporie und Agon) in seiner Argumentation beharrt und es ihm philosophisch auch auf die Anerkennung der Differenz537 ankommt, so ist „Sprache“ doch zunächst die in die Darstellung gesetzte Differenz des Widerstreits des Verstehensprozesses, den darzustellen die Interpretation ungleichzeitig leisten soll. Sie muss sich philosophisch selbst in die Endlichkeit aufheben können. Das geschieht negativ durch eine Befreiung vom vorschnellen „Bild“ (Totalisierung) einer Antwort im Fragen. Die Frage ist die rhetorische Inszenierungsform des Unendlichen im Endlichen und somit in der Selbstansicht der symbolischen Ordnungen vorrangig. Dass das Resultat des Verstehens dann sprachlich ist, ist sekundär. Dass es aber Bild sein soll, bedeutet die Umkehrung des Schreckens der Unendlichkeit in der Endlichkeit. Es ist so, dass der Schrecken, der als Bild aufscheint, sofort im Bild gebannt werden muss, damit die Vorstellung nicht mit der Wahrnehmung kollabiert. Gibt es ein Bild als Frage, so wäre zu fragen. Die Antwort liegt nach unserer Untersuchung auf der Hand: Es ist die Inszenierungsarbeit, die ihre eigene Vaterschaft negiert, um sie als Frage aufzuwerfen. Woher erscheint – wer macht – das spontane Bild? Wenn es nämlich einerseits um die Anerkennung und Appropriation geht, kann es eine List der Inszenierung sein, andererseits das filiale Moment jemand anderem als dessen Patriarchat zu unterstellen. Was aber, wenn in der Szenifikation als Bild der andere als Spiegelung meiner Selbst erkannt würde, als das „Ich zeige“? Bildlichkeit erscheint dann als ein paralytisches Moment von Macht. Sie inszeniert nicht, sie dirigiert den Blick. Soweit die Diskussion um die Spontaneität des Bildes und die Szenifikation des Ereignisses, die Sonnemann als Antipode Heideggers in das relationale Verhältnis des Sozialen übersetzt, denn das Verstehen soll nicht metaphysischer Selbstzweck sein. Das, was mir vorausgeht, sind die anderen. Heidegger allein metapysisches Interesse zu unterstellen ist falsch. Heidegger erwartet weder eine Antwort auf das „Besser-Verstehen“ noch auf das „Richtig-Verstehen“, gar „Den-anderen-Verstehen“, sondern er stellt die Frage nach dem „Sich-dem-Verstehen-Aussetzen“ – gegenüber der Antwort, 536

Ebd., S.264f.

537 Ebd., S.266. Stanley zeigt ja, dass der späte Heidegger durchaus den Unterschied von

„Zeitlichkeit“ und „Sprachlichkeit“ für eine hermeneutische Fragestellung nutzbar macht. Stanley, Die gebrochene Tradition, a.a.O., S.255ff.

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die das Bild immer schon zur Verfügung stellt. Es besteht kein so großer Unterschied zwischen der Ansicht, sich der Spontaneität als Phantasie und der, sich dem Verstehen auszusetzen. Nur nimmt das Bild sich vom einen die Spontaneität und suspendiert vom anderen die diachronische Arbeit. Gegen die Ökonomie der Bildabfertigung, nicht gegen Bilder argumentieren Sonnemann wie Heidegger gleichermaßen: Sonnemann, indem er den von Debord ins Spiel gebrachte Begriff des Spektakels, als Erscheinungen von Oberflächigkeit und Medialisierung538 in der spontanen Aktion revidiert, respektive Heidegger, indem er der an Kant ausgelegten „produktiven Einbildungskraft“539 das Wort redet. Die Kritik ist nicht gegen die Realität der Bilderwelt an sich gerichtet, sondern sie beschäftigt sich mit den Zeitfigurationen, die in der hermeneutischen Amplitude, sofern sie sich als Inszenierung einer Situation entwickelt, dem Bild vorausgeht und im Bild als Blick gebannt ist; eine Art Gegenschrecken der Plötzlichkeit, eine andere Praxis soll gewagt werden. Im Bild selbst gilt es zu verstehen, was das Bild verständlich macht. Das heißt, dass, was als Bild verstanden wird, als Aufblitzen und Verlöschen des Ursprungs ein riskantes Spiel mit dem treibt, was Heidegger als die „Arbeit des Verstehens“ meint: sich dem Verstehen aussetzen können. Um den gesamten kunstwissenschaftlichen und hermeneutischen Bereich der Kunstauslegung in den Bildwissenschaften müssen wir uns hier nicht weiter kümmern; diese fragen zumeist und mit gutem Recht im Register von Funktionalität und Symbolstruktur. Wir fragen im folgenden mit Gadamer, ob im hermeneutischen Sinne ein Bild den Vollzug der Arbeit des Verstehens symbolisieren kann. Denn Gadamers Fragestellung in Wahrheit und Methode kommt eigentlich aus dem Gebiet der Kunstwissenschaft.

538 So Debords Begriff von Spektakel 1967, bevor er ihn 1984 auf „die Medien“ ausweitet. Vgl. Debord, Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1996, Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels, S.189. „Das Spektakel sei somit weiter nichts als ein Auswuchs des Mediensektors, dessen unbestreitbar gute Natur – dient er doch der Kommunikation – bisweilen zu Auswüchsen neigt.“ (S.198) „Der bedeutendste Wandel in dem, was sich seit den letzten zwanzig Jahren ereignet hat,“ so Debord noch vor der Zeit des Internets, „besteht eben in der Kontinuität des Spektakels.“ 539 Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Davoser Disputation, a.a.O., S.248.

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b. Das Bild als Vollzug einer Szene Wir knüpfen an den Abschnitt an, dem Gadamer in Hermeneutik und Methode die Explikation des Spiels folgen lässt. Während dort vom Spiel gesagt wurde, dass es ganz der „Selbstdarstellung“540 dient und auch der Zuschauer das Spiel dieser Art nachvollzieht541 – dass also der Spieler das Spiel ist – gilt im Bild die Form einer Verweisung. Das Bild zeigt. Es gibt davon eine Ausnahme: das Bildnis des Dorian Gray. In Wildes Erzählung kommt es auf den Unterschied an, ob das Bild mein Bildnis – mein Angesicht – wiedergibt, ob ich mein Bild bin oder ob ich das Bild als von mir abgelöstes Portrait zur Ansicht gebe – für mich als einen anderen. Es ist z.B. die Eigenheit des Schauspielers, dass er in der Figur, die er spielt, ein Bild von sich abgibt, das nicht sein eigenes ist, das zeigt und darstellt. In Zeiten, in denen sich das Theater vollständig öffnet und die Rollen von Akteur, Agent, Intendant und Beobachter zweiter Ordnung vollständig tauschbar werden, wird die normierenden Position, die des Bildes, im Spiel aufgelöst. Die Inszenierung als Vergegenwärtigung koppelt sich mit der Aktualisierung einer Aufführung. So kann man in der Behauptung Gadamers den Begriff „Spiel“ durch den des Bildes austauschen: „Auch das Schauspiel bleibt Spiel, d.h. es hat die Struktur des Spiels, eine in sich geschlossene Welt zu sein. Aber das kultische oder profane Schauspiel, so sehr es eine ganz in sich geschlossene Welt ist, die es darstellt, ist wie offen nach der Seite des Zuschauers. In ihm erst gewinnt es seine ganze Bedeutung.“542 Nach der Öffnung des Bildes muss ebenso gefragt werden. Wir hatten im vorhergehenden Abschnitt Heidegger mit einer Vermutung gegenüber dem Bild und dem Symbolischen zitiert und gesagt: In den Bildern ist die Abkappung von physikalischer und weitgehend sozialer (so Benjamin), nicht aber von inszenierter Zeit vorbildlich durch das Bild selbst verdeckt, um seine Verweisungsposition zu stärken, also Verschiebungen nach der Maßgabe von Sinn zu leisten. Das Bild macht in dieser Funktion keine Angst, insofern die Angst das Symptom drohender Fusion von Imagination und Realität, der Plötzlichkeit, ist: Es ist der Schrecken selbst, der im Bild gebannt ist – der Schrecken, von sich selbst entweder kein Bild oder nur ein Bild abgeben zu können. Erscheint, wie in Dorian Gray, der Schrecken als Auflösung 540

Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S.103.

541

Ebd., S.104.

542

Ebd., S.104f.

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des Organischen in das Anorganische, szenifiziert sich das Bild als SchauSpiel mit unerhörtem Ernst. Das unterstellt dem Bild seit je eine bannende Fetischkraft des Verstreichens der Zeit. Heidegger stellt folgende Frage an Cassirer: „Wie weit hat die Philosophie die Aufgabe, frei werden zu lassen von der Angst? Oder hat sie nicht die Aufgabe, den Menschen gerade radikal der Angst auszuliefern?“543 Wir übersetzen: Wie weit hat das Bild die Aufgabe, den Schrecken der Starre der Zeit zu bannen? Profan gesagt: Wie ist es möglich den Schrecken auszuhalten, ohne sofort in die Bannungsproduktion des Bildes wie des Sinns als funktionale Narrationen abzugleiten und Serien der Flucht zu entwickeln, z.B. als Film, aber eben auch schon als Theater, das einen seiner Ursprünge im Nachstellen (historischer) Bilder hat?544 Einige Absätze vorher hat Heidegger festgestellt: „Ich würde mich mißverstehen, wenn ich sagte, daß ich eine standpunktefreie Philosophie gäbe. Und hier kommt ein Problem zum Ausdruck: das des Verhältnisses von Philosophie und Weltanschauung. Die Philosophie hat nicht die Aufgabe, Weltanschauung zu geben, wohl aber ist die Weltanschauung die Voraussetzung des Philosophierens.“545 Das Argument Heideggers bezieht sich also sowohl auf das einzelne Bild, das Vorstellungsbild wie auf das Weltbild. In dieser Bündelung kann man für „Bild“ auch den Begriff „Totalisierung“ einsetzen. Dabei zielt Heidegger auf ein Eröffnen der Freiheit, genauer: auf „das Sich-befreien der Freiheit im Menschen.“546 Das ist kein Fingerbreit von der Argumentation Sonnemanns entfernt, man muss nur „den Menschen“ durch „die Menschen“ austauschen. Das meint nun, dass das Spiel als Form der Freiheit selbst in Arbeit genommen werden muss, als Deutung. Noch bei Kierkegaard ist die Freiheit nicht positiv gesetzt, sondern ein Ausdruck der Verzweiflung, bei Heidegger wird sie an das Ethos der (unendlichen) herme543 Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Davoser Disputation, a.a.O., S.258. 544 Jean-Luc Godard zeigt das auf bewundernswerte Weise in seinem Film Passion (Frank-

reich/Schweiz 1982). Sujet des Films ist eine Filmproduktion, die damit beschäftigt ist, berühmte Bilder mit lebenden Körpern nachzustellen. Es spielt damit, Dauer und Kontinuität in Konflikt mit der Hektik einer Fabrik zu konfrontieren, deren Arbeiter in dem Film im Film mitspielen. Godard zeigt, dass der Film (respektive das Auge der Kamera) nicht den versöhnenden, nämlich narrativen Vollzug dieses Konflikts aufarbeiten muss, da das Leben nicht nach den Vollzugsformen des Films gelebt werden kann, so wie die Arbeit nach den Vollzugsformen der Fabrik funktioniert. Filmen ist (soll sein): keine Fabrikarbeit.

545 Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Davoser Disputation, a.a.O., S.256. 546

Ebd., S.257.

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neutischen Arbeit gebunden, aber auch zugleich in ihr erlöst.547 Erinnern wir uns daran, was Kierkegaard über die Bühnenangst (Lampenfieber) sagt: Sie verschwindet, wenn der Akteur die Bühne betritt, wenn er im Register nicht mehr der Vorstellungserinnerung einer Rolle, sondern der Darstellung der Rolle ist. In der Aufführung verlieren die Ängste mit den Bildern ihr Recht. Im alten griechischen Theater sind es ja noch die Toten, die das Bild als Bild des Schauspielers verkörpern – die Toten, die das Bild, das sie sind, von sich abzuschütteln versuchen. Die Illustration dieses Typus des Standbildes ist in Mozarts Don Giovanni der „steinerne Gast“ – der „Komtur“, der Don Giovanni („Welch ungewohntes Angstgefühl“548) in den Tod reißt. Wenn Totenbilder lebendig werden, schafft das den Schrecken der Bilder als Erkenntnis über sie. Ist es ein Zufall, dass der Komtur zu einem Mahl erscheint, sein Mahl (die Zersetzung der Toten ins Anorganische, deren Verbergung die Totenmaske ist) als Gegengabe anbietet und man dabei ans Malen und Vermalen, das „Kochen“ des Bildes denkt? Die Etymologie von „Mal“ (im Sinne von Merkzeichen) vermerkt dabei unter „Mahl“ den Zeitpunkt, der als „Fleck, Mal“ in der Zeit festgesetzt wird, etwa in „Mahlzeit“, „Mittagsmahl“, sodass das „Mal“ als Werden und Vergehen im Auftischen und Verdauen des Zeitpunkts der Abrechnung verstanden wird, oder in der Abbitte, die der Komtur von Don Giovanni verlangt. Unverrückbar liegen hier Zeit, Bild und Schrecken ganz eng beisammen. Wenn dann noch des Vaterschaftsopfers des Komturs gedenkt wird (Komtur, der getötete Vater der Tochter, die Don Giovanni verführt), wird vollends klar, dass die Gespenster, die den rastlosen Don Giovanni umtreiben, die der uneinholbaren Vorzeitigkeit seiner eigenen Verführungskraft sind: die Vorstellungs- respektive die Erinnerungsbilder. Diesem Nachstellen der Vorzeit entspricht das Erscheinen des Komturs, der die Zeche für den Verführungsfrevel eintreibt. Schon der erste Satz des Don Giovanni in Da Pontes Libretto sagt alles: „Don Giovanni (immer sein Gesicht zu verbergen suchend). Wer ich bin, du töricht Mädchen, Nie erfährst du das von mir!“549 Die im Libretto angedachte Gestik des Festhaltens und Entfliehens, der Verführung (der Tochter) und der Ermordung (des Vaters) sind psychoanalytisch betrachtet dem Umgang mit den Mediali547 Die Parallele Heideggers zu Kierkegaard ist nicht von der Hand zu weisen. Vgl. Sören

Kierkegaard: Der Begriff Angst. Hamburg 1991, S.141: „Die Angst ist die Möglichkeit der Freiheit, nur diese Angst ist durch den Glauben absolut bildend, indem sie alle Endlichkeiten verzehrt, alle ihre Täuschungen aufdeckt.“

548 Wolfgang 549

Amadeus Mozart: Don Giovanni. Stuttgart 1992, 2. Aufzug 15. Auftritt.

Ebd., 1. Aufzug, 1. Auftritt.

411

täten des szenischen Erscheinens gegenüber dem Habhaft-Werden der Bilder geschuldet; Differenz, in der die Visualisierungen des Blicks als Verführung von Authentizität und Autorschaft ablenken, was wiederum suggeriert, dass die Gedächtnisfunktion im Bild selbst in Schutz genommen zu werden verspricht – in Schutz und zugleich als Fluch, sich narzisstisch im Bild des anderen zu sehen. Man muss nicht eigens auf die Probleme der Autorschaft inflationär floatender Bildwelten und des fliehenden Bildes im Film hinweisen. „Verwandlung ins Gebilde“ nennt Gadamer die Komplettierung der Darstellung des Spiels als dessen Darstellung/Aufführung. Im Gegensatz zu Fischer-Lichtes Ansicht, dass die Aufführung die Erscheinung der Unwiederholbarkeit ist, sagt Gadamer, dass das Spiel „prinzipiell wiederholbar und insofern bleibend [ist]. Es hat den Charakter des Werkes, des ergon und nicht nur der energeia. In diesem Sinne nenne ich es ein Gebilde.“550 Zwischen der Zeitform des Gebildes und der Flächenform des Bildes ist zu unterscheiden. Gadamer weist darauf hin, dass in der Aufführung für andere, die das Gebilde protegiert, die „Unentschiedenheit der Zukunft“ derart zum Ausdruck kommt, als der andere dieses Gebilde niemals wird vollständig verstehen können, da er selbst mimetisch und wiederholend Teil des Spiels ist; in diesem Sinne ist der Begriff „energeia“ angemessener als etwa der KraftBegriff von Mauss oder der Marx’sche Begriff „Arbeit“. Die Energie ist ein Skopus, der sich zwischen den Autor und Deuter des Spiels schiebt. Den Modus der wiederholenden, wechselweisen Darstellungs- und Deutungsverweisung versteht Gadamer als „Inszenierung“.551 Die transzendente Vergegenwärtigung der Darstellung des Spiels ist ihr sich haltender (dauernder) Zeitmodus, den Gadamer in der unmittelbaren Vergegenwärtigung eines Festes sieht. Er verschiebt damit die Stelle der Aufführung in die des Festes als inszenierte Zeit: „Die Zeiterfahrung des Festes ist vielmehr die Begehung, eine Gegenwart sui generis.“552 Man muss auch verstehen, dass der Begriff „Gebilde“ als Korrelat seiner Prozessualität gegen den des „Gestells“ bei Heidegger etabliert wird. In der Inszenierung nach Gadamer ist also weder das Bild noch das Spiel das tragende Moment, sondern der Blick oder, abstrakter formuliert, die Deutungsintention zur Initi550

Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S.105f.

551

Ebd., S.113.

552

Ebd., S.117 – Ist es verwunderlich, dass Don Giovanni dem Komtur ein Festmahl spendiert, es aber zum Fest nicht kommt, weil die für das Fest typische Einverständnis- und Identifikationsbedingung fehlt?

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ation. Diese kann niemals im Bild liegen, sondern muss die soziale Welt- und Kontextsituativität des Bildes als Inszenierung (Verweisung, Zeigen) zeigen. Denkt man die von Gadamer im Spiel präzisierte Zeitproblematik der Dauer konsequent weiter, wird deutlich, was das Gebilde vom Bild unterscheidet: die Dauerhaftigkeit, und zwar in dem Sinne, dass sie vergessen macht, welchem situativen Standpunkt sich das szenische Bild verdankt. Das Bild ist ein Gebilde, das seiner Herkunft und Zukunft und damit seiner Situativität sich entledigt hat, sich aber deshalb zugleich von der Unfreiheit seiner szenischen Bedingtheit nicht befreien kann. Befreiung und Verlust sind im Bilde zusammen gedacht, z.B., wenn das Bild seiner Architektur entblößt in einer „Sammlung“ oder einem „Museum“ so deplatziert hängt wie Duchamps Pissoir. Ihre Zeichenhaftigkeit macht Bilder situativ unabhängig. „Wir machen damit ein jedes Kunstwerk gleichsam zum Bilde; indem wir es aus allen seinen Lebensbezügen und dem Besonderen seiner Zugangsbedingungen ablösen, wird es wie ein Bild in einen Rahmen geschlagen und gleichsam aufgehängt.“553 Wenn das die basale Funktion des Bildes ist, dann verdeckt sie eben die spontane Situativität als Praxis einer Negation. Bezeichnenderweise sind Designobjekte als Industrieprodukte von dieser Kontextsensitivität beinahe vollständig befreit. Sie werden nicht auf Situationen, sondern auf szenischen Gebrauch hin angefertigt. Ihre Inszenierung ist von ihnen nicht abzulösen, weswegen Designobjekte auch kein „Bild“ abgeben. Sie werden in der Reklame in der realen oder simulierten Inszenierungswelt dargestellt. Was in Kunst zum Bilde „degradiert“ wird, wird dadurch aufgefangen, dass man die Lebensbezüge eigens durch Hängung und Nachbarschaft, durch Kurator und Themenfolge einer Ausstellung motiviert: durch Szenografie. Das heißt aber, dass der Grund der gegenwärtigen Inszenierungskultur darin zu suchen ist, dass die „Gebilde“ wegen ihrer auch medialen und logistischen Mobilität Lebensbezüge und Ereigniskontexte verlangen, um sie in die Geschichte des Sinns und des Verstehens, d.h. mittels Konsum in Praxis auflösen zu können. Gadamer untersucht im Weiteren den inneren Zusammenhang zwischen dem Bild und seinem ‚Spielraum‘, seiner Freiheit vom und als Schrecken. Es lohnt sich den Ausführungen zu folgen, obgleich sie uns von der eigentlichen Frage nach dem ambivalenten Rettungseffekt des Bildes fortzuführen scheinen. Von der vergegenwärtigenden Funktion des Bildes als die des Ortes 553

Ebd., S.128.

413

und seiner Situativität geht Gadamer zur Genese des Bildes über. Dabei muss deutlich sein, dass unter Bild nicht „Abbild“ oder „Spiegelbild“ gemeint sein darf und das Bild weder eine einfache Reflexionsbeziehung zum Betrachter eingeht noch einfach nur darstellt, was an seiner statt hätte erscheinen können.554 Wenn das Bild als Eröffnung des Spiels im eigentlichen Sinne Ereignis ist und nach dem Bilderlebnis gefragt wird, orientiert Gadamer sich wie Freud am Begriff der „Urszene“, am Begriff „Urbild“. Das Erscheinen des Bildes und die Bildwerdung sind zwei unterschiedliche Haltungen gegenüber dem Subjekt „Blick“. „Urbild“ ist nicht im Sinne eines „ersten“ oder „archaischen“ Bildes gemeint, sondern in Bezug auf das Produzieren der Darstellung. „So geht der Begriff des Bildes über den bisher gebrauchten Begriff von Darstellung hinaus und zwar dadurch, daß ein Bild sich wesensmäßig auf sein Urbild bezieht.“555 Dieser Hinweis führt von einer Konsumentenlogik des Bildes auf eine ökonomische der Gesamtbeziehung von Blick und Verweisung: Dahin, wo einer zeigt, darauf fällt der Blick.556 554 Ebd., S.131. Die fehlende Unterscheidung zwischen ‚Spiegel‘ und ‚Bild‘ findet man noch im Barock: „Gryphius gebraucht gelegentlich als Synonym für ‚Abbild‘ den alten Begriff des ‚Spiegels‘. Tatsächlich ist der Spiegel ein treffender Ausdruck für das Bild noch des 17. Jahrhunderts, denn er stellt nicht ein durch die schöpferische Beteiligung des Subjekts zur inneren symbolischen Einheit geformtes Ganzes dar, sondern vermittelt die wirklichkeitsgetreue Wiedergabe des Gegenstandes.“ Diese Identifikation führt dazu, dass das Bild begriffliche Funktionen annimmt und nicht für situative Darstellung einsteht. Denn „Vergegenständlichung“ ist eine Form der Elementarisierung. „Hier liegt die Ursache dafür, daß das barocke Bild trotz seiner sinnlichen Konkretheit uns immer wieder so seltsam abstrakt anmutet.“ Gerhard Fricke: Die allgemeine Struktur und die ästhetische Funktion des Bildes bei Gryphius. In: Richard Alewyn (Hg.): Deutsche Barockforschung. Köln 1965, S.316 u. S.321. 555

Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S.130.

556 Ich verweise damit auf die Ausführungen des Prologs und den Zeigegestus von Johannes

dem Täufer in der Darstellungsabsicht Grünewalds. „Wenn es zu einer erfolgreichen Zeigehandlung kommt, so ist das mit der unvermeidlichen Folge verbunden, dass die gezeigte Sache am zeigenden Ding selbst wahrnehmbar wird – man hat es mit einem semiotischen Vorgang der Verkörperung zu tun, der in der Geschichte der Philosophie mindestens schon zweimal eingehend beschrieben wurde: nämlich bei Charles William Morris als ikonisches Zeichen und bei Nelson Goodman als Exemplifikation. Verbindet man ihre Überlegungen mit den bisherigen Beschreibungen zur Verwendung des Zeigefingers, dann lässt sich sagen: Der Finger, der im Akt des Hinweisens zum Zeigen der Blickrichtung des Zeigenden verwendet wird, ist – in der Terminologie Morris’ – ein ikonisches Zeichen der Blickrichtung oder – in der Terminologie Goodmans – eine Exemplifikation der Blickrichtung. [...] Nur beim ikonischen Zeichen wird von jemandem ein Gegenstand genutzt, um sich mit diesem Gegenstand auf andere Gegenstände zu beziehen, welche ebenfalls teilweise die Eigenschaften haben, die der als Zeichen benutzte Gegenstand selbst auch hat. Man kann sagen: Ein ikonisches Zeichen entsteht aus der Praxis, die man im Alltag schlicht zeigen nennt.“ Wiesing, Sehen lassen, a.a.O., S.122f.

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Das „Urbild“ ist kein Bild, sondern ein szenisches Moment. Nicht nur der „Rohstoff“ der Situation, sondern auch die Relation der Bildung und der Transzendierung des Bildes sind als Bild gedacht und beide können künstlerisch sogar im Bilde dargestellt sein. Im eigentlichen Sinne zielt das Projekt Gadamers auf das Problem der Auslegung und des Verstehens von Kunstwerken, die er seinerzeit ganz klassisch subsumiert: Tafelbild, Standbild und später das Vorstellungsbild in der Literatur. Das Bild als Gebilde fügt dem Dargestellten etwas hinzu, es vollendet es als „Präsenz des Dargestellten“.557 Die Hinzufügung ist eine Deutung der Präsenz in ihrer Darstellung. In strukturalen Begriffen, sind die metonymische Flucht und die metaphorische Brechung im Fluchtpunkt in einer einzigen Bewegung gedacht – nur eben als genetische, hermeneutische Bewegung der Zeitmomente. Ich meine, dass dies eigens hervorzuheben wäre, da sonst unverständlich bliebe, wie eine szenische Hermeneutik über die strukturalen oder linguistischen Oppositionen ihre Argumente soziologisch so deutlich machen könnte, wie Heidegger das intendiert, und Gadamer sie aufgreift, nämlich im Hinblick auf die Darstellungsmöglichkeit des Menschen, „das Bild in Menschengestalt“558: die imago gegen die pictura. Gadamer geht es keineswegs darum, sich im kunst- oder bildwissenschaftlichen oder gar ontologischen Sinne einer Definition des Bildes anzunähern, sondern, so meine Lesart, die Bestimmung des Menschen von sich selbst in der Deutung zu erfahren, der Abwehr des Schreckens, wenn man seiner selbst als Anderer inne wird – um es mit Benjamin zu sagen. Die Situation ist jedoch die, dass die Abwehr sich in einem fingierten Entwurf selbst abwehren muss: Deshalb macht sie das im Modus des Gebildes und gilt das Bild nicht als die Realität, obgleich es eine Materialisation ist.559 Wenn der Umweg über das Bilden geht, muss die Zeit als Rest das sein, was im Bilden die Erscheinung des Menschen für sich ermöglicht – das ist das Konzept der Aporie der Identität (Präsenz), die das Bild des Menschen in Sein und Zeit verkörpert. Heideggers Konzeption verführt weiterhin dazu, die Verhältnisbestimmung von Situation (Simultaneität), Szenifikation (Synchronisierung) und Inszenierung (Diachronie, Narration) in Termini der Zeit (Verführung) und nicht des Raumes zu denken.

557

Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S.131.

558

Ebd.

559 „Deshalb lässt sich mit einem Bild wohl zeigen, wie ein Kentaur aussieht, aber nicht,

dass es einen gibt.“ Wiesing, Sehen lassen, a.a.O., S.137.

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Bezüglich der Zeit als Rest im Gebilde des Bildes muss das Konzept der energeia von den Relationsbeziehungen der Zeit aus gedacht werden, die ja eben keine Kraft, sondern im äußersten Falle eine Konstante der kinetischen Relationsbeziehungen selbst darstellt. Die Abweichung der Identität bestimmt sich im Bild durch den (deutenden) Blick auf zwei Weisen, erstens durch die „Umsetzung“, das Artifizielle, in dem es mit dem Abgebildeten nicht identisch sein soll. „Ein solches Bild ist kein Abbild, denn es stellt etwas dar, was ohne es sich nicht so darstellte. Es sagt über das Urbild etwas aus.“560 Es verweist. Es deutet sich die gleiche Schwierigkeit wie in der Bestimmung der Vaterschaft der Inszenierung an: Kann etwas als Artefakt aufgefasst werden, was mit sich selbst identisch ist? Wäre das nicht stets nur das Phantasma einer ersten Natur, der die Artifizialität der Techniken eine zweite entgegenstellt – aber als Bild, als Differenz. Das Problem des fingierten Entwurfs in der „Abwehrabwehr“ verlangt zweitens eine Bestimmung von Authentizität. Kann die positiv gegeben werden? Gadamer spricht von einem „Zuwachs an Sein. Der Eigengehalt des Bildes ist ontologisch als Emanation des Urbildes bestimmt.“561 Wird hier nicht das Problem der Authentizität als ontologisches falsch deklariert? Gadamer beeilt sich, diese Auffassung zu zerstreuen. „Im Wesen der Emanation liegt, daß das Emanative ein Überfluß ist. Das, von dem es ausfließt, wird dadurch nicht weniger.“ Er sprengt, mit Hinweis auf Platon, die „Substanzontologie“562 in ökonomischer Rücksicht auf den Gabencharakter des Bildes hin im Entzug seiner selbst und verweist auf den kaufmännischen Begriff der „Repräsentation“, in dem Summen nicht nur „realisiert“, sondern auch „dargestellt“ werden, sodass in der Repräsentation das Realisieren und Darstellen ad persona zusammenfallen. Offenbar 560 Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S.133. Hier könnten wir Goethe und Klee in Behauptung der Authentizität der Natur respektive des Naturerlebnisses in Stellung bringen. Vgl. auch Cassirers Analyse der „Urbildlichkeit“ bei Goethe. Ernst Cassirer: Goethe und die mathematische Physik. Eine erkenntnistheoretische Betrachtung. In: Ders.: Idee und Gestalt. Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist. Darmstadt 1971, S.31: „Das Dringen auf das ‚Urbildliche‘ und ‚Typische‘, das Goethes ganze klassische Periode kennzeichnet, ist in ihm aufs höchste gesteigert – aber es hat den Anschein einer fremden, dem Gegenstand selbst von außen aufgedrängten Tendenz verloren, weil es sich mit der individuellen Weise des Sehens und Erlebens, von der Goethe beherrscht ist, rein und vollständig durchdrungen hat.“ Goethes Dispositiv ist nicht das der Berechenbarkeit, sondern das der Szenifikation: „Die mathematische Formel geht darauf aus, die Erscheinungen berechenbar, die Goethesche, sie vollständig sichtbar zu machen.“ (S.78) 561

Gadamer, Wahrheit und Methode, a.a.O., S.133.

562

Ebd., S.134.

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wird damit die nicht realisierte Zeit der Kreditierung umgangen, die wiederum den anderen als Anderen ins Spiel der Deutungen involviert, denn die Emanation ist ein Ereignis gerade der Abkappung der Genese, verkürzt auf das „Urbild“. Schon der Begriff „Urbild“ meint also nur „der Situativität unterstellt und linearer Zeitordnung enthoben“. Repräsentation ist demnach der höchste Akt des Vertrauens – Vertretung, Ausübung der Realisierung – und keineswegs nur Stellvertreterschaft, die im Hinblick auf eine Repräsentation der pictura im Verhältnis der Emblematik gemeint wäre. Der Kaufmann kennt stets nur Aktiva und Passiva, über konkrete Summen seines Besitzes ist er nicht im Bilde, gleichwohl kann er sie realisieren, indem er sie kreditiert. Gadamer spricht geradezu von einer „Umkehrung des ontologischen Verhältnisses von Urbild und Abbild.“563 Den Begriff „Umkehrung“ haben wir mit dem frühromantischen der „Inversion“, nicht mit dem der Reflexion besetzt. Die Reflexion ist die vermeintlich erste Bewegung, die sich erst nachträglich diesen primären Status erobert, indem sie die unendliche Bewegung in sich strukturiert, stabilisiert und „verzeitlicht“ – was die Realexistenz des Bildes als einer dauerhaften, ‚artifiziellen Präsenz‘ (Wiesing) ausweist. Aber dieser Ausweis geschieht im Moment der Technik des Realisierens. In dieser Hinsicht liegt der Vorteil des Bildes gerade darin, von seiner Genese abgeschnitten und mobil für Übertragungen sein zu können: Es wird zum Objekt des Übergangs, des Gedenkens und der Verdeckung des Schreckens der Unaufhaltsamkeit des Verfalls. Das Bild als gebannter Schrecken ist zugleich die Emanation im anderen, aber auf Kosten einer der Selbstentfremdung. Doch nicht dies, daß durch das Bild der Dargestellte eine neue eigentlichere Erscheinungsweise gewinnt. Vielmehr ist es umgekehrt: weil der Herrscher, der Staatsmann, der Held sich zeigen und den Seinen darstellen muß, weil er repräsentieren muß, gewinnt das Bild seine eigene Wirklichkeit. Trotzdem liegt hier ein Umschlagspunkt. Er selbst muß, wenn er sich zeigt, der Bilderwartung, die ihm entgegengebracht wird, entsprechen. Nur weil er derart ein Sein im Sichzeigen hat, wird er ja eigens im Bilde dargestellt. Das Erste ist also gewiß das Sich-Darstellen, das Zweite die Darstellung im Bilde, die dieses Sichdarstellen findet. Die Repräsentation des Bildes ist ein Sonderfall der Repräsentation als des öffentlichen Geschehens. Aber das Zweite wirkt dann auch auf das Erste zurück. Wessen Sein so wesenhaft das Sich-Zeigen einschließt, der gehört sich selbst nicht mehr.564

563

Ebd., S.135.

564

Ebd.

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Alle Probleme der Selbstdarstellung des Menschen, der sich als Individuum selbst beherrschen will, müssen für die historische Moderne weder nur im Tafelbild und im Stolz der Aufnahmen Daguerres noch der Gelegenheitsfotografie der Gegenwart gedacht werden. Es wird verständlich, warum es ein eigentliches Tafelbild in der griechischen Antike nicht gegeben hat, weil dort alle Bildnisse im Sinne des architekturalen Raumes situativ und immobil nicht für den Blick bestimmt waren.565 Sie waren nicht auf eine Differenz von Erwartung und Realisierung aufgebaut, sie waren „ideal“. Es kommt im Wesentlichen bei der Bestimmung des Bildes auf das Spiel an, in dem das Zeigen sich als Binnenverweisung der Aufführung einer Inszenierung des Blickes bedient. Das versteht Gadamer für das Kunstwerk im Sinne Hegels als „das ‚Scheinen‘ der Idee selbst.“566 Wobei das Kunstwerk – auch wenn es „sich in dem Ereignis der Aufführung ereignet“567, wenn es sich zeigt – niemals nur zeigt, sondern auch sich zeigt, dadurch dass es das Zeigen selbst ableitet als eine Realisierung des Blicks im anderen, das heißt seiner Vergegenwärtigung. Deswegen unterscheidet Gadamer so strikt zwischen „Realisierung“ und „Realität“ – eine Unterscheidung, die an die von Lacan zwischen dem „Realen“ und der „Realität“ gemahnt. Die Inszenierung ist nicht nur, wie Gadamer sagt, die Vollendung des Werks in einer wie auch immer beispielhaften Darbietung einer Deutungsperspektive, sie ist zugleich der Aufschub zwischen Sein und Schein, und zwar prinzipiell. Als Pole dieses Aufschubs des Zeigens des Zeigenden steht das Bild in der Mitte: „Diese Extreme der Darstellung sind das reine Verweisen – das Wesen des Zeichens

565 Mit der Ausnahme etwa des Triumphbogens, der das Negat einer rituellen Figur dar-

stellt, also etwas zeigt, was sich nicht zeigt. Vgl. Bohn, Triumph mit Bogen, a.a.O., S.71: „Zwei Weisen der Erfahrung bestimmen das Bild der Brücke mit Bogen. Zur ersten gelangt man im Überschreiten, zur zweiten, indem man sich dem Transit quer stellt und von der Seite die Überwölbung betrachtet. Transit und Darstellung zugleich sind verwehrt, es sei denn, der Körper selbst wölbt sich zur Brücke.“ Diese Anschauungsprobleme versucht der Triumphbogen zu inszenieren: „Der Triumphbogen ist im symbolischen Sinne der Ort, dem es in seiner Architektur um die Aufhebung, das heißt Entschuldung, wenn nicht Vertuschung der Kriegsaktionen geht“, derart, dass der Krieg die externalisierte Form des Zwangs der Totalansicht der, Aneignung des Blicks des anderen erzwingt. (S.87) Die Probleme der Situativität der Architektur kommen erst in der Neuzeit zum Ausdruck, d.h. in der Deplatzierung der Klassik, etwa in der Aufstellung der Laokoon-Gruppe, des David des Michelangelo oder der Obelisken und Denkmale, die sich von ihren Orten entfernen können und unabhängig davon entstehen. Sie werden zu Dienern der Kulissen. 566

Gadamer, Wahrheit und Methode, S.137.

567

Ebd., S.140.

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– und das reine Vertreten – das Wesen des Symbols.“568 Eben dieses „reine Verweisen“ muss nun in der Psychologie des Bildes als Symptom des Schreckens vor dem tatsächlichen Erscheinen des Ursprungs, des Todes als Nu der Plötzlichkeit, als das letzte und zugleich erste Bild aufgefasst sein. Die Mitte oder die Vermittlung dieser Plötzlichkeit und der Angst davor ist das, was Heidegger in Bezug auf den allgemeinen Symbolbegriff als Formbegriff bei Cassirer abwehrt, um die bannende Kraft des Bildes bezüglich der existenzialen Angst zu entlarven. Dabei geht es nicht um eine Aufklärung des Scheins, also des Verhältnisses von Idee und Repräsentation, sondern um die begleitende Aufdeckung des unendlich Prozessualen im Endlichen des Daseins. Wir wissen von Lacan, dass gerade die Angst, die Heidegger als wesentliches Moment der ‚Realisierung‘ der Freiheit ins Spiel führt, das ist, was nicht täuscht. Sie ist das Negat des Scheinens als Wahrheit vor dem Bild569: ante und pre.

568

Ebd., S.144 u. S.147 Gadamer spielt die Unmittelbarkeit der „Erlebniskunst“ gegen die situativ unabhängige der „Dekoration“ aus, die beide die Pole der Zeitlichkeit und Räumlichkeit des Bildes bilden. Heute würde man zwischen Inszenierungsform und Funktionalisierung respektive Szenografie und Design unterscheiden wollen.

569 Vgl. Michael Wetzel: Die Wahrheit nach der Malerei. München 1997, S.183ff. Kunst – Ereignis: Schauplatz. Unterwegs zur dX. Wetzel beschreibt die „Diskursivierung der Kunst gerade durch den Einfluß der medientechnischen Reproduktion.“ Sie bewirke „eine Immobilisierung des Betrachters, der sich auf den rein abstrakten Schauplatz einer durch Kunstkataloge, Ausstellungsberichte oder literarische Stildebatten bestimmten Sprachbewegung zurückzieht.“ Szenografische Tendenzen berücksichtigten nicht den Diskurs-, sondern den „Parcours“-Charakter von Erlebnisräumen: „Reflexionen dieser Art eines Ausstellens des Ausstellens als Hinterfragung des Schauplatzes möglicher Dokumentation haben die moderne Kunst wiederholt auf ihr Verhältnis zu den zeitgenössischen Weisen der kollektiven Perzeption von Raum und Zeit zurückkommen lassen.“ (S.187) „Der öffentliche Raum wird zunehmend weniger durch Diskurse als vielmehr durch das öffentliche Bild beherrscht und bekommt dadurch nicht nur eine neue Valenz, sondern auch – streng genommen – eine neue topologische bzw. teletopologische Struktur. Paul Virilio spricht in Analogie zu physikalischer Begrifflichkeit vom ‚kritischen Raum‘, der neuen urbanen Zonen mit ihrer punktierenden bzw. modalen, das heißt durch ereignishafte Intensitäten und knotenhafte Epizentren ohne Ausdehnung und Peripherie markierten ‚dimensionslosen >Bildform