Systematische Theologie: Teil II: Durch Wahrheit zur Freiheit 9783525552988, 9783647552989, 352555298X

Diese Dogmatik bildet die Brücke zwischen der "Fundamentaltheologie" des Teils I (Durch Wahrheit zur Freiheit)

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Systematische Theologie: Teil II: Durch Wahrheit zur Freiheit
 9783525552988, 9783647552989, 352555298X

Table of contents :
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Table of Contents
Vorwort
Einführung
Kapitel 1: „Gott ist Geist“ (Joh 4,24)
1.1 Einführung
1.2 Der Name Gottes und das Begriffswort „Gott“
1.3 Die trinitarische Struktur des göttlichen Waltens
1.4 Gottes Sein
1.5 Gottes Person-Sein
1.5.1 Person-Sein
1.5.2 Schleiermachers Frage
1.5.3 Dreieines Person-Sein
1.5.3.1 Einführendes
1.5.3.2 Gottes Einzigkeit
1.5.3.3 Der dreieine Gott
1.5.3.3.1 Gottes Wesen als Geist
1.5.3.3.2 Gott als dreieiner Geist
1.5.3.3.3 Gottes Wahr-Sein
1.5.3.3.4 Gottes Gut-Sein
1.5.4 Fazit: „Grund ewiger Freude“
Zwischenbetrachtung: Gottes Gnadenwahl
Kapitel 2: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott
2.1 Einführung
2.2 Glauben
2.2.1 Glaube als Fromm-Sein
2.2.2 Fromm-Sein – Wissen – Wollen
2.2.3 Das biblische Schöpfungsdenken
2.3 Gottes schöpferischer Geist
2.3.1 Gottes Allmacht: Grund der Existenz
2.3.2 Gottes Allwissenheit: Grund des Sinnes
2.3.3 Gottes Allgegenwart: Grund des Raums
2.3.4 Gottes Ewigkeit: Grund der Zeit
2.3.4.1 Die Erfahrung der Zeit
2.3.4.2 Gottes Ewigkeit
2.4 Der Mensch als Gottes Ebenbild
2.4.1 Der Status der theologischen Lehre vom Menschen
2.4.2 Mensch-Sein als geschaffenes Person-Sein
2.4.2.1 Geschaffenes Person-Sein als individuelles Selbst-Sein
2.4.2.2 Die Bestimmtheit der geschaffenen Person für die geschaffene Person
2.4.2.2.1 Geschlecht und Liebe
2.4.2.2.2 Das Verhältnis von Freiheit zu Freiheit
2.4.2.2.3 Die Ordnung der geschaffenen Freiheit
2.4.2.3 Die Bestimmtheit der geschaffenen Person für Gott
2.5 Fazit: „Alles, was Odem hat, lobe den HErrn! Halleluja!“ (Ps 150,6)
Kapitel 3: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)
3.1 Einführung
3.2 Erlittenes Leid – verschuldetes Leid
3.3 Phänomene des In-der-Sünde-Seins
3.3.1 Kritik des Begriffs der „Erbsünde“
3.3.2 Angst
3.3.3 Scham
3.3.4 Begehren und Begierde
3.3.5 Haltungen des Lasters
3.3.6 Zorn, Hass, Gewalt
3.3.7 Fazit: „An dir allein habe ich gesündigt“ (Ps 51,6). Zum Verhältnis von Sünde und Schuld
3.4 Das Scheinen des Lichts in der Finsternis (Joh 1,5)
3.4.1 Vorblick
3.4.2 Institutionen der Verheißung des „Friedens mit Gott“ (Röm 5,1)
3.4.2.1 Grundsätzliches
3.4.2.2 Die Rechtsordnung
3.4.2.3 Ethische Selbstbildung
3.4.2.4 Die Erfahrung der Kunst
3.4.2.5 Die Erwählung Israels zum Volk JHWHs
3.4.2.6 Fazit
3.5 Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes
3.5.1 Christologie. Eine methodische Betrachtung
3.5.2 „In ihm allein wohnt doch die ganze Fülle des Göttlichen leibhaftig, und in ihm habt ihr an dieser Fülle teil.“ (Kol 2,9-10). Der Lebensgrund der Christus-Gemeinschaft: die offenbare Wahrheit
3.5.2.1 „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden.“ (Mt 28,18). Die Ereignisse des Dritten Tages: Ereignisse der Wahrheit
3.5.2.2 „Selig die Augen, die sehen, was ihr seht.“ (Lk 10,23). Das Lebenszeugnis Jesu von Nazareth
3.5.2.3 „Es ist vollbracht.“ (Joh 19,30). Der Tod am Kreuz auf Golgatha
3.5.2.4 „Ich und der Vater sind eines“ (Joh 10,30)
3.6 Fazit: Das Christus-Geschehen
Kapitel 4: „Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin.“ (Röm 8,24).
Einführung
4.1 Die „Ausgießung“ des Heiligenden Geistes
4.2 „Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18). Die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche
4.2.1 Der Gottesdienst im Kirchenjahr
4.2.2 Die Verkündigung
4.2.2.1 Der Unterricht
4.2.2.2 Die Predigt
4.2.2.3 Die Seelsorge
4.2.2.4 Fazit
4.2.3 Die Feier der Sakramente
4.2.3.1 Die Heilige Taufe
4.2.3.1.1 Das Ritual der Taufe
4.2.3.1.2 Die Taufe und der Christus-Glaube
4.2.3.1.3 Kindstaufe und Konfirmation
4.2.3.2 Das Heilige Abendmahl
4.2.3.2.1 Das Abendmahl als Ritual
4.2.3.2.2 Die Gegenwart des Christus Jesus – im tragischen Konflikt der Interpretationen
4.2.3.2.3 Die Mahlgemeinschaft der Versöhnung in dem Geist der Wahrheit
4.3 Durch Wahrheit zur Freiheit
4.3.1 Die christliche Gottesgewissheit
4.3.2 Glauben
4.3.3 Hoffen
4.3.4 Lieben
4.3.5 Fazit
4.4 Kirche: die soziale Gestalt der Christus-Gemeinschaft
4.4.1 Das Allgemeine Priestertum
4.4.2 Das kirchliche Leitungsamt
4.4.3 Das kirchliche Lehramt
4.4.4 Das kirchliche Recht
4.4.5 Die Kirche in der Kultur der Gesellschaft
4.4.6 Fazit
4.5 „Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17). Die Hoffnung auf Vollendung in Gottes Ewigkeit
4.5.1 Das Christus-Geschehen als Grund der Hoffnung des Christus-Glaubens
4.5.2 Möglichkeit und Wirklichkeit eschatischen Geschehens
4.5.3 Der Tod als Übergang
4.5.4 Die Parusie des Christus Jesus im Geist der Wahrheit
4.5.4.1 Leben in Gottes belebender Ewigkeit
4.5.4.2 Leben in Gottes richtender Ewigkeit
4.5.4.3 Leben in Gottes beseligender Ewigkeit
4.5.4.3.1 Das Aus-Sein auf Erfüllendes
4.5.4.3.2 Die Wahrnehmung des Höchsten Guts
4.5.4.3.3 Das Gefühl der Freude
4.5.4.3.4 Leben in Gottes beseligender Ewigkeit
4.5.4.4 Gottes ewige Freude
Schlussbetrachtung
Abkürzungsverzeichnis
Begriffsregister
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60mm

Konrad Stock

Systematische Theologie

Der Autor Dr. theol. Konrad Stock ist Professor em. für Systematische Theologie in der Evang.-theol. Fakultät der Universität Bonn (Dienstsitz: Universität zu Köln).

In diesem Rahmen sieht der Autor die besondere Aufgabe der Dogmatik darin zu zeigen, unter welchen notwendigen und hinreichenden Bedingungen die eigentümliche Gottesgewissheit des Christus-Glaubens entsteht und besteht. Aus diesem Grunde widmet er der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche großen Raum; denn er versteht sie als das vielgestaltige Medium, mit dessen Hilfe Gottes Heiligender Geist das Leben des Glaubens, des Liebens und des Hoffens auf Vollendung in Gottes zukünftiger Ewigkeit erweckt.

Stock  Systematische Theologie. Teil II

Vorliegendes Werk ist der Teil II einer „Systematischen Theologie“, die der kritischen Selbstbesinnung auf die Lebenspraxis des Christus-Glaubens in der riskanten Situation einer entstehenden Gemeinschaft der Völker und Staaten dienen soll. Auf der Basis der Fundamentaltheologie des Teils I, die 2017 unter dem Titel „Erfahrung und Offenbarung“ erschienen war, bietet er unter dem Titel „Durch Wahrheit zur Freiheit“ die Dogmatik, welche die Brücke zur geplanten Theologischen Ethik des Teils III unter dem Titel „Durch Recht zum Frieden“ schlägt.

Teil II: Durch Wahrheit zur Freiheit

ISBN 978-3-525-55298-8

9 783525 552988

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24.06.22 17:07

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Konrad Stock

Systematische Theologie Teil II: Durch Wahrheit zur Freiheit

Vandenhoeck & Ruprecht

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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41

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Der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa – Leuenberger Kirchengemeinschaft – eingedenk der „Leuenberger Konkordie“ vom 16. März 1973

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Inhalt

Vorwort ................................................................................................ 11 Einführung ........................................................................................... 19 Kapitel 1: „Gott ist Geist“ (Joh 4,24). Der christliche Glaube an Gott........ 1.1 Einführung................................................................................ 1.2 Der Name Gottes und das Begriffswort „Gott“ ............................... 1.3 Die trinitarische Struktur des göttlichen Waltens ............................ 1.4 Gottes Sein ................................................................................ 1.5 Gottes Person-Sein ..................................................................... 1.5.1 Person-Sein ....................................................................... 1.5.2 Schleiermachers Frage ........................................................ 1.5.3 Dreieines Person-Sein......................................................... 1.5.3.1 Einführendes ....................................................... 1.5.3.2 Gottes Einzigkeit .................................................. 1.5.3.3 Der dreieine Gott ................................................. 1.5.3.3.1 Gottes Wesen als Geist .......................................... 1.5.3.3.2 Gott als dreieiner Geist.......................................... 1.5.3.3.3 Gottes Wahr-Sein ................................................. 1.5.3.3.4 Gottes Gut-Sein.................................................... 1.5.4 Fazit: „Grund ewiger Freude“...............................................

41 41 48 55 66 83 86 93 99 99 101 112 118 122 130 138 145

Zwischenbetrachtung: Gottes Gnadenwahl ............................................ 161 Kapitel 2: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1). Der christliche Glaube an Gott den Schöpfer ................................................................................ 2.1 Einführung................................................................................ 2.2 Glauben .................................................................................... 2.2.1 Glaube als Fromm-Sein ...................................................... 2.2.2 Fromm-Sein – Wissen – Wollen........................................... 2.2.3 Das biblische Schöpfungsdenken ......................................... 2.3 Gottes schöpferischer Geist.......................................................... 2.3.1 Gottes Allmacht: Grund der Existenz ................................... 2.3.2 Gottes Allwissenheit: Grund des Sinnes ................................ 2.3.3 Gottes Allgegenwart: Grund des Raums ................................

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179 179 183 185 191 198 206 208 215 219

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Inhalt

2.3.4 Gottes Ewigkeit: Grund der Zeit........................................... 2.3.4.1 Die Erfahrung der Zeit .......................................... 2.3.4.2 Gottes Ewigkeit .................................................... 2.4 Der Mensch als Gottes Ebenbild ................................................... 2.4.1 Der Status der theologischen Lehre vom Menschen ................ 2.4.2 Mensch-Sein als geschaffenes Person-Sein............................. 2.4.2.1 Geschaffenes Person-Sein als individuelles Selbst-Sein........................................................... 2.4.2.2 Die Bestimmtheit der geschaffenen Person für die geschaffene Person...................................... 2.4.2.2.1 Geschlecht und Liebe ............................................ 2.4.2.2.2 Das Verhältnis von Freiheit zu Freiheit .................... 2.4.2.2.3 Die Ordnung der geschaffenen Freiheit ................... 2.4.2.3 Die Bestimmtheit der geschaffenen Person für Gott ............................................................... 2.5 Fazit: „Alles, was Odem hat, lobe den HErrn! Halleluja!“ (Ps 150,6) .. Kapitel 3: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20). Der christliche Glaube an Gott den Versöhner ........................................ 3.1 Einführung................................................................................ 3.2 Erlittenes Leid – verschuldetes Leid .............................................. 3.3 Phänomene des In-der-Sünde-Seins.............................................. 3.3.1 Kritik des Begriffs der „Erbsünde“........................................ 3.3.2 Angst ............................................................................... 3.3.3 Scham .............................................................................. 3.3.4 Begehren und Begierde ....................................................... 3.3.5 Haltungen des Lasters......................................................... 3.3.6 Zorn, Hass, Gewalt............................................................. 3.3.7 Fazit: „An dir allein habe ich gesündigt“ (Ps 51,6). Zum Verhältnis von Sünde und Schuld ................................. 3.4 Das Scheinen des Lichts in der Finsternis (Joh 1,5) ......................... 3.4.1 Vorblick............................................................................ 3.4.2 Institutionen der Verheißung des „Friedens mit Gott“ (Röm 5,1).......................................................................... 3.4.2.1 Grundsätzliches.................................................... 3.4.2.2 Die Rechtsordnung ............................................... 3.4.2.3 Ethische Selbstbildung .......................................... 3.4.2.4 Die Erfahrung der Kunst ....................................... 3.4.2.5 Die Erwählung Israels zum Volk JHWHs................. 3.4.2.6 Fazit....................................................................

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Inhalt

3.5 Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes .................... 3.5.1 Christologie. Eine methodische Betrachtung ......................... 3.5.2 „In ihm allein wohnt doch die ganze Fülle des Göttlichen leibhaftig, und in ihm habt ihr an dieser Fülle teil.“ (Kol 2,9-10). Der Lebensgrund der Christus-Gemeinschaft: die offenbare Wahrheit .................... 3.5.2.1 „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden.“ (Mt 28,18). Die Ereignisse des Dritten Tages: Ereignisse der Wahrheit .................... 3.5.2.2 „Selig die Augen, die sehen, was ihr seht.“ (Lk 10,23). Das Lebenszeugnis Jesu von Nazareth ..... 3.5.2.3 „Es ist vollbracht.“ (Joh 19,30). Der Tod am Kreuz auf Golgatha ............................................... 3.5.2.4 „Ich und der Vater sind eines“ (Joh 10,30)................ 3.6 Fazit: Das Christus-Geschehen ..................................................... Kapitel 4: „Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin.“ (Röm 8,24). Der christliche Glaube an Gott den Vollender ......................................... Einführung................................................................................ 4.1 Die „Ausgießung“ des Heiligenden Geistes .................................... 4.2 „Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18). Die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche ................... 4.2.1 Der Gottesdienst im Kirchenjahr ......................................... 4.2.2 Die Verkündigung.............................................................. 4.2.2.1 Der Unterricht ..................................................... 4.2.2.2 Die Predigt .......................................................... 4.2.2.3 Die Seelsorge ....................................................... 4.2.2.4 Fazit.................................................................... 4.2.3 Die Feier der Sakramente .................................................... 4.2.3.1 Die Heilige Taufe .................................................. 4.2.3.1.1 Das Ritual der Taufe.............................................. 4.2.3.1.2 Die Taufe und der Christus-Glaube......................... 4.2.3.1.3 Kindstaufe und Konfirmation ................................ 4.2.3.2 Das Heilige Abendmahl......................................... 4.2.3.2.1 Das Abendmahl als Ritual...................................... 4.2.3.2.2 Die Gegenwart des Christus Jesus – im tragischen Konflikt der Interpretationen .................. 4.2.3.2.3 Die Mahlgemeinschaft der Versöhnung in dem Geist der Wahrheit ........................................ 4.3 Durch Wahrheit zur Freiheit ........................................................ 4.3.1 Die christliche Gottesgewissheit ...........................................

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Inhalt

4.3.2 Glauben ............................................................................ 4.3.3 Hoffen .............................................................................. 4.3.4 Lieben .............................................................................. 4.3.5 Fazit ................................................................................. 4.4 Kirche: die soziale Gestalt der Christus-Gemeinschaft ..................... 4.4.1 Das Allgemeine Priestertum ................................................ 4.4.2 Das kirchliche Leitungsamt ................................................. 4.4.3 Das kirchliche Lehramt....................................................... 4.4.4 Das kirchliche Recht........................................................... 4.4.5 Die Kirche in der Kultur der Gesellschaft .............................. 4.4.6 Fazit ................................................................................. 4.5 „Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17). Die Hoffnung auf Vollendung in Gottes Ewigkeit .......... 4.5.1 Das Christus-Geschehen als Grund der Hoffnung des Christus-Glaubens ........................................................ 4.5.2 Möglichkeit und Wirklichkeit eschatischen Geschehens.......... 4.5.3 Der Tod als Übergang ......................................................... 4.5.4 Die Parusie des Christus Jesus im Geist der Wahrheit ............. 4.5.4.1 Leben in Gottes belebender Ewigkeit....................... 4.5.4.2 Leben in Gottes richtender Ewigkeit ....................... 4.5.4.3 Leben in Gottes beseligender Ewigkeit..................... 4.5.4.3.1 Das Aus-Sein auf Erfüllendes ................................. 4.5.4.3.2 Die Wahrnehmung des Höchsten Guts .................... 4.5.4.3.3 Das Gefühl der Freude .......................................... 4.5.4.3.4 Leben in Gottes beseligender Ewigkeit..................... 4.5.4.4 Gottes ewige Freude..............................................

660 667 676 696 699 702 706 711 717 721 728 730 733 742 751 762 765 769 788 790 792 793 796 801

Schlussbetrachtung .............................................................................. 805 Abkürzungsverzeichnis.......................................................................... 811 Begriffsregister ..................................................................................... 815

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Vorwort

Es ist mir vergönnt, unter dem Titel „Durch Wahrheit zur Freiheit“ eine Darstellung der Dogmatik als den zweiten Teil meines Entwurfs einer Systematischen Theologie vorzulegen. Wie ich es in der „Einleitung in die Systematische Theologie“ (Berlin/ New York 2011) skizziert hatte, schwebt mir eine Darstellung vor, die die drei Hauptgebiete Systematischer Theologie – Fundamentaltheologie, Dogmatik und Theologische Ethik – in ihrem inneren sachlogischen Zusammenhang entfaltet. Sie will der kritischen Selbstbesinnung der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) in der riskanten Situation der entstehenden Weltgesellschaft auf ihr Wesen und auf ihre Bestimmung dienen. Nachdem ich mein Verständnis der Sache einer Fundamentaltheologie bzw. einer Prinzipienlehre im ersten Teil meines Entwurfs unter dem Titel „Erfahrung und Offenbarung“ (Göttingen/Bristol, CT 2017) vorgestellt hatte, präsentiere ich nun auf deren Basis eine Dogmatik, welche die Brücke schlägt zu einer Theologischen Ethik. Miteinander wollen diese drei Teile zum Mitdenken anregen über die christliche Sicht des Lebens und des Lebenssinnes und über deren sachgemäße Kommunikation im Raum der Kirche, die gar nicht anders existieren kann denn als Kirche in der Kultur der Gesellschaft. Eine Systematische Theologie hat öffentliches Interesse. Der Titel dieses Teils II „Durch Wahrheit zur Freiheit“ spielt ersichtlich an auf das dichte Jesus-Christus-Wort im Evangelium nach Johannes: „… und die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Joh 8,32). Dass meine Darstellung der Dogmatik sich insgesamt als eine Interpretation dieses Schlüsselwortes christlicher Lebenslehre versteht, sei bei Gelegenheit dieses Vorworts in der gebotenen Kürze erklärt. Das dichte Jesus-Christus-Wort des Evangeliums nach Johannes verspricht eine menschliche Lebens- und Bildungsgeschichte als Weg, dessen Ziel Freiheit heißt. Natürlich befindet sich das christlich-religiöse Verstehen des Wegs zu diesem Ziel im Verhältnis zu dem weiten Spektrum kultureller, philosophischer, historischer, psychologischer und rechtlich-politischer Einsichten in das Phänomen des menschlichen Frei-Seins und in dessen Konfliktträchtigkeit bzw. in dessen Zwiespältigkeit. Innerhalb dieses Spektrums macht es geltend, dass sich Freiheit ereignet; und zwar durch das Erkennen der Wahrheit (Joh 8,32). Dass dem so ist, zeigt die dogmatische Besinnung auf das Wesen und auf die Bestimmung der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen in der riskanten Situation der entstehenden Weltgesellschaft, indem sie das Wesentliche jener Wahrheit zusammenhängend darlegt, derer wir Menschen alle zutiefst bedürftig sind. Sie legt es dadurch dar, dass sie sowohl die notwendigen als auch die hinreichenden

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Vorwort

Bedingungen zur Sprache bringt, unter denen sich nach christlich-religiöser Selbstanschauung jenes Erkennen der befreienden Wahrheit ereignet. Denn unter diesen Bedingungen ereignet sich in einer menschlichen Lebens- und Bildungsgeschichte die Selbstvergegenwärtigung des unendlichen Grundes und Ursprungs, dem jedes Menschenleben im Raum-Zeit-Kontinuum dieses unbegrenzten Universums sein Dasein in relativer Dauer verdankt: die Selbstvergegenwärtigung Gottes des Schöpfers im Christus Jesus kraft des Heiligenden Geistes. Um dieses Wesentliche der befreienden Wahrheit darzulegen, die der Selbstvergegenwärtigung Gottes zu danken ist, beginne ich mit einer komprimierten Betrachtung des Phänomens, welches die deutsche Sprache mittels des Begriffsworts Freiheit in den Blick nimmt. „Frei“ ist eines der Prädikate, mit deren Hilfe wir die Seinsweise des Menschen innerhalb der Welt und des Geschehens der Welt erfassen. Diese Seinsweise zeigt sich darin, dass schon das Kind von frühesten Zeitpunkten seines neugeborenen Lebens an etwas erstrebt, etwas haben, etwas mitteilen, etwas erreichen möchte. In seiner Entwicklung durch die Phase der Pubertät und der Adoleszenz bis hin zum frühen Erwachsenenalter wird ihm mehr und mehr bewusst, dass sich sein Frei-Sein konkretisiert als sein Wählen- und Entscheiden-Können, das im Verhältnis zum Frei-Sein und damit zum Wählen- und Entscheiden-Können Anderer jeweils in der Gegenwart Mögliches verwirklicht. Mit Rücksicht auf die Seinsweise des Menschen garantiert das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wie alle freiheitlichen Verfassungen denn auch den freien Gebrauch des Frei-Seins; jedenfalls „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ (vgl. Art. 140 GG). Nun ist das Mögliche, welches wir jeweils in unserer Gegenwart verwirklichen wollen, auf jeden Fall etwas, was uns etwas Gutes zu sein scheint. Es gehört ins Spektrum dessen, was wir um der Erhaltung, um der Verteidigung, um der Vervollkommnung unseres selbstbewusst-freien Daseins willen zu erreichen suchen. Dieses in jeder einzelnen Wahl bzw. in jeder einzelnen Entscheidung gesuchte Gute hat offensichtlich seine Anziehungskraft, weil wir uns davon unwillkürlich Erfüllung und Befriedigung versprechen. Gleichzeitig bildet es den Gegensatz zu etwas Ungutem, das unser selbstbewusst-freies Dasein zu hemmen, zu gefährden bzw. gar zu zerstören droht und deshalb unwillkürlich auf unsere Ablehnung und auf unseren Widerstand stößt. Das Gute bzw. das Ungute, dessen wir in unserer Lebens- und Bildungsgeschichte als etwas Gutem bzw. als etwas Ungutem für uns gewiss werden, affiziert und motiviert unwillkürlich unsere Gefühle bzw. unsere „Gemütsbewegungen“ (Thomas Mann), die uns dazu bringen, dies und nichts anderes zu wählen und zu entscheiden. Sie prägen das bewusste Wollen, das wir jeweils in unserer Gegenwart „in die Tat“ umsetzen, als abhängiges bzw. als bestimmtes, als bedingtes, als ohnmächtiges und insofern als unfreies Wollen. Wer dieser Analyse des Phänomens der Seinsweise des Menschen widerspricht, möge ihre Richtigkeit überprüfen im Lichte einer ernsthaften Besinnung auf sich selbst.

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Vorwort

Wie diese scheinbar paradoxe Einsicht sich verträgt mit dem Verständnis von Freiheit in den freiheitlichen Verfassungen der euro-amerikanischen Moderne, darf ich an dieser Stelle offen lassen. Diese allererste formale Beschreibung der Struktur des menschlichen Frei-Seins macht darauf aufmerksam, dass das Prädikat „frei“ ein Allgemeines bzw. ein Gemeinsames der Seinsweise des Menschen bezeichnet. Als dieses Allgemeine bzw. als dieses Gemeinsame weist es hin auf die faktische Notwendigkeit, Formen, Medien und Regeln in Geltung zu setzen, in deren Spielraum und in deren Grenzen das individuelle Wollen mit anderem individuellen Wollen zu vermitteln ist. Insofern ist es sachgemäß, das Substantivum „Freiheit“ mit Hermann Krings und mit Michael Theunissen in einem kommunikativen Sinne aufzufassen. Mit der bedingt bzw. mit der „unfrei freien“ Seinsweise des Menschen ist ganz offensichtlich die Bestimmung gegeben, in und mit dem jeweils eigenen Wollen das jeweils andere Wollen wechselseitig zu achten bzw. zu anerkennen. Anders gesagt: mit dieser Seinsweise ist ganz offensichtlich die Bestimmung gegeben, ein bonum commune zu artikulieren, zu intendieren und zu realisieren, welches die mannigfachen bona propria des jeweils eigenen und des jeweils anderen Wollens miteinander ausgleicht und versöhnt. Und diese Bestimmung der bedingt bzw. der „unfrei freien“ Seinsweise des Menschen beansprucht ihre Geltung nicht nur für das Zusammenleben in den Gemeinschaften der Ehe, der Familie, der Ethnie und der staatlich organisierten Nation; sie beansprucht Geltung auch und erst recht für das Zusammenleben der staatlich organisierten Nationen in einer Weltgemeinschaft auf dem Planeten Erde in diesem Sonnensystem in dieser Galaxie. Ich wähle für diese Bestimmung des Ausgleichs und der Versöhnung der mannigfachen bona propria in einem bonum commune den Begriff des Friedens, und zwar des gerechten Friedens. Ist die Bestimmung der bedingt bzw. der „unfrei freien“ Seinsweise des Menschen zum Leben in gerechtem Frieden etwas wirklich Gegebenes oder aber lediglich ein frommer Wunsch, eine abstrakte Utopie bzw. ein unerreichbares Postulat? Lebens- und weltgeschichtliche Erfahrung lehrt, dass mit der Seinsweise des „unfreien Frei-Seins“ des Menschen ein unbezweifelbares Risiko verbunden ist. Einerseits ist es nicht erfolgreich zu bestreiten, dass das Zusammenleben der Liebenden und der Freunde, der Familien und der Gemeinwesen die Handlungsmuster der wechselseitigen Hilfe und Sorge, der Nachsicht und der spontanen Solidarität kennt; andererseits jedoch ist es ebenso wenig erfolgreich zu bestreiten, dass namentlich die großen kollektiven Subjekte, – wie z. B. Unternehmen, Klassen, Reiche, Imperien und Parteien – seit Menschengedenken rücksichtslos um ihre jeweiligen bona propria kämpfen: um Einfluss und um Ehre, um Ausbeutung und um Unterwerfung mit den Mitteln der „Prozessmuster der Gewalt“ (Ernst-Otto Czempiel). Das erlittene Leid in aller Geschichte – das verschuldete Leid – gegenwärtig zu halten, ist denn auch ein besonderes Anliegen dieser Dogmatik.

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Vorwort

Das Risiko, von dem ich spreche, hat sich im 20. Jahrhundert dramatisch zugespitzt. Seit Otto Hahn und Fritz Strassmann im Jahre 1938 erstmals die Kernspaltung des Urans gelungen war, hat die technische Anwendung dieser bahnbrechenden Entdeckung in der atomaren Hochrüstung der dominierenden Weltmächte ein Maß erreicht, das kaum noch beherrschbar zu sein scheint; trotz aller Versuche, diese Hochrüstung zu begrenzen und zu kontrollieren, geschweige denn zurückzubauen. Geopolitisch gesprochen scheint die Bestimmung der bedingt bzw. der „unfrei freien“ Seinsweise des Menschen zum Leben in weltweitem gerechtem Frieden unerreichbar zu sein. Nicht allein die christlich-religiöse Lebenslehre, sie jedoch mit ungeschminkter Schärfe, sieht in diesen lebens- und weltgeschichtlichen Erfahrungen Symptome eines „radikalen Bösen“ (Immanuel Kant), eines tiefen „Zwiespalts“ (David Bakan) bzw. einer tiefen „Entfremdung“ zwischen dem Wesen und der Bestimmung des Mensch-Seins (Paul Tillich). Die biblische Sprache erkennt in diesen Symptomen Symptome des „In-der-Sünde-Seins“. Haben diese Symptome einen verstehbaren Grund? Das dichte Jesus-Christus-Wort des Evangeliums nach Johannes setzt die Erkenntnis eines solchen Grundes voraus und schließt sie ein. Erwachsen aus dem Gott-Verstehen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft, wie es in der jahrhundertelangen Arbeit am Tanakh zur Sprache kommt, sieht es diesen Grund ganz einfach darin, dass wir die Faktizität des uns Menschen allen gewährten und d. h. des geschaffenen Frei-Seins in einer geschaffenen Welt von uns aus entweder nur beschränkt und nur abstrakt wahrnehmen oder aber überhaupt nicht wahrhaben wollen können (Joh 1,9-10). Im Banne dieser faktischen Seinsvergessenheit ist es ganz offenkundig unvermeidlich, das jeweils für uns Gute zu wählen und zu wollen ohne jede selbstbewusst-freie Rücksicht auf die Ordnung eines für uns alle gemeinsamen bonum commune im weitesten Sinne des Begriffs. Zwar sind es in aller Geschichte die Institutionen des Rechts bis hin zum modernen Völkerrecht und zur internationalen Strafgerichtsbarkeit, die den Gebrauch des „unfreien Frei-Seins“ aus faktischer Seinsvergessenheit begrenzen kraft ihrer Befugnis zu zwingen; aber wie die lebens- und weltgeschichtliche Erfahrung lehrt, reicht ihre Macht nicht hin, das Gesinnt-Sein der Person und damit ihr Gewissen wirksam zu prägen und zu orientieren mit dem Strebensziel des in Wahrheit Guten – des Höchsten Guts –. Ein solches Strebensziel müsste nämlich in passionaler bzw. in intuitiver Weise empfangen werden. In dieser Lage fragt es sich: ob sich das in Wahrheit Gute, das Höchste Gut, überhaupt – und wenn ja, unter welchen Bedingungen – von sich selbst her zeige, damit die faktisch unvermeidliche Seinsvergessenheit des „unfrei freien“ Menschenlebens (Gen 3,1-6.22) geheilt und in the long run überwunden werde. Es fragt sich also: ist das in Wahrheit Gute, ist das Höchste Gut überhaupt erkennbar?

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Vorwort

Mit allergrößtem Respekt bezieht sich die Selbstbesinnung der ChristusGemeinschaft der Kirche und der Kirchen auf die Geschichte des ethischen Denkens, die sich mit ihren eurozentrischen Höhepunkten Platon, Plotin, Baruch de Spinoza, Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel um die valide Antwort auf diese Frage müht. Sie bestätigt jedenfalls auf ihren verschiedenen Wegen die Erkenntnis, dass uns das in Wahrheit Gute, dass uns das Höchste Gut dann und nur dann erkennbar werde, wenn uns das wahre und d. h. das angemessene, das rechte Verhältnis zwischen dem schöpferischen Grund und Ursprung und dem geschaffenen, dem bedingten bzw. dem „unfreien Frei-Sein“ des Menschen in einer geschaffenen Welt erkennbar wird. Im Unterschied nicht nur, sondern auch im Gegensatz zu solchen Typen ethischen Denkens in der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne, die der „Idee der rationalen Diskussion“ (Hans Albert) die Kraft zuschreiben, den „Zwiespalt“ zwischen dem Wesen und der Bestimmung des Mensch-Seins wenigstens jeweils aktuell zu überwinden, sehen und achten sie die kategoriale Eigenart des in Wahrheit Guten, des Höchsten Guts. Sie ist gegeben mit der ontologischen Grund-Relation des schöpferischen Seins und des geschaffenen Seienden. Indem uns diese ontologische Grund-Relation erschlossen wird, wird sie uns erschlossen als Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen. Die Frage: „ist das in Wahrheit Gute, ist das Höchste Gut überhaupt erkennbar?“, ist daher identisch mit der Frage: ist uns Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen als das in Wahrheit Gute, als das Höchste Gut, als das schlechthin Erfüllende und Befriedigende der „unfrei freien“ Seinsweise des Menschen überhaupt erkennbar? Und wenn ja, in welcher Weise und unter welchen Bedingungen? Die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) existiert in der befreienden und deshalb erfreuenden und tröstenden Gewissheit, dass das Leben in der selbstbewusst-freien Gemeinschaft des Wollens mit Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen – das „Leben, das ewig ist, … uns erschienen ist“ (1Joh 1,2). Unter dem „Erschienen-Sein“ dieses Lebens versteht der Autor des 1. Briefs des Johannes eben das Christus-Geschehen. Es ist daher die Sache einer Dogmatik als des mittleren Teils einer Systematischen Theologie, Schritt für Schritt nachzuzeichnen, in welcher Weise und unter welchen Bedingungen auch uns im Hier und Heute der riskanten Situation einer entstehenden Weltgesellschaft das Befreiende bzw. das Erfreuende und Tröstende des in Wahrheit Guten, des Höchsten Guts, wirklich und wirksam erscheint. Um dieser Sache willen nimmt der Text des 4. Kapitels („Der christliche Glaube an Gott den Vollender“) den größten Umfang meiner Darstellung ein. Sie ist bestrebt zu zeigen, in welcher innergeschichtlichen Form Gottes des Schöpfers Selbstvergegenwärtigung im Christus Jesus kraft des Heiligenden Geistes die religiöse Kommunikation des Evangeliums in der sozialen Gestalt der Kirche ermöglicht, gründet und zugleich in Anspruch nimmt. Sie versteht sich insofern als eine Theorie; und zwar als eine kritische Theorie der „sichtbaren“ – d. h.: der in der Kultur

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Vorwort

einer Gesellschaft erfahrbar existierenden – rechtsfähigen Körperschaft, in, mit und unter deren Praxis Gottes „Wahrheitsgeist“ (Herman Schell) diejenige sittliche Freiheit bzw. diejenige sittliche Autonomie bildet, die in der offenbaren Wahrheit des göttlichen Wesens ihre Quelle hat. Diese kritische Theorie möchte die Kirchengemeinschaften, deren kulturelle Prägnanz und Resonanz in der derzeitigen Phase der euro-amerikanischen Moderne zu schwinden scheint, dazu ermutigen, die Botschaft des Evangeliums vom Erscheinen der befreienden Wahrheit mit neuer Kraft und neuem Schwung in ihren jeweiligen Gesellschaften zu bezeugen. Gibt diese Botschaft doch die christliche Antwort auf die Frage, worin die sittliche Freiheit, die sittliche Autonomie der Person gründet und aus welchen Kräften sie in der riskanten Situation der entstehenden Weltgesellschaft immer wieder neu gewonnen wird. Wenn ich nun diese Darstellung der Dogmatik als den zweiten Teil einer Systematischen Theologie vorlegen kann, erinnere ich mich dankbar der Gespräche mit Melanie Beiner, Bernd Harbeck-Pingel, Friedhelm Hartenstein, Wilfried Härle, Eilert Herms, Kai Horstmann, Michael Kuch, André Munzinger, Reiner Preul, Reiner Strunk, Joachim Weber und Michael Wolter. Über den plötzlichen Tod meines langjährigen Gesprächspartners Christoph Schwöbel am 18. September 2021 bin ich erschüttert. Insbesondere sage ich Hermann Deuser herzlichen Dank für die intensiven „Marktgespräche“ in Gießen, in denen wir die entstehenden Stücke dieses Teils II eingehend diskutierten. Alle diese Gespräche haben mir geholfen, meiner Konzeption einer Dogmatik im Vorblick auf eine Theologische Ethik die vorliegende Gestalt zu geben. – Der Einfachheit halber bitte ich, wohlwollende Kritik und kritisches Wohlwollen an meine Email-Adresse zu richten: [email protected]. Ein besonderes Wort des Dankes richte ich an die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, an die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, an die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck und an die Evangelische Landeskirche in Württemberg, die mit namhaften Zuschüssen die Drucklegung dieses Buches gefördert haben. Weiterhin danke ich dem „Acquisitions Editor“, Herrn Priv.-Doz. Dr. Izaak J. de Hulster, sowie den Mitarbeitern im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, insbesondere Frau Miriam Espenhain, für die sorgfältige und kompetente Betreuung dieses Werks. Für die Anfertigung des Begriffsregisters danke ich Frau Selina Maria Christa Höhl. Last but not least danke ich auch dieses Mal von ganzem Herzen meiner geliebten Frau, die mir während des Schreibprozesses stets fürsorglich, mitdenkend und mit unbeschreiblich weiblichem Charme zur Seite stand. Am 16. März 1973 wurde die „Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie)“ beschlossen. Sie ist erwachsen aus langjährigen Dialogen zwischen Theologen lutherischer und reformierter Kirchengemeinschaften seit dem

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Vorwort

Jahr 1955, welche alle die Themen betrafen, die zwischen der lutherischen und der reformierten Reformation spätestens seit dem Konkordienbuch von 1580 strittig waren und deshalb auch gegenseitige Lehrverurteilungen von nicht geringer Schärfe provozierten. Die „Leuenberger Konkordie“ vermochte diese bittere Entfremdung zu überwinden, weil sie zwischen dem „gemeinsamen Verständnis des Evangeliums“ als dem Grund und Gegenstand des Christus-Glaubens und den verschiedenen Lehrbekenntnissen unterschied, die den jeweiligen „Bekenntnisstand“ der lutherischen und der reformierten Kirchen nicht ohne klare Ab- und Ausgrenzung meinten sichern zu können. Ausdrücklich sieht die „Leuenberger Konkordie“ in diesen Abund Ausgrenzungen die „geschichtliche(.) Bedingtheit überkommener Denkformen“ wirksam, die im Verhältnis zu der Zeit der reformatorischen Bewegung durch „neue(.), einander ähnliche(.) Formen des Denkens und Lebens“ zu relativieren sind. Es war die fundamentaltheologisch erhellende Einsicht in den Unterschied zwischen dem Gegenstand und Grund des Christus-Glaubens und der Vielfalt „verbindlicher Weiterbezeugung“, welche die Kirchengemeinschaft zwischen den Kirchen ermöglicht, die aus der reformatorischen Bewegung hervorgegangen sind. Dieser erhellenden Einsicht fühle ich mich verpflichtet, nicht zuletzt in der Hoffnung, dass sich diese Einsicht auch für eine künftige Gemeinschaft mit der Kirche unter dem Bischof von Rom und mit den Kirchen der Orthodoxie bewähre. Die „Erklärung der Verwirklichung der Kirchengemeinschaft“, in welche der Text der „Konkordie“ mündet, hat inzwischen organisatorische Gestalt gewonnen in der „Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa – Leuenberger Kirchengemeinschaft“ mit Sitz in Wien, deren Statut datiert ist auf den 15. September 2018. Ihr gehören nunmehr 105 protestantische Kirchen lutherischer, reformierter, unierter und methodistischer Tradition an, denen weiterhin die Partnerschaften mit der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder und der Kirche der Waldenser zuzurechnen sind. Unter ihnen befinden sich in der Mehrzahl Minderheitskirchen, die in den Kulturen ihrer jeweiligen Gesellschaft unter erheblichen Schwierigkeiten die „verbindliche(.) Weiterbezeugung“ des Evangeliums praktizieren. Um diese Kirchengemeinschaft unter ihrem derzeitigen Präsidium von Pfarrer Marcin Brzóska, Univ.-Professorin Dr. Miriam Rose und The Reverend Dr. John Bradbury in ihrer hoffnungsvollen Arbeit zu ermutigen, sei ihr die vorliegende Dogmatik gewidmet. Gießen, am Tag des Augsburger Hohen Friedensfestes, dem 8. August 2021

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Konrad Stock

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Einführung

Wir stehen am Beginn meiner Darstellung der Dogmatik im Rahmen meines Entwurfs einer Systematischen Theologie.1 Sie bildet die Brücke zwischen der Fundamentaltheologie des Teils I – „Erfahrung und Offenbarung“ – und der Theologischen Ethik des Teils III – „Durch Recht zum Frieden“ –. Sie bildet diese Brücke, indem sie zur Besinnung auf das zentrale Thema christlicher Existenz im Hier und Heute der riskanten Situation einer entstehenden Weltgesellschaft anleitet: nämlich auf das Christus-Geschehen. Wie alle orthodoxe, wie alle unverkürzte Systematische Theologie in Geschichte und Gegenwart erstrebt sie eine christozentrische Darstellung der Dogmatik. Allerdings sehe ich das Christozentrische meiner Darstellung darin, dass sie die Lebensgeschichte und das Lebensgeschick Jesu von Nazareth bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha als das versöhnende Walten Gottes des Schöpfers durch die „Ausgießung“ des Heiligenden Geistes nachzuzeichnen sucht. Im Untertitel dieser Dogmatik – Durch Wahrheit zur Freiheit – verweise ich daher auf die trinitarische Form des Christus-Geschehens, das im Medium der religiösen Kommunikation der Kirche und der Kirchen unser aller Lebensgeschichte heilsam neu bestimmt bis hin zu ihrer Vollendung in der Ewigkeit des ewigen Lebens jenseits des Todes und durch den Tod hindurch. Unter dem Ausdruck „Christus-Geschehen“ verstehe ich die Form des Lebens und der Lebensführung in den privaten ebenso wie in den öffentlichen Beziehungen der Person, die geprägt ist und bestimmt ist von der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16); und zwar im Rahmen einer wie auch immer gesetzten Rechtsordnung der Kultur einer Gesellschaft.2 Ausgerichtet auf ihr Zentrum in den Feiern des Gottesdienstes im Kirchenjahr, vollzieht sich diese Kommunikation in den verschiedenen Medien des Unterrichts und der Verkündigung, der Seelsorge und der Glaubensgespräche, der privaten Meditation und nicht zuletzt der kirchlichen Publizistik. In ihr ereignet sich die Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums, die als solche in die Freiheit führt. Vorliegende Darstellung wird diesen Grundgedanken in den vier Kapiteln einer materialen Dogmatik ausführlich entfalten. 1 Vgl. zum Folgenden: Konrad Stock, Theorie, 210–274: Systematische Theologie. – Vorliegende Dogmatik ist eine komplette, umfangreiche Neugestaltung dessen, was ich in der „Einleitung in die Systematische Theologie“ (Berlin/New York 2011) in ihrem Teil II („Grundriss der Dogmatik“, S. 51–285) vorgelegt habe. Ich danke dem Verlag Walter de Gruyter und seinem Cheflektor Dr. Albrecht Döhnert für ihre Zustimmung. 2 Zum Begriff der „Kultur einer Gesellschaft“ vgl. u. 4.4.5.

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Einführung

Mit dem Ausdruck „Evangelium“ sei der einheitliche Gegenstand bezeichnet, auf den sich alle diese Medien zumal in ihren zahlreichen konfessionellen und kulturellen Spielarten bezogen wissen und beziehen. Auch wenn in den genannten Medien der religiösen Kommunikation das leibhafte Miteinander-Sprechen dominieren sollte, so dürfen wir die überwältigende Wirkung der christlichen Kunstpraxis in der Geschichte des Kirchenbaus, in der Geschichte der geistlichen Musik, in der Geschichte der Bilder und der Plastik und in der Geschichte der Dichtung ebenso wenig übersehen wie die Tatsache der Initiativen und der Organisationen des diakonischen bzw. des karitativen Handelns. Alle diese Lebensäußerungen bezeugen je auf ihre Weise, worum es im Evangelium geht. Als eine wissenschaftliche Disziplin im Gefüge der verschiedenen theologischen Disziplinen hat die dogmatische Besinnung als Brücke zwischen der Fundamentaltheologie und der Theologischen Ethik für die religiöse Kommunikation des Evangeliums in den sozialen Gestalten einer Kirche eine kritisch orientierende Funktion. Ich mache diese ihre kritisch orientierende Funktion deutlich, indem ich der Frage nachgehe, wie uns der einheitliche Gegenstand des Evangeliums – das Christus-Geschehen – überhaupt gegeben sei und welche heilsame Selbsterfahrung er uns denn eröffne. Um diese Frage solide zu beantworten, sind meines Erachtens die folgenden drei Teilschritte nötig. In einem ersten Schritt erinnere ich daran, dass die religiöse Kommunikation des Evangeliums in den sozialen Gestalten einer Kirche im Hier und Heute der euro-amerikanischen Moderne das Menschen- und Grundrecht der Religionsbzw. der Weltanschauungsfreiheit in Anspruch nimmt. Sie findet statt in jenem Lebensbereich der Kultur einer Gesellschaft, in dem es um den Sinn des Lebens geht; und zwar auf eine grundsätzlich pluralistische Weise, sofern dies die Verfassung der Kultur einer Gesellschaft und deren ideologisches Programm überhaupt zulässt. In einem zweiten Schritt mache ich darauf aufmerksam, dass sich die religiöse Kommunikation des Evangeliums in den sozialen Gestalten einer Kirche von anderweitigen religiös-weltanschaulichen Bekenntnissen klar und deutlich unterscheidet durch das Ursprungsgeschehen, dem sie sich verdankt. Indem ich zeige, wie dies Ursprungsgeschehen nach der Einsicht der reformatorischen Bewegung genauer zu bestimmen sei, mache ich die nach wie vor wirksame Differenz zwischen der römisch-katholischen und der reformatorischen Sicht des Christus-Geschehens bewusst. Meine dogmatische Besinnung möchte dazu anregen und dazu beitragen, die ökumenischen Gespräche und Verhandlungen künftig intensiver als bisher auf diese Differenz zu konzentrieren. In einem dritten Schritt schließlich erkläre ich, worin genau die kritisch orientierende Funktion der dogmatischen Besinnung für die religiöse Kommunikation des Evangeliums in den sozialen Gestalten einer Kirche besteht. Ich sehe diese ihre kritisch orientierende Funktion darin, die Denk-, Sprach- und Zeichenformen

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Einführung

begrifflich zu explizieren, in denen uns das ursprüngliche Christus-Geschehen im Kanon der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments und in deren Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte bis auf diesen Tag für unser jeweils jetziges Glauben, Lehren, Bekennen und Verstehen überliefert ist.

I Die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum bzw. in den sozialen Gestalten einer Kirche nimmt das Menschen- und Grundrecht der Religionsbzw. der Weltanschauungsfreiheit in Anspruch. Jedenfalls da, wo eine freiheitlichdemokratische Verfassung des Gemeinwesens in Geltung steht, ist die Ausübung des religiösen bzw. des weltanschaulichen Bekenntnisses „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG i. V. mit Art. 137 WRV) garantiert.3 Eine solche Verfassung verpflichtet zugleich den „Staat“ – die Legislative, die Exekutive und nicht zuletzt auch die Judikative eines Gemeinwesens – zu religiös-weltanschaulicher Neutralität. Das hat nach den geschichtlichen Erfahrungen der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne seit dem Wormser Edikt Kaiser Karls V. vom 8. Mai 1521 darin seinen Grund, dass den Sachwaltern der politischen Herrschaft keine Kompetenz zusteht, über das Selbstverständnis und über den Wahrheitsanspruch religiös-weltanschaulicher Gemeinschaften inhaltlich zu befinden. Die Garantie, die eine freiheitlich-demokratische Verfassung dem Menschenund Grundrecht der Religions- bzw. der Weltanschauungsfreiheit gibt, bezieht sich auf einen Lebensbereich, der sich von den anderen Lebensbereichen der Kultur einer Gesellschaft signifikant unterscheidet. Innerhalb dieses Lebensbereichs existieren neben den zahllosen Weltanschauungsgemeinschaften (wie z. B. der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“), neben den philosophischen Gesellschaften (wie z. B. der Nietzsche-Gesellschaft e. V.) und neben den bestimmten Religionsgemeinschaften des Islam, des Buddhismus und des Hinduismus auch die christlichen Kirchengemeinschaften, die im Übrigen in einem besonderen Verhältnis zu den jüdischen Kultusgemeinden und zu deren Zentralrat stehen.4 Was sie mit jenen Gemeinschaften, welche die Freiheit des religiösen bzw. des weltanschaulichen Bekenntnisses wie auch immer praktizieren, gemeinsam haben, können wir

3 Ich habe hier die Verfassung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vor Augen. 4 Der „Zentralrat der Juden in Deutschland“ wurde gegründet am 19. Juli 1950 und genießt die Rechtsform einer Körperschaft des öffentlichen Rechts.

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Einführung

wohl mit der gebotenen Vorsicht eine explizite Sicht des Lebenssinnes nennen.5 Was heißt das? Eine explizite Sicht des Lebenssinnes wird sich bilden, sobald wir und sofern wir anfangen zu fragen, wie wir das jeweils eigene Leben verstehen und diesem Verstehen gemäß führen und gestalten wollen und müssen. Es ist die schon in unserer Kindheit und dann in der Phase der Pubertät und der Adoleszenz auftauchende Frage, ob wir und wie wir gegebenenfalls ein Ziel, ein Woraufhin bzw. ein Worumwillen unseres Lebens finden, um dessentwillen es gut ist, am Leben zu sein. Sofern ein solches Ziel, ein solches Woraufhin bzw. ein solches Worumwillen uns in der Bildungs- und Entwicklungsgeschichte unseres Lebens als attraktiv erscheint, orientiert es uns und motiviert es uns als Antwort auf die Frage, welche Weise des Ich-selbst-sein-Wollens in den privaten wie in den öffentlichen Beziehungen unserer Lebensgeschichte uns wohl befriedigt. In der Frage, wie wir das jeweils eigene Leben verstehen und diesem Verstehen gemäß führen und gestalten wollen und müssen, ist uns jedenfalls implizit das Reale des jeweils eigenen Lebens erschlossen. Es ist uns erschlossen als ein Kontinuum von Praxissituationen, in denen wir im Rahmen dieser oder jener öffentlichen Ordnung des Sozialen Zwecke bzw. Ziele durch eigenes Wählen und Entscheiden zu realisieren und am Erkennen wie am Lösen von Problemen teilzunehmen suchen.6 Das Reale des je eigenen Lebens ist uns mithin erschlossen als die je eigene Geschichte, in der wir uns in einer natürlichen und sozialen Um- und Mitwelt finden, die für uns sprachlich, technisch, ökonomisch, politisch und ästhetisch bestimmbar und nicht etwa total „wüst und leer“ (Gen 1,2), finster und chaotisch ist. Mit dem Ausdruck „Sinn“ meinen wir daher in einer ersten Hinsicht unsere implizite praktische Gewissheit, dass die durch unsere Sinne bzw. durch das zentrale Nervensystem präsente Um- und Mitwelt tatsächlich nach bestimmten Regeln gestaltbar sei. Sie ist bestimmbar und gestaltbar, indem wir miteinander sprechen,

5 Abgesehen von der Kommunikation einer expliziten Sicht des Lebenssinnes in den erwähnten sozialen Gestalten begegnen uns höchst individuelle Sichtweisen des Lebenssinnes auch in den verschiedenen Gattungen der Kunst, insbesondere in „großer“ Literatur wie z. B. in der Entwicklung des Gesamtwerks Johann Wolfgang von Goethes oder im großen Romanwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust. – Natürlich ist damit zu rechnen, dass eine kleinere oder größere Zahl der Mitglieder der Kultur einer Gesellschaft eine explizit artikulierte Sicht des Lebenssinnes skeptisch, agnostisch oder nihilistisch umgeht. – Vgl. zum Folgenden Konrad Stock, STh I, 36–42. 6 In der deutschen Umgangssprache verwenden wir daher die Adjektive „sinnvoll“ bzw. „sinnlos“, um diese oder jene Handlungsweise als „zielführend“ oder aber als „nicht zielführend“ bzw. als „problemlösend“ oder aber als „nicht problemlösend“ zu bewerten. Dass das technisch „Sinnvolle“ bzw. „Sinnlose“ einer Handlungsweise aus programmatischen bzw. aus ethischen Zielsetzungen – z. B. zwischen politischen Parteien – strittig ist, zeigt offensichtlich, dass ein Urteil über das technisch „Sinnvolle“ bzw. „Sinnlose“ einer Handlungsweise abhängt von der Sicht eines Sinnes, die stets ein Urteil über eine mögliche bzw. über eine wirkliche Sicht eines Unsinns einschließt.

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Einführung

miteinander arbeiten, füreinander sorgen, für unsere innere wie für unsere äußere Sicherheit kämpfen und schließlich den performances der Kunstpraxis beiwohnen; und zwar auf reflektierte, selbstbewusst-freie Weise. Nun ist die implizite Gewissheit eines praktischen Lebenssinnes ihrerseits nicht grundlos. Sie hat vielmehr zur notwendigen Bedingung ihrer Möglichkeit das je eigene Gefühl, frei zu sein bzw. ein Selbst im Werden zu sein.7 Sobald wir nämlich aus dem Schein eines naiven Gegenstandsbewusstseins treten, vermögen wir zu sehen und zu denken, dass wir uns selbst erschlossen sind bzw. dass wir mit uns selbst vertraut sind als Wesen, die zu wählen, zu wollen, zu entscheiden, zu handeln und zu gestalten bestimmt und fähig sind. Ich verstehe dies Mit-sich-vertraut-Sein als den Kern dessen, was wir mit Hilfe des Begriffs des je individuellen, des leibhaften Person-Seins bezeichnen können.8 Allerdings: mit wachsender Erfahrung wird uns klar, dass uns dies Mit-sichvertraut-Sein als der Kern des je individuellen, leibhaften Person-Seins seinerseits in mehrfacher Hinsicht gegeben ist. Es ist uns gegeben in seiner nur begrenzten und nur relativen Dauer, in der es vom Moment der Zeugung und Empfängnis in der Geschlechtsgemeinschaft unserer Eltern an, in den Prozessen des Werdens und des Wachsens, des Reifens und des Alterns unaufhaltsam auf sein diesseitiges bzw. auf sein innergeschichtliches Ende im Sterben und im Tode zugeht. Und es ist uns gegeben als ein natürlich und innergeschichtlich Abhängiges und Bedingtes, dessen begrenzte und nur relative Dauer faktisch unmöglich wäre ohne die Lebensbedingungen in der Natur dieser Erde in diesem Sonnensystem in dieser Galaxie und ohne das Raum-Zeit-Kontinuum dieses Universums und dessen Richtungssinns. Sofern wir dies Mit-uns-Vertraut-Sein implizit erahnen bzw. explizit artikulieren, verstehen wir es als den Grund unseres impliziten Gewiss-Seins praktischen Lebenssinns. Achten wir auf diesen uns gegebenen und d. h. auf den uns gewährten Grund unseres impliziten Gewiss-Seins praktischen Sinnes unseres Lebens bzw. unserer Lebensführung, so dürfen wir ihn als das implizite Gewiss-Sein ontologischer Art benennen. Darunter verstehe ich den Aspekt von Selbstgewissheit, der sich auf die besondere Seinsweise bezieht, in der je ich selbst und meinesgleichen existieren. In dieser besonderen Seinsweise ist – offensichtlich im Unterschied zu den Seinsweisen der atomaren, der chemischen, der biotischen, der animalischen Seinsweisen in der Evolution des Universums – das Gefühl eines Woher (Friedrich Schleiermacher)

7 Ich gehe hier wie überhaupt in meiner Darstellung Systematischer Theologie davon aus, dass die Theorie der Intersubjektivität, wie Friedrich Schleiermacher sie für die systematische Darstellung des Christ-Seins in Anspruch nimmt, im Wesentlichen stichhaltig ist. Vgl. Konrad Stock, STh I, 151–171. 8 S. 2.4.2.1.

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Einführung

implizit präsent.9 Nicht präsent ist allerdings in diesem Gefühl eines Woher ein explizites Benennen, Deuten, Verstehen oder Erkennen dessen, was als das „Woher unserer Seinsweise“ in Betracht kommt, die uns das wenigstens implizite GewissSein praktischen Lebenssinnes überhaupt möglich macht. Warum ist das so? Das ist offensichtlich deshalb so, weil das, was meine schwebende Ausdrucksweise „Woher unserer Seinsweise“ anzusprechen sucht, in einem strengen und genauen Sinne jenseits dessen ist, was durch uns selbst bestimmbar und gestaltbar ist. Im Unterschied bzw. im Gegensatz zu mancherlei Versuchen, das Eigen-Sein bzw. den Eigen-Sinn dessen bestimmen zu wollen, was die schwebende Ausdrucksweise „Woher unserer Seinsweise“ meint, spricht alles dafür einzuräumen, dass dies EigenSein bzw. dass dieser Eigen-Sinn des „Woher unserer Seinsweise“ exklusiv von diesem selbst her bestimmbar, denkbar, erkennbar und anredbar ist. Das heißt: Es müsste dies Eigen-Sein bzw. dieser Eigen-Sinn sich von ihm selbst her zeigen, damit uns für die implizite Gewissheit praktischen Lebenssinnes ein inhaltliches Kriterium bzw. eine inhaltliche Bestimmung erschlossen wird. Wird uns ein solches inhaltliches Kriterium bzw. eine solche inhaltliche Bestimmung tatsächlich erschlossen, in deren Licht uns eine Sicht des objektiven Sinnes unserer Seinsweise des selbstbewusst-freien Wählen- und Entscheiden-Könnens in ihrer relativen Dauer erscheint, so wird uns damit das Erstrebenswerte bzw. das Befriedigende des Höchsten Gutes bewusst. Ich nenne eine solche Sicht des objektiven Sinnes unserer Seinsweise eine Sicht des Sinnes von Sein; und zwar deshalb, weil der Ausdruck „Sein“10 die Seinsweise unseres je eigenen leibhaften Person-Seins im All des Seienden und mit dem All des Seienden bezieht auf das Sein jenes unendlichen und allumfassenden Grundes, den die biblisch-religiöse Sprache und nicht nur sie mit dem Wort „Gott“ bezeichnet. Nun ist die Geschichte der Religionskulturen bzw. der Weltanschauungen bewegt von drei elementaren Fragen: zum einen von der Frage, wie wir die Tatsache eines Syndroms von erlittenem Leid und verschuldetem Leid zu verstehen haben; zum andern von der Frage, ob der Tod wesentlich zur Seinsweise des menschlichen Person-Seins gehöre und wohin er führe; zum Dritten von der Frage, ob das „Woher unserer Seinsweise“ in seinem Eigen-Sein und Eigen-Sinn die Macht habe, vor dem Syndrom von erlittenem Leid und verschuldetem Leid bzw. vor dem Tod zu bewahren oder gar aus dem Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids bzw. aus dem Tode zu erretten. Bei all ihren Unterschieden und bei all ihren

9 Vgl. Friedrich Schleiermacher, CG2 § 4,4 (I, 28f. = KGA I.13,1, 38f.): „Wenn aber schlechthinige Abhängigkeit und Beziehung mit Gott in unserem Saze gleichgestellt wird: so ist dies so zu verstehen, daß eben das in diesem Selbstbewußtsein mit gesezte Woher unseres empfänglichen und selbstthätigen Daseins durch den Ausdrukk Gott bezeichnet werden soll …“ (Unterstreichung im Original gesperrt). 10 Und seine Äquivalente jedenfalls in der indogermanischen Sprachfamilie.

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Einführung

Gegensätzen scheinen die Religionskulturen bzw. die Weltanschauungsgemeinschaften darin zu konvergieren, dass eine Sicht des Lebenssinnes die Hoffnung auf die bewahrende und auf die rettende Macht dessen einschließt, was ihnen jeweils als „Woher unserer Seinsweise“ wodurch auch immer gewiss geworden ist. Deshalb ist es angebracht, im Rahmen einer Einführung in die Dogmatik darauf zu achten, welchem Ursprungsgeschehen wir in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen die christliche Sicht des Lebenssinnes und damit die christliche Sicht des Sinnes von Sein verdanken.

II Das Neue Testament identifiziert dies Ursprungsgeschehen als die Ereignisse des Dritten Tages.11 Es bezeugt durch seine bloße Tatsache die Existenz frühester Christus-Gemeinschaften, in denen sich in ersten Umrissen die Lebensform des Glaubens, des Hoffens, des Liebens und alles in allem der Selbstverantwortung vor Gott bildete (vgl. 1Kor 13,13). Sie wurde in den maßgeblichen Konzeptionen der synoptischen Evangelien und der Schulen des Apostels Paulus bzw. des Johannes-Evangeliums alsbald auf hohem Niveau theologisch reflektiert. Das Neue Testament bringt unter dem Eindruck der Ereignisse des Dritten Tages eine prägnante Sicht des Lebenssinnes zur Sprache, die in der Religionsgeschichte der jüdischen JHWH-Gemeinschaft tief verwurzelt ist (vgl. Röm 11,18) und diese gleichwohl kritisch revidiert und reformiert. Das hat darin seinen Grund, dass den Empfängern der Ereignisse des Dritten Tages im Sinnraum bzw. im Verstehenshorizont des Tanakh der jüdischen JHWH-Gemeinschaft (Friedhelm Hartenstein) das wahre Wesen dessen endgültig offenbar wird, was der schwebende Ausdruck „Woher unserer Seinsweise“ meint. Wir können diese kritische Revision und Reformation ermessen, wenn wir uns drei elementare Aspekte vergegenwärtigen: Zum einen ist für die Empfänger der Ereignisse des Dritten Tages als wahr vorausgesetzt, dass das Bekenntnis der jüdischen JHWH-Gemeinschaft zur Einzigkeit 11 Mit der Wendung „Ereignisse des Dritten Tages“ beziehe ich mich stets auf jene Texte des Neuen Testaments, die eine „Erscheinung“ des Gekreuzigten als des Auferstandenen und Erhöhten vor Petrus bzw. vor Paulus (vgl. bes. 1Kor 15,4–8; Gal 1,12.15f.; Mk 16,7; Lk 24,34; Joh 20,3ff.; 21,15ff.) sowie vor den „Zwölfen“ (Mt 28,16ff.; Lk 24,36ff.; Joh 20,19ff.; 21,1ff.) bezeugen. Ich bezeichne das, was in diesen „Erscheinungen“ geschehen ist, als „Ereignis“ im etymologischen Sinne dieses deutschen Wortes, das ein fundamentales bzw. ein intuitives „Verstehen von etwas als etwas im Lichte von“ und damit ein explizites Gewiss-geworden-Sein meint. Worauf immer die Datierung „am dritten Tage“ (1Kor 15,4) zu beziehen sein mag: in den „Ereignissen des Dritten Tages“ wird den Empfängern die Wahrheit des Lebenszeugnisses Jesu von Nazareth für das Im-Kommen-Sein des königlichen Herrschens JHWHs bis hin zum Tode am Kreuz auf Golgatha gewiss; und zwar durch des dreieinen Gottes Heiligenden Geist!

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JHWHs dem Wesen Gottes angemessen ist. Es hat mit seiner Weise, JHWHs Einzigkeit zu nennen und zu denken, die einzigartige Relation im Blick, die zwischen JHWHs transzendentem Sein und dem All des Seienden besteht, das nur durch JHWHs schöpferisches Walten in seiner relativen Dauer erhalten wird. Eine explizite Deutung des „Woher unserer Seinsweise“, das wir nicht als schöpferischen Grund und Ursprung des Seienden verstehen, ehren und anbeten könnten, wäre nach der ironischen Polemik der Botschaft „Deuterojesajas“ etwas, was „nichts nütze ist“ (Jes 44,9ff.). Zum andern ist für die Empfänger der Ereignisse des Dritten Tages als wahr vorausgesetzt, dass wir Menschen alle unvermeidlich verstrickt sind ins Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids. In ihrer langwierigen Arbeit an der Komposition des Tanakh hatte die jüdische JHWH-Gemeinschaft die radikale Einsicht in das Böse-sein-Können des Menschengeschlechts schon in der Erzählung von Kains Brudermord (Gen 4,3-16) bzw. in der Rezeption des Mythos einer Sintflut (Gen 6,5–9,17) erschütternd formuliert. Gleichzeitig war sie darauf aufmerksam geworden, dass das Böse rücksichtsloser Gewalt vielfaches ökonomisches und seelisches Leid erzeugt, das nur durch solidarische Hilfe und durch solidarisches Recht zu lindern, zu begrenzen und zu heilen ist. In ihrer Arbeit am Tanakh bezeugt die jüdische JHWH-Gemeinschaft eine tiefe Einsicht in die Schuldfähigkeit des Mensch-Seins, die schließlich in die prophetische Verheißung eines zukünftigen königlichen Herrschens JHWHs mündet, das „ein neues Herz und einen neuen Geist“ (Ez 36,26) im Selbst der Person bilden wird. Zum Dritten ist für die Empfänger der Ereignisse des Dritten Tages als wahr vorausgesetzt, dass JHWHs transzendentes Sein als sich selbst bestimmendes bzw. als willentliches Sein zu verstehen ist. Sie sind erfüllt von JHWHs In-Gemeinschaftsein-Wollen, das nicht nur „Israel“ als JHWHs ethisches Volk, sondern darüber hinaus auch alles Geschaffene umfasst, wie dies die priesterschriftliche Sintfluterzählung mit dem „Bogen“ als dem Zeichen „des Bundes zwischen mir und der Erde“ – des „ewigen Bundes“ – ergreifend symbolisiert (Gen 9,13ff.). Unter dem Zeichen dieses „ewigen Bundes“ verstehe ich das Zeichen für das ewige Sich-selbstBestimmen des göttlichen Wesens, das seinen unbedingten Heils-Sinn mit dem Menschengeschlecht zu realisieren weiß: auch und erst recht unter den tatsächlichen Bedingungen des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids. Nun wird den Empfängern der Ereignisse des Dritten Tages evident, dass dieses dreifache Wahrheitsbewusstsein des jüdischen JHWH-Verstehens sich auf eine schockierend neue Art und Weise erfüllt.12 Was sich in den Ereignissen des Dritten 12 Dieser Schock kommt klar und deutlich zur Sprache in dem ebenso rätselhaften wie abrupten Schluss des Evangeliums nach Markus, der das „Entsetzen“ und das „Zittern“ der Frauen erzählt, denen ein „Jüngling“ in einem langen weißen Gewand im Grabe Jesu erklärt: „Er ist auferstanden, er ist nicht hier“ (Mk 16, 1–8). Es ist der Schock des frühesten Christus-Glaubens bzw. des frühesten christlich-

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Einführung

Tages tatsächlich ereignet, ist nämlich die umstürzende Gewissheit, dass Jesu von Nazareth Lebenszeugnis für das Im-Kommen-Sein des göttlichen Heils-Sinnes in ihm selbst wahr ist. Es wird ihnen als wahr erwiesen nicht etwa trotz der schmachvollen Hinrichtung am Kreuz auf Golgatha nach römischem Besatzungsrecht; es wird ihnen vielmehr als wahr erwiesen als das Lebenszeugnis, das sich im Tod am Kreuz auf Golgatha vollendet (vgl. Joh 19,30; Lk 24,25-29). In den Ereignissen des Dritten Tages entsteht der Christus-Glaube der apostolischen Zeugen, dem Gottes wahres Wesen – das wahre Wesen des „Woher unserer Seinsweise“ – endgültig offenbar geworden ist. Von diesem ihnen endgültig offenbar gewordenen wahren Wesen Gottes bezeugt der Apostel Paulus klipp und klar: „Denn Gott ist es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat“ (2Kor 5,19 [Übersetzung Ulrich Wilckens]).

In der Ausdrucksweise dieses Zeugnisses kommt das Gott-Verstehen des ChristusGlaubens – und damit die christliche Sicht des Sinnes von Sein – so zur Sprache, dass es das Wahrheitsbewusstsein des jüdischen JHWH-Verstehens erfüllt und sprengt. Allerdings: es ist eine kirchen- und sozialgeschichtliche Tatsache, dass das genauere Verstehen jenes Ursprungsgeschehens der Ereignisse des Dritten Tages zwischen der römisch-katholischen und der reformatorischen Tradition des Christentums strittig ist. Strittig ist also das Verstehen dessen, was wir überhaupt mit dem Ausdruck „Offenbarung“ meinen (vgl. STh I, 409–654).13 Nach römisch-katholischem und grundsätzlich auch nach orthodoxem Selbstverständnis ist das Ursprungsgeschehen der Ereignisse des Dritten Tages identisch mit der Einsetzung des Bischofsamts durch Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen, selbst. Als solchem eignet ihm die Vollmacht, Jesu Lebenszeugnis bis hin zum Tode am Kreuz auf Golgatha in der jeweiligen Ortsgemeinde bzw. in der jeweiligen Teilkirche in persona zu repräsentieren: es repräsentiert das ein für alle Mal Offenbarte, indem es dieses Offenbarte lehrt und überliefert, in der Feier der Sakramente als leibhaft gegenwärtiges austeilt und nicht zuletzt durch die Disziplin der jeweiligen Ortsgemeinde bzw. der jeweiligen Teilkirche bewahrt. Ist das Ursprungsgeschehen der Ereignisse des Dritten Tages identisch mit der Einsetzung des Bischofsamts und der Begründung seiner Vollmacht, so besteht der ChristusGlaube wesentlich in der Form der gehorsamen Anerkennung des Offenbarten,

frommen Selbstbewusstseins. Die Ergänzung, die der Schluss des Evangeliums nach Markus im 2. Jh. gefunden hat (Mk 16,9-20), wollte diesen Schock nicht das letzte Wort sein lassen. 13 Vgl. Reinhard Schwarz, Die gemeinsamen Grundlagen der christlichen Religion und deren strittiges Grundverständnis. Eine von Luther angeregte Unterscheidung mit ökumenischer Relevanz: ZThK 106 (2009), 41–78.

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welches vorzulegen die zentrale Funktion des zur Wahrnehmung des Bischofsamts geweihten Mannes ist. Im Konflikt der reformatorischen Bewegung mit der Heiligen römischen Kirche des frühen 16. Jahrhunderts unter dem Bischof von Rom wurde alsbald ein alternatives Verständnis des Ursprungsgeschehens entdeckt (s. 4.1). Es verbirgt sich hinter der Metapher „Ausgießung“ des Heiligenden Geistes, die in der zusammenhängenden Erzählung der Apostelgeschichte des Lukas vom „Pfingstwunder“ bzw. von der „Pfingstpredigt des Petrus“ (Apg 2,1-36; vgl. Apg 1,8) eindrucksvoll in Szene gesetzt wird. Diese Erzählung handelt auf ihre Weise von der Frage, wie sich denn die befreiende Wahrheit erschließe, die den harten Kern des Evangeliums bildet. Sie unterscheidet offensichtlich zwischen dem Geschehen, in welchem dem Kreise der Apostel Erleuchtung widerfährt, und deren kommunikativer Praxis, die auf wohlbedachte argumentative Weise darzustellen und mitzuteilen sucht, was im Geschehen der Erleuchtung offenbar – d. h.: als wahr gewiss – geworden war. Wenn nun die Hörerinnen und die Hörer diese Darstellung bzw. diese Mitteilung „annehmen“ und sich daraufhin taufen lassen (Apg 2,41), so deshalb, weil sie ihrerseits deren Wahrheit gewiss geworden sind. Die Erzählung der Apostelgeschichte illustriert mithin die alsbald errungene Einsicht der reformatorischen Bewegung, dass sich die befreiende Wahrheit des Evangeliums dem Herzen, dem Gemüt, dem Selbstbewusstsein der Person stets dann und nur dann erschließe, wenn Gottes Geist – der Heiligende Geist – das „äußere Wort“ der religiösen Kommunikation zum „inneren Wort“ der individuellen Wahrheitsgewissheit werden lässt. Das „Annehmen“, das Bejahen, das Vertrauen der Teilnehmer der religiösen Kommunikation ist passiv bzw. intuitiv konstituiert. In ihr ereignet sich Gottes Sich-für-uns-Offenbaren und dessen befreiende, befriedende und tröstende Kraft. In diesem Kontext meint der Ausdruck „Offenbarung“ das jeweils jetzige Mir-Offenbar-Werden jener Wahrheit, die befreit. Ich nenne dies das Christus-Geschehen, dessen verschiedene Momente die materiale Dogmatik zu entfalten hat. Die grundlegende Einsicht der reformatorischen Bewegung in die passive bzw. in die intuitive Konstitution des Christus-Glaubens in der religiösen Kommunikation des Evangeliums hat nun erhebliche Konsequenzen, was deren „äußere“ Bedingungen anbelangt. Sie betreffen zum einen die Rechtsordnung der Kultur einer Gesellschaft, innerhalb derer die Glieder der Christus-Gemeinschaft existieren; und zum andern die „soziale Gestalt“ (Reiner Preul) der Christus-Gemeinschaft und deren Verfassung bzw. deren Organisation. Ich deute diese Konsequenzen hier in der gebotenen Kürze an, weil sie die sachgemäße Ordnung sehen lassen, die zwischen der Bildung des Christus-Glaubens in der Lebensgeschichte eines Menschen und den organisatorischen Regeln eines Gemeinwesens sachgemäßer Weise herrschen soll.

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Für die nötige historische Tiefenschärfe gilt, dass diese Konsequenzen sich den geschichtlichen Erfahrungen im Anschluss an das Wormser Konkordat von 1122 verdanken. Indem es den erbitterten Investiturstreit des hohen europäischen Mittelalters zwischen der „geistlichen Gewalt“ des vicarius Christi und der „weltlichen Gewalt“ des Königs bzw. des Kaisers schlichtete, gab es den ersten Anstoß dazu, grundsätzlich das Verhältnis zu klären, das zwischen einer Sicht des Sinnes von Sein und der politischen Funktion eines Gemeinwesens besteht.14 Jahrhundertelang aufgehalten, kam diese Klärung endlich doch zum Zuge, als der Westfälische Friede von Münster und Osnabrück vom 24. Oktober 1648 erste Umrisse eines Religionsverfassungsrechts skizzierte. Von diesem Frieden angeregt, haben die Verfassungen der euro-amerikanischen Moderne den Grundsatz der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit kodifiziert, der sowohl die Grenzen des Politischen als auch die Rechte der Selbstbestimmung der religiösen bzw. der weltanschaulichen Gemeinschaften ernst nimmt.15 Ich sehe die besondere Bedeutung dieses Grundsatzes darin, dass er nicht etwa nur die Grenzen zieht zwischen dem Lebensbereich der religiös-weltanschaulichen Kommunikation von Lebenssinn und dem Lebensbereich des Politischen im engeren Sinne des Begriffs; vielmehr eröffnet er dem Volk – und damit den Gliedern der religiös-weltanschaulichen Gemeinschaften – die Chance sowohl als auch die sittliche Pflicht, an der Gestaltung der inneren sowie der äußeren Lebensverhältnisse des Gemeinwesens verantwortlich mitzuwirken. Zum einen: Als eine singuläre Sicht des Lebenssinnes und dessen praktischer Gewissheit ist der Christus-Glaube angewiesen auf eine notwendigerweise intakte ebenso wie auf eine notwendigerweise begrenzte Rechtsordnung der Kultur einer Gesellschaft. Intakt ist eine Rechtsordnung, wenn sie und sofern sie das jederzeit bestehende Risiko einer willkürlichen Anwendung von Gewalt zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft zu minimieren trachtet; intakt ist eine Rechtsordnung insbesondere, wenn sie und sofern sie die „Staatsgewalt“ (Art. 20 Abs. 2 GG) auf das Prinzip der Teilung der Gewalten verpflichtet. Begrenzt ist eine Rechtsordnung, wenn sie und sofern sie sich nicht anmaßt, inhaltlich in den Lebensbereich einzugreifen, in welchem sich die Glieder der Religions- bzw. der Weltanschauungsgemeinschaften um ihre jeweilige Sicht des Lebenssinnes versammeln; begrenzt ist eine Rechtsordnung, wenn sie und sofern sie im Verhältnis zum Lebensbereich der Religions- bzw. der Weltanschauungsgemeinschaften Regeln eines Religionsrechts

14 Es ist in diesen Tagen daran zu erinnern, dass dem Konflikt zwischen dem Herrschaftsanspruch der Krone und der „Freiheit“ der Kirche nicht nur der Erzbischof von Canterbury Thomas Becket zum Opfer fiel, den König Heinrich II. am 29. Dezember 1170 in der Kathedrale ermorden ließ, sondern auch der Lordkanzler Thomas Morus, den König Heinrich VIII. am 6. Juli 1535 hinrichten ließ. 15 Vgl. die „Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ vom 22. Oktober 2010 bzw. vom 24. Juni 2013 (EMRK), Art. 9.

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bzw. eines Staatskirchenrechts achtet. Wie aktuell die beiden hier erwähnten Erfordernisse sind, lehrt jeder informierte Blick in die bestürzende Lage zahlreicher Länder und Gesellschaften der Erde, in denen die jeweilige „Staatsgewalt“ eine Sicht des Lebenssinnes jedenfalls in der Öffentlichkeit des Bildungswesens und der medialen Propaganda manipuliert bzw. mehr oder weniger gewaltsam durchsetzt. Zum andern: Mit dem menschen- und grundrechtlichen Axiom der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit ist das Recht der Religions- bzw. der Weltanschauungsgemeinschaften gegeben, „ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ zu ordnen und zu verwalten.16 Dieses Recht wird konkret kraft der Verleihung der „Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechts“.17 Von dieser „Rechtsfähigkeit“ machen auch die Kirchengemeinschaften Gebrauch, die aus der reformatorischen Bewegung hervorgegangen sind. Sie bilden eine „Kirchenordnung“ aus, die den kirchenrechtlichen Rahmen für die religiöse Kommunikation des Evangeliums etabliert, in der es kraft des Heiligenden Geistes zur individuellen Gewissheit des Christus-Glaubens kommen wird. Dem Selbstverständnis der reformatorischen Bewegung gemäß hat eine solche Kirchenordnung dienenden Charakter. Sie ist als solche jedenfalls nicht göttlichen Rechts18 ; sie stellt vielmehr die faktisch notwendige menschliche Organisation bereit, innerhalb derer sich die religiöse Kommunikation des Evangeliums in ihren mannigfachen Medien als Institution vollzieht. Es ist ein besonderes Interesse der vorliegenden Dogmatik, in die Besinnung auf das Wesentliche des Christus-Glaubens ausdrücklich die Rechenschaft über die „soziale Gestalt des Glaubens“ (Reiner Preul) einzuschließen. Sie leitet damit zum Gespräch an: nicht nur mit dem Subdisziplinen der Praktischen Theologie, sondern auch mit der evangelischen Kirchenrechtswissenschaft. Im Verbund mit diesen theologischen Disziplinen sieht sie einen Zusammenhang zwischen der „Rechtsfähigkeit“ der Kirchenorganisation und der menschen- und grundrechtlich garantierten Verantwortung aller ihrer einzelnen Glieder für das Gemeinwohl im Innenverhältnis ihrer Gesellschaft ebenso wie für den Rechtsfrieden zwischen den Gesellschaften dieser Erde. Das sei in der gebotenen Kürze skizziert. Als rechtsfähige Religionsgemeinschaft ist die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) Teil der Kultur ihrer jeweiligen Gesellschaft und ihrer Öffentlichkeit. Auch ihren Gliedern steht aus menschenund grundrechtlichen Gründen das „Recht der freien Meinungsäußerung“ zu, von dem sie jedenfalls in allen Fragen des Gemeinwohls Gebrauch zu machen haben.19 Ihre simultane Teilhabe an allen Lebensbereichen schließt es ein, deren jeweilige 16 17 18 19

Für die Bundesrepublik Deutschland vgl. Art. 140 GG i. V. mit Art. 137 Abs. 3 WRV. Für die Bundesrepublik Deutschland vgl. Art. 140 GG i. V. mit Art. 137 Abs. 4 WRV. Wie es der Codex Iuris Canonici von 1983 für die Heilige römische Kirche kodifiziert. Vgl. Art. 5 Abs. 1 GG sowie Art. 10 Abs. 1 EMRK.

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Ordnung konstruktiv und kritisch mitzubedenken und mitzugestalten; und zwar im Lichte ihres jeweiligen Verstehens der christlichen Sicht des Sinnes von Sein, die Grundsätze einer erstrebenswerten und vorzugswürdigen Ordnung der formalen und der materialen Güter erkennen lässt. Es ist die Sache einer Theologischen Ethik, im Gespräch mit der Praktischen Philosophie und mit den einschlägigen empirischen Wissenschaften solche Grundsätze zu konkretisieren und damit die Gesichtspunkte für die ethische Orientierung im Alltag der Gesellschaft zu markieren.20 Nun ist die ethische Orientierung der Glieder der kirchlich verfassten ChristusGemeinschaft für den Alltag ihrer Gesellschaft keineswegs homogen. Aus diesem Grund spricht alles dafür, den jeweiligen Kirchenleitungen die Kompetenz zuzuschreiben, zu den aktuellen und den strukturellen Lebens- und Überlebensproblemen in der riskanten Situation einer entstehenden Weltgesellschaft im Lichte der christlichen Sicht des Sinnes von Sein Stellung zu nehmen. In den evangelischen Kirchengemeinschaften der Bundesrepublik Deutschland geschieht dies in der Form der Denkschriften, deren deliberativer und dialogischer Stil sich ganz bewusst an die Selbstverantwortung der Person vor Gott richtet. In ihren vier Kapiteln möchte die vorliegende Dogmatik zeigen, dass es der intuitiven Gewissheit des wahren Wesens Gottes bedarf, um den erfüllenden und befriedigenden Lebenssinn in der je individuellen Selbstverantwortung vor Gott zu finden und sich ihrer zu erfreuen. Um der Bildung dieses Lebenssinnes willen ist es die Sache der sozialen Gestalt des Glaubens und ihrer Organisation, die Institution der religiösen Kommunikation des Evangeliums zu ordnen, in welcher Gottes Heiligender Geist waltet als ursprünglicher „Bildner“ (Reiner Preul) der Person zu ihrer wahren Bestimmung.

III Im Rahmen des Entwurfs einer Systematischen Theologie möchte vorliegende Dogmatik der theologischen Kompetenz all derer dienen, die ihre Lebensaufgabe in einem theologischen Berufe finden: sei es in der Organisation einer Kirchengemeinschaft, sei es im Lehramt an den Schulen und an den Universitäten, sei es in den Einrichtungen der Seelsorge und der Erwachsenenbildung und schließlich in der kirchlichen Publizistik. Sie versteht sich als einen Teil jener theoretischen Bildungs-, Ausbildungs- und Fortbildungsprozesse, die für die Praxis der religiösen Kommunikation des Evangeliums innerhalb der sozio-kulturellen Institution Religion und für deren Leitung unabdingbar sind.

20 Vgl. hierzu Konrad Stock, Einleitung, 385–473.

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An der Aufgabe der Leitung der religiösen Kommunikation des Evangeliums sind nach den Einsichten der reformatorischen Bewegung natürlich auch die Laien beteiligt, zumal sie in den Synoden, in den Presbyterien bzw. in den aktuellen Kommissionen Sitz und Stimme haben. Und weil die Wahrnehmung eines theologischen Berufs ebenso wie die Mitwirkung der Laien an den Belangen einer Kirchenleitung jedenfalls unter dem Schutz einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Staats der Gesellschaft in aller Öffentlichkeit stattfindet, wird sich der Entwurf einer Systematischen Theologie in ihren drei Hauptteilen stets und zugleich an alle die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen richten, die im sozio-kulturellen Lebensbereich der Religion bzw. der Weltanschauung ihre Sicht des Lebenssinnes bzw. ihre Sicht des Sinnes von Sein artikulieren oder aber nicht artikulieren. Im Blick auf diesen weiten Adressatenkreis sei nun im Anschluss an die Fundamentaltheologie des Teils I – Erfahrung und Offenbarung – die Methode der vorliegenden Dogmatik vorgestellt. Sie ergibt sich aus der Art und Weise, in welcher der Dogmatik – als einer spezifischen „Religionsdogmatik“ – überhaupt ihr Thema bzw. ihr Gegenstand gegeben ist.21 Ihr Thema bzw. ihr Gegenstand ist ihr gegeben durch die jeweils jetzige religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche; und zwar deshalb, weil sie und sofern sie – die jeweils jetzige religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche – in den verschiedenen Formen des öffentlichen Lehrens, Bekennens, Verkündigens und Tröstens wahr zu sein und deshalb in Geltung zu stehen beansprucht. Sie beansprucht, wahr zu sein bzw. in Geltung zu stehen, indem sie die überlieferten Gestalten der christlichen Lebenslehre – angefangen mit der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments bis hin zu den Symbolen, den kirchlichen Konsensen, den Liturgien, den Liedern, den Gebetstexten und der christlichen Kunstgeschichte – dem Verstehen einer jeweils jetzigen Gemeinde zu erschließen und zugleich im Dialog mit deren jeweiliger Zeitgenossenschaft zu rechtfertigen und zu verteidigen sucht. Ganz allgemein gesagt, hat eine Dogmatik in ihrer ethischen Zielsetzung innerhalb der theologischen Disziplinen für die Praxis der religiösen Kommunikation des Evangeliums eine hermeneutische und eine apologetische Funktion. Eine dogmatische Besinnung als der mittlere Teil eines Entwurfs Systematischer Theologie ist ersichtlich bezogen auf das Dogma bzw. auf den Inbegriff der Dogmen.

21 Insoweit gleicht die christliche „Religionsdogmatik“ der Disziplin der „Rechtsdogmatik“ in der Forschung, in der Lehre und in der Praxis der Rechtswissenschaft, weil diese ihrerseits bezogen ist auf die Art und Weise, in der uns das Phänomen Recht gegeben ist. – Vgl. bes. die Beiträge von Jan Schapp, Über Freiheit und Recht. Rechtsphilosophische Aufsätze 1992–2007, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008, die der Autor ausdrücklich als „Entwurf einer rechtsimmanenten Freiheitsdogmatik“ (VI) charakterisiert.

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Dieser seit dem Rationalismus der europäischen Aufklärung und insbesondere seit Immanuel Kants Kritik vielfach verlästerte Begriff hat nach wie vor seinen richtigen Sinn und seine richtige Bedeutung, wenn man sich seiner Herkunft aus dem Bildungsinteresse des Philosophierens in der Zeit des antiken Hellenismus erinnert. Hier meint er das, was in einer philosophischen Schule wie z. B. der Stoa als anerkannte bzw. als verbindliche Lebenslehre in Geltung steht; und zwar deshalb, weil ihr eine ethisch orientierende Funktion zukommt, die nicht etwa aus empirischem Wissen, sondern vielmehr aus nicht-empirischen Einsichten in das Allgemeine bzw. in das Wesentliche des menschlichen In-der-Welt-Seins gewonnen ist.22 Obgleich aus anderen Quellen geschöpft, kommt dem Begriffswort „Dogma“ und seinen Äquivalenten – wie z. B. „regula fidei“, „articulus fidei“, „Symbol“, „Lehrschreiben“, „Lehrentscheidung“, „Bekenntnis“, „Theologische Erklärung“ – in der Geschichte des christlichen Lebens eine durchaus vergleichbare Funktion zu. Sie alle sind bezogen auf das pluriforme Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift, das in den Institutionen und in den Konstellationen des christlichen Lebens im Lauf der Zeit seinerseits auf kulturell verschiedene und vielfach gegensätzliche Weise rezipiert wird.23 Sie wollen daher angesichts der verschiedenen und vielfach gegensätzlichen Rezeptionen bis auf Weiteres bestimmen, was in den kirchlich verfassten Christus-Gemeinschaften gemeinsam als konzentrierte und kirchenrechtlich verbindliche Sprach- und Denkgestalt derjenigen Lebenslehre in Geltung steht, welche im Christus-Geschehen ihre Wurzel hat. Sie haben also eine integrierende Funktion, die allerdings auch notwendige Grenzen zieht.24 Bezeichnen die Termini „Dogma“ und dessen Äquivalente die integrierende Funktion konzentrierter und von Kirchenrechts wegen verbindlicher Lehrentscheidungen für die religiöse Kommunikation des Evangeliums, so fragt es sich, welche

22 Den Ausdruck „In-der-Welt-Sein“ entlehne ich dem Sprachgebrauch Martin Heideggers, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 9 1960, bes. 52–62: Das In-der-Welt-sein als Grundverfassung des Daseins. – Natürlich gewinnt dieser Sprachgebrauch im Rahmen einer christlichen „Religionsdogmatik“ seinen prägnanten Sinn dadurch, dass die „ontologische(n) Struktur von ‚Welt‘“ bzw. die „Idee der Weltlichkeit als solcher“ (53) aus der ontologischen Relation des unendlichen und allumfassenden Seins Gottes und des All des Seienden begriffen wird. 23 So sah sich beispielsweise schon die Christus-Gemeinschaft des 2. Jahrhunderts dazu herausgefordert, sich mit der Rezeption des Christlichen bei Markion (ca. 85–ca. 160) bzw. mit der Umformung des Christlichen in der Bewegung der Gnosis auseinanderzusetzen. 24 Wegen ihres speziellen Verstehens des Dogmas und der dogmatischen Autorität des kirchlichen Lehramts hat die römisch-katholische Kirchengemeinschaft diese Ausgrenzung dissentierender Lehre im Übermaß praktiziert, bis hin zur Exkommunikation und zur Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen. Doch auch die „Theologische Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen“ vom 29. bis 31. Mai 1934 sah sich verpflichtet, ihre 6 Thesen durch Sätze zu ergänzen, die den Widerspruch gegen diese Thesen als „falsche Lehre“ „verwerfen“!

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Rolle Theologie als Fakultät der universitas der Wissenschaften im Allgemeinen und Dogmatik als der mittlere Teil Systematischer Theologie im Besonderen im Verhältnis zur Funktion dieser Lehrentscheidungen wohl spielt. Es wäre nun gewiss eine spannende und lehrreiche Sache, die Antwort auf diese Frage vorzubereiten, indem man sich ihre Geschichte vergegenwärtigt und kritisch zu ihr Stellung nimmt. Stattdessen darf ich mich damit begnügen, die methodischen Grundsätze meiner eigenen Darstellung offen zu legen. Erstens: Als mittlerer Teil einer Systematischen Theologie bewegt sich vorliegende Dogmatik im Verhältnis zur religiösen Kommunikation des Evangeliums hier und heute im Allgemeinen und zu den von Kirchenrechts wegen verbindlichen Lehrentscheidungen bzw. Bekenntnissen der reformatorischen Bewegung im Besonderen. Ihr ist ihr Thema bzw. ihr Gegenstand – das Christus-Geschehen als das endgültige Mir-Offenbar-Werden des „Friedens mit Gott“ (Röm 5,1) auf Hoffnung hin (Röm 8,24) kraft des Heiligenden Geistes – nicht anders gegeben als in jener Überlieferung in den Sprach-, Denk- und Praxisgestalten des „äußeren Wortes“ (vgl. STh I, 567–612). Weil das Christus-Geschehen sich nicht anders vergegenwärtigt als im Medium jener Überlieferung, leitet eine dogmatische Besinnung zur inhaltlichen Reflexion auf die sachgemäße Art und Weise an, in der sich eine christlich-religiöse Gemeinschaft in ihrer jeweiligen sozio-kulturellen Situation auf diesen ihren Gegenstand bezieht. Ich verstehe die Systematische Theologie daher im Anschluss an Friedrich Schleiermacher als historische Disziplin, die zusammen mit den anderen historischen Disziplinen des theologischen Studiums auf die Praxis des christlichen Lebens hier und heute zielt.25 Zweitens: Ihr Gegenstand – das Christus-Geschehen – ist der Dogmatik in dieser seiner Überlieferung nicht etwa isoliert gegeben. Bereits das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments versteht diesen Gegenstand in einem spezifischen Zusammenhang bzw. in einem spezifischen Richtungssinn, den es als den unbedingten Heilssinn des göttlichen Wesens anspricht (vgl. Gen 9,16-17;

25 Vgl. Friedrich Schleiermacher, KD2 §§ 195–256 (KGA I.6, 393–416). Schleiermacher behandelt die Systematische Theologie im 3. Abschnitt seiner Darstellung der „Historischen Theologie“ unter dem Zwischentitel „Die geschichtliche Kenntniß von dem gegenwärtigen Zustande des Christenthums“; und zwar sowohl im Blick auf die „dogmatische Theologie“ (§§ 196–231) als auch im Blick auf die „kirchliche Statistik“ (§§ 232–256). Vgl. dazu Konrad Stock, STh I, 60–76.

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Einführung

Eph 1,10; 1Tim 2,4).26 Es sieht den unbedingten Heilssinn des göttlichen Wesens darin wirklich werden, dass er sich einem menschlichen und d. h. einem geschaffenen Selbstbewusstsein erschließt und dadurch dessen Selbstverständnis und dessen Zielsetzungen in seiner jeweiligen Lebenswelt bestimmt. Auch wo es das WirklichWerden dieses Heilssinnes in einzelnen Geschichten bzw. in der Konzeption einer umgreifenden Geschichte erzählt, intendiert es keineswegs – wie etwa die antike Geschichtsschreibung seit Herodot – eine Rekonstruktion von „verités de fait“ für unser Wissen; es bringt vielmehr – wie namentlich der Psalter des Tanakh beweist – jenes besondere bzw. jenes singuläre „Fromm-Sein“ der Person zur Sprache, das sich dem Sich-Erschließen des göttlichen Wesens in seinem Eigen-Sein und Eigen-Sinn verdankt. Eine Dogmatik wird daher bestrebt sein, diesen Zusammenhang bzw. diesen Richtungssinn deutlich werden zu lassen, der ja als solcher der Zusammenhang bzw. der Richtungssinn eines menschlichen Lebens ist: des Geschaffen-Werdens, des Versöhnt-Werdens und schließlich des Vollendet-Werdens in zukünftiger Ewigkeit. Eine Dogmatik wird in ethischer Zielsetzung jene Stadien darstellen, in denen sich das „In-der-Welt-Sein“ eines jeden menschlichen Lebens konkretisiert. Sie sucht das Allgemeine, das Gemeinsame, das Kategoriale bzw. das Universale des menschlichen In-der-Welt-Seins verständlich zu machen, so wie es uns im Christus-Geschehen erschlossen ist. Drittens: Um dieser Aufgabe willen bezieht sich eine Dogmatik auf den Zusammenhang bzw. auf den Richtungssinn des Christus-Geschehens, wie ihn das biblische Offenbarungszeugnis und dessen Rezeption in einer religiösen Kommunikation des Evangeliums präsentiert, mit den Möglichkeiten einer begrifflichen Sprache. Dieses Verfahren ist schon deshalb angezeigt, weil bereits die Quellensprachen der Heiligen Schrift selbst im Rahmen ihrer narrativen, metaphorischen und poetischen Darstellungsformen Begriffe verwenden, die das Allgemeine, das Gemeinsame, das Kategoriale bzw. das Universale des menschlichen In-der-Welt-Seins im Lichte ihrer Sicht des Sinnes von Sein intendieren. Von ihnen inspiriert, artikuliert die Geschichte der Dogmen, der Lehrentscheidungen, der Bekenntnisse dies Allgemeine, dies Gemeinsame, dies Kategoriale bzw. dies Universale in begrifflicher Form; und zwar durchaus im Medium der Debatten dieser oder jener theologischen Schule. Auf diese Weise hatte und hat sie Einfluss auf die Praxis der lebendigen religiösen Kommunikation des Evangeliums in ihrer jeweiligen Zeitgenossenschaft, die dem

26 Die Komposition der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments als des Kanons des christlichen Offenbarungszeugnisses macht diesen Richtungssinn dadurch kenntlich, dass sie das Christus-Geschehen als das innergeschichtliche Ziel des schöpferischen Waltens Gottes erfasst, dessen diesseitige bzw. dessen irdische Wirkung im Selbst der Person erst jenseits des Todes und durch den Tod hindurch in Gottes zukünftiger Ewigkeit vollendet werden wird.

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Einführung

Gewiss-Werden und Gewiss-Bleiben der Wahrheit dienen möchte, die zur Freiheit führt. Vorliegende Dogmatik knüpft an dieses Verfahren an, indem sie es mit Rücksicht auf den Gegenstandsbezug des biblischen Offenbarungszeugnisses und dessen Rezeption in der Geschichte der Christus-Gemeinschaft und deren öffentlicher Lehre intensiviert und korrigiert. Sie ist daher in ihrem Gedankengang um historische Tiefenschärfe bemüht. Ad 1: Im Lichte ihrer fundamentaltheologischen Einsichten geht eine Dogmatik davon aus, dass sowohl die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testaments als auch deren Rezeption in der Geschichte des christlichen Lebens ein Erschlossen-Sein bzw. ein Offenbar-Sein jener Wahrheit bezeugt, die zur Freiheit führt. In den mannigfachen Gestalten des christlichen Wortbekenntnisses bis hin zu dessen Praxis im Gebet, im Lied, in der Liturgie und in der Kunst kommt deshalb grundsätzlich die Relation zum Ausdruck zwischen deren Gegenstand bzw. deren Sache und der Gewissheit des Glaubens, des Hoffens, des Liebens, dass es sich so und nicht anders verhält. Diese Relation schließt allerdings ein die Unterscheidung zwischen dem Gegenstand bzw. der Sache selbst und den mehr oder weniger adäquaten Weisen des Besprechens, des Bezeugens und Verstehens. Diese sind der Unschärfe, der Bedingtheit und damit der Irrtumsfähigkeit ihrer Autoren und ihrer Rezipienten nicht enthoben.27 In den früheren Epochen der Geschichte des christlichen Lebens blieb es womöglich mehr oder weniger verdeckt, dass die Relation, die wir als das Erschlossen-Sein bzw. als das Offenbar-Sein der befreienden Wahrheit bezeichnen, jene Unterscheidung zwischen dem bezeugten Gegenstand bzw. der bezeugten Sache und der Denk- und Sprachgestalt des Bezeugens und Besprechens einschließt. Demgegenüber entwickelt sich in der Epoche der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne – angeregt von den Impulsen der reformatorischen Bewegung – jener Stil des dogmatischen Verfahrens, der die Unterscheidung innerhalb jener Relation grundsätzlich ernst nimmt. Ich sehe das Vorbild dieses Stils in Friedrich Schleiermachers philosophischtheologischem Lebenswerk. Es interpretiert das Ganze des christlichen Wortbekenntnisses ebenso wie das Ganze des christlichen Ethos als die Praxis eines besonderen bzw. eines einzigartigen Falls von Frömmigkeit: nämlich als eine besondere

27 Aus diesem Grunde hat Schleiermacher im Rahmen seiner Darstellung des Lehrstücks „Von der Person Christi“ die Maxime aufgestellt, dass die überlieferten Glaubenssätze und insbesondere die überlieferten Formeln der festgestellten kirchlichen Lehre „einer fortgesezten kritischen Behandlung“ bedürfen (Friedrich Schleiermacher, CG2 § 95 L [II, 48 = KGA I.13,2, 58]). Von dieser Maxime mache ich insbesondere Gebrauch in der Lehre von Gottes dreieinem Wesen, in der Lehre vom „In-derSünde-Sein“ des Menschen, in der Lehre von Gottes versöhnendem Walten und in der Lehre von der „Parusie des Christus Jesus in dem Geist der Wahrheit“.

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bzw. als eine einzigartige „Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins“28 – des individuellen Selbstgefühls bzw. des „Mit-sich-vertraut-Seins“ der Person – durch die „höchste göttliche Offenbarung“.29 Ebenso wie die erklärte Absicht der „Glaubenssätze“ ist es die erklärte Absicht der dogmatischen Besinnung, der Bildung dieses besonderen bzw. dieses einzigartigen Falls von Frömmigkeit in der religiösen Kommunikation des Evangeliums zu dienen. Eine dogmatische Besinnung wird also darauf aus sein, das Ganze des christlichen Wortbekenntnisses ebenso wie das Ganze des christlichen Ethos als Mitteilung, als Darstellung, als Zeugnis jener innerlich bindenden Wahrheitsgewissheit zu entwickeln, die die leibhaft existierende Person stets dem Walten des Heiligenden Geistes verdankt. Wie schon gezeigt, ist die Gewissheit dieser Wahrheit im Selbstgefühl der Person passiv bzw. intuitiv konstituiert. Um willen solcher passiver bzw. solcher intuitiver Konstitution in ihrer jeweils jetzigen Lebenswelt geht die dogmatische Besinnung intensivierend und korrigierend mit der überlieferten Denk-, Sprachund Praxisgestalt der „Glaubenssätze“ um: einschließlich der „Glaubenssätze“ der Heiligen Schrift. Ad 2: In der Geschichte des christlichen Lebens hat das begriffliche Denken, mit dessen Hilfe die dogmatische Besinnung die Glaubenssätze des christlichen Wortbekenntnisses in dessen integrierender Funktion entfaltet, seit seinen Anfängen in der Schule des Apostels Paulus peu à peu an „Bestimmtheit“30 gewonnen. Wie schon das apologetische Verfahren Justins des Märtyrers, wie der Betrieb der theologischen Schulen in Alexandria und wie insbesondere das überragende Lehren des Rhetors und Bischofs Aurelius Augustinus zeigen, zielt dies begriffliche Denken darauf ab, das Phänomen des menschlichen In-der-Welt-Seins so zu erfassen, wie es sich im Lichte des Erschlossen-Seins bzw. des Offenbar-Seins befreiender Wahrheit zeigt. Mehr und mehr kommt dabei heraus, dass der gesuchte „höchst mögliche Grad der Bestimmtheit“ zu finden ist, wenn die dogmatische Besinnung das Phänomen des menschlichen In-der-Welt-Seins mit Hilfe des Begriffs des leibhaften Person-Seins erhellt. Dieser Begriff macht es nämlich möglich, das Phänomen des menschlichen In-der-Welt-Seins in seiner relationalen Struktur vor Augen zu bringen. Erstmals von Richard von St. Victor (gest. 1173) skizziert, enthält er nicht nur den Aspekt

28 Vgl. Friedrich Schleiermacher, CG2 § 3 L (I, 14 = KGA I.13,1, 20). – Die „Lehnsätze“, die Schleiermacher in der „Einleitung“ der „Glaubenslehre“ entwickelt, sind natürlich nicht etwa nichttheologischen Theorien entlehnt, sondern ergeben sich aus der phänomenologischen Erforschung des menschlichen In-der-Welt-Seins aus der Perspektive des ordinierten Theologen. 29 Vgl. Friedrich Schleiermacher, CG2 § 14,3 (Zusatz) (I, 100 = KGA I.13,1,122). 30 Ich erinnere an Schleiermachers Leitsatz des § 16 (I, 107 = KGA I.13,1, 130): „Dogmatische Säze sind Glaubenssäze von der darstellend belehrenden Art, bei welchen der höchst mögliche Grad der Bestimmtheit bezwekkt wird.“

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des Selbstverhältnisses, sondern auch den Aspekt des „Von-anderem-her-Seins“ und vor allem auch den Aspekt des verantwortlichen „Für-einander-Seins“. Ergänzt man und erweitert man die Skizze dieser Struktur um jene Aspekte, die den Grund und Ursprung des leibhaften Person-Seins ebenso wie dessen wechselseitige Beziehungen innerhalb der Kultur einer Gesellschaft betreffen, so entdeckt man am Leitfaden dieses Begriffs nicht nur die ursprüngliche Sozialität, sondern auch die ursprüngliche Religiosität der Seinsweise des Menschen. Sie gilt es in interessierter kritischer Aufmerksamkeit auf die Beiträge philosophischen Denkens und humanwissenschaftlichen Forschens detailliert zu entfalten. Ad 3: Der „höchst mögliche Grad von Bestimmtheit“, den die dogmatische Besinnung für die religiöse Kommunikation des Evangeliums in ihrer kirchlichen Ordnung erstrebt, wäre noch nicht erreicht, wenn sie sich mit der angedeuteten Struktur des leibhaften Person-Seins bloß als solcher begnügen würde. Zu ihm gehört es nämlich auf jeden Fall ernst zu nehmen, dass das Phänomen des menschlichen In-der-Welt-Seins, das der entwickelte Begriff des leibhaften Person-Seins zu erfassen sucht, seinerseits nicht etwa schlechthin notwendig ist. Ist es auch wirklich – ist es von seinem Möglich-Sein her verwirklicht –, so ist es doch nur faktisch notwendig. Als solches ist es kontingentes Seiend-Sein in einer kontingenten Welt, die wir nach derzeit geltender kosmologischer Theorie als unbegrenztes Universum deuten, das sich von einem Punkte 0 aus mit Lichtgeschwindigkeit ausdehnt. Aus diesem Grunde nimmt die dogmatische Besinnung das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift in dessen Rezeption in der Geschichte des christlichen Lebens ernst, welches das kontingente Seiend-Sein des Menschen in diesem kontingenten Universum begründet, erhalten, getragen und vollendet sieht von jenem unendlichen und als solchem notwendigen und vollkommenen Sein, dem einzig und allein der Name und der Begriff Gott gebührt. Vorliegende Dogmatik setzt daher auf der Basis ihrer fundamentaltheologischen Begründung ein mit dem Kapitel 1 über den christlichen Glauben an Gott, das in die „Zwischenbetrachtung“ über „Gottes Gnadenwahl“ mündet. Es ist seine Aufgabe zu zeigen, dass sich das christliche Gott-Verstehen – das Verstehen Gottes als des wahrhaft unendlichen und insofern des notwendigen und notwendig vollkommenen Seins – konzentriert auf Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen. Diese konzentrierte Formel bezeichnet nichts Geringeres als den „Möglichkeitsraum“ (Eilert Herms), ohne den und außerhalb dessen es menschliches In-der-Welt-Sein schlechterdings nicht geben könnte. Was die dogmatische Entfaltung dieses Gott-Verstehens für das besonnen-kritische Gespräch mit alten und mit neuen philosophischen Lebenslehren sowie mit alter und mit neuer Religionskritik bedeutet, liegt wohl auf der Hand. Alles in allem ist es daher das Verfahren der vorliegenden Dogmatik, das Christus-Geschehen, wie es ihr im „äußeren Wort“ des Offenbarungszeugnisses der Heiligen Schrift und in dessen Überlieferung bis hin zur jeweils jetzigen religiösen Kommunikation des Evangeliums gegeben ist, im Lichte des Begriffs der

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ontologischen Relation des Seins und des Seienden für dessen je gegenwärtiges Offenbar-Werden im Selbst, im Herzen, im Gemüt der Person darzulegen: „ubi et quando visum est Deo“ (CA V). Natürlich schließt die christliche Einsicht in die passive bzw. in die intuitive Bildung der Wahrheitsgewissheit des ChristusGlaubens niemanden aus; sie artikuliert nur die Art und Weise, in der „jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr, Gott dem Vater zum Preis.“ (Phil 2,11 [Übersetzung Ulrich Wilckens]).

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Kapitel 1: „Gott ist Geist“ (Joh 4,24) Der christliche Glaube an Gott Leitsatz: Der Christus-Glaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) ist Glaube an Gott. Er weiß sich gegründet, geleitet und zum Ziel gebracht von jener absoluten Wesenheit, deren Eigen-Sein und deren Eigen-Sinn sich uns erschließt in dem geheimnisvollen Wort: „Ich werde sein, wer immer ich sein werde“ (Ex 3,14). Das Bekenntnis des ChristusGlaubens sucht das Eigen-Sein und den Eigen-Sinn jener absoluten Wesenheit zu erfassen in der Lehre von Gottes Sein als Gott der Vater, Gott der Sohn, Gott der Heilige Geist. Diese Lehre handelt wohlverstanden von der Art und Weise, in der die absolute Wesenheit, die wir als Gott für uns (Mt 1,23) verehren, dem selbstbewusst-freien Leben der geschaffenen Person in der Einheit der Lebensund Erfahrungswelt schöpferisch, versöhnend und vollendend gegenwärtig ist und bleibt.

1.1

Einführung

Der Christus-Glaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen ist Glaube an Gott. Wo immer und wann immer es ihn gibt, gibt es ihn gemäß reformatorischer Erkenntnis als diejenige Lebensgewissheit bzw. als dasjenige Lebensgefühl, das einen Menschen in der Tiefe des Gemüts erfüllt und trägt. Um dieser Lebensgewissheit bzw. um dieses Lebensgefühls willen strebt die religiöse Kommunikation des Evangeliums danach, Sinn und Bedeutung des Wortes „Gott“ nahezubringen: in der Erziehung und im Unterricht, im seelsorglichen und im therapeutischen Gespräch, in der öffentlichen Diskussion und vor allem in der Institution des Gottesdienstes am ersten Tag der Woche. Ob ihre Frohbotschaft von Gott als wahr und deshalb als vertrauens- und als liebenswürdig einleuchtet, steht freilich nicht in ihrer Macht. In der Prinzipienlehre zeigte ich, dass die Gewissheit der Wahrheit dieser ihrer Frohbotschaft sich nur dem „Wahrheitsgeist“ (Herman Schell) verdankt, der sie und ihren Wahrheitsanspruch verstehen, ergreifen und beherzigen lässt (STh I, 612–654). Kraft dieses Wahrheitsgeistes aber ist sie uns und wird sie uns immer wieder neu endgültig offenbar. Wird uns die christliche Frohbotschaft von Gottes Eigen-Sein und Eigen-Sinn tatsächlich offenbar? Schärft nicht schon das Neue Testament mit Nachdruck ein: „Niemand hat Gott je gesehen.“ (Joh 1,18a; vgl. 1Tim 6,16)? Bekräftigt es auf diese Weise nicht die tiefe Einsicht des Buches Exodus: „Dann sprach er (verstehe:

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„Gott ist Geist“ (Joh 4,24)

JHWH): Du kannst mein Angesicht nicht schauen, denn kein Mensch bleibt am Leben, der mich schaut.“ (Ex 33,20)? Nimmt das theologische Denken nicht mit vollem Recht den philosophischen Begriff der Unendlichkeit des göttlichen Wesens auf, das sich jedem menschlichen Erkennen- und Begreifen-Wollen schlechterdings entzieht? Kommt der Christus-Glaube und kommt die Selbstbesinnung auf das Wesen des Christus-Glaubens jemals über das Nicht hinaus, welches das negative Vorzeichen jedes menschlichen Erkennen- und Begreifen-Wollens des göttlichen Wesens ist und bleibt?1 Wenn das Wort „Gott“ nicht irgendetwas Unbestimmtes und Unbestimmbares, sondern eben Transzendenz bezeichnet – ist und bleibt sie uns nicht schlechthin verborgen? Nun: Erhebt die Frohbotschaft des Evangeliums von Gottes Eigen-Sein und Eigen-Sinn überhaupt einen begründeten Wahrheitsanspruch, so kommt er uns entgegen in den Zeugnissen, die Kunde geben von den Ereignissen des Dritten Tages (vgl. 1Kor 15,3-8; Gal 1,12). Von den Ereignissen des Dritten Tages hatte ich gesagt, dass ihre Zeugen sie verstanden als die göttliche Affirmation der Gottesgewissheit, die sich dem Christus Jesus selbst erschlossen hatte und die er selbst bezeugt. Deshalb präzisiert der Prolog des Evangeliums nach Johannes den negativen Grundsatz, dass niemand Gott je gesehen habe, durch das strahlende Bekenntnis: „Der einziggeborene Sohn, der im Schoße des Vaters zu Hause ist, er hat sein Geheimnis erschlossen.“ (Joh 1,18b [Übersetzung Ulrich Wilckens]).2 Dieses strahlende Bekenntnis bringt den negativen Grundsatz keineswegs zum Verschwinden; es bekräftigt ihn vielmehr just im Gespräch mit Gott im Gebet, im Lied und in der Meditation: „O du unergründ’ter Brunnen, wie will doch mein schwacher Geist, ob er sich gleich hoch befleißt, deine Tief ergründen können?“3

Die religiöse Kommunikation des Evangeliums hier und heute – und zwar nicht etwa nur hier und heute in dieser Bundesrepublik Deutschland, sondern in den Kulturen und Gesellschaften der Ökumene dieser Erde – wird sich deshalb auf diesen Grund besinnen, wenn sie es wagt, von Gottes Eigen-Sein und Eigen-Sinn und damit von dem Gott für uns (Mt 1,23), von Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen zu reden. Dieser Grund ist darin zu suchen, dass das göttliche Wesen Formen 1 Vgl. hierzu Ralf Stolina, Niemand hat Gott je gesehen. Traktat über negative Theologie, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2000 (TBT; 108); Ders., Art. Negative Theologie: RGG4 6,170–173. 2 Vgl. Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 17 1962 (KEK; II, 17), z. St. 3 Paul Gerhardt, Sollt ich meinem Gott nicht singen? (EG 325,3).

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und Stufen der Vergegenwärtigung seiner selbst stiftet, in denen und auf denen es als transzendentes präsent ist.4 Der christliche Glaube an Gott hält diese tiefe Einsicht der jüdischen JHWH-Gemeinschaft in der Zeit und nach der Zeit des babylonischen Exils entschieden fest. Zusammen mit der Ethik ist es die Sache der Dogmatik, die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche zu beraten hinsichtlich der begründeten Rede von Gott.5 Zwar handelt Systematische Theologie in allen ihren Teilen von Gott, weil sich der Christus-Glaube als das Leben in der Hoffnung, in der Liebe, in der Selbstverantwortung nicht anders zu verstehen weiß denn als das Leben coram Deo (Martin Luther); aber es ist angebracht, in einem eigenen Kapitel eine Antwort auf die Frage zu suchen, was der Christus-Glaube meint, wenn er das Wort „Gott“ gebraucht: in der Form des einzelnen und des gemeinschaftlichen Gebets mit Gott und zu Gott und in der nachdenkenden Betrachtung, die die Gottesrede in der Heiligen Schrift und in der christlichen Überlieferung auf die eigene Lebensgeschichte bezieht. Eine solche Antwort ist erst recht zu suchen, wenn dem Christus-Glauben Gottes göttliches Wesen in der Überfülle der ikonischen Zeichen des Bildes und der Semantik der Bilder vergegenwärtigt wird.6 Drei aktuelle Motive bewegen mich dazu, im Rückblick auf die Prinzipienlehre und im Vorblick auf die materiale Dogmatik der Frage, was das Wort „Gott“ in der Perspektive des Christus-Glaubens wohl bedeute, ein eigenes Kapitel zu widmen. Wiewohl bereits die biblischen Texte teils implizit teils explizit mit dieser Frage ringen und wiewohl die Geschichte der kirchlichen Lehre seit den sog. „Apostolischen Vätern“ um diese Frage kreist, machen diese drei aktuellen Motive es hier und heute dringlich, mit neuem Ernst zum Verstehen des Ausdrucks „Gott“ anzuleiten. Zum einen ist die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche und ist die Diskussion der systematischen Zunft der deutschsprachigen evangelischen Theologie in dieser Frage von einem tragfähigen Konsens noch weit entfernt. Die religiöse Kommunikation des Evangeliums scheint eine große Zahl von Suchbewegungen aufzuweisen: Suchbewegungen, die von tatsächlichen oder aber von scheinbaren Schwierigkeiten mit den Sprach- und Denkgestalten der tradierten

4 Vgl. hierzu Thomas Krüger, Einheit und Vielheit des Göttlichen nach dem Alten Testament, in: Wilfried Härle und Reiner Preul (Hg.), Trinität (MJTh X), Marburg: Elwert, 1998 (MThSt; 49), 15–50; bes. 34ff. 5 Vgl. Karl Barth, KD I/1,1 (Leitsatz § 1): „Dogmatik ist als theologische Disziplin die wissenschaftliche Selbstprüfung der christlichen Kirche hinsichtlich des Inhalts der ihr eigentümlichen Rede von Gott.“ (kursiviert im Original). – Dieser Leitsatz findet meine Zustimmung, obwohl er wie das Programm der „Kirchlichen Dogmatik“ überhaupt der Möglichkeit menschlicher Gotteserkenntnis und menschlicher Rede von Gott mit tiefer Skepsis gegenübersteht (vgl. STh I, 461–471; s. u. Anm. 26). 6 Vgl. hierzu Rainer Volp, Art. Bilder VII. Das Bild als Grundkategorie der Theologie: TRE 6, 557–568 (Lit.).

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„Gott ist Geist“ (Joh 4,24)

Gottesrede zeugen, wie sie die Disziplinen der Praktischen Theologie sensibel registrieren. Hingegen hat die Diskussion der systematischen Zunft diese tatsächlichen oder nur scheinbaren Schwierigkeiten mit der tradierten Gottesrede noch nicht zum Anlass genommen, eine Verständigung anzustreben hinsichtlich dessen, was wir uns fundamentaltheologisch, dogmatisch und ethisch über das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens zu sagen getrauen. Sie scheint mir den Diskurs zu scheuen über das angemessene Verhältnis, in dem wir die Beschreibung des Selbstbewusstseins der Person und die unverkürzte Entfaltung der Selbstverkündigung des Christus Jesus miteinander vermitteln können. Zwischen der Analyse von Religiosität bzw. von gelebter Religion und der Besinnung auf den Gott, dem das Trishagion Jesajas gilt (Jes 6,3), klafft eine erhebliche Lücke. Zum andern gehen wir nicht fehl, wenn wir zumal in den Kulturen und Gesellschaften Europas nach wie vor die langfristigen Folgen des typisch neuzeitlichen Atheismus diagnostizieren. Zwar wird er nach der folgerichtigen Implosion des realen Sozialismus im Macht- und Herrschaftsbereich der alten Sowjet-Union nicht mehr von der Partei mittels der staatlichen Bildungsinstitutionen diktiert; aber er führt ein zähes Leben als ein Gewohnheitsatheismus, der die bedeutenden Begründungen der Religionskritik seit David Hume womöglich nur vom Hörensagen kennt. Bestseller wie das Buch von Richard Dawkins, Der Gotteswahn (Berlin 6 2007), entfachen eine neue atheistische Propaganda, die sich vor allem naturwissenschaftlicher Argumente bedient. Da diese neue atheistische Propaganda de facto die religiöse Lage in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit mitbestimmt, setzt der Versuch, das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens nachzuzeichnen, die Kenntnis und die Kritik der Religionskritik ihrer klassischen Autoren stets voraus und schließt sie ein. Wie immer es in ihrer Zeit mit ihren Beweggründen bestellt sein mag: die sorgfältige Lektüre wird entdecken, dass die verschiedenen Typen der Religionskritik zu guter Letzt doch aporetisch sind, zumal sie keinerlei Raum für eine freie ethische Selbstreflexion eines Gemeinwesens übrig lassen (vgl. STh I, 340–362).7 Darüber hinaus jedoch gilt es auf offensive Weise zu zeigen, dass wir die elementare Bedeutung des Wortes „Gott“ verständlich machen wollen und verständlich machen können, indem wir sie beziehen auf den ersten Begriff des Seins des Seienden (s. 1.4). Dem Fideismus, der Gottes absolute Wesenheit als reine

7 Vgl. hierzu zuletzt Richard Schröder, Abschaffung der Religion? Wissenschaftlicher Fanatismus und die Folgen, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 2008; Volker Gerhardt, Glauben und Wissen, Stuttgart: Reclam, 2016. Dawkins begeht den grundsätzlichen methodischen Fehler, empirische Befunde bzw. hypothetische Annahmen naturwissenschaftlicher Art zur Kritik einer „Bestimmtheit“ des Selbstbewusstseins der Person zu verwenden – ohne Rücksicht darauf, dass empirische Befunde bzw. hypothetische Annahmen naturwissenschaftlicher Art ohne das Subjekt nicht möglich sind, das unter der Bedingung des Selbstbewusstseins der Person – und d. h.: unter der Bedingung des „Sich-gegenwärtig-Seins“ – existiert (s. 2.4.2.1).

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Einführung

Glaubenssache und der demgemäß die systematisch-theologische Gotteslehre als reine Glaubenswissenschaft betrachtet, werden wir nicht huldigen; wir werden vielmehr brennend daran interessiert sein, den ersten Begriff des Seins des Seienden mit Friedrich Schleiermacher als den der „absoluten ungeteilten Einheit“ Gottes zu entfalten.8 Zum Dritten: Es wäre provinziell, wenn wir an den Gesprächen der Missionswissenschaft und an deren systematischen Diskursen kein Interesse haben würden.9 Sie lenken unseren Blick auf die Lebensverhältnisse der sog. einheimischen Kirchen der weltweiten Christenheit im Allgemeinen und auf ihre vielfach bedrängte Existenz in den großen Religionskulturen des Islam, des Hinduismus, des Buddhismus und des Konfuzianismus im Besonderen. Für sie stellt sich die Frage, wie wir das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens angemessen zu vertreten haben, in der zugespitzten Form, ob – und wenn ja, in welcher Weise – das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens das Gottesverständnis der Ahnen und der Vorfahren ihres Volkes einzuschließen vermag; sie stellt sich allerdings erst recht als Frage, ob – und wenn ja, in welcher Weise – die absolute Wesenheit, wie sie der Christus-Glaube als Gott für uns, als Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen zu bekennen wagt, den Gliedern jener großen Religionskulturen ihrerseits tragfähige Lebensgewissheit und tragfähiges Lebensgefühl eröffnet. Wenn seit geraumer Zeit das Paradigma der Sendungen das theologische Leitmotiv des missionarischen Handelns ist, verweist es uns auf jene Geschichte, in der die absolute Wesenheit sich von sich selbst her in ihrem Eigen-Sein und Eigen-Sinn offenbart und damit darstellt und vergegenwärtigt. Um dieser drei Motive willen eröffne ich die materiale Dogmatik mit diesem eigenen Kapitel über das Gottesverständnis des Christus-Glaubens. Es setzt voraus und präzisiert den Denkweg der Prinzipienlehre, die das Geschehen der endgültigen Offenbarung des göttlichen Wesens für uns Menschen alle auf die Grundsituation des selbstbewusst-freien Lebens in der Einheit der Lebens- und Erfahrungswelt bezog (vgl. STh I, 151–304). In der Prinzipienlehre zeigte ich, dass die bestimmte Religion in ihrer ganzen geschichtlichen Vielfalt dem Staunen und der Verwunderung über das hohe Gut des menschlichen Person-Seins in seiner sei es kleinen sei es großen sozialen Gemeinschaft Ausdruck gibt; und dass sie von den jeweiligen Erscheinungen einer Gottheit den Schutz einer kosmischen Ordnung vor den Gefahren des Chaotischen erbittet und erhofft. In ihrer jeweiligen bestimmten Religion erheben sich die menschlichen Gemeinschaften zu jener ursprünglichen

8 Vgl. Friedrich Schleiermacher, CG2 § 32,2 (I, 173 = KGA I.13,1, 203f.). 9 Vgl. zum Folgenden bes. Robert Schreiter, Art. Gott VII. Missionswissenschaftlich: RGG4 3, 1130–1132.

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„Gott ist Geist“ (Joh 4,24)

Macht, der sie das hohe Gut des menschlichen Person-Seins und dessen dauerndes Gegeben- und Erhalten-Werden zu verdanken glauben. In der Geschichte der bestimmten Religion – und zwar im Umkreis der frühen Hochkulturen Ägyptens, Assyriens, Babyloniens und Griechenlands – bildet sich endlich und zuletzt auch das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens. Es nimmt das Gott-Verstehen des jüdischen JHWH-Glaubens in sich auf, wie es sich erst nach dem Zusammenbruch der politischen Religion Israels und Judas in der Zeit und nach der Zeit des babylonischen Exils herauskristallisiert hatte. Allerdings sprengt es die exklusive Bindung, die jüdischer JHWH-Glaube zwischen JHWH dem einzigen Gott und JHWHs erwähltem Volk zu sehen meint, zugunsten der Erkenntnis des einzigen Gottes als des Gottes für uns Menschen alle, die denn auch nahezu von Anfang an der religiösen Kommunikation des Evangeliums ihren weltweiten ökumenischen Charakter gibt. Wir dürfen freilich nicht vergessen, dass diese universale Weite des christlichen Gott-Verstehens namentlich in der Prophetie Deuterojesajas sowie im Hymnus des Psalters vorgezeichnet ist.10 Aus diesem Grunde befindet sich die öffentliche Rechenschaft vom GottVerstehen des Christus-Glaubens in interessierter Nähe und in aufmerksamem Gespräch mit jener philosophischen Theologie, die sich seit ihrer Begründung in der Kritik des Mythos, wie sie die Vorsokratiker übten, der Frage nach der wahren Gestalt des Göttlichen zuwendet. Mitnichten kann man guten Gewissens sagen, diese philosophische Theologie sei längst passé; sie ist vielmehr präsent in den verschiedenen Entwürfen der metaphysischen Betrachtung, die Relation des Denkens und des Seins zu denken (vgl. STh I, 305–318). Die systematisch-theologische Selbstbesinnung auf das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens bewegt sich mithin in einer zweifachen Konstellation. Zum einen achtet sie darauf, dass sich der Christus-Glaube bildet im Sinnraum und im Verstehenshorizont des Glaubens, dem sich JHWH als „unser Gott“ – als „JHWH allein“ – erschließt (Dtn 6,4); sie wird deshalb dafür plädieren, das christliche Bekenntnis zu Gottes Sein als Vater, Sohn und Heiliger Geist als die konkrete und umfassende Gestalt des Hörens ernst zu nehmen, zu dem das Buch

10 Vgl. hierzu bes. Werner H. Schmidt, Alttestamentlicher Glaube, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 9 2004, 302–368; 394–407. – Nach Klaus Baltzer ist zu vermuten, dass die Aussagen des „Deuterojesaja“ über den „Gottesknecht“ (Jes 42,1-9; 48,16–49,12; 50,2–51,16; 52,13–53,12) den Adressaten im Rückgriff auf Texte des Pentateuch „ein neu interpretiertes und aktualisiertes Bild Moses“ als des von JHWH berufenen Mittlers „von Recht und Heil für die Völker“ vor Augen bringen, „der seinen Auftrag ohne Gewalt ausführt.“ Vgl. Klaus Baltzer, Art. Gottesknecht: RGG4 3, 1224–1226. Nach dieser Interpretation ist die Figur des „Gottesknechts“ zu verstehen als die prophetische Verheißung jenes göttlichen Waltens, das Martin Luther mit der Metapher der Regierweise Gottes zur Rechten charakterisierte (s. 3.4.2.1).

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Einführung

Deuteronomium am Ende einer langen religionsgeschichtlichen Entwicklung Israel aufruft. Zum andern aber will sie darauf hinaus zu zeigen, dass das Bekenntnis zu Gottes Sein als Vater, Sohn und Heiliger Geist die absolute Wesenheit, wie sie die philosophische Theologie mit dem Begriff des absoluten Geistes zu erfassen wagt, aus gutem Grund als das „dreieinige Füreinandersein“ (Herman Schell) symbolisiert, kraft dessen sie sich selbst als „gnädig und barmherzig“ erschließt.11 Sie will es nahelegen, Gottes schlechthin notwendiges und vollkommenes Sein gleichursprünglich als das freie Mit-uns-und-Für-uns-sein-Wollen anzubeten und zu ehren, das nichts Geringeres als ewige Gemeinschaft mit uns Menschen allen intendiert. Aus der Tiefe rufend (Ps 130,1) sucht sie nachzuzeichnen, was es bedeutet, dass Gottes absolute Wesenheit die Wahrheit und die Güte ist: nämlich die Wahrheit ihres Sich-selbst-Verstehens, kraft dessen sie sich öffnen und erschließen will für Anderes. Um nun das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens in dieser zweifachen Konstellation zu bedenken, beginne ich mit der Frage, was wohl der Sinn (die Intension) des Wortes „Gott“ sein möchte, das in der Religionsgeschichte stets als Apposition eines Namens begegnet (1.2). In einem zweiten Schritt werde ich davon sprechen, dass wir die absolute Wesenheit, die wir mit dem Begriffswort „Gott“ und dessen Synonymen bezeichnen, deshalb und nur deshalb in ihrem Eigen-Sein und Eigen-Sinn verstehen, weil sie sich von sich selbst her für uns darstellt und vergegenwärtigt. Sie stellt sich dar und sie vergegenwärtigt sich für uns – die wir als ihr geschaffenes Ebenbild existieren – in ihrem Walten; und dieses Walten fasst der Christus-Glaube auf in dessen trinitarischer Struktur (1.3). In einem dritten Schritt gilt es zu zeigen, von welcher Art das Sein der absoluten Wesenheit ist, auf deren ursprüngliches In-Gemeinschaft-sein-Wollen bzw. auf dessen Für-uns-Sein der Christus-Glaube radikal vertraut; ich werde hier den ontologischen Begriff entwickeln, ohne den nach meiner Einsicht die religiöse Kommunikation des Evangeliums ihre Sachwahrheit nicht realistisch entfalten kann (1.4). In einem vierten Schritt sei vorgetragen, dass Gottes Sein präzise als Gottes Person-Sein zu verstehen ist; und zwar als Gottes dreieines Person-Sein, dessen Momente wir mit den trinitarischen Namen Gottes des Vaters, Gottes des Sohnes bzw. des Wortes und Gottes des Heiligen Geistes bezeichnen. Indem ich Gottes Sein als Gottes dreieines Person-Sein expliziere, schwebt mir vor, die Einzigkeit des göttlichen Wesens als Einheit der Momente Gottes des Vaters, Gottes des Sohnes

11 Diese Selbsterschließung der absoluten Wesenheit bezeugt insbesondere die sog. „Gnadenformel“ Ex 34,6: „HErr, HErr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue“.

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bzw. des Wortes und Gottes des Heiligen Geistes zu beschreiben und zur Erkenntnis der Eigenart des „konkreten Monotheismus“ beizutragen, die den Christus-Glauben prägt (1.5). Abschließend fasse ich den Gedankengang zusammen unter dem Gesichtspunkt, dass dem Christus-Glauben in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) Gott erschlossen ist als der Grund ewiger Freude (1.6).

1.2

Der Name Gottes und das Begriffswort „Gott“12

Der Christus-Glaube – das christlich-fromme Selbstbewusstsein – ist das Lebensgefühl bzw. die Lebensgewissheit eines Menschen, die hervorgerufen, gehalten und orientiert wird durch den Geist der Wahrheit, der den Inbegriff der Zeugnisse endgültiger Offenbarung des göttlichen Wesens als wahr verstehen, ergreifen und beherzigen lässt (Joh 14,17). In ihnen ist von Gottes Gottheit in mannigfacher Weise die Rede. Sie ist Subjekt von Sätzen und von Satzgefügen, die sie bekennen, rühmen und von ihr erzählen; sie ist Subjekt, das nähere Bestimmung findet in Adjektiven, in Appositionen und in Verben. Ja, weite Passagen der Tora des Pentateuch und des Kanons der Hinteren Propheten im Alten Testament des Christus-Glaubens präsentieren das Gott-Verstehen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft in der Form direkter Gottesrede. Und alle diese Weisen, das endgültige Offenbar-Werden der Gottheit Gottes zu erfassen im Medium der Sprache, sind eingebunden in die übersprachlichen Liturgien, in denen eine leibhaft versammelte Christus-Gemeinschaft Gottes endgültiges Offenbar-Werden begeht und feiert: im Raum eines kirchlichen Gebäudes, im gemeinsamen Gesang, in der Betrachtung einer Ikone oder eines Bildes in der Apsis und nicht zuletzt in den sakramentalen Feiern. Sie haben ihre Vorgeschichte in den Ritualen, in denen die jüdische JHWH-Gemeinschaft sich der Gegenwart des göttlichen Wesens vergewissert, nicht ohne substantielle Anleihen an der religiösen Ikonographie und an der sakralen Architektur semitischer Kulte.13 Das Wort „Gott“ begegnet uns in der religiösen Kommunikation des Evangeliums und in deren mannigfachen Medien also niemals nackt; es ist vielmehr stets

12 Vgl. zum Folgenden bes.: Dionysius Areopagita, De Divinis Nominibus, PTS 33, 1990; Paul Tillich, STh I, 247–273: Gott als Idee; Wolfhart Pannenberg, STh I, 3ff.; Wilfried Härle, Dogmatik5 , 210–217; Günter Bader, Die Emergenz des Namens. Amnesie – Aphasie – Theologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 2006 (HUTh; 51), mit erschöpfendem Literaturverzeichnis. 13 Vgl. hierzu bes. Othmar Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Zürich/Neukirchen-Vluyn: Benzinger/Neukirchener, 3 1980; Friedhelm Hartenstein, Das Angesicht JHWHs. Studien zu seinem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32–34, Tübingen: Mohr, 2008 (FAT; 55).

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Der Name Gottes und das Begriffswort „Gott“

Träger von Bedeutungen. Gleichwohl würden alle diese Bedeutungen in der Luft hängen, wenn sie nicht auf die Bedeutung des Wortes „Gott“ bezogen wären. Deshalb steht am Anfang der Besinnung auf das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens mit vollem Recht und gutem Grund der Versuch, der Bedeutung dieses Wortes auf die Spur zu kommen und damit den Verdacht zu entkräften, es handle sich um ein nonsense-Wort bzw. um ein Wort, das Platz hält für alle möglichen beliebigen oder gar trivialen Bedeutungen. Schon in der angemessenen Bestimmung des Wortes „Gott“ klärt sich auf, ob sich das Lebensgefühl bzw. ob sich die Lebensgewissheit eines Menschen wirklich auf Gott selbst bezieht oder aber auf das, was Martin Luther „Abegott“ nannte.14 Die geschichtliche Erfahrung des Abgöttischen, des Abergläubischen, des Teuflischen zumal in den politischen Religionen des 20. Jahrhunderts und ihrer Entsetzen erregenden Brutalität gibt dem Versuch einer authentischen Bestimmung des göttlichen Wesens tiefen Ernst. Erstens: In der religiösen Kommunikation des Evangeliums bezeichnen wir mit dem Wort „Gott“ ein Wirklich-Sein von einzigartiger Prägnanz. Was wir – wir in der religiösen Kommunikation des Evangeliums, die Leben in der Freiheit eines Christenmenschen menschlich möglich machen will – mit diesem Wort bezeichnen, hat seine Vorgeschichte. Was wir an dieser Vorgeschichte kenntlich machen wollen, beschränkt sich keineswegs auf Befunde der religionsgeschichtlichen bzw. der überlieferungsgeschichtlichen Art. Wir können diese Befunde vielmehr dann und nur dann in ihrem Gewicht ermessen, wenn wir zurückgehen auf die Bestimmung des Ursprungsverhältnisses, das in den mannigfachen Variationen der Religionsbzw. der Überlieferungsgeschichte Aussagen über das Wirklich-Sein des göttlichen Wesens fand und findet. Ich hatte dafür argumentiert, dass menschliches Dasein als leibhaftes Person-Sein sich de facto unvermeidlich findet in einem Selbstverhältnis im Verhältnis zu anderem Selbstverhältnis; und dass sich dieses interpersonale bzw. soziale Verhältnis eingeordnet weiß in das Verhältnis zur Natur der engeren und der weiteren Umgebung dieser Erde und darüber hinaus zum ungeheuren Ganzen der geschichtlichen und der kosmischen Welt (vgl. STh I, 151–171). Diese früher begründete Erkenntnis kategorialer Art betrachte ich als angemessen und als gültig auch für die Religionskulturen, in deren Kontext sich die Gottesverehrung und die Gotteserkenntnis der jüdischen JHWH-Gemeinschaft

14 Vgl. Martin Luther: „Was heißt ein Gott haben oder was ist Gott? Antwort: Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten. Also daß ein Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und gläuben, wie ich oft gesagt habe, daß alleine das Trauen und Gläuben des Herzens machet beide Gott und Abegott … Worauf Du nu (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich Dein Gott.“ (Großer Katechismus, Auslegung des ersten Gebots [BSLK 560,9-24]).

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und deren kritische Transformation in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen bildete. In diesen Religionskulturen stoßen wir – soweit uns das überhaupt noch möglich ist – auf die Relikte, die uns von ihrem Verstehen des Ursprungsverhältnisses Kunde geben, das sich für sie in der Besinnung auf das menschliche Dasein als leibhaftes Person-Sein nahelegt. Auch wenn uns vieles im Dunkel der archaischen Zeit verborgen bleiben mag: das Finden und Erfinden der Namen gottheitlicher Wesen und die jeweilige Lehre hinsichtlich ihres wie auch immer begrenzten und beschränkten Waltens beweist, dass das unmittelbare Selbstbewusstsein bzw. das individuelle Freiheitsgefühl der Person in ihrer jeweiligen Gemeinschaftsgestalt gar nicht anders kann als sich in diesem seinem „Woher“, in diesem seinem Ursprungsverhältnis zu situieren.15 Es sucht das Numinose zu erahnen und in frommer Scheu zu erfassen und zu nennen, so wie es sich in einer unableitbaren Szene von sich selbst her zeigt.16 Die Bedeutung, die das Wort „Gott“ im Offenbarungszeugnis des ChristusGlaubens und in dessen Überlieferung gewinnt, setzt mithin das Inne-Sein jener schlechthinnigen Abhängigkeit des menschlichen Person-Seins in seiner jeweiligen Gemeinschaftsgestalt voraus, das ich mit Hilfe und im Lichte der Theorie der Subjektivität erläutert hatte; sie setzt das unmittelbare bzw. das implizite Gottesbewusstsein der Person voraus, das allerdings der lebensgeschichtlichen Bildung ebenso wie der kritisch-selbstkritischen Klärung und Reinigung bedarf (vgl. STh I, 363–400). Für die Entfaltung dieser Theorie hatte ich mich darauf berufen, dass Schleiermacher selbst sie einführt und bestimmt als ein „geliehenes aus der Seelenlehre“ (CG2 § 33 [I,18 = KGA I, 13,1, 24]) – als fundamentales Datum einer Psychologie. Erst mit Hilfe und im Lichte dieses wohlverstanden psychologischen Grundgedankens können wir den besonderen Charakter ermessen, den der christliche Gebrauch des

15 Der Ausdruck „jeweilige Gemeinschaftsgestalt“ weist hin auf die verschiedenen Typen einer Religion der Familie, einer Religion des Ortes bzw. einer Religion des „Reiches“ oder des „Staates“ in den Religionskulturen des Alten Orients. 16 Der Ausdruck „das Numinose“ wurde in der Religionswissenschaft heimisch durch Rudolf Otto (vgl. Rudolf Otto, Aufsätze, das Numinose betreffend, Stuttgart/Gotha 1923), der damit wohl das Allgemeine der Epiphanie eines Numens charakterisieren wollte. Vgl. hierzu Andreas Feldtkeller, Art. Numinos: RGG4 6, 428–429, der mit Recht darauf verweist, der gegen Otto vorgebrachte kritische Verzicht auf jede Gegenstandsbestimmung religiöser Erfahrung habe zur Folge, dass die Beschreibung einer bestimmten Religion die Eigenart ihres Gegenstandes zu verfehlen droht. – Zur kritischen Interpretation der Theorie Ottos vgl. jetzt: Hermann Deuser, „A Feeling of Objective Presence“ – Rudolf Ottos „Das Heilige“ und William James’ Pragmatismus im Vergleich, in: Jörg Lauster u. a. (Hg.), Rudolf Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, Berlin: de Gruyter, 2014, 319–333; Hans Joas, Im Bannkreis der Freiheit. Religionstheorie nach Hegel und Nietzsche, Berlin: Suhrkamp, 2020, 99–125.

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Der Name Gottes und das Begriffswort „Gott“

Wortes „Gott“ im Gebet, in der gottesdienstlichen Feier, im seelsorglichen Gespräch und in der Einsamkeit des Fragens und des Leidens bekommt. Zweitens: Um diesen besonderen Charakter zu ermessen, ist es von großer Wichtigkeit sich klar zu machen, dass und in welcher Weise das Gott-Verstehen und die Gottesverehrung des Christus-Glaubens den exklusiven Monotheismus der jüdischen JHWH-Gemeinschaft seit der Zeit und nach der Zeit des Exils sowohl voraussetzt als auch kritisch revidiert. Nach bibelwissenschaftlicher Erkenntnis entsteht die explizite jüdische Gewissheit der Einzigkeit des göttlichen Wesens in einem langen und erbitterten Kampf.17 Die Anfänge dieses Kampfes sind womöglich zu greifen in den traditionalen Erzählungen von Elia und von der prophetischen Bewegung Elisas, die einerseits gegen den „Polyjahwismus“ der lokalen Kulte und andererseits gegen den Staatskult einer politischen JHWH-Religion aufbegehren (1Kön 17,1–19,21; 21,17-29; 2Kön 1,1–9,37). Wie die späteren Überlieferungen der sog. Schriftprophetie Hoseas, Amos’, Jesajas, Jeremias und Michas schärfen sie das Gedenken an die Frühzeit der JHWH-Verehrung ein, die für die Bildung des Bewusstseins einer eigenen ethnischen Identität des Namens „Israel“ wohl exklusive Bedeutung hatte. Die Frühzeit wird als jene formative Phase in Erinnerung gerufen, in der JHWH allein als Schutz und Hort der ethnischen Identität „Israel“ gilt, ohne dass dieser JHWH-Glaube das Wirklich-Sein und Walten der Gottheiten in den umgebenden Religionskulturen schon irgendwie in Zweifel gezogen hätte. Womöglich war es die historische Figur des Mose, die für die Überlieferungen Israels mit dem Ursprung des JHWH-Glaubens in Verbindung steht und deshalb mannigfache literarische Bedeutungen auf sich zog.18

17 Vgl. zum Folgenden bes.: Fritz Stolz, Einführung in den biblischen Monotheismus, Darmstadt: WBG, 1996 (Die Theologie); Walter Dietrich/Martin A. Klopfenstein (Hg.), Ein Gott allein? JHWHVerehrung und biblischer Monotheismus im Kontext der israelitischen und altorientalischen Religionsgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht/Freiburg, Schweiz: Univ.-Verlag, 1994 (darin bes.: Rainer Albertz, Der Ort des Monotheismus in der israelitischen Religionsgeschichte [77–96]; Othmar Keel & Christoph Uehlinger, Jahwe und die Sonnengottheit von Jerusalem [260–309]; Walter Dietrich, Der Eine Gott als Symbol politischen Widerstands. Religion und Politik im Juda des 7. Jahrhunderts [463–490]); Gunther Wenz, Gott. Implizite Voraussetzungen christlicher Theologie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007 (Studium Systematische Theologie; Bd. 4), 69–194; Friedhelm Hartenstein, Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments. Studien zur Relevanz des ersten Kanonteils für Theologie und Kirche, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016 (darin bes.: Die Anfänge JHWHs und die „Sehnsucht nach dem Ursprung“. Eine geschichtshermeneutische Problemanzeige [163–196]; JHWHs Wesen im Wandel. Vorüberlegungen zu einer Theologie des Alten Testaments [199–228]; Personalität Gottes im Alten Testament [229–267]). 18 Vgl. hierzu Eckart Otto, Art. Mose I. Altes Testament: RGG4 5, 1534–1538; 1535f. zu Ex 2,15-22.

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Für die prophetische Bewegung war der Ursprung des JHWH-Glaubens durch den „Polyjahwismus“ der lokalen Kulte und durch die Praxis einer politischen Religion sowohl in Jerusalem als auch in Samaria zutiefst entstellt. Hatte die Praxis der politischen Religion doch unweigerlich die Folge, dass der JHWH-Glaube nach dem Vorbild des sakralen Königtums die unumschränkte Herrschaft eines Königs legitimieren und zugleich die kultische Verehrung fremder Manifestationen gottheitlicher Wesen tolerieren musste. Erst der Zusammenbruch der politischen Religion im Jahre 720 v. Chr. bzw. im Jahre 587/586 v. Chr. machte den Weg dafür frei, dass die deuteronomische Schule einerseits und dass die prophetische Bewegung andererseits die monolatrische Tendenz des ursprünglichen JHWH-Glaubens radikal und konsequent erfassen, denken und gestalten konnten. Freilich bietet diese ihre „monotheistische Revolution“ (wie man mit Raffaele Pettazzoni sagen kann) ein eigenartiges Bild: Einerseits bricht sich unter den Bedingungen der politischen Ohnmacht die Erkenntnis Bahn, dass der JHWH-Glaube Israels das Wirklich-Sein der fremden Manifestationen gottheitlicher Wesen überhaupt verneine: sie sind – mit Deuterojesajas spöttischen Worten gesagt – nichts anderes als nichtige Machwerke von „Götzenmachern“ (Jes 44,9ff.), die nichts bewirken. Andererseits aber zieht Israels JHWH-Glaube die entscheidenden Prädikationen altorientalischer Königstheologie an sich, mit deren Hilfe JHWHs schöpferische Macht zu bekennen und JHWHs Sorge für Recht und Gerechtigkeit zu preisen ist; die Perikope Jes 45,18-19 bindet diese beiden Aspekte des gottheitlichen Waltens unauflöslich zusammen. Die späte Synthese zwischen der Einzigkeit Gottes und den wesentlichen Eigenschaften seines Schöpfer-Seins und seiner Gerechtigkeit hat die sachgemäße Konsequenz, die sich in der Erzählung von der Berufung des Mose zum Führer der Befreiung der Kinder Israel aus Ägypten (Ex 3,1–4,17) innerhalb des ersten Erzählbogens des Buches Exodus wie in einem schattenhaften Umriss andeutet. Diese Erzählung bezeugt ein tiefsinniges Verständnis des Eigennamens JHWH, der seit dem 9. Jahrhundert v. Chr. epigraphisch belegt ist.19 Als Eigenname eines gott-

19 Vgl. Ernst Axel Knauf, Art. JHWH: RGG4 4, 504–505. Nach Knauf ist der Eigenname JHWH als „Imperfekt-Einwortname“ zu verstehen, der im Kult einer nomadischen Ethnie eine Regen- und Gewitter-Gottheit und womöglich auch eine Kriegs-Gottheit benannte. Vgl. zur Bedeutung des Eigen-Namens JHWH auch Friedhelm Hartenstein, Personalität Gottes im Alten Testament, jetzt in: Ders., Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments (wie Anm. 17), 229–267; 246ff. Hartenstein erinnert in diesem Zusammenhang an die sog. „Gnadenformel“ in Ex 33,19 und Ex 34,6f. und bemerkt zu Ex 3,13f.: „Die historisch und theologisch von Anfang an am Namen JHWH haftende Opakheit bildet wohl ein Element seiner Sonderstellung und der Betonung der Namensoffenbarung.“(248 [Kursivierung im Original]). – Name ist eben nicht im Geringsten „Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsglut“, wie Johann Wolfgang von Goethe seinen Faust behaupten lässt, der Gretchens Gunst erringen möchte (Faust. Der Tragödie Erster Teil, 3457f.). Wir dürfen freilich die fromme Anschauung des Geheimnisses des Wirklichen in diesem Vers nicht unterschätzen. Der Autor will vielmehr

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Der Name Gottes und das Begriffswort „Gott“

heitlichen Wesens neben anderen gottheitlichen Wesen erfordert der Name JHWH auf jeden Fall das Verstehen des Begriffsworts „Gott“ bzw. „Gottheit“ (hebräisch: ‫;אל‬ ‫ ;)אלהים‬jedoch die offensichtlich späte und dichte Interpretation des Tetragramms in Ex 3,14 – „Ich werde (da) sein, als der ich (da) sein werde“ und „Der ‚Ich werde (da) sein‘ hat mich zu euch gesandt“ – schließt jegliche Vergleichbarkeit mit dem Wirklich-Sein und Walten anderer gottheitlicher Wesen aus. Sie legt der Gottheit JHWHs jene Selbstkundgabe ihrer Identität in den Mund, die die Anrufung ihres Namens im Sinne eines Eigennamens alsbald als obsolet erscheinen lässt. Es war und ist daher nur konsequent, wenn die jüdische JHWH-Gemeinschaft seit der Zeit und nach der Zeit des Exils das Tetragramm auszusprechen meidet und es durch Worte wie „HErr“ oder „Der Heilige“ ersetzt. Wir dürfen diese Interpretation des Eigen-Namens JHWH als einen Glaubenssatz verstehen: als einen Satz, der im Kontext altorientalischer Religionskultur das Eigen-Sein und den Eigen-Sinn der wahren Gottheit bekennt. Dieser Glaubenssatz nimmt de facto darauf Bezug, dass die Besinnung auf das unmittelbare Selbstbewusstsein der Person das implizite Gottesbewusstsein als Gefühl des schlechthin Abhängig-Seins von einer schlechthin transzendenten Macht entdeckt. Geprägt von ihrer leidvollen Geschichte artikuliert die jüdische JHWH-Gemeinschaft mit dieser ihrer Interpretation des bemerkenswerten Eigen-Namens JHWH die Bedeutung des „Woher“ des Gefühls des schlechthin Abhängig-Seins auf radikale Weise. Sie tut es so, dass sie sich im Protest gegen die explizite Transzendenzgewissheit altorientalischer Religionskultur sowohl der Einzigkeit des göttlichen Wesens als auch seiner Selbstbestimmung vergewissert, deren „Wege“ und „Gedanken“ „höher“ sind als menschliche Wege und als menschliche Gedanken. Sie sieht zum einen, dass – so paradox es klingt – allein Gott den Sinn bzw. die Intension des Wortes bzw. der Apposition „Gott“ erfüllt; denn nur der wahre Gott will und vermag sich selbst von sich selbst her für Anderes zu vermitteln und sich für Anderes darzustellen. Zum andern aber sieht sie, dass Weg und Ziel des göttlichen Sich-Darstellens dem menschlichen Begreifen und Begreifen-Wollen Geheimnis ist und bleibt. Kein Text der Hebräischen Bibel hat diesen Glaubenssatz ergreifender zur Sprache gebracht als Deuterojesajas Spruch: „Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der HErr, sondern so viel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken höher als eure Gedanken.“ (Jes 55,8-9).

religionskritisch betonen, dass „Schall und Rauch“ der göttlichen Namen die wahre „Himmelsglut“ verdunkeln und verbergen: die Himmelsglut der Sonne, die für uns das „Unbeschreibliche“ des Lebens und des Geistes repräsentiert.

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„Gott ist Geist“ (Joh 4,24)

In der Besinnung auf das Wesen und auf die Bestimmung des Christus-Glaubens hier und heute stoßen wir mithin auf einen aufregenden Sachverhalt. Einerseits teilt der Christus-Glaube die radikale Einsicht der jüdischen JHWHGemeinschaft in Gottes Einzigkeit20 ; er teilt sie derart intensiv, dass kirchliche Lehre und christlich-theologische Schulbildung sich von einem frühen Zeitpunkt an das philosophische Interesse an der Bestimmung des Einen als des transzendenten Grundes einer Welt im Werden und in der Bewegung anzueignen vermochten. Wenn sich der Christus-Glaube recht versteht, lässt er die ontologische bzw. die metaphysische Frage nach dem Sinn des Ausdrucks „Sein“ beileibe nicht auf sich beruhen (vgl. STh I, 305–318; s. 1.4); er führt vielmehr zu einem Denken, das diese Frage auf eine unüberbietbar angemessene Weise zu behandeln und zu beantworten behauptet. Meine ganze Darstellung einer Systematischen Theologie unternimmt es, eben die christliche Sicht des Sinnes von Sein zu entfalten. Andererseits aber bildet die religiöse Kommunikation des Evangeliums, in der sich Christus-Glaube durch den Geist der Wahrheit ereignet, nahezu von allem Anfang an Formeln des apostolischen Kerygmas bzw. der apostolischen Glaubenslehre aus, die ein einzigartiges Verhältnis proklamieren zwischen dem einzigen Gott, der Gott der Vater ist, und dem einen HErrn, welcher der Christus (vgl. bes. 1Kor 8,6) bzw. welcher der „geliebte Sohn“ (Mt 3,17) ist. Im Selbstverständnis des Christus-Glaubens vollziehen die verschiedenen Gestalten expliziter Christologie im Neuen Testament ganz offenkundig nicht etwa den Bruch mit dem Bekenntnis der jüdischen JHWH-Gemeinschaft zur Einzigkeit des göttlichen Wesens; sie explizieren vielmehr miteinander die Art und Weise, in der die Einzigkeit des göttlichen Wesens sich für andere vergegenwärtigt. Die spärlichen triadischen Formeln des Neuen Testaments geben uns davon Kunde, wie sich der Christus-Glaube in der formativen Phase der Christus-Gemeinschaft des 1. Jahrhunderts dieser Erkenntnis zu nähern sucht: tragischerweise im Gegensatz zum expliziten Gottesbewusstsein der jüdischen JHWH-Gemeinschaft.21

20 Das Neue Testament bezeugt das christliche Verstehen der Einzigkeit Gottes ausdrücklich: Mt 23,9; Mk 2,7; 12,29; Röm 3,30; 1Kor 8,4.6; Gal 3,20; Eph 4,6; 1Tim 2,5; Jak 4,12. – Die Wirkungsgeschichte dieses Verstehens in der „ἑις θεός-Formel“ der christlichen Epigraphik, in der Liturgie und in der Akklamation im Christentum der Spätantike hat akribisch untersucht Erik Peterson, „Eis Theos“. Epigraphische, formgeschichtliche und religionsgeschichtliche Untersuchungen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1926 (FRLANT; NF 24). Zu Petersons herrschaftskritischer Interpretation der Trinitätslehre s. 1.5.3.3. 21 Vgl. bes. den sog. Missionsbefehl des Erhöhten Mt 28,19.20: „Darum geht hin und macht alle Völker zu meinen Jüngern. Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie, alles zu halten, was ich euch geboten habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis diese Weltzeit sich vollendet.“ (Übersetzung Ulrich Wilckens). – Das „Gloria“ des christlichen Gottesdienstes nimmt diese triadische Formel auf: „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit!“

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Die trinitarische Struktur des göttlichen Waltens

Nach alledem kommt dem Begriffswort Gott im Leben des Christus-Glaubens eine Bedeutung zu, die die kirchliche Lehre und die die christlich-theologische Reflexion auf den Weg des Nachdenkens über Gott selbst als den dreieinen und dreifaltigen Gott geführt hat und immer wieder führt. Sie führt zur Lehre und zur theologischen Reflexion des trinitarischen Wesens des einzigen Gottes für uns Menschen alle in der Einheit dieser unserer Lebens- und Erfahrungswelt. Um nun meine Darstellung dieser Lehre bzw. dieser theologischen Reflexion vorzubereiten, ist es freilich unabdingbar, die Methode zu rekonstruieren, der der Christus-Glaube faktisch folgt, wenn er in der Form der Lehre und der theologischen Reflexion Aussagen über Gott selbst zu machen wagt. Diese der Sache angemessene Methode aber besteht darin, zuerst die trinitarische Struktur des göttlichen Waltens in Erinnerung zu rufen; denn sie ist es, die uns dazu bewegt, über das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift hinaus das trinitarische Wesen des einzigen Gottes für uns Menschen alle in der Einheit dieser unserer Lebens- und Erfahrungswelt beschreiben zu wollen.22

1.3

Die trinitarische Struktur des göttlichen Waltens

Dem Christus-Glauben ist es in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) als wahr gewiss, dass er die Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums weder sich selbst noch irgendeiner der Instanzen der christlichen Überlieferung, des Unterrichts und des Gesprächs verdankt. Zwar sind die mannigfachen Gestalten der Kommunikation des Evangeliums in unserer jeweiligen Gegenwart und insbesondere das mutige Bekenntnis der Glaubenszeugen notwendig dafür, dass sich die Gewissheit des Glaubens im Herzen und im Gewissen eines Menschen und das Leben in der Hoffnung und der Liebe bilde; dass sie dafür auch hinreichend seien, werden wir allerdings bezweifeln. Hinreichend dafür ist das wie auch immer näher zu bestimmende Ereignis der Erschließung und Erleuchtung, das die Person im Grunde ihres Herzens und Gewissens der Wahrheit des Bezeugten vergewissert und sie verstehen, aneignen und sich beständig 22 In der dogmatischen Fachsprache gesprochen: ich gehe aus von einer Skizze der „ökonomischen Trinität“, die ich durch eine Skizze der „immanenten Trinität“ vertiefen werde; vgl. Konrad Stock, Einleitung, 82–88. – Zum Verhältnis von „Gotteslehre“ und Trinitätslehre“ vgl. bes. Karl Rahner, Der dreifaltige Gott als transzendenter Urgrund der Heilsgeschichte: MySal 2, 317–401 (mit dem „Grundaxiom“: „Ohne die heilsgeschichtliche Erfahrung von Geist – Sohn – Vater ließe sich letztlich unter ihrem distinkten Subsistieren als der eine Gott nichts denken.“ [390]); Jürgen Moltmann, Trinität und Reich Gottes. Zur Gotteslehre, München: Kaiser, 1980, 114–143; Wilfried Härle. Dogmatik5 , 239–390; Eilert Herms, STh (Bd. 1), 607–615; Der Glaube an den dreieinen Gott. Eine Handreichung der Glaubenskommission der Deutschen Bischofskonferenz zur Trinitätstheologie: Die deutschen Bischöfe, Nr. 83. Hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2006.

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in ihr finden und üben lässt. Die reformatorische Bewegung hat dieses Ereignis als den Akt des Waltens des göttlichen, des Heiligenden Geistes, des „Wahrheitsgeistes“ selbst (Herman Schell) verstanden; und sie hat darin die entscheidende fundamentaltheologische bzw. hermeneutische Differenz zum Verständnis des Offenbarungsgeschehens in der Kirche unter dem Bischof von Rom erblickt (vgl. STh I, 472–487). Wie kommen wir dazu, uns diesem ihrem Verständnis anzuschließen und es im Kontext der sozio-kulturellen Lebenswelt hier und heute zu bekräftigen? Können wir nachvollziehen, dass die Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums letztlich und beständig gründet im Akt des Waltens des göttlichen, des Heiligenden Geistes, des Wahrheitsgeistes? Auf dem Weg zur Entfaltung des Christus-Glaubens als des Glaubens an Gott selbst als den dreieinen und dreifaltigen Gott suchen wir zuallererst Sinn und Bedeutung der Rede vom göttlichen, vom Heiligenden Geist, vom Wahrheitsgeist zu verstehen; denn wenn es des Waltens des göttlichen, des Heiligenden Geistes, des Wahrheitsgeistes bedarf, um die „innere Klarheit“ des Selbstbewusstseins der Person zu bilden und zu bewahren, dann ist es angebracht, an diesem Punkte einzusetzen. Erstens: Um Gott selbst in seinem Eigen-Sein und Eigen-Sinn zu verstehen, bedarf es des Waltens des göttlichen, des Heiligenden Geistes, des Wahrheitsgeistes; der Christus-Glaube ist sich nämlich einer spezifischen Dunkelheit des Herzens und des Gewissens – des Selbstbewusstseins der Person in ihren notwendigen Beziehungen – bewusst, die der Erhellung und Erleuchtung zutiefst bedürftig ist.23 Im Rückgriff auf die fundamentaltheologischen bzw. auf die hermeneutischen Prinzipien Martin Luthers und Jean Calvins verstehe ich unter dem Wortfeld „Geist Gottes“/„Geist Christi“/„Heiligender Geist“ die verschiedenen Benennungen, mit deren Hilfe die Autoren bzw. die Redaktoren der Heiligen Schrift die Offenbarungsweise des göttlichen Wesens artikulieren. Sie tun es in der erklärten Absicht, die Wirkung und die Wirksamkeit ihrer Verkündigungsgespräche im Herzen und Gewissen ihrer Adressaten als Wirkung und als Wirksamkeit des göttlichen Waltens selbst begreiflich zu machen. Diese Benennungen beziehen sich darauf, dass das Thema bzw. die Sache dieser Verkündigungsgespräche – das Evangelium – dunkel ist, wie die Apostel an sich selbst erfahren mussten. Dunkel ist dies Thema, dunkel ist diese Sache, weil jener schauerliche Tod am Kreuz auf Golgatha das Lebenszeugnis des Christus Jesus für das unscheinbare und doch unfehlbare Nahe-Kommen der Herrschaft des 23 Vgl. das prägnante Diktum des Apostels Paulus 2Kor 4,6: „Denn Gott, der da gesagt hat: ‚Aus Finsternis leuchte das Licht hervor!‘ – der hat es in unseren Herzen Licht werden lassen, um die Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi zum Strahlen zu bringen.“ (Übersetzung Ulrich Wilckens).

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Die trinitarische Struktur des göttlichen Waltens

göttlichen Wesens in ihm selbst in seiner Wahrheit schlechthin unglaubwürdig zu machen scheint. Es ist auf jeden Fall als Zeugnis für die ewige Treue und Gnade bzw. für das In-Gemeinschaft-sein-Wollen des göttlichen Wesens – wie Luther immer wieder sagen wird – unter dem Gegenteil und Widerspruch tief verborgen; ja, die Verkündigung des Wahr-Seins des Evangeliums muss geradezu als Skandal und als Unsinn erscheinen: nicht etwa nur der jüdischen JHWH-Gemeinschaft in der formativen Phase des Christentums, sondern auch und erst recht den „Griechen“ der europäischen Neuzeit, unter denen Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Nietzsche besonders zu erwähnen sind.24 Zweitens: Dass Jesu Christi Lebenszeugnis für das unscheinbare Nahe-Kommen der Herrschaft des göttlichen Wesens in ihm selbst dennoch Wahrheit ist, das wird als wahr gewiss erst in den Ereignissen des Dritten Tages (vgl. STh I, 415–423). Sie verheißen nichts Geringeres als die schöpferische Macht des göttlichen Wesens über den Tod dieses Menschen; und so bilden sie die Quelle des Verstehens, das im Tod des Christus Jesus am Kreuz auf Golgatha geradezu die Vollendung seines Lebenszeugnisses erblickt (Joh 19,30). Indem die Ereignisse des Dritten Tages ihren Empfängern die entsetzliche Dunkelheit des Todes am Kreuz auf Golgatha lichten, gewinnen diese diejenige innere Klarheit des personalen Selbstbewusstseins, die sie zu ihrer Verkündigung und zu ihrer öffentlichen Lehre face to face überhaupt erst fähig macht und späterhin – beginnend mit dem 1. Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde zu Thessaloniki – deren schriftliche Fixierung generiert. In dem Gefüge dieser schriftlichen Fixierung ist jene innere Klarheit für alle späteren

24 Vgl. die steile These des Apostels Paulus 1Kor 1,21ff.: „Denn umgeben von Gottes Weisheit, hat die Welt Gott durch die Weisheit nicht erkannt – darum hat Gott nun beschlossen, durch den ‚Unsinn‘ der Verkündigung die zu retten, die glauben. Während die Juden (Bestätigungs)-Zeichen fordern und die Griechen nach Weisheit verlangen, verkündigen wir den gekreuzigten Christus – Skandal für die Juden und Unsinn für die Griechen.“ (Übersetzung Ulrich Wilckens). – Inspiriert von dieser These hat Martin Luther in der Heidelberger Disputation von 1518 den Gegensatz behauptet zwischen dem Theologen der Herrlichkeit und dem Theologen des Kreuzes, dem es gewiss geworden ist, dass „Gott nur gefunden wird in den Leiden und im Kreuz“ („At deum non inveniri, nisi in passionibus et cruce“ [Übersetzung Wilfried Härle]). Vgl. Martin Luther, Disputatio Heidelbergae habita, These XXI (LDStA, Band 1, 35–69; 54/55). Was in dieser These unter dem „Finden“ zu verstehen ist, hat Luther erst erheblich später in der Auslegung des Dritten Artikels des Apostolicum im Kleinen und im Großen Katechismus mittels der Unterscheidung zwischen der Kommunikation des Evangeliums und dem erschließenden Walten des göttlichen Geistes sehr viel präziser dargestellt; vgl. auch Jean Calvin, Inst. I, 9.1.- Vgl. zum Problem Wolf Krötke, Art. Verborgenheit Gottes: RGG4 8, 938–941. – Im Kapitel 3: „Der christliche Glaube an Gott den Versöhner“ werde ich das Problematische dieser Form einer „Theologie des Kreuzes“ kenntlich machen, die – fixiert auf die spezifische Pointe des Apostels Paulus in 1Kor 1.2 – die paradigmatische Erzählung der Jesus-Christus-Geschichte übersieht, wie sie einerseits die synoptischen Evangelien und andererseits das Evangelium nach Johannes hinterlassen.

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Generationen ausgesprochen, die radikal auf Gottes dauerndes Gewähren des personalen Selbstbewusstseins jenseits des Todes und durch den Tod hindurch vertrauen lässt. Aufs Kürzeste zusammengefasst sind es zwei „Glaubenssätze“, die die Empfänger der Ereignisse des Dritten Tages kraft jener inneren, dem Geiste Gottes zu verdankenden Klarheit zur Sprache bringen (s. 4.1). Zum einen wird den Empfängern der Ereignisse des Dritten Tages evident, dass Jesu Christi Lebenszeugnis, das im Tod am Kreuz auf Golgatha vollendet ist, heilsam und heilbringend, befreiend und befriedend wirkt. Was sie aus ihren Erfahrungen mit dem Wanderprediger aus Nazareth erinnern, beginnen sie jetzt – erst jetzt! – zu verstehen als Für euch und Für die Vielen geschehen. Die Tradition des Letzten Mahles (Mt 26,17-30; Mk 14,12-25; Lk 22,7-23; 1Kor 11,23-26) setzt dieses Verstehen ein in den Rahmen der ergreifenden Szene am Abend des Rüsttages für das Fest des Passa, die für die mannigfachen soteriologischen Bilder und Gedanken des Neuen Testaments die Matrix bildet. Zum andern aber beginnt es den Empfängern der Ereignisse des Dritten Tages gewiss zu werden, dass Jesu Christi Existenz Für euch und Für die Vielen eine bestimmte Selbstmitteilung und Selbstdarstellung des göttlichen Wesens selber ist. Diese Gewissheit geht weit über das hinaus, was die Gemeinschaft des Wanderpredigers aus Nazareth auf dessen irdischen bzw. auf dessen innergeschichtlichen Vollmachtsanspruch zu antworten verstand. Sie äußert sich nicht nur in den verschiedenen „Hoheitstiteln“ – den Titeln des Menschensohns, des Sohnes Davids, des Christos, des Sohnes –; sie äußert sich vor allem in der Akklamation des Christus Jesus als des HErrn und in der frommen Erkenntnis des schöpferischen Wortes, das in der Existenz für euch und für die Vielen Fleisch geworden ist (Joh 1,1-14). In ihr ist es verleiblicht und verkörpert. Durch jene Offenbarungsweise inspiriert, die wir die erleuchtende Kraft und Wirksamkeit des Heiligenden Geistes nennen, erschließt sich den Empfängern der Ereignisse des Dritten Tages offensichtlich das irdische bzw. das innergeschichtliche Lebenszeugnis des Wanderpredigers aus Nazareth als jene Existenz für euch und für die Vielen, die sie nicht anders fassen können denn als Gottes versöhnendes Walten. Wie diese Deutung ihrerseits bedingt ist durch den Sinnraum und den Verstehenshorizont des Tanakh und wie sie diesen Sinnraum und Verstehenshorizont kritisch revidiert, hat die Prinzipienlehre eingehend begründen wollen (vgl. STh I, 488–566). Sie hat insbesondere gezeigt, dass dieser Sinnraum bzw. dieser Verstehenshorizont deshalb gültig ist, weil er die Konstitution der jüdischen JHWH-Gemeinschaft in der Zeit und nach der Zeit des babylonischen Exils einordnet in den übergreifenden Erzählbogen, der nach dem mythischen Drama der Sintflut mit der Verheißung eines ewigen Bundes (Gen 6,1–9,17) und der nach der Hybris des Turmbaus zu Babel mit der Verheißung des Segens an Abram/Abraham (Gen 11,1–12,3) einsetzt. Es ist insofern für die innere Klarheit, die die Empfänger der Ereignisse des Dritten

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Die trinitarische Struktur des göttlichen Waltens

Tages der Offenbarungsweise des göttlichen Geistes verdanken, wesentlich, dass sie das Leben verstehen lässt als das Existieren in der Erfüllung jener ursprünglichen Verheißung, die auf die reale Überwindung alles Bösen und allen Leids der Endlichkeit zu hoffen lehrt. Wir sehen: Heiligender Geist vermag die Dunkelheit des Todes Jesu Christi am Kreuz auf Golgatha zu lichten, die dessen Lebenszeugnis für das unscheinbare und doch unfehlbare Nahe-Kommen der Herrschaft Gottes – des göttlichen InGemeinschaft-sein-Wollens – zunichte zu machen scheint. Heiligender Geist lichtet die Dunkelheit dieses Todes, indem er ihn als die Vollendung der irdischen bzw. der innergeschichtlichen Existenz des Christus Jesus zu verstehen lehrt. Sie konkretisiert die irdische bzw. die innergeschichtliche Existenz des Christus Jesus als jenes göttliche Walten, von dem das Evangelium nach Johannes den Täufer sagen lässt: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“ (Joh 1,29).

Und indem Gottes Heiligender Geist das Selbstbewusstsein der Person mit der Gewissheit dieser Wahrheit erleuchtet und erfüllt, erhellt er jene Dunkelheit des Herzens und des Gewissens, die seit dem Sich-Verstecken „Adams“ und „seiner Frau“ „vor dem Angesicht Gottes des HErrn unter den Bäumen im Garten“ (Gen 3,8) uns Menschen alle in aller Geschichte beherrscht, wie alle aufrichtige Erfahrung weiß und wissen kann (s. 3.3). Drittens: Die metaphorische Benennung der Dunkelheit des Herzens und des Gewissens macht aufmerksam auf die ambivalente Verfassung des Menschengeschlechts, auf welche sich das Walten des göttlichen Geistes bezieht. „Adam“ und „seine Frau“ symbolisieren offenkundig das geschaffene, das endliche leibhafte Person-Sein: das Person-Sein, das vor anderem Seienden in dieser Welt ausgezeichnet ist durch jenes unmittelbare Selbstbewusstsein, vermöge dessen es in reflektierter Weise zusammen mit je anderem leibhaften Person-Sein in der Erfahrung der Einheit der Erfahrungswelt existiert und diese lichtet (vgl. STh I, 151–171). In diesem unmittelbaren Selbstbewusstsein, in dieser „Selbstpräsenz“ (Eilert Herms), in diesem individuellen Freiheitsgefühl ist der geschaffenen, der endlichen, der leibhaft existierenden Person ihr schlechthinniges Abhängig-Sein bzw. ihr schlechthinniges Gewollt-Sein von jenem schöpferischen Grund und Ursprung bewusst, der ihr im ungeheuren Ganzen dieses Kosmos ihr selbstbewusst-freies Dasein faktisch gibt, gewährt, erhält und fristet. Nicht nur die mythischen Erzählungen in aller Religionsgeschichte, sondern auch die Wege des metaphysischen Denkens seit den Vorsokratikern artikulieren und differenzieren jenes Grundgefühl, das zu den Bestimmungen eines Ursprungsverhältnisses treibt. Womöglich ist es der

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Gedanke des Unendlichen, der das „Woher“ des individuellen Freiheitsgefühls am klarsten und genauesten begrifflich prädiziert.25 Ich hatte im Zusammenhang der Interpretation von Schleiermachers Theorie des Selbstbewusstseins darauf hingewiesen, dass diese Theorie die Grundsituation des Mensch-Seins – des leibhaften Person-Seins – angemessen erfasst (vgl. STh I, 151–171). Sie lehrt uns, in der Unmittelbarkeit des „Sich-als-Ich-Fühlens“ die uns gegebene Bedingung zu erkennen, unter der wir die Gegenstände der natürlichen wie der geschichtlichen Welt in Kommunikation und Interaktion mit Anderen verstehen und gestalten. Sie lehrt uns aber auch, in der Unmittelbarkeit des „Sich-als-Ich-Fühlens“ die Bezogenheit auf jenen unendlichen Grund und Ursprung zu erblicken, der Seiendem Dasein, Raum, Zeit und Richtungssinn gewährt. Wir dürfen deshalb vom Offenbar-Sein jenes unendlichen Grundes und Ursprungs alles Seienden in der Selbstpräsenz des individuellen Freiheitsgefühls sprechen. Im Vorblick auf die Lehre vom christlichen Glauben an Gott den Schöpfer gesagt: die Selbstpräsenz des individuellen Freiheitsgefühls ist im Gefüge der christlichen Glaubenslehre zu verstehen als das Sein des Ebenbildes des göttlichen Wesens, das jedem Menschen unverlierbar eignet und seine Würde ebenso wie sein Verantwortlich-Sein ausmacht. Im „Bild, das uns gleich sei“ (Gen 1,26f.), ist der unendliche Grund und Ursprung alles Seienden jederzeit als schlechthin schöpferisch verstehbar gegenwärtig.26 Viertens: Ich bin der Grundstruktur des apostolischen Zeugnisses nachgegangen, das uns in kohärenter Weise den Christus-Glauben in der Christus-Gemeinschaft der Kirche aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) als Leben im Kontinuum des göttlichen Waltens nahebringt. Dies Leben hat – zum einen – seinen Grund darin, dass ihm das schreckenerregende Dunkel des Todes Jesu Christi am Kreuz auf Golgatha in seinem Sinn und seiner Bedeutung gelichtet wird; es existiert in der und kraft der Erleuchtung, in

25 Vgl. zum Begriff der Unendlichkeit bes. Anton Antweiler, Unendlich. Eine Untersuchung zur metaphysischen Wesenheit Gottes auf Grund der Mathematik, Philosophie, Theologie, Freiburg i. Br.: Herder & Co., 1934 (FThSt; 38); Markus Enders, Zum Begriff der Unendlichkeit im abendländischen Denken. Unendlichkeit Gottes und Unendlichkeit der Welt, Hamburg: Verlag Dr. Kovač, 2009 (Boethiana; 86); Lore Hühn/Dirk Evers, Art Unendlichkeit I. II.: RGG4 , 728–731. 26 Ich knüpfe damit an die tradierte Lehre von der „notitia innata“ bzw. von der „cognitio innata“ an, die sich auf den Gedanken des Apostels Paulus stützt, der Gottes Zorn „über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit in Ungerechtigkeit niederhalten“ damit rechtfertigt, dass „Gott erkennbar ist“, ja dass sie „Gott erkannt haben“ (Röm 1,18ff.; Übersetzung Ulrich Wilckens); vgl. hierzu Ulrich Wilckens, Der Brief an die Römer. 1. Teilband: Röm 1–5, Zürich/Einsiedeln/Köln: Benzinger; Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1978 (EKK; Bd. VI), zu Röm 1,18-21. – Für diese „notitia innata“ bzw. für diese „cognitio innata“ verwenden Martin Luther und später Johannes Musäus, Introductio in theologiam, Jenae 1679, den Begriff „lumen naturae“ („Licht der Natur“);

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der göttlicher Geist das „äußere Wort“ der apostolischen Verkündigung und dessen „äußere Klarheit“ als wahr und deshalb als vertrauenswürdig und als je für mich selber gültig verstehen und beherzigen lässt. Es ist als Leben in der Gewissheit dieser seiner Wahrheit das Leben in der Erfahrung des Heiligenden Geistes, der über die Grenzen, die Trennungen, die Gegensätze sozio-kultureller Art hinaus Gemeinschaft stiftet.27 Dies Leben in der so bestimmten Erfahrung des Heiligenden Geistes ist – zum andern – ein Leben in der Gemeinschaft mit dem Christus Jesus selbst. Zwar scheint das schreckenerregende Dunkel des Todes Jesu Christi am Kreuz auf Golgatha die Wahrheitsgewissheit und den Wahrheitsanspruch des Wanderpredigers aus Nazareth für uns definitiv unmöglich zu machen; aber das geistgewirkte Verstehen der Ereignisse des Dritten Tages gibt ihren Empfängern das Recht und den Grund, die Existenz des Christus Jesus als die Existenz Für uns und Für die Vielen zu proklamieren und zu akklamieren. Um Jesu Christi Existenz Für uns und Für die Vielen in ihrer Tragweite zu ermessen, greift schon das Neue Testament im Sinnraum und im Verstehenshorizont der Hebräischen Bibel in der griechischen Version der Septuaginta zu mancherlei soteriologischen Bildern und Begriffen. Sie alle kommen darin überein, dass sie die Existenz des Christus Jesus als eine Weise des göttlichen Waltens symbolisieren, das Neuheit wirkt (vgl. bes. 2Kor 5,17). Was für eine Art von Neuheit? Doch wohl die Neuheit, die das Leben der leibhaften, der selbstbewusst-freien, der geschaffenen Person heilsam neu bestimmt, indem sie ihr faktisches Entfremdet-Sein von dem ihr faktisch stets gegenwärtigen Grund und Ursprung ihres Daseins heilt. Es ist womöglich unter den mancherlei soteriologischen Bildern und Begriffen des Neuen Testaments das Bild und der Begriff der Versöhnung, der das Leben des Christus-Glaubens im Übergang von

vgl. hierzu Wolfhart Pannenberg, STh I, 121–132, der darunter das „primordiale Bewusstsein“ bzw. das „‚unthematische Wissen‘ von Gott, das zur Ursituation des Menschen gehört“ (129) verstehen möchte. Natürlich steht diese Deutung ebenso wie meine im Haupttext vorgestellte Deutung des „lumen naturae“ im Gegensatz zur Gotteslehre Karl Barths, der gleich auf den ersten Seiten seiner Lehre von der Schöpfung die Behauptung aufstellt: „Ist die Welt nicht von Gott geschaffen, so ist sie nicht … Also erkennen wir nur im Glauben (verstehe: in dem durch Gottes Geist gewirkten Christus-Glauben), daß die Welt ist.“ (KD III/1, 5). Diese Behauptung ist der blanke Fideismus, der schließlich und endlich dazu führt, das Sein des Seienden und die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem als bloße Glaubenssache (im Sinne von „Ansichtssache“ bzw. von subjektiver „Meinung“) aufzufassen. 27 Vgl. hierzu Joseph Ratzinger, Der Heilige Geist als communio. Zum Verhältnis von Pneumatologie und Spiritualität bei Augustinus, in: Claus Heitmann/Heribert Mühlen (Hg.), Erfahrung und Theologie des Heiligen Geistes, Hamburg/München: Agentur des Rauhen Hauses/Kösel-Verlag, 1974, 223–238.

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dem vergehenden Alten zum gegenwärtig Neuen (2Kor 5,17) am Treffendsten artikuliert.28 Dies Leben in der so bestimmten Erfahrung des Heiligenden Geistes ist – zum Dritten – ein Leben im bewussten Verstehen des schöpferischen Waltens Gottes und im tiefen Grundvertrauen auf dessen ursprünglichen Sinn mit uns Menschen allen. Zwar ist uns dieses bewusste Verstehen und dieses tiefe Grundvertrauen jederzeit de facto möglich und de facto geboten; jedoch die unvoreingenommene Selbsterfahrung und die Erfahrung der Geschichte lehrt, in welchem ungeheuerlichen Maß das Menschengeschlecht die „Wahrheit Gottes … in Trug verkehrt“ (Röm 1,25 [Übersetzung Ulrich Wilckens]) und sich in immer wieder neuen Varianten dem ursprünglichen Sinn des schöpferischen Waltens Gottes entfremdet. Es sind zumal die aggressiven und die libidinösen Triebe der individuellen Person in ihrer sozio-kulturellen bzw. in ihrer sozio-politischen Gemeinschaft, die diese Entfremdung praktizieren und sie im Hass, im Neid, in der Gewaltbereitschaft und im Größenwahn realisieren (s. 3.3). Insofern sagt die Grundstruktur des apostolischen Zeugnisses mit vollem Recht, dass es der Erfahrung des Heiligenden Geistes bedarf, um der Versöhnung mit dem schöpferischen Grund und Ursprung unserer selbst in dieser Welt gewiss zu werden und just auf diese Weise die schöpferische Gabe in ihrer relativen Dauer zu empfangen, die wir selbst sind. Kein Text der Christentumsgeschichte hat das Kontinuum des göttlichen Waltens, wie es die Grundstruktur des apostolischen Zeugnisses skizziert, schlichter und zugleich klarer formuliert als Martin Luthers Auslegung des 3. Artikels des Symbolum Apostolicum im Kleinen und im Großen Katechismus.29 Er zeichnet jenes Lebensgefühl bzw. jene Lebensgewissheit des Christus-Glaubens nach, die auch und gerade im Leid der Endlichkeit und in der Anfechtung des Gewissens der wahren Liebe Gottes gewiss sein darf.

28 Ich werde im Kapitel 3: „Der christliche Glaube an Gott den Versöhner“ genauer auf diese Symbolisierung der Existenz des Christus Jesus eingehen und dabei nicht zuletzt wegen ihrer ethisch-politischen Tragweite darauf achten, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel sich diese Symbolisierung angeeignet hat (s. 3.5.2.3). 29 BSLK 510,24–512,13; 646,1–662,4. Man beachte und man meditiere insbesondere den Schlüsselsatz: „Denn da hat er (verstehe: Gott) selbs offenbaret und aufgetan den tiefsten Abgrund seines väterlichen Herzens und eitel unaussprechlicher Liebe in allen dreien Artikeln. Denn er (sic! K.S.) hat uns eben dazu geschaffen, daß er uns erlösete und heiligte und über (verstehe: außerdem), daß er (sic! K.S.) uns alles gegeben und eingetan hatte, was im Himmel und auf Erden ist, hat er (sic! K.S.) uns auch seinen Sohn und heiligen Geist geben, durch welche er uns zu sich (sic! K.S.) brächte.“ (660,28-38). Freilich ist dieser Schlüsselsatz befangen in einer asymmetrischen Deutung der Relation zwischen „Gott“, dem „Sohn“ und dem „Heiligen Geist“, die ich zu korrigieren die Absicht habe (s. 1.5.3.3). – Vgl. hierzu insgesamt die wichtige Studie von Eilert Herms, Luthers Auslegung des Dritten Artikels, Tübingen: Mohr, 1987.

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Die trinitarische Struktur des göttlichen Waltens

Fünftens: Wir halten fest: Die Glaubenssätze, mit deren Hilfe die Empfänger der Ereignisse des Dritten Tages das Lebensgefühl bzw. die Lebensgewissheit des Christus-Glaubens wecken wollen, lassen uns die trinitarische Struktur des göttlichen Waltens erkennen. Deren Erkenntnis bildet im Leben des Christus-Glaubens schon in der formativen Phase der Christus-Gemeinschaft aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) den Ausgangspunkt dafür, die Einheit ihrer Momente sprachlich, bildlich und begrifflich zu erfassen und in diesem Sinn zu lehren. Wir dürfen alle die Ansätze, die Einheit der Momente des göttlichen Waltens und dessen Kontinuum zu erfassen, Ansätze zum Verstehen der „ökonomischen Trinität“ des göttlichen Wesens nennen. Sie sind initiiert von der Erfahrung des Heiligenden Geistes, der gemäß dem tiefen Spruch des Evangeliums nach Johannes „den Weg in alle Wahrheit führen“ wird (Joh 16,13 [Übersetzung Ulrich Wilckens]). Nun zeigt uns die frühchristliche Kirchen- und Theologiegeschichte bereits im Zeitraum vor der reichsrechtlichen Anerkennung der Christus-Gemeinschaft durch das Toleranzedikt des Galerius im Jahre 311, dass es das legitime Interesse der Vernunft des Christus-Glaubens ist, die Identität des göttlichen Wesens verstehen zu wollen, das uns im Kontinuum des göttlichen Waltens in seinem Eigen-Sein und Eigen-Sinn endgültig offenbar werden will. Die Ansätze zum Verstehen der „ökonomischen Trinität“ vertiefen sich daher aus gutem Grund zu Ansätzen des Verstehen-Wollens der „immanenten Trinität“ des göttlichen Wesens, zumal die Liturgie des Gottesdienstes sowie die Predigt, die Katechese, die christliche Ikonographie und nicht zuletzt die geistliche Musik in ihrer Geschichte30 ihrer innigen Verehrung dienen. Im Zentrum einer systematischen Lehre vom christlichen Glauben an Gott, welche die selbstkritische Besinnung auf das Wesen und auf die Bestimmung des Christus-Glaubens hier und heute leisten will, steht deshalb der Versuch, Gottes Einzigkeit als Einheit zu denken; und zwar als Einheit dreier Momente des göttlichen Eigen-Seins, kraft derer und in denen sich Gott selbst in Gottes In-Gemeinschaftsein-Wollen für Anderes – und d. h.: für Seiendes, das nur von ihm her und durch ihn ins Dasein gerufen ist – als dessen Höchstes Gut vergegenwärtigt. Bevor ich meine Leserinnen und Leser in dieses Zentrum führe, sind allerdings zwei Schritte unerlässlich. Sie betreffen zum einen das richtige Verhältnis zwischen der Lehre von Gott im Sinne des Begriffs der Einzigkeit und der Beschreibung der Einheit dreier Momente des göttlichen Eigen-Seins und Eigen-Sinnes; und sie betreffen zum

30 In der Geschichte der geistlichen Musik ragen gewiss hervor das Weihnachtsoratorium, die MatthäusPassion sowie die Johannes-Passion Johann Sebastian Bachs.

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andern den Leitbegriff des Person-Seins, der seit den Entscheidungen der Ökumenischen Synoden von Nicaea im Jahre 325 und von Konstantinopel im Jahre 381 für das Bekenntnis des Christus-Glaubens zu dem dreieinen Gott und für dessen theologisch-theoretische Betrachtung maßgeblich geworden ist. Zum einen: Im Zentrum jeder Lehre von Gottes immanenter Trinität steht der Versuch, angemessene Aussagen zu finden für das Subjekt bzw. für den Autor jener dreifachen Weise göttlichen Waltens, in der sich Gott für Anderes als dessen Höchstes Gut vergegenwärtigt. Solche Aussagen nehmen von der Einsicht in Gottes Einzigkeit und damit von der Einsicht in Gottes wahre Unendlichkeit nicht das Geringste zurück. Nun gibt es keinen anderen Weg, die Einsicht in Gottes Einzigkeit und damit in Gottes wahre Unendlichkeit zu entfalten, als den, den Gedanken des göttlichen Seins zu denken; denn die Erfahrung des Heiligenden Geistes, die uns die dreifache Weise des göttlichen Waltens und deren Kontinuum erschließt, hebt die kategoriale bzw. die ontologische Differenz nicht im Geringsten auf, die zwischen Gottes Sein und dem Sein des Von-Gott-her-Seienden herrscht. Aus diesem Grunde werde ich – anders als Karl Barth es für richtig hielt31 – die Darstellung der Lehre von Gottes immanenter Trinität vorbereiten durch die ontologische bzw. die metaphysische Analysis dessen, was das Begriffswort „Gott“ besagen will (1.4). Zum andern: Die theologisch-theoretische Betrachtung der Bekenntnisse von Nicaea und von Konstantinopel durch die Jahrhunderte hindurch hat sich mit deren Grundbegriffen – der Einheit der „οὐσία“ bzw. der „essentia“ und der Dreiheit der

31 Karl Barth eröffnet die Lehre von Gottes Offenbarung mit dem ersten Abschnitt „Der dreieinige Gott“ (KD I/1, 311–514), den er fortsetzt mit dem zweiten Abschnitt „Die Fleischwerdung des Wortes“ (KD I/2, 1–221) und dem dritten Abschnitt „Die Ausgießung des Heiligen Geistes“ (KD I/2, 222–504); ein Abschnitt, der das Offenbar-Sein Gottes des Schöpfers behandeln würde, fehlt. Die spezielle Lehre von Gott trägt Barth im Ersten Halbband des Zweiten Bandes vor (KD II/1), an den sich die Lehre von Gottes Gnadenwahl sowie von Gottes Gebot im Zweiten Halbband des Zweiten Bandes (KD II/2) anschließt. In jenem Ersten Halbband bringt Barth nicht nur seine Lehre von der Erkenntnis Gottes zur Sprache (Fünftes Kapitel [KD II/1, 1–287]), sondern auch sein Verständnis der Wirklichkeit Gottes (Sechstes Kapitel [KD II/1, 288–764]). Dieses Sechste Kapitel kündigt an, den „einfachen Satz“ entfalten zu wollen: „Gott ist“ (II/1, 288; im Original gesperrt). Zwar betont Barth in der ganzen speziellen Gotteslehre nachdrücklich, dass sie Sinn und Bedeutung des Seins Gottes als des wahren Seins verständlich machen wolle (vgl. bes. II/1, 293), so wie es dem ChristusGlauben durch Gottes Geist erschlossen ist; aber er unterlässt in dezidierter Kritik an der Methode der altprotestantischen Orthodoxie (vgl. bes. II/1, 292f.) jede Betrachtung, die das ontologische Grundverhältnis zwischen Sein und Seiendem, Unendlichem und Endlichem, Ewigkeit und Zeit erkunden würde. Das hat zur Folge, dass Barth ein Verständnis von Dogmatik praktiziert, welches das In-der-Welt-Sein des Menschen nicht als Faktizität bzw. als tatsächlich am eigenen Leibe zu erlebendes, sondern nur als „Glaubenssache“ (bzw. als „Ansichtssache“) ernst nimmt (s. o. Anm. 26; s. u. Anm. 35). – Vgl. hierzu Wilfried Härle, Sein und Gnade. Die Ontologie in Karl Barths Kirchlicher Dogmatik, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1975 (TBT; 27), bes. 270–328: Die Ontologie Karl Barths.

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Die trinitarische Struktur des göttlichen Waltens

„ὑποστάσεις“ bzw. der „personae“ – immer schwer getan. Denn diese Grundbegriffe scheinen zu bedeuten, dass das göttliche Wesen primär das göttliche Wesen der „ὑπόστασις“ bzw. der „Person“ Gottes des Vaters ist, von der her die „Person“ Gottes des Sohnes und die „Person“ Gottes des Heiligen Geistes ihr göttliches Wesen empfangen. Auch Luthers umgangssprachlich überzeugende Beschreibung des göttlichen Waltens scheint letzten Endes die „Person“ Gottes des Sohnes und die „Person“ Gottes des Heiligen Geistes als Medium verständlich machen zu wollen, mit dessen Hilfe die „Person“ Gottes des Vaters die geschaffene Person „zu sich“ als ihrem Höchsten Gute bringt. Wie wir noch sehen werden (s. 1.5.2), haben Schleiermachers Vorbehalte gegenüber den tradierten Lehrgestalten darin ihren Grund, dass diese wegen ihres „monotheistischen“ bzw. wegen ihres „monarchischen“ Vorurteils die Gleichheit der trinitarischen Personen nicht zu denken vermögen. Es ist deshalb des Schweißes der Edlen wert, im Rückgriff auf das Phänomen des Person-Seins, wie es uns für uns durch uns selbst erschlossen ist, diese Vorbehalte zu entkräften und zu einem konsistenten Begriff des göttlichen Person-Seins vorzustoßen (1.5).

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1.4

Gottes Sein32

Es ist dem Christus-Glauben der Person in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen als wahr gewiss, dass Gott ist. Ihm – dem Christus-Glauben – wird in der jeweiligen Lebens- und Bildungsgeschichte eines Menschen Gottes Wesen und Gottes Walten erschlossen. Es ist ihm und es wird ihm immer wieder neu erschlossen durch Gottes Sich-Erschließen, vermöge dessen Gottes „ewige Kraft und Gottheit“ (Röm 1,20) die Selbst- und Welterfahrung eines Menschen heilsam neu bestimmt. Sofern das ursprüngliche Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift im Raum und in den mannigfachen Zeichenformen der religiösen Kommunikation des Evangeliums durch Gottes Heiligenden Geist das menschliche Gemüt ergreift und erfüllt, entsteht die Gewissheit, dass Gott für uns ist (Röm 8,31). Sie wirkt sich – wenn auch stets angefochten vom eigenen Gewissen und vom Leid der Endlichkeit – aus im Grundakt des Vertrauens, in dem Gefühl der Gottesliebe, im Engagement der Nächstenliebe und in der kühnen Hoffnung auf Erlösung von dem Bösen und vom Tod. Sie wirkt sich eben deshalb aus, weil sie wahr ist und Anteil hat an Gottes eigener Wahrheit (s. 1.5.3.3.3).

32 Vgl. zum Folgenden bes.: Karl Barth, KD II/1, 288–361, § 28: Gottes Sein als der Liebende in der Freiheit; Paul Tillich, STh I, 191–245; 247–290; Eberhard Wölfel, Seinsstruktur und Trinitätsproblem. Untersuchungen zur Grundlegung der natürlichen Theologie bei Johannes Duns Scotus, Münster i. Westfalen: Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung, 1965 (BGPhMA; Band XL – Heft 5), bes.: II. Kapitel: Wege zum Sein Gottes (81–167); Hans-Joachim Werner, Die Ermöglichung des endlichen Seins nach Johannes Duns Scotus, Frankfurt a.M./Bern: Peter Lang/Herbert Lang, 1974, bes. 51–97: Das existenzielle Apriori; Carl Heinz Ratschow, Gott existiert. Eine dogmatische Studie, Berlin: Verlag Alfred Töpelmann, Zweite Auflage 1968; Gerhard Ebeling, Dogmatik I, 158–235; Wolfhart Pannenberg, STh I, 376–389: Die Unterscheidung von Wesen und Dasein Gottes; Wilfried Härle, Dogmatik5 , 239–286; Konrad Stock, Einleitung, 66–73; Ludger Honnefelder, Art. Duns Scotus/ Scotismus II. Die Rezeption des scotischen Denkens im 20. Jh.: TRE 9, 232–240 (Lit.); Ders., Ens inquantum ens. Der Begriff des Seienden als solchen als Gegenstand der Metaphysik nach der Lehre des Johannes Duns Scotus, Münster Westfalen: Aschendorff, 1979 (BGPhMA NF; 16); Wolfgang Janke, Art. Wirklichkeit I. Philosophisch: TRE 36, 114–120; Wolf Krötke, Art. Wirklichkeit I.–III: RGG4 8, 1594–1596; Rainer Enskat, Art. Ontologie: RGG4 6, 565–568; Hermann Deuser, Gott: Geist und Natur. Theologische Konsequenzen aus Charles S. Peirce‘ Religionsphilosophie, Berlin/New York: de Gruyter, 1993 (TBT; 56); Karlheinz Ruhstorfer (Hg.), Gotteslehre. Modul 7, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2014 (Theologie studieren); darin: Markus Enders, 187–261: Gott im Denken der Philosophie. – Aus der evangelischen Dogmatik des 19. Jahrhunderts ist hervorzuheben: Franz Hermann Reinhold von Frank, System der christlichen Wahrheit. Erste Hälfte, Erlangen und Leipzig: A. Deichert‘sche Verlagsbuchhandlung Nachf., 3 1894, 116–140: Erster Abschnitt. Das Wesen Gottes; aus der römisch-katholischen Dogmatik des 20. Jahrhunderts ist hervorzuheben: Michael Schmaus, Katholische Dogmatik. Erster Band, München: Max Hueber Verlag, 6 1960, 200–323. Im Rahmen der Darstellung der dreipersönlichen Wirklichkeit Gottes im „Ersten Hauptteil“ des Gesamtwerks kommt Schmaus im „Ersten Abschnitt“ zu sprechen auf die „Selbsterschließung des Dreieinigen Gottes in bezug auf seine Tatsächlichkeit (Existenz Gottes)“.

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Gottes Sein

Vom Sein und Walten Gottes, des Gottes für uns, ist im Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift auf überschwängliche Weise die Rede: in jenem Offenbarungszeugnis, dessen zentraler Sitz im Leben der jüdischen JHWH-Gemeinschaft wie im Leben der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) der regelmäßige Gottesdienst ist, der den Feiertag heiligt (vgl. Ex 20,8ff). Namentlich die Poesie des Psalters findet für Gottes Sein und für Gottes Walten eine atemberaubende Fülle metaphorischer und symbolischer Sprachbilder, die dem Gebet und dem Gespräch mit Gott eine je eigene Gestalt zu geben suchen.33 Verglichen mit der expressiven Kraft der biblischen Rede von Gott und mit Gott scheint die reflektierte Form der systematischen Besinnung allzu nüchtern und allzu unpathetisch zu sein. Gleichwohl kommt ihr eine wichtige hermeneutische Funktion zu, die sowohl den einzelnen Texten als auch deren Komposition im Ganzen des geschlossenen Kanons ihre begriffliche Relevanz abgewinnt. Diese ihre begriffliche Relevanz ist um der religiösen Kommunikation des Evangeliums willen unersetzlich. Die systematische Besinnung tritt nicht etwa an die Stelle der expressiven Kraft der biblischen Rede von Gott und mit Gott, sondern sie legt deren Aussage-Intention für das Verstehen und für die Prozesse der Verständigung frei. Sie hat ein rationales Interesse. Die systematische Besinnung vermag das, weil und indem sie darauf achtet, dass die überwältigende Fülle der metaphorischen und der symbolischen Sprachbilder des biblischen Gotteszeugnisses ihrerseits auf wesentliche begriffliche Bestimmungen bezogen ist. Zu ihnen zählt in allererster Linie die Auslegung des geheimnisvollen Namens JHWH (Ex 3,14), die diesen Namen als eine zutreffende Aussage über Gottes Sein und über dessen unergründliche Eigenart interpretiert (s. 1.2). Zu ihnen zählen aber auch die Prädikationen des göttlichen Wesens als des sich selbst bestimmenden, des schöpferischen bzw. des sinn- und zielgerichteten Wesens, die Reinhard Feldmeier und Hermann Spieckermann geradezu in eine „biblische Gotteslehre“ zusammenfassen.34 Allerdings bin ich im Folgenden bestrebt zu zeigen, dass eine solche „biblische Gotteslehre“ notwendigerweise angewiesen ist auf eine ontologische Besinnung auf das Grundverhältnis von Sein und Seiendem; würde sie eine solche ontologische Besinnung absichtsvoll verweigern, so würde sie sich in den Fideismus flüchten, dem unsere Erfahrung des Realen und deren Möglichkeitsbedingung letzten Endes ganz egal ist. Demgegenüber will die systematisch-theologische Besinnung den Sachbezug der christlich-religiösen Rede von Gott mit guten Gründen explizieren und damit das Verstehen der claritas

33 Vgl. hierzu Klaus Seybold, Poetik der Psalmen, Stuttgart: Kohlhammer, 2003. 34 Vgl. Reinhard Feldmeier/Hermann Spieckermann, Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre, Tübingen: Mohr Siebeck, 2011 (TOBITH; 1).

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externa der Heiligen Schrift und ihrer Überlieferung bzw. ihrer Inanspruchnahme in der Religionsgeschichte des Christentums menschlich möglich machen (vgl. STh I, 604–612). Es ist daher zuallererst zu zeigen, was der Christus-Glaube als Glaube an Gott unter der Aussage „Gott ist“ versteht. Es ist zu zeigen, dass die Aussage „Gott ist“ nichts anderes bedeutet als: Gottes Sein ist schlechthin notwendiges Sein, und zwar schlechthin notwendiges Sein, das gleichursprünglich frei sich selbst bestimmendes Sein ist. Es ist die Sache einer ontologischen Betrachtung des Grund- bzw. des Ursprungsverhältnisses zwischen Sein und Seiendem, den Sinn und die Bedeutung des Verbums in der Aussage „Gott ist“ zu entfalten. Solche Auslegungs- und Verstehensweisen der Aussage „Gott ist“, die diese beiden basalen Bestimmungen nicht erschwingen, sind abstrakt – jedenfalls im Licht der Perspektive des ChristusGlaubens, die die Perspektive des jüdischen JHWH-Glaubens sowohl voraussetzt als auch erfüllt und damit kritisch revidiert. Um diese Bedeutung der Aussage „Gott ist“ zu erklären, gilt es ernst zu nehmen, dass der Ausdruck „schlechthin notwendiges und gleichursprünglich frei sich selbst bestimmendes Sein“ auf die verschiedenen modalen Termini der Alltagssprache verweist: mögliches Sein, unmögliches Sein, wirkliches Sein, kontingentes Sein. Der erste Grundgedanke der Lehre vom christlichen Glauben an Gott hat mithin seinen Ort in einer ontologischen Besinnung.35 Diese ontologische Besinnung konzentriert sich auf die verschiedenen Aspekte, unter denen wir das Allgemeine des Seiend-Seins der Gegenstände unserer reflektierten Erfahrung thematisieren können. Sie stößt in den modalen Termini der

35 Auf eine solche ontologische Besinnung verzichtet ausdrücklich die „Kirchliche Dogmatik“ Karl Barths. Zwar eröffnet Barth die materiale „Lehre von Gott“ (KD II/1; II/2) mit der Absicht, den einfachen Satz „Gott ist“ zu entfalten (KD II/1,288; im Original gesperrt) und dafür auch „den Seinsbegriff … in aller Unbefangenheit auf(zu)nehmen“ (KD II/1,292), weil er sich dafür eigne, das Wort „Gott“ als „das Subjekt seiner Werke“ (KD II/1,291) bzw. als „die göttliche Selbstheit und Eigentlichkeit“ (KD II/1,293) zu prädizieren; aber in Barths materialer Gotteslehre dominiert eindeutig jener Begriff der „Offenbarung“ und jener Begriff des „Wortes Gottes“, der identisch ist mit der Inkarnation des Sohnes Gottes in der Existenz des Christus Jesus, für die es freilich eines Inbegriffs des Seienden bedarf. Vom Grundverhältnis zwischen Sein und Seiendem bzw. von der ontologischen Differenz von Sein und Seiendem ist jedenfalls in der materialen Gotteslehre Barths nicht die Rede. Aus diesem Grunde kommt die „Kirchliche Dogmatik“ wie ein roman fleuve daher, wie eine große persuasive Erzählung, die die Semantik der Glaubenssprache und damit ihre Sachwahrheit nicht explizieren will.

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Gottes Sein

Alltagssprache auf ein Problem, das der Erklärung harrt.36 Auf welche Weise und auf welchem Wege ist eine solche Erklärung zu leisten? Mit Eilert Herms gehe ich methodisch davon aus, dass keine ontologische Besinnung, die sich auf die Bedeutung der verschiedenen modalen Termini konzentriert, das Allgemeine des Seiend-Seins der Gegenstände unserer reflektierten Erfahrung an sich und d. h. ohne Rücksicht auf die Situiertheit unseres Denken- und Verstehen-Könnens erreicht. Das heißt zum einen: Unser Denken- und Verstehen-Können, kraft dessen wir die verschiedenen Aspekte des Seiend-Seins der Gegenstände unserer reflektierten Erfahrung untersuchen, ist selbst und als solches etwas, über dessen Seiend-Sein Aussagen möglich und jedenfalls sinnvoll sind. Allein im Lichte unseres Denkenund Verstehen-Könnens sind Aussagen über Sinn und Bedeutung der modalen Termini der Alltagssprache zu machen und hinsichtlich ihres Wahr- oder FalschSeins zu beurteilen. Ich spreche deshalb sachgemäß davon, dass wir Seiendes denken und verstehen wollen: als möglich, als unmöglich, als wirklich, als kontingent und schließlich als notwendig. Insofern eine ontologische Besinnung nicht absehen kann von unserem Denken- und Verstehen-Wollen, wird sie in transzendentaler Weise verfahren müssen.37 Das heißt zum andern: Wenn wir am Leitfaden der modalen Termini der Alltagssprache die verschiedenen Aspekte des Seiend-Seins denken und verstehen wollen, die uns in der Lebens- und Erfahrungswelt begegnen, werden wir keine unstrittige und allenthalben anerkannte Erklärung erwarten dürfen. Auch eine

36 Vgl. zum Folgenden bes.: Hans Poser/Hermann Deuser, Art. Kontingenz I. II.: TRE 19, 544–559 (Lit.); Wilfried Härle, Art. Modalitäten I. II.: RGG4 5, 1371–1373; Ders., Art. Möglichkeit I.–III.: ebd., 1392–1395; Eilert Herms, Art. Kontingenz IV. Systematisch-theologisch: RGG4 4, 1647–1650; Ders., Art. Notwendigkeit II. III.: RGG4 6, 408–414. – Es ist zu würdigen, dass Paul Tillich das Gottesverständnis des Christus-Glaubens unter dem Titel „Sein und Gott“ entfaltet und die systematische Rechenschaft über die „Wirklichkeit Gottes“ auf den Entwurf einer materialen Ontologie unter dem Titel „Das Sein und die Frage nach Gott“ bezieht; auf einen Entwurf, der ausgeht von der „Seinsfrage“, die erzeugt wird durch den „Schock des Nichtseins“ (vgl. Paul Tillich, STh I, 191–332; bes. 218). Insofern findet sich in Tillichs Entwurf ein Echo auf die Intention im frühen Hauptwerk Martin Heideggers, eine „existenziale“ Ontologie zu zeichnen, die vom Seinsmodus des Daseins (verstehe: der menschlichen Weise, da zu sein) als der Sorge ausgeht; vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1960 (Neunte unveränderte Auflage), bes. § 4: Der ontische Vorrang der Seinsfrage (11–15). Anders als Heidegger hat jedoch der philosophische Theologe Tillich die kosmologischen Bedingungen der menschlichen Weise, da zu sein, im Blick! 37 Vgl. hierzu bes. die wichtigen Hinweise von Ludger Honnefelder (wie Anm. 32, 233) auf die Konzeption einer Ontologie als Transzendentalwissenschaft („scientia transcendentalis“) von Johannes Duns Scotus, die die über die kategorialen Bestimmungen hinausgehende ratio des „Seienden“ untersucht, sowie die Untersuchung desselben Autors: Ens inquantum ens (wie Anm. 32). Vgl. weiterhin Hans-Joachim Werner, Die Ermöglichung des endlichen Seins nach Johannes Duns Scotus (wie Anm. 32), bes. 145–208: Die Kontinuität des Möglichen.

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Theorie hinsichtlich des ontologischen Sinnes, den wir den modalen Termini der Alltagssprache zusprechen, zeugt von der lebensgeschichtlichen Lage ihres Autors. Zwar werden wir die besondere Art und Weise, in der wir diesen ontologischen Sinn aus der Erfahrung des Uns-gegenwärtig-Seins entwickeln, als anerkennenswert und als zustimmungsfähig präsentieren; aber die dem Christus-Glauben eigentümliche Absicht, die modale Verfassung unserer Lebens- und Erfahrungswelt aus dem Begriff des schlechthin notwendigen und gleichursprünglich sich selbst bestimmenden göttlichen Wesens zu verstehen, wird auch auf Widerspruch gefasst sein müssen; und zwar auf unüberwindlichen Widerspruch. Was ich hier intendiere, ist deshalb nicht etwa beweisendes Wissen; es ist vielmehr das Denken- und Verstehen-Wollen, das sich dem Grundakt und dem Grundgefühl des radikalen Vertrauens auf den Gott für uns auch und gerade angesichts des Leids, der Sünde und des Todes verdankt und das nun allerdings auf intersubjektive Mitteilung und auf intersubjektive Anerkennung aus ist.38 Und zwar deshalb, weil es appelliert an unser aller zweifelsfreie Gewissheit, in relativer und begrenzter Dauer da zu sein. In dieser Absicht, Gottes Sein als schlechthin notwendiges Sein und gleichursprünglich frei sich selbst bestimmendes Sein zu denken, seien nun die modalen Termini der Alltagssprache in der gebotenen Kürze erläutert, und zwar im Ausgang vom modalen Ausdruck wirklich. Erstens: Was wir normalerweise als wirklich bezeichnen, ist irgendein Gegenstand unserer Lebens- und Erfahrungswelt, auf den wir uns in einem Satz, in einem Gespräch bzw. in einer Debatte konzentrieren: also zum Beispiel ein einzelnes Geschehen in der natürlichen Umwelt wie ein Gewitter; ein einzelnes Ding in unserer Küche wie ein Herd; eine Szene der Freundschaft und der Liebe wie eine Umarmung; ein Prozess um Recht und Unrecht vor Gericht; ein schwieriger Konflikt

38 Ich enthalte mich im vorliegenden Kontext einer Rekonstruktion der verschiedenen Typen des Gottesbeweises, sofern sie beweisendes Wissen im Sinne der praeambula fidei sein wollen; vgl. hierzu bes. Wolfhart Pannenberg, STh I, 376ff.; sowie Norbert Samuelson/John Clayton: TRE 13, 708–784 (Lit.); Markus Enders, Gott im Denken der Philosophie (wie Anm. 32), 210ff. Im Unterschied zum Interesse der verschiedenen Typen des Gottesbeweises intendiere ich im Folgenden einen „ontologischen Gottesbegriff “ (Markus Enders), der geeignet ist, die ontologische Differenz zwischen dem schlechthin notwendigen Sein und dem Inbegriff des kraft dessen Selbstbestimmung kontingenten Seienden zu markieren. Die Darstellung dieser ontologischen Differenz dient dem Verstehen der biblischen Gottesrede in ihrer ganz besonderen Eigenart. Ohne die implizite oder explizite Wahrnehmung der ontologischen Differenz würde auch die Interpretation der biblischen Gottesrede in der Luft hängen. – Einem Gespräch mit Thomas Krüger verdanke ich die wichtigen Hinweise darauf, dass wir von einer expliziten Wahrnehmung der ontologischen Differenz im Sinne des griechischen Philosophierens in der judäischen Religionskultur deshalb nichts wissen können, weil sie sich jedenfalls nicht schriftlich, sondern wenn überhaupt nur mündlich artikulierte.

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Gottes Sein

zwischen den Parteien des politischen Systems; die Phase einer schweren Erkrankung und nicht zuletzt eine langfristige religiöse Bewegung wie die Bewegung der Reformation. Indem wir einen solchen Gegenstand als wirklich bezeichnen, unterscheiden wir ihn vom Schein der puren Illusion, des bloßen Wunsches bzw. des Wahns, obschon auch das allein als Schein Reale – wie beispielsweise Adolf Hitlers Rassenwahn – realiter wirksam werden kann, und zwar auf schreckliche und auf zerstörerische Weise. Im Gegensatz zu den Erscheinungen des bloßen Scheins rechnen wir freilich auch das Kunstwerk in Gestalt der Musik, der Dichtung, der Malerei, des Tanzes – der freien künstlerischen Phantasie für unsere ästhetische Erfahrung entsprungen – zum Inbegriff des Wirklichen. Wirklich ist mithin jener modale Terminus, der das Präsent-Sein bzw. das Präsent-Werden irgendwelcher Gegenstände der Lebensund Erfahrungswelt für unser Wahrnehmen, Sprechen, Fühlen, Denken, Erinnern und Gestalten anzeigt; und zwar je in unserer Gegenwart (vgl. STh I, 189–257). Zweitens: Nun wird uns Wirkliches nicht etwa nur als bloßes momentanes Faktum präsent. Geht uns Seiendes als Wirkliches an, so geht es uns innerhalb eines Zeitraums an, in dem wir es als etwas Gewordenes bzw. als etwas Werdendes und Vergehendes erleben. Indem wir uns auf Wirkliches als etwas Gewordenes bzw. als etwas Werdendes und Vergehendes besinnen, werden wir auf die verschiedenen Bedingungen aufmerksam, unter denen es geworden ist bzw. unter denen es sich für unser Erleben wandelt und schließlich seinem Ende entgegengeht. Solche Bedingungen sind zum einen die Ereignisse und die Prozesse des Naturgeschehens in seiner ganzen ungeheuren Weite und Tiefe; insonderheit die Regelmäßigkeiten des atomaren, des chemischen und des biotischen bzw. des animalischen Geschehens, ohne die es für uns kein leibhaftes Person-Sein, kein Geboren-Werden, kein Wachsen, kein Altern und kein Sterben geben würde. Solche Bedingungen sind zum andern die Bedingungen, unter denen wir – wir Wesen von der Seinsart des leibhaften Person-Seins – gewordenes Seiendes und werdendes Seiendes in selbstbewusst-freier Weise sprachlich erfassen und praktisch gestalten, allerdings auch in seiner Eigenart verfehlen und absichtlich gefährden und zerstören können. Insofern geht uns Wirkliches als etwas Verwirklichtes an: als etwas, was für uns nicht anders wirklich geworden und wirklich ist als bezogen auf Wirkliches, das es ermöglicht. Was wir in unserer jeweiligen Gegenwart als Wirkliches erleben, prädizieren und gestalten, ist mithin Mögliches. Und d. h. soviel als: es müsste nicht geworden sein und werden in der Weise, wie es geworden ist und wird; es ist vielmehr auch möglich, dass es nicht geworden wäre und nicht werden würde. Der Konjunktiv zahlreicher Sprachen hätte sich nicht gebildet, wenn dieser Aspekt einer ontologischen Besinnung auf das möglicherweise Seiende sich für eine Sprachgemeinschaft nicht gezeigt hätte.

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Drittens: In unserer jeweiligen Gegenwart und in ihrer relativen Dauer erleben, prädizieren und gestalten wir Wirkliches, das unter den erwähnten Bedingungen möglich war und nur unter den erwähnten Bedingungen bis auf Weiteres wirklich bleiben wird. Im Lichte dessen, dass wir selbst uns unsererseits nicht anders denn allein als faktisch wirklich und nicht etwa als schlechthin notwendig sehen müssen, nennen wir Seiendes, das sowohl existieren als auch nicht existieren könnte, kontingent. Nun lehrt uns die Begriffs- und Theoriegeschichte des Kontingenten, dass von einer einheitlichen Bestimmung dieses Aspekts des Seiend-Seins gar keine Rede sein kann. Und zwar deshalb, weil die naheliegende Frage, ob das bisher beschriebene Verhältnis des Wirklichen und des Möglichen auf einen bestimmbaren und bestimmten Grund und Ursprung – nämlich auf den transzendenten, den unendlichen Grund und Ursprung – dieses Verhältnisses verweise, keine befriedigende Antwort findet. Zwar sucht nicht nur der religiöse Mythos, sondern auch die Mythos-Kritik des Philosophierens den transzendenten, den unendlichen Grund und Ursprung unseres Uns-gegenwärtig-Seins zu erfassen; aber es fragt sich, ob der religiöse Mythos und ob die philosophische Mythos-Kritik diesen unendlichen Grund und Ursprung unseres Uns-gegenwärtig-Seins in seinem eigenen Sein im Werden zu erleben geben kann.39 Deshalb gilt es deutlich darzulegen, dass jedenfalls der Christus-Glaube, der die Selbst- und Welterfahrung eines Menschen heilsam neu bestimmt, das Kontingente allen wirklichen Geschehens in einer ganz spezifischen Weise zu erfassen sucht und dafür gute Gründe nennen kann. Die Frage lautet also: wie versteht der ChristusGlaube im Sinnraum und im Horizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft das Kontingente allen wirklichen Geschehens? Ich antworte auf diese Frage, indem ich noch einmal von der Besinnung auf die Art und Weise ausgehe, in der wir uns in unserer jeweiligen Gegenwart und in ihrer relativen Dauer tatsächlich erleben. Im Raum und in der Zeit unserer jeweiligen Gegenwart existieren wir, indem wir alles Wirkliche, das uns jeweils angeht, vermöge des Bewusstseins unserer selbst als individueller leibhafter Person sprachlich und gedanklich zu erfassen und im Horizont eines bestimmten Zieles zu gestalten bzw. umzugestalten suchen.

39 Auf diese Frage beziehe ich den Grundgedanken, wie er entwickelt wird von Michael Theunissen, Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, München: C. H. Beck, 2 2002. Theunissen interpretiert in diesem grandiosen Werk die Intuition, dass die frühgriechische Dichtung, wie sie uns präsent ist bei Pindar und in der archaischen Lyrik, „eine dynamisch verstandene Transzendenz der Zeit von deren basaler Herrschaft … auf eine gewisse Freiheit von Zeitherrschaft“ symbolisiert (1). Aus der Perspektive des Christus-Glaubens scheint mir die Aporie dieser dichterischen Deutung der „Transzendenz als Befreiung“ (698–783) darin zu bestehen, dass sie mündet in die „Forderung nach Herrwerden über sich“ (896–900).

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Gottes Sein

In dieser Weise wollen wir das hohe Gut des uns gegebenen Lebens mit jeweils Anderen unseresgleichen im Spektrum der formalen und der materialen Güter erhalten, verteidigen und vervollkommnen und darin der Faktizität des leibhaften Person-Seins gerecht werden. Wir existieren also in der Lebens- und Erfahrungswelt, indem wir jeweils hier und jetzt Entwürfe hegen und Entscheidungen treffen hinsichtlich der Art und Weise, in der wir dieser Faktizität des leibhaften Person-Seins gerecht zu werden hoffen; und diese Entwürfe hegen wir bzw. diese Entscheidungen treffen wir nicht anders als indem wir uns das Wirkliche, das uns angeht, in der Erinnerung gegenwärtig halten und gegebenenfalls evaluativ bewerten. Das Existieren in der jeweiligen Gegenwart intendiert also Folgen, wie beispielsweise den Gewinn an Wissen und Erkenntnis, die nachhaltige Beherrschung des Naturgeschehens, die rechtliche Sicherheit im Innen- und im Außenverhältnis der Gesellschaft, die Pflege der Künste und der kulturellen Überlieferung und last but not least die Vertiefung, Verbreitung und Erneuerung des Christus-Glaubens in der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Hier und Jetzt. Von solchen Folgen ist zu sagen: sie sind notwendig bezogen auf die Entwürfe und auf die Entscheidungen, die wir in unserer jeweiligen Gegenwart für die Zukunft des hohen Guts des leibhaften Person-Seins treffen und ohne die die Zukunft dieses hohen Guts nicht wirklich werden würde. Gleichwohl ist deren WirklichWerden und ist deren Wirklich-Bleiben im Verhältnis zu den Intentionen der Akteure keineswegs sicher garantiert; zumal dann nicht, wenn diese intendierten Folgen große soziale Subjekte und unabsehbare zukünftige Zeiträume betreffen. Wirkliches, das zwar notwendig bezogen ist auf Entwürfe und Entscheidungen und dennoch nicht notwendigerweise sich realisiert, nennen wir kontingent. Und die Gewissheit, dass wirkliches Sein in dem beschriebenen Sinne kontingentes Sein ist, dürfte geradezu eine notwendige Bedingung für unseren realistischen Umgang mit dem hohen Gut des leibhaften Person-Seins sein. Ich habe den Versuch gewagt, die Bedeutung des modalen Terminus „kontingent“ aus der Besinnung auf das Existieren in der jeweiligen Gegenwart zu entwickeln, in der zukünftig Wirkliches notwendig bezogen ist auf die Entwürfe und auf die Entscheidungen der Akteure und dennoch nicht notwendigerweise geschieht und bleibt. Diese Bedeutung ist nun keineswegs beschränkt auf Wirkliches, das möglicherweise aus den Entwürfen und Entscheidungen kraft unseres leibhaften Person-Seins wirklich wird. Vielmehr ist diese unsere jetzige Gegenwart ihrerseits – und zwar in mehrfacher Weise – notwendig bezogen auf alle die Stufen des Wirklichen, die wir als physisches (d. h. als atomares und als chemisches), als biotisches und als animalisches Geschehen identifizieren und hypothetisch in einer umfassenden Kosmologie verstehen wollen (vgl. STh I, 264–277). Ebenso wie die Faktizität des leibhaften Person-Seins notwendig auf die elementaren Übergänge des ungeheuren

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Universums bezogen und dennoch nicht notwendigerweise existiert, sind auch die elementaren Übergänge des ungeheuren Universums notwendig aufeinander bezogen und dennoch nicht notwendigerweise existent. Sie weisen wie die Faktizität des leibhaften Person-Seins auf die ebenso unableitbare wie unvorstellbare singuläre Kontingenz des Anfangs zurück, die allen Modi des Seiend-Seins das Siegel der Endlichkeit aufdrückt.40 Viertens: Ich hatte eine theoretische Besinnung auf den ontologischen Sinn der modalen Termini der Alltagssprache aus der Sicht des christlichen Glaubens an Gott, den Gott für uns, an Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen angekündigt. Meine Beschreibung des Wirklichen als kontingent – also als zugleich notwendig und nicht notwendig – findet womöglich Anklang dann und auch dann, wenn man vor jener ebenso unableitbaren wie unvorstellbaren singulären Kontingenz des Anfangs skeptisch und agnostisch schweigend innehält. Immerhin gibt es doch zu denken, dass sich die Frage nach dem unendlichen Grund und Ursprung dieses singulären Anfangs allen Geschehens der Welt und allen Geschehens in der Welt nie gänzlich unterdrücken ließ. Sie ist nicht nur die Frage der variety of religious experience (William James), sondern auch die Frage metaphysischer Erörterung seit Thales von Milet und seit Anaximander. Sie findet nicht nur in den kosmogonischen Erzählungen des religiösen Mythos, sondern auch in der philosophischen Bestimmung des ungewordenen, des ewigen Grundes alles Wirklichen in seinem Werden und Vergehen eine Antwort, die die implizite Transzendenzgewissheit der Person in Anspruch nimmt. Beide Gestalten einer Antwort auf die Frage, ob – und wenn ja, in welcher Weise – der singuläre Anfang allen Geschehens der Welt und allen Geschehens in der Welt auf einen transzendenten Grund und Ursprung verweist, treffen sich in der Überzeugung, dass die singuläre Kontingenz des Anfangs allen Weltgeschehens und damit alle Kontingenz des Wirklichen im Weltgeschehen einer schlechthin notwendigen Wesenheit zu danken ist. Nicht nur die göttlichen Namen, die der religiöse Mythos für das schöpferische bzw. für das schützende Walten dieser oder jener Gottheit findet, sondern auch der Begriff des unbewegten Bewegenden im 40 Meine Darstellung berührt sich insofern mit der Darstellungsweise, die Paul Tillich, STh I, 191–332, vorgelegt hatte und die ich o. Anm. 36 als „Echo“ auf die Intention des frühen Hauptwerks Martin Heideggers gekennzeichnet hatte. Im Unterschied zu Heideggers Entwurf einer „existenzialen“ Ontologie aus dem Seinsmodus der Sorge hatte Tillich allerdings auch die Kontingenz des singulären Anfangs des Geschehens der Welt und des Geschehens in der Welt vor Augen, die dann auch anders als in Heideggers Entwurf nach dem transzendenten Grund und Ursprung dieser Kontingenz fragen lässt! Freilich wird eine wohlverstanden kosmologische Ontologie wiederum unklar, wenn sie die Basis der „Erfahrung eines Gottes über dem Gott des Theismus“ sein soll, in der der „Mut zum Sein … wurzelt“: Paul Tillich, Der Mut zum Sein (1952), zit. nach der autorisierten Übersetzung von Gertie Siemsen, Stuttgart: Steingrüben Verlag, 1953, 134–137.

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Gottes Sein

Sinne von Aristoteles’ Metaphysik bzw. der Begriff des Einen im Sinne Plotins sind dafür denkwürdige und bewegende Zeugen (vgl. STh I, 305–318).41 Für den christlichen Glauben an Gott, den Gott für uns, an Gottes InGemeinschaft-sein-Wollen und für dessen denken- und verstehen-wollende Entfaltung sind diese Zeugnisse alles andere als bedeutungslos. Machen sie doch auf ihre Weise darauf aufmerksam, dass das Begriffswort „Gott“ dann und nur dann angemessen zu verstehen und angemessen zu gebrauchen ist, wenn wir es auf das Grund- und Ursprungsverhältnis beziehen, in welchem alles zugleich notwendig und nicht notwendig Wirkliche existiert. Christlicher Glaube an den Gott für uns geht an der Ahnung, am Gefühl und am Erkennen- und Verehren-Wollen dieses Grund- und Ursprungsverhältnisses nicht etwa vorbei; er sieht vielmehr das Grund- und Ursprungsverhältnis, in welchem alles zugleich notwendig und nicht notwendig Wirkliche existiert, im radikalen Sinne als Verhältnis des Gewährens, des Gebens und des Dauern-Lassens. Und er vermag für diese Sicht auch gute Gründe anzugeben. Die systematisch-theologische Besinnung auf den Christus-Glauben in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen wird diese Sicht des Grundund Ursprungsverhältnisses – des Verhältnisses des Gewährens, des Gebens und des Dauern-Lassens – und deren Wahrheit in allen ihren Teilen zu entfalten suchen.

41 Vgl. Aristoteles, Metaphysik XII, 6–10; Plotin, Enneaden VI 9,1. – Zu diesen denkwürdigen und bewegenden Zeugnissen rechne ich auch das Philosophieren Spinozas, dessen entscheidende Rezeption mit Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, 1785, beginnt und das nicht nur auf Gotthold Ephraim Lessing, sondern auch auf die großen Autoren des Deutschen Idealismus nachhaltig eingewirkt hat. Vgl, Spinoza, Opera: lateinisch und deutsch. Bd. 2: Tractatus de intellectus emendatione. Ethica. Hg. von Konrad Blumenstock, Darmstadt: WBG, 4 1989. In seiner „Ethik“ entwickelt Spinoza im Interesse einer Lehre von der Bildung wahrer Tugend eine angeblich rein vernünftige Lehre von der wahren – und d. h.: nicht durch Offenbarung erschlossenen – Gotteserkenntnis, ohne die nach Spinozas Meinung wahre Tugend nicht um ihrer selbst intendiert werden kann. Solche wahre Gotteserkenntnis sammelt sich in folgendem Lehrsatz: „Propositio XI: Deus, sive substantia constans infinitis attributis, quorum unumquodque aeternam, et infinitam essentiam exprimit, necessario existit.“ („Gott oder die aus unendlichen Attributen bestehende Substanz, von denen ein jedes ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt, ist nothwendig da.“ [98/99; Unterstreichung im Original gesperrt]). Der philosophische Begriff Gottes als der einzigen notwendig seienden Substanz, die als solche die immanente Ursache („causa immanens“) alles Seienden sein muss, führt konsequent zur Bestreitung des Kontingenten: „Propositio XXIX. „In rerum natura nullum datur contingens, sed omnia ex necessitate divinae naturae determinata sund ad certo modo existendum, et operandum.“ („Es giebt in der Natur nichts Zufälliges, sondern Alles ist aus der Nothwendigkeit der göttlichen Natur bestimmt, auf gewisse Weise da zu seyn und zu wirken.“ [130/131; Unterstreichung im Original gesperrt]). – Im Gegensatz zu dieser Deutung des Absoluten bzw. des Unbedingten wird im Folgenden zu zeigen sein, dass Gottes Sein als gleichursprünglich notwendiges Sein und sich selbst für Anderes bestimmendes Sein zu denken ist. Es ist als solches Sein der Wahrheit und Sein des Guten.

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An dieser Stelle sei nur festgehalten, dass diese Sicht des Grund- und Ursprungsverhältnisses die Art und Weise konkretisiert, in der die vor- und außerchristlichen Perspektiven es zu sehen meinen. Sie meinen ganz mit Recht zu sehen, dass das Ganze dessen, was zugleich notwendig und nicht notwendig ist, auf jenes ursprüngliche Sein verweist, dessen Nicht-Sein unmöglich ist. Freilich ist diese Bestimmung des ursprünglichen Seins als solche noch abstrakt. Sie erreicht Konkretheit dann und erst dann, wenn wir das ursprüngliche Sein, dessen Nicht-Sein unmöglich ist, zugleich als das sich selbst für Anderes bestimmende Sein verstehen.42 Es trifft die Wahl der Gnade, die dieses Grundund Ursprungsverhältnis schöpferisch begründet und schöpferisch dauern lässt; und indem es dieses Grund- und Ursprungsverhältnis schöpferisch begründet und schöpferisch dauern lässt, gewährt und gibt es allem, was in diesem Grund- und Ursprungsverhältnis zugleich notwendig und nicht notwendig ist, jene Richtung auf Vollendung und Vollkommenheit, die wir hier und jetzt nicht anders als mit den eschatischen Metaphern, Symbolen und Begriffen des Himmels, des Reiches Gottes und des ewigen Lebens imaginieren und verstehen können (s. 4.5). Sie sind, wie ich noch zeigen werde, Metaphern, Symbole und Begriffe der zukünftigen Ewigkeit (s. 4.5.2). Fünftens: Ich habe einen Gedankengang entwickelt, der die Art und Weise kritisch reflektiert, in der wir in der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Sinnraum und im Horizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft von Gottes Sein zu sprechen und zu denken suchen. Ausgehend von der Analyse des ontologischen Sinnes, den die modalen Termini der Alltagssprache überhaupt erkennen lassen,

42 Vgl. hierzu auch Karl Barth, KD II/1, 616: „Von diesem Ort her (verstehe: vom Ort der ChristusOffenbarung her) wird es sichtbar, daß es nicht etwa angeht, dem Sein und Wesen Gottes allein Notwendigkeit zuzuschreiben, das Zufällige aber von ihm auszuschließen. In Gott ist, wie die höchste Notwendigkeit, so auch der höchste Zufall. Und dieser höchste, durch keine Notwendigkeit beschränkte Zufall im Wesen Gottes, das unerforschliche, weil niemals aufhörende, niemals zu erschöpfende, Konkrete in seinem Wesen ist eben dies, daß er will…“ (Kursivierung im Original gesperrt). – Leider hat Barth in der speziellen Gotteslehre nicht weiter ausgeführt, wie es denn zu verstehen sei, dass wir dem Sein und Wesen Gottes Notwendigkeit zuschreiben. Das hat Eberhard Jüngel wohl dazu gebracht, in der „Einleitung“ seines vielgelesenen Buches die steile These aufzustellen: „Gott ist mehr als notwendig“ (verstehe: „mehr als weltlich notwendig“) und sie wie folgt zu erläutern: „Notwendigkeit ist also für Gott nicht eine zu hoch greifende, sondern eine unzureichende Kategorie. Der Satz ‚Gott ist notwendig‘ ist ein schäbiger Satz. Er ist Gottes nicht würdig.“ (vgl. Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 2 1977, 30.31.) Gleichwohl beteuert Jüngel später im Rahmen seiner trinitätstheologischen Skizze: „An den ewigen Vater glauben besagt also zunächst Gott als den Souverän des Seins anzuerkennen.“ (523). Die Metapher „Souverän des Seins“ bleibt ontologisch ungeklärt.

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Gottes Sein

habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass wir das uns in der Lebens- und Erfahrungswelt begegnende Reale nicht anders denn als kontingent verstehen können: d. h. als zugleich notwendig und nicht notwendig. Ich sehe es als die berechtigte Intention des religiösen Mythos und des metaphysischen Denkens an, Aussagen über den zureichenden Grund zu machen, ohne den wir nicht wären als Wesen von der Seinsart des leibhaften Person-Seins, die zur Verantwortung für das in der Lebens- und Erfahrungswelt begegnende Reale sich bestimmt wissen müssen. Die in der Theoriegeschichte erörterten Begriffe der Absolutheit bzw. der Aseität des göttlichen Wesens waren und sind dazu da, die qualitative bzw. die kategoriale Eigenart dieses zureichenden Grundes im Verhältnis zum Inbegriff des Begründeten zu erfassen.43 Allerdings verstehen wir Gottes Sein dann und nur dann ihm angemessen als den zureichenden Grund des Geschehens der Welt und des Geschehens in der Welt, wenn wir es als schlechthin notwendiges und gleichursprünglich als sich selbst für Anderes bestimmendes Sein verstehen. Schlechthin notwendig und gleichursprünglich sich selbst für Anderes bestimmend ist Gott, weil und sofern sich Gott selbst unmittelbar erschlossen ist als Gott. Indem wir in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen im InneSein der „äußeren Klarheit“ der Heiligen Schrift Gottes Sein als dies unmittelbare Sich-als-Gott-erschlossen-Sein zu denken wagen, sprechen wir dem Sein Gottes das Sein der Wahrheit zu (s. 1.5.3.3.3). Indem wir Gottes Sein als dies unmittelbare Sichals-Gott-erschlossen-Sein zu denken wagen, sprechen wir dem Sein Gottes zugleich das Sein des Guten zu, das Seiendes von der Seinsart des Kontingenten auf das ihm vorgesetzte Ziel hin werden und dauern lassen will (s. 1.5.3.3.4).44 Würde das Wort „Gott“ nicht das sich selbst unmittelbar erschlossene göttliche Wesen bezeichnen wollen und bezeichnen können, wäre der Gebrauch des Wortes „Gott“ im Gebet, im Lobpreis, im Offenbarungszeugnis, im Text und in der Interpretation der Heiligen Schrift und schließlich im Versuch des theologischen Erkennens tatsächlich sinnund bedeutungslos.

43 Vgl. hierzu Jürgen Stolzenburg/Hartmut Rosenau, Art. Absolute, das I. II.: RGG4 1,80–82; Joachim Ringleben, Art. Aseität Gottes I. II.: ebd., 808–809. 44 Paul Tillich eröffnet seine Lehre von Gott mit dem programmatischen Satz: „Das Sein Gottes ist das Sein-Selbst.“ (Paul Tillich, STh I, 273). Zwar wird dieser Satz expliziert durch Bestimmungen wie „Grund des Seins“, „unendliche Seinsmächtigkeit in allem und über allem“ (273), „der ‚schöpferische und abgründige Grund des Seins‘“ (276), „das Sein-Selbst oder das Absolute“ (277); aber eine Aussage über Gottes ursprüngliches Sich-selbst-Bestimmen und über dessen Grund in Gottes Sich-selbst-unmittelbar-Erschlossen-Sein fehlt. Insofern ist nicht nachzuvollziehen, wie Tillich den Unterschied erfassen möchte, der zwischen der biblischen Rede vom „lebendigen Gott“ und dem „reinen Absoluten“, dem „Sein-Selbst“ bestehen soll (280).

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Kann das Wort „Gott“ jedoch tatsächlich das sich selbst unmittelbar als Gott erschlossene göttliche Wesen bezeichnen wollen? Ja. Denn das Wort „Gott“ bezeichnet das sich selbst unmittelbar erschlossene göttliche Wesen als zureichenden Grund des Geschehens der Welt und des Geschehens in der Welt nicht etwa in einem metaphorischen bzw. in einem symbolischen Sinn; es birgt in sich vielmehr den univoken Kern, der uns in der Besinnung auf das unmittelbare Selbstbewusstsein der leibhaften, der endlichen, der geschaffenen Person wohl vertraut ist.45 Ist Gott gemäß dem Offenbarungszeugnis des Apostels Paulus Gott für uns (Röm 8,31), so ist Gott als solcher zu benennen und zu verstehen, weil wir nicht anders können als den zureichenden Grund des Geschehens der Welt und des Geschehens in der Welt im Lichte des eigenen Uns-unmittelbarErschlossen-Seins so zu benennen und so zu verstehen: als sich selbst in eminenter Weise unmittelbar erschlossen. Exkurs: Es wird meinen Leserinnen und Lesern hoffentlich willkommen sein, wenn ich die vorstehende Betrachtung über „Gottes Sein“ bzw. über die Aussage „Gott ist“ ins Verhältnis setze zu dem ontologischen Argument, das Anselm von Canterbury in dem bahnbrechenden Dialog „Proslogion“ entwickelt hatte – in

45 Ich verwende hier den Terminus „univok“ in dem Sinne, in dem ihn Johannes Duns Scotus in seiner transzendentalen Interpretation des Terminus „ens“ („seiend“) gebraucht. Duns hatte im Gegensatz zum metaphysischen Denken des aristotelisch-arabischen Philosophierens den Terminus „ens“ („seiend“) als Begriff von schlechthin einfachem Gehalt aufgefasst, der von allen möglichen Gegenständen unseres Erkennens nur das Eine dennoch Grundlegende aussagt: dass sie „Etwas“ bzw. „realitas“ sind. In diesem formal-ontologischen Sinne kommt der Begriff „ens“ („seiend“) dem göttlichen Wesen und dem Inbegriff der „Welt“ in univoker Weise zu. Die theologische Pointe dieser formal-ontologischen Theorie liegt darin, dass der „eigentümliche Begriff “ („conceptus proprius“) des göttlichen Wesens aus dem Offenbarungszeugnis zu gewinnen ist; nicht aus dem Streben der Vernunft nach einem „Ersten“, sondern aus dem Offenbarungszeugnis ist der Gedanke des „Sich-Bestimmens“ zu gewinnen. Umgekehrt gilt allerdings, dass der „eigentümliche Begriff “ („conceptus proprius“) des göttlichen Wesens auf die formal-ontologische Frage nach der Bedeutung von „ens“ („seiend“) bezogen sein muss (vgl. hierzu Ludger Honnefelder [wie Anm. 32]). – Paul Tillich behauptet: „Der Satz, daß Gott das Sein-Selbst ist, ist ein nicht-symbolischer Satz“ (Paul Tillich, STh I,277), und zwar im Unterschied zu allen anderen symbolischen Aussagen der einzige und der notwendig nicht-symbolische Satz. Dagegen spricht jedoch, dass nicht nur die Aussagen über Gottes ursprüngliches Sich-selbst-Bestimmen und über dessen Grund in Gottes Sich-selbstunmittelbar-Erschlossen-Sein, sondern auch die Aussagen des Glaubensbekenntnisses über Gottes Walten als Schöpfer, als Versöhner und als Vollender nicht-symbolischer Natur sind, sofern sie eben etwas symbolisieren. Auch die überwältigende Fülle metaphorischer und symbolischer Redeweisen zumal im Psalter und im Kanon der Hinteren Propheten ist ohne Ernst-Nehmen ihres jeweiligen univoken Kerns schwerlich angemessen verstehbar zu machen.

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Gottes Sein

jenem Grundtext, der den Anstoß gab für die bis auf diesen Tag andauernde Debatte über den ontologischen Gottesbeweis.46 Anselms Argument gehört in das Programm einer wissenschaftlichen Theologie, die sich dem Ideal der fides quaerens intellectum – der Suche nach der Vernunft des Glaubens – verpflichtet weiß. Dieses Programm geht davon aus, dass das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift und dass die kirchlich festgestellte Glaubenslehre der vernünftigen Begründung fähig und bedürftig sei. Unter der vernünftigen Begründung ist nach Anselm jene ratio necessaria zu verstehen, welche den Gegenstand des Offenbarungszeugnisses der Heiligen Schrift und der kirchlich festgestellten Glaubenslehre – nämlich Gott und Gottes Walten als Schöpfer, als Versöhner, als Vollender – sola ratione geradezu denknotwendig demonstriert. Im Gegensatz zu späteren Varianten des ontologischen Gottesbeweises zielt Anselms Argument beileibe nicht auf eine distanzierte Theorie; vielmehr bewegt es sich in der Spannung zwischen der Bitte um die Gabe der Erkenntnis des Geglaubten und dem Dank für die Erleuchtung, die dem Denker die Erkenntnis des Geglaubten tatsächlich gewährt. In dieser Bitte und in diesem Dank wird deutlich, dass Anselms Verfahren das Sein des göttlichen Wesens als Sein des höchsten bzw. des vollkommenen Person-Seins zu bestimmen strebt. Nicht zufällig kehrt der Dialog an seinem Ende wieder ein in den Christus-Glauben, dem der dreieine Gott der Offenbarung gegenwärtig ist. Dem Verfahren des Beweises liegt ein ontologischer Begriff Gottes zugrunde. Dafür hatte Anselm sich an jenem ontologischen Begriff von Sein orientiert, wie ihn Plotin im Sinne „uneingeschränkter Vollkommenheit“ gebildet hatte. Möglich war dies für die Suche nach der ratio necessaria geworden, nachdem vor allem Augustin und ihm folgend Boethius Plotins Grundbegriff des schlechthin transzendenten Einen und dessen Entäußerung in der Sphäre des absoluten Geistes als identisch setzten. Die beiden christlichen Theologen der Spätantike formulierten damit einen Begriff des Seins, welcher der Interpretation der kirchlich festgestellten Lehre von Gottes trinitarischem Wesen dienlich war: just als schlechthin vollkommenes Sein ist Gott als „in sich zugleich dreifaltiger Geist“ zu verstehen.47 Aus dieser Interpretation ergibt sich folgerichtig, dass der dreieine Gott als Gut im Sinn vollkommener Gutheit und deshalb auch als Höchstes Gut der leibhaft existierenden Person zu denken sei.

46 Anselm von Canterbury, Proslogion (Anrede). Lateinisch-deutsche Ausgabe von P. Franciscus Salesius Schmitt O.S.B., Stuttgart-Bad Cannstatt: Friedrich Frommann Verlag (Günther Holzboog), 1962. Zum Verständnis des Werkes ist unerlässlich die „Einführung“ des Herausgebers, die auf den „Doppelcharakter des ‚Proslogion‘ – Spekulation im Gebetskleid –“ aufmerksam macht (9–65; 31). Vgl. auch Ludwig Hödl, Art. Anselm von Canterbury: TRE 2, 759–778. 47 Markus Enders, Gott im Denken der Philosophie, in: Karlheinz Ruhstorfer (Hg.) (wie Anm. 32), 187–261; 217.

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Im Rückgriff auf die ontologische Deutung der kirchlich festgestellten Lehre von Gottes trinitarischem Wesen hat Anselm im „Proslogion“ eine umfassende philosophische Gotteslehre entfaltet, welche die in den biblischen Quellensprachen bezeugten Eigenschaften des einzigen Gottes als dessen „Wesensbestimmungen“ verständlich machen will.48 Sie geht von jenem Spitzensatz aus, der uns in zweifacher Gestalt begegnet: zum einen in der Form, Gott sei „aliquid quo maius nihil cogitari possit“ (Proslogion 2); zum andern in der Form, Gott sei „quidquid melius est esse quam non esse“ (Proslogion 5).49 In dieser zweifachen Gestalt gab jener Spitzensatz den Anstoß für die bis heute andauernde Debatte um die Schlüssigkeit bzw. um die Tragfähigkeit des sog. ontologischen Gottesbeweises. Die beiden Formen, mit deren Hilfe Anselm die Bedeutung des Wortes „Gott“ zu definieren sucht, zielen darauf ab, die Seinsvollkommenheit des wahrhaft göttlichen Wesens zu betrachten. Sie antworten auf den möglichen bzw. auf den tatsächlichen Verdacht, dass dem Wort „Gott“ keine reale Bedeutung zukomme, weil man das Seiend-Sein des göttlichen Wesens doch leugnen kann und faktisch leugnet. Diesem Verdacht begegnet Anselm mit der Unterscheidung zwischen der Behauptung des ChristusGlaubens, dass das göttliche Wesen wirklich sei, und der Einsicht bzw. der wohl begründeten Erkenntnis, dass diese Behauptung wahr sei. In Anselms Antwort auf den „Toren“ vollzieht sich jene vernünftige Erkenntnis, wie sie der Christus-Glaube für sich selbst sucht, und zwar remota fide („abgesehen vom Christus-Gauben“)! Die Behauptung des Christus-Glaubens, dass das göttliche Wesen wirklich sei, wird nach Anselms Argument vernünftig erkennbar und vernünftig erkannt, weil die Seinsvollkommenheit des göttlichen Wesens reales Seiend-Sein notwendig einschließt. Würde die Seinsvollkommenheit des göttlichen Wesens nämlich nichts anderes als ein sprachliches Zeichen bzw. nichts anderes als ein bloßer Gedanke sein, 48 Die Interpretation, die Karl Barth, Fides quaerens intellectum. Anselms Beweis der Existenz Gottes, Zollikon: Evangelischer Verlag, 2 1958, dem „Proslogion“ angedeihen lässt im Sinne der Behauptung, es handle sich hier um „Theologie“ (162; im Original gesperrt), beschränkt sich im Wesentlichen auf den Kommentar zu den Kapiteln 2–4 und sieht vom Plan des ganzen Textes ab. Ganz im Banne seiner radikalen Kritik des „Modernismus“ in Theologie und Kirche nach den verheißungsvollen Aufbrüchen der reformatorischen Bewegung des 16. Jahrhunderts liest Barth Anselms Beweis als Beleg des Denkens von Gott her (verstehe: von dem Gott des biblischen Offenbarungzeugnisses her) und nicht etwa von irgendeiner „philosophischen Voraussetzung“ (163) her. Zwar präsentiert diese eindringliche Lektüre einen Schlüsseltext für Barths Hauptwerk „Die Kirchliche Dogmatik“; aber sie geht an Anselms apologetischem Interesse – man darf wohl sagen: schlafwandlerisch – vorbei. 49 „Et quidem credimus te esse aliquid quo nihil maius cogitari possit“ (Kap. 2: „Wir aber glauben, daß Du, Gott, etwas bist, über dem nichts Größeres gedacht werden kann“ [Übersetzung Ludwig Hödl]) – „Sic ergo vere est aliquid quo maius cogitari non potest, ut nec cogitari posset non esse“ (Kap. 3: „So wahrhaft wirklich also existiert ‚etwas, über dem Größeres nicht gedacht werden kann‘, daß es als nichtexistierend auch nicht gedacht werden kann“ [Übersetzung Ludwig Hödl]); „Quod Deus sit quidquid melius est esse quam non esse…“ (Überschrift Kap. 5: „Daß Gott all das ist, was besser ist zu sein als nicht zu sein…“ [Übersetzung Franciscus Salesius Schmitt O.S.B.]).

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Gottes Sein

so würde dieses sprachliche Zeichen bzw. dieser bloße Gedanke übertroffen werden durch das reale Seiend-Sein dessen, dem uneingeschränkte Seinsvollkommenheit eignet. Der Verdacht, die Seinsvollkommenheit des göttlichen Wesens könnte nichts anderes als ein sprachliches Zeichen bzw. nichts anderes als ein bloßer Gedanke sein, ist damit als selbstwidersprüchlich erwiesen. Dagegen ist es widerspruchsfrei denkbar und erkennbar, dass Gottes Seinsvollkommenheit Seiend-Sein einschließt. Semiotisch formuliert: es ist widerspruchsfrei denkbar und erkennbar, dass der Begriff der uneingeschränkten Seinsvollkommenheit nicht etwa nur intensionalen Sinn, sondern auch extensionale Bedeutung besitzt. Nach Markus Enders dürfen wir Anselms Gedankengang als Argument verstehen, das Sinn und Bedeutung des Wortes „Gott“ auf theoretischem Wege inhaltlich normiert; und zwar in zweifacher Hinsicht. Die beiden Varianten seines Spitzensatzes normieren das Wort „Gott“ zum einen in affirmativer Weise, indem sie es auf alle die Vollkommenheiten beziehen, die Gottes Wesen ausmachen; zum andern aber normieren sie es in negativer Weise, indem sie nur die Möglichkeit seiner Erkenntnis dartun. Was Anselm vorträgt, ist demnach der ontologische Begriff Gottes und nicht etwa ein ontologischer Gottesbeweis.50 Nicht etwa nur gegen den ontologischen Gottesbeweis, sondern auch gegen den ontologischen Gottesbegriff und damit gegen die christlich-religiöse Rede von Gottes Eigen-Sein und Eigen-Sinn erhebt man im Rekurs auf Kants „Kritik der reinen Vernunft“ den Einwand, er sei alles andere als schlüssig. Kants Destruktion des ontologischen Gottesbeweises und damit auch des ontologischen Gottesbegriffs finden wir im Zweiten Teil der „Transzendentalen Elementarlehre“, der „transzendentalen Logik“, und zwar in deren Zweiter Abteilung, die der „transzendentalen Dialektik“ gewidmet ist (B 349–732). Es ist ja insgesamt

50 Vgl. Markus Enders (wie Anm. 32), 244: „Die Unbeweisbarkeit der realen Existenz Gottes für die endliche Vernunft ist ein Implikat des ontologischen Gottesbegriffs.“. – Nach Enders (ebd. 248f.) wurde der Begriff der unendlichen Vollkommenheit Gottes im Anschluss an Heinrich von Gent (gest. 1293) von Johannes Duns Scotus präzisiert. Duns Scotus habe nämlich gezeigt, dass „unendliche Vollkommenheit“ und „Seiend-Sein“ widerspruchsfrei zugleich zu denken und deshalb möglich seien. Duns Scotus habe damit Anselms Argument im Sinne eines ontologischen Gottesbegriffs präzisiert, indem er diesen als das „summum cogitabile sine contradictione“ („als das höchste [widerspruchsfrei] Denkbare“) verstehe, „aus dessen realer Möglichkeit er auf dessen notwendigerweise reale Existenz schließen zu können glaubt, weil das summum cogitabile als ein bloßes ens rationis eine von einem anderen, dem endlichen Intellekt, abhängige Größe und somit nicht unendlich, mithin nicht es selbst wäre.“ Es liegt in der Konsequenz dieses Gedankens zu sagen, dass Gottes unendliche Vollkommenheit nicht etwa eine unter verschiedenen Eigenschaften des göttlichen Wesens bezeichnet, sondern genau das, was Gottes Wesen als des Dreieinen faktisch ausmacht. Wenn das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift und wenn die Sprache und die Kunstgeschichte der christlichen Überlieferung die reiche Fülle der verschiedenen Eigenschaften des göttlichen Wesens zu erfassen sucht, erfasst sie demnach stets „die reale Identität aller göttlichen Wesensbestimmungen.“

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das Interesse der „Kritik der reinen Vernunft“, alle diejenigen Bedingungen zu bestimmen, kraft derer wir Erkenntnis von Erfahrung gewinnen können. In diesem Interesse unternimmt es Kant, die radikale Selbstkritik der endlichen Vernunft zu vollziehen, die allerdings von vornherein hingeordnet ist auf die „Kritik der praktischen Vernunft“. Mit ihr zusammen ist sie gedacht als tragfähige Methodenlehre einer selbstkritischen metaphysischen Betrachtung (vgl. STh I, 308–318). In diesem großen theoretischen Programm spielt die Kritik der Gottesbeweise und damit die „Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft“ (KrV B 659–732) eine beherrschende Rolle; denn sie zielt darauf ab, das Eigen-Sein und den Eigen-Sinn des höchsten Wesens als unerkennbar für das Wissen-Wollen der theoretischen Vernunft zu erweisen. Natürlich liegt die Kant’sche Kritik des christlich-religiösen Gott-Verstehens nicht etwa auf der Linie der Religionskritik des Atheismus; sie läuft vielmehr hinaus auf den verblüffenden Begriff des „Glaubens“: auf die „subjektiv notwendige“ Idee von Gott, die die Vernunft mit Rücksicht auf die Verfassung der endlichen Freiheit anzunehmen nicht umhin kann (KrV B 661f.). Ohne auf Anselms Argument und auf dessen Basis genauer einzugehen, operiert Kants Kritik mit der Behauptung, dass das Wortfeld „Sein“ bzw. „Dasein“ oder „Existenz“ „kein reales Prädikat“ sei (KrV B 620–630; 626). Ein Existenzoperator, der in einem Satze wie dem Satz „Gott ist allmächtig“ ein Satzsubjekt mit einem Satzprädikat verbindet, bringt diesem Satzprädikat nach Kant nichts Neues hinzu; er präzisiert vielmehr „nur das Subjekt (verstehe: das Satzsubjekt) an sich selbst mit allen seinen Prädikaten (verstehe: mit allen anderweitigen Satzprädikaten).“ Er behauptet demnach gar nichts anderes als eine „Beziehung“, die der Sprecher dieses Satzes zwischen seinem Satz und dem Gegenstand seines Satzes unterstellt (KrV B 627). Von dieser Beziehung heißt es nun im Folgenden, sie sei die Beziehung zwischen dem Ausdruck eines Möglich-Seins und dem Gedanken des Wirklich-Seins. Aus dieser sprachlichen Analysis ergibt es sich, dass der Gedanke des Wirklich-Seins den Begriff des Möglich-Seins keineswegs notwendig ergänzt: „Und so enthält das Wirkliche nichts mehr als das bloß Mögliche“ (KrV B 627).51

51 Kant möchte diesen Schluss plausibel machen mit Hilfe des nun wahrlich allzu saloppen Vergleichs mit dem Verhältnis zwischen den hundert wirklichen Talern und den hundert möglichen Talern. – Heinrich Heine hat in den „Lutezia-Berichten“ die zerstörerische Wirkung der Kritik Kants so beschrieben: „… er hat den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute, es giebt jetzt keine Allbarmherzigkeit mehr, keine Vatergüte, keine jenseitige Belohnung für diesseitige Enthaltsamkeit, die Unsterblichkeit der Seele liegt in den letzten Zügen – das röchelt, das stöhnt…“ (vgl. Heinrich Heine, DHA VIII.1, 89). – Ich verdanke den Hinweis auf Heines ironische Resonanz auf Kants Kritik meiner lieben Freundin Renate Stauf.

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Gottes Person-Sein

Verglichen mit dem Argument Anselms und mit dessen Fortbildung bei Johannes Duns Scotus scheint diese Analysis geradezu trivial zu sein. Ihre Pointe kommt erst dann heraus, wenn man sie im Zusammenhang des elementaren Gegensatzes liest, den Kant zwischen dem Reich der Erfahrungswelt und dem Reich der „Objekte des reinen Denkens“ (KrV B 629) behauptet. Während wir im Reich der Erfahrungswelt sehr wohl den Mehrwert des Wirklich-Seins im Verhältnis zum Möglich-Sein eines Gegenstandes anerkennen, ist nach Kant das Dasein bzw. das Seiend-Sein der „Objekte des reinen Denkens“ gänzlich unerkennbar. Die Kritik des ontologischen Beweises zehrte und zehrt allein von der Prämisse, die in Kants Begriff des Transzendentalen liegt.52 Ich hatte diesen Begriff des Transzendentalen im Anschluss an die Meta-Kritik bezweifelt, die Friedrich Schleiermachers Theorie des Selbstbewusstseins an die Hand gibt (vgl. STh I, 151–171). Daraus folgt jedoch mitnichten, dass wir Anselms Argument im Sinne einer ratio necessaria, eines denknotwendigen Beweises rezipieren sollten; vielmehr legt es uns den ontologischen Begriff des göttlichen Wesens nahe, dessen Seiend-Sein als gleichbedeutend mit Gottes unendlicher Vollkommenheit zu denken ist – und zwar widerspruchsfrei zu denken ist.

1.5

Gottes Person-Sein53

In der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen existiert der ChristusGlaube der Person als die spezifische Lebensgewissheit bzw. als das spezifische Lebensgefühl, das sich der endgültigen Selbsterschließung der Gottheit Gottes – ihres Eigen-Seins und ihres Eigen-Sinnes, ihres In-Gemeinschaft-sein-Wollens – verdankt und in ihr Frieden und Freude findet (vgl. Röm 14,17). Ich hatte immer wieder eingeschärft, dass diese Lebensgewissheit bzw. dass dieses Lebensgefühl die

52 Im kritischen Abstoß von Kants Begriff des Transzendentalen kommen überein die frühromantische Bewegung, das philosophisch-theologische Gesamtwerk Schleiermachers sowie die großen Systementwürfe des sog. Deutschen Idealismus von Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Von ihnen sagt Wolfgang Janke, Art. Idealismus: TRE 16, 1–20; 16: „Die Geschichte des Deutschen Idealismus führt in eine dreifache Vollendung. Alle drei Wege übersteigen gemeinsam die Idee und das reine Selbstbewußtsein zum Ursprung absoluter Einheit.“ 53 Vgl. zum Folgenden bes.: Franz Hermann Reinhold von Frank, System der christlichen Wahrheit. Erste Hälfte, Zweiter Abschnitt: Die Persönlichkeit Gottes (wie Anm. 32), 141–156; Wolfhart Pannenberg, Art. Person: RGG3 V, 230–235; Konrad Stock, Art. Person II. Theologisch: TRE 28, 225–231 (Lit.); Ders., Einleitung, 77–81; Hubert Cancik/Hans-Peter Schütt/Andreas Grube/Eilert Herms/Heinz Schmidt, Art. Person I.–VI.: RGG4 6, 1120–1130; Martin Leiner, Art. Personalismus: ebd. 1130–1133; Ders., Art. Personalität Gottes: ebd. 1133–1135; Gerhard Ebeling, Dogmatik I, 224–229; Wilfried Härle, Dogmatik5 , 252–259; Eilert Herms, STh (Bd. 1), 616–636.

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„Gott ist Geist“ (Joh 4,24)

Selbsterfahrung der Person in ihrer jeweiligen Lebens- und Erfahrungswelt heilsam neu bestimmt, auch wenn die heilsam neue Bestimmtheit der Selbsterfahrung oft genug im Leid der Armut und der Krankheit, im Grauen der großen geschichtlichen Katastrophen und in der Angst des Todes tief verdunkelt ist. Die Lebensgewissheit bzw. das Lebensgefühl des Christus-Glaubens kommt wohl kaum authentischer zur Sprache als in den Worten des 73. Psalms, der wie der Psalter insgesamt zum Lese- und zum Lebensbuch des Christus-Glaubens wurde: „Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende mit Ehren an. Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.“ (Ps 73,23-26)

Wie das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift und wie die Geschichte des Gottesdienstes in seinen reichen liturgischen Formen rechnet das Gebet schlicht und ergreifend damit, dass das Wort „Gott“ jenes unendliche, jenes erhabene Wesen meint, das in jeglicher Menschensprache anzusprechen ist; das also jegliche Menschensprache zu hören, zu verstehen und auf seine Weise zu beantworten vermag. Vor jeder Form des diskursiven Denken- und Erkennen-Wollens ist der Christus-Glaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen immer schon damit vertraut, dass das göttliche Wesen in irgendeinem Sinne der Sprache mächtig und der Vernunft teilhaftig ist, die für jegliche Menschensprache offen ist. Für die dogmatische Besinnung auf die Wahrheit des Evangeliums von Gottes wahrer Liebe, die sich dem Christus-Glauben kraft des Heiligenden Geistes Gottes erschließt, ist es nun der nächste Schritt, eine Antwort auf die Frage zu suchen, was es zu bedeuten hat, dass wir die ursprüngliche Macht, die alles Geschehen der Welt und alles Geschehen in der Welt gründet, lenkt und vollendet, scheinbar naiv in den Formen des Gebets, des Gottesdienstes, des gemeinsamen Gesangs und der einsamen Meditation auf alles ansprechen. In diesen scheinbar naiven Formen der Kommunikation mit Gott im Gotteslob, im Dank, in der Klage, in der Bitte und in der Fürbitte bergen wir uns in Gottes Sein und nehmen Gottes Sein in Anspruch; und zwar in einer Weise, die wir nicht anders denn als personale Weise denken können. Es ist daher nur folgerichtig, wenn wir an diesem Punkt der Lehre vom christlichen Glauben an Gott den Begriff des Person-Seins einführen und bestimmen. Dieser Begriff ist in dem Gedanken vorbereitet, dass Gottes ur-

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Gottes Person-Sein

sprüngliches Sich-selbst-Bestimmen sinnvoller- und notwendigerweise als seiner selbst unmittelbar bewusstes Sich-Bestimmen zu verstehen ist (s. 1.4). Allerdings: wir müssen uns zuallererst darüber verständigen, ob das Begriffswort Person-Sein tatsächlich auf das Sein des göttlichen Wesens sinnvoller- und notwendigerweise anzuwenden sei. Es ist weder ein Wort der biblischen Quellensprachen noch ein Wort der einfachen Sprache des Christus-Glaubens und der praxis pietatis, wenngleich die biblischen Quellensprachen dafür bemerkenswerte Äquivalente kennen.54 Es ist vielmehr ein Wort des Bekenntnisses und der theologisch-theoretischen Reflexion auf das Subjekt des Offenbarungsgeschehens, das uns begegnet in den schwierigen und konfliktreichen Debatten des Christentums in spätantiker Zeit über das trinitarische und über das christologische Dogma. Im Zuge dieser Debatten kam heraus, dass das Begriffswort Person-Sein geeignet ist, ein Phänomen zu bezeichnen, das nicht allein die Seinsart des göttlichen Wesens, sondern in entsprechender Weise auch die Seinsart des Mensch-Seins charakterisiert. Womöglich war es just die theologisch-theoretische Reflexion auf das Subjekt des Offenbarungsgeschehens, die in einer vor und außerhalb des biblischen Gott-Verstehens noch unvorstellbaren Weise die unantastbare Würde des Mensch-Seins eines jeden Menschen als des irdischen, des geschaffenen Ebenbildes Gottes entdecken ließ.55 Insofern kommt der systematisch-theologischen Besinnung auf das Phänomen des Person-Seins für die Leitidee meiner Darstellung – die wohlverstandene Funktion der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) für gerechten und sicheren Frieden in der entstehenden Weltgesellschaft – eine fundamentale Bedeutung zu. Soweit ich sehe, verdanken wir dem römischen Gelehrten Boethius die erste grundlegende Betrachtung, die das Begriffswort Person sowohl für das Verstehen der Seinsart des Menschen als auch für das Verstehen der Seinsart des dreieinen Gottes bzw. des Christus Jesus als des fleischgewordenen Wortes (Joh 1,14) fruchtbar macht.56 Von dieser ersten grundlegenden Betrachtung lasse ich mich für meinen

54 Als Äquivalente der biblischen Quellensprachen kommen vor allem in Betracht: „Angesicht“ (‫;פנים‬ dazu Friedhelm Hartenstein, Das Angesicht JHWHs. Studien zu seinem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32–34, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008 [FAT; 55], bes. 1–62); „πρόσωπον“ (vgl. Röm 2,11; 2Kor 1,11; 2,10). 55 Vgl. hierzu besonders Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild, Freiburg i. Br./Basel/Wien: Herder, 1993; Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2011. Joas plädiert allerdings dafür, dass man eine „Genealogie des moralischen Universalismus“ erkennen könne, die in der Epoche der entstehenden Weltgesellschaft „globalgeschichtlich“ zu rekonstruieren sei; vgl. Ders., Im Bannkreis der Freiheit. Religion nach Hegel und Nietzsche (wie Anm. 16), 602ff. 56 Anicius Manlius Torquatos Severinus Boethius (um 480–um 524): der bedeutendste lateinische Autor der Spätantike.

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„Gott ist Geist“ (Joh 4,24)

folgenden Gedankengang leiten. In einem ersten Schritt werde ich überlegen, was wir meinen, wenn wir die Seinsart des Menschen mit Hilfe und im Lichte des Begriffsworts Person charakterisieren (1.5.1). In einem zweiten Schritt werde ich die Gründe prüfen, mit denen Friedrich Schleiermacher eine Lehre von Gottes immanenter Trinität als unvereinbar mit dem Gegenstand einer Dogmatik des christlichen Glaubens hinterfragte (1.5.2). Schließlich werde ich mit Rücksicht auf Schleiermachers Gründe versuchen, eine Lehre von Gottes immanenter Trinität als Lehre vom Person-Sein des dreieinen Gottes zu entfalten. Sie möchte eine Antwort auf die Frage geben, ob wir – und wenn ja, in welcher Weise wir – in der Erfahrung des Christus-Glaubens das Subjekt des göttlichen Waltens in dessen trinitarischer Struktur verstehen können. Für diese Antwort stütze ich mich auf die These des Johannes Duns Scotus, dass das Begriffswort Person die Seinsart Gottes und die Seinsart des Menschen in einem univoken Sinn bezeichne (1.5.3). 1.5.1

Person-Sein

Mit dem Begriffswort „Person-Sein“ versuchen wir ein Phänomen zu erfassen, das uns in und durch uns selbst erfahrbar und verstehbar gegenwärtig ist. Aus diesem Grunde ist es möglich, im Hinblick auf die Wort- und Begriffsgeschichte zumindest drei Aspekte zu benennen und festzuhalten, die dieses Phänomen für uns erhellen. Es wird sich dabei zeigen, dass das Begriffswort „Person-Sein“ für die selbstkritische Besinnung auf das Wesen und auf die Bestimmung des Christus-Glaubens fundamentale Bedeutung besitzt; und zwar deshalb, weil es uns die menschliche Weise, am Leben zu sein, im Sinne des Strukturbegriffs des Relationalen vor Augen bringt.57 An der Struktur des Relationalen hebe ich im Folgenden hervor: erstens den Aspekt des individuellen Vernünftig-Seins; zweitens den Aspekt des Seins-vonAnderem-her; und drittens den Aspekt des Sich-als-verantwortlich-Verstehens für Andere. Der Strukturbegriff des Relationalen will mithin deutlich machen, dass Wesen von der Seinsart des Menschen nicht anders existieren denn als individuelle leib-seelische Wesen, die sich selbst unmittelbar erschlossen sind als bestimmt zur Selbstbestimmung in ihren notwendigen Relationen. Ein solcher Strukturbegriff des Relationalen hat fundamentale Bedeutung deshalb, weil er das angemessene Verstehen des Sinnes des Wortes Sein betrifft: er führt dazu, das ontologische Modell

57 Vgl. hierzu Markus Mühling-Schlapkohl, Art. Relationalität: RGG4 7, 258–261. – Die folgende begriffliche Entfaltung des Phänomens des Person-Seins dient nicht zuletzt dem apologetischen Interesse, die christliche Sicht des menschlichen Person-Seins gegenüber manchen Deutungen des menschlichen Person-Seins in der aktuellen Rechtsprechung und in den Theorien der Sozialwissenschaften bzw. der psychotherapeutischen Praxis kritisch geltend zu machen. Sie hat natürlich für den Ansatz sowie für die Durchführung der Theologischen Ethik fundamentale Bedeutung (s. STh III).

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Gottes Person-Sein

des Verhältnisses von substantial und akzidentell Seiendem zu überführen in das ontologische Modell des Relationalen, das substantial Seiendes in wechselseitigen realen Relationen sehen lässt. Erstens: Um die kirchliche Lehre vom Christus-Glauben zu erklären und zu verteidigen, hat Boethius im Kontext des antiken Philosophierens die wichtige Definition geprägt, das menschliche, das leibhafte, das geschaffene Person-Sein sei zu verstehen als „naturae rationabilis individua substantia“.58 Die Definition hebt das Vernünftig-Sein bzw. die Rationalität hervor, die in der Dauer und in den Grenzen der individuellen Lebensgeschichte die Seinsart des menschlichen Daseins auszeichnet. Wir dürfen den Aspekt des Vernünftig-Seins bzw. des Rationalen auffassen als eine uns Menschen allen gegebene und gewährte Bedingung, unter der wir miteinander im Medium einer gesprochenen Sprache kommunizieren und interagieren; und zwar im Ganzen und in Bezug aufs Ganze der Lebens- und Erfahrungswelt. In allen diesen rezeptiven und spontanen Handlungsweisen erleben wir uns selbst und andere auf jeden Fall als Akteure. Soll heißen: wir erleben uns als solche Instanzen, die sich in der jeweiligen Gegenwart ihres Lebens im Verhältnis und im Gegenüber zu anderen entscheiden und entscheiden müssen, etwas zu sagen und etwas zu tun; und zwar auch dann, wenn diese Entscheidung darauf gerichtet ist, einen Rat, einen Befehl, eine Regel der Sitte oder des Rechts zu befolgen. Mit dem Aspekt des Vernünftig-Seins bzw. des Rationalen machen wir darauf aufmerksam, dass die Entscheidung der Akteure über ihre rezeptiven und spontanen Handlungsweisen jedenfalls Folgen nach sich zieht, die ihnen – sei es ganz alleine, sei es gemeinsam – zuzurechnen und gegebenenfalls zur Last zu legen sind. Nur als in diesem Sinn vernünftige Person unterliegt die menschliche, die leibhafte, die geschaffene Person der Pflicht zur Rechenschaft. Deshalb und nur deshalb besteht die Pflicht zur Rechenschaft, weil sie sich auf die unvertretbare, auf die identische, auf die je meinige Position im Ganzen einer sei es einfachen sei es komplexen kommunikativen bzw. Sozialen Konstellation bezieht. Sie bezieht sich auf den wohlverstandenen Selbststand, dessen wir uns nicht nur in allen unseren Handlungsweisen, sondern gleichursprünglich im leibhaften Schmerz und im seelischen Leid bewusst sind. Mit dem Begriffswort „Selbststand“ können wir übergehen zum zweiten Aspekt, den wir am Phänomen des Person-Seins erfassen.

58 Vgl. Boethius, Contra Eutychen et Nestorium (III, 84,1-5) („Person ist die einzelne [verstehe: die individuelle] Substanz des vernunftbegabten Seins“ [meine Übersetzung]). – Vgl. hierzu die luzide Untersuchung von Corinna Schlapkohl, Persona est naturae rationabilis individua substantia. Boethius und die Debatte über den Personbegriff, Marburg: Elwert, 1999 (MThSt; 56), bes. 10–123.

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„Gott ist Geist“ (Joh 4,24)

Zweitens: Es war Richard von St. Viktor, der die Definition des Person-Seins bei Boethius durch einen wichtigen Gesichtspunkt korrigierte. Diese Korrektur war abgeleitet vom Verständnis der trinitarischen Personen der göttlichen Wesenheit – Gottes des Vaters, Gottes des Sohnes, Gottes des Heiligen Geistes – in ihrer jeweiligen Relation. In seinem Sinne bedeutet der Begriff „Person-Sein“ soviel wie „In-einer-Ursprungsbeziehung-vom-Anderen-her-Sein“.59 Bevor ich dazu übergehe, das angemessene Verständnis des trinitarischen Person-Seins Gottes zu entwickeln, sei auf die Frage eingegangen, inwiefern der bisher besprochene Aspekt des individuellen vernünftigen bzw. rationalen Selbststands durch den Aspekt des „Vom-Anderen-her-Seins“ tatsächlich präzisiert wird. Wir machen uns diesen Aspekt in vierfacher Hinsicht plausibel. Zum einen drängt sich uns der Aspekt des „Vom-Anderen-her-Seins“ auf, indem wir uns der Herkunft als vernünftige bzw. als rationale leibhaft existierende Person aus der Geschlechtsgemeinschaft unserer Mutter und unseres Vaters und aus dem Getragen-, Geboren- und Gesäugt-Werden im und vom mütterlichen Leib erinnern, ohne das die relativ selbständige Lebens- und Bildungsgeschichte eines Menschen unmöglich wäre. Zum andern ist daran zu denken, dass die Geschlechtsgemeinschaft unserer Eltern ihrerseits eingebettet ist in die langfristigen Formen des Zusammenlebens: sei es einer Familie, sei es eines Volkes, sei es einer Gemeinschaft von Völkern. Im Rahmen meiner Theorie der Struktur des Erfahrens (vgl. STh I, 197–213) hatte ich vor allem hingewiesen auf die elementare Bedeutung der Muttersprache, der gesprochenen Sprache einer Sprachgemeinschaft als des notwendigen Mediums, ohne die die relativ selbständige Teilnahme an der Geschichte eines Gemeinwesens unvorstellbar ist.60

59 Richard von St. Viktor (gest. 10. März 1173 zu Paris; Prior der Schule der Abtei von St. Viktor in Paris seit 1162); vgl. Martin Anton Schmidt, Art. Richard von St. Viktor: TRE 29, 191–194. Richard definiert das trinitarische Person-Sein als „existens per se solum iuxta singularem quendam rationalis existentiae modum“ („für sich existierend ausschließlich in einer singulären Weise vernünftiger Existenz“ [meine Übersetzung]); und er präzisiert den Term des Singulären, indem er auf die jeweilige Ursprungsbeziehung achtet, in der die Person Gottes des Vaters, die Person Gottes des Sohnes bzw. des Wortes und die Person Gottes des Heiligen Geistes zueinander existieren. Im Lichte der Unterscheidung zwischen Gottes Wesen und Gottes dreieinem Person-Sein gilt daher, dass „Person-Sein“ soviel bedeutet wie „Selbststand“ im „Gegenüberstand“; vgl. Heribert Mühlen, Sein und Person nach Johannes Duns Scotus, Werl: Dietrich-Coelde-Verlag, 1954, 94. 60 Die Herkunft der Person aus ihrer Heimat – aus der Heimat der Eltern-Kind-Beziehung, aus der Heimat eines Landes bzw. eines Volkes und aus der Heimat einer Sprachgemeinschaft – ernst zu nehmen, schließt natürlich eine kritisch-reflektierende und kritisch-distanzierende Bewertung ihrer möglichen und ihrer tatsächlichen Fehlentwicklungen nicht aus. Darauf ist zurückzukommen in der Theologischen Ethik (STh III).

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Gottes Person-Sein

Zum Dritten ist es insbesondere die Erfahrung der Liebe und der Freundschaft, in der wir den Aspekt des „Vom-Anderen-her-Seins“ aufs innigste und aufs heftigste erleben. Sie zeigt uns den Affekt. Sie zeigt uns die Anziehungskraft, die von dem je individuellen Selbststand eines anderen Mannes oder einer anderen Frau ausgeht und die für uns, für unseren je individuellen Selbststand, den Genuss des Guten, überwältigendes Glück und tiefe Befriedigung verspricht. Schließlich sind wir uns im unmittelbaren Selbstbewusstsein unseres je individuellen Freiheitsgefühls dessen bewusst, dass die Gemeinschaftsformen dieser unserer Herkunft selbst und als solche nicht jener Grund und Ursprung sind, dem wir das individuelle Dasein eines vernünftigen bzw. eines rationalen Selbststands zu verdanken haben. Sie sind es nicht nur deshalb nicht, weil sie sich ihrerseits einem Herkommen verdanken, das faktisch nur notwendig im Sinne des Kontingenten ist (s. 1.4); sie sind es insbesondere auch deshalb nicht, weil sie da sein und wirksam sein können nur innerhalb des Geschehens der Welt und des Geschehens in der Welt. Insofern ist es jedenfalls dem Christus-Glauben im Kontext der Glaubensgeschichte Israels als wahr gewiss, dass jenes individuelle Dasein eines vernünftigen bzw. eines rationalen Selbststands von jenem Grund und Ursprung her ist, welcher die Macht hat, die singuläre Kontingenz des Anfangs zu wollen, zu wählen und in ihrem Richtungssinn zu realisieren. Geschaffenes Person-Sein ist gleichursprünglich von geschaffenem Person-Sein und vom schöpferischen Grund und Ursprung her, den wir mit dem Wort „Gott“ benennen. Bevor ich einen dritten Aspekt des menschlichen, des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins thematisiere, sei festgehalten: Wenn wir geschaffenes Person-Sein in dem gerade entwickelten Sinn als VonAnderem-her-Sein definieren, stoßen wir auf den interessanten Sachverhalt, dass dieses Merkmal des Person-Seins auf eine analoge Weise einer Notwendigkeit unterliegt. Geschaffenes, vernünftiges, zur Rechenschaft verpflichtetes Person-Sein existiert nicht nur faktisch notwendig in Relation zu jeweils anderem geschaffenen, vernünftigem, zur Rechenschaft verpflichteten Person-Sein; es existiert auch und vor allem in Relation zum schöpferischen Person-Sein Gottes, das wir als schlechthin notwendiges und gleichursprünglich über sich selbst bestimmendes Sein verstanden. Das aber heißt nichts anderes als dies, dass Gottes schöpferisches Person-Sein sich selbst in Relation setzt und in Relation erhält: in diejenige Relation, die Gottes schöpferisches Person-Sein durch Leid, durch Schuld, durch Tod hindurch dauern lässt. Von dieser wohlverstandenen Relativität des schlechthin notwendigen Seins Gottes handelt die ganze systematische Besinnung auf die Wahrheit des Christus-Glaubens; und ihretwegen kommt ihr ihre orientierende Rolle für die religiöse Kommunikation des Evangeliums zu, die im Gefüge aller theologischen Disziplinen zu beachten ist.

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Drittens: Indem wir uns in der jeweiligen Gegenwart des Lebens von anderem geschaffenen Person-Sein und vom schöpferischen Sein Gottes her in relativem Selbststand als vernünftiger Akteur unserer rezeptiven und spontanen Handlungsweisen erleben, erleben wir uns de facto in der Grundsituation des Verantwortlich-Seins. Mit diesem Ausdruck meine ich das dritte Merkmal menschlichen Person-Seins, das sich bemerkenswerter Weise erst in der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des biblischen Offenbarungszeugnisses findet.61 Als solches ist es in den mannigfachen einzelnen Konstellationen der Lebensgeschichte immer schon vorausgesetzt, in denen wir eine bestimmte und begrenzte Verantwortlichkeit zu übernehmen haben bzw. in denen wir andere – wie z. B. vor Gericht – zur Verantwortung ziehen. Es ist darin vorausgesetzt, weil und sofern die menschliche Person als vernünftige bzw. als rationale Person in der Tiefe des unmittelbaren Selbstbewusstseins ihres relativen und begrenzten Frei-Seins inne ist, und zwar als des ihr schöpferisch gewährten Frei-Seins. Wäre ihr ihr relatives und begrenztes Frei-Sein nicht bewusst, so würde sie weder für sich selbst verantwortlich sein noch andere zur Verantwortung ziehen können. Insofern ist der Begriff Verantwortung mit Recht ein Grundbegriff der Theorie des Ethischen geworden.62 Der Aspekt des Verantwortlich-Seins gründet mithin im Aspekt des vernünftigen bzw. des rationalen Selbststands der Person ebenso wie im Aspekt ihres „Vom-Anderen-her-Seins“. Er hebt das „Sein-für-Andere“ in den notwendigen Beziehungen ihres Weltverhältnisses und ihres Gottesverhältnisses hervor. Er manifestiert sich in der Fähigkeit bzw. in der Notwendigkeit zu antworten: nämlich auf die Frage nach den Gründen unserer Handlungsweise sowie nach deren lebensdienlichen oder auch lebensschädlichen Folgen. In dieser Fähigkeit bzw. in dieser Notwendigkeit zu antworten wird uns offenbar, dass jegliche Lebensgeschichte danach zu messen und danach zu beurteilen ist, ob sie und inwiefern sie der Aufgabe gerecht wird und gerecht geworden ist, das hohe Gut des menschlichen Person-Seins zu achten, zu anerkennen, zu fördern und zu vervollkommnen und so den schöpferischen Grund und Ursprung des menschlichen Person-Seins zu ehren und zu lieben. 61 Vgl. hierzu nochmals Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person (wie Anm. 55), bes. Teil I: Die Entstehung des modernen Freiheitsbegriffs aus dem Geist der mittelalterlichen Philosophie (23–66). Der Autor interpretiert hier diejenige Geschichte des Begriffs der Person, die das menschliche Person-Sein als „moralisches Sein“, d. h. als die Bewegung des menschlichen Willens auf das Gute (aber auch auf das Böse) hin versteht. 62 Vgl. hierzu bes. Wolfgang Huber, Konflikt und Konsens. Studien zur Ethik der Verantwortung, München: Kaiser, 1990 (bes. Teil II. Ethik der Verantwortung [133–250]); Konrad Stock, Einleitung (bes. Teil III: Grundriss der Theologischen Ethik); Eilert Herms. Art. Verantwortung/Verantwortlichkeit: RGG4 8, 932–933; Ders., Art. Verantwortungsethik: ebd. 933–934. – Vgl. zum Thema insbesondere auch das bedeutende Werk von Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M.: Insel Verlag, 1979.

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Gottes Person-Sein

Die Fähigkeit bzw. die Notwendigkeit zu antworten weist daher auf die Erfahrung des Gewissens hin, in der wir uns gleichursprünglich vor uns selbst, vor den jeweils anderen unseresgleichen und vor dem schöpferischen Grund und Ursprung wissen und thematisieren; es ist ja schließlich dieser, der uns wie allen andern, die uns in menschlicher Gestalt begegnen, das hohe Gut des menschlichen Person-Seins gewährt. In diesem phänomenologisch aufgeklärten Sinn wird deutlich, dass und in welcher Weise der Begriff des menschlichen, des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins unzerstörbar forensischen Charakter besitzt. Dass und wie die religiöse Kommunikation des Evangeliums sich auf die Fähigkeit bzw. auf die Notwendigkeit des Antwortens bezieht und jedem Menschen ins Gewissen redet, ist für die hier versuchte Form der systematischen Besinnung auf die Wahrheit des Christus-Glaubens elementar (vgl. Röm 2,15; vgl. STh I, 245–257). Wir halten fest: Um den Weg zum Verständnis des göttlichen Person-Seins zu bahnen, bin ich vom Zentrum des christlichen Glaubens an Gott ausgegangen, in dem wir sei es im Gebet, sei es in der Feier des Gottesdienstes uns vor Gott, vor Gottes Angesicht verstehen und uns der verborgenen Gegenwart des göttlichen Wesens ausdrücklich gewärtig sind. Wenn wir in diesem Zentrum von Gott reden und mit Gott reden, nehmen wir ohne weiteres Gottes Person-Sein in Anspruch. Nun fragt es sich natürlich, ob – und wenn ja, in welcher Weise – das Phänomen des menschlichen, des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins und der Begriff „Person“ uns Gottes Sein verständlich macht. Bevor ich nun im Folgenden diese Frage zu beantworten versuche, sei der bisherige Gedankengang konzentriert zusammengefasst. Ausgehend von den begrifflichen Bestimmungen, die wir Boethius und Richard von St. Viktor verdanken und die ich mit Hilfe und im Lichte der Einsicht in die Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins präzisierte, hatte ich das Phänomen der menschlichen Weise da zu sein nach drei Aspekten unterschieden. Ich machte – zum einen – darauf aufmerksam, dass sich die menschliche Weise da zu sein nicht anders denn als vernünftige bzw. als rationale Weise eines relativen Selbststands verstehen lässt. Darunter dürfen wir die Fähigkeit bzw. die Notwendigkeit verstehen, je in der jeweiligen Gegenwart des Lebens miteinander sprachlich zu kommunizieren und praktisch zu interagieren. Ich nannte die menschliche Weise da zu sein vernünftig bzw. rational, weil sie kraft ihrer Basis im unmittelbaren SichGegenwärtig-Sein über ihr sprachliches Kommunizieren und über ihr praktisches Interagieren entscheidet und entscheiden muss. Die menschliche Weise, als jeweils individuelles vernünftiges bzw. rationales Lebewesen relativ eigenständig da zu sein und faktisch da sein zu müssen, schließt allerdings – zum andern – den Aspekt des „Vom-Anderen-her-Seins“ ein. Sie ist Dasein, das auf anderes Dasein bezogen ist: nicht nur auf anderes geschaffenes Dasein im Ganzen des Geschehens der Welt und des Geschehens in der Welt,

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sondern auch, und zwar im radikalen Sinne, auf das schlechthin notwendige und gleichursprünglich über sich selbst bestimmende Sein des göttlichen Wesens. Es ist deshalb der menschlichen Weise da zu sein faktisch notwendig aufgegeben, auf diese asymmetrische Bezogenheit zu antworten – will sagen: es ist uns Menschen allen faktisch notwendig aufgegeben, die jeweils eigene im Hier und Jetzt vernünftig zu gestaltende Geschichte unseres Lebens als Gabe des göttlichen Wesens zu verstehen und sie im ausgesprochenen und unausgesprochenen Dank für dieses unser „VomAnderen-her-Sein“ zu realisieren.63 Ich bin mit diesen letzten Worten bereits zum dritten Aspekt des angemessenen Begriffs des menschlichen Person-Seins übergegangen: zum Aspekt des Verantwortlich-Seins. Ich hatte zeigen wollen, dass uns die Fähigkeit bzw. die Notwendigkeit zu antworten stets mit einem Gegenüber konfrontiert, das uns die Frage nach den Gründen, nach den Folgen und insbesondere nach der sittlichen Qualität der Lebensführung stellt. Insofern weist die Suche nach dem angemessenen Begriff des menschlichen Person-Seins auf die Erfahrung des Gewissens hin, in der wir uns gleichursprünglich vor uns selbst, vor den jeweils anderen unseresgleichen und vor dem schöpferischen Grund und Ursprung unserer selbst und alles Realen thematisieren. Miteinander erfassen diese drei Aspekte den Begriff des menschlichen PersonSeins als ein „asymmetrisches Relationsgefüge“.64 Auch wenn uns diese drei Aspekte nur begegnen in der Weise der individuellen Person, da zu sein in ihrem Hier und Jetzt, repräsentieren sie doch das Allgemeine, das uns die individuelle Person zu erkennen und zu achten lehrt. In diesem Sinne dürfen wir für diese drei Aspekte die Grundanschauung eines Realismus in Anspruch nehmen.

63 Vgl. Martin Luther, WA 10/I,2; 61,2-6: „Wir können Gott nichts anderes geben als Lob und Dank, zumal wir alles andere von ihm empfangen, es sei Gnade, Wort, Werk, Evangelium, Glaube und alle Dinge. Das ist auch der einzige, rechte, christliche Gottesdienst: Loben und Danken.“ – Vgl. hierzu Bernd Wannenwetsch, Art. Dank: RGG4 2, 562–563. 64 So Eilert Herms, Art. Person IV. Dogmatisch (wie Anm. 53), 1126. – In meiner Darlegung dieser drei Aspekte, mit deren Hilfe und in deren Licht wir menschliches und d. h. leibhaftes Person-Sein als Phänomen erfassen, habe ich abgesehen von dem fundamentalen Sachverhalt, dass und in welcher Weise menschliches und d. h. leibhaftes Person-Sein als eine spezifische Weise des Sich-gegenwärtigSeins heraussteht aus dem Prozess des Werdens und des Dauerns der „apersonalen Gegenwart“ des atomaren, des chemischen und des biotischen bzw. des animalischen Geschehens; vgl. hierzu jetzt Eilert Herms, STh (Bd. 1), 139ff.; 141ff. Ich komme darauf zurück im Kapitel 2: Der christliche Glaube an Gott den Schöpfer. Ebenso habe ich davon abgesehen, ausdrücklich solche Situationen zu benennen, in denen wir durch akute bzw. durch langandauernde Bewusstlosigkeit (Koma) oder durch schwere Erkrankung der Gehirnfunktionen (Demenz) gehindert sind, das geschaffene, das leibhafte, das selbstbewusst-freie Person-Sein auch zu leben.

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Gottes Person-Sein

1.5.2

Schleiermachers Frage

Weil der Christus-Glaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche – im ethischen Volk Gottes aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) – dessen gewiss ist, dass ihm das göttliche Wesen in der dreifachen Art seines Waltens begegnet, dürfen wir Gottes „ökonomische Trinität“ als Gottes Dreifaltigkeit bezeichnen. Jedoch: wäre es nicht weise, die nachdenkende Besinnung auf das Wesen und auf die Bestimmung des Christus-Glaubens bei dem Thema stehen zu lassen, das wir mit dem Begriffswort Dreifaltigkeit meinen? Kann es wirklich eine weitere und tiefere Erkenntnis des göttlichen Wesens geben, die die Wahrheitsgewissheit des Christus-Glaubens im Hier und Jetzt des angefochtenen und trostbedürftigen Lebens übersteigt? Würde es nicht genügen, mit dem Grundgedanken der Theologie des Sabellius zu sagen, dass Gottes absolute Wesenheit nicht anders begegnet als in der dreifachen Art ihres Waltens: nämlich des schöpferischen, des versöhnenden und des vollendenden Waltens? Muss nicht jeder Versuch scheitern, darüber hinaus das „Innen“ bzw. das „Selbst-Sein“ des göttlichen Wesens zu denken und sprachlich zu symbolisieren? Bevor ich mich erkühne, trotz des Gewichts dieser Fragen den Christus-Glauben als das Leben aus dem radikalen Grundvertrauen in die absolute Wesenheit des dreieinen Gottes verständlich zu machen, ist es wohl angebracht, die kritischen Bedenken zur Lehre „Von der göttlichen Dreiheit“ und zu ihrer Geschichte zu erwägen, mit denen Friedrich Schleiermacher die „Glaubenslehre“ schloss. Dies umso mehr, als Schleiermacher es keineswegs bei diesen kritischen Bedenken beließ, sondern seine Analyse mit einem Blick auf eine „auf ihre ersten Anfänge zurükkgehende Umgestaltung“ (CG2 § 172 L [II, 469 = KGA I.13,2, 527]) endigte.65 Meine Interpretation wird deshalb zu der Frage führen, ob – und wenn ja, in welcher Weise – eine solche Umgestaltung wohl zu leisten wäre. Erstens: Schleiermacher betrachtet eine bestimmte Form der Trinitätslehre als den „Schlußstein der christlichen Lehre“ (§ 170,1 [II, 459 = KGA I.13,2, 516]). Nämlich diejenige Form, welche die Darstellung des Christus-Glaubens – des christlichfrommen Selbstbewusstseins – gemäß der Gliederung der „Glaubenslehre“ als das Leben im Bewusstsein der göttlichen Gnade zusammenfasst. Von dieser Form

65 Vgl. zum Folgenden Friedrich Schleiermacher, CG2 §§ 170–172 (II, 458–473 = KGA I.13,2, 170–532; Belege aus diesem Abschnitt sind im Text notiert); Ders., Über den Gegensatz zwischen der Sabellianischen und der Athanasianischen Vorstellung von der Trinität (1822): KGA I.10, 223–306. – Vgl. hierzu bes. Eilert Herms, Schleiermachers Umgang mit der Trinitätslehre, in: Michael Welker und Miroslav Volf (Hg.), Der lebendige Gott als Trinität. Jürgen Moltmann zum 80. Geburtstag, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2006, 123–155.

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behauptet der Autor allerdings, sie sei keine „unmittelbare Aussage über christliches Selbstbewußtsein, sondern nur eine Verknüpfung mehrerer solcher“ (§ 170 L [II, 458 = KGA I.13,2, 514]). Sie verknüpft nach seiner Ansicht die zwei wesentlichen Momente des Christus-Glaubens in der Christus-Gemeinschaft der Kirche, der sich selbst nicht anders denn als von Gott selbst gewirkt versteht: nämlich erstens, dass der Christus-Glaube des wahren Seins Gottes im Christus Jesus gewiss ist (vgl. § 96,3 [II, 57 = KGA I.13,2, 69]); und zweitens, dass der Christus-Glaube in derselben Weise der Gegenwart des göttlichen Wesens im Gemeingeist der Kirche gewiss ist (vgl. § 116,3 [II, 219 = KGA I.13,2, 243]). Diejenige Form der Trinitätslehre, die den Christus-Glauben und die in ihm erlebte wirksame Erlösung auf die „Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur“ (§ 170,1 [II, 458 = KGA I.13,2, 514f.]) zu deren Vollendung und Vollkommenheit bezieht, ist demnach sachgemäß und korrekt; denn es ist ihre Intention, den Christus-Glauben der Identität des göttlichen Waltens in jenen beiden gleich wesentlichen Momenten zu vergewissern. Zweitens: Von dieser Intention sieht Schleiermacher die Intention der tradierten kirchlichen Lehre von Gottes immanenter Trinität tief geschieden; denn sie behaupte nichts Geringeres als die „Voraussetzung einer ewigen Sonderung im höchsten Wesen“, die zu dem unbegreiflichen Dogma der „Einheit des Wesens und Dreiheit der Personen“ geführt habe (§ 170,2 [II, 460 = KGA I.13,2, 516]). Von diesem Dogma urteilt der Autor, es sei auf keinen Fall eine „Aussage über ein frommes (verstehe: ein christlich-frommes) Selbstbewußtsein“ (ebd.); und zwar deshalb nicht, weil christlich-frommes Selbstbewusstsein sich allein dem „Eindruck, welchen das Göttliche in Christo machte“ (ebd.) bzw. der Integration in den Gemeingeist der Christus-Gemeinschaft verdankt. Weil die Geschichte der kirchlichen Lehre von Gottes immanenter Trinität diesen Erkenntnisgrund der Glaubenssprache nicht beachtet, bemüht sie sich um eine „transzendente(.)“ bzw. um eine „übersinnliche(.) Tatsache“ (§ 170,3 [II, 461 = KGA I.13,2, 461]), zu der sie überhaupt keinen Zugang haben kann. Ganz abgesehen von dem Einwand, der den Erkenntnisgrund der Glaubenssprache betrifft, unterzieht nun Schleiermacher die begriffliche Fassung des Dogmas von Gottes immanenter Trinität einer detaillierten Kritik (§ 171 [II, 462–469 = KGA I.13,2, 519–527]). Ohne auf die herausragenden Typen der theologischen Entfaltung dieses Dogmas näher einzugehen, konstatiert sie das seltsam Ungenaue und Schwankende der Unterscheidung zwischen der Einheit des Wesens und der Dreiheit der trinitarischen Personen. In diesem seltsam Ungenauen und Schwankenden entdeckt nun Schleiermacher als das Grundproblem des Dogmas und seiner bisherigen theologischen Entfaltung dies, dass es den elementaren Gesichtspunkt der „Gleichheit der Personen“ (§ 171,5 [II, 468 = KGA I.13,2, 526]) nicht zur Geltung bringe. Vielmehr enthält es „insgeheim“ (§ 171,5 [II, 469 = KGA I.13,2, 527])

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Gottes Person-Sein

eine monarchische bzw. eine monotheistische und damit asymmetrische Pointe, insofern es die Einheit des göttlichen Wesens mit der Person Gottes des Vaters identifiziert und die Personen Gottes des Sohnes und Gottes des Geistes de facto von der Person Gottes des Vaters abhängig sein lässt.66 Das Dogma von Gottes immanenter Trinität scheint in sich widersprüchlich zu sein, weil es dahin tendiert, allein die Person Gottes des Vaters als absolute „Ursächlichkeit“ zu bestimmen und eben nicht in gleicher Weise die Person Gottes des Sohnes und Gottes des Heiligen Geistes. Drittens: Nun mündet Schleiermachers kritische Analyse in die Frage, ob denn – und wenn ja, in welcher Weise – eine „Umgestaltung“ der Trinitätslehre möglich sei, die den Bedenken der Kritik Beachtung schenkt (§ 172 [II, 469–473 = KGA I.13,2, 527–532]). Diese Frage hat einen unüberhörbaren skeptischen Unterton. Es scheint nach Schleiermacher nämlich zweifelhaft zu sein, jemals eine allgemein konsensfähige „Formel für das Sein Gottes an sich unterschieden von dem Sein Gottes in der Welt (verstehe: des Menschen)“ (§ 172,1 [II, 470 = KGA I.13,2, 528]) ausfindig zu machen; und zwar deshalb, weil sich eine solche Formel allenfalls auf dem Wege des „spekulativen (verstehe: des ontologischen bzw. des metaphysischen)“ Denkens (ebd.) und nicht auf dem Wege des Nachdenkens über das dem Christus-Glauben Gegebene würde entwickeln lassen. Für diese Entwicklung regt der Autor an, die Trinitätslehre wie gezeigt zum „Schlußstein“ einer christlichen Glaubens- und damit implizit auch einer christlichen Sittenlehre zu gebrauchen; denn was dem Christus-Glauben in der Christus-Gemeinschaft der Kirche als wahr gewiss ist – die „Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur“ (§ 170,1 [II, 458 = KGA I.13,2, 514f.]) –, geht in dessen Wahrheitsbewusstsein allen näheren Bestimmungen der Trinitätslehre nun einmal voran. Als Summe unseres Bewusstseins der göttlichen Gnade und ihrer eschatischen Tendenz jedoch hat sie ihre unentbehrliche dogmatische Funktion.

66 Schleiermacher beruft sich für diese Diagnose insbesondere auf Origenes. – Eine sorgfältige kritische Analyse der „griechischen“ Trinitätslehre hat Schleiermacher vorgelegt in der o. Anm. 65 erwähnten Abhandlung „Über den Gegensatz zwischen der Sabellianischen und der Athanasianischen Vorstellung von der Trinität“, die freilich von Augustins Trinitätslehre und von deren Geschichte im lateinischen Christentum und in der Theoriebildung der dominikanischen und der franziskanischen Scholastik absieht. Augustin hatte in seinem großen Werk „De trinitate“ (399–419) mit Entschiedenheit gerade die „Gleichheit“ des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes betont: „quod pater et filius et spiritus sanctus unius substantiae inseparabili aequalitate divinam insinuent unitatem, ideo quod non sint tres dii, sed unus deus…“ („… dass die Worte „Vater“ und „Sohn“ und „Heiliger Geist“ des einen Wesens göttliche Einheit in untrennbarer Gleichheit bezeichnen, und dass sie deshalb nicht drei Götter sind, sondern der eine [verstehe: der einzige] Gott.“ [meine Übersetzung]). (De trinitate I, 4,7).

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„Gott ist Geist“ (Joh 4,24)

Über diese Anregung hinaus hat uns der Autor immerhin zwei Andeutungen für eine künftige Trinitätslehre zu bieten, die das Problem des „spekulativen“ Denkenund Erkennen-Wollens des göttlichen Wesens vermeiden würden. Beide Andeutungen imaginieren eine Sicht der Einheit von Offenbarungstrinität und Wesenstrinität, ohne auch nur das Geringste darüber mitzuteilen, wie sie zu entwickeln wäre. Die erste dieser Andeutungen legt die Frage nahe, ob jene unentbehrliche dogmatische Funktion des „Schlußsteins“ nicht auch im Rahmen der sabellianischen „Hypothese“ (§ 172,3 [II, 472 = KGA I.13,2, 531]) zu leisten wäre; vorausgesetzt, man würde das Bewusstsein des Christus-Glaubens ernst nehmen, dass die wirksame Gegenwart des göttlichen Wesens in der Zeit nur als die zeitliche Erfüllung des göttlichen und also unveränderlichen Ratschlusses in Gottes Ewigkeit vorzustellen und deshalb nicht dem Wandel Unterworfenes vorzustellen sei (§ 172,3 [II, 472f. = KGA I.13,2, 532]). Schleiermacher hält mithin eine Fassung des Begriffs der Trinität für denkbar, welche die monarchische, die monotheistische bzw. die asymmetrische Pointe der Tradition überwindet durch die Besinnung auf den ewigen Ursprung des Bewusstseins der Erlösung und dessen eschatischer Tendenz (vgl. § 116,2 [II, 218f. = KGA I.13,2, 242f.]). Die zweite dieser Andeutungen zielt darauf ab, die Glaubenssprache der Heiligen Schrift genauer zu nehmen, als dies das Symbol der Synoden von Nicaea und Konstantinopel getan habe. Die Achtung vor der Glaubenssprache der Heiligen Schrift könnte womöglich dazu führen, die trinitarischen Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes gerade nicht im Sinne der Differenz zwischen der Einheit des Wesens und der Dreiheit der Personen zu deuten, sondern jeweils im Sinne der „Einheit des göttlichen Wesens selbst“ (§ 172,3 [II, 473 = KGA I.13,2, 532]), die als solche eben als der ewige Ursprung des Bewusstseins der Erlösung vorzustellen ist. Viertens: Im Rückblick auf die vorgelegte Interpretation sei nun gefragt, ob Schleiermachers kritische Bedenken gegen die tradierte orthodoxe Formel des Begriffs der dreieinen Gottes und ob seine Anregungen zur künftigen Umgestaltung der Trinitätslehre überzeugen. Zum einen gebe ich Schleiermacher darin recht, dass das Bekenntnis des ChristusGlaubens in der Christus-Gemeinschaft der Kirche aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) zu dem dreifaltigen und dreieinen Gott sich nicht als Resultat des metaphysischen Denkens bloß als solchen ergibt. Zwar ist das Denken des Einen bzw. das Denken des Unendlichen als des schlechthin notwendigen Seins nicht etwa unerheblich für das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens; aber wie die Geschichte dieses Denkens und wie die verschiedenen Wege dieses Denkens zeigen, entbehren sie der konkreten Bestimmtheit des göttlichen Wesens als des Gottes für uns – also: des göttlichen In-Gemeinschaft-sein-Wollens – und neigen dazu, den

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Gottes Person-Sein

Inbegriff des Kontingenten als schlechthin notwendig anzunehmen.67 Der ChristusGlaube, der der wirksamen Gegenwart Gottes gewiss ist, ist sich der absoluten Wesenheit Gottes gewiss, weil sie sich ihm immer wieder neu als Wahrheit und als Gutheit erschließt (s. 1.5.3.3.3; 1.5.3.3.4). Insofern hat es die Besinnung auf das GottVerstehen des Christus-Glaubens zu tun mit der Geschichte der Selbstoffenbarung des göttlichen Wesens, die im Übrigen auch das metaphysische Denken des Einen bzw. des Unendlichen provoziert, wie insbesondere die Trinitätslehre beweist, die Georg Wilhelm Friedrich Hegel in den „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“ zwischen 1821 und 1831 vorgetragen hatte.68 Zum andern scheint mir Schleiermacher mit sicherem Blick das Grundproblem gesehen zu haben, das die sog. „neunicaenischen“ Formeln der Synoden von Nicaea und von Konstantinopel der Geschichte der Trinitätslehre aufgebürdet haben. Dieses Grundproblem besteht in der monarchischen, in der monotheistischen bzw. in der asymmetrischen Pointe des Begriffs des einen Wesens, die die Person Gottes

67 Das zeigt besonders klar und deutlich der metaphysische Grundgedanke Baruch de Spinozas (s. o. Anm. 41). 68 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II/2: Die absolute Religion. Hg. von Georg Lasson, Hamburg: Felix Meiner, 1966 (PhB; 63). – Im einleitenden 1. Kapitel „Die begriffliche Bestimmung dieser Stufe“ merkt Hegel kirchen- und theologiekritisch an, „daß die Grundlehren des Christentums aus der Dogmatik größtenteils verschwunden sind. Nicht allein, aber doch vornehmlich die Philosophie (verstehe: die Philosophie Hegels) ist es, die jetzt wesentlich orthodox ist; die Sätze, die immer gegolten haben, die Grundwahrheiten des Christentums werden von ihr erhalten und aufbewahrt.“ (26f.). Nach der Edition von Walter Jaeschke lautet diese kritische Passage: „Durch solch endliches Denken und Erfassen des Göttlichen, dessen, was an und für sich ist, durch dies endliche Denken des absoluten Inhalts ist es geschehen, daß die Grundlehren des Christentums aus der Dogmatik größtenteil verschwunden sind. Nicht allein, aber doch vornehmlich die Philosophie ist es, die jetzt wesentlich orthodox ist; die Sätze, die immer gegolten haben, die Grundwahrheiten des Christentums werden von ihr erhalten und aufbewahrt.“ Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 3: Die vollendete Religion. Neu hg. von Walter Jaeschke. Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1995 (PhB; 461), 188 (nach der Vorlesung von 1827). – Schon in der „Einleitung“ zum „Begriff der Religionsphilosophie“ hatte Hegel ausgeführt: „Gott ist aber nur als Geist zu fassen, und dies ist kein leeres Wort, keine oberflächliche Bestimmung. Soll er uns aber als Geist kein leeres Wort sein, so muß er als dreieiniger Gott (im Original gesperrt) gefaßt werden; dies ist dasjenige, wodurch die Natur des Geistes expliziert wird. Gott wird so gefaßt, indem er sich zum Gegenstande seiner selbst macht, zu dem Sohne, daß er dann in diesem Gegenstande bleibt, ferner in dieser Unterschiedenheit seiner von sich selbst zugleich den Unterschied aufhebt und in ihm sich selbst liebt, d. h. identisch mit sich ist, in dieser Liebe seiner mit sich zusammengeht. Erst das ist Gott als Geist … Nur die Dreieinigkeit ist die Bestimmung Gottes als Geist; ohne diese Bestimmung ist Geist ein leeres Wort.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I/1: Begriff der Religion. Hg. von Georg Lasson, Hamburg: Felix Meiner, 1966 [PhB; 59], 41f.). – Zu Hegels philosophischer Fassung der Dreieinheit des absoluten Geistes vgl. bes. Josef Simon, Art. Hegel/Hegelianismus I. Hegel: TRE 14, 530–550; 538–542.

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„Gott ist Geist“ (Joh 4,24)

des Vaters de facto den Personen Gottes des Sohnes und Gottes des Heiligen Geistes überordnet. Die von Schleiermacher avisierte Umgestaltung der Trinitätslehre müsste insbesondere versuchen, jene „Gleichheit der Personen“ (§ 171,5 [II, 468 = KGA I.13,2, 526]) anzusprechen, die womöglich doch die Intention des Dogmas war. Der Gedanke eine solchen „Gleichheit der Personen“ müsste sich entwickeln lassen aus der Besinnung auf den Christus-Glauben selbst, der des ewigen Ursprungs seiner Gemeinschaft mit dem göttlichen Wesen und insofern einer ursprünglichen Entscheidung des göttlichen Wesens für das Sein in dieser Gemeinschaft inne ist. Zum Dritten aber gilt es zu beachten, dass Schleiermachers Andeutungen zur Umgestaltung der Trinitätslehre Halt machen vor jeder Bestimmung des Verhältnisses der „Gleichheit der Personen“ in Gottes absoluter Wesenheit. Ausdrücklich sieht er es als aussichtslos an, eine konsensfähige Formel zu finden, die imstande wäre, „die erste Aufgabe dieser Lehre (verstehe: der Trinitätslehre), daß dieses eigentümliche Sein Gottes in anderem (verstehe: in Christus und im Gemeingeist der Kirche) bestimmt werden müsse in seinem Verhältnis sowohl zu dem Sein Gottes an und für sich, als zu dem Sein Gottes in bezug auf die Welt überhaupt“ (§ 172,1 [II, 469 = KGA I.13,2, 528]), zu lösen. Seine Idee einer Trinitätslehre als „Schlußstein“ der Besinnung auf das Wesen und die Bestimmung des Christus-Glaubens konzentriert sich und beschränkt sich auf das Gottesbewusstsein der Erlösung, ohne doch das Gottesbewusstsein der Erlösung ausdrücklich zurückzubeziehen auf jenes „fromme Selbstbewußtsein“, dessen Erfahrung der gewährten und begrenzten Dauer die Lehre von der Schöpfung und von der Erhaltung der Welt des Menschen aufnimmt (vgl. § 32 L [I, 171 = KGA I.13,1, 201]). Das hat freilich nichts Geringeres zu bedeuten als dies, dass die Einheit zwischen dem göttlichen Wesen, dessen wir Menschen alle im Gefühl der uns überantworteten Freiheit implizit gewiss sind, und dem göttlichen Wesen, dessen Erwählung zur selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott uns im Christus Jesus und in dessen Gegenwart im Gemeingeist der Kirche wirkmächtig begegnet, sprachlich und begrifflich nicht zu fassen ist. Deshalb fragt es sich: ist uns in der Besinnung auf das Wesen und auf die Bestimmung des Christus-Glaubens ein Begriff der göttlichen Dreieinigkeit zu denken möglich, der dem Postulat der „Gleichheit“ Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes gerecht zu werden vermag? Ist ein Begriff der Einzigkeit des göttlichen Wesens im transzendenten und d. h. im nicht-numerischen Sinne denkbar, der das „Innen“ und das „Selbst“ just als das „Sich-gegenüber-Sein“ des göttlichen Wesens anzusprechen wagen darf? Und wie wäre Gottes schlechthin notwendiges, schlechthin und wahrhaft unendliches Sein in einem ursprünglichen Sinne zu verstehen als dies „Sich-gegenüber-Sein“? Würde dies nicht zur Folge haben, dass die dogmatische – und damit auch die ethische – Reflexion auf den Gegenstand und auf den Grund des Christus-Glaubens das Modell dreier „Personen“ bzw. dreier „Hypostasen“ korrigiert zugunsten des Modells dreier

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Gottes Person-Sein

Momente des wahrhaft einzigen göttlichen Seins im transzendenten und d. h. im nicht-numerischen Sinn? Müsste man nicht den Schein vermeiden, als illustriere man die Momente des wahrhaft einzigen göttlichen Seins mit Hilfe der Ordnungszahl „drei“? Mit diesen Fragen wenden wir uns jetzt dem Thema zu. Ist Gottes dreifaltiges Walten als Leben Gottes des Schöpfers, als Leben Gottes des Versöhners, als Leben Gottes des Vollenders der Welt des Menschen die spezifische Erfahrung des Christus-Glaubens in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16), so ist es ein konvenienter Gedanke des Christus-Glaubens, in Gottes dreifaltigem Walten das Geschehen des absoluten Selbst zu erkennen, das sich in diesem dreifaltigen Walten als es selbst für uns manifestiert. Um diesen konvenienten Gedanken zu entfalten, komme ich in einem ersten Schritt zu sprechen auf Gottes Einzigkeit, um dann in einem zweiten Schritt das Verhältnis dreier gleichwesentlicher Momente des absoluten göttlichen Selbst-Seins näher zu bestimmen. 1.5.3

Dreieines Person-Sein

1.5.3.1

Einführendes69

Dem Christus-Glauben in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) ist es kraft des Heiligenden Geistes als wahr gewiss, dass Gott der einzige und eine Gott ist, wie dies das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift bekennt. Die Gewissheit dieser Wahrheit und ihre lebenstragende und lebensorientierende Kraft wird nicht etwa dadurch irritiert, dass der Christus-Glaube Gottes Sein als einziger und einer Gott präzise als das Sein des dreieinen Gottes versteht, verehrt und feiert. Es ist vielmehr die Absicht und das Ziel der selbstkritischen systematischen Besinnung, den inneren Zusammenhang dieser beiden Glaubenssätze aufzuzeigen und ihre elementare Relevanz für alle Medien der öffentlichen Kommunikation des Evangeliums zu betonen. Will man

69 Vgl. zum Folgenden bes.: Erik Peterson, Monotheismus als politisches Problem, in: Ders., Theologische Traktate, München: Kösel-Verlag, 1951, 45–147; Jan Assmann, Monotheismus und Kosmotheismus. Ägyptische Formen eines „Denkens des Einen“ und ihre europäische Rezeptionsgeschichte: SHAW.PH; (1993/2); Ders., Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München: Hanser, 1998; Ders., Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München: Hanser, 3 2004; Johann Figl/Hans-Peter Schütt/Hartmut Rosenau, Art. Monismus I.–IV.: RGG4 5, 1446–1450; Åke V. Ström/Werner H. Schmidt/Esther Starobinski-Safran/Christoph Schwöbel, Art. Monotheismus I.–IV.: TRE 23, 233–262; Gregor Ahn/Hans-Peter Müller/Hans Hübner/Colin Gunton, Art. Monotheismus und Polytheismus I.–V.: RGG4 5, 1457–1467.

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„Gott ist Geist“ (Joh 4,24)

die Religionsform der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen im religionsgeschichtlichen Vergleich als Religionsform eines spezifischen Monotheismus charakterisieren, so ist dies dann und nur dann erhellend, wenn man sie im Sinne eines „konkreten Monotheismus“ (Walter Kasper) und d. h. als „trinitarischen Monotheismus“ (Christoph Schwöbel) begreift. Indem wir uns unter dem Titel des konkreten bzw. des trinitarischen Monotheismus auf den sachlogischen Zusammenhang zwischen den Sätzen über Gottes Einzigkeit und Einheit und den Sätzen über Gottes Dreieinheit besinnen, sind wir nicht nur auf das Geheimnis des göttlichen Wesens im engen Sinne des Begriffes konzentriert; wir halten uns vielmehr vor Augen, dass das Geheimnis des göttlichen Wesens den Nucleus der Anschauung des Lebens und der Wirklichkeit bildet, welche dem Christus-Glauben kraft des Heiligenden Geistes immer wieder neu zum Trost, zum Freimut und zur Freude in einer oft so dunklen und oft so widersprüchlichen sozio-kulturellen Welt gereicht. Der Christus-Glaube hier und jetzt findet sich nämlich im Kontinuum des göttlichen Waltens, von dessen trinitarischer Struktur wir ausgegangen waren (s. 1.3). Insofern wirft das, was sich dem Christus-Glauben als das Geheimnis des göttlichen Wesens erschließt, sein Licht auf das Verstehen des Universums und seines Richtungssinnes, auf die Konflikte und die Ambivalenzen der menschlichen Geschichte, auf die notwendigen und hinreichenden Bedingungen des gerechten und des sicheren Friedens und schließlich auf die Hoffnung absoluter Zukunft unserer irdischen Existenz in „jener Welt“ (Christian Knorr von Rosenroth) ewigen Lichts und ewiger Freude jenseits des Todes und durch den Tod hindurch. Dürfte sich die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen nicht im Kontinuum des göttlichen Waltens verstehen, so wäre ihre Anschauung des Lebens und der Wirklichkeit eine tiefgreifend andere; jeder detaillierte Vergleich mit den großen Religionsformen unserer Zeit ebenso wie mit den skeptischen, mit den agnostischen, mit den esoterischen und mit den pessimistischen Trends der Gegenwart wird das zur Genüge zeigen. Womöglich tritt das religionsgeschichtliche Unicum des konkreten bzw. des trinitarischen Monotheismus des Christus-Glaubens am Deutlichsten hervor, wenn man es in Beziehung setzt zum christlichen Verständnis des menschlichen Person-Seins und dessen unhintergehbarer Verantwortlichkeit (s. 1.5.1).70 Weil die Trinitätslehre Augustins und dann insbesondere die Trinitätslehre des Johannes Duns Scotus auf die Entsprechung zwischen dem Person-Sein des einzigen und einen Gottes und dem geschaffenen Person-Sein des Menschen aus ist, kommen

70 Vgl. hierzu Gisbert Greshake, Der dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie, Freiburg i. Br./Basel/ Wien: Herder, 1997, 172–176: Die Entdeckung der Person und der Verstehenszugang zum trinitarischen Gott.

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Gottes Person-Sein

der große afrikanische Kirchenlehrer und der schottische Doctor subtilis vorzüglich als die klassischen Autoren eines konkreten bzw. eines trinitarischen Monotheismus in Betracht. Mir scheint, dass deren Interpretation des Symbols der Synode von Konstantinopel des Jahres 381 in hervorragender Weise auch für die notwendigen Dialoge fruchtbar zu machen ist, die Kirche und Theologie hier und heute in dieser unserer religionskulturellen Lage zu führen imstande sein sollten: insbesondere für die Dialoge mit der jüdischen und der islamischen Kritik des christlichen Bekenntnisses zu dem dreieinen Gott. Friedrich Schleiermacher hat den sachlogischen Zusammenhang zwischen dem Selbstverständnis der christlichen Glaubensweise als einer „der teleologischen Richtung der Frömmigkeit angehörige(n) monotheistischen Glaubensweise“ (CG2  § 11 L [I, 74 = KGA I.13,1, 93]) und der „vorherrschende(n) Beziehung auf die sittliche Aufgabe (verstehe: des geschaffenen Person-Seins)“ (CG2 § 9,1 [I, 61 = KGA I.13,1, 77]) ins Zentrum seiner philosophisch-theologischen Beschreibung der individuellen Lebensgeschichte der Person in der Christus-Gemeinschaft eingerückt. Er wollte zwar – wie schon gezeigt – die trinitarische Kirchenlehre in ihrer bisherigen Gestalt nicht als Glaubenssatz im strikten Sinne des Begriffes akzeptieren; aber seine Formel für das Eigentümliche des Christus-Glaubens im religionsgeschichtlichen Vergleich hebt doch mit vollem Recht die lebenspraktische und damit die ethische Pointe hervor, die das christlich-fromme Gottesbewusstsein von anderweitigen Bestimmungen des Unendlichen nachhaltig unterscheidet. Es wird die Sache der dogmatischen Besinnung auf die Kirche in der Kultur der Gesellschaft (s. 4.4.5) und es wird die Sache der ethischen Besinnung auf das Ethos des Christus-Glaubens (STh III) sein, die lebenspraktische bzw. die ethische Pointe des christlich-frommen Gottesbewusstseins im Hier und Jetzt konsequent erkennbar zu machen. 1.5.3.2

Gottes Einzigkeit

Nach der Jesus-Christus-Erzählung des Evangeliums nach Markus antwortet Jesus einem der Schriftgelehrten auf die Frage, welchem Gebot der Tora der erste Rang zukomme: „An erster Stelle steht dies: HÖRE, ISRAEL, DER HERR, UNSER GOTT, IST DER ALLEINIGE HERR; UND DU SOLLST DEN HERRN, DEINEN GOTT, LIEBEN VON GANZEM HERZEN, VON GANZER SEELE, MIT ALLEN DEINEN GEDANKEN UND ALLER KRAFT.“ (Mk 12,29-30 [Übersetzung Ulrich Wilckens]).

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„Gott ist Geist“ (Joh 4,24)

Jesu Antwort auf die Frage eines Schriftgelehrten zitiert das Grundbekenntnis der jüdischen JHWH-Gemeinschaft – das ‫ – ַשמע ישראל‬aus Dt 6,4; und zwar im Licht der radikalen Einsicht des Buches Jesaja in die Einzigkeit des Gottes Israels, die die Existenz und die die Wirksamkeit anderer gottheitlicher Wesen in der Reaktion auf die tiefe Krise der Erfahrung des Exils überhaupt negiert (vgl. bes. Jes 41,24.29; 43,10; 44,6.24; 46,9). Indem das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift und dessen Überlieferungsgeschichte in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen dies in Jesu Antwort bekräftigte Grundbekenntnis aufnimmt71 , stellt es die systematische Besinnung auf die Wahrheit des Christus-Glaubens vor die Aufgabe zu klären, was denn unter dem Begriffswort des „Alleinigen“ bzw. des „Einzigen“ zu verstehen sei. Diese Aufgabe wird im Grundbekenntnis der jüdischen JHWHGemeinschaft so wenig wie im Buch Jesaja schon in Angriff genommen, obwohl die priesterschriftliche Schöpfungserzählung Gen 1,1–2,4a dazu hinreichend Anlass bot.72 Wie mir scheint, ist diese Aufgabe nicht ohne eine ontologische Erörterung zu lösen, wie ich sie vorbereitet hatte in der obigen Betrachtung über Gottes Sein (s. 1.4). Eine solche ontologische Erörterung bedarf zwar der problemgeschichtlichen Tiefenschärfe; aber sie erreicht ihr Ziel dann und nur dann, wenn sie verankert wird in unser aller Erfahrung von der Einheit der Lebens- und Erfahrungswelt (vgl. STh I, 173–408). Könnten wir das jüdische Grundbekenntnis, wie Jesu Antwort es bekräftigt und wie der Apostel Paulus es kritisch revidiert und aktualisiert, nicht verifizieren an der Erfahrung der Einheit der Lebens- und Erfahrungswelt,

71 Besonders prägnant beim Apostel Paulus: „Oder ist Gott allein der Juden Gott und nicht auch der Heiden (verstehe: der Völker)? Jawohl, auch der Heiden (verstehe: der Völker)! Gott ist ja doch der eine Gott …“ (Röm 3,29f.; [Übersetzung Ulrich Wilckens]), der damit die eschatologische Deutung des jüdischen Grundbekenntnisses aufnimmt, wie sie vorliegt bei Ez 36,36 und bei Sach 14,9! – Vgl. hierzu Erich Gräßer, „Ein einziger ist Gott“ (Röm 3,30), in: Helmut Merklein/ErichZenger (Hg.), „Ich will euer Gott werden“ (SBS 100, 1981, 177–205). 72 Nach Esther Starobinski-Safran, Art. Monotheismus III. Judentum: TRE 23, 249–256, hat sich erst die jüdische Philosophie des europäischen Mittelalters der reflektierten Entfaltung des biblischen Glaubenssatzes gewidmet, insbesondere Mose ben Maimon und Salomo ibn Gabirol. Allerdings tendiert sie in ihrer Kritik der christlichen Lehre von Gottes dreieinem Person-Sein dazu, die „absolute Einfachheit“ bzw. die „äußerste Einfachheit“ Gottes in einer Weise zu verfechten, die auf der Linie einer negativen Theologie über Gottes Einzigkeit hinaus nur sagen kann, was Gott nicht ist, und nicht, was Gott ist. Die bedeutenden Denker des jüdischen Monotheismus in der euroamerikanischen Moderne – insbesondere Hermann Cohen, Martin Buber, Franz Rosenzweig und Emmanuel Lévinas – beschränken sich bewusst auf die fundamentale Bedeutung des Glaubenssatzes von Gottes Einzigkeit für die Allgemeinheit des Ethos und scheinen dezidiert auf eine ontologische bzw. auf eine kosmologische Interpretation des Glaubenssatzes zu verzichten.

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Gottes Person-Sein

so könnten wir es letzten Endes nicht vernünftig explizieren.73 Meine Absicht, für das jüdische Grundbekenntnis – so wie es die Christus-Gemeinschaft kraft der Ausgießung des Heiligenden Geistes transformiert und kritisch revidiert – gute Gründe zu benennen, wird nur dann befremden, wenn man dessen Sinn und dessen Bedeutung geradezu für selbstverständlich und für fraglos gültig hält; jedoch man halte sich vor Augen, dass das jüdische Grundbekenntnis in seiner christlichkritischen Revision weder in der formativen Phase der Christus-Gemeinschaft noch in dieser unserer religionskulturellen Gegenwart unumstritten war und ist. Deshalb fragen wir: Inwiefern ist es dem Christus-Glauben als wahr gewiss, dass Gott alleinig bzw. einzig ist? Wie wird es uns plausibel, dass das jüdische Grundbekenntnis in seiner christlich-kritischen Revision Gottes Sein weder als eines neben anderem göttlichen Sein im numerischen Sinne noch als das ungewordene und ursprüngliche Prinzip des Seienden im Sinne des Jenseits des Seins verstehen kann,

73 Das lebhafte Interesse, das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens vernünftig zu explizieren, ist das Movens der Theologiegeschichte der Christus-Gemeinschaft seit den Schriften der sog. Apologeten des 2. Jahrhunderts in den Diskursen der Religionskultur des Imperium Romanum und deren hellenistischer Intelligenz. Es ist nicht nur vom Denken der sog. Apostolischen Väter, sondern vor allem auch vom Denken des jüdischen Philosophen Philo von Alexandrien (20/10 v. Chr.–45 (?) n. Chr. [vgl. Giuseppe Veltri, Art. Philo von Alexandrien: RGG4 6, 1286–1288]) angeregt und hat in der Begegnung mit dem Philosophieren Platons, Aristoteles’, des sog. Mittleren Platonismus, der Schulen der Stoa und schließlich des sog. Neuplatonismus Plotins ebenso gewichtige wie irritierende und problematische Anregungen empfangen; es hat allerdings auch – namentlich im Denken Augustins, sodann in der frühen scholastischen Schule Anselms von Canterbury und schließlich in den großen Konzeptionen von Thomas von Aquino, von Johannes Duns Scotus und von Wilhelm von Ockham – zu eigenständigen Entwürfen geführt, die das Eigen-Sein und den Eigen-Sinn des göttlichen Wesens, wie es sich dem Christus-Glauben erschließt, für unsere Interpretation des Seins selbst bzw. des Seins als solchen fruchtbar machen wollten. Dieses lebhafte Interesse, das die Theologiegeschichte der Christus-Gemeinschaft seit ihrem Eindringen in die römisch-hellenistische Religionskultur beflügelt, ist nicht etwa dadurch hinfällig geworden, dass die Selbstkritik der endlichen Vernunft im Sinne Immanuel Kants das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens lediglich als eine subjektiv notwendige Idee der praktischen Vernunft und nicht als das Verstehen des Seins-Selbst bzw. des Seins als solchen zulassen wollte. Vielmehr haben die großen Autoren des transzendentalen Idealismus – nicht nur der späte Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, sondern eben auch Friedrich Schleiermacher – auf verschiedenen Wegen zu zeigen unternommen, dass das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens einer vernünftigen Explikation fähig und bedürftig ist. Dieses ihr Erkenntnisinteresse ist nicht nur gegenüber den verschiedenen Varianten der Religionskritik und gegenüber dem Positivismus bzw. dem Naturalismus einiger Einzelwissenschaften, sondern auch gegenüber dem Biblizismus bzw. dem Fideimus jedenfalls der „Theologie des Wortes Gottes“ auf der Linie Karl Barths nach wie vor von größter Aktualität. Vgl. hierzu den brillanten Artikel von Wolfhart Pannenberg, Art. Gott V. Theologiegeschichtlich: RGG3  II, 1717–1732. – Allerdings wird dieses wohlverstanden fundamentaltheologische Erkenntnisinteresse womöglich intensiver, als dies die Varianten eines transzendentalen Idealismus erkennen lassen, den prozessualen Charakter des Seienden zu erfassen suchen: also den Charakter des Im-Werden-und-Vergehen-Seins des Seienden und d. h. seiner Raum-Zeitlichkeit.

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wie es der mittlere Platonismus, der Neuplatonismus Plotins und davon inspiriert Dionysios Areopagita und Meister Eckhart verstehen wollten? Um diese Frage befriedigend zu beantworten, suche ich im Folgenden nach einer angemessenen Beschreibung, die das Verhältnis zwischen uns selbst – den Wesen von der Seinsart des menschlichen Person-Seins –, der Einheit der Lebensund Erfahrungswelt und schließlich dem schöpferischen Grund und Ursprung unserer selbst in dieser Einheit der Lebens- und Erfahrungswelt zum Thema hat. Ich wage also eine ontologische Skizze: die Skizze einer „Lehre von der Verfaßtheit des Seienden als solchen“.74 Sie setzt die Überlegungen zu „Gottes Sein“ (s. 1.4) voraus und spitzt sie zu. Eine solche Skizze halte ich für wichtig und für notwendig, weil sie uns und sofern sie uns das alte unausweichliche Interesse einer Ersten Philosophie integrieren und korrigieren lässt; und zwar im Lichte radikaler Selbstbesinnung auf die Eigenart des menschlichen Person-Seins, die unserer jeweils individuellen Lebensgeschichte vorgegeben ist. Sie wird uns zu der These führen, dass Gottes Sein als schöpferischer Grund und Ursprung unserer selbst in dieser Einheit der Lebensund Erfahrungswelt angemessen als alleinig bzw. als einzig zu verstehen ist und deshalb in der christlich-kritischen Revision des jüdischen Grundbekenntnisses angemessen verstanden und bekannt ist.75 Erstens: Eine ontologische Skizze, wie ich sie im Folgenden versuche, könnte den Verdacht erwecken, sie sei in hohem Maße abstrakt oder womöglich für den Alltag unserer praktischen „Welthabe“ (William James) bedeutungslos. Wollen wir diesen Verdacht zerstreuen, so müssen wir uns klar werden über die Bedingung, unter der wir Sätze als wahrheitsfähige Aussagen bilden; und zwar nicht nur über empirische und über kategoriale Sachverhalte, sondern auch über Sachverhalte von ontologischer Natur. Indem wir uns auf diese Bedingung konzentrieren, können wir erkennen, dass alle unsere Aussagen auf ein Verständnis des Seienden als Seienden bezogen sind, das entweder angemessen oder aber unangemessen sein kann. Ich hatte die Bedingung, unter der wir Sätze als wahrheitsfähige Aussagen bilden können, in freiem Anschluss an Schleiermachers Theorie in der Struktur des personalen Selbstbewusstseins erblickt (vgl. STh I, 151–171). Zufolge dieser Theorie machen wir Aussagen über alle möglichen Sachverhalte im Medium einer gesprochenen Sprache im sei es stillen sei es laut artikulierten Gespräch mit anderen unseresgleichen, die ihrerseits im Medium einer gesprochenen Sprache existieren. In den verschiedenen Szenen des sprachlichen Kommunikation gebrauchen wir das syntaktische und das semantische Potential einer gesprochenen Sprache,

74 Eilert Herms, STh (Bd.1), 160. 75 Vgl. zum Folgenden bes. Eilert Herms, STh (Bd. 1), 110–194.

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Gottes Person-Sein

um uns mit anderen unseresgleichen zu verständigen: sei es über ein einzelnes Geschehen bzw. über eine einzelne Geschichte; sei es über das Gemeinsame und Allgemeine eines einzelnen Geschehens bzw. einer einzelnen Geschichte; sei es über einen besonderen sozio-kulturellen Lebensbereich wie z. B. den Lebensbereich der Wirtschaft oder den Lebensbereich des Rechts, des Bildungswesens und der Kunst, in dem sich zahllose einzelne Geschehnisse bzw. zahllose einzelne Geschichten abspielen. In allen diesen Szenen sprachlicher Kommunikation bilden wir stets Synthesen: Synthesen zwischen dem, was sich für unsere mehr oder weniger aufmerksame sinnfällige Wahrnehmung als Reales zeigt, und unserem sprachlichen, begrifflichen und reflektierten Erfassen, das im Gespräch mit anderen unseresgleichen und oft genug durch Streit und durch Konflikt hinaus will auf Verständigung. Wir führen unser Leben als Vita activa (Hannah Arendt) in der Form des entschiedenen reflektierten Selbstbewusstseins, auf die wir uns auf theoretischem Niveau zurückbesinnen können. Dass diese Form der Vita activa auch die Erfahrungen des Leids, der Krankheit, des Unrechts, des Schuldig-Werdens und zuletzt des Sterbens einschließt, sei gegenüber manchen Typen eines Pragmatismus ausdrücklich in Erinnerung gerufen. Nun ist das Leben in der Form des entschiedenen und reflektierten Selbstbewusstseins, wie unsere Wahrnehmung des Lebens der Pflanzenwelt und des Lebens der Tierwelt zeigt, alles andere als selbstverständlich. Es ist vielmehr bedingt durch das, was ich im Anschluss an Schleiermachers theoretische Beschreibung unmittelbares Selbstbewusstsein nenne. Unter diesem Begriff verstehe ich die Art und Weise, in der die leibhaft existierende Person mit sich vertraut ist als ein Wesen, das sich unmittelbar dafür gegeben und dazu bestimmt weiß, in den verschiedenen Beziehungen auf die je andere leibhaft existierende Person das Leben in der Form des entschiedenen und reflektierten Selbstbewusstseins zu führen. Sie ist – anders gesagt – mit sich vertraut als Wesen, das anders als die Pflanze und anders als das Tier zu sein hat (Rudolf Bultmann); und zwar in der verantwortlichen Weise, wie sie ihr im Gewissen gegenwärtig ist. Ihr individuelles Freiheitsgefühl verstehe ich als jene notwendige Bedingung, die erfüllt sein muss, damit die leibhaft existierende Person im Laufe ihrer Lebens- und Bildungsgeschichte das erscheinende Reale in wahrheitsfähigen Aussagen erfassen bzw. in den verschiedenen Lebensbereichen eines Gemeinwesens gestalten und umgestalten kann. Ich hatte im Rahmen der Theorie der Erfahrung die beiden elementaren Felder des uns erscheinenden Realen charakterisiert, in denen wir uns in und mittels der Struktur des personalen Selbstbewusstseins finden: die Erfahrung der Natur und die Erfahrung der Freiheit und der Unfreiheit, die wir nicht anders als innerhalb der Erfahrung der Natur machen und erleiden (vgl. STh I, 278–304). Wenn wir uns unter der Bedingung des unmittelbaren Selbstbewusstseins in Akten und Prozessen des reflektierten Selbstbewusstseins miteinander über diese beiden elementaren

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Felder des uns erscheinenden Realen zu verständigen suchen, so ist diese Verständigung nicht beschränkt bloß auf empirische bzw. bloß auf kategoriale Sachverhalte; sie richtet sich vielmehr darüber hinaus auf Sachverhalte von ontologischer Natur, selbst wenn sie das Verstehen ontologischer Sachverhalte – wie normalerweise im Alltag des gelebten Lebens – nur stillschweigend oder unterschwellig mit sich führt. Was sind das für Sachverhalte?76 Zweitens: Ich kann an dieser Stelle unmöglich die Problemgeschichte der Aussagen über Sachverhalte von ontologischer Natur nachzeichnen wollen, die mit dem Denken von Parmenides beginnt. Diese Problemgeschichte setzt mit der Frage ein, ob es denn allerallgemeinste Züge bzw. Merkmale des Vielen oder des Mannigfaltigen gebe, die wir sprachlich erfassen können müssen, damit wir uns über das uns erscheinende Reale widerspruchsfrei verständigen können. Gemeinsam ist den Hypothesen der Problemgeschichte dies, dass sie die allerallgemeinsten Züge bzw. Merkmale des Vielen bzw. des Mannigfaltigen auf dem Wege der Abstraktion zu finden suchen. Der Weg der Abstraktion führt zu dem Vorsatz, Sinn und Bedeutung des Ausdrucks „Sein“ bzw. des Ausdrucks „Seiend-Sein“ zu erkunden, mithin Seiendes bloß als Seiendes zu verstehen; denn was immer uns in mannigfaltiger Weise als Reales erscheint, hat darin sein Gemeinsames, dass es ist. Nun liegt es nahe, dies Gemeinsame der mannigfaltigen Weise, in der sich uns Reales zeigt, in einer zweifachen Hinsicht zu betrachten, wie dies zum ersten Mal im Rahmen der Ontologie bzw. der Kategorienlehre von Aristoteles geschieht.77 Diese Betrachtung führt dazu, zwei Typen bzw. zwei Charaktere unserer Aussagen über Sachverhalte von ontologischer Natur zu unterscheiden. Zum einen sehen wir, dass dies Gemeinsame grundsätzlich das Eine ist und dass es als solches stets das Wahre ist, an welchem alle unsere Aussagen hinsichtlich ihres Wahr-Seins oder Falsch-Seins zu prüfen und zu messen sind; diese Bestimmungen des Seienden als Eines und als Wahres nennen wir seit Thomas von Aquino und seit Johannes Duns Scotus transzendentale im Sinne von transkategorialen Bestimmungen.78 Zum andern aber scheint sich diesseits dieser transkategorialen Bestimmungen die Erkenntnis aufzudrängen, dass das Gemeinsame des mannigfaltig uns

76 Vgl. zum Folgenden bes.: Wolfgang Wieland, Art. Ontologie: RGG3 IV, 1632–1635; Rainer Enskat, Art. Ontologie: RGG4 6, 565–568; Günter Figal, Art. Sein: RGG4 7, 1140–1143; Uvo Hölscher, Über den Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie, Heidelberg: Winter, 1976. 77 Vgl. hierzu bes. Pierre Aubenque, Le problème de l’être chez Aristote. Essai sur la problématique aristotélicienne, Paris: Presses universitaires, 1962. – Im Folgenden ist es wohl angebracht, auf eine ausführliche Interpretation der Ontologie bzw. der Kategorienlehre des Aristoteles zu verzichten und stattdessen deren Problematik überpointiert hervorzuheben. 78 Vgl. hierzu Rainer Enskat/Christian Danz, Art. Transzendentalien I. II.: RGG4 8, 540–542.

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erscheinenden Realen entweder substantial oder akzidentell Seiendes ist: entweder Seiendes, das für sich selbst besteht wie z. B. ein Schiff, ein Tempel, ein Baum, ein Löwe, ein Mensch, oder Seiendes, das nur an dem sein kann, was für sich selbst besteht, wie z. B. dessen Material, dessen Hier und Jetzt, dessen Größe usw. Wegen dieser auf den ersten Blick plausiblen Unterscheidung zwischen substantial und akzidentell Seiendem dürfen wir die Ontologie, wie Aristoteles sie in der Kategorienlehre entwickelt, eine Ontologie der Substanz (griechisch: οὐσία) nennen. Sie ist am Modell des Einzelwesens einer Gattung orientiert. Ganz abgesehen von dem Thema der transkategorialen Bestimmungen hat dieser Typus ontologischer Aussagen sowohl für die Wege der Forschung als auch für die Theorie der Sprache enorme Langzeitwirkung ausgeübt. Drittens: Gegen den Typus dieser Ontologie der Substanz lassen sich drei gewichtige Einwände erheben, die für das Verständnis der Einzigkeit des göttlichen Wesens von größter Bedeutung sind. Zum einen ist dieser Typus offensichtlich ungeeignet, die besondere Seinsweise des menschlichen Person-Seins kategorial zu erfassen, wie ich sie ausgehend von Boethius, von Richard von St. Viktor und von Johannes Duns Scotus beschrieben hatte (s. 1.5.1). Zwar schließt diese Beschreibung das relative Selbständig-Sein bzw. das relative Für-sich-Sein und damit den relativen Selbststand eines Seienden ein; aber sie hebt nicht nur die verschiedenen Aspekte des Von-Anderem-herSeins hervor, sondern auch das Mit- und Für-Einander-Sein, ohne das wir die Eigenart des Menschenwesens überhaupt nicht verstehen können. Insofern nötigt uns die Eigenart des Menschenwesens, nach einem Typus ontologischer Aussagen zu suchen, der die Kategorie der Relation als diejenige Kategorie zugrunde legt, die uns die Verfassung des Seienden als Seienden klarer und deutlicher begreifen lässt als die der Kategorie der Substanz.79 Sie lässt im Übrigen auch das Leben der Pflanze und das Leben des Tieres klarer und deutlicher begreifen, das stets auf die spezifische Umwelt wie z. B. auf die natürliche Umwelt eines Meeres, einer Savanne oder eines Waldes bezogen ist. Zum andern blendet die Unterscheidung zwischen substantiell Seiendem und akzidentell Seiendem den ontologischen Sachverhalt aus, dass uns nicht nur Lebendiges, sondern auch Unlebendiges wie z. B. atomares Geschehen, chemisches Geschehen, kosmisches Geschehen nur erfahrbar wird als in Bewegungen, in Entwicklungen, im Werden und im Vergehen begriffen. Damit wir dieses allerallgemeinste Merkmal des Mannigfaltigen bestimmen können, bilden wir die ontologische Kategorie des Prozesses. Sie hat den großen Vorteil, die ontologische Kategorie der Relation in sich aufzunehmen und verständlich zu machen, dass uns die Relate

79 Vgl. hierzu bes. Markus Mühling-Schlapkohl, Art. Relationalität: RGG4 7, 258–261.

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des relational Seienden nicht anders erfahrbar werden als in den verschiedenen Ordnungen und Veränderungen des „Prozedierens“ (Eilert Herms). Zum Dritten schließlich lässt die ontologische Kategorie der Substanz den ontologischen Sachverhalt übersehen, dass wir – wir Menschen von der Seinsart des leibhaften Person-Seins – uns selbst in unserer jeweiligen Gegenwart erleben und verstehen als in ihrer Dauer.80 Was immer wir in unserer jeweiligen Gegenwart in den Aktionen und den Reaktionen des reflektierten Selbstbewusstseins miteinander und füreinander tun und was immer wir in unserer jeweiligen Gegenwart an Leib und Seele zu erleiden haben: es geschieht nicht anders als im Inne-Sein des relativen und begrenzten Dauerns. Im Inne-Sein des relativen und begrenzten Dauerns unseres Lebens in den Aktionen und den Reaktionen des reflektierten Selbstbewusstseins erfassen wir auch die verschiedenen Prozesse des Unlebendigen und des Lebendigen ebenso wie die Prozesse der sozialen Evolution als Prozesse im Medium des relativen und begrenzten Dauerns. Insofern drängt es sich wohl auf, den raumzeitlichen Charakter des Seienden als Seienden als diejenige fundamentale ontologische Kategorie zu bestimmen, welche die ontologischen Kategorien der Substanz, der Relation und des Prozesses in sich schließt. Viertens: Ich war ausgegangen von der Frage, ob wir – und wenn ja, in welcher Weise wir – das jüdische Grundbekenntnis zur Einzigkeit des göttlichen Wesens in seiner christlich-kritischen Revision (vgl. bes. 1Kor 8,6) vernünftig explizieren können. Die Aufgabe, dieses Grundbekenntnis vernünftig zu explizieren, drängt sich hier und heute deshalb auf, weil der Glaubenssatz der Einzigkeit des göttlichen Wesens den Anspruch hat, aus guten Gründen wahr und gültig zu sein. Sein Anspruch, wahr und gültig zu sein, richtet sich nicht etwa nur gegen das Missverstehen des göttlichen Wesens im Pantheon der antiken Religionskulturen; sein Anspruch, wahr und

80 Vgl. zum Folgenden bes. Eilert Herms, STh (Bd. 1), 139ff. – Den ontologischen Sachverhalt der Dauer hatten Thomas von Aquino (STh I q 10 a 1) und später insbesondere Francisco Suárez SJ (1548–1617) im Rahmen ihrer Betrachtung des Verhältnisses von Ewigkeit und Zeit als das begrenzte Beharren des Seienden im Sein bzw. im Existieren verstanden. Als Grundbestimmung unserer, der leibhaften und als solcher unverfügbaren Zeiterfahrung begegnet der Begriff der Dauer – im Sinne der „durée pure, vraie, réelle“ – im Werk von Henri Bergson (1859–1941; vgl. hierzu Enno Rudolph, Art. Bergson, Henri [RGG4 1, 1315f.]), dessen Grundidee der „Évolution créatrice“ sich gegen den Objektivismus im Betrieb der Wissenschaften richtet. Ob die Idee der „Évolution créatrice“ nicht die ontologische Differenz zwischen dem schöpferischen Walten des göttlichen Wesens und dem Ganzen des Seienden in seinem relativen und begrenzten Dauern aufhebt, wird die systematische Besinnung auf das Gottesverständnis des Christus-Glaubens fragen müssen. – Der ontologische Sachverhalt des Dauerns unseres Uns-gegenwärtig-Seins, in welchem wir das Werden aber auch das Vergehen der Erscheinungen unserer Lebens- und Erfahrungswelt erfassen, wurde offensichtlich verkannt und verachtet in der Art und Weise, in der Friedrich Nietzsche die Bejahung des Lebens in seinem ewigen Werden und Fließen beschwört (vgl. STh I, 348–354).

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gültig zu sein, richtet sich mit gleichem Recht gegen die Spielarten des Pantheismus und des Atheismus wie gegen die Spielarten der Vergottung der Welt und ihrer Evolution.81 Um nun das Wahr-Sein und das Gültig-Sein dieses Glaubenssatzes vernünftig zu explizieren, entwarf ich die Skizze einer ontologischen Interpretation, einer „Lehre von der Verfaßtheit des Seienden als solchen“ (Eilert Herms): mit dem Ziel, die ontologische Kategorie der relativen und begrenzten Dauer als diejenige Kategorie zu erweisen, die die verschiedenen Kategorien der Substanz, der Relation und des Prozesses in sich schließt. Ich werde noch zu zeigen haben, dass das Verständnis dieser Kategorie von hoher alltagspraktischer Bedeutung ist. Inwiefern erschließt nun die Betrachtung der ontologischen Kategorie der Dauer das Verstehen der Einzigkeit des göttlichen Wesens, die das Thema des jüdischen Grundbekenntnisses in seiner christlich-kritischen Revision ist? Wir hatten schon gesehen, dass das Bekenntnis des vertrauenden Glaubens an Gott als Einzigen sich nicht auf die numerische Zahl „Eins“ im Ganzen der unendlichen Zahlenreihe beziehen kann; vielmehr bewegt sich dieses Bekenntnis durchaus in nächster Nähe zum transzendenten Begriff des Einen, wie ihn das Philosophieren seit Parmenides in seiner wechselvollen Geschichte als den Begriff des Ursprungs des Vielen und des Mannigfaltigen gesucht hatte (s. 1.4). Sowohl der ethische Monotheismus der jüdischen JHWH-Gemeinschaft als auch der „konkrete“ bzw. der „trinitarische“ Monotheismus des Christus-Glaubens erweist sich deshalb als ein ausgezeichneter Fall jenes Monismus, im Lichte dessen wir überhaupt von der Einheit und der Ganzheit unseres Erfahrens der Lebens- und Erfahrungswelt sprechen müssen; wie wir im Umkehrschluss ohne dessen Licht wohl nicht vertrauensvoll und zielbewusst handeln könnten.82 Als Einzigkeit des Einen im Sinne des transzendenten Begriffs ist Gottes Sein, wie wir gesehen hatten (s. 1.4), schlechthin notwendiges Sein. Es wäre nämlich

81 Vgl. zu diesen letzteren Spielarten Klaus Michael Meyer-Abich/Christian Danz/Friederike Kitschen/ Matthias Hurst, Art. Naturalismus I.–V.: RGG4 6, 109–114. – Vom expliziten Naturalismus und seiner Religions- und Theologiekritik ist diejenige Naturphilosophie zu unterscheiden, die im Rückgriff auf die Forschungspraxis der einzelnen Naturwissenschaften eine Theorie der Evolution des Kosmos in praktischer und in politischer Absicht entwirft, ohne das Grundverhältnis zwischen dem Unendlichen und Endlichen zu leugnen. Eine solche Konzeption hat vorgelegt Klaus Michael Meyer-Abich, Praktische Naturphilosophie. Erinnerung an einen vergessenen Traum, München: Beck, 1997. 82 Vgl. hierzu Johann Figl/Hans-Peter Schütt/Hartmut Rosenau, Art. Monismus I.–III.: RGG4 5, 1446–1450; Michael Theunissen, Philosophischer Monismus und christliche Theologie, in: ZThK 102 (2005), 397–408. – Vor kurzem hat Claas Cordemann Johann Gottfried von Herders Anschauung des Lebens und der Wirklichkeit untersucht unter dem Titel: Herders christlicher Monismus. Eine Studie zur Grundlegung von Johann Gottfried Herders Christologie und Humanitätsideal, Tübingen: Mohr Siebeck, 2010 (BhTh; 154).

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schlechthin unbegreiflich, dass es das Viele bzw. das mannigfaltig Seiende in seinem relativen Selbststand, in seinen Relationen und in seinen Prozessen für unser Denken und Verstehen geben könnte, ohne dass ihm dieses Seiend-Sein als das für uns zu Denkende und zu Verstehende kontinuierlich gegeben und gewährt würde. Ist dem Vielen bzw. dem mannigfaltig Seienden, wie wir es im Lichte jener ontologischen Kategorien zu erfassen und zu verstehen suchen, ebenso wie uns selbst dies Seiend-Sein im Werden und Vergehen seit jenem unvorstellbar singulären Anfang kontinuierlich gegeben und gewährt, so wird es ihm und wird es uns gegeben und gewährt von jener schlechthin notwendigen Ursprungsmacht, neben der und außer der wir kein zerstörerisches oder trügerisches oder abgründiges oder böses Prinzip widerspruchsfrei als schlechthin notwendig denken können.83 Indem wir auf das relative und begrenzte Dauern unseres Uns-gegenwärtig-Seins achten, erheben wir uns zum transzendenten Begriff der Einzigkeit des Einen. Er ist, wie ich noch zeigen werde, als solcher der Begriff des wahrhaft Unendlichen. Allerdings: Dem Christus-Glauben, der das Grundbekenntnis der jüdischen JHWH-Gemeinschaft kritisch revidiert, ist es als wahr gewiss, dass Gottes notwendiges Sein nicht etwa als unbewegt und unbeweglich und deshalb als erstes Bewegendes zu denken ist im Sinn der aristotelischen Metaphysik84 ; es ist ihm überdies als wahr gewiss, dass Gottes notwendiges Sein nicht etwa als das reine Eine jenseits des vielfachen und des mannigfaltig Seienden zu denken ist im Sinn der neuplatonischen Fortbildung der Ideenlehre Platons im philosophischen Werk Plotins.85 Im Gegensatz zu diesen Hypothesen ist dem Christus-Glauben in seiner kritischen Revision des jüdischen Grundbekenntnisses zum Einzigen Israels vielmehr als wahr gewiss, dass Gottes notwendiges Sein nicht anders zu verstehen ist 83 Einen Dualismus zwischen zwei widerstreitenden Prinzipien – „Eros“ und „Thanatos“ – hat ohne jede kategoriale Betrachtung bekanntlich Sigmund Freud in der Metapsychologie seines Spätwerks behauptet. Seine überaus problematische Hypothese macht allerdings nachdrücklich darauf aufmerksam, dass der Glaubenssatz der Einzigkeit des göttlichen Wesens sich vermitteln lassen muss: nicht nur mit der Erfahrung des Leids der Endlichkeit, sondern auch und vor allem mit der Erfahrung des Bösen und des Schuldig-Seins. Diese Erfahrung kommt in den verschiedenen Typen des philosophischen Monismus seit Parmenides überhaupt nicht oder nur in äußerster Verkürzung vor. Aus diesem Grunde bleiben das jüdische Grundbekenntnis und dessen christlich-kritische Revision nicht stehen bei der Einsicht in die Einzigkeit des Einen, sondern konkretisieren sie: sei es in der Erwartung einer endzeitlichen Stiftung des Friedens zwischen den Völkern (Jes 2,2-4), sei es im Bekenntnis zur Dreieinheit des Einzigen im Sinne der verschiedenen Entwürfe einer expliziten Trinitätslehre. Der „konkrete“ bzw. der „trinitarische“ Monotheismus des Christus-Glaubens ist die Antwort auf die alles bewegende Frage, ob – und wenn ja, auf welche Weise – der einzige Gott nicht nur dem Leid der Endlichkeit, sondern auch dem Widergöttlichen gewachsen ist. – Vgl. zu dieser Frage Michael Theunissen, Philosophischer Monismus und christliche Theologie (wie Anm. 82). 84 Vgl. Aristoteles, Metaphysik XII, 6–7 (1071b–1073a). 85 Plotin deutet das transzendente Eine im Laufe seiner Werkgeschichte als das willentliche Hervorbringen seiner selbst; vgl. Plotin, Über den Willen des Einen (VI. Enneade, 8. Buch).

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Gottes Person-Sein

als das sich selbst bestimmende Sein. Erleben und ergreifen wir uns selbst in der relativen und begrenzten Dauer unserer selbstbewusst-freien Erfahrung der Lebensund Erfahrungswelt, so erleben und ergreifen wir uns selbst in dem Kontinuum der Gegenwart, das uns je und je gegeben und gewährt wird: und zwar im Medium des Geschehens der Welt und des Geschehens in der Welt in dessen relativer und begrenzter Dauer.86 Erleben und ergreifen wir uns selbst in dem Kontinuum der uns gewährten Gegenwart, so danken wir es faktisch jener Einzigkeit des Einen, die sich je und je zu dem Gewähren des Kontinuums unserer Gegenwart bestimmt. Aus diesem Grunde ist es konvenient zu denken und zu sagen, dass Gottes Einzigkeit die sich selbst gegenwärtige, die mit sich selbst vertraute, die ihrer selbst bewusste Einzigkeit ist. Dies Sich-selbst-Gegenwärtig-Sein, dies Mit-sich-selbstVertraut-Sein, dies Sich-Bewusst-Sein ist – wenn ich so sagen darf – gemäß der biblischen Erkenntnis Gottes das Medium, in welchem Gottes Wählen, Wollen und Entscheiden für uns geschieht. Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat es daher mit Recht als elementare Bestimmung des Denkens hervorgehoben, dass es „von Gott nicht blos ein Seyn, sondern auch Denken, d. h. Ich prädicirt, und ihn (verstehe: Gott) als die absolute Identität von beydem erkennt.“87 Wegen dieser „absoluten Identität von Seyn und Denken“ erhebt sich der Christus-Glaube zur Einzigkeit des Einen als des dreieinen göttlichen Wesens. In diesem Sich-Erheben finden wir uns von Gottesdienst zu Gottesdienst und von Gebet zu Gebet in der spezifisch christlichen Sicht des Sinnes von Sein.

86 Diese ontologische Einsicht kommt poetisch zur Sprache in den Morgenliedern des Gesangbuchs: „All Morgen ist ganz frisch und neu / des Herren Gnad und große Treu; / sie hat kein End den langen Tag, / drauf jeder sich verlassen mag.“ (Johannes Zwick [EG 440,1]). 87 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie (1802), Hamburg: Meiner, 1962 (PhB; 62b), 134. – Diese gegen Jacobi gerichtete These übersieht allerdings, dass Jacobi ausdrücklich lehrte: „Gott allein ist der Eine der nur Einer ist, der Alleinige; Er ist das Eine ohne Anderes im ausnehmenden, im höchsten Sinne; in keinem Sinne Einer nur unter andern, kein einzelnes, durch Vor- und Mitdaseyn bedingtes Wesen, sondern das ausschließlich in sich selbst genugsame, unbedingt selbständige – das allein vollkommene, allein ganz wahrhafte Wesen. Wie? Und dieser Gott … Er sollte darum nothwendig ohne Selbstbewußtseyn, ohne Persönlichkeit, folglich auch ohne Vernunft seyn müssen? Er sollte, weil er kein eingeschränktes, abhängiges – unvollkommenes Wesen seyn kann – nothwendig Nicht-Person, Nicht-Intelligenz seyn?“ (Kursivierungen im Original gesperrt): Friedrich Heinrich Jacobi, Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung, in: Friedrich Heinrich Jacobi, Schriften zum Streit um die göttlichen Dinge und ihre Offenbarung. Hg. von Walter Jaeschke (Friedrich Heinrich Jacobi Werke, Bd. 3), Hamburg: Meiner / Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 2000, 3–136; 28f.

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1.5.3.3

Der dreieine Gott88

Der Christus-Glaube, dem sich Gottes wahrhaft unendliches und unergründetes Wesen in einer Reihe lebensbedeutsamer Szenen endgültig in seinem Eigen-Sein und Eigen-Sinn erschließt, versteht sich selbst als Glaube an den dreieinen und dreifaltigen Gott. Er stimmt ein in das Gebet, in dem der Christus Jesus den einzigen Gott, dem schon der Lobpreis der jüdischen JHWH-Gemeinschaft gilt, als unseren Vater anzureden lehrt (Mt 6,9); er weiß sich bestimmt und weiß sich erfüllt vom Geist, der in die ganze Wahrheit leitet (Joh 16,13); und er bekennt kraft dieses Geistes, dass Jesu Christi im Tod am Kreuz von Golgatha vollendetes Lebenszeugnis (Joh 19,30) in die Freiheit des Gewissens und damit ins Leben in der Hoffnung, in der Liebe und in der Selbstverantwortung vor Gott versetzt. Im Sakrament der Taufe auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes (Mt 28,16) sowie im Ritual des Gottesdienstes im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes wird ihm das Verstehen des dreieinen und dreifaltigen Gottes – man denke an das Gloria – als Zentrum des „äußeren Wortes“ (vgl. STh I, 604–612) regelmäßig vergegenwärtigt. Gleichwohl: das biblische Offenbarungszeugnis, wie es die Komposition des Kanons der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments für alle späteren Generationen fixiert, kennt keine explizite Trinitätslehre. Zwar ist es seine einheitliche Aussage-Intention, die „Ausgießung“ des Heiligenden Geistes ins Selbstbewusstsein der leibhaften Person als die endgültige Selbsterschließung Gottes des Vaters in der Geschichte und im Geschick des Christus Jesus für uns – zu unserem Heil und Frieden im ethischen Volk Gottes aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) – zu bekennen (vgl. Apg 3,16ff.); aber diese einheitliche Aussage-Intention erreicht wegen ihrer verschiedenen pragmatischen Kontexte beileibe keine Vermittlung

88 Vgl. zum Folgenden bes.: Michael Schmaus, Katholische Dogmatik, 1. Bd. (wie Anm. 32). Erster Hauptteil (Zweiter Abschnitt), 324–499: Die Selbsterschließung des Dreieinigen Gottes in Bezug auf sein personales Selbst; Karl Rahner, Der dreifaltige Gott als transzendenter Urgrund der Heilsgeschichte, in: MySal II, 317–397; Wolfhart Pannenberg, STh I, 305–326; Christoph Schwöbel, Trinitätslehre als Rahmentheorie des christlichen Glaubens. Vier Thesen zur Bedeutung der Trinität in der christlichen Dogmatik, in: Wilfried Härle und Reiner Preul (Hg.), Trinität, Marburg: Elwert, 1998 (MJTh; X), 129–154; Gisbert Greshake, Der dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie (wie Anm. 70); Bernd Oberdorfer/Michael Theobald/Gerhard Ludwig Müller/Peter Plank/ Volker Küster/Joseph Imorde/Karl Christian Felmy, Art. Trinität/Trinitätslehre: RGG4 8, 601–621; Christoph Markschies, Alta Trinità Beata. Ges. Studien zur altkirchlichen Trinitätslehre, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000; Volker Henning Drecoll (Hg.), Trinität, Tübingen: Mohr Siebeck, 2011 (Themen der Theologie; 2); Eilert Herms, STh (Bd. 1), 607–636. – Sprachlich und gedanklich überzeugend ist die pastoral ausgerichtete Studie: Der Glaube an den dreieinen Gott. Eine Handreichung der Glaubenskommission der Deutschen Bischofskonferenz zur Trinitätstheologie. Hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2006 (Die deutschen Bischöfe, Nr. 83).

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Gottes Person-Sein

zwischen den Aussagen des Bekenntnisses zum Christus Jesus als dem Sohn bzw. als dem Bild Gottes des Vaters und den Aussagen des Bekenntnisses zum HerrSein des Heiligenden Geistes (vgl. bes. 2Kor 3,17f.). Die bibelwissenschaftliche Erkenntnis der Kohärenz der Heiligen Schrift (vgl. STh I, 557–566) lässt eine solche Vermittlung auch gar nicht erwarten.89 Allerdings: obschon das biblische Offenbarungszeugnis keine explizite Trinitätslehre enthält, bezeugt diese seine einheitliche Aussage-Intention doch jene Quelle bzw. jene Wurzel, auf welche sich das kirchlich festgestellte Dogma der Ökumenischen Synode von Nicaea im Jahre 325 bzw. der Ökumenischen Synode von Konstantinopel im Jahre 381 bezieht. Als diese Quelle und als diese Wurzel darf der Christus-Glaube gelten, dem Gottes Heiligender Geist die Selbstbestimmung des einzigen göttlichen Wesens im Christus Jesus zur ewigen Gemeinschaft mit uns Menschen allen erschließt.90 Ob – und wenn ja, in welcher Weise – die Selbstbestimmung des einzigen göttlichen Wesens im Christus Jesus zur ewigen Gemeinschaft mit uns Menschen allen in einem ewigen Grunde gründet und ob dieser ewige Grund eine innere Struktur besitzt, die in den Formen der Verkündigung, der Lehre und zuletzt der Reflexion explizit zu betrachten und zu bedenken ist: das ist das Thema jenes langen und erbitterten trinitätstheologischen Streits, den dieses Dogma schlichten wollte. So wie es eingebunden war in die verschiedenen Ansätze des wissenschaftlich-theologischen Denkens im Christentum der Spätantike, so ist es Ausgangspunkt einer unabgeschlossenen Geschichte des Verstehen-Wollens. Sie hat als solche eminente theoretische Relevanz und ontologische bzw. metaphysische Implikationen.91

89 Vgl. hierzu Hans-Joachim Eckstein, Die Anfänge trinitarischer Rede von Gott im Neuen Testament, in: Michael Welker und Miroslav Volf (Hg.), Der lebendige Gott als Trinität (wie Anm. 65), 85–113. 90 Dieser Christus-Glaube findet seinen frühesten sprachlichen Ausdruck in den verschiedenen triadischen Formeln des sog. „apostolischen“ Glaubensbekenntnisses sei es der lateinischen sei es der griechischen Kirchengemeinschaft zwischen ca. 215 und ca. 380 (DH 10–64). Sowohl das „Symbolum Nicaenum“ (DH 125–126) als auch das „Symbolum Constantinopolitanum“ (DH 150–151) legen diese triadischen Formeln zugrunde und entfalten deren trinitarische Bedeutung (wobei das „Symbolum Constantinopolitanum“ erst im Rahmen des „Symbolum Chalcedonense“ von 451 [DH 300–303] veröffentlicht wurde). Sowohl Luthers Auslegung des „apostolischen“ Glaubensbekenntnisses im Kleinen und im Großen Katechismus (BSLK 510–512; 646–662) als auch die Augsburgische Konfession von 1530 (BSLK 1–30) bekräftigen die trinitarische Entfaltung, die das „Symbolum Nicaenum“ und das „Symbolum Constantinopolitanum“ – ebenso wie das spätere sog. „Athanasianum“ (bzw. das „Symbolum Quicumque“) – den triadischen Formeln des „apostolischen“ Glaubensbekenntnisses zuteilwerden ließen. Namentlich das sog. „Athanasianum“ hat die Grundgedanken der Trinitätslehre Augustins der theologischen Ausbildung des lateinischen Mittelalters überliefert. 91 Vgl. hierzu 1.5.3.3.3; 1.5.3.3.4.

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Von welcher Art die innere Struktur des ewigen Grundes sein könnte, der in der Ausgießung des Heiligenden Geistes ins Selbstbewusstsein der Person manifest wird, bleibt während der Entstehung der christlichen Bibel durchaus noch offen.92 Wenn ich im Folgenden es wage, im Interesse der Besinnung des ChristusGlaubens auf sein Wesen und auf seine Bestimmung die innere Struktur des ewigen Grundes zu bedenken, so wird eine komprimierte kirchen- und theologiegeschichtliche Erinnerung dafür hilfreich sein.93 Sie soll uns zeigen, dass die Formeln, die die beiden ökumenischen Synoden von Nicaea und von Konstantinopel verabschiedeten, nach wie vor das Interpretandum für das gegenwärtige systematischtheologische Denken sind. Die kirchen- und die religionspolitische Bedeutung ihres Dogmas für das Imperium Romanum in der Kultur des spätantiken Hellenismus bleibt hier außer Betracht. Die beiden ökumenischen Synoden der Jahre 325 und 381 hielten es mit kirchenrechtlicher Verpflichtungskraft für richtig, das Sein und Wesen Gottes als das dreieine Sein und Wesen Gottes des Vaters, Gottes des Sohnes und Gottes des Heiligen Geistes anzusprechen. Sie hielten ihre Erkenntnis fest als Glaubenssatz, der das Verständnis des Christus-Glaubens im Sinne einer Monarchie des einen und einzigen Gottes bzw. im Sinne einer Subordination des Christus Jesus unter das Sein und Wesen des einen und einzigen Gottes als häretisch ausschloss. Dieses Verständnis des Christus-Glaubens, wie es uns schon im Denken Justins des Märtyrers, in den theologischen Schulen des Noët und des Praxeas zu Rom und dann vor allem in der Verkündigung bzw. in der Lehre des Presbyters Arius begegnet, war und ist an sich nicht unplausibel. Es meinte, nicht allein dem jüdischen Grundbekenntnis zur Einzigkeit des göttlichen Wesens treu zu bleiben; es

92 Man nehme ernst, dass die Erkenntnis der Selbstbestimmung des göttlichen Wesens zum Bunde mit der jüdischen JHWH-Gemeinschaft geradezu das essential der religiösen Identität des exilisch-nachexilischen Judentums ist. Das Interesse, das Grundbekenntnis der jüdischen JHWHGemeinschaft zur Einzigkeit des göttlichen Wesens über dieses essential hinaus für die ChristusGemeinschaft festzuhalten, ist als das treibende Motiv der Anfänge einer expliziten christlichen Gotteslehre im sog. „Adoptianismus“ (Theodot der Gerber; Theodot der Bankier [Ende des 2. / Anfang des 3. Jahrhunderts christliche Lehrer in Rom]), im sog. „Monarchianismus“ (Noët von Smyrna [2. Hälfte des 2. Jahrhunderts]; Praxeas [Ende des 2. Jahrhunderts]) sowie im sog. „Modalismus“ (Sabellius [Anfang des 3. Jahrhunderts Leiter der Schule Noëts in Rom) nach wie vor zu würdigen. 93 Im Unterschied zur üblichen Darstellungsweise in den kirchen- und theologiegeschichtlichen Untersuchungen, die ich zu Rate zog, liegt mir sehr daran, die Differenzen und Konflikte hinsichtlich der angemessenen Lehre als Differenzen und Konflikte um das angemessene Verstehen des ChristusGlaubens ernst zu nehmen. Die Praxis, eine heterodoxe bzw. eine häretische Lehre kirchenrechtlich zu verurteilen, hat dazu geführt, die Lehre als den Gegenstand des Christus-Glaubens anzusehen und den Gegenstand des Christus-Glaubens mit seinem Grunde zu verwechseln. Auch die reformatorische Bewegung war noch nicht imstande, unter der Herrschaft des im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation geltenden Rechts mit dieser Praxis Schluss zu machen, wie die Hinrichtung Michael Servets in Genf am 27. Oktober 1553 auf dem Scheiterhaufen zeigt.

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Gottes Person-Sein

sah sich auch im Einklang mit dem Philosophieren in der Kultur des Hellenismus, dessen sog. mittelplatonische Richtung die ontologische Differenz zu achten und zu denken lehrte zwischen dem ewigen, dem ungewordenen, dem unvergänglichen Sein als solchem und dem Inbegriff des Seienden, welches dem Werden und Vergehen unterworfen ist.94 Das monarchianische bzw. das subordinatianische Verständnis des ChristusGlaubens wurde allerdings von namhaften Lehrern und Sprechern der καθολικὴ ἐκκλησία wie Bischof Irenäus von Lyon und wie Tertullian im 3. Jahrhundert, wie Bischof Alexander von Alexandrien und wie Bischof Athanasius von Alexandrien im 4. Jahrhundert als tiefes Missverständnis aufs Heftigste bekämpft. Zwar teilten diese Theologen selbstredend die Wahrheit des biblischen Grundbekenntnisses zur Einzigkeit des göttlichen Wesens und waren sich der ontologischen Differenz zwischen dem ungewordenen Sein Gottes des Schöpfers und dem Inbegriff des Geschaffenen – des Seienden im Werden und im Vergehen – voll bewusst; aber sie fühlten sich mit Rücksicht auf das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift verpflichtet, den Christus Jesus – die Person des göttlichen Versöhners und Erlösers – in seiner ursprünglichen, in seiner ewigen Einheit mit dem göttlichen Wesen selbst zu verstehen. Das Symbolum Nicaenum vom 19. Juli 325 schien diese ursprüngliche, diese ewige Einheit Gottes des Vaters, des Schöpfers, und des Christus Jesus, des Sohnes Gottes, wie sie dem Christus-Glauben in der Christus-Gemeinschaft der Kirche als wahr gewiss ist, mit klaren Worten festgestellt zu haben.95 Nun zeigte sich alsbald nach der Verabschiedung des Symbols, dass die erstrebte und vom Kaiser Konstantin I. auch dringend gewünschte Einigkeit der Glaubenslehre nicht erreicht war. Der Grund dafür lag nicht nur darin, dass die Synode das Sein und Walten Gottes des Heiligen Geistes nur nebenbei und nachklappend bedachte; er lag auch und vor allem darin, dass der theologische Begriff der ursprünglichen, der ewigen Einheit zweier bzw. dreier göttlicher Instanzen noch nicht wirklich zu erschwingen war. Die Aussage der Synode, der Christus Jesus als der Sohn sei „eines Wesens mit dem Vater“96 , musste vielmehr dunkel und umstritten

94 Zum sog. Mittleren Platonismus (ca. 80 v. Chr. bis ca. 220 n. Chr.) vgl. bes.: Clemens Zintzen (Hg.), Der Mittelplatonismus, Darmstadt: WBG, 1981; Werner Beierwaltes, Platonismus im Christentum, Frankfurt a.M.: Klostermann, 3 2014; Dieter Wyrwa, Die christliche Platonaneignung in den Stromateis des Clemens von Alexandrien, Berlin/New York: de Gruyter, 1983 (AKG; 53). 95 Für das Verständnis der komplizierten Wege zur Synode von 325 sowie der kirchlich-theologischen Auseinandersetzungen, die durch die Synode von 381 entschieden werden sollten, sei auf die dogmengeschichtlichen Darstellungen und insbesondere auf die Untersuchungen von Christoph Markschies (wie Anm. 88) verwiesen. 96 „ὁμοούσιος τῷ πατρί“ (Die lateinische Version lautet: „Et in Dominum nostrum Iesum Christum Filium Dei, natum ex Patre unigenitum, hoc est de substantia Patris, Deum ex Deo, lumen ex lumine, Deum verum de Deo vero, natum, non factum, unius substantiae cum Patre [quod graece dicunt homousion], per quem omnia facta sunt, quae in coelo et in terra…“). – DH 125.

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bleiben, solange niemand klar und deutlich explizieren konnte, in welchem Sinne das Begriffswort „Wesen“ denn gemeint sei; denn wenn der Ausdruck „Wesen“ etwa zu verstehen wäre im Sinne eines Gattungs- oder eines Allgemeinbegriffs wie z. B. im Sinne des Begriffs der „Gottheit“, wäre er mit dem biblischen Grundbekenntnis zur Einzigkeit Gottes partout nicht zu vereinbaren. Wichtige Schritte auf dem Weg zu dieser notwendigen Explikation verdanken wir nicht nur den Anstößen des Bischofs Athanasius von Alexandrien, sondern auch und vor allem den kappadokischen Theologen Basilius von Caesarea, Gregor von Nazianz, Gregor von Nyssa und Amphilochius von Ikonium. Sie bereiteten – zum einen – das Symbol von 381 vor, indem sie den dunklen und umstrittenen Begriff des ὁμούσιον τῷ πατρί mit Hilfe und im Lichte der Unterscheidung zwischen dem einen und gemeinsamen göttlichen Wesen (οὐσία) und den drei besonderen Hypostasen das Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes klärten, die je in ihrer Eigenart subsistieren. Vor allem Amphilochius hat – zum andern – dies Subsistieren zu verstehen gelehrt als eine je besondere Seinsweise (τρόπος ὑπάρξεως), in der das eine und gemeinsame göttliche Wesen für uns erkennbar wird. Zum Dritten schließlich suchte Gregor von Nyssa den Begriff des einen und gemeinsamen göttlichen Wesens dadurch zu erhellen, dass er ihn – womöglich angeregt von philosophischem Denken seiner Zeit – im Sinne eines unvermischten Eins-Seins präzisierte, wie es auch für das Verhältnis zwischen der Seele und dem Leib der geschaffenen Person typisch ist.97 Alles in allem hatte die Synode von 381 eine Lehrentscheidung von enormer Tragweite getroffen, die der weiteren vernünftigen Entfaltung durchaus fähig und durchaus bedürftig war. Die Geschichte des theologischen Denkens in der ChristusGemeinschaft der Kirche und der Kirchen lässt sich kaum anders erzählen denn als Geschichte immer wieder neuer Anläufe, das innere Verhältnis zu erkennen, in welchem Gottes eines und einziges göttliches Wesen in drei besonderen Seinsweisen von Ewigkeit zu Ewigkeit lebt. Es ist im Rahmen dieser vorliegenden Dogmatik ganz und gar ausgeschlossen, diese Geschichte mit ihren Höhepunkten im Denken Augustins, Thomas’ von Aquino, Johannes Duns’ Scotus, Jean Calvins, Herman Schells, Karl Barths, Wolfhart Pannenbergs und Eilert Herms’ einfühlsam und gerecht zu würdigen. Bevor ich meinerseits es wage, das Interpretandum der Symbole von 325 und von 381 zu betrachten, sei jedoch das Problem zugespitzt benannt, das es dem theologischen Denken nach wie vor bereitet. Reinhard M. Hübner hat die provozierende These aufgestellt, „daß es eine Trinitätslehre im strengen Sinne erst geben könne, wenn ein rational einsichtiges oder

97 Auf diesen dritten Gesichtspunkt weist vor allem Christoph Markschies (wie Anm. 88) mit großem Nachdruck hin.

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Gottes Person-Sein

wenigstens sprachliches Modell gefunden sei, das es erlaube, eine Vielheit (Dreiheit) Gleicher in absoluter Einheit“ auszudrücken.98 Dieses Modell sei jedenfalls in den Symbolen von 325 und von 381 noch nicht in Sicht; vielmehr könnten die Termini der Ursprungsbeziehungen zwischen dem Vater-Sein Gottes und dem Sohn-Sein Gottes – „Zeugung“ – bzw. zwischen dem Vater-Sein Gottes und dem Geist-Sein Gottes – „Hervorgang“ bzw. „Hauchung“ – streng genommen nur in einem sei es subordinatianischen sei es modalistischen Sinne verstanden werden. Schleiermachers Verdacht gegenüber der altkirchlichen Gestalt der Trinitätslehre und nicht nur ihr gegenüber, sie könne ihren harten monarchischen bzw. asymmetrischen Kern nicht verbergen (s. 1.5.2), wird durch gelehrte patristische Forschung untermauert. Deshalb führt uns die Erinnerung an jene grundlegende Entscheidung hinsichtlich der Lehre von Gott, die in der Öffentlichkeit der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen von Rechts wegen zu vertreten ist, zu der Frage: ist die Dreiheit Gleicher in absoluter Einheit denkbar? Ich suche diese Frage in zwei Schritten zu beantworten. In einem ersten Schritt werde ich zeigen, dass die Gleichheit des göttlichen Wesens als Vater, als Sohn und als Heiliger Geist als Gleichheit des Geist-Seins zu denken ist, wie es Basilius’ Bestimmung des Gemeinsamen intendiert (1.5.3.3.1). In einem zweiten Schritt werde ich dann zeigen, dass und in welcher Weise die trinitarischen Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes die drei eigentümlichen Momente des göttlichen Geist-Seins bezeichnen, kraft derer Gottes notwendiges, erhabenes, unendliches Sein zugleich als Gottes Für-uns-Sein zu erfahren, zu fürchten und zu lieben ist (1.5.3.3.2).

98 Reinhard M. Hübner, Eis theos Iäsous Christos. Zum christlichen Gottesglauben im 2. Jahrhundert – ein Versuch: MThZ 4 (1996), 325–344; 326.

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1.5.3.3.1 Gottes Wesen als Geist99

Das Nachdenken über die Situation des Christus-Glaubens, dem Gottes Für-unsSein bzw. Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen in der Reihe lebensbedeutsamer Szenen endgültig erschlossen wird, sucht nach dem angemessenen Begriffswort dafür, dass Gott sich selbst zu Gottes Für-uns-Sein bzw. zu Gottes In-Gemeinschaftsein-Wollen bestimmt. Wenn nämlich die biblische Gottesrede von Gottes Wählen, Wollen und Entscheiden spricht, nimmt sie durchaus nicht unreflektiert ein Medium an, in welchem Gottes Wählen, Wollen und Entscheiden sich vollzieht. Als angemessenes Begriffswort für dieses Medium bietet sich das Begriffswort Geist in seinem ontologischen Sinn bzw. in seiner ontologischen Bedeutung an. Nun ist es angesichts der Wort- und Begriffsgeschichte des Geistes seit Anaxagoras ein anspruchsvolles Unterfangen, Sinn und Bedeutung der Aussage zu entfalten, dass das Gemeinsame und Gleiche des göttlichen Wesens als Gottes Geist-Sein anzusprechen sei; denn eben die Wort- und Begriffsgeschichte des Geistes seit Anaxagoras scheint es nicht zu schaffen, das Geist-Sein des Unendlichen in einem personalen bzw. in einem subjektiven Sinne zu erkennen. Sie handelt vom Unendlichen als der Vernunft, die sich notwendig auf sich bezieht, ohne doch frei-willentlich auf anderes bezogen sein zu können. Auf welchem Wege können wir im Unterschied zu dieser Wort- und Begriffsgeschichte valide Aussagen bilden, die uns das Geist-Sein Gottes als das Gemeinsame und Gleiche des göttlichen Wesens im personalen bzw. im subjektiven Sinne zu verstehen geben?100 Ich hatte dafür argumentiert, dass alle unsere Aussagen über Gottes Sein, über Gottes Wesen und über Gottes Walten – gleichviel ob sie nun narrativer, metaphorischer, symbolischer oder streng begrifflicher Art sind – Aussagen über irdische

99 Vgl. zum Folgenden bes.: Hans Krämer, Der Ursprung der Geistmetaphysik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin, Amsterdam: Schippers, 1964; Karl Rahner, Geist in Welt. Zur Metaphysik der endlichen Erkenntnis bei Thomas von Aquin, München: Kösel, 3 1964 (überarbeitet und ergänzt von Johann Baptist Metz) = Karl Rahner, SW Bd. 2. Bearbeitet von Albert Raffelt, 5–300; Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Pespektive, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1983, 328–384: Sprache als Medium des Geistes; Wolfgang Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, Frankfurt a.M.: Klostermann, 4 1999; Bernhard Taureck, Art. Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben VII. Der philosophische Geistbegriff: TRE 12, 242–254; Eilert Herms, „GOTT“. Herders Philosophie des Geistes, in: Walter Jaeschke (Hg.), Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die Göttlichen Dinge (1799–1812), Hamburg: Meiner, 1994, 56–73 (Herms interpretiert hier Johann Gottfried von Herders Schrift „Gott. Einige Gespräche“ [1787] als wohlwollend-kritische Rekonstruktion der Metaphysik Spinozas unter dem Gesichtspunkt des Absoluten als des allmächtig-wirkenden Geistes). 100 Vgl. zum Folgenden bes. Paul Tillich, STh I, 288–290: Gott als Geist und die trinitarischen Prinzipien.

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Gottes Person-Sein

bzw. über geschaffene und immanente Sachverhalte auf Aussagen über transzendente und als solche ungeschaffene und schöpferische Sachverhalte übertragen. Zufolge den Einsichten von Johannes Duns Scotus sind sie dazu fähig, weil ihnen ein univoker Kern zu eigen ist, ohne den uns Gottes Sein, Gottes Wesen und Gottes Walten schlechthin verborgen und schlechthin unaussprechlich wäre. Auf dieser erkenntnistheoretischen Basis sind uns Aussagen über Gottes Geist-Sein möglich, weil uns geistiges Sein an uns selbst und durch uns selbst vertraut ist. Ich suche das zu zeigen in freiem Anschluss an Georg Wilhelm Friedrich Hegels Besinnung auf die „endliche geistige Subjektivität“.101 Mit dem Begriff der endlichen geistigen Subjektivität verbinden sich wohl zwanglos einige wesentliche nähere Bestimmungen, mit deren Hilfe und in deren Licht wir ihn konkretisieren dürfen. Zum einen trifft der Begriff der endlichen geistigen Subjektivität auf solche Wesen zu, die ausgezeichnet sind durch „individuelles Freiheitsgefühl“ (s. 1.5.1). Als solche sind sie sich unmittelbar erschlossen für jene Lebensform und Lebensweise, die sie im Medium ihres Gehirns, ihrer Sinne, ihrer Wahrnehmungen, ihrer Bewegungen selbstbewusst-frei zu gestalten haben. Endliche geistige Subjektivität ist offensichtlich auf das Innigste verschränkt mit dem Organismus des je eigenen hominiden Leibes. Zum andern: Ist individuelles Freiheitsgefühl im Medium des je eigenen hominiden Leibes ein erstes Merkmal des Begriffs der endlichen geistigen Subjektivität, so wird es manifest in allen sprachlichen Kommunikationen und in allen praktischen Interaktionen bzw. in allen ästhetischen performances mit Anderen, die ihrerseits durch individuelles Freiheitsgefühl im Medium ihres je eigenen hominiden Leibes ausgezeichnet sind. In der Geschichte eines Lebens in der Kultur einer Gesellschaft machen wir Wesen von der Seinsart des Menschen nicht nur Erfahrungen der Natur der Erde; wir treffen auch auf Regeln und auf Ordnungen des Rechts und der Sitte, die von uns den Gehorsam ebenso wie auch den Impuls zu ihrer vernünftigen Fortentwicklung erheischen. Im Begriff der endlichen geistigen Subjektivität sind also die Aspekte der theoretischen und der praktischen Vernunft enthalten, die um den Aspekt der ästhetischen Darstellung im weitesten Sinne zu ergänzen sind. Sie sind Aspekte der Kraft der Synthesis.

101 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 3 (hg. von Walter Jaeschke [wie Anm. 68]): Nach dem Manuskript, 1: „Mensch – Seite des Bewußtseins – Gott als widerstrahlend im Geiste, ihm gegenüber die endlichen Geister. Als die Zeit erfüllet, der Boden bereitet, mußte von der Seite des endlichen Geistes, er auf seiner Seite, der endlichen Seite, die Endlichkeit abgetan [und er] so fähig des absoluten Bewußtseins, daß Gott sich offenbare, manifestiere …“ (Unterstreichungen im Original gesperrt). – Auf Hegels vollständigen Begriff des endlichen Geistes ist hier nicht einzugehen.

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„Gott ist Geist“ (Joh 4,24)

Nun umfasst der Begriff der endlichen geistigen Subjektivität noch ein weiteres Merkmal, das sich an die bisher beschriebenen Merkmale zwanglos anschließt. Wird endliche geistige Subjektivität manifest in allen sprachlichen Kommunikationen und in allen praktischen Interaktionen des Alltags bis hin zum Trieb und zum Genuss der ästhetischen Darstellung, so wird sie wechselseitig manifest in der Weise des Wollens. Denn ob und wie wir Antwort geben bzw. ob und wie wir achtsam, anerkennend oder gar liebend miteinander umgehen: das entscheidet sich in unserer jeweiligen Gegenwart in der Weise eines freien, wenn auch nicht unabhängigen Wählens und Uns-selbst-Bestimmens. Endliche geistige Subjektivität befindet sich ganz offensichtlich in den Alternativen des Achtens oder des Missachtens, des Anerkennens oder des Nicht-Anerkennens, des Liebens oder des Gleichgültig-Seins, der Empathie oder der Apathie. Mit dem Begriffswort „Geist“ heben wir mithin an der menschlichen Weise zu sein das sittliche Sein hervor, das die Aspekte des je individuellen Freiheitsgefühls im Medium des je eigenen hominiden Leibes, der gemeinsamen Konstitution der Erfahrungswelt in den Aktionen der theoretischen und der praktischen Vernunft und schließlich den Aspekt des sittlichen Wählen-Könnens und Wählen-Müssens integriert.102 Dürfen wir in den Bestimmungen der „endlichen geistigen Subjektivität“, wie wir sie in der Besinnung auf das menschliche In-der-Welt-Sein erfassen, den univoken Kern entdecken, mit dessen Hilfe und in dessen Licht wir Gottes Geist-Sein denken können? Ich hatte mich darauf berufen, dass die vernünftige Entfaltung des christlichen Glaubens an Gott des Weges der Erkenntnis bedarf, den ich im Anschluss an die Lehre von Johannes Duns Scotus die univoke Weise nenne. Wenn wir die Einzigkeit des göttlichen Wesens schließlich und endlich als die Einzigkeit des Geist-Seins verstehen, so überschreiten wir im univoken Sinne die endliche geistige Subjektivität, um uns zur unendlichen Subjektivität des göttlichen Wesens zu erheben.103 Natürlich negieren wir diejenigen Grenzen, die uns mit der Leibhaftigkeit und mit der Sozialität der endlichen geistigen Subjektivität präsent sind. Es ist gleichwohl

102 Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild (wie Anm. 55), ist der „Entstehung des modernen Freiheitsbegriffs aus dem Geist der mittelalterlichen Philosophie“ nachgegangen, die er vor allem an der dominikanischen und an der franziskanischen Tradition sowie am Philosophieren von Franciscus Suárez festmacht. Es sei daran erinnert, dass die Entwicklung des Begriffs des Geistes in Hegels „Phänomenologie des Geistes“ einsetzt mit der Bestimmung des wahren Geistes als „Sittlichkeit“: vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes. Hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg: Felix Meiner, 6 1952 (PhB; 114), 313–347. 103 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 3 (hg. von Walter Jaeschke [wie Anm. 68]).

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Gottes Person-Sein

konvenient, die Einzigkeit des göttlichen Wesens als die Einzigkeit des unendlichen Geist-Seins zu bestimmen. Denn wir – die Glieder der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) – erleben und erkennen uns im Kontinuum des göttlichen Waltens, in dem wir uns des schlechthin schöpferischen Ursprungs unserer selbst und des Geschehens dieser Welt überhaupt bewusst sind. In diesem unserem Gottesbewusstsein sind wir uns nicht allein der heilsamen Gnade und Wahrheit des göttlichen Wesens gewiss; wir sind uns in der Erfahrung der heilsamen Gnade und Wahrheit des göttlichen Wesens auch der Gabe der Zeit und der Gabe des Raumes gewiss, in der das selbstbewusst-freie Menschendasein inmitten des Geschehens dieser Welt dauert. Wir dürfen deshalb dieses dauernde Geben und Gewähren dieser unserer Zeit und dieses unseres Raums – der Zeit und des Raumes des selbstbewusst-freien Menschendaseins – als das Indiz dafür verstehen, dass dieser schöpferische Ursprung unserer selbst und des Geschehens dieser Welt jenes inneren Sinnes teilhaftig ist, in welchem er sich selbst erschlossen ist und in welchem er sich selbst zum Gott für uns, d. h. zu Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen bestimmt. Im dauernden Geben und Gewähren der Zeit und des Raums des selbstbewusst-feien Menschendaseins ist Gottes innerer Sinn als Grund seines allumfassenden Waltens seit jeher und ursprünglich offenbar (Röm 1,19.20a). Sprechen wir vom unendlichen Geist-Sein Gottes als dem Gleichen, dem Gemeinsamen, dem Identischen, so haben wir den inneren Sinn – den Eigen-Sinn – des göttlichen Wesens vor Augen, in dessen Tiefe Gottes Wissen, Gottes Wollen und Gottes Walten sich vollzieht.104 Ich gebe mich der Hoffnung hin, mit diesem Gedankengang der Bedeutung der seinerzeit so intensiv umstrittenen Formel ὁμοόυσιος τῷ πατρί (DH 125.150) gerecht zu werden.105

104 Vgl. hierzu Eilert Herms, STh (Bd. 1), 627 u. ö., der diesen Sachverhalt mit dem Term „Gegenwartsgegenwart“ anspricht. 105 Mit diesem Gedankengang unterscheide ich mich von solchen Deutungen der οὐσία, die das göttliche Wesen in Aufnahme von 1Joh 4,16b mit Hilfe und im Lichte der zentralen Bestimmung der Liebe (ἀγάπη) entfalten, und zwar ohne Rücksicht auf die Bestimmung des göttlichen Wesens als unendlicher Geist (Markus Mühling-Schlapkohl, Gott ist Liebe. Studien zum Verständnis der Liebe als Modell des trinitarischen Redens von Gott, Marburg: Elwert, 2000 [MThSt; 58]; Markus Mühling, Liebesgeschichte Gott. Systematische Theologie im Konzept, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013; Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt [wie Anm. 42], 430–453: Der Gott, der Liebe ist. Zur Identität von Gott und Liebe; Wilfried Härle, Dogmatik5 , 240–248). Erst recht unterscheide ich mich von der „Theologie der göttlichen Passion“, mit der Jürgen Moltmann, Trinität und Reich Gottes [wie Anm. 22, 36–76], seine Darstellung der Trinitätslehre eröffnet, in der Absicht, auf diesem Wege das sog. „Apathieaxiom“ zu überwinden).

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„Gott ist Geist“ (Joh 4,24)

1.5.3.3.2 Gott als dreieiner Geist

Dem Christus-Glauben, der sich in der religiösen Kommunikation des Evangeliums kraft des Heiligenden Geistes in einer Reihe lebensbedeutsamer Szenen bildet, ist es als wahr gewiss, dass ihm in Jesu Christi Proexistenz – als „Abglanz seiner Herrlichkeit“ und als „Ebenbild seines Wesens“ (Hb 1,3) – die Gottheit Gottes begegnet. In dieser Reihe lebensbedeutsamer Szenen wird immer wieder neu die Wahrheit offenbar, die heilsam, klärend, richtend und befreiend ist. Ich hatte den Zusammenhang zwischen dem erleuchtenden Walten Gottes des Heiligenden Geistes, dem versöhnenden Walten des Christus Jesus und dem schöpferischen Walten Gottes des Vaters in meiner Skizze der trinitarischen Struktur des göttlichen Waltens angesprochen. Vom Leben in dem Grund-Vertrauen auf die Struktur des göttlichen Waltens geht jeder seriöse Versuch aus, die Einzigkeit des göttlichen Wesens im Sinne ihrer internen Relation zu betrachten. Vor allem anderen sei eingestanden, dass wir im Rückblick auf die Wege der theologischen Lehre von Gottes dreieinem Person-Sein schwerlich über den Status eines Modells hinauskommen werden, welches das Geheimnis, das Gott ist, allenfalls von ferne sehen lässt: „Nah ist und schwer zu fassen der Gott.“ (Friedrich Hölderlin)

Blicken wir auf die Geschichte der kirchlich-theologischen Lehre von Gottes dreieinem Person-Sein zurück, so fällt die unerhörte Schwierigkeit ins Auge, mit der das Denken des Gedankens einer internen Relation des göttlichen Wesens zu kämpfen hat. Ich sehe diese Schwierigkeit darin, dass die seit Tertullian gesuchte und behauptete distinctio trinitatis des einen einzigen göttlichen Wesens kaum je zu erschwingen war. Wenn die Synode zu Alexandrien im Jahre 362 die Trinität als „wahrhaft seiende Dreiheit“ definierte oder wenn Basilius die trinitarischen Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes als Benennungen dreier Hypostasen – dreier individueller Existenzweisen des einen einzigen göttlichen Wesens – zu verstehen lehrte, so blieb die Frage ohne überzeugende Antwort, ob nicht der Begriff dreier individueller Existenzweisen die Einheit und die Einzigkeit des göttlichen Wesens faktisch sprenge. Insofern ist die Skepsis wohl verständlich, die Augustin gegenüber der Unterscheidung zwischen der einen einzigen οὐσία (im Sinn der einen einzigen Substanz) und den drei Hypostasen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes empfand.106 106 Vgl. zum Folgenden Aurelius Augustinus, De Trinitate / Über die Trinität (CChr.SL 50–50A), Turnhout 1968, bes. Buch IX sowie Buch X–XI. – Vgl. zu Augustins Trinitätslehre bes.: Hermann Deuser, Trinität und Relation, in: Wilfried Härle und Reiner Preul (Hg.), Trinität, Marburg: Elwert, 1998 (MJTh; X [MThSt; 49]), 95–128; Ders., Trinität: Relationenlogik und Geistesgegenwart, in: Michael Welker und Miroslav Volf (Hg.), Der lebendige Gott als Trinität (wie Anm. 65), 68–81).

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Gottes Person-Sein

Augustin suchte diese seine Skepsis auf zwei verschiedenen Wegen zu überwinden. Beide Wege zeichnen sich im aufgewühlten trinitätstheologischen Streit des 4. und des 5. Jahrhunderts dadurch aus, dass sie die „wahrhaft seiende Dreiheit“ Gottes im Ausgang von der Erkenntnis der Struktur des menschlichen In-sich-Seins zu verstehen suchen. Denn wenn es richtig ist zu sagen, dass die Struktur des menschlichen In-sich-Seins das kreatürliche Ebenbild des göttlichen In-sich-Seins ist, dann muss es möglich und dann muss es konvenient sein, das göttliche In-sich-Sein im Spiegel des menschlichen In-sich-Seins zu erblicken. Zeigt sich uns die Struktur des menschlichen In-sich-Seins zugleich als eine und als triadisch gegliederte Struktur, so muss es möglich und so muss es konvenient sein, auch das göttliche In-sich-Sein als zugleich eines und als triadisch gegliedertes zu deuten. Im univoken Sinne – wie Johannes Duns Scotus sagen wird – ist Gottes In-sich-Sein als zugleich eines und als triadisch gegliedertes Ereignis, Akt, Leben und Gerichtet-Sein auf Anderes hin. Der erste der beiden Wege, wie Augustin ihn im Buch IX von „De Trinitate“ geht, führt zur Betrachtung des menschlichen In-sich-Seins im Bild der Liebe, genauer: im Bilde des Sich-Liebens. Im Bild der Liebe und genauer im Bilde des Sich-Liebens dürfen wir nämlich ein liebendes Wesen und ein geliebtes Wesen unterscheiden als eines und doch aufeinander bezogenes und miteinander verbundenes Wesen: und zwar derart aufeinander bezogen und miteinander verbunden, dass dies BezogenSein und dies Verbunden-Sein vermittelt ist durch das Erkennen. Im Überschritt zum transzendenten Grund und Ursprung unserer selbst erschließt das Bild der Liebe bzw. das Bild des Sich-Liebens mithin das göttliche In-sich-Sein als diejenige Relation, in der der unendliche Geist – die Gottheit Gottes des Vaters – sich selbst in der Gottheit des Sohnes erkennt und sich selbst in der Gottheit des Heiligen Geistes liebend will. Augustin interpretiert Gottes dreieines Wesen – grundlegend für die Geschichte des kirchlich-theologischen Denkens seither – als diejenige Relation, in der die Relate, die wir mit den trinitarischen Namen des Vaters, des Sohnes bzw. des Wortes und des Heiligen Geistes bezeichnen, eines sind (und nicht etwa jeweils „eins“ im numerischen Sinne einer Ordinalzahl!). Der zweite Weg, den Augustin insbesondere in den Büchern X, XI und XV von „De Trinitate“ geht, führt zu präziserer Erkenntnis, welche das menschliche Insich-Sein mittels der Termini Erinnern („memoria“), Einsehen („intellegentia“) und Wollen („voluntas“) erfasst. Mit Hilfe und im Lichte dieser Termini kennzeichnet Augustin das menschliche In-sich-Sein als eine Relation des Sich-Vermittelns: „Ich erinnere mich nämlich, dass ich Erinnerung habe und Einsicht und Wollen, und ich sehe ein, dass ich einsehe und will und mich erinnere, und ich will, dass ich will und mich erinnere und einsehe.“107 Im Überschritt zum transzendenten Grund und Ursprung unserer selbst erschließt diese Beschreibung der Struktur

107 Aurelius Augustinus, De Trinitate X, 18.

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des menschlichen In-sich-Seins deutlicher als die erste die Einheit des einzigen göttlichen Wesens als Einheit unaufhebbar dreier Momente. Sie mit den Trägern der trinitarischen Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes direkt gleichzusetzen, lag nicht in Augustins Absicht. Meine Interpretation hat hoffentlich gezeigt, warum Augustins Bemühen um eine angemessene begriffliche Bestimmung des göttlichen Geheimnisses für die Geschichte des kirchlich-theologischen Denkens schlechthin stilbildend geworden ist. Für meine eigene Betrachtung sei nunmehr Folgendes festgehalten: Nach Augustins Erkenntnislehre ist uns das göttliche Geheimnis nicht schlechterdings verborgen und verschlossen, sondern vielmehr in Gottes trinitarischem Walten offenbar. Als transzendenter Grund und Ursprung des trinitarischen Waltens ist Gottes Geheimnis bestimmbar, weil und sofern es sich im In-sich-Sein des menschlichen Geistes als seines Ebenbildes spiegelt. Kraft dieser Spiegelung verstehen wir, dass Gottes Sein nicht anders denn als intellektuales Sein – als Sein des unendlichen ursprünglichen Geistes – zu denken ist. Ihm eignet die Struktur des wissentlichen und des willentlichen Selbstverhältnisses: d. h. derjenigen Relation, in welcher die zu unterscheidenden Momente des ursprünglichen Geistes eines sind. Insofern ist es widersprüchlich, die Momente der Relation, als die Gott lebt und wirkt, mit Hilfe der Begriffe der Hypostase oder der Person zu benennen. Vielmehr hat der Begriff der trinitas – der Dreiheit – transkategorialen Sinn und transkategoriale Bedeutung. Er intendiert eine Bestimmtheit des wahrhaft Unendlichen, das jenseits des endlich Unbegrenzten und seiner Zahlenreihe ist. Indem Augustin den Überschritt in die Sphäre des unendlichen ursprünglichen Geistes aus der Perspektive des menschlichen In-sich-Seins und seiner Erfahrung von Gegenwart wagt, entwirft er ein subjekttheoretisches Modell der Gottheit Gottes. Von diesem Modell ist meine eigene Betrachtung inspiriert. Erstens: Die theologische Interpretation der kirchlich festgestellten Lehre, wie sie das Symbol der Synode von Konstantinopel formuliert, war und ist weitestgehend geprägt von dem Gedanken zweier Hervorgänge: des ersten Hervorgangs Gottes des Sohnes von Gott dem Vater, für die man die Metapher des „Geboren-Werdens“ verwendet, und des zweiten Hervorgangs Gottes des Heiligen Geistes von Gott dem Vater und von Gott dem Sohn, für die man die Metapher des „Ausgehens“ verwendet.108

108 Wir dürfen nicht vergessen, dass die Ergänzung des 3. Artikels des Symbols von Konstantinopel durch das sog. filioque eine Sonderlehre der lateinischsprachigen westlichen Kirchengemeinschaft ist, die sich m. W. zum ersten Mal findet in dem Text „‚Tomus Damasi‘ seu Confessio fidei ad Paulinum ep. Antioch.“, der auf einem Konzil zu Rom im Jahre 382 verabschiedet (DH 152–177) und später auf dem 3. Konzil von Toledo im Jahre 589 bekräftigt wurde (DH 470). Sie hat ganz wesentlich zum Schisma des Jahres 1054 und damit zur langfristigen Entfremdung zwischen der

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Gottes Person-Sein

Allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz unterstellt dieser Gedanke ein asymmetrische Verhältnis im Leben des göttlichen Wesens, sofern er – wie schon Origenes es sah – die Gottheit des Vaters als die Quelle der Gottheit des Sohnes und der Gottheit des Heiligen Geistes zu denken nahe legt.109 Wollen wir den Gedanken des asymmetrischen Verhältnisses im Leben des göttlichen Wesens vermeiden, kommen wir nicht darum herum, die trinitarischen Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes als Namen für die gleichursprünglichen Instanzen zu verstehen, die miteinander das eine und einzige göttliche Wesen bilden. Dürfen wir das eine und einzige göttliche Wesen als Geist, und zwar als wahrhaft unendlichen, wahrhaft vollkommenen Geist anbeten und verehren (Joh 4,24), so dürfen wir in konvenienter Weise vom Geist-Sein Gottes des Vaters, vom Geist-Sein Gottes des Sohnes und vom Geist-Sein Gottes des Heiligen Geistes sprechen. Mit den trinitarischen Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes meinen wir die drei Momente des unendlichen Geistes, die wir nur im Sinne jener distinctio formalis unterscheiden, wie sie Johannes Duns Scotus zu verstehen lehrte. Das ist zu entfalten; und zwar mit Rücksicht auf den ontologischen Charakter, wie ich ihn bisher in der Lehre vom christlichen Glauben an Gott beachtet hatte. Denn die Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums, die der Christus-Glaube inmitten der Erfahrungen der Anfechtung durch das Schuldig-Werden und durch das Leid der Endlichkeit ist, ist als solche die Gewissheit jener ontologischen UrEntscheidung Gottes, jener ursprünglichen Wahl der Gnade, ohne die nichts ist, nichts sein, nichts bleiben wird. Dürfen wir uns in der Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums als mit Gott und miteinander versöhnt verstehen, so dürfen wir das Kontinuum des Geschehens der Welt und unseres eigenen selbstbewusst-freien Person-Seins im Geschehen der Welt begreifen als gegeben, gewährt und gehalten von einem ursprünglichen gründenden Grund. Von diesem ursprünglichen gründenden Grund ist in den doxologischen Preisungen des Neuen Testaments die Rede, die – wie jedenfalls die Doxologie des Apostels Paulus – das göttliche Wesen nicht zufällig triadisch symbolisieren.110 Können wir dessen innere Struktur in konvenienter Form erfassen? Zweitens: Kehren wir zurück zu dem Versuch, das Wesen Gottes mit Hilfe und im Licht des Begriffs des wahrhaft unendlichen, des wahrhaft vollkommenen Geistes

Orthodoxen Kirchengemeinschaft und der Kirche unter dem Bischof von Rom – und damit auch der reformatorischen Bewegung – beigetragen. 109 Diese asymmetrische Deutung, die sich aus dem Gedanken zweier Hervorgänge unvermeidlich ergibt, scheint mir noch Hegels geistphilosophische Interpretation der Trinitätslehre zu beherrschen und dann insbesondere die Trinitätslehre Karl Barths. 110 „Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.“ (Röm 11,36).

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„Gott ist Geist“ (Joh 4,24)

zu beschreiben. Mit dem Begriffswort „Geist“ meinen wir doch wohl das Sichgegenwärtig-Sein, kraft dessen wir Anderes als Anderes erleben, benennen, interpretieren, berechnen, untersuchen, entwerfen und gestalten. Wir meinen damit diejenige Reflexivität, in deren Licht uns nicht nur überhaupt etwas als etwas erscheint; wir meinen damit auch und zugleich diejenige Reflexivität, die wir als die uns unmittelbar vertraute und uns unmittelbar gewisse thematisieren. Jener ursprüngliche Grund, nach dessen innerer Struktur wir fragen, ist im univoken Sinne Geist; und zwar insofern, als er an und für sich Licht ist. Mit dieser metaphorischen bzw. mit dieser symbolischen Benennung sei gesagt, dass das göttliche Wesen seiner selbst gewiss ist bzw. mit sich selbst ursprünglich vertraut ist.111 Ohne die basale Bestimmung des göttlichen Wesens als seiner selbst gewiss bzw. als mit sich selbst ursprünglich vertraut wäre der Gedanke, dass das Kontinuum des Geschehens der Welt und unseres leibhaften Person-Seins in ihm gewährt, gehalten und auf Vollendung ausgerichtet wird von einem ursprünglichen unendlichen Grund, nicht widerspruchsfrei zu denken. Nun suchen wir dasjenige Modell, das es uns möglich macht, die innere Struktur der „Gegenwartsgegenwart“ des göttlichen Wesens zu erfassen, die wir im Ausgang von der Gewissheit des Christus-Glaubens endgültig zu verstehen wagen. Nur wenn wir in und kraft der Gewissheit des Christus-Glaubens Gott selbst als mit sich selbst vertraut zu denken suchen, werden wir in der Situation des endgültigen Offenbar-Werdens für uns das ursprüngliche Sich-Offenbar-Sein Gottes an und für sich anbeten und ehren. Dies ursprüngliche Sich-Offenbar-Sein Gottes an und für sich ist jenes Thema, auf das die kirchliche Lehre, die Sprache der christlichreligiösen Frömmigkeit und Kunst und schließlich die Geschichte der theologischen Theorie bezogen ist. Um willen dieser Lehre und um willen dieser Sprache kommt theologische Theorie nun einmal nicht darum herum, diejenige objektive Wahrheit zu intendieren, die die dem Sein und Sinn des göttlichen Wesens eigene Wahrheit ist.112 Bevor ich mich um dieses Modell bemühe, erinnere ich an die Pointe der Kritik, die Friedrich Schleiermacher an der überlieferten Gestalt der kirchlichen Trinitätslehre vorgetragen hatte (s. 1.5.2). Diese Pointe macht auf das Problem einer

111 Eilert Herms gebraucht für diesen basalen Sachverhalt die Termini „ursprünglich unmittelbare Selbstpräsenz“, „Gegenwartsgegenwart“ (STh [Bd. 1], 627). 112 Vgl. zu dieser Intention der theologischen Theorie die ebenso eingehende wie kritische Interpretation der Enzyklika Papst Johannes Pauls II. „Fides et Ratio“ an die Bischöfe der katholischen Kirche über das Verhältnis von Glaube und Vernunft vom 14. September 1998. Hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2014 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls; 135) bei Eilert Herms, Objektive Wahrheit. Beobachtungen und Fragen zum Verhältnis von Wahrheit und Offenbarung in der Enzyklika „Fides et Ratio“, jetzt in: Ders., Von der Glaubenseinheit zur Kirchengemeinschaft II, Marburg: N. G. Elwert Verlag, 2003 (MThSt; 68), 585–613.

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Gottes Person-Sein

Darstellung aufmerksam, die das Selbstverhältnis des göttlichen Wesens in einer asymmetrischen Weise meint beschreiben zu sollen, so als würde der trinitarische Name Gottes des Vaters und nur er den ursprungslosen Ursprung bezeichnen, von welchem sowohl Gott der Sohn als auch Gott der Heilige Geist ihr gottheitliches Wesen empfangen. Mit dieser seiner kritischen Analyse hatte Schleiermacher die Aufgabe begründet, ein symmetrisches Modell des Selbstverhältnisses zu entwerfen, in welchem und als welches Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit lebendig ist. Diese Aufgabe sei im Folgenden in Angriff genommen. Drittens: Für meine komprimierte Erinnerung an das Symbol von 325 bzw. von 381 bin ich davon ausgegangen, dass dieses kirchlich festgestellte Taufbekenntnis das ehrwürdige Interpretandum jeder systematisch-theologischen Theorie ist. Als solches bezieht es sich auf das Symbolum Apostolicum, dessen heilsgeschichtlichtrinitarischen Grundriss es ergänzt mit Hilfe der Bestimmungen, die das Verhältnis zwischen Gott dem Vater, dem einen Herrn Christus Jesus als Gott dem Sohn und schließlich Gott dem Heiligen Geist betreffen. Wohl seit dem 5. Jahrhundert in die Liturgie der Messe integriert, bringt das Symbol das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens umfassend im Gebet und als Gebet zur Sprache. Es spricht von Gott dem ewigen Lebens- und Vertrauensgrund des Glaubens allerdings nicht etwa so, als handle es sich hier um eine Ansichtssache, die man haben oder auch nicht haben kann. Vielmehr hat jede angemessene Interpretation des ehrwürdigen Lehr-, Bekenntnis- und Gebetstexts zu beachten, dass er – indem er das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens symbolisiert – das christliche Verständnis des Sinnes von Sein symbolisiert. Im Kontext der Geschichte seiner Entstehung, seiner Rezeption und seiner Wirkung gibt er die ontologische Differenz zu bedenken zwischen dem transzendenten Grund und Ursprung des Ganzen und dem Inbegriff des Seienden, das diesem transzendenten Grund und Ursprung des Ganzen Dasein, Dauer, Gestalt und schließlich unumkehrbare und unfehlbare Richtung auf das „Leben der zukünftigen Welt“ hin verdankt. Eben als religiöser, eben als kultischer Text hat das Symbol ontologische, um nicht zu sagen metaphysische Bedeutung; und zwar indem es philosophisches Denken des Einen sowohl ernst nimmt als auch präzisiert und im Sinne der Kritik erweitert.113

113 Hierfür sind die Forschungen von Werner Beierwaltes, Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt a.M.: Klostermann, 1985, von ganz besonderem Gewicht. – Es war insofern durchaus sachgemäß, dass Augustin sich am metaphysischen Denken Plotins orientierte – und zwar in dessen durch Porphyrius (234–vor 305) fortgebildeten Gestalt –, das ihm der römische Rhetor Marius Victorinus (281/291–nach 363) nahegebracht hatte. Victorinus hatte in seinen Abhandlungen „Adversus Arium I–IV“ das Wesen des Einen als intelligible Dreiheit von Sein, Leben und Erkennen zu verstehen gesucht, die aller-

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„Gott ist Geist“ (Joh 4,24)

Viertens: Um nun zu zeigen, dass das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens das philosophische Denken des Einen sowohl ernst nimmt als auch präzisiert und im Sinne der Kritik erweitert, sei nun gefragt, ob wir – und wenn ja, in welcher Weise wir – das mit den trinitarischen Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes gemeinte Selbstverhältnis des göttlichen Wesens verstehen können. Indem wir Gottes Geist als Gottes Person und Gottes Person als ursprüngliches Selbstverhältnis denken, schreiben wir das philosophische Begreifen-Wollen des transzendenten Einen im Lichte des Sich-selbst-Offenbarens fort, dessen Sinn und dessen Richtung uns in der Situation des Christus-Glaubens endgültig offenbar wird. Wir nehmen mit dem neuplatonischen Denken, wie es uns insbesondere auch im Werk Nikolaus’ von Kues begegnet, die Nicht-Andersheit des göttlichen Wesens ernst114 : also die ontologische Differenz zwischen Gottes unendlichem Sein als Geist und dem Inbegriff des endlich Seienden, das unbeschadet seiner Wechselwirkungen und Wechselverhältnisse uns stets in seiner je besonderen Verschiedenheit gegeben ist. Gleichzeitig präzisieren wir den großen Gedanken der Nicht-Andersheit des göttlichen Wesens, indem wir Gottes unendliches Sein als Geist und damit als sich selbst erschlossen und als sich selbst bestimmend denken dürfen. Ist aber Gottes Sein als Gottes Geist und Gottes Geist als sich selbst erschlossen und als sich selbst bestimmend zu denken, so weist uns dies Sich-selbst-erschlossen-Sein bzw. dies Sich-selbst-Bestimmen auf jene interne Andersheit bzw. auf jene interne Differenz hin, kraft derer Gott ursprünglich offen ist für Gottes irdisches Ebenbild in Gestalt des leibhaften Person-Seins. Versuchen wir, die Momente jener internen Andersheit bzw. jener internen Differenz zu charakterisieren. Zum einen: In den Ursprungssituationen des Christus-Glaubens wird uns kraft des Heiligenden Geistes, der in die ganze Wahrheit führt, Gott endgültig als Gott der Vater offenbar. Der trinitarische Name „Vater“ bezeichne jenes Moment des göttlichen Wesens, das dessen Sich-selbst-erschlossen-Sein bedeutet. Zum andern: In den Ursprungssituationen des Christus-Glaubens wird uns kraft des Heiligenden Geistes, der in die ganze Wahrheit führt, Gott endgültig als Gott der Sohn bzw. als Gott das Wort oder die Weisheit offenbar. Der trinitarische Name „Sohn“ bzw. „Wort“ oder „Weisheit“ bezeichne jenes Moment des göttlichen Wesens, das dessen Sich-selbst-Bestimmen bedeutet. Kraft des Moments des „Sohnes“ bzw. des „Wortes“ oder der „Weisheit“ ist das Moment des „Vaters“ Gottes

dings im Unterschied sowohl zu Plotin als auch zu Porphyrius im Gebet als Person – und d. h. als Urheber des Heils- und Gnadenwillens – anzusprechen ist. Vgl. bes. Mary T. Clark, Art. Marius Victorinus: TRE 22, 165–169. 114 Vgl. zum Folgenden bes. Hendrik J. Adriaanse, Art. Andere/Andersheit II. Religionsphilosophisch: RGG4 1, 465–466 (mit Verweis auf Nikolaus von Kues, De non-aliud [1461/1462]); III. Dogmatisch: 466–467.

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Gottes Person-Sein

Sich-selbst-Erschlossen-Sein als das Sich-selbst-Bestimmen. Indem wir sagen, dass im Moment des „Sohnes“ bzw. des „Wortes“ oder der „Weisheit“ das Moment des „Vaters“ sich erschlossen ist als sich selbst bestimmend, meinen wir in der Relation des „Sohnes“ bzw. des „Wortes“ oder der „Weisheit“ zum „Vater“ diejenige transzendente Bedingung zu entdecken, unter der es überhaupt den Inbegriff des endlich Seienden des Geschehens der Welt und des Geschehens in der Welt als Zeitraum der Geschichte und des Geschicks des irdischen Ebenbildes Gottes in Gestalt des leibhaften Person-Seins geben kann und wirklich gibt.115 Mit dem Moment des „Sohnes“ bzw. des „Wortes“ oder der „Weisheit“ in seiner Relation zum Moment des „Vaters“ bringen wir uns mithin den „gründenden Grund“ (Werner Beierwaltes) des Weltverhältnisses vor Augen, in welchem Gottes unendliches Sein als Gottes Geist und demnach als Gottes Person von sich selbst her lebt. Zum Dritten: In den Ursprungssituationen des Christus-Glaubens wird uns kraft des Heiligenden Geistes, der in die ganze Wahrheit führt, Gott endgültig als Gott der Heilige Geist offenbar. Der trinitarische Name „Heiliger Geist“ bezeichne jenes Moment, kraft dessen das göttliche Wesen – das sich erschlossen ist als sich selbst zum gründenden Grund des Seienden bestimmend – sich selbst bejaht; und zwar in Freude bejaht. In dem Moment des Sich-Bejahens des göttlichen Wesens ist eingeschlossen, dass die Relation des „Vaters“ und des „Sohnes“ bzw. des „Wortes“ oder der „Weisheit“, die wir als den gründenden Grund des göttlichen Weltverhältnisses verstehen dürfen, uns präsent ist in ihrer Eigenart als definitive, unwiderrufliche, dauernde Affirmation. Der trinitarische Name „Heiliger Geist“ lässt jene einzigartige Treue assoziieren, in der das göttliche Wesen an und für sich den Inbegriff des Seienden – den Zeitraum der Geschichte und des Geschicks des irdischen Ebenbildes Gottes in Gestalt des leibhaften Person-Seins – überdauert und ihm bleibend zugewandt ist. In diesem Überdauern, in diesem Bleiben suchen und finden wir denn auch den real wirklichen und wirksamen Grund dafür, dass es jenseits des möglichen und des wirklichen Leids der Endlichkeit und jenseits der möglichen und der wirklichen Bosheit absolute Zukunft für uns gibt: die Zukunft des Sehens „von Angesicht zu Angesicht“ (1Kor 13,12), in der sich die Geschichte des göttlichen Sich-Offenbarens an uns und mit uns vollendet und erfüllt (s. 4.5.4). Ich suchte ein Modell zu entwickeln, mit dessen Hilfe und in dessen Licht die trinitarischen Namen des Vaters, des Sohnes bzw. des Wortes oder der Weisheit und des Heiligen Geistes zu dechiffrieren sind als die gleichwesentlichen und gleichursprünglichen Momente des göttlichen Wesens, seines Eigen-Seins und seines Eigen-Sinns. Sie bezeichnen als solche die Relate, in denen Gottes Person-Sein als dreieines Person-Sein lebt. Als dies dreieine Person-Sein ist Gott zu verstehen nicht

115 Eilert Herms benennt dieses Moment mit dem Ausdruck „Wesenswille“ (STh [Bd. 1], 620 u. ö.).

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„Gott ist Geist“ (Joh 4,24)

nur als gründender Grund der Lebens- und Erfahrungswelt des endlichen PersonSeins, sondern auch als gründender Grund der absoluten Zukunft ewiger Freude (s. 4.5.4.3.4), um derentwillen Gott das Leid der Endlichkeit und das Abgründige menschlicher Bosheit versöhnend auf sich nimmt und an sich selbst erträgt. Indem dem Christus-Glauben in einer Reihe lebensbedeutsamer Szenen die Wahrheit des Evangeliums erschlossen wird als Wahrheit für uns Menschen alle, wird ihm eine neue Sicht tragfähigen Lebenssinnes gewährt (vgl. Röm 6,4; 7,5). Sie gründet sich darauf, dass Gottes dreieines Person-Sein, ohne das menschliches Person-Sein nie und nimmer wäre, schlechthin vollkommen ist. Schlechthin vollkommen aber ist es zuhöchst darin, dass es dem menschlichen Person-Sein in seiner Lebens- und Bildungsgeschichte begrenzten Anteil gibt an der ihm eigenen Vollkommenheit. Diese Sicht tragfähigen Lebenssinnes sei nun dargelegt im Blick auf Gottes Wahr-Sein (1.5.3.3.3) und im Blick auf Gottes Gut-Sein (1.5.3.3.4). 1.5.3.3.3 Gottes Wahr-Sein116

Dem Christus-Glauben, der sich in der religiösen Kommunikation des Evangeliums durch Gottes Heiligenden Geist in einer Reihe lebensbedeutsamer Szenen bildet, ist es als wahr gewiss, dass Gottes Sein nicht anders denn als ein WahrSein zu verstehen ist. In Aufnahme des Offenbarungszeugnisses der Hebräischen Bibel in der Version der Septuaginta spricht jedenfalls das Neue Testament an

116 Vgl. zum Folgenden bes.: Anselm von Canterbury, De veritate. Über die Wahrheit. Lat.-deutsche Ausgabe von P. Franciscus Salesius Schmitt O.S.B., Stuttgart-Bad Cannstatt: Friedrich Frommann Verlag (Günther Holzboog), 1966; Thomas von Aquino, STh I q 16 (bes. a 5: Utrum Deus sit veritas); Papst Johannes Paul II., Enzyklika „Fides et Ratio“ (14. September 1998), hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 7 2014 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls; 135); Armin Kreiner, Ende der Wahrheit? Zum Wahrheitsverständnis in Philosophie und Theologie, Freiburg i. Br./Basel/Wien: Herder, 1992; Eberhard Jüngel, Metaphorische Wahrheit. Erwägungen zur theologischen Relevanz der Metapher als Beitrag zur Hermeneutik einer narrativen Theologie, jetzt in: Ders., Theologische Erörterungen, Bd. 2: Entsprechungen. Gott – Wahrheit – Mensch, München: Kaiser, 3 2002, 103–157; Wilfried Härle, Das christliche Verständnis von Wahrheit und Gewißheit aus reformatorischer Sicht, jetzt in: Ders., Spurensuche nach Gott. Studien zur Fundamentaltheologie und Gotteslehre, Berlin/New York, Walter de Gruyter, 23–53; Ingeborg Schüßler, Art. Wahrheit/Wahrhaftigkeit IV. Philosophisch: TRE 35, 347–363; Eilert Herms, Art. Wahrheit/ Wahrhaftigkeit V. Systematisch-theologisch: ebd. 363–378; Ders., Die Christusoffenbarung als Offenbarung der Wahrheit über den Menschen: Die Abhängigkeit des Menschen von der Offenbarung der Wahrheit über Gott, in: Eilert Herms/Lubomir Žak (Hg.), Grund und Gegenstand des Glaubens nach römisch-katholischer und evangelisch-lutherischer Lehre. Theologische Studien, Tübingen: Mohr Siebeck/Lateran University Press, 2008, 359–401; Hermann Deuser, Was ist Wahrheit anderes als ein Leben für eine Idee? Kierkegaards Existenzdenken und die Inspiration des Pragmatismus. Ges. Aufsätze zur Theologie und Religionsphilosophie. Hg. von Niels Jørgen Cappelørn und Markus Kleinert, Berlin/New York: de Gruyter, 2011; Eberhard Jüngel/Klaus Koch/Christof Landmesser/ Hans-Peter Großhans, Art. Wahrheit I.–VII.: RGG4 8, 1245–1259.

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Gottes Person-Sein

wenigen jedoch gewichtigen Stellen davon, dass Gott Wahrheit ist und dass die Christus-Gemeinschaft aus „Juden“ und „Griechen“ im fleischgewordenen Wort die „Gnade und Wahrheit“ des göttlichen Wesens selbst geschaut habe und in Ewigkeit schaut.117 Bevor ich daran gehe zu erklären, inwiefern der christliche Glaube an Gott der Bestimmtheit des göttlichen Gut-Seins gewiss ist, gilt es daher zu zeigen, inwiefern das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens das Verstehen des göttlichen Wahr-Seins einbegreift. Würden wir diese Termini nicht begrifflich dechiffrieren können, so würden wir die Intention des biblischen Offenbarungszeugnisses kaum klar und deutlich explizieren können. Schließt das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens das Verstehen des göttlichen Wahr-Seins ein, so können wir dies explizieren im Licht der Antwort auf die Frage, was denn der Prädikator „wahr“ zu bedeuten habe.118 Eine Beantwortung dieser Frage von einem neutralen Standpunkt oder von einem angeblich allgemeinen Wahrheitsbewusstsein aus scheint mir unmöglich zu sein. Wenn wir die Prädikatoren „wahr“ bzw. „richtig“ oder „unwahr“ bzw. „unrichtig“ verwenden, so tun wir das im Lichte einer Perspektive der Lebenswelt bzw. der Erfahrungswelt und damit einer Sicht des Sinnes von Sein. Und diese Perspektive der Lebenswelt bzw. der Erfahrungswelt im Ganzen und damit einer Sicht des Sinnes von Sein betrifft nicht nur die Art und Weise, in der wir das semantische Potential einer gesprochenen Sprache für das Erfassen und Erkennen des uns erscheinenden Realen gebrauchen; sie entscheidet auch und vor allem über das, was wir für möglicherweise „wahr“ bzw. „richtig“ und für möglicherweise „unwahr“ bzw. „unrichtig“ halten. Im Lichte einer Perspektive der Lebenswelt bzw. der Erfahrungswelt im Ganzen und damit einer Sicht des Sinnes von Sein ist jedenfalls der Sachverhalt umstritten, auf den sich der Term „Wahrheit“ und dessen Negation im Term „Unwahrheit“ bzw. im Term „Lüge“ bezieht.119

117 Vgl. bes.: Joh 1,1-16; 3,33b; 14,17; Röm 1,18; 3,4; 1Joh 5,6. 118 Vgl zum Folgenden Konrad Stock, STh I, 472–487. 119 Nicht mehr umstritten, sondern überhaupt negiert ist dieser Sachverhalt, wenn man den Term „Wahrheit“ karikiert als die „Verpflichtung, nach einer festen Konvention zu lügen“. Daraus ergibt sich die interessante Definition: „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind…“: Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, in: Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden. Hg. von Karl Schlechta. Dritter Band, München: Carl Hanser Verlag, 8 1977, 309–322; 314. – Ohne dass ich die ideologiekritische Pointe dieser Sätze in Frage stelle, ist es doch mit Händen zu greifen, wie selbstwidersprüchlich und damit wie nichtig sie sind. Nietzsches wahr sein wollende Behauptung, dass Wahrheiten „Illusionen sind, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind“, macht ebenso ratlos wie misstrauisch gegenüber der programmatischen These, wie sie vorträgt Eberhard Jüngel, Metaphorische Wahrheit. Erwägungen

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Weil dem so ist, skizziere ich im Folgenden den Grundriss dessen, was über den Gegenstand des Begriffs des Wahr-Seins aus der Perspektive des Christus-Glaubens zu sagen ist: aus jener Perspektive also, in der das Wesen Gottes je und je endgültig offenbar wird. Ein solcher Grundriss steht nicht isoliert neben den anderweitigen Konzeptionen des Wahr-Seins; seine theoretische Potenz erweist sich vielmehr darin, dass er und wie er Aspekte der anderweitigen Konzeptionen des Wahr-Seins zu integrieren fähig ist. Erstens: In einer ersten Hinsicht verwenden wir den Ausdruck „wahr“ bzw. „richtig“ und dessen Negation für unser Urteil über eine sprachlich gefasste Aussage zu irgendeinem sei es einfachen sei es mehr oder weniger komplexen Gegenstand in der Einheit unserer Lebens- und Erfahrungswelt. Ein solches Urteil ist stets eingebunden in irgendeine Kommunikation bzw. in irgendeine Interaktion, die zum Verstehen eines Gegenstandes bzw. zum angemessenen praktischen Umgang mit ihm in der Einheit unserer Lebens- und Erfahrungswelt führen soll. Es unterstellt, dass diese Kommunikation bzw. diese Interaktion die Eigenart – die „Eigenbewandtnis“ (Eilert Herms) – des zu verstehenden Gegenstandes durch trial and error hindurch intendiert; es sei denn, dass es Gründe gibt, den Erfolg dieser Intention zu bezweifeln und in Frage zu stellen in der Form des Urteils: das ist „unwahr“ bzw. das ist „unrichtig“.120 In dieser Verwendungsweise setzen wir voraus, dass sowohl die Kommunikation bzw. die Interaktion über die Gegenstände der Lebensund Erfahrungswelt als auch das positive oder negative Urteil unter der Bedingung der synthetischen Kraft der selbstbewusst-freien Vernunft des Menschen möglich ist (vgl. STh I, 238–244). Diese Bedingung ist ihrerseits Gegenstand sprachlich geformter Kommunikation und Interaktion, die ihrerseits „wahr“ bzw. „richtig“ oder „unwahr“ bzw. „falsch“ sein kann. Zweitens: Sowohl die Kommunikation bzw. die Interaktion über die Gegenstände der Lebens- und Erfahrungswelt als auch das positive oder negative Urteil über sie folgen dem Grundsatz der Korrespondenz bzw. der Angemessenheit – der adaequatio intellectus ad rem. Dieser klassische Grundsatz bewährt sich nach wie vor, selbst wenn man ihn mit Rücksicht auf die Forschungen der Phänomenologie

zur theologischen Relevanz der Metapher als Beitrag zur Hermeneutik einer narrativen Theologie (wie Anm. 116). Ich hatte in der fundamentaltheologisch ausgerichteten Prinzipienlehre gezeigt, dass christliche Theologie als historische Theologie zwar ganz mit Recht Erzählungen einschließt, dass sie als systematische Theologie jedoch auf keinen Fall programmatisch „narrativ“ sein kann, zumal sie notwendigerweise eine Ethik einschließt (vgl. STh I, 42–60; 60–76). 120 So ist z. B. das sog. ptolemäische Weltbild nach den Berechnungen von Nikolaus Kopernikus „unwahr“ bzw. „unrichtig“, wie auch das sog. kopernikanische Weltbild nach den Berechnungen von Johannes Kepler „unwahr“ bzw. „unrichtig“ ist.

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Gottes Person-Sein

Edmund Husserls und Martin Heideggers verfeinert und ergänzt. Er formuliert das ebenso alltägliche wie hehre Ziel, in den Prozessen der sprachlich geformten Kommunikation bzw. Interaktion die Eigenart bzw. die Eigenbewandtnis der zu verstehenden Gegenstände – ihr Wirklich-Sein – gedanklich, sprachlich und praktisch zu erfassen. Freilich ist dieses ebenso alltägliche wie hehre Ziel aus mancherlei Gründen nur unter großen Mühen zu erreichen. Zum einen deshalb, weil uns die zu verstehenden Gegenstände in irgendeiner Weise für uns selbst erschlossen sein, in irgendeiner Weise für uns selbst erlebbar sein müssen, damit wir Anteil nehmen können an der Geschichte der Versuche, sie zu verstehen und uns lebenspraktisch zu ihnen zu verhalten. Aus diesem Grund ist unsere je eigene Fähigkeit, uns auf den Inbegriff der zu verstehenden Gegenstände zu beziehen, stets eingebunden und stets abhängig von den Lehr- und Lernprozessen auf den verschiedenen Niveaus, die ihrerseits dem Kriterium des Wahr-Seins oder des Unwahr-Seins unterliegen.121 Zum andern deshalb, weil die zu verstehenden Gegenstände uns ihrerseits nur in den Formen sei es des nicht-sprachlichen sei es des sprachlichen Zeichensystems begegnen, die der Erklärung und der Interpretation bedürftig sind.122 Zumal die Kommunikation und Interaktion, die sich in unserer jeweils jetzigen Gegenwart über die großen epochalen Bewegungen – wie z. B. über die reformatorische Bewegung und über ihre langfristige Wirkungsgeschichte – abspielt, hat es zu tun mit einer Überfülle der Relikte, die uns in Urkunden, in Schriften, in Ordnungen und in Bildern gegenwärtig werden als erinnertes und zu erinnerndes Geschehen. Indem wir eine Bewegung diesen Typs in ihrer Eigenart erfassen wollen, bemühen wir uns wohl vergebens um eine Darstellung sine ira et studio; vielmehr verschränken wir in einer solchen Darstellung die deskriptiven und die präskriptiven Potentiale des Wortschatzes und der Grammatik einer Sprache und fällen ethische Urteile über den Wert oder aber über den Unwert des Geschehens – Urteile, die dann willkürlich oder unwillkürlich die Darstellung bestimmen. Zum Dritten deshalb, weil das Urteil über das Wahr-Sein oder Unwahr-Sein, über das Richtig-Sein oder Falsch-Sein der Darstellung eines zu verstehenden Gegenstandes letztlich eine Perspektive fordert, die das Gefüge der verschiedenen

121 Wie sehr diese unsere Fähigkeit abhängt von den Lehr- und Lernprozessen einer Gemeinschaft, kann man sich verdeutlichen an den epochalen Erfindungen und Entdeckungen kultureller, medizinischer und technischer Art – wie z. B. an der Entdeckung des Feuers oder des Blutkreislaufs, an der Erfindung der Schrift und an der Konstruktion des Verbrennungsmotors –, und ebenso an den politischen Entwürfen der Verfassung, des modernen Religionsrechts und des Sozialstaats. 122 Im Sinn der kategorialen Semiotik sind nicht-sprachliche Zeichensysteme die Form, in der uns – den „Interpretanten“ – insbesondere die zu verstehenden Gegenstände des kosmischen bzw. des natürlichen Geschehens als „Objekte“ begegnen.

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Aspekte der Einheit der Lebens- und Erfahrungswelt des Mensch-Seins wenigstens kategorial in den Blick bekommt (vgl. STh I, 258–304). Zwar ist es durchaus nicht verkehrt, diesen oder jenen einzelnen Aspekt einer großen epochalen Bewegung zu isolieren123 ; aber die Darstellung eines geschichtlichen Gegenstandes wie z. B. der reformatorischen Bewegung bleibt ohne die genaue ethische Kategorienlehre, die die Existenz und die Funktion einer religiösen Gemeinschaft wie der ChristusGemeinschaft in der Kultur ihrer Gesellschaft geltend macht, letztlich abstrakt und defizitär. Just dieses Beispiel möchte zeigen, dass das ebenso alltägliche wie hehre Ziel, die Eigenart bzw. die Eigenbewandtnis der zu verstehenden Gegenstände gedanklich, sprachlich und praktisch zu erfassen, nur unter der Bedingung zu erreichen ist, dass man die Transzendenzgewissheit der Akteure sowohl in deskriptiver Hinsicht als auch in evaluativer Hinsicht ernst nimmt. Denn sie ist letztlich konstitutiv für ihr Erleben und für ihr Entscheiden; ebenso wie die Transzendenzgewissheit derer, die die Eigenart bzw. die Eigenbewandtnis des Gegenstandes eruieren wollen, letztlich konstitutiv ist für ihr Verstehen oder aber Nicht-Verstehen der Eigenart bzw. der Eigenbewandtnis des Gegenstandes, den sie zu verstehen suchen.124 Aus diesen drei Gesichtspunkten ergibt sich Folgendes: Zwar zielt die Kommunikation bzw. die Interaktion über die Gegenstände unserer Lebens- und Erfahrungswelt auf welchem Niveau auch immer darauf, diese Gegenstände ebenso wie die transzendentale Bedingung ihres Verstehens im Sinn des klassischen Grundsatzes angemessen zu verstehen: sie zielt also auf die Sachwahrheit und d. h. auf das Wirklich-Sein, das nicht etwa willkürlich und beliebig zu erfinden oder zu erträumen ist125 ; aber die Sachwahrheit – das Wirklich-Sein – 123 Zum Beispiel ist es durchaus angebracht, die Geschichte der reformatorischen Bewegung unter dem Gesichtspunkt der Erfindung Johannes Gutenbergs und folglich unter dem Gesichtspunkt ihrer enormen medialen bzw. publizistischen Propaganda zu erzählen. 124 Deshalb existiert – um an meinem Beispiel zu bleiben – aus gutem Grund eine Geschichte der protestantischen und eine Geschichte der römisch-katholischen Geschichtsschreibung, aber auch eine Geschichte der marxistischen Geschichtsschreibung bezüglich der reformatorischen Bewegung. Die möglichen und die tatsächlichen Gegensätze ihrer jeweiligen Historik sind schwerlich anders zu erörtern als auf dem Niveau einer Fundamentaltheologie, die sich für die Genese einer Perspektive auf das Ganze der Lebens- und Erfahrungswelt interessiert. Ohne ein Interesse an der Sache und damit an der Sachwahrheit der reformatorischen Bewegung ist eine Darstellung der reformatorischen Bewegung als eines Gegenstandes unseres Wissen-Wollens stets abstrakt und defizitär. 125 So ist zum Beispiel die Sachwahrheit (das Wirklich-Sein) des Gegenstandes, auf die sich Albert Einsteins Allgemeine und Spezielle Theorie der Relativität bezieht, auch dann gegeben, wenn diese Theorie aus guten Gründen in der Zukunft korrigiert, verbessert oder womöglich neu konzipiert werden sollte. In entsprechender Weise ist die Sachwahrheit (das Wirklich-Sein) der reformatorischen Bewegung – nämlich ihr Verstehen des endgültigen Offenbar-Seins der „Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,14) des göttlichen Wesens als ihres Gegenstandes – auch dann gegeben, wenn

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Gottes Person-Sein

der Gegenstände unseres Verstehen-Wollens ist ebenso wenig wie die transzendentale Bedingung, unter der sie uns erscheinen, schlechthin notwendig. Ist aber unser Denken-Wollen, unser Verstehen-Wollen, unser Urteilen-Wollen hinsichtlich des Wirklich-Seins der Gegenstände unserer Lebens- und Erfahrungswelt nicht schlechthin notwendigerweise, sondern nur faktisch wahr, so ist es für uns frei gewählt und frei entschieden. Drittens: An dieser Stelle erhebt sich nun die Frage, ob – und wenn ja, in welcher Weise – auch das Mensch-Sein selbst und als solches als ein Gegenstand in Betracht kommt, über dessen Eigenart bzw. über dessen Eigenbewandtnis Aussagen möglich und notwendig sind, die „wahr“ oder „unwahr“, „richtig“ oder „falsch“ sein können. Diese Frage hat daran Anhalt, dass die Geschichte der Menschengattung seit dem Erscheinen des homo sapiens auf dieser Erde eine überwältigende Fülle von Überlieferungen und Ritualen, von Bildern, Dichtungen und Reflexionen kennt, in denen sich das Menschenwesen selbst thematisiert. Es sucht sich darin über alle individuellen, über alle familialen, über alle ethnischen Bezüge hinaus selbst zu erkennen, wie es das Orakel zu Delphi fordert; und indem es sich in dieser überwältigenden Fülle selbst zu erkennen sucht, entwickelt es Formen der Transzendenzgewissheit, die ihm den Grund und Ursprung seines ephemeren Daseins und damit eben den Grund und Ursprung seines Dauerns über die jeweils jetzige Gegenwart hinaus verkünden. Jedenfalls seit dem Erscheinen des homo sapiens ist sich das Menschenwesen seiner selbst als Freiheitswesen bewusst; und darin ist der Grund dafür zu suchen, dass es nicht nur hinsichtlich der mannigfachen Gegenstände der jeweiligen Lebensund Erfahrungswelt, sondern auch hinsichtlich seiner Natur und seiner Verfassung – sei es im religiösen Mythos, sei es in den Kunstformen des Epos und der Lyrik, der Tragödie und des Bildes, sei es im Philosophieren – Wahrheit im Sinn von Sachwahrheit sucht. Insofern kommt man nicht umhin zu sagen, dass sich das Menschenwesen in seiner Geschichte darstellt als das Wahrheitswesen.126

unsere Bemühungen um diese ihre Sachwahrheit (um ihr Wirklich-Sein) niemals abgeschlossen werden können, so als hätten wir sie kapiert wie einen einfachen arithmetischen Satz. 126 Es ist das besondere Anliegen der Enzyklika „Fides et Ratio“ von Papst Johannes Paul II. (wie Anm. 116), das Grundverhältnis von Freiheit und Wahrheit zu bedenken und die „Wahrheit, welche die Offenbarung uns erkennen lässt (verstehe: die Wahrheit hinsichtlich des göttlichen Geheimnisses)“ (Ziffer 15), auf das Grundverhältnis von Freiheit und Wahrheit zu beziehen. Ich verstehe die Enzyklika als den behutsamen Versuch, die römisch-katholische Lehre von den zwei Erkenntnisordnungen (vgl. das Incipit der Enzyklika), wie sie das I. und das II. Vatikanische Konzil festgestellt hatten, im Lichte der Offenbarung in Christus Jesus zu präzisieren, die als solche die Wahrheit ist, „die Gott dem Menschen über sich und über sein Leben übergeben hat“ (Ziffer 11). – Vgl. hierzu insgesamt die subtile Interpretation dieses bedeutsamen Dokuments von Eilert Herms, Objektive Wahrheit. Beobachtungen und Fragen zum Verhältnis von Wahrheit und Offenbarung

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Allerdings: ist das Menschenwesen im Ganzen des Geschehens der Welt und des Geschehens in der Welt als Freiheitswesen und aus diesem Grund als Wahrheitswesen ausgezeichnet, so ist es doch gefangen in jener bitteren Ambivalenz, die es – wie dies die Perspektive des Christus-Glaubens lehrt – nicht von sich aus und aus eigener Kraft überwindet: Einerseits ist es – wie der religiöse Mythos, wie die Geschichte des Philosophierens und wie die verschiedenen Kunstformen demonstrieren – das unwiderstehliche Interesse des Menschenwesens, auch die Wahrheit hinsichtlich des Unendlichen, auch die Wahrheit hinsichtlich des Grundes und Ursprungs unserer selbst und dieser unserer Lebens- und Erfahrungswelt zur Sprache zu bringen127 ; andererseits aber ist diesem unwiderstehlichen Interesse der Erfolg verwehrt; und zwar erstlich und letztlich deshalb, weil es – wie dem Christus-Glauben deutlich ist – dem Unendlichen entspricht, die ihm eigene Wahrheit und damit das ihm eigene Wirklich-Sein von sich selbst her zu erschließen. Um es mit den Worten der Enzyklika „Fides et Ratio“ zu sagen: „Die Offenbarung (verstehe: die Christusoffenbarung) führt in die Geschichte einen Bezugspunkt ein, von dem der Mensch nicht absehen kann, wenn er dahin gelangen will, das Geheimnis seines Daseins (Hervorhebung K.S.) zu verstehen…“ (Ziffer 14).

Damit können wir es wagen zu entfalten, inwiefern dem Sein des dreieinen göttlichen Geistes Wahr-Sein zukommt. Viertens: Ich war in meiner Betrachtung des komplexen Begriffs der Wahrheit ausgegangen von dem klassischen Grundsatz, dass Wahrheit in der Korrespondenz bzw. in der Angemessenheit – der adaequatio intellectus ad rem – bestehe. An diesem Grundsatz hatte ich zuvörderst den transzendentalen Sachverhalt hervorgehoben, der sich in der synthetischen Kraft des intellectus als der selbstbewusst-freien Vernunft des Menschen zeigt. In dem semantischen Potential und in der Grammatik einer gesprochenen Sprache vollzieht sich jene Kommunikation und Interaktion, in der das leibhafte Person-Sein den Inbegriff der Gegenstände seiner jeweiligen Lebens- und Erfahrungswelt erfassen und tradieren und womöglich seinem Leben dienstbar machen will. Es zielt auf jene Sachwahrheit der Gegenstände, die ihm in seinen Geschichten und in seiner Geschichte vorgegeben sind – in den Geschichten

in der Enzyklika „Fides et Ratio“, jetzt in: Ders., Von der Glaubenseinheit zur Kirchengemeinschaft II (wie Anm. 112). 127 Ich verweise dafür exemplarisch auf die ebenso glanzvolle wie eindringliche Interpretation von Michael Theunissen, Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, München: C.H.Beck, 2 2002, 215–395: Transzendenz des Ephemeren (zu Pindar und zu Sappho).

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und in der Geschichte, die nur auf der Basis der Natur dieser Erde im Raum und in der Zeit des ungeheuren Universums existiert. Zum Inbegriff der Gegenstände, an deren Sachwahrheit wir lebhaft interessiert sind, zählen nun auch und gerade auch die Deutungen und Anschauungen, in denen sich das Menschenwesen hinsichtlich seines Ursprungs, seines ephemeren mühsamen Geschicks und seiner Bestimmung selbst zum Thema wird.128 In ihnen sieht es sich als Wahrheitswesen, das endlich und zuletzt auch Sachwahrheit bzw. objektive Wahrheit hinsichtlich des Unendlichen zu finden, darzustellen und zu artikulieren hofft. Wegen der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem, zwischen Unendlichem und Endlichem erfüllt sich diese Hoffnung nicht direkt. Erfüllt sie sich überhaupt – und wenn ja, in welcher Weise? Im Sinnraum und im Verstehenshorizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft antwortet der Christus-Glaube auf diese Frage mit überschwänglichem Ja! Der Christus-Glaube findet zu dieser Antwort, weil die Christus-Offenbarung sich für ihn nicht anders fassen lässt denn als die endgültige Selbstdarstellung bzw. Selbstvergegenwärtigung des Unendlichen im individuellen leibhaften PersonSein dieses einen Menschen. In ihr – in dieser endgültigen Selbstdarstellung bzw. Selbstvergegenwärtigung – wird Gottes Wesen selbst als Wahrheit offenbar. Das heißt zum einen: In dieser endgültigen Selbstdarstellung bzw. Selbstvergegenwärtigung wird für uns Menschen alle offenbar, dass Gottes Sein als Gottes dreieiner Geist sich selbst offenbar bzw. sich selbst gegenwärtig ist. Wir dürfen Gottes Sein wahrhaftig als Gottes Wahr-Sein ansprechen, insofern Gottes Sich-selbstgegenwärtig-Sein unbedingt wirklich und nicht etwa unwirklich ist. Das heißt zum andern: In Gottes endgültiger Selbstdarstellung bzw. Selbstvergegenwärtigung wird für uns Menschen alle offenbar, dass Gottes Sein als Gottes dreieiner Geist der schöpferische Grund und Ursprung einer Welt im Werden ist. In diesem schöpferischen Grund und Ursprung gründet nicht allein das Seiend-Sein der Gegenstände, auf deren Sachwahrheit sich alle Kommunikation und Interaktion bezieht; in ihm gründet auch seit der Erscheinung des homo sapiens auf dieser Erde das Menschenwesen, das ich als endliches Freiheitswesen und deshalb als endliches Wahrheitswesen betrachtet hatte. Wir dürfen Gottes Sein wahrhaftig als Gottes Wahr-Sein ansprechen, insofern Gottes Sich-selbst-gegenwärtig-Sein das Dasein eines endlichen Freiheitswesens und deshalb eines endlichen Wahrheitswesens schöpferisch gewährt. Das heißt zum Dritten: In Gottes endgültiger Selbstdarstellung bzw. Selbstvergegenwärtigung wird für uns Menschen alle offenbar, dass Gottes Sein als Gottes 128 Die Bestimmtheit des ephemeren Daseins des Menschen in der 8. und in der 7. pythischen Ode Pindars sowie in der Elegie Solons und in der Dichtung von Archilochos und von Alkaios wird glanzvoll interpretiert von Michael Theunissen, Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit (wie Anm. 127), 45–213.

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dreieiner Geist dem Dasein eines endlichen Freiheitswesens und damit eines endlichen Wahrheitswesens in wahrer treuer Liebe zugewandt sein will. Wir dürfen Gottes Sein wahrhaftig als Gottes Wahr-Sein ansprechen, insofern das schöpferische Gewähren des Daseins eines endlichen Freiheitswesens und damit eines endlichen Wahrheitswesens auf dessen wahre Gotteserkenntnis und auf dessen wahre Gottesliebe zielt, die sich vollendet und erfüllt in der eschatischen Schau des göttlichen Wesens, wie es ist (vgl. 1Joh 3,2f.). In dieser eschatischen Schau des göttlichen Wesens vollendet und erfüllt sich, worauf Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen in Gottes absolut zukünftiger Ewigkeit hinaus will.129 In diesen drei Hinsichten meine ich die Antwort aufzunehmen und fortzuführen, die Thomas von Aquino auf die Frage gab, ob Gott die Wahrheit sei: „Unde sequitur quod non solum in ipso sit veritas, sed quod ipse sit ipsa summa et prima veritas.“130 1.5.3.3.4 Gottes Gut-Sein

In meiner Darlegung des christlichen Glaubens an Gott gehe ich nun einen letzten Schritt. Er führt an die Schwelle zu den folgenden Kapiteln, die dem schöpferischen Walten, dem versöhnenden Walten und schließlich dem vollendenden Walten Gottes gewidmet sein werden. Bevor ich die Schwelle zu diesen Kapiteln überschreite, ist es wohl angebracht, die spezielle Lehre vom christlichen Glauben an Gott zu bündeln in den Versuch, Gottes Eigen-Sein und Eigen-Sinn mit Rücksicht auf Gottes Gut-Sein zu betrachten. Wie schon mit Rücksicht auf Gottes Wahr-Sein gezeigt, sind es diese beiden Bestimmungen des göttlichen Wesens, welche die lebenspraktische, die tragende, die heilsame Bedeutung sonnenklar zum Vorschein bringen, die Gottes Sein als dreieiner Geist für uns tatsächlich hat.131 In der Jesus-Christus-Erzählung des Evangeliums nach Markus antwortet Jesus auf die Frage eines reichen Mannes, was er tun müsse, um ewiges Leben als Erbe zu erhalten: „Niemand ist gut als der eine (verstehe: der alleinige) Gott!“

129 Ich werde diese Aussage über Gottes Wahr-Sein zusammen mit der Aussage über Gottes Gut-Sein detailliert entfalten in den folgenden Kapiteln über den christlichen Glauben an Gott den Schöpfer, an Gott den Versöhner und an Gott den Vollender. 130 „Daraus folgt, dass Wahrheit nicht allein in ihm (verstehe: in Gott) sei, sondern dass er selbst die höchste und die erste Wahrheit selbst sei.“ (STh I q 16 a 5 c [meine Übersetzung]). – Vgl. hierzu bes. Karl Rahner, Geist in Welt (wie Anm. 99), 305–316: Die Wahrheit bei Thomas von Aquin. 131 Insofern ist der These zu widersprechen, die unter der Voraussetzung seiner Kritik der von ihm sog. „spekulativen Theologie“ aufgestellt hat Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten (1798 [W VI, 261–393]): „Aus der Dreieinigkeitslehre, nach dem Buchstaben genommen, läßt sich schlechterdings nichts fürs Praktische machen, wenn man sie gleich zu verstehen glaubte, noch weniger aber wenn man inne wird, daß sie gar alle unsere Begriffe übersteigt.“

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Gottes Person-Sein

(Mk 10,17). Das Evangelium verwendet hier ein Allerweltswort, das womöglich in allen Menschensprachen in mehrfacher Hinsicht vorkommt. Es hat – wie hier an dieser Stelle – zuallererst adjektivischen Sinn, der einen bestimmten individuellen Wesenszug, eine bestimmte vorzugswürdige Eigenschaft bzw. eine Fähigkeit zu denken, zu sprechen oder zu handeln bezeichnen soll. Es hat zum andern substantivischen Sinn, indem es Dinge, kaufbare Objekte, personale Beziehungen wie die Liebe und die Freundschaft, aber auch Wohlordnungen des öffentlichen Lebens einer Gemeinschaft, einer Kultur bzw. einer Gesellschaft unter sich begreift, die der Erhaltung und der Sicherheit und nicht zuletzt der Vervollkommnung des Lebens dienen. Und es hat schließlich einen transzendentalen bzw. einen ontologischen Sinn. Und zwar insofern, als es das Sich-gegenwärtig-Sein der leibhaften Person in ihrer relativen und begrenzten Dauer als gut bewertet; denn dies ist die uns vorgegebene Bedingung dafür, dass die Person in ihren personalen und sozialen Beziehungen überhaupt einen individuellen Wesenszug bzw. eine vorzugswürdige Fähigkeit auszubilden und lebensdienliche Güter zu erstreben vermag. Beziehen wir das semantische Feld des Guten auf dies Sich-gegenwärtig-Sein der leibhaften Person in ihrer relativen und begrenzten Dauer, so sprechen wir es an als das, was uns in und mit dem selbstbewusst-freien Dasein zweifelsfrei gegeben ist. Das Jesus-Wort, wie es das Evangelium nach Markus überliefert, stellt im Ganzen des biblischen Offenbarungszeugnisses die dreifache Verwendungsweise des Ausdrucks „gut“ in den Horizont des expliziten Bekennens: Gott – allein der alleinige Gott – ist gut! Dieses explizite Bekenntnis bewegt sich in dem Denk- und Sprachraum des Psalters, in dem die jüdische JHWH-Gemeinschaft in der Zeit und nach der Zeit des babylonischen Exils sich immer wieder neu mit tiefem Ernst die Güte des göttlichen Wesens vergegenwärtigt.132 Allerdings ist die reflektierte Interpretation dieses Bekenntnisses und seines Ranges dann und nur dann zu leisten, wenn man es in Beziehung setzt zu der fundamentalen Frage, ob uns denn überhaupt etwas als das Höchste Gut gewiss werde und in welcher Weise uns etwas als das Höchste Gut gewiss werde. Darunter ist wohl jenes Gut zu verstehen, das wir um seiner selbst willen erstreben, weil es der leibhaft existierenden Person, die sich in diesem ungeheuren Universum unmittelbar selbst gegenwärtig ist, schlechthin Frieden, Freude und Erfüllung gewährt. Aus diesem Grunde eignet denn auch dem, was uns als Höchstes Gut gewiss ist, eine eminente Anziehungskraft. Die überzeugende Beantwortung dieser Frage führt sowohl in das Gefüge der dogmatischen Betrachtung als auch in den Schwerpunkt einer Theologischen Ethik: in die Güterlehre.133 132 Vgl. bes. Ps 6,5; 17,7; 25,10; 27,13; 36,6; 51,3; 63,4; 85,11; 86,15; 106,1. 133 Vgl. hierzu bes. Konrad Stock, Grundlegung, 58–90; Ders., Gottes wahre Liebe. Theologische Phänomenologie der Liebe, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 2000; Ders., Einleitung, 314–323; Eilert Herms, Das Wirklichwerden des Guten: Das Kommen des Reiches Gottes. Zum Verhältnis

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„Gott ist Geist“ (Joh 4,24)

Dem Christus-Glauben ist es in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen als wahr gewiss, dass nur die selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit Gott selbst als Höchstes Gut in Betracht kommt, welches dem endlichen Menschenwesen schlechthin Friede, Freude und Erfüllung gewährt.134 Diesen Aspekt der christlichen Wahrheitsgewissheit wird kirchliche Lehre und theologische Theorie solchen Deutungen des Höchsten Gutes kritisch entgegenhalten, die diesen Begriffsinhalt mit negativen Effekten entstellen und verzerren; sie wird sich allerdings auch dankbar auf solche Deutungen besinnen, die ihrerseits die „kategoriale Eigenart“ (Eilert Herms) des Höchsten Gutes intendieren. Das Kriterium, mit dessen Hilfe und in dessen Licht wir angemessene und verzerrte bzw. entstellte Deutungen des Höchsten Gutes unterscheiden, wird dabei die Antwort auf die Frage sein, was dem endlichen Menschenwesen wirklich und wahrhaftig angesichts des Leids der Bosheit und des Leids der Endlichkeit unzerstörbare Dauer zu gewähren die Macht hat.135

von Güterlehre und ontologischem Fundament der Ethik, in: Wilfried Härle und Reiner Preul (Hg.), Reich Gottes, Marburg: Elwert, 1999 (MJTh; XI), 85–102; Ders., Art. Höchstes Gut: RGG4 3, 1808–1812; Ders., STh (Bd. 1), passim. 134 Das ist klipp und klar ausgesprochen im 1. Kapitel von Jean Calvins „Catechismus ecclesiae Genevensis“ aus dem Jahre 1542 bzw. 1545: „1. Quis humanae vitae praecipuus est finis? – Ut Deum, quo conditi sunt homines, ipsi noverint.“ … „3. Quod vero est summum bonum hominis? – Illud ipsum. 4. Quamobrem id tibi summum bonum habetur? – Quia eo sublato, infoelicior est nostra conditio, quam quorumvis brutorum.“ (Joannis Calvini OS II, 75). – Vgl. auch Martin Luther, Großer Katechismus (Auslegung des 1. Gebots): BSLK 560, 5–42; Johann Jakob Schütz, „Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut, dem Vater aller Güte…“ (EG 326,1). – Wem diese Gewissheit verschlossen ist und bleibt, wird mit dem Biologen Jacques Monod sagen: „Wenn er (verstehe: der Mensch) diese Botschaft (verstehe: die Botschaft der biologischen Theorie der Evolution) in ihrer vollen Bedeutung aufnimmt, dann muß der Mensch endlich aus seinem tausendjährigen Traum erwachen und seine totale Verlassenheit, seine radikale Fremdheit erkennen. Er weiß nun, daß er seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.“ Vgl. Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, München: dtv, 6 1983, 10. Allerdings ist diese These selbstwidersprüchlich; sie nimmt ein Wahr-Sein für sich in Anspruch, das dem „Universum“ ebenso gleichgültig ist wie das Gut- oder Böse-Sein des Menschen!!! 135 Diese Frage ist ein zentrales Motiv des Nachdenkens des antiken Philosophierens über die εὐδαιμονία des menschlichen Lebens, die Platon in der „Angleichung an Gott“ (Theaitetos, 176) und die Aristoteles in der Autarkie der Vernunft (EN 1177b) erblickt. Wo nicht nur antikes Philosophieren, sondern auch christliche Glaubenslehre verdrängt wird, zeigt sie sich in der Suche nach der Zeitenthobenheit des augenblicklichen Glücksgefühls bzw. in der Äternisierung des Lebens im Gedanken der ewigen Wiederkehr (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Dritter Teil, in: Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden. Zweiter Band (wie Anm. 119), bes. 461–467). Vgl. hierzu Michael Steinmann, Art. Glück/Glückseligkeit II. Philosophisch: RGG4 3, 1016–1018.

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Gottes Person-Sein

Eine erste Variante der entstellten und verzerrten Deutung des Höchsten Gutes sieht der Christus-Glaube darin wirksam, dass die Güter im substantivischen Sinne des Begriffs das Lebensgefühl ebenso wie die Zielsetzung und das Interesse eines Menschen mehr oder weniger ausschließlich dominieren. Solches Interesse braucht sich keineswegs darauf zu beschränken, dass man über materielle Vermögen an Geld bzw. an Grund und Boden verfügen will; es erscheint in ganz entsprechender Weise auch im Kampf um Einfluss und um Handlungsmacht, um Ruhm und Ehre in den Augen einer Öffentlichkeit. In der neueren und neuesten Geschichte des Politischen ist es insbesondere die Raison des Staates, die die Expansion der Herrschaft attraktiv erscheinen lässt. Und in und seit der „Urkatastrophe“ des Großen Krieges von 1914 bis 1918 bilden sich die machtvollen sozialen Bewegungen, die vom hehren Ziel einer Gesellschaft der Freien und der Gleichen ergriffen sind, das zu erkämpfen auch den unfassbaren Terror rechtfertigt.136 Eine zweite Variante der entstellten und verzerrten Deutung des Höchsten Gutes sieht der Christus-Glaube darin wirksam, dass man es identifiziert mit der Erhaltung, der Entwicklung und der Bildung der Person zu einem sich beherrschenden, sich steigernden und reifen Selbst. Zwar hat diese Deutung insofern ein Moment der Wahrheit, als sie auf die jeweils individuelle Lebensgeschichte achtet, in der ein Mensch sich bildend und erziehend zu sich selbst verhält und auf sich selbst einwirkt. Aber seit das Philosophieren Epikurs und seit die Stoa in ihren verschiedenen Schulen die Eudämonie der ungetrübten Seelenruhe bzw. der vernünftigen Autarkie des Weisen im Verhältnis zu den Affekten einer sittlichen Selbstmacht der Person über sich zuschrieb, wird die bildende und prägende Macht des „Wahrheitsgeistes“ (Herman Schell) verkannt, welcher uns ergreift in den Ereignissen des Offenbarungsgeschehens. Auch die verschiedenen Konzepte einer Theorie der seelisch-geistigen Entwicklung scheinen anzunehmen, dass das reife, das gebildete, das wahre, das identische Selbst der Person die Sache ihrer Wahl und ihres Werkes ist und nicht etwa das kontingente Resultat eines lebensgeschichtlichen Erlebens und Erleidens.137 Eine dritte Variante der entstellten und verzerrten Deutung des Höchstes Gutes sieht der Christus-Glaube darin wirksam, dass man es gleichsetzt mit dem Begriff

136 Ich schreibe diesen Satz am Tage des Erinnerns an den Beginn der russischen Oktober-Revolution, die nach der Phase der ersten Begeisterung nicht nur in den grausam geführten Bürgerkrieg zwischen den „Roten“ und den „Weißen“ mündete, sondern auch in das Herrschaftsprinzip des Lenin‘schen und des Stalin‘schen Terrors. Vgl. den Leitartikel von Reinhard Veser, Das Erbe der Oktoberrevolution (F.A.Z. vom 4. November 2017 [Nr. 256], S. 1). 137 Vgl. hierzu bes. Friedrich Schweitzer, Lebensgeschichte und Religion. Religiöse Entwicklung und Erziehung im Kindes- und Jugendalter, Gütersloh: Gütersloher Verlags-Haus 7 2017, 60–105; Reiner Preul, Evangelische Bildungstheorie, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2013, 121–153; 155–253.

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„Gott ist Geist“ (Joh 4,24)

und der Funktion des Ideals im Sinne Immanuel Kants.138 Zwar hat Kant sehr wohl gesehen, dass dem Begriff des Höchsten Gutes im Verhältnis zum Inbegriff der Güter und zum Inbegriff der Tugenden eine kritische Funktion zukomme, die in seiner kategorialen Eigenart begründet ist; aber nachdem er mittels der Kritik der Gottesbeweise den Glauben an das Eigen-Sein des göttlichen Wesens gültig widerlegt zu haben meinte (s. 1.4), musste ihm natürlich auch das Höchste Gut als etwas dem vernünftigen Erkennen Vorgegebenes entschwinden. Deshalb sieht sich Kant gedrungen, mit den Ideen der Freiheit, der Unsterblichkeit und der Existenz Gottes auch das Höchste Gut als eine subjektiv notwendige Idee zu postulieren, durch welche sich die praktische Vernunft der Person hinsichtlich ihrer Autonomie selbst richtet. Ganz abgesehen von der Frage, ob Kants Kritik der Gottesbeweise zugleich den ontologischen Gottesbegriff selbst erschüttert habe, hat Kant gewiss nicht dargelegt, dass dem Höchsten Gut als Ideal der praktischen Vernunft jene wirkungsreiche Anziehungskraft zukommt, von der jedenfalls das biblische Offenbarungszeugnis spricht und von der bedeutende Gestalten der Christentumsgeschichte zeugen.139 Demgegenüber zeichnet sich die christlich-religiöse Gewissheit des Höchsten Gutes dadurch aus, dass es für sie nicht etwa nur den Inbegriff der Strebeziele meint; ihr ist vielmehr das Höchste Gut erschlossen als wesentliche Bestimmtheit Gottes, die die selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit Gott selbst zum Höchsten Gut des leibhaft existierenden Person-Seins erhebt. Deshalb und nur deshalb, weil GutSein eine wesentliche Bestimmtheit Gottes ist, ist Gut-Sein auch ein prinzipieller Begriff für das Verstehen und Gestalten unseres selbstbewusst-freien und deshalb eo ipso verantwortlichen Lebens. Das sei nun in der gebotenen Kürze gezeigt, und

138 Vgl. zum Folgenden Eilert Herms, Art. Ideal II. Ethisch: RGG4 4, 10–12. 139 Bernd Harbeck-Pingel stellt mir hierzu die Frage, ob ich mit dieser kritischen Interpretation nicht Kants Lehre, wie sie jedenfalls in der „Kritik der Urteilskraft“ (1790; 1793; 1799) entwickelt wird, verzeichne (vgl. bes. KdU [W V, 233–620], § 84: Von dem Endzwecke des Daseins einer Welt, d. i. der Schöpfung selbst [557–559]). Ich meine: nein. Zwar konzediert Kant innerhalb der „Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft“, dass „der Mensch (verstehe: als moralisches Wesen, das sich „das Gesetz der Kausalität, samt dem Objekt derselben, welches es sich als höchsten Zweck vorsetzen kann [das höchste Gut in der Welt]“ [558 – sic! K.S.]) „der Schöpfung Endzweck“ sei; aber diese Konzession ist begrenzt durch die folgende grundsätzliche These der gesamten Kritik: „nur im Menschen, aber auch in diesem nur als Subjekte der Moralität, ist die unbedingte Gesetzgebung in Ansehung der Zwecke anzutreffen, welche ihn also allein fähig macht, ein Endzweck zu sein, dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist.“ (559). M. E. nimmt Kant hier die Kritik eines ontologischen Gottesbegriffs nicht im Geringsten zurück, so dass die Wendung „der Schöpfung Endzweck“ hier als eine metaphorische und nicht als eine propositionale Ausdrucksweise einzuschätzen ist. – Vgl. zum Problem Dieter Henrich, Historische Voraussetzungen von Hegels System, in: Ders., Hegel im Kontext, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 1971 (es; 510), 41–72. Hier skizziert der Autor die Gründe, die Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Friedrich Hölderlin und namentlich Georg Wilhelm Friedrich Hegel dazu bewogen, über Kants Ethikotheologie hinauszugehen.

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Gottes Person-Sein

zwar im Rückgriff auf die ontologische Interpretation, wie ich sie bisher schon skizzierte.140 Ich habe gezeigt, dass das Wort „Gott“ jenen transzendenten Grund und Ursprung meint, der allem Wirklichen bzw. allem faktisch Notwendigen und deshalb allem Kontingenten sein Dasein, seine Eigenart, seinen Raum und seine Zeit und schließlich seine Dynamik und seinen Richtungssinn gewährt. Ich hatte deshalb in einem ersten Schritt Gottes Sein betrachtet und es als schlechthin notwendiges und zugleich als schlechthin sich selbst bestimmendes Sein gedeutet. Es ist infolgedessen konvenient, dem schlechthin notwendigen und schlechthin sich selbst bestimmenden Sein des göttlichen Wesens Einzigkeit im transzendentalen Sinne des Begriffes zuzusprechen. In dieser Einzigkeit ist Gottes Sein Sein der ursprünglichen Person bzw. Sein des ursprünglichen Geistes, das sich uns darstellt als Gottes dreieines Sein.141 Nun ist Gottes schlechthin notwendiges und schlechthin sich selbst bestimmendes Sein an und für sich nicht nur Wahr-Sein, sondern auch Gut-Sein. Deshalb und nur deshalb, weil wir Gottes Sein nicht nur als Gottes Wahr-Sein, sondern auch als Gottes Gut-Sein verstehen dürfen, ist die Teilhabe an Gottes Gut-Sein das wesentliche Interesse und das wesentliche Strebeziel des Menschen. Sie ist das überwältigende Glück, für das die biblischen Quellensprachen jenes semantische Feld verwenden, das wir ins Deutsche mit dem selten schönen Wort Selig-Sein übertragen (vgl. bes. Mt 5,3-10; s. 4.5.4.3.4). Wie ist diese These, die ja nur einen Grundgedanken Augustins festhält, zu begründen? Sie ist zu begründen durch den metaphysischen bzw. durch den ontologischen Gedanken, dass der Term „Sein“ im allerallgemeinsten Sinne dasjenige bezeichnet, was im Vergleich mit dem immerhin sprachlich möglichen Term „Nicht-Sein“ als das Bessere, als das Vollkommenere zu verstehen ist.142 Faktisch macht jeder Interpret, der hinsichtlich des schlechthin notwendigen und schlechthin sich selbst

140 Vgl. zum Folgenden bes. Thomas von Aquino, STh I q 6 a 1–4: De bonitate Dei. 141 Mit dem ontologischen Begriff der Bedeutung des Wortes „Gott“ ist also sowohl die ontologische Relation als auch die ontologische Differenz von Gottes Sein und dem Seiend-Sein all dessen gegeben, was auf Grund und kraft des Seins Gottes existiert. Dieser ontologische Begriff der Bedeutung des Wortes „Gott“ wird ohne jede zureichende Begründung bestritten, wenn Volker Gerhardt, Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München, C. H. Beck, 4 2017, 230, behauptet: „Gott kann nur die Welt bedeuten, in der wir selber sind. Und wenn er (verstehe: „Gott“) weder ein Teil in ihr noch ein Etwas außer ihr ist, kann er nur das Organ der Welt als ganzer sein …“ (Kursivierungen im Original). 142 „Denn alles, was entsteht, / Ist wert, daß es zugrunde geht; / Drum besser wär‘s, daß nichts entstünde.“ – spricht Mephistopheles zu Gott (Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie Erster Teil [Prolog im Himmel: 1340–1341])!!

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bestimmenden Seins des Grundes und des Ursprungs alles Möglichen und Wirklichen etwas sagt, Gebrauch von dem ihm selbst gewährten faktisch Wirklichen, dessen Grund und Ursprung er zu denken sucht. Ist in diesem Zusammenhang der Term „Nicht-Sein“ auch sprachlich zu bilden, so doch wohl nur im Sinne einer Negation von „Sein“. Die Negation von „Sein“ mit Hilfe des Terms „Nicht-Sein“ ist jene theoretische Handlung, die nur möglich ist auf Grund der „Ermöglichung des endlichen Seins (verstehe: des Seienden)“.143 Wer sie vollzieht, vollzieht sie kraft der uns im Ganzen eines ungeheuren Universums dauernd gegebenen und gewährten Faktizität. Nennen wir Gottes dreieines Sein das göttliche Gut-Sein, so meinen wir damit nicht etwa nur im Sinne des präzisen ontologischen Gottesbegriffs (s. 1.4), dass Gottes Sein nicht widerspruchsfrei bezweifelt werden könne; wir meinen damit vielmehr auch, dass Gottes dreieines Sein in sich selbst ein Aus-sein-auf bzw. ein Offen-sein-für einschließt. Ich hatte vorgeschlagen, den trinitarischen Namen „Heiliger Geist“ als Hinweis auf jenes Moment des göttlichen Wesens zu verstehen, in welchem Gott sich selbst als sich selbst für Anderes bestimmend bejaht (s. 1.5.3.3.2). Indem sich Gott als „Heiliger Geist“ als sich selbst für Anderes bestimmend bejaht, ist Gott in Gottes ewiger Gegenwart seines Eigen-Seins und damit seiner selbst als Gut gewiss.144 Ist Gott in Gottes ewiger Gegenwart des eigenen Selbst-Seins als des Guten im eminenten Sinn gewiss, so ist es konvenient zu denken, dass dies der ursprüngliche Impuls bzw. das ursprüngliche Motiv des In-Gemeinschaft-sein-Wollens ist, das sich im Geben und Gewähren des in endlicher Weise Seienden manifestiert (s. 2.1). Also geht aus Gottes Eigen-Sein und Eigen-Sinn hervor, was in endlicher Weise ein Gut ist: nämlich das Geschehen der Welt und das Geschehen in der Welt, in dessen Raumzeit leibhaftes Person-Sein möglich wird und wirklich wird. Wie ich im folgenden Kapitel „Der christliche Glaube an Gott den Schöpfer“ zeigen werde, ist dies in endlicher Weise Gute – das menschliche, das leibhafte PersonSein – durch Gottes Eigen-Sein und Eigen-Sinn dazu bestimmt, in selbstbewusstfreier Willensgemeinschaft mit Gott selbst sein Höchstes Gut und darin jene Freude, jenen Frieden, jene Erfüllung zu finden, die das Erstreben aller innergeschichtlichen Güter integriert und wohlverstanden relativiert. Diese in Gottes Eigen-Sein und Eigen-Sinn begründete Bestimmung des leibhaften Person-Seins zur selbstbewusstfreien Willensgemeinschaft mit Gott selbst als Höchstem Gut ist der uns Menschen allen objektiv vorgegebene Sinn des Lebens, wie ihn der Christus-Glaube in kritischer

143 Vgl. Hans-Joachim Werner, Die Ermöglichung des endlichen Seins nach Johannes Duns Scotus, Frankfurt a.M.: Peter Lang/Bern: Herbert Lang, 1974. 144 Mit Rücksicht auf 1Tim 1,11 sprach daher die Dogmatik der reformierten Orthodoxie von Gottes Seligkeit (beatitudo). Vgl. dazu schon Thomas von Aquino, STh I q 26 a 1–4: De divina beatitudine.

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Gottes Person-Sein

Revision des jüdischen JHWH-Verstehens sieht (vgl. STh I, 36–42). Dieses objektiven Sinnes individuell teilhaftig zu werden und ihn in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen zu finden und zu erstreben, ist der begriffliche Gehalt der fruitio Dei, „des zum Genuss Bestimmten“ in der Sprache Augustins.145 Meine ontologische Interpretation des göttlichen Selbst-Seins als des Guts im eminenten Sinne trägt dazu bei, das göttliche Selbst-Sein als den Grund und Ursprung seines zielstrebigen Mit-uns-sein-Wollens und Für-uns-sein-Wollens zu verstehen und verständlich zu machen. Gottes dreieines Selbst-Sein birgt in Gottes ewiger Gegenwart jenen Entwurf in sich, der sich noch nicht in dieser unserer Gegenwart jetzt und hier zwischen unserem Empfangen- und Geboren-Werden und unserem Tod realisiert, sondern erst dann und erst dort, in jener absoluten Zukunft zukünftiger Ewigkeit des endlichen und als solchen raum-zeitlichen Menschenwesens (s. 4.5.4).146 Es dürfte daher konvenient sein zu sagen, dass Gottes dreieines Selbst-Sein in der Geschichte seines schöpferischen, seines versöhnenden und seines vollendenden Waltens an Bestimmtheit und Erfahrung gewinnt. Zustimmend sei Martin Buber zitiert, der ebenso kühn wie sorgsam wagt zu schreiben: „… ein Werden des seienden Gottes ist, das wissen wir unverbrüchlich in unserem Herzen.“147 1.5.4

Fazit: „Grund ewiger Freude“148

Am Ende des Kapitels „Der christliche Glaube an Gott“ wird es meinen Leserinnen und meinen Lesern gewiss willkommen sein, wenn ich dessen Gedankengang

145 Vgl. Aurelius Augustinus, De beata vita 4,34: Unter der „beatitudo“ (dem „Glück“ bzw. der „Seligkeit“) ist zu verstehen: „animo deum habere, id est deo frui“ („mit dem Geist Gott haben, d. h. Gott ‚genießen‘“ [Übersetzung Alfred Schindler]); vgl. auch: De doctrina christiana, I,4,4. Allerdings wird insbesondere die Theologische Ethik zeigen, dass die christliche Lebensform und Lebensführung in der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott weit über Augustins Bestimmungen des Glücks bzw. der Seligkeit hinausgeht (s. STh III). – Man halte sich vor Augen, dass die Dogmatik der lutherischen Orthodoxie in ihrer analytischen Methode aus diesem Grunde die Bestimmung der eschatischen fruitio Dei als die Bestimmtheit des objektiven Ziels der Theologie an den Anfang ihrer Lehre von Gott platziert, weil diese Bestimmung das praktische Interesse der Lebens- und der Bildungsgeschichte anspricht, welches die gesamte Darstellung der dogmatischen Lehre orientiert. In dieser objektiven Zielbestimmtheit des endlichen Person-Seins besteht denn auch das „Praktische“ der Lehre von Gottes dreieinem Person-Sein, das Immanuel Kant nicht wahrhaben wollte (s. o. Anm. 131). 146 Auf diesen ursprünglichen Impuls bzw. auf dieses ursprüngliche Motiv weist hin Jürgen Moltmann, Trinität und Reich Gottes. Zur Gotteslehre (wie Anm. 22), 236ff., freilich ohne ontologische Interpretation der biblischen Gottesrede, wie ich sie hier intendiere. 147 Martin Buber, Ich und Du, jetzt in: Werke, Bd. I: Schriften zur Philosophie, 1961, 133. 148 Ich zitiere das Lied von Johann Ludwig Konrad Allendorf : „Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude“ (EG 66).

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zusammenfasse und dessen zentrale Rolle im Konzept der vorliegenden Darstellung Systematischer Theologie markiere.149 In der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) versteht sich der Christus-Glaube als die je individuelle Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums. Sie wird als solche manifest im radikalen Grundvertrauen ebenso wie in der Kraft des Hoffens und im engagierten Tun des Liebens, auch und gerade an den Grenzen der Zeit dieses irdischen Lebens. In dieser ihrer je individuellen Gewissheit folgt die Person dem Christus Jesus nach, indem sie sich des unscheinbaren und doch unfehlbaren Nahens des absolut zukünftigen Vollkommenen freut (vgl. Mk 14,25). Auf diese Weise prägt und bildet der Christus-Glaube das fromme Selbstbewusstsein eines Menschen und damit dessen realistische Lebensform und dessen trotzig positives Lebensgefühl. Gleichwohl: es wäre irreal zu leugnen, dass das vom Christus-Glauben gebildete fromme Selbstbewusstsein der Person in jeder Hinsicht angefochtenes Selbstbewusstsein ist.150 Es ist frommes Selbstbewusstsein de profundis, „aus der Tiefe“ (Ps 130,1). Der Christus-Glaube teilt noch immer das Leid der Endlichkeit und den inneren Zwiespalt zwischen Gut und Böse, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Empathie und Apathie. Er wird erschrecken über die Verstrickungen der Kirchengemeinschaften in die grandiosen Fehlwege und Fehlentscheidungen der kolonialen und der imperialen Politik der großen Mächte. Er wird die Angst erleben vor den enormen Risiken und Konflikten, denen die entstehende Weltgesellschaft entgegentreibt. Er wird betrübt sein über das Unvermögen zahlloser Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, mit dem „Geheimnis“ (s. o. S. 136) des menschlichen Daseins etwas anzufangen. So ist das fromme Selbstbewusstsein der Person, wie es der Christus-Glaube prägt und bildet, in jeder Hinsicht solidarisch: solidarisch mit den ernsten und ernst zu nehmenden Entwürfen eines Lebens in der „echten Lust“ im Sinne Platons151 ; und solidarisch mit den theoretischen und mit den praktischen Initiativen für eine Herrschaft des gerechten Friedens in den und zwischen den Gesellschaften und Kulturen dieser Erde. Als das in jeder Hinsicht angefochtene Selbstbewusstsein ist das vom ChristusGlauben geprägte und gebildete fromme Selbstbewusstsein der Person erfüllt von großer Freude (vgl. Lk 2,10); es existiert in der Erwartung ewiger Freude.152 Hat diese Erwartung einen vernünftigen Grund?

149 Vgl. Zum Folgenden bes. Christoph Schwöbel, Trinitätslehre als Rahmentheorie des christlichen Glaubens, in: Wilfried Härle und Reiner Preul (Hg), Trinität (wie Anm. 88), 129–154. 150 Vgl. Carl Heinz Ratschow, Der angefochtene Glaube. Anfangs- und Grundprobleme der Dogmatik, Gütersloh: Mohn, 2 1960. 151 Vgl. Platon, Philebos 50c–52d. 152 Vgl. hierzu Konrad Stock, Grundlegung, 158–159; s. 4.5.4.3.4.

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Gottes Person-Sein

Nun: gibt es für dies Existieren in der Erwartung ewiger Freude einen vernünftigen Grund, so ist er uns erschlossen in Gottes Wahr-Sein und in Gottes Gut-Sein. Insofern hat das Gott-Verstehen, das ich in der gebotenen Kürze rekapituliere, für die gesamte Selbstbesinnung auf das Wesen und auf die Bestimmung des ChristusGlaubens hier und heute eine fundamentale Funktion. Erstens: Das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens ist letztlich den Ereignissen des Dritten Tages zu verdanken, in denen sich die absolute Wesenheit von sich selbst her offenbart als jener Ursprung und als jenes Ziel, das unser aller Dasein umfasst und überdauert und ihm absolute Zukunft jenseits des Todes und durch den Tod hindurch gewährt. Allerdings ragt es nicht etwa isoliert heraus aus der Geschichte mythischer Erzählung und kultischer Verehrung, so wenig es sich den Bewegungen des philosophischen Denkens des Einen versperrt. Ihm geht nicht nur das harte Ringen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft vor der Zeit und in der Zeit des Exils um die Erkenntnis der Einzigkeit des göttlichen Wesens und um dessen wahren Kult voraus; ihm kommt auch das philosophische Interesse entgegen, das seit den Vorsokratikern das ursprüngliche Prinzip der vielfältigen Prozesse unserer gemeinsamen Lebens- und Erfahrungswelt begreifen will. In dieser zweifachen Konstellation provozieren die Ereignisse des Dritten Tages ein eigenartig neues Verstehen der absoluten Wesenheit, das uns in den triadischen Formeln des Neuen Testaments überliefert ist. Sie – diese Formeln – handeln von dem singulären Verhältnis zwischen „Gott“, dem Christus Jesus als dem „Sohn“ bzw. als dem „Wort“ oder der „Weisheit“ und dem „Wahrheitsgeist“ (Herman Schell), der in die ganze Wahrheit führt (Joh 16,13). In diesen Formeln ist zuinnerst angezeigt, dass die Ereignisse des Dritten Tages und nur sie das „schwer entzifferbare Bild des Gekreuzigten“153 in seiner Eigenart erschließen, ohne doch seinen semantischen Gehalt zu überspringen; denn dieser semantische Gehalt besteht in der Begründung der versöhnten Gemeinschaft zwischen dem schöpferischen Grund und Ursprung aller Dinge und der Gemeinschaft der Menschen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16). Die Bildgeschichte der Passion des Christus Jesus, die seit der Gotik im Gegenzug zur kaiserlichen Kunst des 4. und des 5. Jahrhunderts und im Gegenzug zur Romanik das Leid und die Erniedrigung des „Sohnes“ zeigt, hat diesen semantischen Gehalt schmerzhaft ins Bild gesetzt. Sie war und ist darin exemplarisch für die bildende Kunst und für die ästhetische Theorie der bildenden Kunst überhaupt.154

153 Vgl. Konrad Stock, Grundlegung, 105–122. 154 Vgl. hierzu Erich Dinkler, Zur Geschichte des Kreuzsymbols, jetzt in: Ders., Signum Crucis. Aufsätze zum Neuen Testament und zur Christlichen Archäologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 1967, 1–25; bes. 23f. – Dieser semantische Gehalt des Kreuzsymbols wird im Kapitel 3: Der christliche Glaube an Gott den Versöhner, ausführlich entfaltet werden.

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Zweitens: Wir dürfen die triadischen Formeln des Neuen Testaments als Kürzel lesen, die für die Struktur des göttlichen Waltens stehen, in der sich das vom Christus-Glauben geprägte und gebildete fromme Selbstbewusstsein der Person befindet. Ich nannte diese Struktur die „trinitarische Struktur des göttlichen Waltens“ (s. 1.3). Sie zeigt uns – mit Karl Rahner zu reden – die „heilsgeschichtliche Erfahrung“, in der sich jenes Gott-Verstehen aufdrängt, das schließlich von den Ökumenischen Synoden zu Nicaea und zu Konstantinopel nach langen Auseinandersetzungen als kirchlich festgestellte Lehre von der Gottheit Gottes des Vaters, der Gottheit Gottes des Sohnes bzw. des Wortes oder der Weisheit und der Gottheit des Heiligen Geistes definiert wurde. In der dogmatischen Fachsprache gesprochen: das explizite Gott-Verstehen des Christus-Glaubens hat zu seiner festen Basis die „ökonomische Trinität“, wie sie bereits die mannigfachen frühen Texte des apostolischen Glaubensbekenntnisses fixieren. Sie ist Gott für uns (Röm 8,31). An dieser trinitarischen Struktur des göttlichen Waltens ist auch die grobe Gliederung der vorliegenden Dogmatik orientiert. Ausdrücklich sei jedoch betont, dass jedenfalls nach reformatorischer Perspektive die trinitarische Struktur, in der Gott für uns ist, endgültig erschlossen und endgültig offenbar wird kraft des Heiligenden Geistes, den wir als die Macht der Wahrheit selbst bezeichnen dürfen.155 Kraft der Erleuchtung bzw. kraft der Evidenz, die Gottes Geist und letztlich Gottes Geist allein dem frommen Selbstbewusstsein der Person gewährt, wird Jesu Christi Proexistenz und wird das apostolische Zeugnis dieser Proexistenz verinnerlicht; und wenn und weil die Proexistenz des Christus Jesus in lebensnaher Interpretation durch Gottes Geist verinnerlicht wird, wird jene „innere Klarheit“ geschaffen und erhalten, in der ein Mensch dem Eigen-Sein und Eigen-Sinn der absoluten Wesenheit radikal glauben und vertrauen darf (vgl. STh I, 604–612). Drittens: Die auf den Ökumenischen Synoden zu Nicaea und zu Konstantinopel kirchlich festgestellte Lehre bekennt die Einzigkeit des göttlichen Wesens und damit die Einzigkeit des Subjekts, das in der trinitarischen Struktur des göttlichen Waltens als Gott für uns – als Höchstes Gut – endgültig offenbar wird. Mit ihrer Lehre werfen die Synoden die Frage auf, in welcher methodischen Form die systematische bzw. die hermeneutische Erklärung des Gott-Verstehens in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen denn verfahren könne. Eine erste Variante besteht darin, zunächst den angemessenen Begriff des göttlichen Wesens mittels der Termini des Absoluten bzw. des Unendlichen zu entfalten und daraufhin die Einheit des göttlichen Wesens in der Person Gottes des Vaters,

155 Die so zu verstehende reformatorische Perspektive wird detailliert entfaltet werden im Kapitel 4: Der christliche Glaube an Gott den Vollender.

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Gottes Person-Sein

Gottes des Sohnes bzw. des Wortes oder der Weisheit und Gottes des Heiligen Geistes zur Sprache zu bringen.156 Eine zweite Variante besteht darin, zunächst die Einheit des göttlichen Wesens im inneren Verhältnis zwischen der Person Gottes des Vaters, Gottes des Sohnes bzw. des Wortes oder der Weisheit und Gottes des Heiligen Geistes zu betrachten und daraufhin darüber nachzudenken, inwiefern dem dreieinen Gott die Bestimmungen des Absoluten bzw. des Unendlichen oder des Erhabenen zukommen.157 Mir scheint die erstgenannte Variante grundsätzlich den Vorzug zu verdienen. Denn dem Begriffswort „Gott“ eignet – wie die philosophische Kritik der mythischen Erzählung ebenso wie die dichterische Erwartung transzendenter Zukunft zeigt – ein ontologischer Sinn und eine ontologische Bedeutung. Ich habe deshalb eine ontologische Betrachtung vorgelegt. Sie bezieht Sinn und Bedeutung des Begriffsworts „Gott“ auf die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem, zwischen Schöpferischem und Geschaffenem. Wir können uns die Art dieser Differenz erschließen, wenn wir uns an den modalen Termini der Sprache orientieren, die uns das Wirkliche, das Mögliche, das Unmögliche und das Notwendige unterscheiden lässt. Fassen wir das Begriffswort „Gott“ als gleichbedeutend mit dem Begriffswort „Sein“ auf, so denken wir es als schlechthin notwendiges Sein im Unterschied zum Inbegriff des Seienden, das wir nicht anders denn als kontingent und d. h. als sowohl möglich als auch faktisch notwendig denken können. Dem schlechthin notwendigen Sein kommt deshalb auch mit Recht das Prädikat des Vollkommenen zu; denn „Sein“ ist besser als „Nicht-Sein“, wie jedes Leid, wie jeder Abschiedsschmerz und wie jede Trauer beweist. Gleichwohl ist damit die Identität der Bedeutungen von „Gott“ und „Sein“ noch nicht vollständig erfasst. Das zeigt sich daran, dass und wie der metaphysische Begriff des Einen schon in der frühen christlichen Theologie und dann vor allem in Hegels subtiler Spinoza-Kritik kritisch umgestaltet wurde: es kommt nach Hegels Einsicht darauf an, „das Wahre (verstehe: des Absoluten) nicht als Substanz, sondern eben so sehr (sic! K.S.) als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.“158 Ich suchte 156 Diese Variante findet sich in schulmäßiger Weise bei Johann Friedrich König, Theologia positiva acroamatica, 1664 (zunächst § 17: De essentia dei absolute considerata; daraufhin § 19: De consideratione dei relativa; vgl. Carl Heinz Ratschow, Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung. Teil II, Gütersloh: Mohn, 1966, 59–61; 82–88). In der Geschichte römisch-katholischer Gottes- und Trinitätslehre wurde diese Variante initiiert von Thomas von Aquino, STh I q 3–q 26; q 27–q 43, und wirkte fort in dem Prinzip der zweifachen Erkenntnisordnung. 157 Dieser methodischen Ordnung folgt Karl Barth (KD I/1; I/2 und KD II/1; II/2), und zwar im Banne grundsätzlicher Polemik gegenüber jeder „natürlichen“ bzw. „philosophischen“ Gotteserkenntnis; sowie Wolfhart Pannenberg, STh I (5. Kapitel: Der trinitarische Gott; 6. Kapitel: Die Einheit des göttlichen Wesens und seine Eigenschaften). 158 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (wie Anm. 102), 19.

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deshalb einen „ontologischen Gottesbegriff “ (Markus Enders) zu formulieren, der Gottes Sein gleichwesentlich und gleichursprünglich als sich selbst bestimmendes Sein (und damit als willentliches Sein) beschreibt. Diese gleichwesentliche und gleichursprüngliche Deutung des Sinnes von Sein wird am angemessensten expliziert, wenn wir dem göttlichen Wesen „Person-Sein“ zusprechen, wie dies die biblische Gottes-Rede und das biblische Gott-Verstehen im Kreis der altorientalischen Religionskulturen tun.159 Ich nehme damit das christlich-fromme Interesse auf, dem sich die Lehre der Synoden zu Nicaea und zu Konstantinopel verpflichtet weiß; ich trage allerdings der kritischen Frage Friedrich Schleiermachers Rechnung, ob nicht die theoretische Entfaltung dieser Lehre das Person-Sein des göttlichen Wesens weithin in „asymmetrischer“ Form beschrieben habe (s. 1.5.2). Von dieser Frage an- und aufgeregt, war es mein Ziel, Gottes Person-Sein als dreieines Person-Sein zu verstehen, dessen Sein für uns in „symmetrischer“ Form geschieht. Viertens: Um dieses Ziel zu erreichen, waren drei Schritte nötig. Ad 1: In einem ersten Schritt war es angezeigt, den Terminus „Person-Sein“ als Terminus zu interpretieren, der die relationale Form der menschlichen Weise, am Leben zu sein, vor Augen bringt. Für diesen ersten Schritt griff ich zurück auf die zwei wichtigen Definitionen, die wir einerseits Boethius und andererseits Richard von St. Viktor zu verdanken haben, sowie auf die Bestimmung des menschlichen Person-Seins als „moralisches Sein“. An der Definition von Boethius hob ich hervor, dass sie – wenn auch im Wesentlichen nur auf logischem Wege – auf das Moment des Individuellen und damit auf das Moment des Selbständigen achtet, ohne das das Allgemeine des menschlichen Vernünftig-Seins nicht hinreichend zu erfassen ist. Richard hingegen hatte diese Definition für unvollständig erklärt, weil sie die jeweilige Ursprungsbeziehung übersehe, kraft derer das je individuelle Vernunftund Freiheitswesen stets in einem „Gegenüberstand“ existiert. Diese von Augustins Trinitätslehre inspirierte Definition hatte ich dahin erweitert, dass sie über das individuelle Vernünftig-Sein im Gegenüberstand zu anderem individuellen Vernünftig-Sein hinaus auch jene Ursprungsbeziehung umfasst, in der das menschliche Person-Sein von seinem schöpferischen Grund und Ursprung her existiert. Wie unschwer zu erkennen macht meine Erweiterung aufmerksam auf die Pointe dieser Lehre vom christlichen Glauben an Gott: nämlich auf das, was in ihr über Gottes Wahr-Sein und über Gottes Gut-Sein auszusagen ist.

159 Vgl. hierzu bes. Friedhelm Hartenstein, Personalität Gottes im Alten Testament, jetzt in: Ders., Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments (wie Anm. 17), 229–267.

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Gottes Person-Sein

Um nun das dritte wesentliche Moment des menschlichen Person-Seins zu bestimmen, folgte ich den Forschungen von Theo Kobusch über die „Entdeckung der Person“. Sie lassen uns wahrnehmen, dass das individuelle Vernünftig-Sein im Gegenüberstand zu anderem individuellen Vernünftig-Sein ein „Sein-für-Andere“ begründet und gebietet, für welches wir das semantische Feld des VerantwortlichSeins gebrauchen. Es ist wohl dieses Moment, das sich in der Erfahrung des Gewissens meldet, sofern man die Erfahrung des Gewissens nicht willkürlich oder gewaltsam unterdrückt. Mit Hilfe und im Lichte dieser drei Momente suchen wir das Phänomen des menschlichen und d. h. stets des leibhaften Person-Seins zu verstehen als „asymmetrisches Relationsgefüge“160 . Ad 2: Bevor ich dazu übergehe, Gottes dreieines Person-Sein, dem wir uns im Gebet, im Dank, im Lobpreis und im Hymnus öffnen, als das Subjekt des göttlichen Waltens zu betrachten, sei jedoch in einem zweiten Schritt die ernste Frage in Erinnerung gerufen, die Friedrich Schleiermacher in den Schluss-Paragraphen der „Glaubenslehre“ aufgeworfen hatte. Schleiermachers Frage wurzelt in der Einsicht, dass die dogmatische Besinnung grundsätzlich jene Glaubenssätze untersucht, in denen sich der Christus-Glaube – das christlich-fromme Selbstbewusstsein – selbst ausspricht. Man kann im Lichte dieser Einsicht den Glaubenssatz des trinitarischen Dogmas keinesfalls eine „unmittelbare Aussage über christliches Selbstbewußtsein, sondern nur eine Verknüpfung mehrerer solcher“ (CG2 § 170 L [II, 458 = KGA I.13,2, 514]) nennen. Der Glaubenssatz von Gottes dreieinem Person-Sein wäre korrekt und wäre sachgemäß, wenn man ihn eben in dieser seiner verknüpfenden Funktion verstehen würde. Das aber ist nach Schleiermachers Urteil im unbegreiflichen Dogma der „Einheit des Wesens und Dreiheit der Personen“ (CG2 § 170,2 [II, 460 = KGA I.13,2, 516]) durchaus nicht der Fall. An der Geschichte dieses Dogmas meint Schleiermacher dessen Grundproblem zu sehen. Das Dogma lehre nämlich das „Sein Gottes an sich unterschieden von dem Sein Gottes in der Welt (verstehe: des Menschen)“ (CG2 § 172,1 [II, 470 = KGA I.13,2, 528]), das bisher stets in einem asymmetrischen Sinn verstanden worden sei, weil es die Person Gottes des Sohnes bzw. des Wortes oder der Weisheit und die Person Gottes des Heiligen Geistes faktisch von der Person Gottes des Vaters abhängig sein lässt. Und dieses Grundproblem sei gar nicht aufzulösen, weil

160 Vgl. nochmals Eilert Herms, Art. Person IV. Dogmatisch (wie Anm. 53). Diese Definition wird aufgenommen und auf subtile Weise als „Dauern personaler Gegenwart“ entfaltet in: Ders., STh (Bd. 1), 133–155.

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seine Auflösung allenfalls in spekulativer und deshalb nur in stets umstrittener Weise zu erreichen sei. Schleiermachers ließ es bei der kritischen Analyse dieses Grundproblems nicht bewenden. Vielleicht zu zögerlich schloss er mit einigen wenigen Andeutungen zu einer gründlichen Umgestaltung, welche die „Gleichheit der Personen“ (CG2  § 171,5 [II, 468 = KGA I.13,2, 526) und damit die symmetrische Form betrifft, in der wir das göttliche Wesen verstehen dürfen. Ad 3: Was ich zu solcher Umgestaltung beizutragen habe, sei nun in einem dritten Schritt zusammengefasst. Es war die Absicht meiner Darstellung, das Gottesbewusstsein des ChristusGlaubens als das Bewusstsein eines inneren sachlogischen Zusammenhangs zwischen der „Einzigkeit“ und der „Dreieinheit“ Gottes zu beschreiben. Für diese Absicht spricht die Tatsache, dass weder Gottes Einzigkeit noch Gottes Dreieinheit in dem numerischen Sinne einer Ordinalzahl aufzufassen sind; denn beide Zahlen knüpfen an die Bestimmungen an, welche die Erste Philosophie dem Einen gibt, dessen Unendlichkeit von dem unbegrenzt Endlichen transkategorial verschieden ist.161 Deshalb plädierte ich dafür, das christliche Bewusstsein des dreieinen Gottes als das präzise Bewusstsein dessen auszulegen, dass Gottes Einzigkeit die Einzigkeit des Gottes für uns ist. Es kam mir folglich darauf an, den christlichen Glauben an Gott als Glauben an das göttliche Wesen darzustellen, dessen Einzigkeit just dreieine Einzigkeit ist. Nach meiner Einsicht hat eine solche Darstellung einzusetzen mit einer ontologischen Skizze, die sowohl das jüdische Grundbekenntnis (Dtn 6,4f.) als auch das alte unausweichliche Interesse der Ersten Philosophie aufnimmt und zugleich kritisch revidiert. Eine solche ontologische Skizze fängt damit an, diejenige Bedingung anzusprechen, unter der wir Menschen uns im Medium einer gesprochenen Sprache über die mannigfachen Phänomene zu verständigen suchen können, die uns in unserer „Welthabe“ (William James) gegeben sind. Ich hatte diese Bedingung im Anschluss an Friedrich Schleiermacher in der Struktur des personalen Selbstbewusstseins erblickt, außerhalb derer wir natürlich nicht die geringste Verständigung über Sachverhalte von ontologischer Natur erwarten könnten. Kraft dieser uns gegebenen Bedingung ist es uns möglich und ist es unausweichlich, im Gespräch miteinander Aussagen über die allerallgemeinsten kategorialen Züge bzw. Merkmale des unermesslich Vielen und Mannigfaltigen zu treffen, und zwar in Form der Abstraktion. Klassisch und mit weit- und tiefgehender Wirkung 161 Wir können uns den Begriff des unbegrenzt Endlichen verdeutlichen an der Unbegrenztheit der Zahlenreihe und an der Unbegrenztheit des Universums, das sich mit Lichtgeschwindigkeit ausdehnt. Von diesem unbegrenzt Endlichen ist die Unendlichkeit des göttlichen Wesens transkategorial verschieden.

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Gottes Person-Sein

auch und gerade in der lateinischen Theologiegeschichte des hohen und des späten Mittelalters hatte Aristoteles solche Kategorien am Leitfaden einer „Ontologie der Substanz“ erörtert. Zwar war dieser Typ einer Ontologie der Substanz eingebaut in eine allgemeine Lehre von der Bewegung, die ihrerseits begründet war im Denken des Einen unbewegten Bewegenden; aber das genauere Verfahren der Abstraktion wird über die aristotelischen Beobachtungen hinaus kategoriale Bestimmungen finden, die die Einzigkeit des Einen klarer sehen lassen: insbesondere die Kategorie des geregelten bzw. des gerichteten Prozesses im Medium des relativen und begrenzten Dauerns. Die Kategorie des geregelten bzw. des gerichteten Prozesses im Medium des relativen und begrenzten Dauerns, wie wir sie in unserer Gegenwart als gültig für das Seiende als Seiendes überhaupt verstehen dürfen, macht aufmerksam auf den Charakter, in dem jedenfalls der Christus-Glaube die Einzigkeit des Einen sieht. Die Einzigkeit des Einen zeigt sich, indem sie sich dem frommen Selbstbewusstsein der Person in dessen Gegenwart als selbstbestimmter Grund und Ursprung des dauernden Geschehens der Welt und des Geschehens in der Welt offenbart. Sie wird darin als ihrer selbst bewusste Einzigkeit bzw. als ihr Sich-selbst-gegenwärtig-Sein offenbar. Der Glaubenssatz, dass Gottes Person-Sein nicht anders denn als das dreieine Person-Sein anzusprechen sei, macht diese Sicht der Einzigkeit des Einen konkret. Er antwortet auf die elementare existentielle Frage, ob wir tatsächlich darauf vertrauen dürfen, dass unserem selbstbewusst-freien, leibhaften PersonSein über sein Ende in dieser Weltzeit hinaus Dauer gewährt wird; und zwar ewige Dauer. Um diesen Glaubenssatz in seiner Sachwahrheit zu entfalten, hielt ich es für notwendig, die systematische Besinnung auf die dreieine Einzigkeit des göttlichen Person-Seins in einem zweifachen Gedankengang zu absolvieren. Er geht von der Erkenntnis aus, dass wir das Gleiche bzw. das Gemeinsame des göttlichen Wesens als das Gemeinsame des Geistes denken dürfen, während wir mit den trinitarischen Namen des Vaters, des Sohnes bzw. des Wortes oder der Weisheit und des Heiligen Geistes die drei eigentümlichen Momente nennen, in denen sich das Geist-Sein des göttlichen Wesens für uns darstellt. Es ist die Absicht des Gedankengangs zu zeigen, dass Gottes Einzigkeit als diejenige symmetrische Relation zu sehen ist, in welcher die Relate vereinigt sind. Inwiefern dürfen wir das Gleiche bzw. das Gemeinsame des göttlichen Wesens – die οὐσία bzw. die essentia – als Gleichheit bzw. als das Gemeinsame des Geistes denken? Nun, das Wort „Geist“ nimmt jedenfalls den ontologischen Charakter des schlechthin notwendig Sich-selbst-Bestimmens auf (s. 1.4). In diesem ontologischen Charakter verstehen wir das göttliche Wesen für sich. Während – mit Hegel zu sprechen – endliche geistige Subjektivität in der Gegenwart ihrer Lebensund Erfahrungswelt nur in bedingter, begrenzter, abhängiger Weise für sich

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zu sein vermag, ist die unendliche geistige Subjektivität des göttlichen Wesens unbedingt für sich. Sie ist in ihrer Gegenwart unmittelbar mit sich vertraut bzw. ihrer selbst bewusst. In diesem ihren unmittelbaren Mit-sich-vertraut-Sein bzw. Ihrer-selbst-bewusst-Sein aber vermag sie über sich selbst zu bestimmen, und zwar über ihr Für-anderes-Sein. Den univoken Kern des Begriffsworts „geistige Subjektivität“ in Anspruch nehmend nenne ich die unendliche geistige Subjektivität des göttlichen Wesens ihren Eigen-Sinn, kraft dessen sie auch Anderem begrenzten und bedingten Anteil geben will und gibt an ihrem Eigen-Sein. Und diesen begrenzten und bedingten Anteil erleben wir – wir Wesen von endlicher geistiger Subjektivität – just in der Art und Weise, in der wir unser Uns-gegenwärtig-Sein erleben als den jeweiligen Raum und als die jeweilige Zeit, in der wir hinsichtlich des jetzt Möglichen entscheiden, wählen und verwirklichen. Weil sich der Christus-Glaube der Person de facto innerhalb der Struktur des „trinitarischen Waltens“ befindet, ist es ihm wichtig und sogar unumgänglich, die Einzigkeit des göttlichen Wesens in ihrer internen Relation zu denken. Zwar wird der Begriff der internen Relation des göttlichen Wesens schwerlich jemals über den Status eines mehr oder weniger angemessenen Modells hinauskommen; aber weil es starke Gründe dafür gibt, die asymmetrische Deutung dieser Relation zu meiden, legt sich nach meiner Einsicht ein subjekttheoretisches Modell nahe. Es ist von Augustins Erkenntnislehre inspiriert, die überhaupt für die Geschichte der Lehre von Gottes immanenter Trinität stilbildend war. Ein subjekttheoretisches Modell der Relation, in der dem Christus-Glauben der Person Gott selbst in seinem Eigen-Sein und Eigen-Sinn endgültig offenbar wird, geht aus von den Bestimmungen, mit deren Hilfe und in deren Licht wir Gottes Sein als Gottes Geist begreifen dürfen. Unter diesem Terminus verstehen wir jenes ursprüngliche Sich-gegenwärtig-Sein bzw. jenes ursprüngliche Sich-als-Gotterschlossen-Sein, ohne welches das Uns-gegenwärtig-Sein der leibhaften Person in ihrer relativen und begrenzten Dauer schlechthin unmöglich wäre.162 In jenem Grund und Ursprung unserer selbst in unserer jeweiligen Lebens- und Erfahrungswelt können wir daher sinnvoller- und notwendigerweise drei und nur drei Momente unterscheiden. Auf sie beziehen sich die trinitarischen Namen: Zum einen bezeichne der trinitarische Name „Vater“ jenes Moment des göttlichen Wesens, in dem sich Gott unmittelbar als Gott erschlossen ist; zum andern bezeichne der trinitarische Name „Sohn“ bzw. „Wort“ oder „Weisheit“ jenes Moment des göttlichen Wesens, in dem sich Gott als sich selbst für Anderes bestimmend erschlossen ist;

162 Atheistische bzw. naturalistische Deutungen des menschlichen Person-Seins in seinem relativen und begrenzten Dauern sind mithin objektiv absurd.

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Gottes Person-Sein

zum Dritten bezeichne der trinitarische Name „Heiliger Geist“ jenes Moment des göttlichen Wesens, in welchem Gott – so wie sich Gott als sich selbst für Anderes bestimmend erschlossen ist – sich selbst bejaht, und zwar in Freude bejaht. In diesen drei Momenten einer symmetrischen Relation ist Gottes Sein als Gottes Geist Person; und zwar diejenige transzendente und als solche schlechthin schöpferische Person, auf die die Geschichte und das Geschick ihres irdischen, ihres geschaffenen Ebenbildes im Ganzen des Geschehens der Welt und des Geschehens in der Welt bleibend bezogen ist. Das Telos bzw. die absolute Zukunft dieses bleibenden Bezogen-Seins: sie ist dem Christus-Glauben als Sein und Sinn des transzendenten göttlichen Person-Seins in diesen drei Momenten endgültig offenbar.163 Fünftens: Wird dem Christus-Glauben Sein und Sinn des transzendenten göttlichen Person-Seins je und je endgültig offenbar, so wird ihm darin Gottes Wahr-Sein und Gottes Gut-Sein offenbar; und dies ist letzten Endes auch der Grund, warum der Christus-Glaube in der Erwartung ewiger Freude existiert. Ich hatte mich darum bemüht, die Bedeutung der Termini „Gottes Wahr-Sein“ und „Gottes Gut-Sein“ aus der Analyse der semantischen Felder „wahr“ bzw. „gut“ zu entwickeln. Aus dieser Analyse geht hervor, dass wir mit diesen beiden Prädikatoren etwas als etwas in seiner Eigenbewandtnis zu verstehen suchen bzw. etwas als etwas im Sinne des Erstrebenswerten oder des Gebotenen evaluieren. Indem wir in der sprachlich vermittelten Kommunikation und Interaktion – abhängig vom und einbezogen ins Geschehen der Natur der Erde in diesem Sonnensystem – die beiden Handelnsarten praktizieren, erweisen wir uns seit dem Erscheinen des homo sapiens als bedingte und begrenzte Freiheitswesen: als Wesen, die sich hinsichtlich des Wissen-Wollens und des Erstreben-Wollens nicht nicht selbstbestimmt verhalten können. Als Freiheitswesen, die sich nicht nicht selbstbestimmt verhalten können, sind wir Menschen alle offensichtlich Wahrheitswesen. Als solche haben wir auch und überhaupt die Eigenbewandtnis bzw. die Sachwahrheit hinsichtlich unserer selbst zu suchen. Wie dies geschieht, lehrt nicht nur die Geschichte des religiösen Mythos und der kultischen Praxis, sondern auch das Philosophieren seit den Anfängen vorsokratischen Denkens ebenso wie das Menschenbild der epischen, der tragischen bzw. der lyrischen Dichtung und der Plastik.164 In allen diesen Reflexionsgestalten

163 In der dogmatischen Fachsprache gesprochen: Gottes „immanente Trinität“ ist zu verstehen als der sich selbst bestimmende bzw. als der selbstbestimmte Grund der „ökonomischen Trinität“. 164 Für das, was ich die Suche nach der Eigenbewandtnis bzw. nach der Sachwahrheit hinsichtlich unserer selbst nenne, sei als eurozentrisches literarisches Beispiel genannt Johann Wolfgang Goethes „Faust. Eine Tragödie“. Dass die Suche nach der Eigenbewandtnis bzw. nach der Sachwahrheit

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„Gott ist Geist“ (Joh 4,24)

kommt zum Ausdruck, was Georg Wilhelm Friedrich Hegel die „Dialektik des Endlichen“ nennt.165 Ohne dass ich mir an dieser Stelle Hegels spezifischen Begriff aneigne, spreche ich von der Dialektik des Endlichen hinsichtlich unserer Suche nach der Eigenbewandtnis bzw. nach der Sachwahrheit unserer selbst. Zum einen nämlich ist uns Menschen allen der ephemere, der mühevolle, der schuldverstrickte Charakter unseres Daseins vertraut, der uns inmitten der begrenzten und relativen Dauer danach Ausschau halten lässt, was uns dauerhaft und wahrhaft Gutes verspricht. Zum andern aber bildet sich das Selbstbewusstsein der Person in ihrer jeweiligen Gemeinschaft unter dem Eindruck solcher Reflexionsgestalten, die eine jeweils bestimmte und besondere Sicht des Verhältnisses erschließen wollen, das zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen, dem wahrhaft Dauernden und dem Vergehenden herrscht. Sie lehren, das Herrschen dieses Verhältnisses zu achten und zu anerkennen. Ob diese ihre Lebenslehre die objektive Wahrheit dieses Verhältnisses erfasst und deshalb in das radikale Grundvertrauen in Sein und Sinn des Absoluten führt, muss offen bleiben. Es zeugt vom ernsten Willen zur Selbsterkenntnis, wenn Augustin die „Confessiones“ mit dem Satz eröffnet, dass unser Herz „unruhig ist, bis es Ruhe findet in Dir“.166 Wenn die dogmatische Besinnung auf das Wesen und auf die Bestimmung des Christus-Glaubens hier und jetzt darlegen möchte, dass Sein und Sinn des Absoluten in den Ereignissen des Dritten Tages endgültig erschlossen ist für „Juden“ und für „Griechen“, so ist ihr dieses Unruhig-Sein, in dem die Dialektik des Endlichen rumort, beileibe nicht egal; sie wäre sonst nicht selbstkritische Besinnung auf den angefochtenen Glauben. Sie möchte allerdings entfalten, worin das unruhige Herz tatsächlich Ruhe findet. Es findet Ruhe, wenn und weil es – mit Papst Johannes Paul II. zu sprechen – „das Geheimnis seines Daseins zu verstehen“ lernt (s. o. S. 136). Es lernt dieses sein Geheimnis zu verstehen, indem es sich – vermittelt durch die Ordnung des „äußeren“ und des „inneren Wortes“ (vgl. STh I, 604–612) –

unserer selbst auch zum eurozentrischen Ergebnis des Sinnlosen führt, lehrt demgegenüber das Werk Samuel Becketts. 165 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Erster Band, Halbband 1: Begriff der Religion. Hg. von Georg Lasson, Hamburg: Verlag von Felix Meiner, 1966 (PhB; 59), 127–148: Die Dialektik des Endlichen. 166 Aurelius Augustinus, Confessiones, I,1. – Vollständig lautet dieser Schlüsselsatz: „Tu excitas, ut laudare te delectet, quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te.“ („Du [verstehe: Gott] erweckst ihn [verstehe: den Menschen], dass er sich daran erfreue, Dich zu loben; denn Du hast uns für Dich geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in Dir.“ [meine Übersetzung]). Das nach wie vor viele faszinierende Gegenstück zu dieser Erkenntnis des objektiven Sinnes ist zu lesen bzw. zu sehen im absurden Theater Samuel Becketts, der in „Warten auf Godot“ (1952) in den eurozentrischen Nonsense-Dialogen der beiden Hauptfiguren die subjektiv vermeinte Sinnlosigkeit des Lebens auf die Bühne bringt.

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Gottes Person-Sein

der objektiven Wahrheit vergewissert, in der Gott als dreieiner Geist sich selbst offenbar bzw. sich selbst gegenwärtig ist. Ist es in diesen „Tiefen Gottes“ (1Kor 2,10) wahr, dass Gott sich selbst dazu bestimmt, Gott für uns zu sein, so ist es konvenient zu sagen, dass es des Menschen objektiver Sinn ist, mit Gott zu sein und in dem Sein mit Gottes Für-uns-Sein – mit Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen – das Höchste Gut zu finden. Die lutherische Orthodoxie in der Periode des Barock hat daher ganz mit Recht in ihrer analytischen Methode den objektiven Sinn des menschlichen Person-Seins, mit Gott – mit Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen – zu sein, schon in die Gotteslehre eingezeichnet und die fruitio Dei in ihrer endlich und zuletzt eschatischen Tendenz erläutert. Von ihrer Augustin-Lektüre inspiriert, sehe ich die Pointe meiner Darstellung darin, dass sie das Lebensgefühl des Christus-Glaubens als das Gefühl der Freude zu verstehen lehrt.167 Ich werde eine ausführliche Darstellung des Lebensgefühls des ChristusGlaubens erst in den Kapiteln 3 (Der christliche Glaube an Gott den Versöhner) und 4 (Der christliche Glaube an Gott den Vollender) bieten können. An dieser Stelle sei nur angezeigt, warum des Menschen objektiver Sinn – im „Sein mit Gottes Für-uns-Sein das Höchste Gut zu finden“ – in die zuversichtliche Erwartung und d. h. in die Hoffnung ewiger Freude führt (vgl. Röm 15,13). Mit dem Wortfeld „Freude“/ „sich freuen“ / „erfreuen“ / „freudig“ / „erfreulich“ / „froh“ / „frohlocken“ bezeichnen wir eine besondere Gestalt des Fühlens, dem in der Struktur des menschlichen Erfahrens eine gewichtige Funktion zukommt (vgl. STh I, 214–228). Im Ganzen der Struktur des Erfahrens indiziert uns das Gefühl all das, was uns in unserer Lebens- und Erfahrungswelt als bedeutsam, als erstrebenswert oder aber als abzuwehren und als zu bekämpfen erscheint. Im Spektrum der mannigfachen aktuellen Gefühle sind wir vorwillentlich damit vertraut, dass uns in dieser oder jener einzelnen Szene bzw. in der Geschichte unseres Lebens etwas als gut und vorzugswürdig oder eben als ungut, als schlecht und als böse, als unserem Leben förderlich und hilfreich oder eben als schädlich und zerstörerisch begegnet. Fühlend sind wir auf das Spektrum der formalen und der materialen Güter bezogen, so wie es uns in unserer Bildungsgeschichte nahekam; und dieses Spektrum wird bestimmt von einem Höchsten Gut, von dem wir uns – die wir des ephemeren Menschenloses und seiner relativen und begrenzten Dauer inne sind – Erfüllung und womöglich Überdauern erwarten.168

167 Vgl. zum Folgenden bes.: Lothar Steiger, Art. Freude II. Geistes- und theologiegeschichtlich: TRE 11, 586–589; Konrad Stock, Grundlegung, 146–159: Freude an dem, was sein soll. Vgl. u. 4.5.4.3.3. 168 Daher wird sich die Bestimmtheit eines Höchsten Gutes – wie zum Beispiel der Besitz an kaufbaren Objekten, der Erfolg oder der Ruhm im Sport und in der Ausübung politischer Herrschaft, die Darstellung der Natur im Kunstwerk der Gemälde, der Genuss der Interpretation von Gustav Mahlers 5. Symphonie oder die Utopie der klassenlosen herrschaftsfreien Gesellschaft als „Ende

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„Gott ist Geist“ (Joh 4,24)

Kommt die Sprache des Christus-Glaubens auf das besondere Gefühl der Freude zu sprechen, so hat sie sei es nun naiv sei es reflektiert Anteil daran, dass unser aller „Suchen des Lebens“ aus ist auf Erfüllendes und dass es deshalb gegen den Hunger, gegen die Krankheit, gegen das Unrecht und gegen die Leere des Lebens im Kampf begriffen ist. Anders als anderen Anschauungen des Lebens und der Wirklichkeit ist es dem Christus-Glauben allerdings als wahr gewiss, dass das gesuchte Erfüllende der Selbstvergegenwärtigung des göttlichen Wesens selbst zu danken ist. Dem Christus-Glauben ist es nämlich endgültig evident, dass Gottes Sein als Fülle des Seins und als Vollkommenheit des Seins zu verstehen ist; und nicht etwa nur deshalb, weil Gottes Sein dem Inbegriff des Seienden Dasein in relativer und begrenzter Dauer gewährt, sondern vor allem auch deshalb, weil es sich selbst darstellt in der Geschichte des Versöhnens und in der „Herrlichkeit, die künftig an uns offenbar werden soll“ (Röm 8,18 [Übersetzung Ulrich Wilckens]). Gottes Sein – das Sein des dreieinen Geistes – ist Grund ewiger Freude, weil es von sich selbst her offen ist für diese hier und jetzt noch unvorstellbare Herrlichkeit. Indem dem Christus-Glauben dieses Sein und dieser Sinn des göttlichen Wesens immer wieder gegenwärtig wird, ist seine Freude Freude an Gott. Sie ist über alle aktuellen Gefühle der Freude hinaus die Freude, die sich in der Weise des GestimmtSeins und der Stimmung in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ ereignet. Als exemplarischer Fall des Gestimmt-Seins und der Stimmung ist sie beileibe nicht bewahrt vor den erschütternden Erfahrungen des Leids, der Trauer, des Schuldig-Werdens und der Todesangst; als „Freude des Heiligen Geistes“ (1Thess 1,6 [Übersetzung Ulrich Wilckens]) leuchtet sie auch und gerade in diesen Finsternissen.169 Der ganze weitere Gang dieser Systematischen Theologie wird ebenso kirchen- wie kulturkritisch zeigen wollen, dass diese Freude sich nicht etwa egozentrisch in sich verschließt; sie – diese Freude – wird sich

der Geschichte“ – auswirken in den einzelnen Projekten und Entscheidungen, in denen die Akteure Freude intendieren. 169 Von dieser „Freude des Heiligen Geistes“ (gen. auctoris!) ist zu sagen, dass sie notwendig gebunden ist an alle die lebensbedeutsamen Szenen, in denen das ursprüngliche Offenbarungszeugnis in lebensnaher Interpretation erinnert und vergegenwärtigt wird. Zentrum dieser lebensbedeutsamen Szenen sind der Gottesdienst am ersten Tag der Woche und die Feier der christlichen Hochfeste im Gang des Kirchenjahrs, in denen womöglich das Einstimmen in den gemeinsamen Choralgesang und die Teilnahme am Mahl des Herrn den tiefsten Trost empfangen lässt. Johann Franck (1618–1677) hat das Empfangen tiefsten Trostes in den wunderbaren Vers gefasst: „Weicht, ihr Trauergeister, / denn mein Freudenmeister, / Jesus, tritt herein.“ (EG 396,6). – Hier sehe ich die tragende Brücke, die von der systematisch-theologischen Besinnung auf die Bedeutung des Wortes „Gott“ zu den verschiedenen praktisch-theologischen Subdisziplinen führt; möge sie begangen werden!

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Gottes Person-Sein

vielmehr mitteilen in der Sprache, in der Mimik und in der Gestik der Hoffnung ewiger Freude, die alles diakonisch-solidarische Handeln durchdringt.170

170 Ich reagiere damit auf Immanuel Kants ebenso konsequente wie trockene und schäbige Bemerkung, dass sich aus der „Dreieinigkeitslehre … schlechterdings nichts fürs Praktische machen“ lasse (s. o. Anm. 131).

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Zwischenbetrachtung: Gottes Gnadenwahl1

Der Christus-Glaube der Person versteht sich selbst als Glaube an Gott – als lebenstragendes und lebensmutiges Grundvertrauen auf Gottes Eigen-Sein und EigenSinn. Er bildet sich in einer Folge lebensbedeutsamer Szenen, in denen einem Menschen in der religiösen Kommunikation im Raum der Kirche die Wahrheit des Evangeliums durch den Geist der Wahrheit selbst zur individuellen Gewissheit wird; und zwar zur individuellen Gewissheit hinsichtlich der je eigenen Existenz in ihrem Grundverhältnis zu Gottes Für-uns-Sein bzw. zu Gottes In-Gemeinschaftsein-Wollen. Sie – diese Gewissheit – ist es, welche die Ungewissheit überwindet, die manifest wird im Erleben der Erscheinungen der Entfremdung: der Angst, des Zweifels, der Neigung zur Gewalt, der Flucht in die Zerstreuung und der Illusion. Dann und nur dann, wenn diese Ungewissheit wirksam überwunden wird, gibt es in der Geschichte tatsächlich Interesse am Ideal des gerechten und des sicheren Friedens. Dass diese Ungewissheit letztlich nur vom Geist der Wahrheit selbst überwunden wird, ist die fundamentale These einer Prinzipienlehre in reformatorischer Prägnanz. In den Begegnungen mit dieser und jener Zeugnisgestalt, mit ihrer Interpretation der Heiligen Schrift und ihrer Überlieferung und nicht zuletzt mit den „guten Mächten“ (Dietrich Bonhoeffer) der Werke der christlichen Kunstgeschichte und der Sprache der Meditation wird dieser Glaube als das radikale Grundvertrauen auf Gott und Gottes Walten dauern; auch dann und hoffentlich gerade dann, wenn er im Leid der Endlichkeit und in der Selbsterfahrung des Gewissens angefochten ist. Es ist um dieses Dauerns willen die Sache der Dogmatik, den überwältigenden Reichtum der Überlieferung des Evangeliums kritisch zu sichten und ihre Sachwahrheit mit der größtmöglichen Bestimmtheit zu erschließen. Um der größtmöglichen Bestimmtheit willen hatte ich im Kapitel 1 das radikale Grundvertrauen auf Gott in einem ontologischen Sinne dargestellt. Ich hatte zeigen

1 Vgl. zum Folgenden bes.: Friedrich Schleiermacher, CG2 §§ 117–120: Von der Erwählung (II, 220–248 = KGA I.13,2, 244–277); §§ 164–169: Von den göttlichen Eigenschaften, welche sich auf die Erlösung beziehen (II, 441–457 = KGA I.13,2, 494–513); Karl Barth, KD II/2; KD III/2, § 44,3 (158–241); Jürgen Moltmann, Prädestination und Perseveranz. Geschichte und Bedeutung der reformierten Lehre „de perseverantia sanctorum, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1961 (BGLRK; 12); Wolfhart Pannenberg, Art. Prädestination IV. Dogmatisch: RGG3 , 487–489; Ders., STh III, 14. Kapitel: Erwählung und Geschichte (473–568); Wilfried Härle, Dogmatik5 , bes. 518–523; Eilert Herms, Opus Dei gratiae: Cooperatio Dei et hominis. Luthers Darstellung seiner Rechtfertigungslehre in De servo arbitrio, in: LuJ 78 (2011), 61–135.

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wollen, dass das Woran und Woraufhin des radikalen Grundvertrauens ganz sachgemäß mit dem Begriffswort „Sein“ zu bezeichnen ist, sofern es im Kontinuum des göttlichen Waltens seine spezifisch christliche Prägnanz erfährt. Indem uns nämlich in der Struktur des göttlichen Waltens Gottes Sein als Gottes Person-Sein und Gottes Person-Sein als dreieines Person-Sein letztgültig erschlossen wird, wird uns der unbedingte Grund bzw. der unendliche Ursprung letztgültig erschlossen, der von sich selbst her aus ist auf die Gemeinschaft mit uns Menschen allen. Im göttlichen Für-uns-Sein dürfen wir denn auch den tiefsten Grund dafür erblicken, dass uns – die wir in unserem Uns-gegenwärtig-Sein das Leid der Endlichkeit und den „Zwiespalt“ (David Bakan) des Guten und des Bösen erfahren – Versöhnung und Vollendung jenseits des Todes und durch den Tod hindurch verheißen und verbürgt ist. Mit einem wirkungsvollen Wort des Briefs an die Gemeinde zu Ephesus nennen wir diesen tiefsten Grund den „Ratschluss seines Willens“ (Eph 1,11).2 Im „Ratschluss“, im „Wohlgefallen seines Willens“ (Eph 1,5), im „Vorsatz“ des Erwählens und Berufens (Röm 8,28) bzw. in der „Wahl der Gnade“ (Röm 11,5) zeigt sich Gottes Wesen. Die Termen „Ratschluss“ bzw. „Wohlgefallen seines Willens“, welche der pseudonyme Autor des Briefs an die Gemeinde zu Ephesus verwendet, sind nicht etwa in einem metaphorischen Sinne zu verstehen. Mit ihrer Hilfe sprechen wir vielmehr dem göttlichen Wesen auf univoke Weise die Kraft und die Beharrlichkeit des Wollens zu, mit der wir in der Selbstbesinnung auf das menschliche Person-Sein durchaus vertraut sind. Im Unterschied nicht nur, sondern womöglich auch im Gegensatz zur Tradition der Ersten Philosophie erscheint es uns als unumgänglich, das Grundverhältnis zwischen Gottes dreieinem Person-Sein und dem radikalen Grundvertrauen des Glaubens als das von Gott beharrlich gewollte Grundverhältnis zu erfassen. Die Kraft und die Beharrlichkeit des göttlichen Wollens manifestiert sich im Entschluss bzw. in der „ontologischen Entscheidung“ (Eilert Herms), in der das schlechthin notwendige und als solches vollkommene göttliche Wesen sich selbst zum Sein für Anderes bestimmt. Ich hatte dies als die Pointe meines Entwurfs bezeichnet, von Gottes Sein im ontologischen Sinne zu sprechen (s. 1.4). Nun scheint das biblische Zeugnis für Gottes letztgültiges Offenbar-Werden im Geist der Wahrheit sich darauf zu beschränken, mit Hilfe des semantischen Feldes des „Wohlgefallens“, des „Wählens“, des „Erwählens“ bzw. des „Berufens“ auf jenen Grund zu achten, ohne den es keine stetige Gewissheit des Versöhnt-Seins und

2 Ich spreche mit Bedacht von einem „wirkungsvollen“ Wort, weil es die Geschichte der Lehre von Gottes Prädestination initiierte, die zumal in den Kirchengemeinschaften des Abendlands überaus problematische und geradezu ruinöse Folgen zeitigte und vielleicht noch immer zeitigt. – Eine nicht nur formale, sondern auch inhaltliche Parallele stellt die Lehre der rabbinischen Überlieferung dar, dass die Tora zu dem gehöre, was JHWH „vor der Welt“ geschaffen hat (BerR 1,1; vgl. Klaus Hermann, Art. Schöpfung III. Judentum: RGG4 7, 972–973).

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keine geduldige Hoffnung auf Vollendung des gelebten Lebens jenseits des Todes und durch den Tod hindurch geben würde. Es setzt das jüdisch-fromme Selbstbewusstsein voraus, dem die Erwählung der JHWH-Gemeinschaft „zum Volk des Eigentums“ (Dtn 7,6) gewiss geworden war; und namentlich der Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde zu Rom sowie der schon erwähnte Brief an die Gemeinde zu Ephesus erinnern die Empfänger daran, dass Jesu Christi Existenz „Juden“ und „Griechen“ zur Gemeinschaft des ethischen Volkes Gottes zusammenschließt und in der geschaffenen Raumzeit jenes „Geheimnis“ des göttlichen Willens mehr und mehr realisiert, das schon „zuvor“ in Gottes Ewigkeit „gefasst“ ist (Eph 1,9-10; 2,1722; vgl. Röm 9,1–11,36 [bes. 11,33-36]). Für das Bewusstsein des Versöhnt-Seins und dessen ewiges „Geheimnis“ hat die dogmatische Fachsprache die Kunstworte „Soteriologie“ bzw. „soteriologisch“ parat. Die Kirchen- und Theologiegeschichte namentlich des abendländischen Christentums hat diese wohlverstanden soteriologische Pointe des christlich-frommen Selbstbewusstseins zur förmlichen Lehre ausgebaut. Sie hat als Lehre, die die Prädestination zum Heil oder womöglich auch zum Unheil „vor Anbeginn der Welt“ (Eph 1,4 [Übersetzung Ulrich Wilckens]) einschärft, seit Augustins entschiedenem Kampf gegen das Verständnis des Christus-Glaubens bei dem britischen Asketen Pelagius zu düsterem existentiellem Zweifel und zu dramatischen theologischen Konflikten geführt.3 Ihre krasseste Gestalt fand sie im Lehrstück der reformierten Reformation von den göttlichen Dekreten, das Jean Calvin begründet hatte mit der glasklaren Definition: „Praedestinationem vocamus aeternum Dei decretum, quo apud se constitutum habuit, quod de unoquoque homine fieri vellet. Non enim pari conditione creantur omnes; sed aliis vita aeterna, aliis damnatio aeterna praeordinatur. Itaque prout in alterutrum finem quisque conditus est, ita vel ad vitam vel ad mortem praedestinatum dicimus.“4

3 Martin Luther hat seinem individuellen düsteren Zweifel exemplarisch Ausdruck gegeben in den Versen des Liedes „Nun freut euch, lieben Christen g‘mein“: „die Angst mich zu verzweifeln trieb, / daß nichts denn Sterben bei mir blieb, / zur Höllen mußt ich sinken.“ (EG 341,3). – Zur Wirkungsund Rezeptionsgeschichte des biblischen Offenbarungszeugnisses von Gottes erwählendem und berufendem Walten vgl. bes. Gillian R. Evans, Art. Prädestination IV. Alte Kirche und Mittelalter: TRE 27, 110–118; Theodor Mahlmann, Art. Prädestination V. Reformation und Neuzeit: ebd. 118–156 (Lit.!). 4 „‚Prädestination‘ (verstehe: ‚Vorherbestimmung‘) nennen wir Gottes ewige Entscheidung, in der Gott bei sich selbst beschlossen hatte, was er hinsichtlich eines jeden einzelnen Menschen geschehen lassen wollte. Denn keineswegs werden alle (verstehe: Menschen) unter ein und derselben Bedingung geschaffen; sondern den einen wird ewiges Leben, den andern ewige Verdammnis im Voraus zugedacht. Deshalb: je nachdem zu welchem Ziel ein jeder Mensch geschaffen ist, so bezeichnen wir ihn entweder zum Leben oder zum Tode vorherbestimmt.“ (Inst. III, 21, 5 [OS IV, 374] {meine Übersetzung}). – Vgl. zu Calvins Fassung der Prädestinationslehre zuletzt Wilhelm H. Neuser, Art.

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Wer immer sich dazu berufen fühlt, in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) eine zusammenstimmende Leitung auszuüben, muss wohlvertraut sein mit der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte dieser Lehre. Richtig betrachtet ist es ihre Intention, den neuen Horizont des Christus-Glaubens bzw. dessen neuen Blick aufs Ganze im Wirklich-Sein und Wirksam-Sein der göttlichen Gnade – des göttlichen In-Gemeinschaft-sein-Wollens – konstituiert zu sehen. Ihre soteriologische Pointe verweist daher auf jenes von Gott beharrlich gewollte Grundverhältnis zwischen dem schöpferischen PersonSein und dem geschaffenen Person-Sein in einer Welt im Werden und Vergehen; sie verweist mithin auf Gottes Eigen-Sinn und auf dessen eschatische, auf dessen auf absolute Zukunft ausgerichtete Tendenz. Insofern halte ich es für geboten, im Vorblick und im Übergang zu den folgenden Kapiteln das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens zuzuspitzen auf das ontologische Grundverhältnis zwischen dem Wollen des schöpferischen Person-Seins und dem Wollen des geschaffenen Person-Seins. Das wird zu Korrekturen an den überlieferten Gestalten kirchlich festgestellter Lehre und theologischer Theorie führen; denn wenn man es nicht wagt, die soteriologische Pointe des ChristusGlaubens – des radikalen Grundvertrauens auf das Erwählt-Sein und Berufen-Sein der Person zur ewigen Gemeinschaft mit Gott selbst als ihrem Höchsten Gut – in jenes ontologische Grundverhältnis einzuzeichnen, hängt diese in der Luft. Im Übergang zu den Kapiteln über den christlichen Glauben an Gott den Schöpfer, an Gott den Versöhner und an Gott den Vollender wird diese Zwischenbetrachtung sich zwei Fragen widmen. Sie stellen sich mit Rücksicht darauf, dass der Christus-Glaube, weil und insofern er das fromme Selbstbewusstsein der Person prägt und bildet, das Leben in der Einheit der Erfahrungswelt heilsam neu bestimmt (vgl. STh I, 472–487). Zum einen wird sie skizzieren, dass der biblische Begriff der „Wahl der Gnade“ das Integral für das Kontinuum des göttlichen Waltens bezeichnet, in dem der individuelle Christus-Glaube sich selbst verstehen darf; zum andern wird sie zeigen wollen, dass der Begriff des göttlichen Waltens sachgemäß stets das jeweilige Verhältnis zwischen Gottes Sein als Geist und den verschiedenen Weisen des Endlichen intendiert, die samt und sonders Merkmale

Prädestination, in: Herman J. Selderhuis (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008, 307–317. Neuser vertritt hier die These, „dass die Endform der Prädestinationslehre in der Institutio von 1559 nicht überbewertet werden darf und sie nicht seine (verstehe: Calvins) allein maßgebende Lehrform ist“ (317). Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass die Dordrechter Synode (1618/1619) diese sog. „supralapsarische“ Lehrform gegenüber der Kritik von Jacobus Arminius (1560–1609) und der Bewegung der „Arminianer“ (bzw. der „Remonstranten“) als orthodox festgestellt hatte (vgl. BSRK 843–861), und zwar auf Betreiben von Franciscus Gomarus (1563–1641) und der von ihm geführten Bewegung der „Kontraremonstranten“.

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des Zufälligen, des Wahrscheinlichen, des Wachsenden, des Werdenden, des Spielerischen und des Freien an sich haben. Wäre das ontologische Grundverhältnis, wie es sich dem Christus-Glauben im Sinnraum und im Verstehenshorizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft erschließt, deterministischer Art, so wäre der ethische Grundbegriff der Selbstverantwortung vor Gott als selbstwidersprüchlich sinnlos. Jeder dogmatischen Besinnung auf das Wesen des Christus-Glaubens stellen sich diese beiden Fragen. Wenn ich im Folgenden mich diesen beiden Fragen stelle, so gehe ich vom Grundgedanken der Prinzipienlehre aus (vgl. STh I). Erstens: Meine Besinnung auf die Sache selbst, die sich dem Christus-Glauben mit Hilfe und im Lichte der Rede von Gottes „Wahl der Gnade“, von Gottes „Vorsatz“ bzw. von Gottes „Ratschluss“ „vor Anbeginn der Welt“ nahe legt, kommt nicht darum herum, an die Gedankengänge der Prinzipienlehre über „Erfahrung und Offenbarung“ zu erinnern. Der mit Bedacht gewählte Titel der Prinzipienlehre signalisiert das Ziel, das Geschehen und die Geschichte der letztgültigen Selbstoffenbarung des göttlichen Wesens im Christus Jesus durch den Geist der Wahrheit als heilsame Neubestimmung und Neuausrichtung des Lebens in der Einheit der Erfahrungswelt verständlich zu machen. Im weiten Kontext des Diskurses in der Fundamentaltheologie charakterisiere ich zwei Schwerpunkte der Interpretation, ohne die es kaum gelingen wird, für die Sache des biblischen Offenbarungszeugnisses und seiner Überlieferung hier und jetzt das rechte Wort zur rechten Zeit zu finden (vgl. STh I, 651–654). Zum einen: Unter dem Term der letztgültigen Selbstoffenbarung verstehe ich die Reihe der Erschließungssituationen, die ich im Anschluss an den Sprachgebrauch des Neuen Testaments Ereignisse des Dritten Tages nenne. In ihnen wird ihren Empfängern durch Gottes Geist als wahr gewiss, dass Gottes absolute Wesenheit die unvermeidliche Zeit des Im-Tode-Seins des Christus Jesus brach, indem sie dessen Lebenszeugnis für das unscheinbare und doch unfehlbare Nahen der Vollendung ins Recht der Wahrheit setzt. Letztgültig ist diese ihre Gewissheit, weil sie Gottes Für-uns-Sein unüberbietbar klar und deutlich erfasst. In ihr strahlt auf das lumen gratiae des göttlichen Wesens, das die wie immer auch angefochtene und dem Leid der Endlichkeit ausgesetzte Existenz im lumen gratiae begründet: jene Existenz, die zuversichtlich auf das lumen gloriae jenseits des Todes und durch den Tod hindurch zu hoffen wagt.5 Es war und ist die Grundeinsicht der reformatorischen Bewegung, dass jenes lumen gratiae des göttlichen Wesens das fromme Selbstbewusstsein der Person prägt 5 Ich spiele auf die Art und Weise an, in der Martin Luther an die überlieferte Unterscheidung zwischen dem lumen naturae, dem lumen gratiae und dem lumen gloriae (vgl. Thomas von Aquino, STh I q 12 a 2) erinnert. Vgl. Martin Luther, De servo arbitrio / Vom unfreien Willensvermögen (LDStA, Band 1), 654/655.

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und bildet: nicht etwa deshalb, weil es den frei-willentlichen Gehorsam gegenüber dem Wahrheitsanspruch der authentischen Lehre der Kirche fordert, sondern vielmehr deshalb, weil es durch sich selbst die sprachlichen und übersprachlichen Bezeugungen des Evangeliums als wahr und als vertrauenswürdig erleben und erkennen lässt. Ich hatte diese Grundeinsicht, um derentwillen seinerzeit die Kirche unter dem Bischof von Rom die reformatorische Bewegung als häretisch aus der Kirchengemeinschaft ausschloss, als gültig festgestellt auch und erst recht unter den sozio-kulturellen Lebensverhältnissen, die für die euro-amerikanische Moderne typisch sind. Sie ist die Grundeinsicht, die der Autorität des göttlichen Wahr-Seins und Gut-Seins die Ehre gibt (s. 1.5.3.3.3; 1.5.3.3.4). Ich hatte allerdings die Grundeinsicht der reformatorischen Bewegung in die geistgewirkte Konstitution des radikalen Grundvertrauens auf Gott und Gottes Walten konkretisiert und damit korrigiert. Wie nämlich Jesu Christi eigenes Lebenszeugnis und dessen apostolische Verkündigung im Sinnraum und Verstehenshorizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft sich bewegt, so begründet es in Kraft des „Wahrheitsgeistes“ (Herman Schell) die Christus-Gemeinschaft des ethischen Volkes Gottes aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16). In Kraft des Wahrheitsgeistes lässt es uns den Kampf für den gerechten und den sicheren Frieden in der entstehenden Weltgesellschaft als übergeordnetes Ideal der Lebensführung in der Selbstverantwortung vor Gott entdecken. Erwählung und Berufung der Person „vor Anbeginn der Welt“ hat das Ziel, sie in die Christus-Gemeinschaft des ethischen Volkes Gottes aus „Juden“ und „Griechen“ zu integrieren.6 Zum andern: Nun setzt die sachgemäße Interpretation des lumen gratiae in den und für die selbsterlebten Szenen einer Lebensgeschichte ein Verstehen des Phänomens voraus, für welches wir das Begriffswort „Lebensgeschichte“ bilden. Sie setzt mithin eine Besinnung bzw. eine Lehre fundamentaltheologischer Art voraus. Ich hatte eine solche Besinnung bzw. eine solche Lehre vorgeschlagen unter dem Titel „Erfahrung und Religion“ (vgl. STh I, 173–408). Im Rahmen dieser Zwischenbetrachtung komme ich auf ihre Pointe zurück. Der Titel „Erfahrung und Religion“ signalisiert, dass unser aller Leben in der Einheit der Lebens- und Erfahrungswelt auf das Geschehen und auf die Geschichte der Christus-Offenbarung bezogen und ihrer zutiefst bedürftig ist. Nun findet diese Anschauung des Lebens und der Wirklichkeit – diese Sicht des Sinnes von Sein – im Gang der euro-amerikanischen Moderne vielfachen und massiven Widerspruch, wenn sie nicht überhaupt schlichtweg ignoriert oder gar als Unsinn diffamiert wird. Es ist deshalb des Schweißes der Edlen wert, die der Christus-Offenbarung gemäße 6 Es ist ein besonderes Verdienst der systematisch-theologischen Darstellung Wolfhart Pannenbergs, den sachlogischen Zusammenhang zwischen der Rede von Gottes „Ratschluss“ bzw. von Gottes „Vorsatz“ „vor Anbeginn der Welt“ und dem Verständnis der Kirche als „Volk Gottes“ mit dem gebotenen Nachdruck aufgezeigt zu haben; vgl. Wolfhart Pannenberg, STh III, 477–523.

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Anschauung des Lebens und der Wirklichkeit erhellend zu explizieren als jene Anschauung, die der conditio humana am ehesten gerecht wird. Meine Entfaltung des ebenso fundamentalen wie komplexen Begriffs der Erfahrung will dazu ihren Beitrag leisten. Wer immer den ebenso fundamentalen wie komplexen Sachverhalt entfalten will, den wir mit dem Begriff der Erfahrung benennen, wird jedenfalls drei Momente dieses Sachverhalts ins Auge fassen müssen. Um willen dieses Interesses plädiere ich methodisch dafür, jeweils auf das je eigene Erfahren – auf das Sich-selbstErleben in den verschiedenen Dimensionen der Lebens- und Erfahrungswelt – zu achten und die vorhandene uferlose Literatur daran zu messen und zu sichten. Ich schlage mithin auf der Basis einer Theorie des Selbstbewusstseins der Person die phänomenologische Methode vor, die die verschiedenen Momente miteinander zu erfassen sucht, die uns in jeder selbsterlebten Szene zu verstehen vorgegeben sind. In jeder selbsterlebten Szene nämlich wird das „Uns-gegenwärtig-Sein“ aktuell, kraft dessen wir Mögliches und d. h. Zukünftiges erwarten und verwirklichen wollen; und zwar im Lichte des Geschehenen, das uns in der Erinnerung wie klar oder wie verzerrt auch immer präsent ist. Zunächst: Um nun den ebenso fundamentalen wie komplexen Sachverhalt „Erfahrung“ angemessen zu erfassen, beschrieb ich in einem ersten Schritt die „Struktur des Erfahrens“. Denn die Besinnung auf die jeweils selbsterlebte Szene einer Lebensgeschichte zeichnet nach, in welcher Weise wir jeweils hier und jetzt die unübersehbar mannigfaltigen Gegenstände der Erfahrungswelt perzipieren, um sie im Mit- und Gegeneinander mit Anderen unseresgleichen zu begreifen und wiederum im Mit- und Gegeneinander mit Anderen unseresgleichen in sie einzugreifen. Wenn ich die Untersuchung der Struktur des Erfahrens in den Begriff der Erfahrung des Gewissens zusammenfasste, wollte ich zeigen, wie das „Uns-gegenwärtig-Sein“ ein Gesinnt-Sein einschließt, in dessen Licht wir sowohl perzipieren als auch agieren und reagieren. Wie dies Gesinnt-Sein tatsächlich zustande kommt: das ist gewiss das zentrale Thema einer Prinzipienlehre, die in der skizzierten Weise phänomenologisch verfährt. Sodann: Die Analyse der Struktur des Erfahrens bliebe hochgradig abstrakt, wenn man sie nicht vermitteln würde mit dem zweiten Moment des Sachverhalts „Erfahrung“: mit der Betrachtung der Erfahrungswelt, in der sich unser aller Lebensgeschichte abspielt. Ich hatte den Schwerpunkt der Betrachtung mit dem Zwischentitel „Erfahrung der Freiheit und der Unfreiheit“ charakterisiert.7 In ihr ist stets vorausgesetzt die Erfahrung der Natur; und zwar nicht nur im Sinne der 7 Vgl. STh I, 278–304. – Wie meine Darstellung der „Struktur des Erfahrens“ mit ihrem Skopus in der Analyse des Zusammenhangs von „Gewissen“ und „Gesinnt-Sein“ appelliert auch dieser Zwischentitel an die verschiedenen Bezugswissenschaften Systematischer Theologie, das Problem „Erfahrung der Freiheit und der Unfreiheit“ überhaupt zu bemerken und zu bedenken. Auch die historisch-

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natürlichen Bedingungen des Mensch-Seins hier und jetzt auf dieser Erde in ihrer Bahn im Werden und Vergehen dieses ungeheuren Universums, sondern auch im Sinne der Natur des eigenen Leibes und seiner elementaren Schutzbedürftigkeit. Es fragt sich deshalb, ob – und wenn ja, in welcher Weise – wir kategoriale Bestimmungen erkennen können, mit deren Hilfe und in deren Licht wir die soziale bzw. die geschichtliche Erfahrungswelt begreifen, die faktisch abhängt von der Natur des jeweils eigenen Leibes, die es nicht ohne die Natur der Erde und ihrer Kräfte im Werden und Vergehen des ungeheuren Universums gibt. Wir können solche kategorialen Bestimmungen erkennen, wenn wir uns auf das Selbstbewusstsein bzw. auf die Selbsterschlossenheit der Person im Sinne des je individuellen Freiheitsgefühls konzentrieren. Erfahrung der sozialen bzw. der geschichtlichen Erfahrungswelt hat individuelles Freiheitsgefühl zur notwendigen Bedingung ihrer Möglichkeit, so gewiss sie sich im Mit- und Gegeneinander der sprachlichen Kommunikation, der praktischen Interaktion und der ästhetischen Expression realisiert. Aus diesem Grund ist jede menschliche Gemeinschaft angewiesen auf eine Ordnung der Freiheit. Und zwar deshalb, weil sie in ihrer sprachlichen Kommunikation, in ihrer praktischen Interaktion sowie in ihrer ästhetischen Expression alle die Güter produzieren muss, die für das hohe Gut des leibhaften Person-Seins unabdingbar sind. Jede unvoreingenommene historische Erforschung und Erzählung wird berichten, wie hart umkämpft und wie leicht zerstörbar eine des Namens werte Ordnung der Freiheit war und ist. In freiem Anschluss an Friedrich Schleiermachers ethische Kategorienlehre hatte ich dafür plädiert, die Sphäre der religiös-weltanschaulichen Kommunikation in den Begriff einer Ordnung der Freiheit einzuzeichnen. In dieser Sphäre nämlich kommen die mannigfachen Bestimmungen eines Woraufhin und eines Worumwillen zur Sprache, die für die Kultur einer Gesellschaft als ganze bzw. für die Glieder einer religiösen und einer weltanschaulichen Gemeinschaft die Sicht des Höchsten Gutes und des Lebenssinnes artikulieren. Soweit sie das Gesinnt-Sein der Person erfüllen, werden sie den Inbegriff ihrer Entscheidungen und ihrer Unterlassungen prägen, so dass wir ohne jeden Selbstwiderspruch die Unfreiheit des Wollens bzw. – genauer formuliert – die Passivität des Wollens und der Willensrichtung anerkennen müssen. Es war, wie ich zu zeigen suchte, die richtige fundamentaltheologische Intention in Luthers Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam, diesen Sachverhalt so scharf wie möglich zu beleuchten. Er macht verständlich, dass das Handeln- und Entscheiden-Müssen in der jeweiligen Gegenwart des selbstbewusstfreien Lebens radikal von der Sicht des Höchsten Gutes und des Lebenssinnes

theologischen und praktisch-theologischen Disziplinen wären gut beraten, wenn sie das Fundamentale dieses Problems beachten würden!

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bestimmt sein wird, die sich der Gesinnung der Person erschließt oder aber nicht erschließt. Und schließlich: Es fragt sich deshalb, ob – und wenn ja, in welcher Weise – das Höchste Gut sich selbst in seiner objektiven Eigenart als wahres Woraufhin und Worumwillen des ephemeren Menschenloses erschließt. Nach meiner Überzeugung ist es diese Frage, die jedenfalls ein, wenn nicht überhaupt das treibende Motiv in der Geschichte der unglaublichen „varieties of religious experience“ (William James) ist. Dieses Motiv wird aufgenommen und mit Recht aufgenommen in der religions- bzw. der mythoskritischen Ersten Philosophie, die nach dem ersten bzw. nach dem letzten Grunde des leibhaften Person-Seins in einer Welt des Mannigfaltigen im Werden und Vergehen und nach dessen Wesen sucht. Sowohl die „variety of religious experience“ als auch die religions- bzw. die mythoskritische Erste Philosophie symbolisieren je auf ihre Weise jenen ersten bzw. letzten Grund, der das Seiend-Sein des mannigfaltig Seienden schlechthin ermöglicht. Was sie auf ihre je verschiedene Weise symbolisieren, ist deshalb für die alltägliche und allnächtliche Erfahrung der Einheit der Lebens- und Erfahrungswelt konstitutiv. Für die alltägliche und für die allnächtliche Erfahrung gilt mithin, dass als das Höchste Gut des ephemeren Menschenloses nur derjenige erste bzw. letzte Grund in Betracht kommt, welcher das Seiend-Sein des Seienden in seiner relativen und begrenzten Dauer schlechthin ermöglicht. Dass dieses ephemere Menschenlos schlechthin abhängt und sich als schlechthin abhängig wissen kann von jenem ersten bzw. letzten Grund, der es schlechthin ermöglicht: diese Faktizität dürfen wir in Aufnahme wie in Abwandlung von Luthers Sprachgebrauch als Sehen des lumen naturae bzw. als Sehen im lumen naturae verstehen.8 Zweitens: Wie schon erwähnt, ist es die Absicht dieser Zwischenbetrachtung, im Vorblick auf die folgenden Kapitel im biblischen Begriff der „Wahl der Gnade“

8 Vgl. Martin Luther, De servo arbitrio / Vom unfreien Willensvermögen (LDStA, Bd. 1), 654/655. – Im Gegensatz zu Thomas von Aquino (STh I q 12 a 2) verwendet Luther den Ausdruck „lumen naturae (verstehe: Licht der Vernunft)“ für das grundsätzliche Unvermögen, die scheinbare Ungerechtigkeit des göttlichen Wesens zu ergründen, die sich im Leid des Gerechten und im Wohlergehen des Ungerechten manifestiert. Mit dieser Verwendungsweise nimmt Luther allerdings nur einen Aspekt der Frage wahr, ob und wie die „endliche Vernunft“ vor der „Vernunft des Glaubens“ das ontologische Verhältnis zwischen dem alles bedingenden Walten des göttlichen Wesens und dem bedingten und begrenzten Agieren des Geschaffenen verstehen könne und ob auch dem Leid der Endlichkeit ein Sinn zuzusprechen sei. Eilert Herms, Opus Dei gratiae (wie Anm. 171), nimmt diese und andere Reduktionen in Luthers Text zum Anlass, dessen implizites Verstehen des Seienden als solchen explizit zu machen und es im Sinne einer „Metaphysik“ der „soteriologisch“ konzipierten Lehre von der Rechtfertigung ausführlich zu entwickeln (vgl. 135: „Würde sich dieses Wirklichkeitsverständnis der Rechtfertigungslehre als nicht stichhaltig erweisen, so wäre auch die Rechtfertigungslehre selbst nicht stichhaltig.“). Herms hat diese Intuition mit der gebotenen Genauigkeit entfaltet in STh (Bd. 1).

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bzw. des „Wohlgefallens seines Willens“ „vor Anbeginn der Welt“ das ontologische Grundverhältnis zu bedenken, wie es der Christus-Glaube – erleuchtet durch das lumen gratiae – zwischen dem unbedingten Walten des göttlichen Wesens und dem schlechthin bedingten und begrenzten Wirken-Können und Wirken-Müssen des Seienden als Seienden und insbesondere dem menschlichen Wirken-Können und Wirken-Müssen sieht. Ohne das Interesse an einer Darstellung dieses ontologischen Grundverhältnisses hängt – wie schon gesagt – die öffentliche Rechenschaft hinsichtlich der dem Christus-Glauben erschlossenen Wahrheit in der Luft.9 Die biblischen Begriffe „Wahl der Gnade“, „Ratschluss“ oder „Wohlgefallen“ des göttlichen Willens beziehen sich auf das ontologische Grundverhältnis zwischen Gottes Sein, das ich als Gottes dreieines Person-Sein verständlich machte, und dem All des Seienden, das unter den Bedingungen des Raumes und der Zeit im Werden und im Vergehen existiert. Es ist als ontologisches Grundverhältnis schlechthin ermöglicht kraft jener ursprünglichen Entscheidung, die wir nicht anders denken können denn als Entscheidung zwischen Nicht-Sein und Seiend-Sein des Seienden.10 Wie diese ursprüngliche Entscheidung ein Akt der Selbstbestimmung des göttlichen Wesens ist, so prägt sie die Bestimmtheit, die dem göttlichen Wesen von nun an eigentümlich ist und bleibt. Sie bildet Gottes Eigen-Sinn, wie er im lumen gratiae über das lumen naturae hinaus dem frommen Selbstbewusstsein der Person sich erschließt. Ich hatte im Zusammenhang der Lehre vom christlichen Glauben an Gott gezeigt, dass jedenfalls die Christus-Offenbarung dazu fähig macht, die trinitarische Struktur des göttlichen Waltens und ihr Kontinuum zu verstehen und sich in diesem ihrem Kontinuum zu bergen (s. 1.3). „Glaube“ im christlichen Sinne

9 Diese meine kritische Diagnose bezieht sich nicht nur auf die Prädestinations- und die Rechtfertigungslehre in der „Institutio“ Jean Calvins und in der reformierten Orthodoxie, sondern auch und vor allem auf die voluminöse Erwählungslehre Karl Barths (KD II/2, 1–563: Siebentes Kapitel: Gottes Gnadenwahl), die die Aporie der reformierten Lehre von Gottes ewigem Dekret „christologisch“ überwinden möchte. Der Spitzensatz der „christologischen Revision“ dieser Lehre lautet: „Er (verstehe: Gott [sic!]) wählt das Kreuz von Golgatha zu seinem [sic!] Königsthron. Er [sic!] wählt das Grab in Josephs Garten zur Stätte seines Seins als der lebendige Gott.“ (KD II/2, 180; vgl. 131.171.182 und dazu Eberhard Jüngel, Gottes Sein ist im Werden. Verantwortliche Rede vom Sein Gottes bei Karl Barth. Eine Paraphrase, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 2 1967, 75: „Die Erwählung Jesu Christi impliziert eine göttliche Entscheidung über Gottes Sein, dessen explizite Konsequenz für uns als das ‚Leiden Gottes‘ thematisch wird.“). Dieser Spitzensatz macht unübersehbar klar, dass Barths „christologische Revision“ der reformierten Prädestinations- und Rechtfertigungslehre eine angemessene Deutung des ontologischen Grundverhältnisses dezidiert ausschließt. Zu dieser Aporie der Theologie der „Kirchlichen Dogmatik“ vgl. Konrad Stock, Anthropologie der Verheißung. Karl Barths Lehre vom Menschen als dogmatisches Problem, München: Kaiser, 1980 (BevTh; 86), bes. 49: „Die anthropologischen Aussagen bedürfen einer Voraussetzung im ontologischen Sinne, wenn sie als solche überhaupt zur Sprache kommen sollen.“ (Kursivierung im Original). Bedauerlicherweise hat der Barthianismus den Nachweis dieser Aporie bisher ignoriert. 10 Ich vermeide es aus verständlichen Gründen, den Ausdruck „Nichts“ zu verwenden.

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ist jene explizite Gottesgewissheit, die sich der Treue des göttlichen Wesens zu sich selbst verdankt. In dieser Treue waltet Gott als Schöpfer, als Versöhner und als Vollender. Wenn sich das All des Seienden und in ihm das leibhafte Person-Sein des Menschen jener ursprünglichen Entscheidung zwischen Nicht-Sein und Seiend-Sein verdankt, so ist und bleibt das ontologische Grundverhältnis zwischen Gottes Sein und dem All des Seienden unaufhebbar asymmetrisch. An diese Asymmetrie erinnert der Begriff der kategorialen Differenz. Weder können wir widerspruchsfrei behaupten, Gottes Sein lasse dem All des Seienden nun einfach freien Lauf; noch können wir widerspruchsfrei behaupten, das All des Seienden sei von Gottes Sein schlechthin determiniert. Die Lehre vom christlichen Glauben an Gott den Schöpfer hat die anspruchsvolle Aufgabe, einen Weg zu finden zwischen den gleicherweise irrealen Ideen eines Deus otiosus und eines alleinwirksamen Gottes. Sie löst diese anspruchsvolle Aufgabe, indem sie Gottes schöpferisches Walten nicht etwa nur im singulären Anfang des Geschehens der Welt und des Geschehens in der Welt, sondern auch auf allen Stufen und auf allen Ebenen des Werdens und Vergehens wirksam sieht. Sie wird mithin die wohlverstandene Passivität zu begreifen suchen, die dem Geschehen der Welt und dem Geschehen in der Welt zu eigen ist; und zwar nicht etwa nur dem menschlichen Streben und Wollen, sondern schon den Stufen und den Ebenen des atomaren, des chemischen, des biotischen und des animalischen Prozesses.11 Nun ist es der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) im lumen gratiae als wahr gewiss, dass Gottes schöpferisches Walten als solches nichts Vollendetes bzw. nichts Vollkommenes ermöglicht. Vielmehr ermöglicht es ursprüngliche Unvollkommenheit. Zwar ist die Erfahrung ursprünglicher Unvollkommenheit keine spezifische Erfahrung des Christus-Glaubens – teilt sie der Christus-Glaube doch mit allen, die das Reale nur im Licht des lumen naturae zu sehen vermögen; aber sie gewinnt im ChristusGlauben einen spezifischen Ernst und eine spezifische Schärfe, weil sie in dieser seiner Perspektive nicht nur Erfahrung des Leids der Endlichkeit, sondern auch Erfahrung des Bösen ist. Ermöglicht Gottes schöpferisches Walten als solches nichts 11 Von dieser wohlverstandenen Passivität des Geschehens der Welt und des Geschehens in der Welt spricht ebenso poetisch wie reflektiert Ps 104, der dies Geschehen je und je ermöglicht sieht von Gottes schöpferischem Sein-Lassen (vgl. bes. Ps 104,10.13.14.32). Von solchen und anderen vergleichbaren Texten der Bibel Israels ist inspiriert die Geschichte der christlich-theologischen Lehre von Gottes Vorsehung, die nicht nur in der Epoche der Scholastik, sondern auch in der Periode der lutherischen und der reformierten Orthodoxie des 16. und des 17. Jahrhunderts das ontologische Grundverhältnis zwischen dem schöpferischen Walten Gottes als der causa prima und dem geschaffenen und dauerhaft erhaltenen Geschehen der causae secundae bespricht. Luthers Lehre von der „Unfreiheit des menschlichen Wahlvermögens“ im Hinblick auf den Christus-Glauben der Person gehört in den umfassenden Zusammenhang der onto-theologischen Theorie.

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Vollendetes bzw. nichts Vollkommenes, so lässt es offensichtlich nicht nur überhaupt Endliches als Endliches sein; es lässt auch offensichtlich auf dem Niveau des Mensch-Seins jene düstere Möglichkeit sein, die sich im Existieren in der Alternative zwischen dem radikalen Grundvertrauen der expliziten Gottesgewissheit und dem radikalen Grundmisstrauen zeigt. Dem christlichen Glauben an Gott den Schöpfer stellt sich insofern mit besonderem Ernst und mit besonderer Schärfe das Problem der Theodizee: das Problem, wie es denn mit dem Wahr-Sein und dem Gut-Sein Gottes stehe, wenn Gottes schöpferisches Walten nicht etwa nur Leid (im Sinne des malum physicum), sondern auch Böses (im Sinne des malum morale) sein lässt. Vorliegende Dogmatik möchte diesem Problem ihre besondere Aufmerksamkeit zuwenden. In ihren beiden Kapiteln über den christlichen Glauben an Gott den Versöhner und über den christlichen Glauben an Gott den Vollender sucht sie darzulegen, dass das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens kraft des Wahrheitsgeistes die Hoffnung auf die endgültige Überwindung ursprünglicher Unvollkommenheit begründet (vgl. bes. 1Kor 15,53). Ja mehr: es provoziert in gleicher Weise das Engagement des helfenden, des diakonischen Heilens und des liebenden Verantwortens, das die entsetzlichen Erscheinungen des Leidens und der Bosheit zu begrenzen und zu bekämpfen willens ist. Insofern ist es konvenient, den biblischen Begriff der „Wahl der Gnade“ „vor Anbeginn der Welt“ und seine Synonyme als Integral des Gott-Verstehens aufzufassen, das Gottes schöpferisches, Gottes versöhnendes und Gottes vollendendes Walten zusammenschließt. Drittens: Ich hatte in der Entfaltung des christlichen Glaubens an Gott gezeigt, dass Gottes Sein in sachgemäßer Weise als Gottes Geist und deshalb als dreieines Person-Sein zu betrachten sei. Erlebt der Christus-Glaube – das christlich-fromme Selbstbewusstsein der Person – sich im Kontinuum des göttlichen Waltens, so erlebt er sich in solchen Szenen, in denen ihm Gottes Geist verstehbar gegenwärtig wird. Im Vorblick auf die folgenden Kapitel ist es nun angebracht, den immer schon gebrauchten Begriff des göttlichen Waltens genauer zu erklären.12 Ich verwende mit Bedacht das altertümliche deutsche Zeitwort walten in dieser seiner substantivierten Form als einheitliches Zeitwort, das die Struktur des

12 Vgl. zum Folgenden bes.: Wilfried Härle und Reiner Preul (Hg.), Vom Handeln Gottes (MJTh I), Marburg: N. G. Elwert Verlag, 1987 (MThSt; 22), mit Beiträgen von Reiner Preul, Wilfried Härle, Hermann Deuser, Christoph Schwöbel und Eilert Herms; Uwe Meixner/Markus Mühling-Schlapkohl/ Eilert Herms/Karl-Fritz Daiber: Art. Handeln I.–IV.: RGG4 3, 1419–1422; Gerd Schunack/Markus Mühling-Schlapkohl, Art. Handeln Gottes I.–III.: ebd. 1422–1426; Christoph Schwöbel, God: Action and Revelation, Kampen: Kok Pharos Publishing House, 1992.

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Schaffens, des Versöhnens und des Vollendens zusammenfasst.13 Der Grund für diese Wortwahl liegt wohl auf der Hand: sie macht es möglich, im ontologischen Grundverhältnis zwischen Gottes Sein und dem Sein des Seienden konsequent die kategoriale Differenz zu beachten, die zwischen dem ermöglichenden Tun des göttlichen Wesens und den verschiedenen Weisen des ermöglichten Real- und Wirksam-Seins im All des Seienden besteht. Mit Hilfe und im Lichte dieser kategorialen Differenz können wir plausibel machen, dass jenes ontologische Grundverhältnis präzise zu erfassen ist als das Verhältnis zwischen Gottes Sein als Geist und dem Prozess des Seienden im Werden und Vergehen, der alle Kräfte atomarer, chemischer, biotischer und animalischer Materie in sich schließt. In dem Prozess des Seienden im Werden und Vergehen erscheint nach einer ungeheuren Vorgeschichte der homo sapiens: ausgezeichnet durch jenes fromme Selbstbewusstsein, das ich als das „Uns-gegenwärtig-Sein“ bzw. als das „Sich-alsich-Fühlen“ gedeutet hatte. Es ist diejenige Bedingung, unter der es nunmehr möglich ist, im Medium der Sprache etwas als etwas zu erleben bzw. etwas als etwas zu benennen, zu begreifen und im weiten Sinn des Wortes zu behandeln. Es ist diejenige Bedingung, unter der „reale Freiheit“ und „praktische Freiheit“ in ihrer ganzen Reichweite wirklich werden.14 Indem wir uns auf die Bedingung der realen Freiheit und der praktischen Freiheit besinnen, stoßen wir auf jenes Grund-Thema, das der dogmatischen Suche nach größtmöglicher Bestimmtheit der christlich-religiösen Glaubenssätze vorgegeben ist. Die christlich-religiösen Glaubenssätze, in denen individueller Christus-Glaube seine kommunikative Form gewinnt, lassen sich offensichtlich gliedern nach jener dreifachen trinitarischen Struktur des göttlichen Waltens, in der sich Gottes Sein als Geist für uns darstellt. Im Vorblick auf die trinitarische Struktur des göttlichen Waltens, wie sie dem individuellen Christus-Glauben – oft genug „im finstern Tal“ (Ps 23,4) – sich erschließt, sei hier skizziert, dass diese Struktur die Struktur jener Bewegung ist, die in die Vollkommenheit und Seligkeit des ewigen Lebens jenseits des Todes und durch den Tod hindurch führt (s. 4.5.3). Sich selbst in jener Bewegung zu erleben und zu verstehen: dass ist das Inne-Sein des „Geheimnisses“ 13 Im Deutschen bedeutet „walten“ soviel wie „eine bestimmende oder herrschende Funktion erfüllen“, „die Hoheit über etwas innehaben“. Die gehobene Umgangssprache kennt die Wendungen „Milde walten lassen“, „Vorsicht walten lassen“, „Sorgfalt walten lassen“, „Gnade walten lassen“ sowie „eines Amtes walten“. Der positive Sinn der Wurzel „walt“ ist noch präsent in der Bestimmung des Artikels 20 Satz 2 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ sowie im Grundsatz der „Gewaltenteilung“. Für die christlich-religiöse Sprache ist maßgeblich geworden die Gebetsbitte in Martin Luthers „Morgensegen“ und „Abendsegen“: „Das walte Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist“, von der ich mich habe anregen lassen. 14 Vgl. hierzu Hermann Krings, Reale Freiheit. Praktische Freiheit. Transzendentale Freiheit, in: Ders., System und Freiheit. Ges. Aufsätze (Reihe: Praktische Philosophie, Bd. 12), Freiburg i. Br./München: Alber, 1980, 40–68.

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des menschlichen Daseins, von dem der pseudonyme Autor des Briefes an die Gemeinde zu Ephesus spricht (Eph 1,9). Zum einen: Im lumen gratiae – in der Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums, wie sie sich bildet, wächst und reift in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes (2Kor 13,13) – wird Sinn und Ziel des schöpferischen Waltens Gottes offenbar. Zwar ist der Christus-Glaube an und für sich das radikale Grundvertrauen auf Gottes versöhnendes Walten, das unser Leben in der Einheit der Lebens- und Erfahrungswelt heilsam neu bestimmt (2Kor 5,17-20); aber er bestimmt das Leben deshalb und nur deshalb, weil er das Wesen der selbstbewusst-freien Seinsart des Menschen je in meiner Lebensgeschichte verstehen, ehren, anerkennen lässt. Und zwar als jene Seinsart, die im Zusammenhang des All des Seienden dem schöpferischen Geben und Gewähren des göttlichen Wesens sich verdankt. Indem dem Christus-Glauben Sinn und Ziel des schöpferischen Waltens Gottes endgültig offenbar ist, ist ihm die Bestimmtheit und damit die Bestimmung der selbstbewusst-freien Seinsart des Menschen endgültig offenbar. Freilich ereignet sich dies Offenbar-Werden nicht unvermittelt. Seit seinem innergeschichtlichen Ursprung in den Ereignissen des Dritten Tages ist es vermittelt durch die Art und Weise, in der die primären Offenbarungszeugen es im Medium ihrer Sprache, im Medium ihrer Lebensgeschichte, im Medium ihrer jüdischen bzw. ihrer hellenistischen Religionskultur symbolisieren. Ihre Kerygmata wiederum sind eingebunden in die gottesdienstliche Feier mit ihrem Zentrum in der Mahlgemeinschaft der Gemeinde mit dem Christus Jesus selbst; und mit den ersten Anfängen des christlichen Kultus beginnt die unermesslich reiche Geschichte der Liturgie und der Verkündigung, der theologischen Reflexion und des Bekenntnisses, des Kirchenbaus sowie der christlich-religiösen Kunst. Wenn Gottes Heiligender Geist den Sinn und das Ziel des schöpferischen Waltens endgültig offenbart, nimmt er die Fülle der sprachlichen und übersprachlichen Zeichen in Gebrauch, in denen wir – wir Menschen – die Sache des Evangeliums darzustellen suchen. Ereignet sich das Offenbar-Werden nicht unvermittelt, so doch in unaufhebbar asymmetrischer Gestalt.15 Zum andern: Im lumen gratiae – in der Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums, wie sie sich bildet, wächst und reift in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes

15 In kirchen- und in theologiegeschichtlicher Hinsicht wird man sagen dürfen, dass diese asymmetrische Gestalt des Verhältnisses zwischen dem menschlichen Offenbarungszeugnis in seiner ganzen Reichweite und dem Geist der Wahrheit selbst erst in der reformatorischen Bewegung hinreichend klar und deutlich erkannt wurde. Ob sie in den Diskursen der gegenwärtigen deutschsprachigen Systematischen Theologie noch allgemein präsent ist: das ist natürlich eine ganz andere Frage. Sie scheint zum Beispiel keine Rolle zu spielen im umfangreichen Werk von Ingolf U. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen: Mohr Siebeck, 2003, insbesondere in Teil III. Philosophische Hermeneutik von ‚Gott‘ (431–548).

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(2Kor 13,13) – wird endgültig offenbar, dass schon Gottes schöpferisches Walten sich ereignet im asymmetrischen Verhältnis zwischen Gottes Geist und dem Geschehen der Welt bzw. dem Geschehen in der Welt. Indem der Christus-Glaube der Person die jeweils eigene Lebensgeschichte im Licht des lumen gratiae verstehen und gestalten darf, wird ihm von Tag zu Tag bewusst, wie schon das All des Seienden in diesem ungeheuren Universum von Gottes Geist her existiert; und zwar in den verschiedenen Erscheinungen der naturgesetzlichen Regeln, des „Selbststands“ und der „Selbstorganisation“ bzw. der „Selbstheilung“ des Natürlichen. Das folgende Kapitel wird diesen Sachverhalt ausführlich besprechen. Schon in der vorwissenschaftlichen Erfahrung des Alltäglichen und Allnächtlichen sind wir damit vertraut, dass unsere je eigene Lebensgeschichte im Licht des lumen gratiae bezogen ist und angewiesen ist auf das umfassende Geschehen der Natur der Erde: auf ihre Atmosphäre und auf ihre Schwerkraft, auf ihre Fruchtbarkeit und auf ihr Klima. In der Geschlechtsgemeinschaft unserer Mutter und unseres Vaters – in der Verschmelzung der Gameten – bildet sich der je eigene Leib eines selbstbewusst-freien Wesens, das eingebettet ins umfassende Geschehen der Natur der Erde zum Werden und zum Wachstum im Geschichtlichen, im Kulturellen, im Sozialen geboren wird. Im Licht des lumen gratiae dürfen wir Gottes schöpferisches Walten und dessen Sinn und Ziel aus gutem Grund mit Friedrich Schleiermacher als vermittelt denken durch den „Naturzusammenhang“ (CG2 § 46 L [I, 224 = KGA I.13,1, 264]). Die Wissenschaften von der Natur suchen diesen „Naturzusammenhang“ auf eine atemberaubend intensive Weise zu erforschen und ihre Forschung in den Kontext einer relativ geschlossenen Kosmologie zu integrieren (vgl. STh I, 264–277). In diesem Kontext formulieren sie Gesetzeshypothesen, mit deren Hilfe sie die tatsächlichen Regeln des atomaren, des chemischen, des biotischen, des animalischen Geschehens zu beschreiben streben; und sie erkunden jene unvorhersehbaren und unableitbaren Sprünge, die miteinander jenes Prozedieren ausmachen, für das wir den Begriff der Evolution verwenden. Sofern man hierin einen mehr oder weniger allgemeinen Konsens vermuten darf, ist uns das Physische im weitesten Sinne des Begriffs16 vorgegeben als der irreversible – räumlich und zeitlich gerichtete – Prozess, der sowohl Regularitäten als auch Instabilitäten kennt. Zu solchen Instabilitäten zählen auch Ereignisse des Chaotischen, des Wahrscheinlichen, des Zufälligen und des Schicksalhaften. Wenn wir im Licht des lumen gratiae die Genese des Endlichen – und darin eingeschlossen die Genese unserer selbst – als „Werk“ (Röm 1,20) des schöpferischen

16 Im weitesten Sinne des Begriffs schließt das Physische mithin die Naturseite, d. h. den hominiden Organismus der selbstbewusst-freien Weise des Mensch-Seins ein, der sich der Geschlechtsgemeinschaft eines Mannes und einer Frau verdankt.

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Waltens Gottes verstehen, so führen wir weder einen Beweis im strikten Sinne des Begriffs noch begnügen wir uns mit einer bloßen subjektiven „Ansichtssache“ im Sinne eines Fideismus. Wir nehmen vielmehr die Erkenntnis der Erfahrung ernst, dass die Genese des Endlichen auf ihren verschiedenen Ebenen und Stufen einer jeweiligen Bestimmtheit unterliegt, auf deren Grund und unter deren Bedingungen sie sich vollzieht. Wir denken diese ihre jeweilige Bestimmtheit sachgemäß als diejenige reguläre Form, nach welcher die Prozesse des atomaren, des chemischen, des biotischen und des animalischen Geschehens entstehen und in dauerhafte Gestalten übergehen. Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir die jeweilige Bestimmtheit der regulären Form des Seiend-Seins des Seienden als intelligibel und d. h. als geistgewirkt verstehen. Indem wir darauf achten, dass das Geschehen der Welt und das Geschehen in der Welt, so wie es uns in unserer jeweiligen Gegenwart erscheint, den intelligiblen regulären Formen ihrer jeweiligen Bestimmtheit folgt, wird uns die tiefgreifende Korrektur bewusst, die das Verständnis der Genese des Endlichen als „Werk“ des schöpferischen Waltens Gottes (Röm 1,20) betrifft. Seit Tatian (ca. 120–ca. 180) und seit Origenes hat man den Glaubenssatz des Apostels Paulus gerne mit Hilfe der Ideenlehre Platons expliziert, die die Ideen als die Urbilder des Seienden im Geist des Einen zu erkennen meint.17 Zwar macht es diese Deutung möglich, das Wesentliche des unbegrenzt-endlich Vielen des Universums als intelligibel aufzufassen; aber sie ist durch die Entdeckung und durch die Begründung der Gesetzeshypothesen im Reich des Physischen überholt. Mir scheint, das asymmetrische Verhältnis zwischen Gottes schöpferischem Walten und dem Geschehen der Welt bzw. dem Geschehen in der Welt werde richtig beschrieben, wenn wir es als Verhältnis zwischen der ungeheuren Fülle der Regularitäten und den jeweils eigenen Entwicklungen im Reich des Physischen sehen: bis hin zur Entstehung der Gattung homo sapiens. Zum Dritten: Im lumen gratiae – in der Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums, wie sie sich bildet, wächst und reift in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes (2Kor 13,13) – wird schließlich und endlich auch die Hoffnung auf das lumen gloriae geweckt: auf jenes Gott-Verstehen, das sich zuversichtlich auf das Höchste Gut der ewigen Gemeinschaft mit Gott selbst und damit auf das Schauen Gottes ausspannt (vgl. Mt 5,8; Röm 8,24f.; 2Kor 5,7). Auch die verschiedenen Bilder und Begriffe, mit deren Hilfe wir das absolut Zukünftige jenseits des Todes und durch den Tod hindurch symbolisieren, beziehen sich ganz ohne Zweifel auf einen Typus des göttlichen Waltens: eben auf das vollendende Walten. Im Vorgriff auf die Darstellung

17 Vgl. hierzu die Nachweise bei Wolfhart Pannenberg, STh II, 39ff. Nach Pannenberg bewegt sich noch die Theorie von Gottfried Wilhelm Leibniz auf dieser Spur, wenn er die veritates aeternae als die Ideen im Intellekt Gottes deutet, die den Willensbeschlüssen Gottes logisch vorausgehen.

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des christlichen Glaubens an Gott den Vollender sei noch angedeutet, inwiefern wir auch Gottes vollendendes Walten als asymmetrisches Verhältnis zwischen Gottes Sein und dem Seiend-Sein des All des Seienden – und darin eingeschlossen dem Seiend-Sein des Menschenwesens – betrachten dürfen. Wenn sich die Hoffnung des Christus-Glaubens letzten Endes ausspannt auf das Schauen des göttlichen Wesens „alles in allem“ (1Kor 15,28), so tut sie das mit hoher Sensibilität. Wir sind in unserer je individuellen Lebensgeschichte nicht nur mit Widerfahrnissen des eigenen Leidens und des eigenen Schuldig-Werdens konfrontiert; in der geschichtlichen Erinnerung sind uns auch die langfristigen Verstrickungen einer Nation, eines Staates, einer Gesellschaft, einer Kirchengemeinschaft in die „Prozessmuster der Gewalt“ (Ernst-Otto Czempiel) präsent, welche im wahrsten Sinn des Wortes zum Himmel schreien (vgl. Gen 4,10). Wie wohl den meisten religiösen Traditionen ist auch dem Christus-Glauben – im Sinnraum und im Verstehenshorizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft – der Eigen-Sinn des göttlichen Wesens in den Erfahrungen des Negativen tief verborgen. Insofern kommt die systematische Besinnung auf die Hoffnung des Christus-Glaubens nicht darum herum, mit aller Demut jener Frage nachzugehen, die im Begriff der Theodizee uns quält: nicht zuletzt dann und gerade dann, wenn die Kulturen der Moderne den „Theodizeesinn“ (Carl-Friedrich Geyer) vertrocknen lassen. Was können wir meinen, wenn wir mit dem Jesus der Passionserzählung nach dem Evangelium nach Lukas sprechen: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ (Lk 23,46)? Ganz ohne Zweifel ist die Hoffnung des Christus-Glaubens im Hier und Jetzt auf das uns unvorstellbare Überdauern jenseits des Todes und vermutlich jenseits des definitiven Endes des All des Seienden in einem Wärmetod gerichtet. Denkmöglich scheint mir jenes Überdauern deshalb und nur deshalb zu sein, weil und sofern es das alleinige „Werk“ des göttlichen Wesens ist, dessen Sein als Geist bzw. als dreieines Person-Sein an und für sich das Seiend-Sein des Seienden überhaupt und insbesondere das Seiend-Sein der leibhaften Person überdauert. Kraft dieses göttlichen Überdauerns ist es möglich, das Nicht-mehr-Sein des Seienden und insbesondere das Nicht-mehr-Sein der leibhaften Person aufzuheben. Wirklich und wirksam aber wird das göttliche Überdauern, weil und sofern dem ChristusGlauben die „Wahl der Gnade“ „vor Anbeginn der Welt“ als Eigen-Sinn des göttlichen Wesens bewusst ist: als jener Eigen-Sinn, dem schon in dieser Weltzeit das radikale Grundvertrauen der expliziten Gottesgewissheit des Christus-Glaubens gilt. Indem die biblischen Bilder und die Begriffe der Glaubenssätze, mit deren Hilfe wir das absolut Zukünftige symbolisieren, Gottes vollendendes Walten erhoffen lassen, zeigen sie uns das Kontinuum, in welchem Gottes vollendendes Walten Gottes schöpferisches Walten und Gottes versöhnendes Walten zusammenfasst. Im Licht der Hoffnung des Christus-Glaubens dürfen wir Gottes vollendendes

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Walten zuallererst verstehen als die Vollendung des göttlichen Waltens in Gottes schöpferischer und in Gottes versöhnender Dimension. Nun hatte ich dargelegt, dass Gottes Walten, wie es im lumen gratiae erfahrbar wird, sich stets im asymmetrischen Verhältnis zwischen göttlichem Walten und dem Geschehen bzw. dem Handeln des Geschaffenen bewegt. Es ist insofern konvenient zu sagen, dass Gottes vollendendes Walten eben all das vollendet, was schon in dieser Weltzeit das Woraufhin und Worumwillen des Geschehens und insbesondere des selbstbewusst-freien Lebens der leibhaften Person gewesen ist. Im letzten Teile des Kapitels über den christlichen Glauben an Gott den Vollender werde ich zu zeigen haben, dass und in welcher Weise das lumen gloriae, das Schauen des göttlichen Wesens „von Angesicht zu Angesicht“ (1Kor 13,12), just das Gewesene der individuellen Lebensgeschichte in ewige Gegenwart erhebt und so bewahrt und rettet (s. 4.5.4). Dies Schauen des göttlichen Wesens „von Angesicht zu Angesicht“ ist insbesondere zu denken als die ewige Kommunikation des Evangeliums, in der es zwischen „Opfern“ und „Tätern“ durch Gottes Heiligenden Geist zu jener ernst zu nehmenden Verzeihung kommen kann, die das erinnerte, das unvergessene Geschehen ungeschehen macht (s. u. S. 4.5.4.2).

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Kapitel 2: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1) Der christliche Glaube an Gott den Schöpfer Leitsatz: Der Christus-Glaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen ist Glaube an Gott den Schöpfer. Wird ihm durch Gottes Heiligenden Geist die Frohbotschaft des Evangeliums als wahr gewiss, so wird ihm Sinn und Ziel der eigenen Existenz im ungeheuren All des Seienden erschlossen. Er sieht sie im Kontinuum des Weltgeschehens von Gottes absoluter Wesenheit gewährt, getragen und erhalten; und er entdeckt die schöpferischen Eigenschaften Gottes, die sie als Existenz des Bildes Gottes prägen. Ihm wird die ursprüngliche Bestimmung klar, deren Verfehlung in aller Geschichte der Versöhnung zutiefst bedürftig ist, wie alle aufrichtige Erfahrung des Gewissens zeigt. Es ist die wohlverstandene Funktion des göttlichen Gebots, diese Erfahrung des Gewissens zu erwecken.

2.1

Einführung1

Ich hatte in der Zwischenbetrachtung zeigen wollen, dass der Begriff der Gnadenwahl aus gutem Grund das Integral bezeichnet, das Gottes schöpferisches, Gottes

1 Im folgenden Kapitel 2 nehme ich Bezug auf die Gliederung in: Konrad Stock, Einleitung, 93–144: Der christliche Glaube an Gott den Schöpfer. – Vgl. zum Folgenden bes.: Karl Barth, KD III/1–III/4; Emil Brunner, Die christliche Lehre von Schöpfung und Erlösung. Dogmatik Band II, Zürich/Stuttgart: Zwingli-Verlag, 1960, 13–99; MySal II, bes. 403–843 (unter dem Zwischentitel: Der Anfang der Heilsgeschichte); Paul Tillich, STh I, 290–311; Gerhard Ebeling, Dogmatik I, 77–414: Erster Teil: Der Glaube an Gott den Schöpfer der Welt; Wolfhart Pannenberg, STh II, 7. Kapitel: Die Schöpfung der Welt (15–201); 8. Kapitel: Würde und Elend des Menschen (203–511); Jürgen Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München: Kaiser, 1985; Oswald Bayer, Schöpfung als Anrede. Zu einer Hermeneutik der Schöpfung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2 1990; Ders., Art. Schöpfer/ Schöpfung VIII. Systematisch-Theologisch: TRE 30, 326–348; Wilfried Härle, Dogmatik5 , 419–449; Gunther Wenz, Schöpfung. Protologische Fallstudien, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013 (Studium systematische Theologie; Bd. 7); Eilert Herms, STh (Bd. 1), 667–777: Die geschaffene Weltdes-Menschen. Die Gewährung des lumen naturae als Verheißung des lumen gratiae; Alexandre Ganoczy, Schöpfungslehre, in: Wolfgang Beinert (Hg.), Glaubenszugänge. Lehrbuch der Katholischen Dogmatik, Bd. 1, Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh, 1995, 363–495. – Besonders möchte ich hinweisen auf Alex Stock, Poetische Dogmatik. Schöpfungslehre: 1. Himmel und Erde, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2010; 2. Menschen, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2013. – Zur Theologiegeschichte der Schöpfungslehre vgl. Gerhard May/Leo Scheffczyk/Johannes von Lüpke. Art. Schöpfer/Schöpfung V.–VII.: TRE 30, 296–326.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

versöhnendes und Gottes vollendendes Walten zusammenschließt. Im Sinnraum und Verstehenshorizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft legt sich dem ChristusGlauben dieser Begriff nahe, weil er die „Urentscheidung“ (Eilert Herms) verstehbar macht, in der sich Gottes dreieines Person-Sein zum ontologischen Verhältnis zwischen Sein und Seiendem bestimmt. Indem dies ontologische Verhältnis dauert, erweist sich Gottes dreieines Person-Sein als Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen, als Gottes Sein für uns. Unter dem Titel „Der christliche Glaube an Gott den Schöpfer“ wende ich mich nun dem ersten Moment des göttlichen In-Gemeinschaft-sein-Wollens bzw. des göttlichen Seins für uns zu, dessen Wahrheit uns im Lebenszusammenhang der Christus-Gemeinschaft immer wieder neu gewiss wird. Im Rahmen dieser „Einführung“ sei gefragt, wie denn dem christlich-frommen Selbstbewusstsein dies erste Moment des göttlichen Seins für uns gegeben ist und wie infolgedessen „der höchst mögliche Grad der Bestimmtheit“ hinsichtlich der Glaubenssätze zu gewinnen ist, in denen wir das Geschaffen-Werden und Geschaffen-Sein des Seienden zur Sprache bringen.2 Diese Frage ergibt sich aus der prinzipiellen Überzeugung, dass nicht die Glaubenssätze schon als solche, sondern das in ihrem Licht bewusste bzw. wahrgenommene gegenwärtige Walten des göttlichen Wesens der Gegenstand und das „Woran“ des Christus-Glaubens sind. Ich bin mir dessen wohl bewusst, dass die christliche Wahrnehmung des gegenwärtigen schöpferischen Waltens des göttlichen Wesens alles andere als selbstverständlich ist. Bereits im religionsgeschichtlichen Vergleich mit den mythischen Erzählungen früher Kulturen bzw. mit den Deutungen des Realen im Hinduismus und im Buddhismus zeigt sich ihre unverwechselbare Eigenart. Sie tritt erst recht zu Tage, wenn wir uns auf die Theorien über die Entstehung und die Entwicklung des Universums und über die Evolution des Lebens auf dieser Erde beziehen, die für gewichtige Forscher – wie z. B. für Stephen Hawkings – die Überzeugung festigen, das Reale als Reales existiere selbstgenügsam im Prozess der Autopoiesis.3 Welches Lebensgefühl und welche Haltung des Herzens, der Gesinnung und des Gewissens eine solche Überzeugung breitenwirksam mit sich bringen mag, sei an dieser Stelle nur als Frage aufgeworfen. Aus diesem Grunde ist es schlechthin elementar, wie in der Dogmatik überall so auch in dieser Lehre vom christlichen Glauben an Gott den Schöpfer mit

2 Vgl. Friedrich Schleiermacher, CG2 § 16 L: „Dogmatische Sätze sind Glaubenssätze von der darstellend belehrenden Art, bei welchen der höchst mögliche Grad der Bestimmtheit bezweckt wird.“ (I, 107 = KGA I.13,1, 130). 3 Vgl. hierzu Markus Mühling-Schlapkohl/Ted Peters, Art. Schöpfung IX. Naturwissenschaftlich: RGG4 7, 983–987; Antje Jackelén, Zeit und Ewigkeit. Die Frage der Zeit in Kirche, Naturwissenschaft und Theologie, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2002.

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Einführung

der Besinnung auf unsere je eigene Gegenwart anzufangen: d. h. auf unser „Unsgegenwärtig-Sein“ (s. 2.4.2.1). Wer sich auf die je eigene Gegenwart redlich und unvoreingenommen besinnt, wird aus dem Staunen und aus der Verwunderung nicht herauskommen. Wir finden uns in ihr als das je individuelle selbstbewusst-freie, leibhafte Wesen zusammen mit je anderen individuellen selbstbewusst-freien, leibhaften Wesen vor; und zwar in einer Welt, die zuverlässig und nicht etwa willkürlich oder chaotisch geregelt ist und in der das eigene Handeln Zwecke setzt und unabsehbare Folgen zeitigt. Wir sind uns unseres eigenen Daseins als eines unwiderruflich uns gegebenen Faktums bewusst; und wir sind gefragt, ob wir und in welcher Weise wir diesem Faktum, dessen wir im Staunen und in der Verwunderung gewahr sind, gerecht oder aber nicht gerecht zu werden vermögen. Ich verstehe die folgende Lehre vom christlichen Glauben an Gott den Schöpfer als eine begrifflich-kategoriale Entfaltung dessen, was schlichte Frömmigkeit in Lob und Dank, doch auch in der Bitte um Rettung und Bewahrung vor dem Argen zur Sprache bringt. Das deutsche Wortfeld „schaffen“ / „Schöpfer“ / „Schöpfung“ / „Geschöpf “ / „Geschaffen“ überträgt das hebräische Wort ‫( ברא‬Gen 1,1) bzw. das griechische Wortfeld κτίζειν / κτίσις / κτίστης. Es ruft die Texte des biblischen Offenbarungszeugnisses in Erinnerung, die der geschlossene Kanon der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments als Basis des äußeren Wortes für uns festhält (vgl. STh I, 604–612). Unter ihnen haben vor allem die zweifache Schöpfungserzählung innerhalb der sog. Urgeschichte (Gen 1,1–2,4a; 2,4b-25) sowie die Schöpfungspsalmen bis in die christliche Kunstgeschichte eine überwältigende Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte entfaltet: dienen sie doch zumal in der Verkündigung des Apostels Paulus und in der Theologie des Evangeliums nach Johannes der heilsamen Erkenntnis jenes Wortes, das im Christus Jesus „Fleisch“ geworden ist, um unter uns zu „wohnen“ (Joh 1,14). Allerdings hat die nichtpriesterliche Schöpfungserzählung (Gen 2,4b-25) zumal in ihrer Kombination mit der Erzählung eines uranfänglichen Falles (Gen 3,1-24) eine ebenso naive wie reflektierte Anschaulichkeit mit sich gebracht, die eine systematische Besinnung unter den Bedingungen einer wissenschaftlichen Kosmologie bzw. einer wissenschaftlichen Anthropologie schwierig macht. Sie bietet in der Form der mythischen Erzählung eine Ätiologie des Mensch-Seins: eine Ätiologie, die nicht nur den ursprünglichen Frieden schamloser wechselseitiger Anziehungskraft des männlichen und des weiblichen Geschlechts aufeinander im „Garten Eden“ (Gen 2,8ff.) imaginiert, sondern auch den wahren Grund des mühevollen, schmerzensreichen und konfliktbeladenen Menschenloses – den „Fall“ – zu kennen meint:

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

„Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist.“ (Gen 3,22).4 Die systematische Besinnung auf den Wahrheitsgehalt des christlichen Glaubens an Gott den Schöpfer befindet sich mithin vor einer doppelten Aufgabe, die sie wegen der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche hier und heute lösen muss: Zum einen hat sie darzulegen, dass sich die Rede von Gottes schöpferischem Walten im Kontext des geschlossenen Kanons der Heiligen Schrift auf das Walten des transzendenten Grundes alles für uns verstehbaren Realen bezieht; sie hat in diesem Zusammenhang zu zeigen, dass die Rede von Gottes schöpferischem Walten nicht etwa irgendeine Art von Weltbild meint, sondern vielmehr eine Anschauung des Lebens und der Wirklichkeit – und d. h.: des menschlichen In-der-Welt-Seins überhaupt – bezeichnet.5 Sie spricht daher von Gottes Macht, von Gottes Geist, von Gottes Raum und von Gottes Zeit als von dem einzigen Ursprung des Alls des Seienden; und sie skizziert auf diese Weise nichts Geringeres als eine genuine metaphysische Lehre hinsichtlich des Im-Werden-Seins des Seienden, die sich von anderen Wegen metaphysischer Lehre wie dem Weg Platons, Aristoteles’ oder Alfred North Whiteheads erheblich unterscheidet. Zum andern aber hat die systematische Besinnung darzutun, dass das leibhafte Person-Sein des Menschen aus gutem Grunde und mit vollem Recht als das gottebenbildliche Dasein zu verstehen ist (vgl. Gen 1,26f.). Es ist als solches nicht allein dem Leid der Endlichkeit, sondern auch jener Fehlbarkeit überantwortet, um derentwillen wir Gottes schöpferisches Walten nur als das erste Moment des göttlichen In-Gemeinschaft-sein-Wollens bzw. des göttlichen Seins für uns verstehen. 4 Vgl. hierzu insbesondere: Markus Witte, Die biblische Urgeschichte. Redaktions- und theologiegeschichtliche Beobachtungen zu Genesis 1,1–11,26, Berlin/New York: de Gruyter, 1998 (BZAW; 265). – Siehe dazu 3.3. 5 Zum Unterschied zwischen einem – sei es geozentrischen, sei es heliozentrischen, sei es relativistischen – „Weltbild“ (bzw. einem Bild des Universums) und einer „Anschauung“ der Welt im Sinne des menschlichen In-der-Welt-Seins vgl. Michael Moxter, Art. Welt/Weltanschauung/Weltbild III/1. Weltanschauung: Dogmatisch und Philosophisch: TRE 35, 544–555. Allerdings hat die systematische Besinnung auf die Wahrheit des christlichen Glaubens an Gott den Schöpfer Rücksicht zu nehmen auf die Grundsätze der Kosmologie bzw. auf die Diskussion der Philosophischen Anthropologie, zumal das Bekenntnis zu Gottes schöpferischem Walten theoretische Sätze über die Einheit des erlebten und des gemessenen Raum-Zeit-Kontinuums zu formulieren hat (s. 2.3.4). – Dagegen muss die systematische Besinnung auf die Wahrheit des christlichen Glaubens an Gott den Schöpfer sich entschieden distanzieren vom fehlgeleiteten Glauben an den buchstäblichen Wortsinn der Schöpfungserzählungen, der Gott sei‘s geklagt große Teile der gegenwärtigen weltweiten Christenheit bestimmt. Diesem misslichen Faktum gegenüber mache ich die fundamentaltheologische Bedeutung der historisch-kritischen Methodenlehre und ihrer hermeneutischen Verantwortung geltend (vgl. STh I, 651–654).

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Glauben

Um dieser doppelten Aufgabe der systematischen Besinnung willen scheint es mir unumgänglich zu sein, in der gebotenen Kürze an die prinzipientheoretische Betrachtung zu erinnern. Es ist ihr Ziel, die Eigenart der religiösen Rede, in der der Christus-Glaube bzw. das christlich-fromme Selbstbewusstsein sich artikuliert, in ihrem Unterschied zu anderen Bewusstseinsformen zu bestimmen; und zugleich zu zeigen, inwiefern der Christus-Glaube bzw. das christlich-fromme Selbstbewusstsein die anderen Bewusstseinsformen begleitet; und nicht allein begleitet, sondern auch bestimmt und orientiert.6 Dann und nur dann, wenn wir die Eigenart der religiösen Rede von Gottes Schöpfer-Sein im Sinne der erwähnten doppelten Aufgabenstellung erklären, werden wir auch die narrativen, die hymnischen und die poetischen Zeugnisse der Bibel angemessen interpretieren können: nämlich als solche Zeugnisse, die sowohl das dauernde schlechthin schöpferische Geben und Gewähren des leibhaften Person-Seins in der Welt als auch die Grundsituation des menschlichen Verantwortlich-Seins symbolisieren, und zwar in nicht-metaphorischer Intention. Nach alledem wird die systematische Besinnung auf die Wahrheit des christlichen Glaubens an Gott den Schöpfer am besten so verfahren, dass sie in einem ersten Schritt nach der Quelle dieses Glaubens sieht und in diesem Zusammenhang das Verhältnis zwischen Glauben, Wissen und Wollen zu klären unternimmt (2.2). In einem zweiten Schritt wird sie von Gottes schöpferischen Eigenschaften der Allmacht, der Allwissenheit, der Allgegenwart und der Ewigkeit handeln, kraft derer Gottes unendliches Sein als Geist dem All des Seienden ruft, „dass es sei“ (Röm 4,17) (2.3). In einem dritten Schritt wird sie die Antwort auf die Frage suchen, wie denn im All des Seienden das geschaffene, das leibhafte Person-Sein des Menschen genauer zu verstehen sei, das in besondere Weise dem Leid der Endlichkeit und der Entfremdung ausgeliefert ist (2.4).

2.2

Glauben

Der Christus-Glaube – das christlich-fromme Selbstbewusstsein der Person – ist eine inhaltlich bestimme Glaubensweise und damit eine Form der Lebensführung,

6 Mit diesem Satze spiele ich auf die inkonsistente Art und Weise an, mit der Schleiermacher die Funktion des frommen Selbstbewusstseins im Verhältnis zu den Bewusstseinsformen des „Wissens“ und des „Tuns“ bestimmt (Friedrich Schleiermacher, CG2 § 3,2 [I, 16 = KGA I.13,1, 21f.]). – Hier setzt denn auch die fundamentalethische Pointe der Besinnung auf den christlichen Glauben an Gott den Schöpfer an (s. 2.4.2.2.3). Sie hat Gewicht für die Begründung und für die Entfaltung der Theologischen Ethik insgesamt und deshalb auch Gewicht für die Subdisziplinen der Praktischen Theologie, insbesondere für die Didaktik des Unterrichts in den Gemeinden und in den Schulen.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

die sich durch Gottes Heiligenden Geist der Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums verdankt. Nach Schleiermachers richtiger Erkenntnis ist in ihr „immer schon vorausgesetzt und ist also auch darin mit enthalten“ (CG2 § 32 L [I, 171 = KGA I.13,1, 201] das Gottesbewusstsein als das im unmittelbaren Selbstbewusstsein gesetzte „Verhältnis zwischen dem endlichen Sein der Welt und dem unendlichen Sein Gottes“ (CG2 § 35 L [I, 183 = KGA I.13,1, 216]). Darunter ist die Anschauung des menschlichen In-der-Welt-Seins zu verstehen, die des je eigenen Lebens auf dieser Erde in diesem ungeheuren Universum als eines gewordenen und werdenden gewahr wird. Würde die Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche dieses „Verhältnis zwischen dem endlichen Sein der Welt und dem unendlichen Sein Gottes“ vernachlässigen oder gar verschweigen, so hinge ihre Botschaft von der Versöhnung bzw. von der Rechtfertigung des Menschen im Christus Jesus durch den Geist der Wahrheit in der Luft. Dann nämlich und nur dann, wenn uns die Frage nach dem zureichenden Grund des menschlichen In-der-Welt-Seins und damit nach dem zureichenden Grunde des Realen wirklich interessiert, nehmen wir auch die faktischen Phänomene der Entfremdung und die biblisch bezeugte Weise ihrer Überwindung kraft des versöhnenden und des vollendenden Waltens Gottes ernst. Um diese Voraussetzung des Christus-Glaubens zu verstehen und verständlich zu machen, ging ich in meiner Darstellung der Prinzipienlehre davon aus, dass wir die religiöse Sprache der Kommunikation des Evangeliums als einen besonderen und singulären Fall des frommen Selbstbewusstseins der Person bezeichnen dürfen (vgl. STh I, 151–171). Grundsätzlich an Schleiermachers verschiedenen Untersuchungen des Phänomens des Fromm-Seins orientiert, suche ich im Folgenden zu zeigen, dass das Bewusstsein des Verhältnisses zwischen dem „endlichen Sein der Welt und dem unendlichen Sein Gottes“ als eine besondere und singuläre Bestimmtheit des „Gefühls“ bzw. des „unmittelbaren Selbstbewusstseins“ aufzufassen ist; und zwar als eine solche Bestimmtheit, die die genauere begrifflich-kategoriale und d. h. die ontologische Explikation dieses Verhältnisses ermöglicht und verlangt. Insofern gehe ich erheblich über Schleiermachers Theorie des Fromm-Seins und damit über dessen Explikation des Schöpfer-Glaubens hinaus.

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Glauben

2.2.1

Glaube als Fromm-Sein7

Es ist nach Friedrich Schleiermacher der Schlüssel einer jeden sachgemäßen systematischen Konzeption, die Glaubenssätze, in denen sich die Gemütserregungen des Lebens in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aussprechen und mitteilen, im Lichte einer Theorie des Fromm-Seins zu interpretieren. Dieser methodische Grundgedanke hat das Ziel, die eigentümliche Funktion der Religion bzw. der Weltanschauung oder der Sicht des Sinnes von Sein für alles sprachliche Kommunizieren, praktische Interagieren und ästhetische Darstellen in der Kultur einer Gesellschaft angemessen zu bestimmen. Er ordnet das Besondere des Christus-Glaubens ein in den Versuch, das Allgemeine der Religion bzw. der Weltanschauung oder der Sicht des Sinnes von Sein in Geschichte und Gegenwart begreiflich zu machen und dessen tatsächliche lebenspraktische Bedeutung zu erschließen. Um dieses Zieles willen rekurriert Schleiermacher – wie alles seriöse Denken, das sich der Selbstkritik der endlichen Vernunft im Sinn Immanuel Kants aussetzt und sich mit dieser meta-kritisch auseinandersetzt – auf das unzweifelhaft gewisse Phänomen des menschlichen Person-Seins als eines Sich-gegenwärtig-Seins. Er rekurriert auf dieses Phänomen mit Hilfe und im Lichte einer Theorie des Selbstbewusstseins, die allerdings im Kontext des Philosophierens seiner Zeit ein unübersehbares Eigengepräge erkennen lässt. Sie hat zu zeigen, dass das menschliche Person-Sein als ein Sich-gegenwärtig-Sein nur mittels einer fundamentalen Unterscheidung zwischen vermitteltem bzw. reflektiertem Selbstbewusstsein und unmittelbarem bzw. vorreflexivem Selbstbewusstsein klar und deutlich zu erfassen ist. Lassen wir uns in der gebotenen Kürze auf diese fundamentale Unterscheidung ein (vgl. STh I, 151–171)! Unter dem Begriff des vermittelten bzw. des reflektierten Selbstbewusstseins der Person verstehe ich mit Schleiermacher die Kurzform für das Bezogen-Sein aufs Ganze der erfahrbaren Gegenstände (Objekte bzw. Sachverhalte), das uns sowohl vermöge unserer Sinne als auch vermöge unseres Verstehen- und GestaltenWollens in unserer jeweiligen Um- und Mitwelt begegnet. Von einem Moment 7 Vgl. hierzu bes. Christian Albrecht, Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit. Ihr wissenschaftlicher Ort und ihr systematischer Gehalt in den Reden, in der Glaubenslehre und in der Dialektik, Berlin/ New York: de Gruyter, 1994 (SchlA; 15). – Meine folgende Erhellung des Verhältnisses von Glauben, Wissen und Wollen im Lichte der christlichen Sicht des Sinnes von Sein hat nicht zuletzt die Absicht, zur kritischen Auseinandersetzung mit dem bemerkenswerten Werk von Volker Gerhardt, Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München, C. H. Beck, 4 2017, anzuleiten. Ich sehe die Aporie dieses Versuchs darin, dass er es unternimmt, die „Haltung und Tätigkeit, die der Glauben (sic!) ist und die er von uns fordert“ (13) zu explizieren, ohne die ontologische Differenz zwischen Gottes Sein und dem „Göttlichen“ des Seiend-Seins des Seienden in seinem Werden und Vergehen auch nur zu erwähnen.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

des Selbstbewusstseins ist deshalb zu sprechen, weil wir in unserer jeweiligen Gegenwart unserer selbst bewusst sind als Subjekt, das von dem Ganzen der erfahrbaren Gegenstände (Objekte bzw. Sachverhalte) affiziert sein muss, damit es sich in sprachlichen Benennungen bzw. in praktischen und in ästhetischen Handlungen auf es spontan beziehen kann. Mit dem Term „Selbstbewusstsein“ achten wir darauf, dass alle noch so verschiedenen oder gar gegensätzlichen Empfindungen und Verstehens-Zumutungen uns selbst als ein mit sich in relativer und begrenzter Dauer identisches leibhaftes Vernunft- und Freiheitswesen betreffen.8 Nun fragt es sich, ob es für diese weltoffene Verfassung des menschlichen PersonSeins eine Bedingung gebe, die erfüllt sein muss, damit uns in unserem UnsGegenwärtig-Sein Anderes als Anderes – als Gegenstand bzw. als Objekt oder als Sachverhalt für unser vermitteltes bzw. reflektiertes Selbstbewusstsein – überhaupt präsent werden könne. Auf diese transzendentale Frage antworte ich mit Schleiermacher, dass diese Verfassung des menschlichen Person-Seins keinesfalls das Resultat einer ursprünglichen „Tathandlung“ des sich selbst setzenden Ich im Sinne der frühen Fassungen der Wissenschaftslehre Johann Gottlieb Fichtes sein könne.9 Vielmehr verwende ich für diese Bedingung sinnvollerweise den Term „Gefühl“, den ich mit dem Term „unmittelbares Selbstbewusstsein“ präzisiere. Für eine Theorie des Fromm-Seins, welche der systematischen Besinnung auf den Wahrheitswert der christlichen Glaubenssätze zum „höchst möglichen Grad der Bestimmtheit“ gereichen soll, ist es nun wichtig einzusehen, warum der Term „unmittelbares Selbstbewusstsein“ den Term „Gefühl“ zu präzisieren hilft. Kennzeichnen wir die uns vorgegebene Bedingung des vermittelten bzw. des reflektierten

8 Insofern sehe ich zwischen einer subjektivitätstheoretischen und einer identitätstheoretischen Deutung des menschlichen Person-Seins keinen Gegensatz, sondern vielmehr eine notwendige und sinnvolle Ergänzung. – Die Gründe, die Ingolf U. Dalferth seit langem gegen die subjektivitätstheoretische Deutung des menschlichen Person-Seins vorbringt, finde ich nach wie vor nicht überzeugend. Sie sind – so scheint mir – letztlich inspiriert nicht nur von Karl Barths antisubjektiver Grundentscheidung (vgl. STh I, 461–471), sondern auch von Martin Heideggers Spätwerk nach der „Kehre“, das im Gegensatz zur transzendentalen Analyse des Daseins in „Sein und Zeit“ den „anderen Anfang“ in der „Zeit als Ereignis des ‚Seyns‘“ zu finden strebt (vgl. Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie [Vom Ereignis], Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 1989 [GA; 65]). Dieses Projekt erscheint mir als undurchführbar. Vgl. Ingolf U. Dalferth, Subjektivität und Glaube. Zur Problematik der theologischen Verwendung einer philosophischen Kategorie, in: NZSTh 36 (1991), 18–58. 9 Vgl. Johann Gottlieb Fichte, „Wissenschaftslehre nova methodo“, jetzt in: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky, Reihe IV, Bd. 2, 29: „Tathandlung ist nämlich, wenn ich mein Ich innerlich handeln lasse und demselben zusehe … Diese Tätigkeit lässt sich nicht definieren, sie beruht auf unmittelbarer Anschauung; sie besteht darin, daß ich mir meiner unmittelbar bewußt bin.“. – Zur Entwicklung der Fichte‘schen Theorie des Selbstbewusstseins ist nach wie vor lehrreich Dieter Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, in: Ders./Hans Wagner (Hg.), Subjektivität und Metaphysik. FS. für Wolfgang Cramer, Frankfurt a.M.: Klostermann, 1966, 188–232.

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Glauben

Selbstbewusstseins als „Gefühl“, so machen wir von der Weise Gebrauch, in der uns Gefühle wie Freude oder Trauer in einzelnen empirischen Szenen ergreifen. Ihnen entspricht nämlich gar kein Gegenstand bzw. kein Objekt oder Sachverhalt bloß als solcher, soweit wir ihn sprachlich prädizieren, praktisch intendieren und ästhetisch erfinden wollen. Vielmehr wird in den Gefühlen evident, inwiefern uns ein Gegenstand bzw. ein Objekt, eine einzelne empirische Szene wie die Entdeckung einer Liebe bzw. eine große geschichtliche Konstellation wie die Urkatastrophe des Großen Krieges von 1914 bis 1918 ganz und gar beglückt oder bedrückt, erhebt oder zu Boden schlägt. Die einzelnen realen Gefühle geben uns Lust des Lebens oder aber Unlust des Lebens zu spüren: und zwar „unmittelbar“, d. h. nicht erzeugt und nicht vermittelt durch unser reflektiertes Wissen oder Handeln.10 Für eine sachgemäße Antwort auf die transzendentale Frage, wie die uns vorgegebene Bedingung für die weltoffene Verfassung des menschlichen Person-Seins zu denken sei, erbringt die Präzisierung des Terms „Gefühl“ durch den Term „unmittelbares Selbstbewusstsein“ folgenden Gewinn. Zum einen gleicht der transzendentale Grund, kraft dessen wir vermöge unseres „vermittelten“ bzw. „reflektierten“ Selbstbewusstseins miteinander kommunizieren und interagieren, dem empirischen Gefühl – der Emotion – insofern, als er ein jedenfalls nicht von uns gewolltes und gesetztes Selbstverhältnis ist; zum andern aber gleicht der transzendentale Grund der Formen des „vermittelten“ bzw. des „reflektierten“ Selbstbewusstseins dem empirischen Gefühl – der Emotion – insofern, als er uns eines je spezifischen Abhängig-Seins bzw. eines je spezifischen Bestimmt-Seins durch Anderes und von Anderem her inne werden lässt. Genauer gesagt: im transzendentalen Grund ist die leibhafte Person sich selbst erschlossen als sich gegeben und als sich gewährt. Indem wir beide Bestimmungen zusammennehmen, können wir den transzendentalen Grund der weltoffenen Verfassung des menschlichen Person-Seins als das unmittelbare „Gefühl des Selbst-Seins“ (Eilert Herms) prädizieren: menschliches Person-Sein ist sich des Gesetzt-Seins als wissendes, als fühlendes, als handelndes Wesen unmittelbar gewiss. Es ist sich mithin eines „Woher“ bewusst.

10 Wir können uns diesen Sachverhalt verdeutlichen am Beispiel einer „freudigen Nachricht“ (einer Nachricht, die Freude erregt wie z. B. die Nachricht von der glücklichen Geburt eines Kindes) bzw. einer „traurigen Nachricht“ (einer Nachricht, die Trauer erregt wie z. B. die Nachricht vom unerwarteten Tod eines Kindes). – Schleiermacher beruft sich dafür auf die These von Henrik Steffens über das Gefühl: „Die unmittelbare Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins“ (CG2 § 3,2 Anm. [I, 17 = KGA I.13,1, 23]). Zum engen freundschaftlichen Verhältnis zwischen Schleiermacher und Steffens vgl. jetzt: Sarah Schmidt und Leon Miodoñski (Hg.), System und Subversion. Friedrich Schleiermacher und Henrik Steffens, Berlin/Boston: de Gruyter, 2018. – Vgl. zum Thema „Gefühl“ meine Analyse des Fühlens im Kontext einer Theorie der Erfahrung: STh I, 214–228.

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Nun definiert der Leitsatz des § 3 der „Glaubenslehre“ das Wesen der Frömmigkeit ausdrücklich als „eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins“ (CG2 § 3 L [I, 14 = KGA I.13,1, 20]). Ich hatte bisher lediglich versucht, das Wesentliche jedweder Frömmigkeit im transzendentalen Grund der weltoffenen Verfassung des menschlichen Person-Seins zu identifizieren. Lebens-, kultur- und religionsgeschichtlich bleibt dieser transzendentale Grund jedoch mitnichten rein formal und damit leer; vielmehr erfährt er mannigfache inhaltliche Bestimmtheiten des „Woher“, die mehr oder weniger abstrakt und diffus sein mögen – wie zum Beispiel die Bestimmtheit des „Woher“ als Familie, als Volk, als astrologische Konstellation, als mythische Theogonie, als Materie, als Schicksal, als Zufall oder als Natur. Solche Bestimmtheiten wären allerdings Bestimmtheiten, die wir der Welt verdanken: d. h. dem Inbegriff des Anderen der Dinge, der Ereignisse, der Strukturen, dem gegenüber wir durchaus in wie auch immer begrenzter Weise zu handeln fähig sind. Ein solcher Inbegriff des Anderen kommt deshalb nicht wirklich als der transzendente Grund in Betracht, von dem sich die leibhafte Person als sich selbst schlechthin gewährt versteht. Als transzendenter Grund, von dem wir uns im transzendentalen Grund des „reflektierten“ bzw. des „vermittelten“ Selbstbewusstseins als gesetzt verstehen, kommt vielmehr nur jenes „Woher“ in Betracht, das als solches als schlechthin gebend und gewährend zu denken ist. Für ihn gebrauchen wir den Ausdruck „Gott“.11 Von Frömmigkeit im strikten und genauen Sinne des Wortes reden wir deshalb dann und nur dann, wenn das „Woher“, dessen wir uns im transzendentalen Grund des menschlichen Person-Seins gewiss sind, hinreichend klar und deutlich als der schlechthin – d. h.: als der radikal und absolut – gewährende Grund des menschlichen In-der-Welt-Seins und damit der weltoffenen Verfassung des leibhaften Person-Seins verstanden wird.12 Die transzendentale Analyse, die nach der Bedingung fragt, unter der uns Menschen allen bewusstes und verantwortliches Leben möglich ist, führt mithin zu einer normativen Bestimmung des Fromm-Seins und damit zu einer normativen Bestimmung des adäquaten personalen Verhältnisses zu Gott als zu dem einzig wahren transzendenten Grund. Es ist die Bildungsgeschichte der Person in ihrem Gegensatz zwischen dem Bewusstsein der Sünde und dem Bewusstsein der Gnade

11 Vgl. CG2 § 4,4 (I, 28f. = KGA I.13,1, 38f.): „Wenn aber schlechthinnige Abhängigkeit und Beziehung mit Gott … gleichgestellt wird: so ist dies so zu verstehen, daß eben das in diesem (verstehe: in diesem unmittelbaren) Selbstbewußtsein mitgesetzte Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins durch den Ausdruck Gott bezeichnet werden soll, und dieses für uns die wahrhaft ursprüngliche Bedeutung desselben ist.“. – Vgl. STh I, 166–170. 12 Vgl. CG2 § 4,4 (I, 30 = KGA I.13,1, 40): „In welchem Maß nun während des zeitlichen Verlaufs einer Persönlichkeit dieses (verstehe: das radikale Gottesbewusstsein) wirklich vorkommt, in eben dem schreiben wir dem Einzelnen Frömmigkeit zu.“

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Glauben

(verstehe: der Gnade der Christus-Gemeinschaft), in der die normative Bestimmung des Fromm-Seins und damit das adäquate Verhältnis der Person und der Gemeinschaft der Personen zu Gott tatsächlich dominierend wird. Für diese Bildungsgeschichte nehmen wir doch wohl mit Recht den Begriff der Offenbarungsgeschichte in Anspruch (vgl. STh I, 409–415). Ist nämlich Gott als der einzig wahre transzendente Grund uns in dem transzendentalen Grund des unmittelbaren Selbstbewusstseins an sich und von sich selbst her offenbar, so wird er doch in seinem Eigen-Sein und Eigen-Sinn – in seiner Gnadenwahl für uns – erst im Kontinuum jenes Geschehens explizit erschlossen, erkannt und angebetet, das wir als die Erscheinung des Erlösers in der Geschichte verstehen dürfen.13 Die Interpretation der transzendentalen Analyse, die ich hier vorgetragen habe, hat für die systematische Besinnung auf den christlichen Glauben an Gott den Schöpfer eine wichtige Konsequenz. Suchen wir nämlich eine Antwort auf die Frage, wie uns bzw. durch welche Quellen uns der christliche Glaube an Gott den Schöpfer gegeben und erschlossen ist, so gilt es jetzt ein Doppeltes festzuhalten. Einerseits kommt als Quelle des christlichen Glaubens an Gott den Schöpfer einzig und allein jenes Gott-Verstehen in Betracht, das uns im Schöpfungsdenken der jüdischen JHWH-Gemeinschaft überliefert ist, so wie das apostolische Kerygma des Neuen Testaments es rezipiert; denn dieses Gott-Verstehen artikuliert die Einzigkeit des transzendenten Grundes, der von sich selbst her dem All des Seienden das Seiend-Sein gewährt. Insofern ist es sachgemäß, dass Schleiermacher die Glaubenssätze über Gottes schöpferische Eigenschaften im 1. Teil der „Glaubenslehre“ diskutiert; und zwar im Sinne dessen, was das christlich-fromme Selbstbewusstsein stets und notwendig sowohl voraussetzt als auch in sich schließt. Erst hier gehört es sich, die hochbedeutsamen Terme der Ewigkeit, der Allgegenwart, der Allmacht und der Allwissenheit des transzendenten Grundes zu entfalten: jenes Grundes, dessen wahres Wesen sich für uns Menschen alle in der Erscheinung des Erlösers in der Geschichte zeigen will und zeigt. Andererseits aber geht uns das Schöpfungsdenken der jüdischen JHWHGemeinschaft, so wie das apostolische Kerygma des Neuen Testaments es rezipiert, deshalb und nur deshalb an, weil die leibhafte Person im transzendentalen Grunde ihres Selbstbewusstseins – ihres Identitätsbewusstseins – des schöpferischen Gewährt-Werdens unmittelbar gewiss ist. Wäre es der leibhaften Person in

13 Für dieses Kontinuum beruft sich das 2. Vatikanische Konzil in der dogmatischen Konstitution „Lumen gentium“ in Aufnahme patristischer Sprachweise auf die „Präfiguration“ der Kirche von Anbeginn der Welt, die in die Chiffre der „ecclesia ab Abel“ zusammengefasst wird: vgl. LG 2. Dazu Peter Hünermann, Theologischer Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium, in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Hg. von Peter Hünermann und Bernd Jochen Hilberath, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 2004, Band 2, 263–563; 358.

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ihrem Sich-gegenwärtig-Sein nicht zweifelsfrei gewiss, dass sie sich selbst dem schöpferischen Gewähren des transzendenten Grundes verdankt, so würde ihr das Schöpfungsdenken der Bibel ebenso unerschwinglich sein wie das der eindrucksvollen Schöpfungsmythen der Religionsgeschichte. Ohne die transzendentale Besinnung auf die Bedingung aller möglichen Erfahrung in der Einheit der Erfahrungswelt hängt die Glaubenslehre von Gottes Schöpfer-Sein in der Luft; ohne die Beziehung auf Gottes Schöpfer-Sein geht allerdings auch die Kommunikation des Evangeliums von Gottes heilsamem Versöhnungs- und Vollendungswillen des Realitätsgehalts verlustig.14 Meine Interpretation der transzendentalen Analyse ist dazu bestimmt, der Auslegung des biblischen Schöpfungsdenkens in der religiösen Kommunikation des Evangeliums hier und heute zu dienen. Aus diesem Grunde gehe ich in einem ersten Schritt der Frage nach, wie das Verhältnis zwischen dem christlich-frommen Selbstverständnis der Person und den Bewusstseinsformen des Wissens und des Wollens richtig zu verstehen sei, bevor ich dann in einem zweiten Schritt in der gebotenen Kürze das biblische Schöpfungsdenken selbst und als solches untersuche. Es ist das Ziel meiner Argumentation zu zeigen, dass die Glaubenssätze hinsichtlich des schöpferischen Waltens des göttlichen Wesens für den Begriff der Bewusstseinsformen des Wissens und des Wollens von grundlegender Bedeutung sind. Sie sind es insbesondere deshalb, weil sie die allerallgemeinsten Kategorien begründen, in deren Licht sich Seiendes als Seiendes zeigt: nämlich das Dass-Sein, das Bestimmbar-Sein, das Im-Raume-Sein und schließlich das In-der-Zeit-Sein des Seienden. Es wird die Aufgabe des Nachdenkens über Gottes schöpferischen Geist sein, diese Kategorien des göttlichen Schaffens nachzuzeichnen.

14 Mit diesem Fazit verbinde ich zwei m. E. notwendige Abgrenzungen. Einerseits gegenüber der Methode der „christologischen Begründung“ des Schöpfungsdenkens bei Karl Barth, KD III/1, bes. 3–44; 44–103. Zwar ist es Barths richtige Intention, im Rahmen der Besinnung auf den christlichen Glauben an Gott den Schöpfer Gottes Schaffen „als das erste in der Reihe der Werke des dreieinigen Gottes“ (KD III/ 1, 44 [§ 41 L]) zu entfalten; aber indem er die Entfaltung dieser Erkenntnis des Christus-Glaubens jeglicher transzendentalen Analyse der Bedingung aller möglichen Erfahrung abstrakt entgegensetzt, gerät er in den Zweifel an der zweifelsfreien Gewissheit des endlichen SelbstSeins (Anm. 26) und vermag das biblische Schöpfungsdenken lediglich als eine „Form reiner Sage“ (ebd.) zu erklären, die mit dem uns erkennbar vorgegebenen Realen nichts zu tun hat. Es ist eben ein gravierender Unterschied, ob man die christliche Weise, von Gottes schöpferischem Walten zu denken und zu reden, auf die Grundsituation des „Sich-gegenwärtig-Seins“ bezieht oder ob man wie Karl Barth die Grundsituation des „Sich-gegenwärtig-Seins“ aus dem Christus-Geschehen deduziert (s. 2.4.2.1). – Andererseits gegenüber systematischen Konzeptionen wie denen von Falk Wagner und von Ulrich Barth, die die Beziehung des Christus-Glaubens auf Gottes Schöpfer-Sein und so auf das erkennbar vorgegebene Reale rundheraus verneinen.

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Glauben

2.2.2

Fromm-Sein – Wissen – Wollen15

Hineingeboren in die Lebens- und Erfahrungswelt beginnen wir von einem frühen Zeitpunkt an, auf die Erscheinungen zuerst der allernächsten, sodann der immer weiteren und entfernteren Mit- und Umwelt unsere Aufmerksamkeit zu richten. Im Medium der mit uns gesprochenen Sprache – der Muttersprache – bilden wir erste elementare Prädikationen, die wir mit wachsendem Alter und mittels der verschiedenen Institutionen des Unterrichts Schritt für Schritt zu einem individuellen Umgang mit dem syntaktischen und dem semantischen Potential der Sprache erweitern. In ihrem Medium nehmen wir auf welchem Niveau auch immer an den Prozessen des Lernens und des Lehrens teil, die auf das Wissen innerhalb einer Kultur bzw. innerhalb einer Gesellschaft zielen. Ein solider Begriff des Wissens fügt mithin wenigstens zwei Momente zusammen: Zum einen das Moment des Objektiven, der uns gegebenen wissbaren bzw. erkennbaren Gegenstände und Gegenstandsarten, denen wir unsere Aufmerksamkeit widmen wollen. Dass das Moment des Objektiven alle die subjektiven Lebensäußerungen der Religion und der Kunst bzw. der Philosophie einschließt, die uns zu interpretieren überkommen sind, muss gegenüber allen Neigungen eines naiven Positivismus ausdrücklich betont werden. Zum andern aber das Moment des Subjektiven, der Konstitution bzw. der ReKonstitution der uns gegebenen Gegenstände und Gegenstandsarten, die wir in der Form der Synthesis vollziehen. Nämlich der Synthesis zwischen dem Geschehen des Natürlichen bzw. des Geschichtlichen im weiten Sinne des Begriffs und unserem sprachlichen Verstehen des Geschehens, das uns begegnet: sei es in den vorsprachlichen Zeichen einer Ordnung der Natur, sei es in den dezidiert sprachlichen Zeichen (Sätzen, Reden, Texten, Theorien), in denen wir sowohl die vorsprachlichen Zeichen einer Ordnung der Natur als auch die Fülle der geschichtlichen Prozesse interpretieren. Außerhalb oder jenseits des Prinzips der Synthesis und ihrer Urteilskraft bliebe uns der Inbegriff des Objektiven – zu dem wir auch das eigene

15 Vgl. zum Folgenden Konrad Stock, Theorie, 11–21; Ders., STh I, 46–57. – Vgl. zum Folgenden bes. Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2001; Ders., Auch eine Geschichte der Philosophie. Bd. 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen; Bd. 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Berlin: Suhrkamp, 2019. Eine kritische Würdigung dieses bedeutenden Spätwerks würde die vorliegende Darstellung einer Dogmatik auf dem Hintergrunde der Prinzipienlehre in STh I natürlich sprengen. Nicht nur die Aussageintention des Abschnitts 2.2.2, sondern auch der Titel dieser Dogmatik „Durch Wahrheit zur Freiheit“ deutet die theologische Alternative zu Habermas an, die in der Selbstbesinnung auf das christlich-fromme Selbstbewusstsein ihre Basis hat.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

Im-Leibe-Sein zu zählen haben – so verschlossen wie dem Regenwurm Mozarts „Zauberflöte“.16 Seit Menschengedenken streben die Kulturen bzw. die Gesellschaften danach, über das allereinfachste alltägliche Wissen hinaus intensiviertes Wissen bzw. beweisbares und bewiesenes Wissen zu finden. Von dieser theoretischen Neugierde zeugen seit ihren Anfängen in der Thaletischen Geometrie nicht etwa nur die Wissenschaften von der Natur des Kosmos; von ihr zeugen ebenso die Wissenschaften, die die Geschichte der sozialen Evolution erforschen und erzählen. Die Wege dieser beiden Wissenschaftszweige weisen bis zu diesem Tag erhebliche Sprünge ihrer Methode und ihrer paradigmatischen Haltung zu ihren Gegenständen auf.17 Während jedoch die Wissenschaften von der Natur des Kosmos die Regeln des Geschehens zu erkennen suchen, die für uns und ohne unser Zutun objektiv in Geltung stehen, erforschen und erzählen die Wissenschaften von der Geschichte im weiten Sinne des Begriffs Kommunikationen und Interaktionen zwischen leibhaft existierenden Vernunft- und Freiheitswesen in ihrem faktisch notwendigen Kampf um wechselseitige Anerkennung. Für sie bezeichnet der Begriff des Wissens deshalb – in anderer Weise als für die Wissenschaften von der Natur des Kosmos – das Ideal einer Verständigung zwischen unhintergehbar differenten Perspektiven. Es blieb den Einzelwissenschaften von der Natur des Kosmos sowie den Einzelwissenschaften von der Geschichte im weiten Sinne des Begriffes vorbehalten, in den Gesellschaften der euro-amerikanischen Moderne das Ansehen einer durch sich selbst begründeten Macht zu erringen. Ihre enormen Fortschritte und Erfolge haben für das Bewusstsein zahlreicher Zeitgenossinnen und Zeitgenossen das biblische Schöpfungsdenken unglaubhaft gemacht. Um gegenüber ihren Zweifeln den Wahrheitswert des christlichen Glaubens an Gott den Schöpfer zu erschließen, sei

16 Für die genauere Beschreibung des Prinzips der Synthesis orientiere ich mich hier wie überhaupt in meiner Darstellung Systematischer Theologie an Schleiermachers Theorie des Selbstbewusstseins (vgl. STh I, 151–166), und zwar in ausdrücklicher Ablehnung der antisubjektiven Grundentscheidung Karl Barths und des ihr unkritisch folgenden Barthianismus. 17 Zur Theoriegeschichte in den kosmologischen Wissenschaften sei hingewiesen auf den dichten Artikel von Jürgen Mittelstraß, Art. Wissenschaft/Wissenschaftsgeschichte/Wissenschaftstheorie I. Philosophisch: TRE 36, 184–200 (Lit.!). Der Autor erkennt in dieser Theoriegeschichte die zunehmende Tendenz zur Ausbildung unterschiedlicher Rationalitätsformen. Auch und gerade die Wissenschaftsgeschichte der Physik sowie der Astrophysik bis hin zur Speziellen und zur Allgemeinen Relativitätstheorie Albert Einsteins zeigt, dass auch das relativistische Bild des Universums als eines unbegrenzten Raumzeit-Kontinuums nicht ohne eine Synthese zwischen Beobachtungen, Berechnungen und theoretischen Grundbegriffen bzw. Grundsätzen zu entwerfen ist. – Erheblich komplexer und komplizierter gestaltet sich die Suche nach wissenschaftlichem Wissen auf dem Gebiet der Wissenschaften von der Geschichte der sozialen Evolution.

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Glauben

daher in aller Kürze nach dem Verhältnis von Frömmigkeit und Wissen gefragt.18 Bevor ich dazu übergehe, gebe ich zu bedenken, dass wir nicht nur nach dem Verhältnis von Frömmigkeit und Wissen, sondern auch nach dem Verhältnis von Frömmigkeit und Wollen zu fragen haben.19 Das Medium der gesprochenen Sprache macht es uns nicht nur möglich, in den Prozessen des Lehrens und des Lernens etwas als etwas in seiner Eigenart für uns zu wissen; es macht es wegen seines präskriptiven bzw. wegen seines evaluativen Potentials auch möglich, in unserer jeweiligen Gegenwart – in unserem Uns-gegenwärtig-Sein – etwas zu erstreben bzw. etwas zu intendieren (vgl. STh I, 197–213). Was wir in unserer jeweiligen Gegenwart erstreben bzw. intendieren, ist jedenfalls ein sprachlich zu bezeichnendes Gut: ein Gut bzw. ein Inbegriff von Gütern, auf die wir aus sind, weil wir uns davon Erfüllung und Befriedigung unseres ephemeren Menschenloses versprechen (s. 1.5.3.3.4). Sofern wir solche Güter nicht nur phantasieren oder wünschen, sondern uns für ihre Erreichung tatkräftig engagieren, sind wir uns dessen bewusst, dass wir sie wollen. Unter dem Term „Wille“ verstehen wir mithin nicht etwa nur ein bloßes Vermögen; wir verstehen darunter vielmehr jenen Aspekt des leibhaften Person-Seins, der uns in unserer jeweiligen Gegenwart eine zukünftig mögliche Bestimmtheit unserer Lebensgeschichte zu wählen nötigt: eine Bestimmtheit, die sich sei es kritisch brechend sei es innovativ erweiternd auf das Ganze des bisherigen Lebenslaufs beziehen wird. Konkret wird dieser Aspekt des leibhaften Person-Seins in der Reihe der einzelnen Entscheidungen, der einzelnen Aktionsformen des Wollens, in denen wir eine einmal getroffene Grundentscheidung – wie zum Beispiel die Grundentscheidung für diese Ehe, die Grundentscheidung für diesen Beruf, die Grundentscheidung für diesen Lebensplan – realisieren.20 Die Beispiele mögen indizieren, dass die Aktionsformen des Wollens sich nicht beschränken auf die Handelnsart des organisierenden Handelns im weiten Sinne des Begriffs; sie äußern sich in gleicher Weise in allen Akten eines Wissen-Wollens, ebenso wie sie sich in den Entscheidungen zur musischen Darstellung in den verschiedenen Formen der Kunst materialisieren. Alles in allem sind wir in den Akti18 Für eine gründliche Erörterung der Theorie der Wissenschaft sei nach wie vor verwiesen auf Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1973. 19 Diese Frage ist von besonderem Gewicht angesichts des „Versuchs“ von Volker Gerhardt, Der Sinn des Sinns (wie Anm. 7), bes. 148–208. Indem der Autor „den Glauben“ als den „das Wissen zwangsläufig begleitenden Glauben“ auffasst, nennt er ihn eine „epistemische Überzeugung“, die als die „sich im Medium des Wissens ausbildende affektive Teilnahme am Wissen“ zu bezeichnen ist (177 [Kursivierung im Original]). Eine Analyse des Zusammenhangs von „Glauben“, „Wissen“ und „Wollen“ und insbesondere der Bedingtheit des „Wollens“ – wie zum Beispiel des entfremdeten, des gewaltbereiten bzw. des bösen Wollens – bleibt in diesem „Versuch über das Göttliche“ außen vor. 20 Vgl. hierzu und zum Folgenden bes. Eilert Herms, Art. Wille IV. Dogmatisch: RGG4 8, 1563–1564; Art. Wille V. Ethisch: ebd. 1565; Art. Wille VII. Religionsphilosophisch: ebd. 1566–1567.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

onsformen des Wollens unserer selbst gewahr als selbstbewusst-freie Wesen – auch dann und gerade dann, wenn Gewaltverhältnisse rechtlicher oder politischer Natur uns unterdrücken sollten. Nun gibt es das bewusste Wollen der leibhaft existierenden Person nicht etwa an und für sich; es gibt es ganz ohne Zweifel nur als Wollen, das verschränkt ist mit der Organisation eines individuellen hominiden Organismus, der wiederum notwendigerweise angewiesen ist auf die ihm vorgegebenen Lebensbedingungen dieser Erde und damit auf den Kosmos dieses ungeheuren Universums. Es gibt es nur als individuelles Wollen eines menschlichen In-der-Welt-Seins, ohne dessen zuverlässig zu erwartende Dauer es augenblicklich kollabieren müsste. Es gibt es insbesondere nur in Bezug auf das je individuelle Uns-gegenwärtig-Sein, das sich in die raumzeitliche Bewegung des ungeheuren Universums nach vorne eingeordnet findet. Wenn wir dem individuellen Wollen der leibhaft existierenden Person Autonomie zusprechen, so ist es die uns im Naturzusammenhang für begrenzte Dauer gewährte Autonomie.21 Im Gegensatz zum bloßen Tagtraum, im Gegensatz zum bloßen Wünschen ist das bewusste und entschiedene Wollen deshalb notwendigerweise angewiesen auf die Gewissheit des relativen und begrenzten Dauerns und auf die Zuverlässigkeit der Regeln des Naturgeschehens, ohne die das Wollen gar keine Folgen zeitigen könnte. Es ist daher von eminentem vernünftigem Interesse, Sein und Sinn jenes transzendenten Grundes verstehen zu wollen, dem wir die uns im Naturzusammenhang gewährte Autonomie tatsächlich verdanken. Es ist jedenfalls dem Christus-Glauben durch Gottes Heiligenden Geist als wahr gewiss, dass Sein

21 Der Term „Autonomie“ wird in dem Abschnitt über das gottebenbildliche Wesen des menschlichen In-der-Welt-Seins aufgegriffen und entwickelt werden (s. 2.4.2.1). – Die Art und Weise, in der Immanuel Kant den Begriff der Autonomie des guten Willens einführt und bestimmt, sieht – jedenfalls in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785) und in der „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788) – vom notwendigen Vertrauen der leibhaften Person auf die Dauer und auf die Zuverlässigkeit des Ganzen des Naturgeschehens und seines Richtungssinnes ab: mit der Konsequenz, dass das Telos der Autonomie des guten Willens – die Glückseligkeit – bloßes „Postulat“ der reinen praktischen Vernunft bleibt. Vgl. bes. Immanuel Kant, KpV A 223–226 (W IV, 254–256); sowie Eilert Herms, Art. Wille VII. Religionsphilosophisch: RGG4 8, 1566f. – Über die Dauer und über die Zuverlässigkeit des Naturgeschehens als einer uns gegebenen notwendigen Bedingung personalen Handelns, das in seiner Gegenwart willentlich ein Ziel erstrebt, schweigt sich aus das Philosophieren Arthur Schopenhauers, Friedrich Nietzsches und Martin Heideggers, aber auch das Philosophieren Odo Marquards, das im Gegensatz zum Denken Kants nicht einmal mehr ein Telos der Autonomie des guten Willens in Betracht zieht. Diesem Philosophieren gegenüber – das doch die Dauer und die Zuverlässigkeit des Naturgeschehens naiverweise für sich in Anspruch nimmt – hat eine Theorie der Erfahrung, wie ich sie in dieser Darstellung Systematischer Theologie vertrete, eine wichtige apologetische Aufgabe. Diese wichtige apologetische Aufgabe wird in der kirchlichen Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nur selten wahrgenommen, zum Schaden ihres Einflusses auf die Öffentliche Meinung der Gesellschaft.

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Glauben

und Sinn des transzendenten Grundes solcher Autonomie im Christus-Geschehen letztgültig offenbar wird. Nach meiner Interpretation der transzendentalen Analyse bezeichnet der Term „Wissen“ eine Bewusstseinsform des „vermittelten“ bzw. des „reflektierten“ Selbstbewusstseins, gleichviel ob diese Bewusstseinsform sich auf das Ganze der uns zu verstehen gegebenen Objekte oder in logisch-dialektischer Weise auf das Wesen des Wissens bezieht.22 Sie konkretisiert sich jedenfalls als Werk, als eine Praxis der weltoffenen Verfassung des leibhaften Person-Seins, zu deren Themen und zu deren Interessen es nicht zuletzt auch zählt, die Genese des ungeheuren Universums bzw. die Genese des Lebendigen und die Genese des Menschengeschlechts auf dieser Erde zu erforschen. Und in entsprechender Weise bezeichnet der Term „Wollen“ eine Bewusstseinsform des „vermittelten“ bzw. des „reflektierten“ Selbstbewusstseins, die uns befähigt, in unserer jeweiligen Gegenwart etwas als gut bzw. als vorzugswürdig zu wählen und kraft Entscheidung zu verwirklichen. Ich hatte immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass „Wissen“ und „Wollen“, symbolisierendes Handeln und organisierendes Handeln im Hinblick auf die Praxis unserer Lebensführung fest verschränkt sind (vgl. STh I, 197–213). Nun ist die Praxis des leibhaften Person-Seins in dessen weltoffener Verfassung nach meiner Interpretation der transzendentalen Analyse allerdings bedingt durch die Bestimmtheit des „unmittelbaren Selbstbewusstseins“ bzw. des „Gefühls des Selbst-Seins“, kraft dessen wir uns des Gegeben- und Gewährt-Seins unserer selbst – und d. h.: unseres In-der-Welt-Seins – bewusst sind. Ich hatte diese Bestimmtheit mit Schleiermachers Sprachgebrauch als so oder so geprägtes Fromm-Sein charakterisiert. Weil diese Bestimmtheit lebens-, kultur- und religionsgeschichtlich variiert, dürfte der schwebende Terminus „Woher“ als Platzhalter für ganz verschiedene, um nicht zu sagen: gegensätzliche Spielarten des Fromm-Seins fungieren. Gibt es dann überhaupt ein Kriterium, anhand dessen wir unangemessene und angemessene, unwahre und wahre Weisen des Fromm-Seins unterscheiden können? In der Bestimmung dieses Kriteriums konvergieren das metaphysische Fragen der Ersten Philosophie und das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens im Sinnraum und im Horizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft. Sie konvergieren darin, dass sie das schwebende „Woher“ als transzendenten Grund begreifen, der schlechthin schöpferisch dem All des Seienden das Seiend-Sein gewährt und Dauer gibt. Wird dieser transzendente Grund in seinem Sein und Sinn auch offenbar, so stiftet er die Weise des Fromm-Seins, die sich als radikales Grundvertrauen auf Gottes

22 Eine gedrängte Interpretation von Schleiermachers „Dialektik“ (jetzt in: KGA II.10,1–2) als einer Theorie des Wissens bietet Andreas Arndt in: Martin Ohst (Hg.), Schleiermacher Handbuch, Tübingen: Mohr Siebeck, 2017, 257–267.

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Wahrheit und auf Gottes Güte definieren lässt (s. 1.5.3.3.3; 1.5.3.3.4).23 Die Lehre vom christlichen Glauben an Gott den Versöhner und an Gott den Vollender hat darzulegen, auf welchen Wegen und unter welchen Bedingungen sich in der Lebensgeschichte eines Menschen dieses radikale Grundvertrauen auf Gottes Wahrheit und auf Gottes Güte tatsächlich bildet und zumal in der letzten Not des Sterbens tröstend bestehen bleibt. Nach alledem befindet sich das Fromm-Sein, das sich als radikales Grundvertrauen auf Gottes Wahrheit und auf Gottes Güte zeigt, in einem ambivalenten Verhältnis zum menschlichen Werk des selbstbewusst-freien Wissen-Wollens und Handeln-Wollens in den Kulturen der Gesellschaft. Dieses ihr ambivalentes Verhältnis wurzelt in der transzendentalen Einsicht, dass selbstbewusst-freies WissenWollen und Handeln-Wollen generell und unvermeidlich bedingt, ermöglicht und orientiert ist von der wie immer auch gearteten Bestimmtheit des je individuellen Selbstgefühls. Zum einen widerspricht das Fromm-Sein des radikalen Grundvertrauens in kritischem Protest all jenen Deutungen des Realen, die etwas Endliches, etwas Gewordenes und Werdendes selbst und als solches zum transzendenten Grund des menschlichen In-der-Welt-Seins machen oder die – mit Jacques Monod (s. o. S. 140) – die blinde Selbstorganisation des Universums von einem Punkte Null aus postulieren. Es wendet sich dagegen, dass die Arbeit der verschiedenen Einzelwissenschaften ebenso wie die der Theorie der Grundlagen der Einzelwissenschaften das Uns-gewährt-Sein des gesamten Weltprozesses schlicht vergisst. Es tut das mit dem Argument, dass diese Arbeit letztlich gar nicht anders denn als die Arbeit einer individuellen leibhaften Person zustande kommt, die sich in ihrem „Gefühl des Selbst-Seins“ sehr wohl ihres „Woher“ bewusst sein wird und der zumal in ihrem Raum-Zeit-Gefühl das schöpferische Wesen Gottes an sich und von sich selbst her offenbar ist. Zum andern aber wirbt das Fromm-Sein des radikalen Grundvertrauens affirmativ und konstruktiv für die verantwortliche Teilnahme an den gemeinsamen Prozessen des Wissen-Wollens und des Handeln-Wollens, die uns um der Erhaltung des hohen Guts des leibhaften Person-Seins unabweisbar zugemutet sind. In ihnen realisiert und konkretisiert sich das dominium terrae (Gen 1,26.28) bzw. das Bebauen und Bewahren (Gen 2,16), wie dies die beiden mythischen Erzählungen Gen 1,1–2,4a und Gen 2,4b-25 ausdrücklich als die Aufgabe des menschlichen In-der-Welt-Seins formulieren.

23 Vgl. hierzu bes. Reiner Strunk, Vertrauen. Grundzüge einer Theologie des Gemeindeaufbaus, Stuttgart: Quell-Verlag, 1985; Elisabeth Gräb-Schmidt, Art. Vertrauen: RGG4 8, 1077–1080. Vgl. auch STh I, 233ff.

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Glauben

Zu den gemeinsamen Prozessen des Wissen-Wollens und des Handeln-Wollens gehören in der euro-amerikanischen Moderne alle die Forschungen, die im Anschluss und in Kritik an der von Isaac Newton initiierten klassischen Physik im Wechselspiel von Empirie und Theorie das Im-Werden-Sein des endlichen, doch unbegrenzten Universums zu verstehen und zu berechnen suchen.24 Nicht ihre einzelwissenschaftlichen Befunde und Hypothesen, wohl aber die kategorialen Grundbegriffe und Grundsätze einer Kosmologie des expandierenden Universums bilden den Bezugspunkt, an dem die systematische Besinnung auf das Interesse des Fromm-Seins anzuknüpfen hat. Zu den gemeinsamen Prozessen des Wissen-Wollens und des Handeln-Wollens gehören freilich auch die Forschungen, die in das Innerste der Materie und in das Innerste des genetischen Codes des Menschen eindringen. Gerade diese aktuellsten Richtungen der Forschung machen deutlich, dass wir der öffentlichen Diskussion darüber bedürfen, welche Grenzen wir uns notwendigerweise setzen müssen, um die politischen und die technischen Risiken in der Verwendung dieser Forschungen zu beherrschen. Das „Herrschet“ der priesterschriftlichen Erzählung (Gen 1,28) hat wie nie in aller Geschichte die brennendste Aktualität! Das Fromm-Sein des radikalen Grundvertrauens wird erkennbar in einem ganz bestimmten Ethos der Verantwortung, für das die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen in dieser öffentlichen Diskussion geradesteht.25 Ich habe damit die Gesichtspunkte markiert, in deren Perspektive wir die Frömmigkeit des biblischen Schöpfungsdenkens uns in ihrer hier und heute gültigen Prägnanz erschließen können. Wir werden sehen, dass und wie das kanonisch festgestellte Zeugnis des endgültigen Offenbar-Werdens des göttlichen InGemeinschaft-sein-Wollens im Christus Jesus durch den Geist der Wahrheit die Frömmigkeit der jüdischen JHWH-Gemeinschaft kritisch revidiert. Es revidiert sie kritisch, indem es deren höchst bedingte und begrenzte Ursprungsgewissheit für die Gemeinschaft des ethischen Volkes Gottes aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) öffnet. In dieser Öffnung äußert sich das radikale Grundvertrauen auf die uns Menschen allen geltende Wahrheit und Güte der absoluten Wesenheit, die wir Gott nennen.

24 Vgl. hierzu die luzide Darstellung von Dirk Evers, Raum – Materie – Zeit. Schöpfungstheologie im Dialog mit naturwissenschaftlicher Kosmologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000 (HUTh; 41). Evers fasst die Pointe der Allgemeinen Relativitätstheorie Albert Einsteins wie folgt zusammen: „Nur die Einheit von Raum, Zeit und Materie hat einen physikalischen Sinn und ist als Feld darstellbar.“ (67). 25 Ein in jüngster Zeit entstandenes und wegen seiner unabsehbaren Konsequenzen unvermeidliches Thema eines Ethos der Verantwortung ist das Thema „Künstliche Intelligenz“. Ich werde dieses Thema aufgreifen im Teil III dieser Systematischen Theologie; vgl. bereits Konrad Stock, Einleitung, 309–323.

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2.2.3

Das biblische Schöpfungsdenken

Im Abschnitt 2.3 und im Abschnitt 2.4 der systematischen Betrachtung dieses Kapitels besinnen wir uns auf die Wahrheit des christlich-frommen Selbstbewusstseins, sofern es das Bewusstsein Gottes des Schöpfers sowohl voraussetzt als auch ständig in sich schließt. Wir besinnen uns mithin auf das „Gefühl des Selbst-Seins“ der Person, das sich an sich und formaliter als von dem transzendenten Grund und Ursprung aller Dinge gesetzt und gewährt verstehen muss und das nun gleichwohl erst im Heiligenden Geist des christlich-frommen Selbstbewusstseins zum „wirklichen (verstehe: zum wirksamen) Moment“ (CG2 § 32,1 [I, 172 = KGA I.13,1, 203]) der Lebensführung wird. Es ist daher die prinzipielle Frage, auf welchem Weg der Christus-Glaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen der schöpferischen Eigenschaften Gottes und dessen schöpferischen Waltens inne wird.26

26 Diese prinzipielle Frage bleibt – wie mir scheint – in Schleiermachers „Glaubenslehre“ ungeklärt. Schleiermacher eröffnet die Erklärung des Leitsatzes zu § 36 mit der Behauptung: „Der Satz, daß die Gesamtheit des endlichen Seins nur in der Abhängigkeit vom Unendlichen besteht, ist die vollständige Beschreibung der hier aufzustellenden Grundlage jedes (sic! K.S.) frommen Gefühls.“ (I, 185 = KGA I.13,1, 219). Die Art und Weise, in der Schleiermacher die kirchliche Lehre von Gottes Schöpfer-Sein entwickelt, unterscheidet nicht genau genug zwischen dem Gottesbewusstsein, insofern es im „Gefühl des Selbst-Seins“ formaliter bzw. implizit mitgesetzt ist, und der Bildungsgeschichte der leibhaften Person, in der das „fromme Gefühl“ allererst „zum wirklichen Moment“ der Lebensführung wird (vgl. nochmals CG2 § 32,1 [I, 172 = KGA I.13,1, 203]). – In dezidiertem Gegensatz zur Interpretation der kirchlichen Schöpfungslehre bei Schleiermacher (aber auch bei Alexander Schweizer, Richard Adelbert Lipsius, Hermann Lüdemann und Reinhold Seeberg) befiehlt Karl Barth, dass die kirchliche Lehre von Gottes Schöpfer-Sein „allein im Glauben an Jesus Christus“ und deshalb allein im Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift begründet sei (vgl. Karl Barth, KD III/1, 1 [Leitsatz]: „Die Einsicht, daß der Mensch sein Dasein und Sosein mit aller von Gott verschiedenen Wirklichkeit zusammen der Schöpfung Gottes zu verdanken hat, vollzieht sich allein im Empfang und in der Beantwortung des göttlichen Selbstzeugnisses, d. h. allein im Glauben an Jesus Christus…“ (Kursivierung im Original]). Um diese Einsicht plausibel zu machen, stellt Barth die steile These auf: „Wer … das doch nicht ganz Belanglose wagt, einem von Gott Verschiedenen als solchem, dem Himmel und der Erde und sich selbst eigene Wirklichkeit zuzuschreiben, Existenz und Wesen vor, bei und neben Gott, wer der kühnen Meinung ist, daß er selbst und mit ihm auch die sog. Welt ist und nicht nicht ist – der wird sich darüber klar sein müssen, daß das eine unbeweisbare, anfechtbare Hypothese ist…“ (KD III/1, 3f. [Kursivierung im Original gesperrt]). Dem Autor ist es offensichtlich nicht zweifelsfrei gewiss, dass er – die Kirchliche Dogmatik schreibend – existiert; er glaubt das vielmehr daraufhin und nur daraufhin, dass dieses sein Existieren in der Bibel steht. Barths antisubjektive Grundentscheidung (vgl. STh I, 461–471) hat zur Folge, dass sich der Autor den Kontakt zur Konstitution des Realen vom Leibe hält, um sich ungestört im Narrativ der „Kirchlichen Dogmatik“ zu bewegen. Allen ontologischen Behauptungen zum Trotz, die Barth in den vier Teilbänden der Schöpfungslehre aufstellt, ist das der blanke Fideismus!

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Glauben

Um diese prinzipielle Frage zu beantworten, achte ich im Folgenden auf den kanonischen Zusammenhang, in dem das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift das radikale Grundvertrauen auf Gottes schöpferisches Walten konzipiert (vgl. STh I, 557–566). Denn der kanonische Zusammenhang des biblischen Offenbarungszeugnisses bringt zur Sprache, in welcher Weise sich der Christus-Glaube als das radikale Grundvertrauen auf Gottes Schöpfer-Sein den Tradenten, den Autoren und den Redaktoren der Heiligen Schrift erschlossen hat. Wer in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ durch Gottes Heiligenden Geist des Christus-Glaubens teilhaftig wird, hat Anteil an einer besonderen Gestalt des Ursprungsverhältnisses der leibhaft existierenden Person. Diese besondere Gestalt des Verhältnisses zum transzendenten Grund und Ursprung aller Dinge ist vorgezeichnet in der kritischen Revision, in der das Neue Testament sich situiert im Sinnraum und im Verstehenshorizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft und ihrer Schriften in der Übersetzung der Septuaginta. Ich frage deshalb in einem ersten Schritt, wie wir die jüdische Anschauung des Ursprungsverhältnisses interpretieren können, um daraufhin in einem zweiten Schritt zu zeigen, worin die kritische Revision besteht, welche dem christlichen Verstehen des Ursprungsverhältnisses Ausdruck gibt. Erstens: Die programmatische Stellung, die die Komposition des Pentateuch den beiden Erzählungen der sog. „Urgeschichte“ zuerkennt, lässt leicht vergessen, dass sich der Glaube an das schöpferische Walten Gottes im prägnanten Sinn der jüdischen JHWH-Gemeinschaft erst spät erschlossen hat. Während sie den Ursprung ihrer geschichtlichen Identität nach allem, was wir wissen, einem Ereignis unerwarteter und wunderbarer Hilfe und Errettung verdankt (vgl. Ex 14,14), hat sie ihre ersten Glaubenssätze über das schöpferische Walten jener schützenden und rettenden Gottheit im Rückgriff auf die reflektierte Mythologie gebildet, die in den Texten Ugarits erhalten ist. Im Unterschied zu den Hochkulturen Ägyptens, Mesopotamiens und Persiens symbolisieren diese Texte keine Kosmogonie, sondern eine Theomachie. Sie handeln von dem Herrschaftsantritt jener Gottheit, der die Gemeinschaft ihren Bestand und ihr Gedeihen zu verdanken glaubt und darin deren schöpferisches Walten sieht. Nach Jörg Jeremias und nach Hermann Spieckermann sind es die sog. JHWH-König-Psalmen, die diesen Mythos in der Periode des davidisch-salomonischen Königtums auf Israels Gott-Verstehen übertragen und mit seiner Hilfe die schöpferische Gewährung sowie die schöpferische Bewahrung und Erneuerung des Lebens feiern: „Denn der HERR ist ein großer Gott / und ein großer König über alle Götter. Denn in seiner Hand sind die Tiefen der Erde, / und die Höhen der Berge sind auch sein.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

Denn sein ist das Meer, und er hat‘s gemacht, / und seine Hände haben das Trockene bereitet.“ (Ps 95,3-5).27

Die Katastrophen der Jahre 720 v. Chr. und 587/586 v. Chr. und die Erfahrung des Exils stürzen das Vertrauen auf die schöpferische Gewährung und auf die schöpferische Bewahrung und Erneuerung des Lebens in eine tiefe Krise. In dieser Krise konstituiert sich die jüdische JHWH-Gemeinschaft durch eine radikale Revision ihrer Überlieferung. Sie nimmt die erschütternde Kritik des Prophetismus in sich auf und gründet Israels Identität auf die Gewährung der Tora und auf das Leben im Gehorsam gegenüber dem in ihr promulgierten göttlichen Recht. In diesem Rahmen ist es zu verstehen, dass die Botschaft „Deuterojesajas“ sowie die schriftgelehrte Arbeit der Priesterschrift in der Phase der persischen Hegemonie im Alten Orient das Gott-Verstehen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft um die kosmogonischen bzw. um die kosmologischen Motive einer creatio prima erweitert. Wie die Erfahrung des Exils dazu bewegt, im Gegensatz zu polyjahwistischen bzw. zu monolatrischen Deutungen die Einzigkeit des göttlichen Wesens zu erkennen und ernst zu nehmen, so führt die Einsicht in die Einzigkeit des göttlichen Wesens dazu, das schöpferische Walten allumfassend zu verstehen als schöpferisches Gewähren des menschlichen In-der-Welt-Seins überhaupt. Und wie die JHWHKönig-Psalmen das davidisch-salomonische Königtum legitimieren als den Dienst am schöpferischen Gewähren, Bewahren und Erneuern des Lebens, so legitimiert jedenfalls die „deuterojesajanische“ Sicht des allumfassenden schöpferischen Waltens Gottes die dienende Funktion der persischen Großkönige für Frieden und für Freiheit (vgl. bes. Jes 45,12-13). Schon der kanonische Zusammenhang der Bibel Israels verbindet mithin das Gefühl für JHWHs schöpferisches Walten „im Anfang“ (Gen 1,1) mit dem Bewusstsein göttlicher Gegenwart in der Geschichte, die vermittelt ist sei es durch die Herrschaft seines Königs sei es durch die Geltung der Tora.28 Den mythischen

27 Vgl. Jörg Jeremias, Das Königtum Gottes in den Psalmen. Israels Begegnung mit dem kanaanäischen Mythos in den Jahwe-König-Psalmen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1987 (FRLANT; 141); Hermann Spieckermann, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1989 (FRLANT; 148). – Dieses Verständnis der schöpferischen Gewährung und schöpferischen Erneuerung des Lebens – im Sinne einer creatio continua – schließt kosmogonische Aussagen nicht aus, zumal es JHWHs heilsverheißende Gegenwart im himmlisch-irdischen Tempel zu Jerusalem nicht auf Israel begrenzt, sondern auf die ganze Erde erweitert. 28 Wie im Mythos der Hochkulturen des Alten Orients hat auch in der Religionsgeschichte Israels das Thema „Schöpfung“ insofern eine theokratische Pointe, als es die wie auch immer symbolisierte prima creatio zum Prinzip und zur Voraussetzung der Gerechtigkeit der Weltordnung auf Erden erhebt, wer immer auch dazu berufen ist, das Ideal der Gerechtigkeit der Weltordnung zu bewahren und zu erneuern. Diese theokratische Pointe – eine „politische Theologie“ avant la lettre – ist auch der Botschaft Jesu von Nazareth vom unscheinbaren Nahen der Gottesherrschaft in ihm selbst und

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Glauben

Erzählungen der Kosmogonie und der Anthropogonie vergleichbar, hat der kanonische Zusammenhang das schöpferische Walten JHWHs „im Anfang“ nur im Kontext der Gewissheit seines bewahrenden, erneuernden, heilsamen Waltens zur Sprache gebracht, wie sie die Komposition der Hebräischen Bibel in ihrer Endgestalt bezeugt. Die Aussageintention der beiden Schöpfungserzählungen innerhalb der sog. „Urgeschichte“ (Gen 1,1–11,32) wäre daher missverstanden, wenn man sie als vorwissenschaftliche oder gar als sagenhafte Beschreibungen des Werdens dieser Welt lesen würde. In ihrer Jetztgestalt zielt jedenfalls die priesterschriftliche Erzählung (Gen 1,1–2,4a) auf das gottebenbildliche In-der-Welt-Sein des männlich-weiblichen Menschengeschlechts und auf den siebenten Tag als Tag der unsichtbar-verborgenen Gottespräsenz29 ; und ihre nicht-priesterschriftliche Ergänzung (Gen 2,4b-3,24) verknüpft auf ihre Weise diese Darstellung des schöpferischen Waltens mit jener Identitätskonstruktion und jenem Narrativ, das von der Berufung Abrams (Gen 12,1) bis zur Begnadigung des Königs Jojachin (2Kön 25,27-30) reicht. Die langwierige schriftgelehrte Arbeit an der Komposition des sog. Enneateuch und darüber hinaus an der Komposition des Tanakh im Ganzen führt mithin nichts Geringeres aus als den Glaubenssatz, dass das Werden dieser Welt zu verstehen sei als das Werden der kosmischen bzw. der naturalen Basis für das menschliche In-der-Welt-Sein, das zur Gemeinschaft mit dem göttlichen Wesen selbst bestimmt ist. Diese Pointe der Bibel Israels – das schöpferische Gewähren, Bewahren und Erneuern des menschlichen In-der-Welt-Seins für die Gemeinschaft mit dem göttlichen Wesen selbst, das sich je und je dem Volk der Erwählung zeigen will – hält das apostolische Kerygma in der Geschichte der Entstehung des Neuen Testaments fest.

deshalb auch dem Christus-Glauben an Gott den Schöpfer eingeschrieben. Erst das Ergebnis des sog. „Investiturstreits“ im Wormser Konkordat von 1122 hat diese theokratische Pointe des Bewusstseins des Unendlichen entscheidend korrigiert, indem es zwischen der Kompetenz der „geistlichen Gewalt“ und der Kompetenz der „weltlichen Gewalt“ zu unterscheiden lehrt. Allerdings hat erst die reformatorische Bewegung mit ihrer Unterscheidung zwischen den beiden „Regierweisen“ Gottes diese theokratische Pointe des biblischen Schöpfungsdenkens in eine Aufgabe der ethischen Verantwortung für das Gemeinwohl der Gesellschaft überführt. Vgl. hierzu STh III. 29 Vgl. hierzu Werner H. Schmidt, Die Schöpfungsgeschichte der Priesterschrift. Zur Überlieferungsgeschichte von Gen. 1,1–2,4a und 2,4b–3,24, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 3 1973 (WMANT; 17); Odil Hannes Steck, Der Schöpfungsbericht der Priesterschrift, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2 1981 (FRLANT; 115). – Zu den religionsgeschichtlichen Kontexten des höchst eigenartigen JHWH-Kults im Tempel zu Jerusalem und dessen Geschichte bis zur endgültigen Zerstörung im Jahre 70 n. Chr. vgl. Friedhelm Hartenstein in: Friedhelm Hartenstein/Michael Moxter, Hermeneutik des Bildesverbots. Exegetische und systematisch-theologische Annäherungen, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2016 (ThLZ.F; 26), 23–71.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

Es ist das Hiobbuch in seiner Endgestalt, das diese Pointe der Bibel Israels radikal in Frage stellt.30 Am Beispiel einer gänzlich unverschuldeten individuellen Leidensgeschichte markieren die Verfasser das Problem, dass Gottes schöpferisches Walten in diesem seinem Sinn sich menschlicher Erfahrung schlechterdings entzieht. Sie sammeln dieses Problem in Hiobs anklagenden Appell, der vom Allmächtigen die lösende Antwort fordert (vgl. Hi 31,35-37). Diese lösende Antwort gibt es in den beiden großartigen Gottesreden (Hi 38,2–39,30; 40,6–41,26) gerade nicht! Zwar legen die Verfasser dem göttlichen Wesen Worte in den Mund, die den anklagenden Hiob auf die erstaunlichen Ordnungen der kosmischen und der animalischen Natur und darüber hinaus sogar auf das Außerordentliche und Ungeheure in diesen Ordnungen aufmerken lassen wollen; aber sie hüten sich davor, die beiden Gottesreden als pure Zurückweisung des anklagenden Appells zu inszenieren. Sie bringen zur Sprache, dass das Geschehen der Welt und das Geschehen in der Welt – das Medium des göttlichen In-Gemeinschaft-sein-Wollens bzw. des göttlichen Füruns-Seins – Abgründiges und Schreckliches umfasst, das unverständlich ist und bleibt und nur im Dennoch des radikalen Grundvertrauens getragen und ertragen werden kann (vgl. Ps 73,23). Womöglich weist der rätselhafte Schluss des Hiobbuchs in dieses Dennoch ein, um dessentwillen Gott die Rede Hiobs im Gegensatz zu den Reden der Freunde als rechte Rede von Gott anerkennt (Hi 42,7). Denn Hiobs Rede (Hi 40,4.5; 42,1-6) beugt sich dem Außerordentlichen, dem Ungeheuren, dem Abgründigen und dem Schrecklichen des von Gott geschaffenen Weltgeschehens nur so, dass sie die Klage und den Widerspruch aufrechterhält. Zweitens: Im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages verstehen die Apostel als die primären Zeugen die Wirksamkeit des Christus Jesus, die sich im Tod am Kreuz auf Golgatha vollendet (Joh 19,30), als das Geschehen des versöhnenden Waltens Gottes des Schöpfers. Ihr christlich-frommes Selbstbewusstsein spricht sich aus in Sätzen des Bekennens, die die Einzigkeit des göttlichen Wesens und dessen allumfassendes schöpferisches Walten zuspitzen und konkretisieren: „…so haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm; und einen Herrn, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn.“ (1Kor 8,6).31

30 Vgl. zum Folgenden bes. Jürgen Ebach, Art. Hiob/Hiobbuch: TRE 15, 360–380 (Lit.!), mit wichtigen Hinweisen zur Rezeptionsgeschichte; Hermann Spieckermann, Art. Hiob/Hiobbuch: RGG4 3, 1777–1781. 31 Vgl. zum Folgenden bes.: Cilliers Breytenbach, Art. Schöpfer/Schöpfung III. Neues Testament: TRE 30, 283–292; Dieter Zeller, Der erste Brief an die Korinther, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2010 (KEK; 5), 291f. (zu 1Kor 8,5.6); Michael Wolter, Der Brief an die Römer (Teilband 2: Röm 9–16), Neukirchen-Vluyn/Ostfildern: Neukirchener Theologie/Patmos Verlag, 2019 (EKK VI/2): Exkurs zu

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Glauben

Um die Bedeutung dieser Sätze zu erschließen, gehe ich wiederum davon aus, dass sie deshalb und nur deshalb gebildet werden und angeeignet werden konnten, weil ihre Sprecher in ihrem „Gefühl des Selbst-Seins“ sich bezogen wissen auf das „Woher“ des menschlichen In-der-Welt-Seins und dessen relative und begrenzte Dauer. Wären sie nicht mit dem „Gefühl des Selbst-Seins“ unmittelbar vertraut, würden sie die Wirksamkeit des Christus Jesus schwerlich als das Geschehen des versöhnenden Waltens Gottes des Schöpfers glauben und verstehen können. Im Lichte dieser hermeneutischen Regel hebe ich zwei Gesichtspunkte hervor.32 Zum einen: Im christlich-frommen Selbstbewusstsein, das in den Verkündigungsgesprächen der Apostel und in den Schriften des entstehenden Neuen Testaments zum Ausdruck kommt, ist das jüdisch-fromme Bewusstsein des wahren transzendenten Grundes und seines universalen schöpferischen Waltens als schlechthin gültig aufbewahrt. Aufbewahrt ist mithin auch das Bewusstsein eines Telos des schöpferischen Waltens, wie es die beiden Schöpfungserzählungen im Rahmen der sog. „Urgeschichte“ des Pentateuch bzw. des Enneateuch artikulieren. Telos des schöpferischen Waltens ist es nach ihrer Lehre, „das Rettende“ wachsen zu lassen, das die „Gefahr“ bannt und überwindet, der das Endliche als Endliches ausgeliefert ist.33 Mit der gebotenen Vorsicht wage ich zu sagen, dass diese Formel einen „Gesamtsinn“ des Tanakh erfasst, der für das christlich-fromme Selbstbewusstsein offen ist und der dem christlich-frommen Selbstbewusstsein inhäriert.34 Wegen dieses „Gesamtsinns“ ist es nach der Erkenntnis der Gemeinde zu Antiochien jetzt an der Zeit, den Gottesdienst der jüdischen JHWH-Gemeinschaft zu öffnen für die Menschen des Imperium Romanum, für ihre hellenistische Kultur und damit für die Völkerwelt. Röm 11,36a. Wolter macht z. St. darauf aufmerksam, dass der Apostel Paulus hier das schöpferische Walten Gottes mit einer Reihenformel charakterisiert, die sich in dieser Weise in der kaiserzeitlichen Stoa findet, z. B. bei Seneca. Er scheut mithin die Konvergenz mit dem philosophischen Denken des Einen nicht im Geringsten! 32 Dass die Bibelwissenschaften derzeit ohne Rücksicht auf eine solche hermeneutische Regel verfahren, zeigt der Satz von Cilliers Breytenbach (wie Anm. 31, 284): „Für das Urchristentum, das die alttestamentlich-jüdische Schöpfungstradition … als Glaubensgrundsatz übernahm, ist alles Schöpfung Gottes …“. Diese Beschreibung lässt gänzlich außer Acht, dass ein „Glaubensgrundsatz“ etwas Innerliches – eben eine Bestimmtheit des Innerlichen – sprachlich festhält und damit für Kommunikation und Reflexion veräußerlicht. 33 Friedrich Hölderlin, Patmos. Dem Landgrafen von Homburg (Hölderlin. Sämtliche Werke. Zweiter Band [Stuttgarter Hölderlin Ausgabe, hg. von Friedrich Beissner], Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag/ J. G. Cottasche Buchhandlung Nachfolger, 1953, 173–180; 173): „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“ 34 Zum Begriff des „Gesamtsinns“ vgl. die vorsichtigen Erwägungen von Friedhelm Hartenstein, Weshalb braucht die christliche Theologie eine Theologie des Alten Testaments?, jetzt in: Ders., Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments. Studien zur Relevanz des ersten Kanonteils für Theologie und Kirche, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2016 (BthSt; 165), 15–53; 50f. Anm. 87.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

Zum andern: Der Christus-Glaube, den das Neue Testament bezeugt, hat den Glauben der jüdischen JHWH-Gemeinschaft nicht nur als schlechthin gültig aufbewahrt; er hat ihn vielmehr auch kritisch revidiert und transformiert, indem er sich zu Sätzen über die sog. „Schöpfungsmittlerschaft“ des Christus Jesus erhebt (vgl. bes. Joh 1,3; 17,5.24; 1Kor 8,6; Kol 1,15f.; Hebr 1,2f.). Um das Verständnis des Themas und des Gegenstandes dieser Sätze zu erschließen, ist es natürlich nicht genug, auf etwaige Parallelen in den Texten der jüdischen Weisheit bzw. in den Schulen der kaiserzeitlichen Stoa sowie des Mittleren Platonismus hinzuweisen. Das angemessene Verständnis des Themas und des Gegenstandes dieser Sätze ist vielmehr dann und nur dann zu gewinnen, wenn wir sie würdigen als den Versuch, das schöpferische Walten des göttlichen Wesens tatsächlich als das erste Moment des göttlichen In-Gemeinschaft-sein-Wollens und damit des göttlichen Seins für uns zu denken. Ich hatte im Kapitel 1 („Der christliche Glaube an Gott“) gezeigt, dass das Wort „Gott“ im Sinne des Christus-Glaubens jenes wahrhaft Unendliche meint, dessen Wesen als Geist sich als das absolute bzw. als das unbedingte „Sich-gegenwärtigSein“ erfassen lässt. Kraft dieses Sich-gegenwärtig-Seins ist es für Gott nicht nur möglich, sich selbst zum Grund und Ursprung für das ontologische Verhältnis zwischen sich selbst und dem All des Seienden zu bestimmen; kraft dieses Sichgegenwärtig-Seins ist es für Gott auch folgerichtig und auch konsequent, sich selbst der Gefahr des Endlichen anzunehmen und auszusetzen: dem Leid der Endlichkeit und der Entfremdung, dem „Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids“ (s. 3.2). Darin ist er das, was Friedrich Hölderlin „das Rettende“ nennt. Kein biblischer Autor hat es so verwegen wie der Apostel Paulus gewagt, „das Rettende“ des göttlichen Wesens auch auf das „ängstliche Harren der Kreatur“ auf die Befreiung von der „Knechtschaft der Vergänglichkeit“ (Röm 8,19-21) zu beziehen. Es ist mithin die sachgemäße Aussageintention der Sätze von der sog. „Schöpfungsmittlerschaft“ des Christus Jesus, den Christus-Glauben der ChristusGemeinschaft einzuordnen in das Kontinuum des schöpferischen, des versöhnenden und des vollendenden Waltens des göttlichen Wesens. Sie sind mitnichten „spekulativ“ im abschätzigen Sinne des Ausdrucks gemeint; sie weisen vielmehr hin auf den „Gesamtsinn“, wie ihn die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testaments in ihrer Mehr- und Vielstimmigkeit bezeugt, auch wenn das Leid des eigenen Lebens und dessen Verstrickt-Sein in Geschichten der Angst und der Gewalt diesen Gesamtsinn oft genug aufs Schrecklichste verbirgt.35 35 Zum „Theologumenon“ der Schöpfungsmittlerschaft des Christus Jesus vgl. vor allem die Darstellung von Wolfhart Pannenberg, STh II, 34–49, deren ausdrückliche Intention es ist, das biblische Schöpfungsdenken trinitarisch (und deshalb trinitätstheologisch) zu entfalten, um „die Schöpfungsaussage auf das Ganze der Welt in ihrer zeitlichen Erstreckung zu beziehen.“ (49). „Durch die

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Glauben

Fassen wir zusammen: Mit dem semantischen Feld des Schaffens und mit den verschiedenen Konzeptionen des schöpferischen Waltens Gottes macht das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments den transzendenten, den „gründenden“ Grund des Seienden zum Thema. Es macht ihn so zum Thema, dass es das Werden, das Dauern und die Eigenart des Seienden im Licht des radikalen Grundvertrauens auf Gottes Eigen-Sinn – d. h. im Lichte einer ganz bestimmten Frömmigkeit bzw. im Lichte einer ganz bestimmten Sicht des Sinnes von Sein – artikuliert. Auf diese Weise nimmt es an der Frage der Religionen und an der Suche der philosophischen Dialektik nach dem Ursprung menschlicher Kulturen teil und gibt ihr eine erstaunliche Antwort, die ihre Wurzel in der Reflexion auf das SichOffenbaren des göttlichen Eigen-Sinnes in den Ereignissen des Dritten Tages hat. „Schöpfung“ ist insofern das grundlegende Thema jeder „Biblischen Theologie“, als es verwurzelt ist in dem unzweifelhaft gewissen Gefühl des Selbst-Seins. Wird dies Gefühl des Selbst-Seins in der Geschichte des Sich-Offenbarens Gottes explizit, so erhebt es sich in der Gemeinschaft des radikalen Grundvertrauens zum Gotteslob, mit dem das Buch des Psalters in den Psalmen 145–150 so ergreifend schließt.36 Allerdings eignet einer „Biblischen Theologie“, die die Mehr- und die Vielstimmigkeit des biblischen Schöpfungsdenkens zu verstehen strebt, noch keineswegs die „größtmögliche Bestimmtheit“ der dogmatischen und der ethischen Betrachtung. Nicht nur deshalb nicht, weil das biblische Schöpfungsdenken selbst der systematischen Interpretation bedürftig und auch fähig ist. Vielmehr erfordert es das Werden des menschlichen In-der-Welt-Seins und dessen Bestimmung zur Gemeinschaft mit dem göttlichen Wesen, die uns gegebenen Bedingungen der Existenz, des Sinnes, der Räumlichkeit sowie der Zeitlichkeit des Seienden genauer zu entfalten, als dies den Tradenten, den Autoren und den Redaktoren der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments schon möglich war. Sie seien im Folgenden aus ihrem Ursprung in Gottes schöpferischem Geist entwickelt.37

Trinitätslehre werden Schöpfung, Erhaltung und Regierung der Welt auf die Heilsökonomie des göttlichen Handelns in der Welt bezogen.“ (ebd.). 36 Vgl. hierzu bes. Frank-Lothar Hossfeld, Art. Lob I. Biblisch: RGG4 5, 476–477; Wolfgang Huber, Glaubensfragen. Eine evangelische Orientierung, München: C.H. Beck, 2017, 68–102: Den Schöpfer loben. 37 Meine folgende Darstellung macht eine Alternative zur „christologischen Begründung“ des Schöpfungsdenkens und des Schöpferglaubens in Karl Barths „Kirchlicher Dogmatik“ geltend. Natürlich besteht diese Alternative nicht darin zu bestreiten, dass der christliche Glaube an Gott den Schöpfer sich im Lichte des „Gesamtsinns“ des biblischen Offenbarungszeugnisses bewege und artikuliere. Sie besteht vielmehr zum einen darin, dass sie Barths „antisubjektive Grundentscheidung“ als unbegründet und als problematisch zurückweist (vgl. STh I, 461–471); und sie besteht zum anderen darin, dass sie die universalen, die allerallgemeinsten Kategorien des Seienden als Seienden im schöpferischen Walten des göttlichen Geistes gründen sieht. Sie intendiert eine präzise Erhellung der

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

2.3

Gottes schöpferischer Geist38

In meinem bisherigen Gedankengang hatte ich den Grund des christlichen Glaubens an Gottes schöpferisches Walten betrachtet und das Verhältnis dieses Glaubens zum Werk des menschlichen Erfahrungswissens genauer bestimmt. Nun wende ich mich der Aufgabe zu, den Gegenstand des christlichen Glaubens an Gott den Schöpfer und dessen Wahrheitsgehalt zu bedenken. Dieser Gegenstand ist Gottes Schaffen. Von Gottes Schaffen spricht das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments in mehr- und vielstimmiger Weise im „Interesse der Frömmigkeit“39 . Es rezipiert dafür nicht nur die großen mythischen Erzählungen; es spiegelt vielmehr auch die wachsende Erkenntnis wider, dass Gottes Einzigkeit als der eine schöpferische Grund und Ursprung des Alls des Seienden und seines Richtungssinns zu sehen sei. Insofern konvergiert es mit dem Interesse am Verstehen eines zureichenden Grundes für das Seiend-Sein im Werden, wie es die Philosophische Theologie seit Platon und wie es heute die allgemeine Theorie des kosmischen Feldes als dynamischer Wechselwirkung deutet. Wenn sich das biblische „Interesse der Frömmigkeit“ im Fest und in der Feier, im hymnischen Lobpreis und im Gebet des Dankens und des Bittens äußert, so ist es doch zugleich der systematischen Beantwortung der Frage bedürftig, was der Term „Gottes Schaffen“ denn bedeute. Für die Beantwortung dieser Frage gehe ich von der transzendentalen Einsicht aus, die in der zweifelsfreien Gewissheit des unmittelbaren Gefühls des Selbst-Seins steckt. Diese transzendentale Einsicht lässt nicht etwa nur nach einem zureichenden Grunde für das individuelle leibhafte Person-Sein und damit für die Bestimmung zur individuellen Autonomie fragen; sie sucht vielmehr den zureichenden Grund des gemeinsamen und gemeinschaftlichen In-der-Welt-Seins zu erkennen, der in dem ungeheuren Universum leibhaftes Person-Sein werden, sein und dauern lässt. Wenn der Tanakh für diesen Grund das singuläre Verbum ‫ ברא‬verwendet, so nennt er einen analogielosen Sachverhalt: nämlich die „Relation der Existenzbegründung“40 , welche das Existieren von etwas überhaupt als gewährt und als begründet Gegenwart des intuitus originarius des göttlichen Wesens im In-der-Welt-Sein des Menschen, die an sich und realiter wirksam ist dann und auch dann, wenn ihr Adressat – das jeweils individuelle In-der-Welt-Sein des Menschen – sie nicht wahrnehmen und nicht wahrhaben sollte. 38 In diesem Abschnitt nehme ich Bezug auf meine Darstellung in: Konrad Stock, Einleitung, 106–121. – Vgl. ferner bes.: Hermann Deuser, Gott: Geist und Natur. Theologische Konsequenzen aus Charles S. Peirce‘ Religionsphilosophie, Berlin/New York: de Gruyter, 1993 (TBT; 56), bes. Kapitel 4: GottHypothese und Kosmologie (98–114); Eilert Herms, STh (Bd. 1), 638–650. 39 Friedrich Schleiermacher, CG2 § 47 L (I, 234 = KGA I.13,1, 276). 40 Eilert Herms, Grundprobleme der Gotteslehre, in: Ders., Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen: Mohr Siebeck, 1992, 342–371; 351. Vgl. auch Wilfried Härle,

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Gottes schöpferischer Geist

von jenem transzendenten Grund bedeutet. Es gilt nun, diese elementare Definition Schritt für Schritt zu entfalten. Wenn wir uns auf die allerallgemeinsten Züge des menschlichen In-der-WeltSeins besinnen, so können wir unschwer entdecken, dass die „Relation der Existenzbegründung“ noch weitere Momente in sich schließt. Sie ist nicht etwa nur beschränkt auf das bloße Dass-Sein des Seienden; dem menschlichen In-der-WeltSein ist das All des Seienden vielmehr auch stets als Bestimmtes und deshalb als Bestimmbares und als Erkennbares gegeben. Und nicht nur das! Ihm ist das All des Seienden gegeben in der Form des Werdens und des Prozedierens und so in seiner Räumlichkeit und Zeitlichkeit. Wollen wir die Bedeutung des Terms „Gottes Schaffen“ verstehen und verständlich machen, so ist es offensichtlich angebracht, den transzendenten Grund mit Hilfe der schöpferischen Eigenschaften des göttlichen Wesens zu begreifen. Sie sind der transzendente – und d. h.: der dauernde und allumfassende – Ursprung jener allerallgemeinsten, jener universalen Kategorien, mit deren Hilfe und in deren Licht wir das Werden des Endlichen bis hin zur Erscheinung des Ebenbildes Gottes auf dieser Erde benennen und erkennen können. Dem Vorbild der „Glaubenslehre“ Friedrich Schleiermachers folgend komme ich deshalb zu sprechen auf Gottes Allmacht (2.3.1), auf Gottes Allwissenheit (2.3.2), auf Gottes Allgegenwart (2.3.3) und auf Gottes Ewigkeit (2.3.4). Im Unterschied zur Konzeption der „Glaubenslehre“ setze ich als nachgewiesen voraus, dass Gottes schöpferisches Walten und dessen „schlechthinnige Ursächlichkeit“ (CG2 § 51 L [I, 263 = KGA I.13,1, 308]) möglich und wirklich wird in Gottes absolutem bzw. unbedingtem Sich-gegenwärtig-Sein, das ich als Wesen des Geistes angesprochen habe (s. 1.5.3.3.1). Meine Besinnung auf Gottes schöpferische Eigenschaften regt dazu an, die theoretischen und d. h. die ontologischen bzw. die metaphysischen Fragen zu erörtern, ohne die wir Grundbegriffe wie Existenz, Sinn, Raum und Zeit nicht verstehen und verständlich machen können. Im Laufe meiner Darstellung wird sich zeigen, dass dem Gefühl des Selbst-Seins als dem Gefühl des gegenwärtigen Im-Raum-und-inder-Zeit-Seins Gottes eigenes Sich-gegenwärtig-Sein und dessen Richtungssinn als solches offenbar ist.

Dogmatik5 , 409–424; sowie Ingolf Ulrich Dalferth, Existenz Gottes und christlicher Glaube. Skizzen zu einer eschatologischen Ontologie, München: Kaiser, 1984 (BevTh; 93), 80ff.; 127f.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

2.3.1

Gottes Allmacht: Grund der Existenz41

Dem Christus-Glauben ist es als wahr gewiss, dass uns der Geist der Wahrheit den Eigen-Sinn des göttlichen Wesens, das „Juden“ und „Griechen“ in die Gemeinschaft eines ethischen Volkes Gottes führt (Röm 1,16), endgültig offenbart. In dieser Gewissheit erlebt sich die Person als angeredet von dem schöpferischen Wort, dem sie im All des Seienden Existenz, Leben und Selbst-Sein verdankt (vgl. Joh 1,14.14). Indem der Christus-Glaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen des göttlichen Versöhnungs- und Vollendungswillens gewiss wird, erschließt sich ihm das ursprünglich weltkonstituierende Wollen, auf das sich schon das unmittelbare Gefühl des Frei-Seins – das fromme Selbstbewusstsein – an sich und formaliter bezogen weiß. Es ist sich an sich und formaliter dessen bewusst, dass Endliches als Endliches sein Dass-Sein und dessen relative und begrenzte Dauer jenem wahrhaft Unendlichen verdankt, das es ihm kontinuierlich gewährt. Im Anschluss an die biblische Ausdrucksweise nenne ich diesen ersten Aspekt des göttlichen Schaffens Gottes schöpferische Allmacht (vgl. Gen 17,1; 28,3; 43,14; 49,25; Hi 40,1; Apk 1,8; 4,8). Unter den Eigenschaften des göttlichen Wesens ist Gottes schöpferische Allmacht bitterer Klage und ernstem Zweifel ausgesetzt; und zwar bereits im Doppel-Kanon der Heiligen Schrift selbst, im Buche Hiob (s. o. S. 202). In seinen späten Aufzeichnungen aus der Haft im Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Tegel hat Dietrich Bonhoeffer diesen Zweifel zugespitzt zur Rede von Gottes Ohnmacht und damit große Resonanz gefunden.42 Umso mehr kommt es jetzt darauf an zu zeigen, dass die Erfahrungen des Leids und der Entfremdung das Dass-Sein des leibhaften

41 Vgl. zum Folgenden bes.: Thomas von Aquino, STh I q 25: De divina potentia; Friedrich Schleiermacher, CG2 § 54 (I, 278–289 = KGA I.13,1, 324–335); Karl Barth, KD II/1, 587–685; Paul Tillich, STh I, 313–315; bes. 314: „Das Symbol der Allmacht gibt die erste und grundlegende Antwort auf die in der Endlichkeit enthaltene Frage.“; Wolfhart Pannenberg, STh I, 449–456; Eilert Herms, STh (Bd. 1), 638–640. 42 Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, in: DBW 8, 534: „Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade so und nur so ist er bei uns und hilft uns.“. – Im Kontext der Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft spielt Bonhoeffer offensichtlich an auf das Verfahren einer theologia crucis, das Martin Luther in der Heidelberger Disputation von 1518 dem Verfahren einer theologia gloriae programmatisch entgegengesetzt hatte. Auf der Suche nach einer „nicht-religiösen Interpretation“ biblischer Begriffe macht der Autor allerdings vergessen, dass er diesen wirkungsvoll gewordenen Satz nur schreiben kann unter den Bedingungen der „Relation der Existenzbegründung“, ohne die es auch das „Kreuz“ nicht hätte geben können. – Vgl. zu Bonhoeffers „Kritik der Religion“ zuletzt Wolfgang Huber, Dietrich Bonhoeffer. Auf dem Weg zur Freiheit. Ein Porträt, München: C.H. Beck, 3 2020, 233–256.

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Gottes schöpferischer Geist

Person-Seins selbst und dessen relative und begrenzte Dauer nicht etwa verschwinden lassen, sondern es vielmehr als das fundamentale Gut voraussetzen. Deshalb halten die verschiedenen Formeln der kirchlichen regula veritatis mit gutem Grund die „Relation der Existenzbegründung“ fest.43 Die Eigenschaft der schöpferischen Allmacht lässt sich in ihrem Sinn und in ihrer Bedeutung erschließen im Ausgang vom semantischen Feld der Macht.44 Im Gegensatz zu der berühmten Definition Max Webers verstehe ich unter dem Term „Macht“ ganz allgemein überhaupt die Möglichkeit bzw. die Chance, kommunikativ, interaktionell und nicht zuletzt auch darstellend zu handeln. Sie ist die Möglichkeit bzw. die Chance einer personalen Instanz, ihren Plan, ihr Vorhaben, ihr Ziel zu wählen und mit den geeigneten Mitteln verwirklichen zu wollen. Anders als die ungeheuren Kräfte kosmischer Strahlungen und physischer Massen und anders als die instinktiv gesteuerte Kraft eines Löwen erweist sich die Macht einer individuellen bzw. einer gemeinschaftlichen personalen Instanz als Merkmal ihrer selbstbewusst-freien Weise zu sein. Anders auch als die sei es subtile sei es brutale Gewalt, die irgendein Interesse auch gegen den Willen und gegen den Widerstand eines Anderen erzwingen will, zeigt sich die Macht einer individuellen bzw. einer gemeinschaftlichen personalen Instanz in ihrer Fähigkeit, ihr Ziel beharrlich und doch einvernehmlich erreichen zu wollen. Nun sind wir Wesen von der Seinsart des leibhaften Person-Seins mit unserer Macht nicht schlechthin frei. Wir sind uns im Gefühl des Selbst-Seins nicht nur an sich und formaliter dessen bewusst, dass uns die Fähigkeit des mehr oder weniger machtvollen Handelns schlechthin gewährt ist; wir sind vielmehr auch damit vertraut, dass unser mehr oder weniger machtvolles Handeln schlechthin abhängt von den Bedingungen der Natur dieser Erde, die wiederum nicht anders existiert als unter den Bedingungen des Raums, der Zeit und des Richtungssinns des ungeheuren Universums im Ganzen. Aus diesem Grund versteht der Christus-Glaube im Sinnraum und Verstehenshorizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft Gottes schöpferische Macht nicht etwa als eine höhere Macht neben anderen höheren Mächten; als ausgezeichneter Fall des frommen Selbstbewusstseins begreift er sie 43 Vgl. das „Symbolum Apostolicum“ (DH 10–30; vgl. BSLK 21), das „Symbolum NicaenoConstantinopolitanum“ (DH 150 = BSLK 26f.) sowie CA I (BSLK 50f.). 44 Vgl. zum Folgenden bes. Michael Kuch, Wissen – Freiheit – Macht. Kategoriale, dogmatische und (sozial-)ethische Bestimmungen zur begrifflichen Struktur des Handelns, Marburg: Elwert, 1991 (MThSt; 31), bes. 79–102: Macht als Implikat und Vollzug von Freiheit; Georg Zenkert/Gijsbert van den Brink/Eilert Herms/Alfred Seiferlein, Art. Macht I.–IV.: RGG4 5, 640–644. – Auf das ethische Thema der Macht als Aufgabe einer politischen Ordnung innerhalb einer Gesellschaft und zwischen den Gesellschaften werde ich mittels der Unterscheidung der Semantik von Macht, Gewalt und Herrschaft eingehen in STh III. Diese Unterscheidung ist für die ethische Bewertung der Idee des Friedens durch Recht sowohl im Innenverhältnis der Gesellschaft als auch in den wechselseitigen Außenverhältnissen der Gesellschaften zueinander und miteinander basal.

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als jenes ursprüngliche Walten, das schlechthin einen Anfang im transkategorialen bzw. im transzendenten Sinne setzt.45 Er versteht unter dem Term „Gottes Schaffen“ in dieser ersten Hinsicht Gottes selbstbewusst-freie Wahl, das All des Seienden – das Möglich-Sein und Wirklich-Sein des endlich Seienden – sein zu lassen. Ich hebe daran drei Gesichtspunkte hervor. Erstens: Mit Friedrich Schleiermacher achte ich zuallererst auf das Verhältnis zwischen Gottes schöpferischer Allmacht und dem Ganzen des „Naturzusammenhangs“.46 Das ist schon deshalb angebracht, weil wir als Glieder der ChristusGemeinschaft und als Interpreten ihrer Tradition selbst im Ganzen des Naturzusammenhangs existieren und in den notwendigen sozialen Beziehungen verantwortlich oder aber unverantwortlich in ihn eingreifen. Dies Ganze des Naturzusammenhangs stellt sich uns heute dar als ein Prozessgeschehen, in welchem jeweils komplexere Strukturen aus jeweils einfacheren 45 Erweist sich Gottes schöpferische Allmacht darin, dass sie den Anfang des Geschehens der Welt und des Geschehens in der Welt im transkategorialen bzw. im transzendenten Sinne zu setzen vermag, so ist die Frage, was gegebenenfalls „vor“ jenem Anfang sei, semantisch und pragmatisch sinnlos, wiewohl syntaktisch möglich. Es ist wohl der besondere Pfiff der Formel „creatio ex nihilo“, den semantischen und pragmatischen Unsinn dieser Frage festzustellen. – Mit der folgenden Darstellung reagiere ich kritisch auf Falk Wagner, Gott – der Schöpfer der Welt? Eine philosophisch-theologische Grundbesinnung, in: Ders., Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Gütersloh: Kaiser; Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2 1995, 89–114. Der Autor zielt auf jene „Revolutionierung des Gottesgedankens“ (110), die aus der Destruktion des Schöpfergottes als kausaler Handlungsmacht (99ff.) folgen soll, weil diese Vorstellung das „Prinzip der natürlichen Selbsterhaltung“ zementiere, von dem sich die ihrer selbst bewusste menschliche Freiheit gerade zu befreien hat und sich im Geist des Christentums tatsächlich befreit (110ff.). Ebenso wie Immanuel Kant verkennt der Autor nicht nur das Bewusstsein der uns doch gewährten Freiheit, sondern auch das Gefüge der notwendigen raumzeitlichen, kosmischen und naturalen Bedingungen der uns gewährten Freiheit als Freiheit des leibhaften Person-Seins. Wagners „Revolutionierung des Gottesgedankens“ läuft auf den performativen Widerspruch hinaus, das Sein des Seienden bzw. das Existieren des Existierenden überhaupt in Abrede zu stellen, obwohl dem Autor doch im Augenblick des Schreibens das eigene Existieren zweifelsfrei gewiss gewesen sein wird. – Vgl. demgegenüber die ausgezeichnete Argumentation von Wolfhart Pannenberg, STh II, 172–188: Anfang und Ende des Universums. Pannenberg weist mit Rücksicht auf den Stand der astrophysikalischen Theoriebildung darauf hin, dass sich die Behauptung eines „Zeitanfangs“ zwar nicht auf physikalische Befunde oder Schlussfolgerungen gründen lasse, dass sie sich aber aus der Einsicht in die Endlichkeit und in den Richtungssinn des Gesamtprozesses nahelege. Der Glaube der neuzeitlichen Intelligenz an die Unendlichkeit des Universums (vgl. Alexandre Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, dt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1969) hat sich jedenfalls als purer Aberglaube erwiesen. Vgl. hierzu 2.3.4: „Gottes Ewigkeit: Grund der Zeit“. 46 Friedrich Schleiermacher, CG2 § 54,1 (I, 279f. = KGA I.13,1, 325), versteht unter dem Naturzusammenhang „die zwiefache durch einander gegenseitig bedingte Gesamtheit des endlich Verursachenden und des endlich Verursachten …“. Schleiermachers Interpretation des Lehrstücks „Gott ist allmächtig“ orientiert sich insoweit noch an der Kategorie der „allgemeinen Ursächlichkeit“ (ebd.).

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Gottes schöpferischer Geist

Strukturen in unvorstellbar riesigen Zeiträumen hervorgehen. Und zwar in immer wieder innovativer und diskontinuierlicher Weise, die keineswegs schlechthin notwendig aus den jeweils früheren Zuständen abzuleiten ist. Die theoretische Kosmologie, die die verschiedenen Gebiete der Wissenschaften von der Natur des Kosmos zusammenfassen möchte, erforscht das Geschehen der Welt und das Geschehen in der Welt daher nicht etwa nur unter dem Gesichtspunkt der Kategorie des strengen Naturgesetzes; sie strebt vielmehr danach, im Lichte der Idee der Evolution auch die spontanen Übergänge aus Früherem in Späteres zu beschreiben und so die Evolution des Atomaren und des Chemischen mit der Evolution des Lebens auf dieser Erde zusammenzusehen. Sie thematisiert das Geschehen der Welt und das Geschehen in der Welt als „emergente Evolution“ (C. Lloyd Morgan).47 Wenn der Begriff des Universums, wie ihn die kosmologischen Wissenschaften derzeit fassen, als der Begriff der emergenten Evolution zu denken ist, so schließt er den Aspekt der Kausalität und den Aspekt des unvorherbestimmbar Spontanen zusammen. Er leitet dazu an, das Geschehen der Welt und das Geschehen in der Welt als eine für uns unvorstellbare Reihe von Übergängen zu beschreiben, die mit den frühesten Geschehnissen der sich ständig ausdehnenden und sich ständig abkühlenden Materie beginnen. Diese frühesten Geschehnisse sind wie alle späteren Geschehnisse mögliche Geschehnisse von etwas Wirklichem bzw. von etwas Verwirklichtem her. Wenn wir nun fragen, ob – und wenn ja, in welcher Weise – das Wirkliche bzw. das Verwirklichte, von welchem jene frühesten Geschehnisse herkommen, möglich war, stoßen wir an die Grenze der kategorialen Differenz zwischen schöpferischer Kausalität und Kausalität im emergenten Geschehen der Welt und in der Welt. Würden wir diese Differenz bestreiten mit dem Argument, die Kategorie der Kausalität nötige zum unendlichen regressus, so würden wir die kategoriale Differenz zwischen schöpferischer Kausalität und Kausalität im emergenten Geschehen der Welt und in der Welt verkennen. Mit der Folge, dass das Universum – das Gefüge der notwendigen raumzeitlichen, der kosmischen und der naturalen Bedingungen selbstbewussten Frei-Seins – als autopoietisch gedeutet wird. Tatsächlich setzen große und wirkungsvolle philosophische Konzeptionen der euro-amerikanischen Moderne wie z. B. die Konzeption Immanuel Kants die Autopoiesis des Universums stillschweigend oder explizit behauptend voraus. Im Sinnraum und im Verstehenshorizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft ebenso wie im Dialog mit philosophischer Theologie in alter und in neuer Zeit hält der Christus-Glaube diese Deutung für absurd. Er sieht in jenen frühesten Geschehnissen den radikalen bzw. den ursprünglichen Anfang des Übergangs von

47 Vgl. hierzu STh I, 271–275; sowie Philip Hefner/Dirk Evers/Martin Leiner, Art. Emergenz I.–III.: RGG4 2, 1254–1255.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

Möglichem in Wirkliches und in Verwirklichtes, von welchem alle später möglichen Geschehnisse herkommen. Dieser radikale bzw. dieser ursprüngliche Anfang ist möglich kraft des ontologischen Grundverhältnisses, zu dem der wahrhaft unendliche Geist des göttlichen Wesens sich bestimmt. Es ist die Eigenschaft der schöpferischen Allmacht, das ontologische Grundverhältnis von Sein und Seiendem als fundamentales Gut zu gründen und ihm seine relative Dauer zu gewähren. Zweitens: Stimmt der Christus-Glaube ein in das Bekenntnis, „dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen“, so versteht er Gottes schöpferische Allmacht nicht etwa als Gottes Alleinwirksamkeit, die jede eigene Wirksamkeit der Kreatur im Keim ersticken würde. Vielmehr erklären wir das ontologische Grundverhältnis zwischen Gottes schöpferischer Allmacht und der eigenen Wirksamkeit der Kreatur in einem strikt asymmetrischen Sinn. Das bewusste Leben in der Einheit der Erfahrungswelt täuscht sich nicht, wenn es im Kosmos des Universums und in der Natur dieser Erde die Übergänge aus Möglichem in Verwirklichtes wahrnimmt, in denen je nach dem Grad der Komplexität relative Selbständigkeit herrscht, selbst wenn sie nach den Regeln des Naturgesetzes geschehen.48 Erst recht sind wir uns selbst – wie uns die transzendentale Analyse zeigt – als Wesen mit der Möglichkeit und Fähigkeit erschlossen, zu wählen, zu wollen, zu verwirklichen und zu erfinden. Indem wir Gottes schöpferische Allmacht als Grund der Existenz betrachten, sprechen wir dem All des Seienden in dessen verschiedenen Wirksamkeiten aufeinander relativ selbständiges Existieren zu.49

48 Wir können uns diesen Sachverhalt plausibel machen am Verlauf eines zerstörerischen Orkans, an der bizarren Ausfächerung eines Blitzes, an dem „chaotischen“ Fließen eines Flusses, am Wachstum einer Rose, am Flug der Wandervögel im späten Herbst bzw. an der Kommunikation in einer Herde von Elefanten. 49 Vgl. Wolfhart Pannenberg, STh I, 454: „Der Akt der Schöpfung zielt auf das selbständige Dasein der Geschöpfe.“ Problematisch ist allerdings die Fortsetzung dieser Erkenntnis: „Deren Selbständigkeit aber geht faktisch über in die Verselbständigung gegenüber Gott.“. Sie lässt sich kosmologisch so nicht nachvollziehen; sie muss vielmehr – so scheint mir – einbezogen werden in die Besinnung auf das Leid der Endlichkeit. Sieht man den „Akt der Schöpfung“ auf das „selbständige Dasein der Geschöpfe“ zielend, so achtet man doch wohl aufs asymmetrische Verhältnis zwischen dem göttlichen Walten und den Wirksamkeiten des durch Gottes Walten Existierenden. Der Begriff des asymmetrischen Verhältnisses scheint mir im Übrigen dem für uns erfahrbaren Realen besser zu entsprechen als die Vorstellung einer „Selbstverschränkung“ (bzw. einer „Selbstbeschränkung“ göttlicher Macht), wie sie in Aufnahme der Interpretation der Kabbala von Franz Rosenzweig und von Gershom Scholem zu finden ist bei Jürgen Moltmann, Gott in der Schöpfung (wie Anm. 1), 98ff. Auch die Vorstellung einer schöpferischen Selbstbegrenzung (so Eberhard Jüngel, Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung, jetzt in: Ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, München: Kaiser, 1990, 151–162; 151 u. ö.) wird dem Gedanken des asymmetrischen Verhältnisses nicht gerecht, zumal sie wie die der

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Gottes schöpferischer Geist

Dem relativ selbständigen Existieren im All des Seienden eignet übrigens in gewissem und begrenztem Sinne selbst schöpferischer Charakter.50 Ihn können wir uns deutlich machen an der Zeugung und der Geburt neuen Lebens ebenso wie an der Regeneration der Gattungen und der Arten des Lebendigen. Vor allem aber nehmen wir ihn wahr an den umwälzenden technischen Erfindungen, an den bahnbrechenden wissenschaftlichen Hypothesen und an den genialen Produktionen in den verschiedenen Gattungen der Kunst. Im Abschnitt 2.4 werde ich auf den Aspekt des uns von Gott gewährten kreativen Handelns zurückkommen. Drittens: In der durch Gottes Heiligenden Geist gewirkten Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums ist der Christus-Gemeinschaft aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) Gottes Gnadenwahl erschlossen. Sie ist sich damit jener ursprünglichen Entscheidung, jener ewigen Selbstbestimmung bewusst, kraft derer Gottes dreieines Person-Sein sich zur Gemeinschaft mit dem Ebenbilde Gottes in dieser Welt im Werden und Vergehen bestimmt. Ich hatte deshalb die Besinnung auf den Gehalt des christlichen Glaubens an Gott in den Gedanken der Gnadenwahl als des „Grundes ewiger Freude“ zusammengefasst (s. 1.5.4). In dieser ursprünglichen Entscheidung über sich ist Gottes schöpferisches Walten jener radikale, jener ursprüngliche Anfang bzw. jenes Erste des göttlichen Wollens, das auf die vollendete Gemeinschaft Gottes mit uns Menschen allen zielt: also auf deren wahrhaft Höchstes Gut, das sein endgültiges absolut zukünftiges Real-Sein findet jenseits des Todes und durch den Tod hindurch: es sind die eschatischen Metaphern und Symbole der Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens, die uns auf diesen Hoffnungsgehalt verweisen (s. 4.5.2).51 Wir können im Gedanken der Gnadenwahl jenen „Gesamt-Sinn“ bzw. jenen Grundstein der Sicht des Sinnes von Sein wiederfinden, in dem der Christus-Glaube sich bewegt. Im Lichte dieses Gesamt-Sinns werden wir dann auch mit jenen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen der euro-amerikanischen Moderne sprechen können, die letztlich überzeugt sind von dessen negativer bzw. von dessen destruktiver Sicht.

„Selbstbeschränkung“ dazu tendiert, auf widersprüchliche Weise von einem Nebeneinander des göttlichen Wesens und des Geschaffenen zu reden. 50 Vgl. zum Folgenden Philipp Stoellger, Art. Kreativität I.–III.: RGG4 4, 1738–1740; Hermann Deuser, Religionsphilosophie, Berlin/New York: Walter der Gruyter, 2009, 271–273; 310–315; 487–489. 51 Schon hier sei darauf hingewiesen, dass die duale Struktur des apokalyptischen Mythos, die namentlich das theologische Denken des Apostels Paulus prägt und die jedenfalls in der lateinischen Christentumsgeschichte die dominierende Vorstellung eines „doppelten Ausgangs“ des Weltgerichts am „Jüngsten Tage“ erzeugte, der im Christus-Glauben enthaltenen Gewissheit einer „Wahl der Gnade“ als der „ontologischen Entscheidung“ (Eilert Herms) für Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen zutiefst widerspricht.- S. 4.5.4.2, wo ich die „Annäherungen“ aufnehme, die vorgelegt hat J. Christine Janowski, Allerlösung. Annäherungen an eine entdualisierte Eschatologie, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2000 (NBST; 23,1.2).

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

In solchen Gesprächen wird die kosmologische Frage eine entscheidende Rolle spielen, wie wir den radikalen, den ursprünglichen Anfang all der notwendigen raumzeitlichen, kosmischen und naturalen Bedingungen zu verstehen haben, unter denen sich unser unmittelbares Gefühl des Selbst-Seins bildet. Es ist und bleibt ein performativer Selbstwiderspruch, den transzendenten Grund für diesen radikalen, diesen ursprünglichen Anfang zu bestreiten und dennoch seines eigenen Daseins zweifelsfrei gewiss zu sein. Indem ich die schöpferische Relation der Existenzbegründung in dem Gedanken der Gnadenwahl verankere, kann ich die Suche nach der angemessenen Erkenntnis des Verhältnisses von Gottes Können und von Gottes Wollen unterlassen, die die Geschichte des systematisch-theologischen Denkens immer wieder irritierte.52 Weil und sofern uns nämlich Gottes Gnadenwahl als der ursprüngliche Grund für das Kontinuum des schöpferischen, des versöhnenden und des vollendenden Waltens erschlossen ist, dürfen wir auf Gottes zielstrebiges Wollen vertrauen; selbst dann, wenn es uns in der Selbst- und Welterfahrung schlechterdings verborgen ist (vgl. Hi 31,5-40; Ps 22,1-9; Jes 55,8).53 Wir sprechen darum Gottes schöpferischer Allmacht nicht etwa ein abstraktes Wählen-Können zwischen unzähligen Möglichkeiten zu; vielmehr ehren wir sie als Macht, jenen ursprünglichen Grund der Gnadenwahl und ihres Woraufhin auch zu verwirklichen; und zwar in Form der asymmetrischen cooperatio mit der relativen Selbständigkeit des Existierenden.

52 Vgl. hierzu ausführlich Karl Barth, KD II/1, bes. 589–610. 53 Die Hoffnung des Christus-Glaubens, dass Gottes schöpferische Allmacht schließlich und endlich jenseits des Todes und durch den Tod hindurch ewiges Leben „macht“, kommt eindringlich zur Sprache im Gedicht von Andreas Gryphius aus dem Jahre 1650: „Die Herrlichkeit der Erden“, in dessen 9. Strophe es heißt: „… und geh den Herren an, / der immer König bleibet, / den keine Zeit vertreibet, / der einzig ewig machen kann.“ (EG 527, 9). Allerdings bildet diese Strophe eine nicht genug zu unterstreichende Ausnahme im eschatologischen Teil des Evangelischen Gesangbuchs (EG 516–535) und in der Agende für die kirchliche Bestattung! – Ich werde im Kapitel 4: „Der christliche Glaube an Gott den Vollender“ ausdrücklich auf diese Sicht des Zusammenhangs von vollendendem Walten und schöpferischem Walten zurückkommen.

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Gottes schöpferischer Geist

2.3.2

Gottes Allwissenheit: Grund des Sinnes54

Im Christus-Glauben ist nicht nur das zweifelsfreie Gefühl des Selbst-Seins bloß als solches vorausgesetzt und mitenthalten, das uns zur Anbetung und zur Verehrung der schöpferischen Allmacht Gottes drängt; in ihm ist auch vorausgesetzt und mitenthalten das bald erwachende und schnell sich bildende Bewusstsein, das von der frühen Mutter-Kind-Beziehung an in die verschiedenen Sphären der gemeinsamen Um- und Mit-Welt strebt. Es ist ja zweifellos allgemein-menschliches Erleben, dass die gemeinsame Mit-Welt in der Umwelt der Natur der Erde nicht schlechthin stumm und dunkel ist, sondern uns als hell, als differenziert, als sprechend erscheint. Im Medium einer Muttersprache und im Lernprozess sozialer Regeln vermag die individuelle leibhafte Person ihren begrenzten und beschränkten Anteil zu gewinnen an den Erscheinungen der Natur und der Geschichte in der Einheit der Lebens- und Erfahrungswelt (vgl. STh I, 258–304). Für unsere Lebens- und Bildungsgeschichte zeigt sich mithin das Existierende nicht anders denn als Dieses oder Jenes. Was immer uns in Wechselwirkung mit Anderem, was immer uns in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen, was immer uns in Mittel-Zweck-Beziehungen erscheint, weist seine besondere Eigen-Art stets auf in einem Raum des Allgemeinen. Das Existierende begegnet uns als Inbegriff von Sachverhalten, die uns sowohl empirisch als auch kategorial verstehbar sind, um in dem Medium der Sprache bezeichnet und um in technischer wie in ethischer Hinsicht verantwortlich gestaltet zu werden. Noch genauer gesagt: das Existierende begegnet uns in einem sozio-kulturellen Miteinander-Sein, das seinerseits nur fähig ist zu existieren im Lebensraum der Natur dieser Erde in ihrem regelmäßigen Umlauf um die Sonne, die wiederum nur existiert als eine relativ späte Erscheinung in diesem ungeheuren Universum und in dessen zweifelsfreiem Richtungssinn. Das Existierende als solches ist für das Sich-gegenwärtig-Sein der geschaffenen Person sinnhaft strukturiert und deshalb zu verstehen und zu beurteilen als Gutes oder auch als Böses (vgl. STh I, 36–42). Die Überlegungen zur sinnhaften Struktur, in der uns das durch Gottes schöpferische Allmacht Existierende begegnet, möchten den Weg zum Verstehen der

54 Vgl. zum Folgenden bes.: Psalm 139; Aurelius Augustinus, De civitate Dei V, 9; Thomas von Aquino, STh 1 q 14 (mit der zentralen These: „Deus per suum intellectum causat res“ [„Gott erschafft die Dinge durch seinen Geist“] [a 8c]); q 16; q 22; Friedrich Schleiermacher, CG2 § 55 (I, 289–301 = KGA I.13,1, 335–349); Karl Barth, KD II/1, bes. 610–661; Die Einheit der Natur. Studien von Carl Friedrich von Weizsäcker, München: Carl Hanser Verlag, 1971, 342–366: Materie, Energie, Information; Wolfhart Pannenberg, STh I, 401–416; Eilert Herms, STh (Bd. 1), 648–652; Raffaele Pettazzoni, L‘essere supremo nelle religioni primitive. L‘onniscienza di Dio (1957), dt.: Der allwissende Gott. Zur Geschichte der Gottes-Idee, Frankfurt a.M./Hamburg: Fischer, 1960.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

schöpferischen Allwissenheit des göttlichen Wesens weisen. Weil für das Sichgegenwärtig-Sein der geschaffenen Person das Existierende sinnhaft strukturiert ist, nenne ich mit Friedrich Schleiermacher die Eigenschaft der schöpferischen Allwissenheit die „schlechthinnige Geistigkeit der göttlichen Allmacht“55 . Was heißt das? Ich hatte unter der Eigenschaft der schöpferischen Allmacht Gottes jene Relation der Existenzbegründung verstanden, kraft derer Endliches von jenem radikalen und für uns gänzlich unvorstellbaren, ursprünglichen Anfang her im Werden und in jeweils relativer Dauer begriffen ist. Als solches ist es nicht schlechthin, sondern nur faktisch notwendig und deshalb je und je in seiner Eigen-Art gewollt. Soweit wir es in unserem sozio-kulturellen Miteinander-Sein erfassen können, begegnet es uns in den verschiedenen Niveaus der materiellen Prozesse des Universums, in denen wir ganz grob gesagt atomare, chemisch-anorganische, organisch-biotische Materie und schließlich animalisches Leben unterscheiden: Leben, an dem auch die Gattung des homo sapiens teilhat. Nach welchen Regeln die verschiedenen Niveaus der materiellen Prozesse des Universums aufeinander wirken und unter welchen notwendigen Bedingungen sie aufeinander folgen, hatte ich unter dem Gesichtspunkt der Erfahrung der Natur skizziert (vgl. STh I, 264–277). Nun gibt es für uns Erfahrung der Natur nicht anders als in jenem soziokulturellen Miteinander-Sein, das ich unter dem Gesichtspunkt der Erfahrung der Freiheit und der Unfreiheit thematisiert hatte (vgl. STh I, 278–304). In jenem sozio-kulturellen Miteinander-Sein konstituieren wir die Gegenstände unserer Erfahrung, indem wir sie im Medium einer Muttersprache mit unseren Sinnen wahrnehmen und zugleich mit unserem sprachlich gebundenen Denken logisch bzw. dialektisch in ihre jeweiligen Räume des Möglichen bzw. des Allgemeinen einordnen. Dieses synthetische Verfahren des endlichen, des geschaffenen Geistes übertragen wir natürlich nicht im Geringsten auf Gottes schöpferischen Geist, wenn wir im Weg der transzendentalen Analyse das transzendente Wesen des Grundes anzusprechen wagen, auf den das fromme Selbstbewusstsein der Person wesentlich bezogen ist. Vielmehr gilt: Als schöpferische Eigenschaft ist Gottes Allwissenheit bezogen auf Gottes Allmacht, so wie sie – wie ich noch zeigen werde – bezogen ist auf Gottes Allgegenwart und auf Gottes Ewigkeit. Ich hatte unter Gottes Allmacht jene Eigenschaft des schöpferischen Geistes verstanden, die auf die Existenz des Ebenbildes Gottes zielt, für die sich Gottes dreieines Person-Sein im All des Seienden vergegenwärtigt. Wenn nun der endliche, der geschaffene Geist des Ebenbildes Gottes auf seinen notwendig synthetischen Wegen das All des Seienden zu erfahren, zu erforschen, zu erkennen sucht, so stößt er auf die sinnhafte Struktur, ohne die

55 Friedrich Schleiermacher, CG2 § 55 L (I, 289 = KGA I.13,1, 335).

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Gottes schöpferischer Geist

das ihm gegenwärtige All des Seienden jedenfalls nicht dieses wäre. Eignet ihm sinnhafte – und d. h.: erfahrbare, erforschbare, erkennbare – Struktur, so ist sie wohl als solche gedacht bzw. gewusst. Und zwar nicht etwa in der Weise des den Geschehnissen, den Regeln, den Erscheinungen nachdenkenden Denkens und Wissens, sondern vielmehr in der Weise des ursprünglichen, des entwerfenden, des imaginierenden Denkens und Wissens. Insofern ist das Wirklich-Sein und Wirklich-Werden des Seienden als solches für unser kommunikatives bzw. für unser interaktives Erfahren Geschehen kraft des schöpferischen Wortes Gottes (vgl. Gen 1,3; Joh 1,1-4; Röm 4,17).56 Unter der Allwissenheit Gottes im Sinne der schlechthinnigen Geistigkeit der göttlichen Allmacht verstehe ich nach alledem die zweite Bestimmung des göttlichen Sich-gegenwärtig-Seins. Kraft dieses Sich-gegenwärtig-Seins ist Gott für Gottes Ebenbild gegenwärtig im Medium der Regeln des Geschehens, unter denen Mögliches in Wirkliches bzw. in Verwirklichtes übergeht. Kraft dieses absoluten bzw. unbedingten Sich-gegenwärtig-Seins für Gottes Ebenbild ist allerdings auch umgekehrt das Medium der Regeln des Geschehens und dessen nachdenkende und nachahmende Betrachtung im leibhaften Person-Sein des Ebenbildes und in dessen Geschichte für Gott selbst gegenwärtig.57 Indem das gemeinsame menschliche Erfahren des Erfahrbaren ebenso wie das gemeinsame menschliche Gestalten des Gestaltbaren für Gott in Gottes Sich-gegenwärtig-Sein gegenwärtig ist und bleibt, umfasst Gottes Allwissenheit nicht nur das Geschehen von jenem radikalen, für

56 Vgl. Friedrich Schleiermacher, CG2 § 55,1 (I, 291 = KGA I.13,1, 338): „… so ist das göttliche Denken ganz dasselbe mit dem göttlichen Wollen, und Allmacht und Allwissenheit einerlei. Eben dieses wird auch, da in Gott kein Zwiespalt zwischen Wort und Gedanken stattfindet, ja der Ausdruck Wort selbst nur die Wirksamkeit des Gedankens nach außen hin bedeuten kann, in allen Formeln ausgesagt, welche das göttliche Wort als das schaffende und erhaltende darstellen; und es ist vollkommen richtig, was auch vielfältig ist gesagt worden, daß alles dadurch ist, daß Gott es spricht oder denkt.“ Mit der Anmerkung 5 verweist der Autor auf Hilarius von Poitiers (ca. 315–367) und auf Anselm von Canterbury. Er lässt es unerwähnt, dass diese Theologen sich dafür auf Augustin und dessen Konzeption des „inneren Wortes“ berufen, die nicht nur für Augustins Trinitätslehre maßgeblich ist (s. 1.5.3.3), sondern auch die christliche Rezeption der Ideenlehre Platons bündelt (vgl. zu dieser Philotheus Böhner/Étienne Gilson, Christliche Philosophie von ihren Anfängen bis Nikolaus von Cues, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 3 1954, bes. 21–149). – Eine detaillierte „philosophische“ Interpretation des endlichen Erkennens hat vorgelegt Karl Rahner, Geist in Welt. Zur Metaphysik der endlichen Erkenntnis bei Thomas von Aquin, jetzt in: Karl Rahner SW, Bd. 2, 1996. Freilich muss in die Konzeption des „inneren Wortes“ mit Rücksicht auf die astrophysikalische und auf die evolutionstheoretische Forschung einbezogen werden, dass das, was Gott „spricht oder denkt“, die Regeln des Geschehens sind, nach denen sich das Universum ins potentiell Unbegrenzte – jedoch nicht ins „Unendliche“ - dehnt und abkühlt! 57 Vgl. hierzu Eilert Herms, STh I (Bd. 1), 649: „Wir sind als geschaffene, innerweltlich-leibhafte Personen gar nicht anders real, als … für das ungeschaffen-schaffende Personsein gegenwärtige und damit ipso facto von ihm gewußte Personen.“

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

uns unvorstellbaren ursprünglichen Anfang dieses Universums her bis hier und jetzt, sondern auch das hier und jetzt erst mögliche zukünftige Geschehen: sie ist Präszienz.58 Es ist für die gesamte systematische Besinnung auf die Wahrheit des ChristusGlaubens von größter Wichtigkeit, sich im Zusammenhang der schöpferischen Eigenschaften Gottes just die Tragweite der Eigenschaft der Allwissenheit klar zu machen. Zwar suchen wir mit Hilfe dieses Terms zu explizieren, inwiefern das ontologische Grundverhältnis zwischen Gottes wahrhaft unendlichem Sein und dem All des Seienden das Moment des Intelligiblen in sich schließt; aber wir dürfen auch die Eigenschaft der Allwissenheit als den Grund dafür verstehen, dass das wahrhaft unendliche Person-Sein Gottes sich bestimmen und d. h. sich affizieren lässt von allem, was ihm gegenwärtig wird. Das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift bringt diesen Grund in mannigfacher Weise zur Sprache, indem es – scheinbar anthropomorph bzw. geradezu anthropopathisch – dem göttlichen Wesen die „Gestalt“ bzw. das „Angesicht“ zuschreibt, das im Gebet zu suchen ist59 ; oder indem es von Gottes „Gedenken“ spricht (vgl. Gen 8,1; 9,15; Ex 2,24; Ps 8,5; 25,6; 98,3; 105,8; Jes 65,17; Lk 1,72); oder indem es Gott die Kraft der Reue (vgl. Gen 6,6; Ps 106,45) oder gar des Zornes (vgl. Num 11,1; Ps 6,2; 90,7; Jes 9,11; 54,8; Hos 14,5; Röm 1,18; 5,9) zuerkennt.60 Alle diese Prädikationen entfalten das fromme Bewusstsein, dass dem göttlichen Wesen jene Innerlichkeit zu eigen ist, die sich bestimmen lässt vom Leben und vom Leid, vom Unrecht und von der Umkehr der geschaffenen Person. Es ist ihr univoker Kern, dem schaffenden Person-Sein Gottes jene kontinuierliche Wahrnehmung des Geschaffenen zuzutrauen, die in Gottes schöpferischer Allwissenheit verankert ist.

58 Vgl. hierzu Karl Barth, KD II/1, 629f. (unter Berufung auf Aurelius Augustinus, Conf. VII, 4; XIII, 38; De civitate Dei XI, 21, und besonders auf Franciscus Burmannus, Synopsis theologiae et speciatim oeconomiae foederum Dei ab initio saeculorum usque ad consummationem eorum, Amstelodami [1671] 1699 [vgl. zu diesem Aart de Groot, Art. Burmann 1. Frans: RGG4 1, 1894: „das dogmatische Handbuch der coccejanischen Schule“]). 59 Vgl. hierzu bes. Friedhelm Hartenstein, Das „Angesicht Gottes“ in Exodus 32–34, in: Matthias Köckert/Erhard Blum (Hg.), Gottes Volk am Sinai. Untersuchungen zu Ex 32–34 und Dtn 9–10), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2001 (VWGTh; 18), 157–183; Ders., Das Angesicht JHWHs. Studien zu seinem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32–34, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008 (FAT; 55). 60 Vgl. hierzu bes. Jörg Jeremias, Die Reue Gottes. Aspekte alttestamentlicher Gottesvorstellung, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2 1997 (BThSt; 31); Ralf Miggelbrink, Der Zorn Gottes. Geschichte und Aktualität einer ungeliebten biblischen Tradition, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 2000.

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Gottes schöpferischer Geist

2.3.3

Gottes Allgegenwart: Grund des Raums61

Dem Christus-Glauben – dem christlich-frommen Selbstbewusstsein der Person – ist es kraft der Erleuchtung des Heiligenden Geistes als wahr gewiss, dass uns im Lebenszeugnis des Christus Jesus bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha das innerliche Wesen des dreieinen Gottes begegnet – des Gottes, dessen schöpferischem Wort das All des Seienden und darin zuletzt die Gattung des Menschengeschlechts Existenz und Sinn verdankt (vgl. Joh 1,1-4.14). Im Christus-Glauben ist insofern das fromme Gefühl des Selbst-Seins stets vorausgesetzt und mit enthalten, dessen wesentliche Bezogenheit auf Gottes Für-uns-Sein vor und außerhalb der Kommunikation des Evangeliums mehr oder weniger verkannt und verachtet wird. Im Sinnraum und Verstehenshorizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft wird für den Christus-Glauben jenes Verdankt- und Gewährt-Sein meiner selbst für mich, für andere und für Gott explizit. Ich hatte bisher dies Verdankt- und Gewährt-Sein unter dem Aspekt der schöpferischen Allmacht Gottes und unter dem Aspekt der göttlichen Allwissenheit entfaltet. Ich hatte meine Aufmerksamkeit nicht nur auf die Relation der Existenzbegründung bloß als solche gerichtet; ich hatte vielmehr auch gezeigt, dass uns das All des Seienden und unser eigenes Selbst-Sein in ihm als sinnhaft strukturiert, als bestimmbar, als gelichtet erscheint. Indem wir Gott die schöpferischen Eigenschaften der Allmacht und der Allwissenheit zusprechen, sehen wir in Gottes schöpferischem Walten den Grund dafür, dass wir dazu befähigt und dazu bestimmt sind, etwas als etwas für uns in unserer jeweiligen sozio-kulturellen MitWelt sprachlich, logisch und dialektisch zu bezeichnen und in verantwortlicher Weise damit umzugehen. Nun sind uns alle Gegenstände der Lebens- und Erfahrungswelt und eben auch das je eigene Gefühl des Selbst-Seins nicht anders als in ihrer Räumlichkeit und Zeitlichkeit gegeben. Was immer wir im jeweiligen Moment unseres Uns-gegenwärtigSeins in Kommunikation und Interaktion mit anderen symbolisieren und organisieren, erscheint uns stets im Raum und in der Zeit. Die Existenz des Existierenden im Raum und in der Zeit ist eben die Bedingung, unter der es möglich ist, dass uns die Gegenstände der Lebens- und Erfahrungswelt in ihrem inneren sachlogischen Zusammenhang gegeben sind. Gegeben sind sie uns in der Weise des Werdens, des Sich-Entwickelns, des Prozedierens, das wir – wie schwerlich zu bestreiten ist –

61 Vgl. zum Folgenden bes.: Friedrich Schleiermacher, CG2 § 53 (I, 272–278 = KGA I.13,1, 317–324); Karl Barth, KD II/1, 518–551; Luco van den Brom, Art. Allgegenwart: RGG4 1, 314–315; Ders., Divine Presence in the World. A critical Analysis oft he Notion of Divine Omnipresence, Kampen, 1993; Andreas Hüttemann/Luco van den Brom, Art. Raum I.–III.: RGG4 7, 62–65; Wolfhart Pannenberg, STh II, 105–110; Jürgen Moltmann, Gott in der Schöpfung (wie Anm. 1), 153–166; Dirk Evers, Raum – Materie – Zeit (wie Anm. 24), 1. Kapitel: Raum (13–160); Eilert Herms, STh (Bd. 1), 641–648.

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in einem Richtungssinn erleben.62 Das eigene Wachsen, Reifen und Altern ist des Zeuge. Ich suche deshalb eine Antwort auf die Frage, wie wir – die wir ja im Gefühl des Selbst-Seins unser Sein im Raum und in der Zeit wahrnehmen – die Konstitution des Raumes und die Konstitution der Zeit verstehen können. Und ich beantworte diese Frage, indem ich Gottes Allgegenwart als den schöpferischen Grund des Raums und Gottes Ewigkeit als den schöpferischen Grund der Zeit betrachte. Wie komme ich dazu? Darstellungstechnische Motive machen es unvermeidlich, die ursprüngliche Einheit unseres Selbst-Seins in Raum und Zeit – d. h.: unser „Uns-gegenwärtigSein“ – der Reihe nach zu besprechen. Insofern ist der jetzige Abschnitt (2.3.3) im Vorblick auf den folgenden Abschnitt (2.3.4) zu lesen, wie jener folgende Abschnitt (2.3.4) im Rückblick auf den jetzigen Abschnitt (2.3.3) zu lesen ist. Erstens: Um Gottes Allgegenwart als schöpferischen Grund des Raums des Seienden zu betrachten, so wie er im Christus-Glauben explizit ernst genommen, geehrt und angebetet wird, gehe ich in einem ersten Schritt von unserem alltäglichen Erleben der Räumlichkeit des sinnhaft Existierenden aus. Prima vista ist uns die Räumlichkeit des sinnhaft Existierenden gegeben vermöge der Sinnlichkeit des eigenen geschlechtlich differenzierten Leibes. Sie lässt uns jeweils hier und jetzt die mannigfachen Gegenstände der Erfahrung wahrnehmen in einem Wahrnehmungsfeld, in welchem wir sie finden und aufmerksam verfolgen in ihrer jeweils räumlichen Situation, in die wir selbst in irgendeiner Weise verwickelt oder gar verstrickt sind. Der eigene Leib bindet uns im jeweiligen Moment der Lebensgegenwart an diesen oder an jenen Ort; und wenn wir uns von diesem oder von jenem Ort entfernen und uns an diesen oder an jenen anderen Ort annähern, bewegen wir uns in andere Wahrnehmungsfelder, in denen unserem bewussten Verstehen-Wollen und Gestalten-Wollen andere mannigfache Gegenstände der Erfahrung kopräsent werden. In welcher Situation auch immer zeigen sich uns die physischen bzw. die organischen Körpergestalten ebenso wie die personalen Gestalten der sozio-kulturellen Mit-Welt in den drei Dimensionen der Länge, der Breite und der Höhe (oder der Tiefe), in denen sie aneinandergrenzen. So kann es scheinen, als sei die Räumlichkeit des sinnhaft Existierenden selbst nichts Existierendes, sondern vielmehr identisch mit dessen jeweiliger Ausgedehntheit.63

62 Vgl. hierzu Dirk Evers/Martinez J. Hewlett/Emil Angehrn/Eilert Herms, Art. Teleologie I.–VI.: RGG4  8, 120–127. 63 Im Widerspruch gegen den antiken Atomismus, der die Leere postuliert, hatte Aristoteles die Kategorie des Ortes (d. h. des Hier- oder Dort-Seins einer Substanz) definiert durch die Grenzfläche eines eine Substanz umschließenden Körpers (vgl. Aristoteles, Kategorien, 4b [24f.]; 5a; Physik, IV,3; 210b [34ff.]). Im Rückblick darauf hatte René Descartes Raum und Materie identifiziert unter

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Gottes schöpferischer Geist

Allerdings würde diese Definition des Räumlichen unserem alltäglichen Erleben nicht vollständig gerecht. Unsere Lebensgegenwart, die wir mit der Lebensgegenwart der jeweils Andern teilen, spielt sich doch jeweils jetzt in sei es geschlossenen sei es offenen Räumen ab: in Wohnräumen, in Schulräumen, in Fabrikhallen, im Raum der Sitzung eines Parlaments64 , im Theater, im Konzertsaal und im gottesdienstlichen Raum einer Kirche. Und diese beispielhaft erwähnten Räume befinden sich ja ihrerseits im Raum eines Dorfes oder einer Stadt, eingebettet in eine landschaftliche Umgebung und durch Wege, Straßen, Schienen oder Flugverkehr vernetzt mit anderen Dörfern bzw. mit anderen Städten im Großraum eines Landes, das wiederum an den Großraum anderer Länder grenzt. Es wäre deshalb wohl zu kurz gegriffen, wenn wir mit dem Begriffswort „Raum“ im Sinne einer Ontologie der Substanz lediglich die Ausgedehntheit eines Körpers meinen würden; vielmehr ist ein Raum ein Feld bzw. eine Sphäre, in der sich alle unsere notwendigen privaten und öffentlichen Beziehungen unserer Lebens- und Bildungsgeschichte abspielen. In einem solchen Feld bzw. in einer solchen Sphäre erleben wir die Intimität einer Liebe und die Nähe einer Freundschaft ebenso wie die sachhaltige Kommunikation und Interaktion in den verschiedenen Bereichen einer Gesellschaft; in einem solchen Feld bzw. in einer solchen Sphäre sind wir allerdings auch verwickelt oder gar verstrickt in die Konflikte und in die Kämpfe, die in der Gesellschaft oder gar zwischen den Gesellschaften ausgetragen wurden und ausgetragen werden. Deswegen wecken Räume Emotionen: Gefühle des VertrautSeins und der Anmut, doch auch Gefühle des Erschreckens und Entsetzens.65 Sie sind stets auch Orte der Erinnerung und Orte der Erwartung. Sie sind mithin notwendige Bedingungen des Lebens des leibhaften Person-Seins und dessen Sichgegenwärtig-Seins – Bedingungen, deren Qualität sich keineswegs mit den Gesetzen sei es der euklidischen sei es der nicht-euklidischen Geometrie ermessen lässt. Nun finden wir die räumlichen Dimensionen eines Körpers sowie die Felder bzw. die Sphären unserer notwendigen privaten und sozialen Beziehungen auf der Kugelgestalt dieser Erde vor, die ihrerseits ihren astronomischen Ort im Jahreskreislauf um die Sonne und damit im interstellaren Raum unserer Galaxie einnimmt. Je mehr die Forschung in die ungeheure Weite und Tiefe dessen vordringt, was wir den Weltraum nennen, desto wichtiger wird die Antwort auf die Frage, in welchem Sinne wir in diesem Zusammenhang überhaupt den Begriff des Raums definie-

dem Gesichtspunkt der dreidimensionalen Ausdehnung (vgl. René Descartes, Die Prinzipien der Philosophie, II,4 [32f.]). 64 Das Deutsche kennt daher das transitive Verbum „anberaumen“. 65 Solches Erschrecken und Entsetzen wird insbesondere geweckt im Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“ zu Berlin. – Vgl. hierzu auch STh I, 214–228.

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ren. Auf diese Frage beziehe ich die Debatte, die Isaac Newtons onto-theologische Theorie des Raums initiierte.66 Newtons Physik hat Anteil an der Abkehr von der von Aristoteles inspirierten Theorie der Bewegung. An ihre Stelle tritt die klassische Dynamik, die das physische Phänomen der Kraft bzw. der Energie ernst nimmt. Ihr zufolge sind Bewegungen im Allgemeinen und Bewegungen der Himmelskörper im Besonderen zu erklären und zu berechnen als Wirkungen jener Gravitation, die feste physische Körper aufeinander ausüben. Weil Newton die Gravitation als eine nicht-materielle Kraft versteht, sieht er in ihr jene Form, in der Gottes schöpferischer Geist das Universum in allumfassender immensitas regiert. Mit dem Begriff des absoluten Raums sucht Newton wissenschaftliche Theorie in das Denken des schlechthin transzendenten Grundes einzufügen. Indem die klassische Physik nach Newton sich ihrerseits vom Denken des schlechthin transzendenten Grundes löst, wird dessen Deutung der Bewegung im absoluten Raum der göttlichen Gegenwart schlicht unplausibel; und zwar deshalb, weil sie nicht beobachtbar sei.67 Nun wurde die klassische Physik nach Newton ihrerseits dadurch tiefgreifend verändert, dass sie sich den Phänomenen flüssiger Kontinua und elektrischer bzw. magnetischer Erscheinungen und insbesondere dem Phänomen des Lichts zu-

66 Newton hatte seine mathematischen und physikalischen Entdeckungen veröffentlicht in dem Buch „Philosophiae naturalis principia mathematica“ (1687). Gestützt auf seine intensiven privaten theologischen Studien vertrat er ein unitarisches Verständnis Gottes und der Einheit der Werke Gottes, das ihn die Naturgesetze als die Form des göttlichen Waltens zu deuten lehrte. In diesen Kontext gehört Newtons Begriff des „absoluten Raums“ als des „sensorium Dei“. Newtons Schüler Samuel Clarke hat diesen Begriff gegen die Kritik von Gottfried Wilhelm Leibniz verteidigt mit dem Argument, der absolute Raum sei ungeteilt und unteilbar, weil er als solcher identisch sei mit der Unermesslichkeit („immensitas“) des göttlichen Wesens. Unter dem absoluten bzw. dem unendlichen Raum im Sinne Newtons ist keineswegs der unermesslich große bzw. der sich ausdehnende Behälter aller ausgedehnten Körpergestalten und ihrer Relationen zueinander zu verstehen, sondern die intelligible Form, in der allein räumlich Existierendes werden, sich bewegen und sich entwickeln kann. Vgl. zum Folgenden bes. Wolfhart Pannenberg, STh I, 446ff.; STh II, 99ff.; Stephen D. Snobelen, Art. Newton, Isaac: RGG4 , 275–276; Dirk Evers, Raum – Materie – Zeit (wie Anm. 24), 22–32. 67 Mit Wolfhart Pannenberg (STh II, 100 Anm. 203) ist daher zu urteilen, dass die Lehre vom consursus, soweit sie sich an der aristotelischen Theorie der Bewegung orientierte, jede Überzeugungskraft verlieren musste. – Zur Theologiegeschichte der Lehre vom concursus divinus vgl. Michael Plathow, Das Problem des concursus divinus. Das Zusammenwirken von göttlichem Schöpferwirken und geschöpflichem Eigenwirken in K. Barths „Kirchlicher Dogmatik“, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1976 (FSÖTh; 32), bes. 17–97. Allerdings geht Plathow weder in seinem theologiegeschichtlichen noch in seinem systematischen Teil (177–204) auf den grundlegenden Wandel im Verständnis der Bewegung fester Körper ein, den Newtons Theorie der Gravitation eröffnete. Eine systematische Besinnung auf die „Gewißheit des concursus divinus“ (182–204) ohne Rücksicht auf die physikalische bzw. auf die astrophysikalische Deutung der Relativität aller Bewegungen im Kosmos scheint mir vor der Gefahr des Fideismus nicht gefeit zu sein.

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wandte.68 Die wichtigen Impulse Michael Faradays aufnehmend hatte vor allem J. C. Maxwell eine vollständige Theorie des elektromagnetischen Feldes entwickelt. Nach Dirk Evers versteht man unter einem physikalischen Feld „eine räumlich ausgedehnte Mannigfaltigkeit, in der jedem Raumpunkt ein oder mehrere Werte (Feldgrößen) zugewiesen werden, die Funktionen der Raumkoordinaten und der Zeit sind.“69 Albert Einstein hatte diese klassische Feldtheorie zum Ausgangspunkt dafür genommen, das Verhältnis von Feld und Körper überhaupt neu zu bestimmen, indem er „alles physikalisch Reale als Zustand des kontinuierlichen Raum-Zeit-Feldes“70 zu verstehen suchte. Seine spezielle und seine allgemeine Theorie der Relativität rechnet mit den Relativbewegungen von Bezugssystemen; und indem er diese Relativbewegungen verknüpft mit der Ausbreitung bzw. mit der Ausdehnung des Universums in konstanter Lichtgeschwindigkeit, gelangt er zu dem Grundsatz der gekrümmten Raum-Zeit.71 Nach der Darstellung von Dirk Evers hat Einstein damit Newtons Idee des absoluten Raums endgültig aus dem Wissensstand der physikalischen Kosmologie ausgeschieden. Mit den Termen „Raum“ und „Zeit“ können wir nach dieser Theorie nichts objektiv Reales bezeichnen; es ist vielmehr das Gravitationsfeld der schweren und der trägen Massen, welches die Gesamtstruktur des Raum-Zeit-Kontinuums erzeugt, in dem sich nicht zuletzt auch diese unsere Erde in ihrem Umlauf um die Sonne in dieser unserer Galaxie befindet: „Nur die Einheit von Raum, Zeit und Materie hat einen physikalischen Sinn und ist als Feld darstellbar.“72 Bezeichnen die Termen „Raum“ und „Zeit“ jedenfalls im physikalischen Sinn nichts objektiv Reales, so fragt es sich, was denn die Aussage bedeute, die Gesamtstruktur des Raum-Zeit-Kontinuums werde vom Gravitationsfeld der schweren und der trägen Massen erzeugt. Auf diese Frage gibt Evers die Antwort, der Raum des Kosmos sei die „Möglichkeitsbedingung von wechselwirkendem Nebeneinandersein der materiellen Objekte in vielfältigen Konfigurationsmöglichkeiten.“73 Diese Antwort erinnert ganz bewusst daran, wie Immanuel Kant in der „Kritik der

68 Vgl. zum Folgenden bes. Dirk Evers, Art. Feldtheorie I. II.: RGG4 3, 61–62. – Im Folgenden stütze ich mich auf die luzide Darstellung von Dirk Evers, Raum – Materie – Zeit (wie Anm. 24), bes. 54–71. 69 Vgl. Dirk Evers (wie Anm. 24), 61. 70 Vgl. Dirk Evers (wie Anm. 24), 61, mit dem Fazit: „Dieses Programm gilt als gescheitert.“. Auf den metaphysischen Hintergrund der Theorie Albert Einsteins, nämlich auf den Pantheismus Baruch de Spinozas, macht aufmerksam Wolfhart Pannenberg, STh II, 103. – Zur sog. „Quantenfeldtheorie“ vgl. die Hinweise von Dirk Evers, 62. 71 Der erste empirische Hinweis auf die Expansion des Weltalls ist dem Astronomen Edwin Hubble zu verdanken, der die Verschiebung der Spektren des Lichts ins Rote beobachtete und daraus die Abhängigkeit der Rotverschiebung von der Entfernung der Galaxien erschloss. 72 Dirk Evers, Raum – Materie – Zeit (wie Anm. 24), 67. 73 Wie Anm. 24, 112.

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reinen Vernunft“ – natürlich vor den Ansätzen der klassischen Theorie des Feldes – den Begriff des Raums zu fassen sucht. Dieser Fassung wende ich mich jetzt zu. Zweitens: Immanuel Kant hatte in der „Transzendentalen Ästhetik“ der „Kritik der reinen Vernunft“ vorgeschlagen, zwischen der empirischen Realität und der transzendentalen Idealität des Raums zu unterscheiden.74 Orientiert am Verfahren der euklidischen Geometrie definiert Kant, der Raum sei „nichts anderes als die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d. i. die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist“ (B 42). Weil „äußere Sinne“ sich auf „äußere Gegenstände (verstehe: auf Gegenstände in der Umwelt des Subjekts)“ beziehen, bezeichnet das Begriffswort Raum tatsächlich die „Realität (d. i. die objektive Gültigkeit)“ des räumlich nebeneinander bzw. miteinander Gegebenen (B 44). Hingegen wäre es nach Kant ein Trugschluss, im Sinn der klassischen Mechanik von jener Bedingung abzusehen, unter der allein jedenfalls das endliche Vernunftwesen zur Anschauung des räumlich nebeneinander bzw. miteinander Gegebenen gelangt. Diese Bedingung ist die apriorische bzw. die reine Anschauung des Gemüts (B 42), welche das räumlich nebeneinander bzw. miteinander Gegebene als solches konstituiert. Nun ist die Art und Weise, in der Kant die Konstitution des Raumes versteht, in zweierlei Hinsicht überaus problematisch. Zum einen setzt die Kant‘sche Erörterung den Gegensatz zwischen dem Ansich-Sein der Gegenstände möglicher Erfahrung und ihrem Erscheinen im Licht der transzendentalen Verfassung des Subjekts voraus. Zwar achtet Kant mit dieser Voraussetzung darauf, dass alle unsere gegenwärtige Erfahrung Erfahrung eines jetzigen Hier und d. h. Erfahrung unseres jetzigen Im-Raume-Seins ist; aber er verneint den fundamentalen Sachverhalt, dass unsere Erfahrung eines jetzigen Hier Erfahrung eines physisch Realen ist, über das sich im Diskurs der Forschung sehr wohl sachhaltige und bis auf Weiteres valide Aussagen machen lassen.75 Von einem Gegensatz zwischen dem unerfahrbaren An-sich-Sein der Gegenstände möglicher Erfahrung und ihrem Erscheinen kann keine vernünftige Rede sein. Zum andern aber bewegt sich Kants Erörterung im Bann der „transzendentalen Dialektik“, die auf die „Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft“ (B 659–670) hinausläuft. Diese Kritik behauptet, dass zusammen mit den anderen schöpferischen Eigenschaften auch der Begriff der Allgegenwart

74 Vgl. zum Folgenden Immanuel Kant, KrV B 37–45 (Der transzendentalen Ästhetik Erster Abschnitt: Von dem Raume). Nachweise aus diesem Werk sind im Text notiert. Zusammen mit dem folgenden „Zweiten Abschnitt“ entwirft Kant hier eine transzendentale Theorie der Rezeptivität. Vgl. 2.3.4. 75 Das zeigen nicht zuletzt die Verfahren der Messung und der mathematischen Berechnung in der relativistischen Physik.

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Gottes schöpferischer Geist

des göttlichen Wesens lediglich als „transzendentales Prädikat“ (B 670) zu verstehen sei; und zwar deshalb, weil der Begriff des höchsten Wesens in theoretischer Hinsicht nur „ein bloßes, aber doch fehlerfreies Ideal“ (B 669) des menschlichen Erkennen-Wollens bezeichne. Diese Begründung lebt von Kants Anspruch, mit dem Verfahren des ontologischen Beweises auch den ontologischen Begriff des göttlichen Wesens widerlegt zu haben – von einem Anspruch also, den ich aus gutem Grund zurückgewiesen hatte (s. 1.4). Kants „Kritik der reinen Vernunft“ ist ebenso wenig wie die „Kritik der praktischen Vernunft“ gegenüber dem Einwand gefeit, sie rechne mit der Autopoiesis des Universums. Im Lichte dieser meiner Meta-Kritik dürfte es nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll und geboten sein zu zeigen, in welcher Weise das im Christus-Glauben explizit vorausgesetzte und mit enthaltene Gefühl des Geschaffen-Werdens und Geschaffen-Seins der schöpferischen Allgegenwart des göttlichen Wesens inne ist. Es – dieses Gefühl – ist der schöpferischen Allgegenwart des göttlichen Wesens inne, indem es ausgeht von der Erfahrung unseres jeweils jetzigen Im-Raume-Seins. In dieser Erfahrung wird uns klar, dass das Begriffswort Raum eine kontingent gewährte Bedingung des Im-Werden-Seins des Universums bezeichnet, ohne die auch wir nicht existieren und nicht koexistieren würden.76 In der alltäglichen Erfahrung sind wir mit unserem jeweils jetzigen Im-RaumeSein vertraut. Freilich würden wir dies jeweils jetzige Im-Raume-Sein erheblich verkürzen, wenn wir es lediglich durch die Beziehung der „äußeren Sinne“ auf „äußere Gegenstände“ erläutern würden. Unser Im-Raume-Sein ist nicht etwa nur beschränkt auf alle die rezeptiven Empfindungen, die uns in einem jetzigen Hier lokalisieren; es ist vielmehr auch als das Medium zu denken, in dem wir uns in spontaner selbstbewusst-freier Weise bewegen, um auf dem Boden dieser

76 Im Folgenden gehe ich aus von Schleiermachers Leitsatz zu § 53: „Unter der Allgegenwart Gottes verstehen wir die mit allem Räumlichen auch den Raum selbst bedingende schlechthin raumlose Ursächlichkeit Gottes.“ (Friedrich Schleiermacher, CG2 § 53 L [I, 272 = KGA I.13,1, 317]). Obgleich die Ausführung dieses Leitsatzes unbefriedigend ist, regt sie dazu an, unter dem Begriffswort „Raum“ im Unterschied zu Newton und zu dessen Schülern nicht den „absoluten Raum“ zu verstehen, sondern die durch Gottes allumfassendes Sich-gegenwärtig-Sein geschaffene und kontinuierlich erhaltene allerallgemeinste, kategoriale Bedingung alles sinnhaft Existierenden als Räumlichen. Insofern leuchtet es auch ein, das ontologische Grundverhältnis zwischen Gottes transzendentem Sein und dem All des Seienden und Werdenden als Grundverhältnis zwischen Gottes schlechthin „raumloser Ursächlichkeit“ und dem geschaffenen und kontinuierlich erhaltenen Raum alles Räumlichen zu begreifen. Kraft dieses Grundverhältnisses und in diesem Grundverhältnis ist der Raum alles Räumlichen tatsächlich relativ. – Im Übrigen verbirgt sich hinter dem Term „schlechthin raumlose Ursächlichkeit Gottes“ stillschweigend die Abkehr von jener „Lokalisierung“ des göttlichen Wesens im „Himmel“, die nicht nur die biblische Redeweise, sondern auch die Kosmologie der aristotelischen Wissenschaft bestimmt und kraft der Autorität des Philosophen Eingang fand in das Weltbild der Scholastik und der reformierten Reformation.

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Erde in ihrem Umlauf um die Sonne in dieser unserer Galaxie mit anderen zu kommunizieren und zu interagieren. Indem wir uns selbst unmittelbar gegenwärtig sind, sind wir uns unseres Im-Raume-Seins als Medium menschlicher Gemeinschaft – allerdings auch als Medium der menschlichen Konflikte und der geschichtlichen Krisen und Katastrophen – bewusst. Diese alltägliche Erfahrung wird nicht dadurch umgestoßen, dass physikalische und astrophysikalische Forschung bis hin zur Relativitäts- bzw. zur Quantenfeldtheorie das Verstehen des physisch Realen enorm intensiviert. Wenn sie die Wechselwirkung zwischen Materie und Strahlung untersucht, so untersucht sie jedenfalls die allerallgemeinsten kosmischen Bedingungen, unter denen das All des Seienden bis hin zur Erscheinung des homo sapiens auf dieser Erde ermöglicht und faktisch notwendig wird. Sie untersucht mithin die allerallgemeinsten kosmischen Bedingungen, ohne die es Seiendes als Räumliches und letzten Endes als das Medium menschlicher Gemeinschaft nicht geben würde. Sie gibt insofern dem Begriff der empirischen Realität des Räumlichen, so wie Kant ihn denken wollte, einen Inhalt, der die Vorstellungskraft übersteigt. Ich sagte, das Begriffswort „Raum“ bezeichne eine kontingent gewährte – und deshalb nur faktisch notwendige – Bedingung des Im-Werden-Seins des Universums, das sich gemäß dem astrophysikalischen Forschungsstand mit Lichtgeschwindigkeit ausdehnt.77 Ist diese Bedingung nicht unendlich, so ist sie als solche die geschaffene und dauernde Bedingung, ohne die es weder die Ausdehnung des Universums noch die Wechselwirkung zwischen Materie und Strahlung noch das Entstehen und Vergehen fester räumlich umschriebener Körper geben würde. Deshalb hat es seinen guten Sinn, die Konstitution dieser Bedingung und deren Dauern als jene transzendente Idealität zu denken, kraft derer Gottes schöpferischer Geist das All des Seienden ermöglicht und verwirklicht. Sie ist der Inhalt des Begriffs der göttlichen Allgegenwart. Um nun den Inhalt des Begriffs der göttlichen Allgegenwart annähernd zu erfassen, gehen wir aus von den Bestimmungen der Lehre vom christlichen Glauben an Gott (s. 1.5.3.3). Ihnen zufolge dürfen wir das göttliche Wesen als das wahrhaft unendliche Sich-gegenwärtig-Sein verstehen, kraft dessen Gottes Einzigkeit als das dreieine Person-Sein Gottes des Vaters, Gottes des Sohnes bzw. des Wortes oder der Weisheit und Gottes des Heiligen Geistes lebendig ist. In diesem dreieinen Person-Sein bestimmt sich Gottes Einzigkeit zum ontologischen Grundverhältnis zwischen sich selbst und dem All des Seienden, in welchem Gottes Ebenbild erscheint. 77 Vgl. hierzu den Bericht von Jan Hattenbach, Funkeln in den Tiefen des Weltalls (F.A.Z. vom 11.04.2018 [Nr. 84], S. N2). Der Autor referiert die Entdeckung eines Sterns in einer rund neun Milliarden Lichtjahre entfernten Galaxie mittels des Weltraumteleskops Hubble, und zwar auf der Basis des von Albert Einstein vorhergesagten „Gravitationslinseneffekts“.

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Gottes schöpferischer Geist

Gottes Allgegenwart verstehe ich daher als einen besonderen Aspekt des ontologischen Grundverhältnisses zwischen Sein und Seiendem; und zwar als jenen Aspekt, der den Raum konstituiert, innerhalb dessen Seiendes sich als Räumliches in potentiell unbegrenzter Weise ausdehnt, entwickelt, differenziert und multipliziert. Gottes Allgegenwart konstituiert zusammen mit den anderen schöpferischen Eigenschaften der Allmacht, der Allwissenheit und der Ewigkeit speziell den Raum kraft jenes intuitus originarius, der ihn als eine der universalen Kategorien des Seienden als Seienden sein und dauern lässt. Uns Menschen ist es kraft unseres Uns-gegenwärtig-Seins sowohl gegeben als auch aufgegeben, den Raum des Räumlichen als jene kategoriale Bedingung zu anerkennen und zu ehren, in der das göttliche Wesen kraft seines Sich-gegenwärtig-Seins auch uns im All des Seienden gegenwärtig sein und werden wird.78 2.3.4

Gottes Ewigkeit: Grund der Zeit79

Dem Christus-Glauben – dem christlich-frommen Selbstbewusstsein der Person – ist im Sinnraum und im Verstehenshorizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft

78 Vgl. Wolfhart Pannenberg, STh II, 109f. – Ich decodiere den Begriff der schöpferischen Eigenschaft „Allgegenwart“ mithin in anderer Weise als Dirk Evers, Raum – Materie – Zeit (wie Anm. 24), 114–160; bes. 152–160. Angeregt von Jürgen Moltmann und von Eberhard Jüngel spricht Evers von dem „Akt der schöpferischen Selbstbegrenzung Gottes“, mit der sich Gott „als das Gegenüber der Raumzeit der Schöpfung selbst bestimmt“. Die schöpferische Selbstbegrenzung Gottes etabliere einen „die Raumzeit des Kosmos übergreifenden Identifikationszusammenhang“, kraft derer Gott „in einem Akt ursprünglichen Anfangens etwas anderem Raum und Zeit gewährt.“ (153). Diese Deutung scheint mir nicht nur nicht vermittelt mit der exzellenten Darstellung der Theorie des Raumzeit-Kontinuums; sie weicht auch vor dem Gedanken zurück, dass Gottes schöpferischer Geist dem All des Seienden gegenwärtig ist und bleiben will, indem er den Raum als die notwendige Bedingung aller räumlichen bzw. aller raumzeitlichen Relationen dauerhaft konstituiert. Insofern verstehe ich unter Gottes Allgegenwart jenes wirksame wenn auch unsichtbare (Röm 1,20!) und deshalb nur verstehbare Präsent-Sein, kraft dessen wir – als „Geist in Welt“, mit Karl Rahner zu reden (s. o. Anm. 56) – das Werden des physischen Raumzeit-Kontinuums erforschen können. Die Rede vom „Gegenüber“ bleibt hinter dem wirksamen, dem unsichtbaren, dem verstehbaren Präsent-Sein des göttlichen Wesens zurück. 79 Vgl. zum Folgenden bes.: Friedrich Schleiermacher, CG2 § 52 (I, 267–271 [KGA I.13,1, 312–317]); hierzu bes. Michael Trowitzsch, Zeit zur Ewigkeit. Beiträge zum Zeitverständnis in der „Glaubenslehre“ Schleiermachers, München: Chr. Kaiser Verlag, 1976 [BevTh; 75]); Karl Barth, KD III/1, 72–82; KD III/2, § 47, 524–780: Der Mensch in seiner Zeit; Gerhard Ebeling, Zeit und Wort, jetzt in: Ders., Wort und Glaube. Zweiter Band, Tübingen: Mohr Siebeck, 1969, 121–137; Jürgen Moltmann, Gott in der Schöpfung (wie Anm. 1), 116–150; Karl Hinrich Manzke, Ewigkeit und Zeitlichkeit. Aspekte für eine theologische Deutung der Zeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1992 (FSÖTh; 63); Eilert Herms, Art. Zeit V. Systematisch-theologisch: TRE 36, 533–551 (Lit.); Knud E. Løgstrup, Schöpfung und Vernichtung. Religionsphilosophische Betrachtungen. Metaphysik IV, Tübingen: Mohr, 1990, bes. 5–56.

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Gottes Schöpfer-Sein und damit das Geschaffen-Werden und Geschaffen-Sein des Alls des Seienden explizit erschlossen. Was in der Religionsgeschichte der Schöpfungsmythen und was in der philosophischen Theologie seit ihrem Ursprung in der Vorsokratik über das ontologische Grundverhältnis zwischen Sein und Seiendem mehr oder weniger deutlich angesprochen wird, das wird im ChristusGlauben als das schöpferische Walten des göttlichen Geistes gefeiert und geehrt, das uns das Dasein des leibhaften Person-Seins in einer Welt im Werden dauerhaft gewährt. Dass radikales Grundvertrauen auf Gottes schöpferisches Walten mit aller wohlverstandenen Wissenschaft der Kosmologie und Anthropologie als einem Werk des Menschen kompatibel ist, ist immer wieder grundsätzlich zu betonen. Denn diesem Werk des Menschen ist zu erkennen vorgegeben, was durch Gottes schöpferisches Walten in raumzeitlicher Verfassung existiert.80 Ich hatte Gottes schöpferisches Walten bisher im Hinblick auf die schöpferischen Eigenschaften der Allmacht, der Allwissenheit und der Allgegenwart des göttlichen Wesens betrachtet. Ich hatte diese Eigenschaften als Aspekte des schöpferischen Grundes dafür bedacht, dass es für unsere Erfahrung den Inbegriff des Existierenden gibt, das uns als verstehbar, als bestimmbar, als gelichtet vorgegeben ist und das sich uns nicht anders als in dem vierdimensionalen Kontinuum der Raumzeit zeigt. Ich hatte so die allerallgemeinsten Bedingungen dafür erörtert, dass das Geschehen der Welt und das Geschehen in der Welt ermöglicht und verwirklicht wird – jene Bedingungen also, unter denen wir auch das eigene leibhafte Person-Sein erleben und gestalten. Sind diese allerallgemeinsten Bedingungen gewollt, so gründen sie in jener transzendenten Idealität, in der das göttliche Sich-gegenwärtig-Sein sich für uns und alle Wesen unseresgleichen manifestiert. Nun erleben wir den Inbegriff des Existierenden, dessen jeweilige Bestimmtheit wir im jeweiligen Punkt im Ganzen des unbegrenzten Raum-Zeit-Kontinuums verantwortlich zu symbolisieren und zu organisieren haben, nicht anders als in unserem Uns-gegenwärtig-Sein und so in unserer Zeitlichkeit. Wir suchen deshalb eine Antwort auf die Frage, wie wir in unserer Zeiterfahrung die Zeit des unbegrenzten

80 Wenn man – wie Ulrich Barth – die systematische Beschreibung des frommen Selbstbewusstseins, wie es im Christus-Glauben stets vorausgesetzt und mitenthalten ist, als bloße „Endlichkeitsreflexion“ im Gegensatz zur „Welterklärung“ fasst, bestreitet man auf selbstwidersprüchliche Weise, dass es im Prozess des Weltgeschehens Wesen gebe, die der „Endlichkeitsreflexion“ fähig und bedürftig sind; vgl. Ulrich Barth, Abschied von der Kosmologie. Welterklärung und religiöse Endlichkeitsreflexion, jetzt in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen: Mohr Siebeck, 2003, 401–426. – Diese Fassung, die im Übrigen auch der komplexen systematischen Besinnung Schleiermachers nicht gerecht wird, wird überzeugend zurückgewiesen und entkräftet von Gesche Linde, Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube. Doch kein „Abschied von der Kosmologie“?, in: Markus Kleinert und Heiko Schulz (Hg.), Natur, Religion, Wissenschaft. Beiträge zur Religionsphilosophie Hermann Deusers, Tübingen: Mohr Siebeck, 2017 (RPT; 91), 185–261.

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Gottes schöpferischer Geist

Raum-Zeit-Kontinuums der Welt verstehen können. Ich werde diese Frage beantworten, indem ich Gottes Ewigkeit als schöpferischen Grund und Ursprung aller zeitlichen Erfahrung bestimme, wie dies das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift sowie die Überlieferung der Glaubenslehre tun (vgl. Ex 15,18; Ps 45,7; 93,2; 145,13; Röm 1,20; 16,26). Im Übrigen sei nicht vergessen, in welcher Weise das biblische Zeugnis von Gottes schöpferischer Ewigkeit mit philosophischer Betrachtung des ontologischen Verhältnisses von Ewigkeit und Zeit konvergiert, auch wenn es sich ganz unverkennbar von ihr unterscheidet.81 2.3.4.1

Die Erfahrung der Zeit82

Wie ich für meine Interpretation der schöpferischen Allgegenwart vom alltäglichen Erleben der Räumlichkeit des Existierenden ausging, so gehe ich im Folgenden für meine Interpretation der schöpferischen Ewigkeit von unserem alltäglichen Erleben der Zeitlichkeit des Existierenden aus.83 Beide Aspekte des alltäglichen Erlebens sind darin verschränkt, dass weder das Begriffswort „Zeit“ noch das Begriffswort „Raum“ einen einzelnen Gegenstand bzw. eine Klasse von Gegenständen der Erfahrung in der Einheit der Erfahrungswelt bezeichnet. Worauf referiert dann das Begriffswort „Zeit“? Und wie ist uns gegeben und erschlossen, was wir mit dem Begriffswort „Zeit“ benennen? Die angemessene Beantwortung dieser Frage hat deshalb so besonderes Gewicht, weil sie die Basis bildet für die Art und Weise, in der wir das Phänomen Geschichte zu verstehen suchen. Sie führt daher aus gutem Grund hinüber zur systematischen Besinnung auf die Entfremdung der von Gott geschaffenen und erhaltenen Autonomie der leibhaften Person und auf den gottgestifteten Weg ihrer Überwindung im Christus Jesus durch den Geist der Wahrheit. Nun ist die systematische Besinnung auf Gottes Ewigkeit als Grund der Zeit besonders anspruchsvoll. Zwar ist es offensichtlich, dass wir Menschen alle im unmittelbaren Uns-gegenwärtig-Sein Zeit erleben und dass wir alles sprachliche Kommunizieren, alles praktische Interagieren und alles ästhetische Darstellen

81 Zur philosophischen Betrachtung des ontologischen Verhältnisses von Ewigkeit und Zeit vgl. bes. die exzellente Abhandlung von Walter Mesch, Reflektierte Gegenwart. Eine Studie über Zeit und Ewigkeit bei Platon, Aristoteles, Plotin und Augustinus, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 2003 (Phil. Abhandlungen; 86), sowie die Hinweise bei Walter Mesch, Art. Zeit/Zeitvorstellungen IV. Philosophisch: RGG4 8, 1808–1810. 82 Im Folgenden ergänze ich die Darstellung der „Struktur des Erfahrens“, die ich vorgelegt habe in: STh I, 189–257. 83 Ich beherzige also die These von Thomas von Aquino, STh I q 10 a 1c: „in cognitionem aeternitatis oportet nos venire per tempus.“ („Es kann nicht anders sein, als dass wir durch unsere Zeiterfahrung zur Erkenntnis der Ewigkeit gelangen.“ [meine Übersetzung]).

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notwendigerweise zeitlich koordinieren84 ; doch die Geschichte des theoretischen Verstehen-Wollens dessen, worauf das sprachliche Zeichen „Zeit“ referiert, ist außerordentlich komplex. Es wird uns deshalb dann und nur dann möglich sein, mit Thomas von Aquino zur Erkenntnis der Ewigkeit zu gelangen, wenn wir das Phänomen genau genug erfassen, das wir mit dem Begriffswort „Zeit“ tatsächlich intendieren. Worin besteht die Komplexität der Beiträge zum Verstehen-Wollen des Phänomens der Zeit? Sehr grob und zugespitzt gesagt besteht sie in dem Miss- bzw. in dem Unverhältnis zwischen der Untersuchung der Zeit als der zu messenden bzw. zu berechnenden Zeit und der Beschreibung der erlebten Zeit bzw. des personalen Zeitbewusstseins oder Zeitgefühls. Für das antike Philosophieren bezeichnet das Begriffswort „Zeit“ (χρόνος) einen Sachverhalt, der gar nicht anders zu erfassen ist denn in der Aufmerksamkeit auf die Bewegung und auf deren zahlhafte Bestimmung. Indem das Phänomen der Zeit stets verbunden wird mit der Betrachtung und mit der Berechnung der Planeten und des Fixsternhimmels, sind die Theorien der Zeit, wie sie zumal von Platon und von Aristoteles entwickelt werden, nie ohne kosmologischen Zusammenhang. Diesen kosmologischen Zusammenhang hat die relativistische Physik auf eine früher unvorstellbare Weise in ihrer Theorie der Entstehung und der Expansion des Universums exakt erforscht. Sie scheint nun freilich davon abzusehen, dass alle ihre Fragen, Experimente, Schlüsse und Hypothesen sich ereignen in der Lebenszeit des Forschers und unter der Bedingung seines unmittelbaren Sich-gegenwärtigSeins; vor allem scheint sie davon abzusehen, dass unsere Erfahrung der Zeit stets die Erfahrung der „Zeit für“ und der „Zeit zu“ einschließt, die sich als Zeit des Gesprächs, als Zeit der Entscheidung und als Zeit der Handlung, allerdings auch als Zeit des Leidens, der Entfremdung und des Sterbens denken lässt. Im Gegenzug zur Reduktion des Phänomens der Zeit auf die zu messende und zu berechnende Zeit sucht die Beschreibung der erlebten Zeit die spezifische Zeitlichkeit des Person-Seins zu erfassen, die ich mit Hilfe des Begriffs des unmittelbaren Sich-gegenwärtig-Seins bezeichne. Freilich hat die Beschreibung der erlebten Zeit der jeweils jetzigen Gegenwart – so wie sie jedenfalls von Henri Bergson, von Edmund Husserl und von Martin Heidegger gegeben wurde – ihrerseits das Phänomen der Zeit reduziert; sie hat nämlich grundsätzlich davon abgesehen, dass die erlebte Zeit der jetzigen Gegenwart nie anders zu erleben ist als im Zeitpunkt und im Zeitraum einer bestimmten Tages- oder Nachtzeit, einer bestimmten Jahreszeit

84 Einfachstes Beispiel: Auf die Frage: „Wann beginnt hier der Gottesdienst?“ mag die Antwort lauten: „Um 10 Uhr“. – Auf das Erfordernis der zeitlichen Koordination von Handlungen beschränkt sich eine soziologische Theorie wie die von Norbert Elias, Über die Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984, die freilich sowohl Realität als auch Idealität der Zeit einfach und ohne zureichende Begründung in Abrede stellt.

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Gottes schöpferischer Geist

und schließlich einer Phase unserer durch die Empfängnis, die Geburt und den Tod begrenzten irdischen Lebenszeit. Wenn die Erfahrung der Zeit die Bildungsgeschichte der Person ermöglicht und bedingt, ist sie doch faktisch eingebunden in das zeitliche Geschehen der Welt und in der Welt. Es kommt in dieser Konstellation nun alles darauf an, einen Weg zu finden, der das hier grob und zugespitzt geschilderte Miss- bzw. Unverhältnis zwischen zu messender bzw. zu berechnender Zeit und erlebter Zeit überwindet.85 Um dieses Zieles willen beginne ich damit, die Zeitlichkeit des menschlichen, d. h. des geschaffenen Person-Seins, mit Hilfe und im Lichte des Begriffs des unmittelbaren „Sich-gegenwärtig-Seins“ des Gegenwärtigen zu bestimmen. In einem ersten Schritt werde ich dies unmittelbare „Sich-gegenwärtig-Sein“ als diejenige Bedingung deutlich machen, unter der es möglich ist, das Messen und Berechnen der kosmischen Zeit zu leisten. In einem zweiten Schritt werde ich den transzendentalen Charakter des unmittelbaren „Sich-gegenwärtig-Seins“ entfalten und dessen Verhältnis zu vergangenem wie zu zukünftigem „Sich-gegenwärtig-Sein“ nachzeichnen. Ich komme damit zum Ergebnis, dass die Zeitlichkeit des menschlichen, d. h. des geschaffenen Person-Seins, vorrangig als Erwartung zukünftiger Gegenwart zu sehen ist. Darauf beziehe ich die Darlegung des Begriffs der Ewigkeit des schöpferischen Waltens Gottes, dessen Bedeutung namentlich gegen die transzendentalen Deutungen der Zeit bei Immanuel Kant und bei Martin Heidegger abzugrenzen ist. Erstens: Prima vista erleben wir Zeit im Dauern des Uns-gegenwärtig-Seins. Darunter verstehe ich das unmittelbare Zeitbewusstsein bzw. das unmittelbare Zeitgefühl, das wir des Näheren bestimmen können als das Bewusstsein bzw. als das Fühlen des Jetzt, in dem wir uns im jeweiligen Hier des leibhaft existierenden Person-Seins finden. Dieses Bewusstsein bzw. dieses Fühlen taucht keineswegs immer wieder auf von Augenblick zu Augenblick bzw. von Sekunde zu Sekunde; ihm eignet vielmehr eine gewiss begrenzte Dauer, die sich durch die verschiedenen Passionen und Aktionen des selbstbewusst-freien Daseins in allen seinen notwendigen Beziehungen

85 Es ist die Intention der exzellenten Abhandlung von Walter Mesch (wie Anm. 81), dieses Miss- bzw. Unverhältnis zu überwinden durch die Theorie der „reflektierten Gegenwart“, die ausdrücklich auf die Erkenntnis des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit und dessen ontologische Bestimmung aus ist. Mesch legt einen philosophischen Begriff der Ewigkeit dar, der sich des biblisch-christlichen Denkens der Ewigkeit Gottes dezidiert enthält. – Demgegenüber weichen die Beiträge in dem Band „Zeiterfahrung und Personalität“, hg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992 (stw; 986) vor dieser Intention zurück und leisten auf einen philosophischen Begriff der Ewigkeit stillschweigend Verzicht, so als habe es ihn im Philosophieren Platons, Aristoteles’ und Plotins nicht gegeben.

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erstreckt. Ich spreche deshalb vom primären Erleben von Zeit im Sinn des relativ begrenzten Dauerns des Uns-gegenwärtig-Seins.86 Mit dem Term des „Uns-gegenwärtig-Seins“ meine ich den elementaren Sachverhalt, dass wir uns gegenwärtig sind als Wesen, die sich jeweils jetzt zu etwas als etwas bestimmen oder bestimmen lassen bzw. die jeweils jetzt an einer schon gegebenen Bestimmung festhalten oder aber nicht festhalten. In diesem „Uns-gegenwärtigSein“ und kraft dieses „Uns-gegenwärtig-Seins“ ist uns jeweils jetzt gegenwärtig: Gegenwärtiges. Soll heißen: technische Dinge wie z. B. mein Laptop; Geschehnisse der natürlichen Umgebung wie z. B. der vom Wind bewegte Kirschbaum in meinem Garten und das Schlagen der Nachtigall; Szenen der privaten und der sozio-kulturellen Mit-Welt wie z. B. das Gespräch am Telefon mit meiner Freundin oder die Lektüre eines Buches über Zeit wie die des Buches XI der Confessiones Augustins; und das alles zu einer ganz bestimmten Tages- und Jahreszeit, die mir ihrerseits erwartbar und unverrückbar vorgegeben ist vom Umlauf dieser Erde um diese Sonne in dieser Galaxie und von ihrer Strahlung. Jede systematische Besinnung auf den Gegenstand des Begriffsworts „Zeit“ wird – wie diese meine Beispiele illustrieren – beginnen mit der Antwort auf die Frage, wie uns das Gegenwärtige in unserem und für unser „Uns-gegenwärtig-Sein“ gegeben ist. Wie diese meine Beispiele illustrieren, ist uns das Gegenwärtige gegeben als ein bestimmter und begrenzter Inbegriff von Geschehendem, der sich für unser reflektiertes bzw. für unser reflektierendes Selbstbewusstsein und für dessen synthetische Kraft zeigt. Was uns als Gegenwärtiges erscheint, erscheint uns in der Einheit unserer Erfahrungswelt. Es soll in seiner jeweiligen Eigen-Art in sprachlicher, in logischer, in dialektischer Form bezeichnet bzw. kommuniziert werden; es soll in seiner jeweiligen Eigen-Art in den privaten wie in den öffentlichen Beziehungen von Freiheit zu Freiheit praktisch gestaltet und verwaltet werden; und es soll schließlich in den Darstellungsformen der Kunst entdeckt und fantasiert werden. Zum Inbegriff bzw. zur Klasse dieser mannigfachen Gegenstände der Erfahrung gehört der Gegenstand des Begriffsworts „Zeit“ ganz offensichtlich nicht.87 86 Für diesen allerersten Gesichtspunkt erinnere ich an den Grundbegriff der durée in der Theorie der Zeit von Henri Bergson, den er dem Trend zur Quantifizierung der Zeit in den Wissenschaften von der Natur des Kosmos – allerdings in abstrakter Weise – entgegensetzte; vgl. Henri Bergson, Essai sur les données immediates de la conscience (1889), dt.: Zeit und Freiheit. Versuch über das dem Bewußtsein unmittelbar Gegebene, Hamburg: Meiner, 2016 (PhB; 632). 87 Für den folgenden Gedankengang verweise ich auf Eilert Herms, „Meine Zeit in Gottes Händen“, in: Konrad Stock (Hg.), Zeit und Schöpfung, Gütersloh: Chr.Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, 1997 (VWGTh; 12), 67–90; Ders., Art. Zeit V. Systematisch-theologisch (wie Anm. 79); Ders., STh (Bd. 1), 157; 648. – Dagegen ist der transzendentale Charakter des Zeitgefühls bzw. des Zeitbewusstseins gar nicht beachtet worden von Christian Link, Gott und die Zeit. Theologische Zugänge zum Zeitproblem, in: Konrad Stock (Hg.), Zeit und Schöpfung, 41–66, weshalb denn auch die aristotelische Definition

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Gottes schöpferischer Geist

Nun haben meine Beispiele für Gegenwärtiges einen fundamentalen Sachverhalt ausgeklammert, welchen der seinsvergessene Menschenverstand gern übersieht und der doch für die systematische Besinnung auf den Gegenstand des Begriffsworts „Zeit“ von ausschlaggebender Bedeutung ist. Ich hatte diesen fundamentalen Sachverhalt in meiner Darstellung des schöpferischen Waltens Gottes konsequent beachtet und mich dafür berufen auf die modalen Bestimmungen des Notwendigen, des Möglichen, des Wirklichen und des Kontingenten im Rahmen der Lehre vom christlichen Glauben an Gott (s. 1.4). Er ist jetzt aufzugreifen. Was immer uns in unserem und für unser „Uns-gegenwärtig-Sein“ als Gegenwärtiges erscheint – ob als Geschehen bloß in der näheren natürlichen Umgebung dieser Erde oder ob als Geschehen in der Mit-Welt der privaten und der soziokulturellen Beziehungen der Person: stets ist es oder existiert es wirklich. Es ist oder es existiert mithin nicht schlechthin notwendigerweise. Es ist oder es existiert vielmehr nur faktisch notwendigerweise, weil und sofern es unter bestimmten Bedingungen ermöglicht und verwirklicht ist. Und ob es über das Hier und Jetzt hinaus, in dem es uns in unserem und für unser „Uns-gegenwärtig-Sein“ als Gegenwärtiges erscheint, auch dauern und auch bleiben wird, ist jedenfalls nichts schlechthin Notwendiges. Es wird vielmehr auch über das jetzige Hier und Jetzt hinaus nur dauern und bleiben, weil es und sofern es auch weiterhin unter bestimmten Bedingungen ermöglicht und verwirklicht ist. Ich hatte diese eigentümliche Seinsweise des Seienden bzw. des Existierenden als die Seinsweise des Kontingenten angesprochen. Es zeigt sich: Wenn uns in unserem und für unser „Uns-gegenwärtig-Sein“ Gegenwärtiges als Kontingentes gegenwärtig wird, so erscheint es uns in der Form des Übergehens. In unserem Uns-gegenwärtig-Sein erleben wir das Übergehen des schon realisierten bzw. des schon verwirklichten Möglichen in das noch nicht realisierte bzw. in das noch nicht verwirklichte Mögliche.88 Wobei dies Übergehen einerseits dem Inbegriff naturgesetzlich wirksamer Regeln und Prozesse und andererseits dem willentlichen Planen und Entscheiden der ihrer selbst bewussten Freiheit auf dem Boden und im Gefüge des Inbegriffs naturgesetzlich wirksamer Regeln und Prozesse unterliegt. Was uns in unserem und für unser „Uns-gegenwärtig-Sein“

der Zeit als „Zahl“ bzw. als „Maß“ der Bewegung so gut wie keine Rolle spielt. – Sie spielt übrigens auch keine Rolle in Karl Barths Betrachtungen zum Gegenstand des Wortes „Zeit“ bzw. insbesondere zum Verhältnis von „Gnadenzeit“ und „Schöpfungszeit“, die in Frage münden: „ob im letzten Grunde nicht umgekehrt die Schöpfungszeit als das Gegenbild der Gnadenzeit und also die Gnadenzeit als das eigentliche Urbild aller Zeit zu verstehen ist?“ (KD III/1, 82; Unterstreichung im Original gesperrt). 88 Ich sehe davon ab, dass dieses Übergehen einen sei es äußerst kurzen Zeitraum (wie z. B. den Zeitraum einer fotografischen Belichtung von 1/1000 sec.) sei es einen längeren Zeitraum (wie z. B. den Zeitraum des Erblühens einer Rose) in Anspruch nimmt.

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gegenwärtig ist, steht nicht still; es ist bzw. es existiert in Bewegungen bzw. in Intervallen von Bewegungen, die selbstverständlich auch zu messen und zu berechnen sind.89 Sind diese Bewegungen bzw. diese Intervalle von Bewegungen weder schlechthin notwendig noch unmöglich noch auf eine chaotische Weise zufällig, so sind sie offensichtlich gewusst, gewählt und d. h. gewollt. Verglichen mit den älteren Theorien und Techniken des Messens und des Berechnens kosmischer Zeit hat kosmologische Forschung neue und man darf wohl sagen revolutionäre Perspektiven eröffnet. Wie sich kosmische Zeit für die BeobachterPerspektive kosmologischer Forschung derzeit beschreiben lässt, referiere ich in der gebotenen Kürze nach Dirk Evers.90 Unter dem Begriff kosmischer Zeit ist jener Hintergrund zu verstehen, vor dem und innerhalb dessen sich alle Prozesse der materieerfüllten Welt abspielen. Sie gehen aus von jener Anfangssingularität, die nach dem derzeit meistgebrauchten Standardmodell umgangssprachlich „Urknall“ heißt. In diesem Anfangszustand beginnt jene dynamische Entwicklung, in der sich die Zusammenballungen von Materie ebenso wie die energetischen Ungleichgewichte bilden. Für sie nimmt kosmologische Forschung ein Zusammenspiel in Anspruch zwischen den Faktoren der Expansion des Kosmos in den materiefreien Raum, der gravitativen Wechselwirkung und der asymmetrischen Zustände, in denen sich Materie befindet. Dieses Zusammenspiel macht jene thermodynamischen Ungleichgewichte möglich und wirklich, in denen feste Strukturen bzw. komplexe Systeme hervorgerufen werden. Zu diesen festen Strukturen bzw. zu diesen komplexen Systemen gehört auch die Struktur bzw. das System, das wir als organische und biotische Materie und d. h. als Leben kennen. Kosmische Zeit ist mithin die reale Zeit der Ausdehnung des Raums unbegrenzt vieler Geschehnisse und Erscheinungen, in denen unableitbar und unvorherbestimmbar Neues sich entwickelt. Sie wird als solche auch gemessen und berechnet am Standpunkt des Beobachters, der kraft seines inneren Zeitbewusstseins in gegenwärtiger Gegenwart auch seine eigene reale Zeit im Ganzen der realen Zeit

89 Aristoteles hat daher – kritisch gegen Platons Theorie der Zeit – unter der Zeit die „Zahl“ bzw. das „Maß der Bewegung nach früher und später“ (Physik IV, 11) verstanden, wobei er „Zahl“ nicht im arithmetischen Sinne der abstrakten Zahlenreihe, sondern im astronomischen Sinne der Zeitmaße der Planetenbewegungen begreift (Physik IV,12). Vgl. hierzu Walter Mesch, Reflektierte Gegenwart (wie Anm. 81), 343–394. – Dieser Aspekt des Verstehens von Zeit ist durch die Theorie des RaumZeit-Kontinuums der relativistischen Physik und Astrophysik nicht etwa überholt, sondern vielmehr konkretisiert. Man beachte, dass Aristoteles die Zeit als Maß der Bewegung nicht als ein pures Faktum hinstellt, sondern ihr Real-Sein und ihr Kontinuum begründet sieht in der Ewigkeit des unbewegten Bewegenden (vgl. Metaphysik XI [1071b 12ff.]). 90 Vgl. zum Folgenden Dirk Evers, Raum – Materie – Zeit (wie Anm. 24), 342ff.; 347–360. Ferner Hermann Deuser, Ereigniszeit. Kosmologien philosophisch-theologisch, in: Ders., Religion: Kosmologie und Evolution. Sieben religionsphilosophische Essays, Tübingen: Mohr Siebeck, 2014, 21–51.

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Gottes schöpferischer Geist

der Ausdehnung des Raums zu messen und zu berechnen versteht. Womit wir Menschen alle wohlvertraut sind – nämlich mit dem Werden, dem Wachsen, dem Reifen, dem Altern und dem Sterben der eigenen wie der anderen Person –, erweist sich der Beobachtung als Signatur des Universums, die wir zurecht mit der Metapher Zeitpfeil ansprechen. Indem wir im „Uns-gegenwärtig-Sein“ die eigene Richtung auf zukünftige Gegenwart und zugleich die irreversible Richtung aller kosmischen Prozesse auf Kommendes hin wahrnehmen, stehen wir vor der Frage, ob – und wenn ja, in welcher Weise – sich Gottes Ewigkeit als Grund und Ziel der Zeit erschließt (s. 2.3.4.2). Zweitens: Die Aufgabe, den Gegenstand des Begriffsworts „Zeit“ in seiner Eigen-Art und d. h. in seinem Wesen zu verstehen, ist mit der eben vorgetragenen Beschreibung des „Uns-gegenwärtig-Seins“ des Gegenwärtigen noch keineswegs erledigt. Vielmehr achten wir jetzt darauf, dass das „Uns-gegenwärtig-Sein“ im Unterschied zum Inbegriff der Geschehnisse des Gegenwärtigen in ihrem Übergehen ein transzendentaler Sachverhalt ist.91 Er ist als solcher die Bedingung dafür, dass unserem „Uns-gegenwärtig-Sein“ der Inbegriff der Geschehnisse des Gegenwärtigen in ihrem Übergehen tatsächlich erscheinen kann. Und zwar deshalb, weil er das Allgemeine der Identität des leibhaften Person-Seins meint, die sich selbst in ihrer Zeit für etwas bzw. in ihrer Zeit zu etwas erlebt. Ich werde diesen transzendentalen Sachverhalt im Wege der Besinnung auf die sog. Zeitmodi der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft entwickeln, bevor ich meine Darstellung kritisch abgrenze von den Darstellungen der erlebten Zeit, wie sie im Rückgriff auf Augustinus vorgetragen wurden von Immanuel Kant und von Martin Heidegger. Bis hierher hatte ich mich darauf konzentriert, die Grundform des „Unsgegenwärtig-Seins“ des Gegenwärtigen zu untersuchen. Ich ließ mich dabei nicht beirren von der Differenz zwischen dem Gegenwärtigen des kosmischen Naturgeschehens bloß als solchem und dem Gegenwärtigen des geschichtlichen bzw. des sozio-kulturellen Geschehens, so wie es eingebunden ist ins Gegenwärtige des kosmischen Naturgeschehens. Ich unterstrich damit die Präzision der aristotelischen Definition der Zeit als „Zahl“ bzw. als „Maß der Bewegung nach früher und später“, zumal sie epistemologisch untermauert ist: nur die bewusste, die vernünftige Seele vermag nämlich zu zählen.92 Nun ist es aber offensichtlich, dass unser „Uns-gegenwärtig-Sein“ sehr wohl vertraut ist mit der Differenz zwischen dem Gegenwärtigen des kosmischen Natur-

91 Eilert Herms erörtert dieses Thema – ausgehend von der These, Ps 31,16 biete eine „transzendentale Aussage, eine Aussage des Glaubens über die geschaffenen Möglichkeiten des geschaffenen Personseins“ – im Lichte des Begriffs des „Erscheinens von Erscheinendem zweiter Ordnung“ („Meine Zeit in Gottes Händen“ [wie Anm. 87], 72) bzw. des „Präsent-Seins 2“ (TRE 36, 537ff.). 92 Vgl. Aristoteles, Physik IV,14.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

geschehens bloß als solchem und dem Gegenwärtigen des geschichtlichen bzw. des sozio-kulturellen Geschehens. Dem jeweiligen „Uns-gegenwärtig-Sein“ ist diese Differenz vertraut insofern, als es sich im jeweiligen Jetzt erlebt als Wesen, dem es ermöglicht ist, selbst Mögliches zu verwirklichen bzw. schon Verwirklichtes sein zu lassen, zu ändern oder sogar zu beenden. Die leibhafte Person erlebt sich selbst kraft ihres „Sich-gegenwärtig-Seins“ als existierend in den notwendigen Beziehungen des privaten wie des öffentlichen Lebens, in denen sie zu kommunizieren und zu interagieren hat. Sie erlebt sich selbst bezogen auf ein Später, auf das sie sprechend, handelnd, duldend, erleidend Einfluss nimmt; und sie erlebt sich gleicherweise bestimmt und geprägt von einem Früher, auf das sie sprechend, handelnd, duldend und erleidend Einfluss genommen hatte. Das „Sich-gegenwärtig-Sein“ der leibhaften Person ist mithin seiner selbst bewusstes bzw. freies „Sich-gegenwärtig-Sein“. Ich werde noch zu zeigen haben, dass eben dieses seiner selbst bewusste bzw. freie „Sich-gegenwärtig-Sein“ die Möglichkeit des qualitativen Sprunges in sich birgt, die der Apostel Paulus als die Möglichkeit des Gegensatzes zwischen dem Nicht-Tun des gewollten Guten und dem Tun des nicht gewollten Bösen charakterisiert (Röm 7,18-19) und die Søren Kierkegaard als die Möglichkeit der Angst analysiert, die für den christlichen Schriftsteller ihrerseits als die „Voraussetzung der Erbsünde“ zu verstehen ist (s. 3.3.2).93 Wir stehen damit vor der Aufgabe, die Grundform des „Uns-gegenwärtig-Seins“ als jene Grundform der erlebten Zeit zu betrachten, die sowohl auf zukünftige Gegenwart als auch auf vergangene bzw. gewesene Gegenwart bezogen ist.94 Meine

93 Vgl. Søren Kierkegaard, Der Begriff der Angst, in: Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode u. a., hg. von Hermann Diem und Walter Rest, Köln/Olten: Jakob Hegner, 2 1956, 445–640; 496. 94 Vgl. zum Folgenden Aurelius Augustinus, Confessiones XI, 20: „Quod autem nunc liquet et claret, nec futura sunt nec praeterita, nec proprie dicitur: tempora sunt tria, praeteritum, praesens et futurum, sed fortasse proprie diceretur: tempora sunt tria, praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris. Sunt enim haec in anima tria quaedam et alibi ea non video, praesens de praeteritis memoria, praesens de praesentibus contuitus, praesens de futuri expectatio.“ („Das aber ist jetzt evident und klar: Zukünftiges und Vergangenes sind nicht; die Behauptung, es gebe drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, trifft nicht im strengen Sinne zu. Im strengen Sinne müßte man wohl sagen: Es gibt drei Zeiten, die Gegenwart von Vergangenem, die Gegenwart von Gegenwärtigem und die Gegenwart von Zukünftigem. Denn diese drei sind in der Seele in einem gewissen Sinne, und anderswo finde ich sie nicht: die Gegenwart des Vergangenen als Erinnern, die Gegenwart des Gegenwärtigen als Anschauen (contuitus), die Gegenwart des Zukünftigen als Erwarten.“ [Übersetzung Kurt Flasch]). Vgl. zum Thema bes. Kurt Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo. Das XI. Buch der Confessiones. Historisch-philosophische Studie. Text – Übersetzung – Kommentar, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 4 2004 (mit der These, die Zeittheorie von Buch XI der Confessiones sei als geistphilosophische Zeittheorie [und d. h. nicht als „psychologische“ Zeittheorie] zu verstehen, auf die Augustin in anderen Werken nicht mehr zurückgekommen sei [219f.]); Walter Mesch, Reflektierte Gegenwart (wie Anm. 81), 295–342: VI. Augustinus über Zeit als Ausdehnung des Geistes (mit der These, Augustin spreche der Gegenwart des Gegenwärtigen im

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Betrachtung hat das Ziel, jenen Aspekt der Zeit zu beleuchten, den wir als die geschichtliche Zeit bezeichnen dürfen, weil sie und sofern sie Zeit des gegenwärtigen, des zukünftigen und des vergangenen bzw. des gewesenen Miteinander-Seins ist. Dass und in welcher Weise die geschichtliche Zeit verschränkt ist mit der Zeit als „Maß der Bewegung nach früher und später“ (Aristoteles) bzw. mit der Zeit des Raum-Zeit-Kontinuums der relativistischen Physik, wird noch zu überlegen sein. Wenn wir die Grundform des „Uns-gegenwärtig-Seins“ als Grundform der erlebten Zeit betrachten, so erleben wir sie in ihrem relativen und begrenzten Dauern jedenfalls als hohes Gut. Womöglich nicht in allen geschichtlichen Kulturen, wohl aber in der reflektierten Brechung des bloß Traditionalen wird dieses hohe Gut bewusst, wie es in der Geschichte des Personbegriffs zum Ausdruck kommt (s. 1.5.1). Ist uns die Grundform des gegenwärtigen „Uns-gegenwärtig-Seins“ als hohes Gut bewusst, so erleben wir sie als Zeit für die bzw. als Zeit zu den notwendigen Beziehungen, in denen wir mit Anderen koexistieren, die ihrerseits in ihrem jeweils gegenwärtigen „Sich-gegenwärtig-Sein“ begriffen sind. Wir erleben unser gegenwärtiges „Uns-gegenwärtig-Sein“ als Zeit für die bzw. als die Zeit zu den notwendigen Beziehungen des privaten Lebens: als Zeit der Liebe und der Freundschaft, als Zeit der Ehe und der Elternschaft bzw. der Kindschaft; und wir erleben es als Zeit für die bzw. als die Zeit zu den notwendigen Beziehungen des öffentlichen Lebens in den Bereichen der Wirtschaft und der politischen Willensbildung, des Bildungswesens und der Technik, der Künste und der Freizeit. Und unter ganz bestimmten Bedingungen erleben wir es als Zeit für Gott und eben so als Zeit zur Ewigkeit (s. 2.3.4.2). Indem wir unser gegenwärtiges „Uns-gegenwärtig-Sein“ in diesem intersubjektiven Sinne als jeweils jetziges Moment des hohen Guts erleben, erleben wir es in der Eigenart, die wir als die Erwartung des Zukünftigen ebenso wie als die Erinnerung des Vergangenen bzw. des Gewesenen bezeichnen. Kraft unseres selbstbewusst-freien „Uns-gegenwärtig-Seins“ erleben wir geschichtliche Zeit in der spezifischen Form des Aus-Seins auf zukünftig Gutes im Lichte des Gedenkens bzw. des Erinnerns an vergangenes bzw. an gewesenes Gutes.95 Betrachten wir die doppelte Bezogenheit gegenwärtiger Gegenwart auf zukünftige Gegenwart und auf vergangene bzw. gewesene Gegenwart noch genauer.

Gegensatz zur Ewigkeit Gottes ein „minimales“ Sein „simultaner Ganzheit“ zu, ohne freilich die Zeit als „Zahl“ bzw. als „Maß“ der Bewegung verständlich machen zu können, die er gleichwohl nicht bestreitet [301ff.]). – Augustins Theorie der Gegenwart hat ihr genaues Vorbild in der psychologischen Skizze von Aristoteles „Über das Gedächtnis“ (449 b10); vgl. die Hinweise von Kurt Flasch, 123. 95 Die folgende Betrachtung der geschichtlichen Zeit wird zeigen, dass wir wohlverstanden nicht von drei Modi bzw. von drei Ekstasen der Zeit, sondern von den zwei Bezogenheiten gegenwärtiger Gegenwart auf zukünftige Gegenwart und gegenwärtiger Gegenwart auf vergangene bzw. gewesene Gegenwart zu sprechen haben.

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Zum einen: Ist uns die Grundform des gegenwärtigen „Uns-gegenwärtig-Seins“ als hohes Gut bewusst, so existieren wir in gegenwärtiger Gegenwart und in ihrem relativen und begrenzten Dauern in Erwartung. Was wir erwarten, ist zukünftige Gegenwart: Gegenwart, die noch nicht wirklich ist und deren Verwirklichung beileibe nicht allein in unserer Macht steht. Im Hier und Jetzt der gegenwärtigen Gegenwart sind wir auf zukünftige Gegenwart begehrend und strebend ausgerichtet, weil wir uns und sofern wir uns von ihr Gutes und Erfüllendes versprechen. Darunter ist ganz elementar das fernere Dauern des je eigenen leibhaften Person-Seins zu verstehen und dessen Schutz bzw. dessen Vervollkommnung in allen seinen notwendigen Beziehungen, d. h. in dessen Miteinander-Sein. Ich spreche ausdrücklich vom Existieren in Erwartung; denn von zukünftiger Gegenwart, die noch nicht wirklich ist und deren Verwirklichung beileibe nicht allein in unserer Macht steht, ist nicht nur Gutes und Erfüllendes, sondern auch Übles, Böses und Bedrohliches zu erwarten. Deshalb trägt das je gegenwärtige Erwarten zukünftiger Gegenwart nicht nur den Charakter des Hoffens: des Hoffens auf zukünftige Szenen des Miteinander-Seins, die Freude verheißen und Freude erregen. Vielmehr trägt das je gegenwärtige Erwarten in sich auch den Charakter des Sich-Fürchtens und des Sich-Ängstigens: der nur zu sehr berechtigten Sorge um zukünftige Szenen des Miteinander-Seins, die Leiden, Schmerzen, Not und Trauer auf uns zukommen lassen. Zwar werden wir versuchen, im Hier und Jetzt der gegenwärtigen Gegenwart kraft sprachlichen, kraft praktischen und kraft ästhetischen Handelns auf das Kommen zukünftiger Gegenwart in dem präzisen Sinne des Begriffes Einfluss zu nehmen; aber wir werden gut beraten sein, wenn wir uns keine Illusionen machen über das Riskante und das Kontingente des Existierens in Entscheidungszeit bzw. in Handlungszeit.96 Zum andern: Gleichzeitig existieren wir in unsrer gegenwärtigen Gegenwart in Erinnerung (vgl. STh I, 238–244). Was wir erinnern, das sind Übergänge des Mögli-

96 Vgl. Karen Gloy, Art. Zeit I. Philosophisch: TRE 36, 504–516; 509ff. – Der riskante bzw. der kontingente Charakter des gegenwärtigen Existierens in Entscheidungszeit bzw. in Handlungszeit wird leichtsinnigerweise verkannt in den politischen Werbe-Parolen, die dazu aufrufen, „die Zukunft“ zu gestalten bzw. „die Zukunft“ jetzt zu machen. In geradezu verwerflicher Weise ist der riskante bzw. der kontingente Charakter des gegenwärtigen Existierens in Entscheidungszeit bzw. in Handlungszeit verleugnet worden in den Utopien der euro-amerikanischen Moderne; insbesondere in der kommunistischen Utopie der klassenlosen Gesellschaft, deren revolutionäre Praxis einen fürchterlichen Blutzoll vieler Millionen unschuldiger Opfer und eine langzeitige psychische Deformation verschuldet hat. Diese hat bemerkenswerter Weise nicht zuletzt herausragende Intellektuelle wie z. B. Jean-Paul Sartre erfasst, die deshalb außerstande waren, den fürchterlichen Blutzoll dieser Praxis wahrzunehmen. – Zur notwendigen radikalen Kritik der von Karl Marx begründeten Utopie als notwendiges, weil gesetzmäßiges Endziel der Geschichte vgl. kurz und bündig mit Hinweisen auf Karl Raimund Popper und Friedrich August von Hayek: Matthias Heesch, Art. Utopie: RGG4 8, 861f.; Ders., Art. Utopisten I. II.: ebd., 862–863.

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chen ins Verwirklichte, die in vergangener bzw. in gewesener Gegenwart geschehen sind und ohne die es keinesfalls den gegenwärtigen Übergang des Möglichen ins Noch-nicht-Verwirklichte, doch zu Verwirklichende geben könnte. Solche vergangenen bzw. gewesenen Übergänge des Möglichen in Verwirklichtes sind uns in allererster Linie präsent als selbsterlebte Szenen bzw. als selbsterlebte Konstellationen, sofern wir sie nicht absichtslos oder absichtsvoll verschweigen und vergessen und verdrängen. Sie sind uns darin in der Form „erinnerter Bilder“ präsent97 , in denen wir Gefühle, Dialoge, Konflikte, Leiden, Schmerzen, erfüllte oder aber enttäuschte und gescheiterte Hoffnungen stets miterinnern. In einem erweiterten Sinne dürfen wir auch solche vergangenen bzw. gewesenen Übergänge des Möglichen ins Verwirklichte als selbsterlebt bezeichnen, die uns im Medium des Erzählens ihrer gegenwärtigen Zeugen bzw. im Medium der Quellen und der Relikte einer vergangenen bzw. einer gewesenen Epoche der Geschichte präsent werden. Alle möglichen Beispiele für das jetzige Erinnern vergangener bzw. gewesener Übergänge des Möglichen ins Verwirklichte belegen, dass sie in irgendeiner Weise in jeweils gegenwärtiger Gegenwart langfristig wirksam sind.98 Halten wir fest: Ich habe eine Analyse der erlebten Zeit, d. h. des Zeitbewusstseins bzw. des Zeitgefühls der leibhaft existierenden Person in ihrem „Sich-gegenwärtig-Sein“ vorgelegt. Ich war von der erkenntnistheoretischen Einsicht ausgegangen, dass das Begriffswort „Zeit“ jedenfalls keine Klasse, keine Gattung bzw. keinen Inbegriff von Gegenständen bezeichnet, die uns für unser sprachliches, für unser praktisches und für unser ästhetisches Handeln erscheinen. Um demgegenüber zu erfassen, worauf sich das Begriffswort „Zeit“ realiter bezieht, berief ich mich stattdessen auf den spezifisch zeitlichen Charakter des personalen Selbstbewusstseins. Er sei mit Hilfe und im Lichte des Terms „Sich-gegenwärtig-Sein“ und d. h. als transzendentaler Sachverhalt verstanden. Er mutet es uns zu, von allen Varianten der Seinsvergessenheit Abstand zu nehmen und uns darauf zu konzentrieren, wie wir uns selbst realiter gegeben sind. Wir sind uns selbst realiter als Wesen gegeben, die jeweils hier und jetzt in gegenwärtiger Gegenwart existieren; und zwar nicht etwa einsam, sondern in den

97 Vgl. Eilert Herms, Die Sprache der Bilder und die Kirche des Wortes, jetzt in: Ders., Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1992, 221–245. 98 Auf diesen Sachverhalt bezieht sich die Konzeption des sog. Tun-Ergehens-Zusammenhangs, dessen Beschreibung im Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments nichts anderes beleuchtet als die Folgeträchtigkeit des innerweltlichen bzw. des geschichtlichen Handelns in allen notwendigen Beziehungen des Miteinander-Seins. Vgl. Alexandra Grund/Eilert Herms, Art. Tun-Ergehens-Zusammenhang I. II.: RGG4 8, 654–658.

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notwendigen Beziehungen des Miteinander-Seins. Als solche sind wir dessen inne, dass diese gegenwärtige Gegenwart – modal gesprochen – weder unmöglich noch schlechthin notwendig ist. Sie ist vielmehr derjenige Moment, in dem Mögliches faktisch verwirklicht wird. Insofern sprach ich von der gegenwärtigen Gegenwart als der Grundform personaler Zeiterfahrung, in der uns Kontingentes für unser sprachliches, für unser praktisches und für unser ästhetisches Erfassen und Gestalten erscheint. In dieser Grundform gegenwärtiger Gegenwart sind nun für uns die Übergänge des Möglichen ins Verwirklichte in den Prozessen der kosmischen Natur und in den Prozessen des geschichtlichen Geschehens auf eigenartige Weise verschränkt. Würde das Verstehen-Wollen des Zeitbewusstseins bzw. des Zeitgefühls diese Verschränkung nicht beschreiben können, bliebe es abstrakt. Einerseits nämlich erleben wir in dem „Uns-gegenwärtig-Sein“ in gegenwärtiger Gegenwart immer wieder und grundsätzlich jene Bewegung, die uns die Zeit gemäß der Definition von Aristoteles als „Zahl“ bzw. als „Maß“ des Früheren und des Späteren bestimmen, messen und berechnen lässt. Ich hatte darauf hingewiesen, dass diese Definition von den geradezu revolutionären Entdeckungen der relativistischen Physik und Astrophysik nicht im Geringsten erschüttert ist. Sie ist auch und gerade gültig für die besondere Bewegung menschlichen Lebens in der Spanne des Früheren seines Anfangs und des Späteren seines Wachsens, Reifens, Alterns und Sterbens. Andererseits aber erleben wir in dem „Uns-gegenwärtig-Sein“ in gegenwärtiger Gegenwart unser Existieren in der geschichtlichen Form der Entscheidungszeit bzw. der Handlungszeit. In ihr sind wir gleichzeitig bezogen auf zukünftige Gegenwart und auf vergangene bzw. auf gewesene Gegenwart, und zwar in den Formen der Erwartung und der Erinnerung. Eine ausführliche Theorie der Geschichte und der Geschichtsschreibung würde zeigen können, dass und in welcher Weise die gleichzeitige Bezogenheit auf zukünftige Gegenwart und auf vergangene bzw. auf gewesene Gegenwart auch und gerade auch für soziale Subjekte wie Kulturen bzw. wie Gesellschaften anzunehmen ist.99 Ich möchte die Verschränkung dieser beiden Aspekte dessen, worauf sich das Begriffswort „Zeit“ bezieht, auf den prägnanten Begriff der Zeitlichkeit bringen. Er ist dafür geeignet, das Medium zu benennen, in dem wir uns in unserer je gegenwärtigen Gegenwart erleben als Wesen, denen es ankommt auf das hohe Gut des leibhaften Person-Seins und auf dessen Bestimmung in einer Welt im Werden. Im Medium dieser Zeitlichkeit ist leibhaftes Person-Sein realiter darauf bezogen, des Höchsten Gutes teilhaftig zu werden (s. 1.5.1). Aus diesem Grunde hat denn auch die Erwartung zukünftiger Gegenwart im Zeitbewusstsein bzw. im

99 Vgl. hierzu Konrad Stock, Theorie, 175–191.

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Gottes schöpferischer Geist

Zeitgefühl den Vorrang. Auf diesen Vorrang der Erwartung zukünftiger Gegenwart im Zeitbewusstsein bzw. im Zeitgefühl beziehe ich die Darlegung des Begriffs der Ewigkeit des göttlichen Schaffens.100 2.3.4.2

Gottes Ewigkeit101

Das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments spricht von Gottes Ewigkeit mit ergreifenden Worten in den Redeformen des Gebets und des Bekennens: „Ehe die Berge geboren waren und die Erde und die Welt geschaffen, bist du Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ (Ps 90,2 [Übersetzung Zürcher Bibel]).

Es sieht in Gottes Ewigkeit den wahren Grund dafür, dass Gott „Zuflucht“ (Ps 90,1; 91,2.9) ist und Zuflucht gewährt im Leid der Bosheit und der Endlichkeit. Ewig meint in den Quellensprachen der Bibel eine der mannigfachen Eigenschaften des göttlichen Wesens, die sich manifestieren in dessen Walten: Gottes schöpferische Macht hat ihr letztes Ziel im Trost der Versöhnung und im Höchsten Gut ewiger Gemeinschaft mit Gott selbst jenseits des Todes und durch den Tod hindurch (vgl. bes. 1Joh 2,17; Hb 13,8; Apk 1,18; 4,9; 11,15). In welcher Weise wir das schöpferische Walten des ewigen Gottes als den stetigen Grund der Zeit und damit als den stetigen Grund des kosmischen ebenso wie des menschlichen Seins im Werden denken können: dieses Interesse der fides quaerens intellectum befriedigen die Quellensprachen der Bibel als solche nicht. Es ist daher geboten, im Rückblick auf die Geschichte der systematischen Besinnung den genuinen und d. h. den nicht-metaphorischen Gehalt der Ewigkeit des göttlichen Wesens sehen und verstehen zu lassen. Um diese Aufgabe zu lösen, sei in aller Kürze an das Fazit meiner Analyse der konkreten Zeitlichkeit des menschlichen In-der-Welt-Seins angeknüpft. 100 Auf den Vorrang der Erwartung zukünftiger Gegenwart in der seelischen Erfahrung der Zeit hatte bereits Plotin aufmerksam gemacht; vgl. Plotin, Enneade III 7; 11. – In der evangelischen Theologie deutscher Zunge ist er nachdrücklich zur Geltung gebracht worden von Wolfhart Pannenberg, von Jürgen Moltmann und von Gerhard Sauter, Zukunft und Verheißung. Das Problem der Zukunft in der gegenwärtigen theologischen und philosophischen Diskussion, Zürich: Theologischer Verlag, 2 1973, bes. 208–229. Vgl. hierzu Hartmut Rosenau/Bernd Oberdorfer, Art. Zukunft I. II.: RGG4 8, 1915–1917. 101 Vgl. zum Folgenden bes.: Boethius, De consolatione philosophiae V; 6,4: „Aeternitas igitur est interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio.“; Thomas von Aquino, STh I q 10: De Dei aeternitate; Karl Barth, KD II/1, § 31,3: Gottes Ewigkeit und Herrlichkeit (685–764); Werner Beierwaltes, Plotin über Zeit und Ewigkeit, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 3 1981; Wolfhart Pannenberg, STh II, 433–443.

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Im christlich-frommen Selbstbewusstsein, wie es das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift und wie es die regula veritatis artikuliert, ist stets vorausgesetzt und explizit mitenthalten das Gefühl des Selbst-Seins, das sich in seiner Zeitlichkeit erlebt. Ich hatte diese Zeitlichkeit des Selbst-Seins immer wieder als das Sich-gegenwärtig-Sein verdeutlicht, das sich konkretisiert in allen Passionen und Aktionen einer Lebensgeschichte. Es ist als solches der transzendentale Grund dafür, dass wir – wir Wesen von der Seinsart des leibhaften Person-Seins – die Zeit des relativ begrenzten Dauerns nach Jahren, Tagen, Stunden und Sekunden messen und in der Zeit des relativ begrenzten Dauerns darüber hinaus die kosmische Zeit des Raum-Zeit-Kontinuums erklären und berechnen können. Das relativ begrenzte Dauern des menschlichen Sich-gegenwärtig-Seins ist die Bedingung dafür, dass wir die unbegrenzte kosmische Zeit erforschen können, in der sich schließlich auch die Eigenzeit des Sonnensystems gebildet hat, das die Erscheinung menschlichen Lebens auf dieser Erde möglich macht.102 Indem der Christus-Glaube der Person sich selbst in dieser Zeitlichkeit des menschlichen Sich-gegenwärtig-Seins erlebt, erlebt er dessen Verdankt-Sein und Gewährt-Sein vom schöpferischen Grund der Ewigkeit. Zwar ist der schöpferische Grund der Ewigkeit dem menschlichen Sich-gegenwärtig-Sein an sich unmittelbar offenbar; doch wie die Religionsgeschichte der mythischen Erzählungen und wie zumal die religionskritischen Pointen mancher Forscher zeigen, bedarf es ganz bestimmter Szenen der Erschließung, damit der schöpferische Grund der Ewigkeit des göttlichen Wesens das radikale Grundvertrauen der Person erfülle, trage und befriedige. Wie oben schon erwähnt, legt es sich deshalb fundamentaltheologisch nahe, mit Thomas von Aquino von der Analyse der menschlichen Zeiterfahrung aus den Weg zur Erkenntnis der Ewigkeit zu suchen. Es ist daher zu fragen: Wie versteht der Christus-Glaube und wie versteht infolgedessen die systematische Besinnung die Ewigkeit des göttlichen Wesens?

102 Ich präzisiere damit die bekannte Unterscheidung zwischen einer natürlichen Verlaufszeit („BReihe“) und einer erlebten Zeit („A-Reihe“), die eingeführt wurde von John McTaggart Ellis McTaggart, The Nature of Existence, 2 Bde., Grosse Point Mich., 2 1968, wenn auch – wie mir scheint – ohne transzendentale Analyse. Die sog. „A-Reihe“ der Zeitlichkeit ist nicht allein der Zeitraum, sondern auch die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass wir die sog. „B-Reihe“ erforschen und unser Einbezogen-Sein in die besondere „B-Reihe“ dieses unseres Sonnensystems bewusst erleben und verantwortlich gestalten können. Das Grundverhältnis von gegenwärtiger Gegenwart und zukünftiger Gegenwart, das ich beschrieben habe (s. o. S. 236ff.), schließt natürlich ein, dass das Noch-nicht-Verwirklichte, doch zu Verwirklichende, zu dem wir uns im Hier und Jetzt der gegenwärtigen Gegenwart bestimmen, nicht anders als in einem Nacheinander und d. h. in einer Reihenfolge einzelner Zeitschritte zu erreichen ist (wie z. B. der Entschluss zur „Systematischen Theologie“ nicht anders als in einem jahrelangen Nacheinander einzelner Arbeitsschritte realisierbar ist). Die von McTaggart so benannte „A-Reihe“ ist mit der von ihm so benannten „B-Reihe“ verschränkt und wäre ohne sie nicht existent.

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Gottes schöpferischer Geist

Erkennt die Sprache des biblischen Offenbarungszeugnisses dem Walten des göttlichen Wesens bestimmte Eigenschaften zu, so achtet sie auf die kategoriale Differenz zwischen Gottes Sein und dem Sein all dessen, was von Gottes Sein her möglich und verwirklicht wird. Gründet Gottes Sein das ontologische Verhältnis zwischen Sein und Seiendem, so wird die kategoriale Differenz darin mitnichten aufgehoben. Sinn und Bedeutung der Eigenschaft des Ewigen sind deshalb unter zwei Aspekten zu erklären: zum einen unter dem Aspekt des Zeittranszendenten, zum andern unter dem Aspekt des Ursprünglichen. Indem ich diese beiden Aspekte vermittle, mache ich Gottes Ewigkeit als Gottes ursprüngliche Zeit verständlich. Möglich und notwendig ist diese Vermittlung der beiden Aspekte, weil Gottes Sein als Geist – und d. h.: als dreieines Person-Sein – wesentlich ursprüngliches Sich-gegenwärtig-Sein ist (s. 1.5.3.3.1). Es war Boethius, der Gottes Ewigkeit mit dem großartigen Satz umschrieb: „Aeternitas igitur est interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio“.103 Die systematische Besinnung auf Gottes ursprüngliche Zeit wird übrigens auch zeigen, dass und in welcher Weise das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens ein konkretes Beschreiben der Zeitlichkeit des menschlichen Sich-gegenwärtig-Seins möglich macht.104 Erstens: Ich war in meiner Betrachtung des göttlichen Wesens davon ausgegangen, dass sich dem Christus-Glauben der Person – dem radikalen Grundvertrauen, dem Beten und dem Bekennen – Gottes Sein als schlechthin notwendiges und als solches vollkommenes Sein erschließt: nicht bedingt und nicht bestimmt von Anderem her, sondern sich selbst bedingend und sich selbst bestimmend als Sein für Anderes (s. 1.5.4). Indem wir auf dem Wege des modaltheoretischen Aufstiegs Gottes schlechthin notwendiges und als solches vollkommenes Sein zu denken suchen, legt sich uns der Gedanke der ursprünglichen Selbstpräsenz des göttlichen Wesens nahe.

103 „Ewigkeit also ist das ganze und zugleich vollkommene Inne-Haben unbegrenzbaren Lebens“ (De consolatione philosophiae V, 6,4 [meine Übersetzung]). – Man halte sich vor Augen, dass Boethius seine Schrift über den Trost der Philosophie im Gefängnis verfasste. 104 Im Rahmen der speziellen Lehre von Gott thematisiert Karl Barth Gottes Ewigkeit als eine der „Vollkommenheiten der göttlichen Freiheit“ (KD II/1, 685–722), indem er sie – polemisch gegen das angebliche „abstrakte“ bzw. „heidnische“ Missverständnis der Ewigkeit als purer Zeitlosigkeit gewendet – als die Einheit des vorzeitlichen, überzeitlichen und nachzeitlichen Lebens Gottes deutet. Zwar sieht er in ihr als solcher die „Vorform und Vorherbestimmung der Zeit“ (689) als der „Form unserer Existenz und Welt“ (691) und d. h. deren „Praeexistenz“ (690); aber indem er den Ausdruck „geschaffene Zeit“ ohne das Zeiterleben bzw. ohne das Zeitbewusstsein des geschaffenen „Sich-gegenwärtig-Seins“ verwendet, spricht er von der „geschaffenen Zeit“ (706) und von dem „christliche(n)“, dem „reale(n) Zeitbegriff “ (707) bzw. von der Offenbarung der Ewigkeit als der „Begründung eines wirklichen Zeitbewußtseins“ (709) auf äquivoke bzw. auf defizitäre Weise.

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Ist Gottes schlechthin notwendiges und als solches vollkommenes Sein ursprüngliche Selbstpräsenz, so ist es offensichtlich in einer ganz bestimmten Hinsicht der Zeit – wie auch dem Raum – enthoben. Die Analyse unserer Zeiterfahrung hatte ja ergeben, dass menschliches bzw. geschaffenes Sich-gegenwärtig-Sein faktisch notwendig auf die kosmische Zeit bezogen ist, die ihrerseits bedingt ist und bestimmt ist von der unbegrenzten Expansion des Universums und von deren Lichtgeschwindigkeit. Von Gottes ursprünglicher Selbstpräsenz kann deshalb sinnvollerweise so und nur so die Rede sein, dass sie erhaben ist über das Bedingt- und Bestimmt-Sein von der unbegrenzten Expansion des Universums. Wäre sie darüber nicht erhaben, so wäre sie – wie „Deuterojesajas“ Prophetie erkannte – nichts anderes als das Gebilde einer wie auch immer konzipierten Ideologie.105 Augustin hat daher – wie mir scheint – im Buche XI der Confessiones ganz mit Recht die Ewigkeit Gottes als das immer gegenwärtige Heute (vgl. Ps 2,7) definiert: „Nec tu tempore tempora praecedis: alioquin non omnia tempora praecederes. Sed praecedis omnia praeterita celsitudine semper praesentis aeternitatis et superas omnia futura, quia illa futura sunt, et cum venerint, praeterita erunt; tu autem idem ipse es, et anni tui non deficiunt. Anni tui nec eunt nec veniunt: isti enim nostri eunt et veniunt, ut omnes veniant. Anni tui omnes simul stant … Anni tui dies unus, et dies tuus non cotidie, sed hodie, quia hodiernus tuus non cedit crastino; neque enim succedit hesterno. Hodiernus tuus aeternitas …“106

105 Eine solche Ideologie entwickelte bekanntlich Friedrich Engels, indem er die Ideen von Karl Marx zu einem „historischen Materialismus“ in die geschlossene Lehre eines „dialektischen Materialismus“ transformierte, deren Basis die Idee der Ewigkeit der apersonalen Materie ist, die als solche jeder Selbstpräsenz entbehrt. Fast zeitgleich, freilich ohne Rücksicht auf eine „Dialektik der Natur“, erfindet Friedrich Nietzsche in seinem Spätwerk die Idee der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“, die ihrerseits unter dem Ewigen nichts anderes versteht als unbegrenztes Werden und Vergehen ohne irgendein Gefühl des Selbst-Seins. Beide Typen sind darin vergleichbar, dass sie menschliche Zeiterfahrung „äternisieren“. – Wie apersonales Sein ein Universum im Werden und Vergehen soll gründen können, in welchem Wesen von der Seinsart des leibhaften Person-Seins erscheinen: dafür bleiben diese Ideologen jede zureichende Begründung schuldig. 106 „Du gehst nicht in der Zeit den Zeiten voraus, sonst gingst du nicht allen Zeiten voraus. Durch die Erhabenheit deiner immer gegenwärtigen Ewigkeit gehst du allem Vergangenen voraus und überschreitest du alles Zukünftige, eben weil es zukünftig ist, denn sobald es gekommen ist, wird es vergangen sein, du aber bist immer derselbe, und deine Jahre nehmen nicht ab (Psalm 101,23). Deine Jahre gehen nicht und kommen nicht, während unsere Jahre gehen und kommen, damit so alle kommen. Deine Jahre stehen alle zugleich, eben weil sie stehen … Deine Jahre sind wie ein Tag. Und dein Tag ist nicht irgendein Tag, sondern ist das Heute, weil dein Heute nicht dem Morgen weicht und nicht dem Gestern folgt. Dein Heute ist die Ewigkeit …“ (Übersetzung Kurt Flasch). – Zu den Anfängen einer christlichen Lehre von der Zeit bei Augustin vgl. auch Karl Hinrich Manzke, Ewigkeit und Zeitlichkeit (wie Anm. 79), 259–365.

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Gottes schöpferischer Geist

Augustin markiert an dieser wichtigen Stelle die kategoriale Differenz zwischen Ewigkeit und Zeit mittels der Differenz zwischen dem „immer Gegenwärtigen“, dem „Sein“ bzw. dem „zugleich Stehen“ und dem zum Vergehen bestimmten Wesen des Geschaffenen, das sich manifestiert in dem minimalen Sein der Zeit der Gegenwart, die stets zum Nicht-Sein hin tendiert. Indem er sich auf Psalm 2,7 bezieht, fasst er diese Bestimmungen zusammen in die Metapher „Heute“. „Heute“ kann zur Metapher für Ewigkeit taugen, weil sie sich begrifflich decodieren lässt im Sinne des „Sich-gegenwärtig-Seins“ des göttlichen Wesens, das als solches bleibend, ausdehnungslos, unvergänglich und unendlich ist. Und dies „Sich-gegenwärtig-Sein“ schließt ein das „Sich-ganz-gegenwärtig-Sein“ und damit jene Vollkommenheit, die kein Früher und kein Später kennt und die allein dem göttlichen Wesen eignet – es sei denn, das göttliche Wesen gebe von sich selbst her Anderem Anteil an der ihm eigenen Vollkommenheit. Zweitens: Als zeittranszendentes „Sich-ganz-gegenwärtig-Sein“ ist Gottes Ewigkeit allerdings ursprünglich (XI,8). Jedoch: ist dies überhaupt vernünftig denkbar? Augustin scheint große Mühe zu haben, die beiden Aspekte von Ewigkeit miteinander zu vermitteln. Zwar spricht er eindrucksvoll davon, dass Gottes schöpferisches Walten die Zeit der menschlichen Zeiterfahrung zusammen mit dem All des Seienden geschaffen habe und fortwährend sein und dauern lasse107 ; aber indem er die Zeit der menschlichen Zeiterfahrung vornehmlich mit dem punktuellen „Sich-gegenwärtig-Sein“ des Menschen identifiziert, vermag er offensichtlich weder die relativ begrenzte Dauer je meiner Zeit noch den Zeitpfeil des Seienden im Werden zu erfassen. Infolgedessen rufen die „Bekenntnisse“ die Leserinnen und die Leser dazu auf, es ihrem Autor gleich zu tun und sich zur Zeittranszendenz der Ewigkeit zu erheben; doch lassen sie es offen, wie zeittranszendente Ewigkeit schöpferisches „Prinzip“ einer Welt im Werden sein könne.108

107 Vgl. bes. Conf. XI,30: „Videant itaque nullum tempus esse posse sine creatura et desinant istam vanitatem loqui. Extendantur etiam in ea, quae ante sunt, et intelligant te ante omnia tempora aeternum creatorem omnium temporum neque ulla tempora tibi esse coaeterna nec ullam creaturam …“ („Sie [verstehe: die Toren] sollen also erkennen, daß ohne Schöpfung keine Zeit sein kann, und sollen aufhören, dieses leere Zeug zu reden. Auch sie sollen sich ausspannen auf das, was vor uns [verstehe: uns vorher] ist. Sie sollen einsehen, daß du, der ewige Schöpfer aller Zeiten, über allen Zeiten stehst und daß es keine Zeiten und keine Geschöpfe gibt, die gleichewig mit dir wären …“ [Übersetzung Kurt Flasch]). 108 Vgl. hierzu die kritische Analyse von Walter Mesch, Reflektierte Gegenwart (wie Anm. 81), 308–323. Mesch macht darauf aufmerksam, dass Augustins Beschreibung der Zeit als nahezu ausdehnungsloser Gegenwart faktisch am Verständnis der Zeit des Kosmos als ewiges Abbild der Ewigkeit der Ideen im Sinne von Platons Dialog „Sophistes“ orientiert sei und die aristotelische Definition der Zeit des Jetzt als „Zahl“ bzw. als „Maß“ der Bewegung unberücksichtigt lasse: „Das minimale Sein der ausdehnungslosen Gegenwart vermag das Sein der ausgedehnten Zeit nicht verständlich zu

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

Um über Augustins Aporie hinauszukommen, scheint es mir geboten zu sein, der metaphorischen Benennung der Ewigkeit Gottes als immer gegenwärtiges Heute einen prägnanten Sinn zu geben. Dieser prägnante Sinn ist zu entdecken, wenn wir die Eigenschaft der göttlichen Ewigkeit konsequent zusammensehen mit den schöpferischen Eigenschaften der Allmacht, der Allwissenheit und der Allgegenwart Gottes. Sind wir uns in der Situation des Christus-Glaubens dessen gewiss, dass wir uns selbst in dieser unserer Zeitlichkeit gegeben sind, so sind wir uns des ontologischen Grundverhältnisses von Sein und Seiendem bewusst, das ich als „Existenzbegründungsrelation“ angesprochen hatte (s. o. S. 206). Dieser etwas sperrige Begriff bündelt vier allerallgemeinste Kategorien des Endlichen als Endlichen: das Dass-Sein, das uns in dieser unserer Zeitlichkeit nicht anders gegeben ist denn als bestimmbares, verstehbares und gestaltbares Dass-Sein in seinen räumlichen Beziehungen, die sich in anscheinend unbegrenzter Weise mit Lichtgeschwindigkeit ausdehnen. In unserem „Uns-gegenwärtig-Sein“ ist uns das schöpferische Walten Gottes realiter gegenwärtig als jener Ursprung, der den radikalen Anfang – den radikalen Übergang des Möglichen ins Verwirklichte – zu gründen und ihm relativ begrenzte Dauer zu gewähren vermag. Dieser radikale Übergang des Möglichen ins Verwirklichte ist möglich dann und nur dann, wenn Gottes ursprüngliche Selbstpräsenz nicht nur allmächtig, nicht nur allwissend, nicht nur allgegenwärtig, sondern in dem allen auch ewig ist. Das Ewig-Sein ist im Zusammenhang der schöpferischen Eigenschaften jenes Attribut des göttlichen „Sich-gegenwärtig-Seins“, das wir als Gottes Zeit im eminenten Sinne, als Gottes ursprüngliche Zeit symbolisieren dürfen.109

machen.“ (304 [Kursivierung im Original]). – Allerdings sei nicht übersehen, dass Platons Dialog „Timaios“ es unternimmt, die Lehre von der Ewigkeit des Seins des Ideenkosmos zu vermitteln mit einer Theorie des Entstehens all dessen, was im Werden begriffen ist. 109 Vgl. hierzu Karl Barth, KD III/2, 525: „Auch der ewige Gott (im Original gesperrt) lebt nicht zeitlos, sondern höchst zeitlich, sofern eben seine Ewigkeit die eigentliche Zeitlichkeit und so der Ursprung aller Zeit ist.“. – Zum Verständnis des Verhältnisses von Ewigkeit und Zeit in Barths Kirchlicher Dogmatik ist noch zu vergleichen KD I/2, 50–77 („Gottes Zeit und unsere Zeit“) sowie KD II/1, 685–764 („Gottes Ewigkeit und Herrlichkeit“) und KD III/1, bes. 72–77. Hier setzt sich Barth auseinander mit Augustins Formel „Procul dubio non est mundus factus in tempore, sed cum tempore“ (De civitate Dei, XI,6 [„Zweifellos ist die Welt nicht in der Zeit, sondern mit der Zeit geschaffen“]), um sie umzukehren in die Formel: „mundus factus cum tempore, ergo in tempore“ (III/1, 76 [Unterstreichung im Original gesperrt]). Zur Interpretation und zur Kritik des Zeitverständnisses der Kirchlichen Dogmatik, insbesondere ihrer „christologischen Begründung“, vgl.: Konrad Stock, Anthropologie der Verheißung. Karl Barths Lehre vom Menschen als dogmatisches Problem, München: Kaiser, 1980, 191–233. Über meine damalige Kritik hinaus stellt sich mir heute die grundsätzliche Frage, ob Barths radikaler Zweifel an der zweifelsfreien Gewissheit des personalen Selbst-Seins (s. o. Anm. 26) nicht ebenso den radikalen Zweifel an der erlebten Zeit einschließt, den auch die „christologische Begründung“ nicht beheben kann.

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Gottes schöpferischer Geist

Indem ich Gottes Ewigkeit im Zusammenhang der schöpferischen Eigenschaften als Gottes ursprüngliche Zeit symbolisiere, hebe ich zwei wichtige Gesichtspunkte hervor: Zum einen: Als Gottes ursprüngliche Zeit ist Gottes Ewigkeit im Zusammenhang der schöpferischen Eigenschaften jener Grund und Ursprung, von welchem alle Übergänge des Möglichen ins Verwirklichte herkommen, die insgesamt dem menschlichen „Sich-gegenwärtig-Sein“ sich zeigen. Sie – Gottes Ewigkeit – ist wesentliches Merkmal jenes absoluten „Sich-Erschlossen-Seins“, ohne das es alle die Übergänge aus Möglichem in Verwirklichtes nicht geben würde, die schon vor dem und jenseits des menschlichen Zeitbewusstseins geschahen und geschehen werden. Insofern nennen wir sie doch mit Fug und Recht zeitigende Zeit. Zusammen mit den anderen schöpferischen Eigenschaften Gottes verstehen wir sie als die schlechthin notwendige Bedingung, unter der alle Prozesse des Werdens und Entstehens, des Vergehens und schließlich auch des Auferstehens aus dem ImTode-Sein und durch das Im-Tode-Sein hindurch ermöglicht und verwirklicht werden. Aus diesem Grunde richtet sich die Hoffnung des Christus-Glaubens auf ewige Gemeinschaft mit Gottes ewigem Leben, die als solche als Gemeinschaft mit Gottes ewigem „Sich-gegenwärtig-Sein“ zu denken ist. So weist die Lehre vom christlichen Glauben an Gott den Schöpfer voraus auf die Lehre vom christlichen Glauben an Gott den Vollender (vgl. 1Kor 15,53; s. 4.5.4).110 Zum andern: Im Zusammenhang der schöpferischen Eigenschaften ist Gottes Ewigkeit jene Eigenschaft, die in besonderer Weise das Selbst-Sein Gottes verstehen lässt. Ohne „Sich-gegenwärtig-Sein“, ohne Selbst-Sein im Sinne des Mit-sichidentisch-Bleibens wäre Gegenwart des Gegenwärtigen undenkbar. Nun ist dem Christus-Glauben als wahr gewiss, dass Gott in Gottes Selbst-Sein die Gnadenwahl zugunsten der Gemeinschaft mit dem Ebenbilde Gottes trifft, deren Vollendung und Erfüllung Sinn und Ziel des göttlichen Waltens in Schöpfung, Versöhnung und Erlösung ist (vgl. Eph 1,4; s. o. S. 161–178). Dem Leben und Walten Gottes eignet insofern unwiderstehliche Zielstrebigkeit, wie ich sie der Struktur des dreieinen göttlichen Person-Seins einzuzeichnen suchte. Sie ist das eminent Zukünftige, von dem wir sagen dürfen, dass es in Gottes immer gegenwärtigem Heute als zukünftig gegenwärtig ist. So verstanden ist Gottes Ewigkeit im Zusammenhang der schöpferischen Eigenschaften die ursprüngliche Zeit transzendenter Idealität. Und als solche kommt es ihr zu, jener Aspekt der wahrhaft unendlichen „Ursächlichkeit

110 Vgl. hierzu bes. Jürgen Moltmann, Gott in der Schöpfung (wie Anm. 1), 281–298: „Der Sabbat: das Fest der Schöpfung“; Wolfhart Pannenberg, STh II, 163–201: „Schöpfung und Eschatologie“, bes. 201: „Das Gotteslob der Schöpfung, von dem die Psalmen sprechen, geschieht immer schon im Vorgriff auf die eschatologische (verstehe: eschatische) Vollendung.“

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

Gottes“111 zu sein, dessen endliches Abbild das „Sich-gegenwärtig-Sein“ der geschaffenen Person ist, die das Raum-Zeit-Kontinuum des Universums und dessen irreversiblen Richtungssinn zu erforschen vermag. Drittens: Ich habe meine Interpretation des Attributs der Ewigkeit des göttlichen Wesens in die Einsicht zugespitzt, dass Ewigkeit im Zusammenhang der schöpferischen Eigenschaften Gottes als ursprüngliche Zeit transzendenter Idealität zu denken sei. Diese Einsicht sei nun kritisch und meta-kritisch abgegrenzt von zwei wichtigen und wirkungsvollen Konzeptionen der Zeiterfahrung: nämlich vom Begriff der Zeit als „innerer Sinn“ des Gemüts in Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ und von Martin Heideggers Lehre von der Zeitlichkeit des Daseins als der „endlichen eigentlichen Zeitlichkeit“. Zum einen: In der „Kritik der reinen Vernunft“ erörtert Immanuel Kant das Thema „Zeit“ analog zum Thema „Raum“ in Kontext der transzendentalen Ästhetik (s. 2.3.3).112 In ihr sucht er eine Antwort zu finden auf die Frage, unter welchen Bedingungen es denn möglich sei, jene Anschauung äußerer Gegenstände (verstehe: jene Anschauung von Gegenständen in der äußeren Um- und Mitwelt der Person) zu haben, auf die sich die Begriffe und die Urteile des Verstandes beziehen, wie sie die „transzendentale Analytik“ untersucht. Er findet diese Antwort, indem er analog zum Thema „Raum“ zwischen der empirischen Realität und der

111 Friedrich Schleiermacher, CG2 § 52 L (I, 267 = KGA I.13,1, 312). – Sorgfältiger als Schleiermacher hat – wie mir scheint – Wolfhart Pannenberg dies Gründen der Zeit in Gottes Ewigkeit umschrieben: „Die Ewigkeit ist aber nicht Inbegriff der Zeit, sondern eher ist die Zeit mit dem Auseinandertreten ihrer Modi – Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit – zu einer Geschehensfolge als aus der Ewigkeit hervorgegangen und bleibend von ihr umgriffen zu denken. Zumindest ist die Ewigkeit konstitutiv für das Erleben und den Begriff der Zeit …“. Vgl. Wolfhart Pannenberg, STh II, 114 mit Anm. 239 und 240. – Das Gründen der Zeit in Gottes Ewigkeit wird im Ansatz verkannt von Michael Theunissen, Negative Theologie der Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991 (stw; 938). Theunissen entfaltet in eindringlichen Studien die alles bestimmende Hypothese von der entfremdenden „Herrschaft der Zeit“ in uns, von der nicht nur die Hoffnung des ChristusGlaubens auf das Kommen der Ewigkeit, sondern auch der Rückgang auf den vorphilosophischen poetischen Mythos im Sinne Pindars befreit. Plausibel macht der Autor diese Hypothese auf dem Wege intensiver Rezeption psychopathologischer Erforschung schizophrener und melancholischer Krankheit, die als „Zeitkrankheit“ gedeutet wird. Für diese – für den Autor – nachmetaphysische Theorie der Zeit spielt weder die zu messende bzw. die zu berechnende Zeit des astrophysikalischen Raum-Zeit-Kontinuums noch die erlebte Zeit des mehr oder weniger „gesunden“ personalen Sichgegenwärtig-Seins eine erkennbare Rolle. Aus diesem Grunde kommt denn auch die Perspektive der Zeit zur Ewigkeit nicht in den Blick. 112 Vgl. zum Folgenden Immanuel Kant, KrV. Belege aus diesem Werk sind im Folgenden im Text notiert. – Zu Kants Theorie der Zeit vgl. bes. Karl Hinrich Manzke, Ewigkeit und Zeitlichkeit (wie Anm. 79), 55–160: Zur Zeitlehre Immanuel Kants.

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Gottes schöpferischer Geist

transzendentalen Idealität der Zeit unterscheidet (B 52f.). Ebenso wenig wie das Begriffswort „Raum“ bezeichnet demnach das Begriffswort „Zeit“ eine Klasse bzw. eine Gattung von Gegenständen unserer Erfahrung; es bezeichnet vielmehr jene „subjektive Bedingung“, „unter der alle Anschauungen in uns stattfinden können“ (B 49). Nun liegen allerdings die Dinge in Kants Erörterung der Zeit komplexer als in Kants Erörterung des Raums. Kant konkretisiert nämlich jene „subjektive Bedingung“, indem er definiert: „Die Zeit ist nichts anderes, als die Form des inneren Sinnes, d. i. des Anschauens unserer selbst und unseres inneren Zustandes“ (B 49). Während nämlich Raum lediglich die „reine Form aller äußeren Anschauung“ sei, in der wir „äußere Erscheinungen“ wie Dinge, Geschehnisse oder Prozesse wahrnehmen, ist Zeit „eine Bedingung a priori von aller Erscheinung überhaupt, und zwar die unmittelbare Bedingung der inneren (unserer Seelen) und eben dadurch mittelbar auch der äußeren Erscheinungen“ (B 50). Was heißt das? Unter dem Ausdruck „innerer Sinn“ soll nach Kant die „innere Anschauung“ bzw. der „innere Zustand“ des selbstbewusst-freien Vernunftwesens Mensch zu verstehen sein (B 50). Und zwar deshalb, weil die „äußere Anschauung“ „äußerer Erscheinungen“ nicht etwa Starres, sondern vielmehr etwas Bewegtes und in Bewegung Begriffenes wahrnimmt. „Äußere Erscheinungen“ erscheinen dem Gemüt aus diesem Grunde stets in einer „Zeitfolge“ und d. h. in einem Nacheinander (B 49). Und indem sie jeweils jetzt als etwas Bewegtes und in Bewegung Begriffenes erscheinen, zeigen sie sich dem Gemüt in der „Möglichkeit der Veränderung“ (B 48). Der „innere Sinn“, die „innere Anschauung“ bzw. der „innere Zustand“ nimmt mithin das Zugleich-Sein der „äußeren Erscheinungen“ als ihr Nacheinander-Sein und damit als ihr Verändert-Werden wahr. Deshalb kann Kant behaupten, Zeit sei „eine Bedingung a priori von aller Erscheinung überhaupt“ (B 50). Auf diese Weise konstituiert das Gemüt des selbstbewusst-freien Vernunftwesens Mensch Zeit als eine „ins Unendliche fortgehende Linie“ (B 50) und damit als das Kontinuum alles dessen, was in den Kreis der „äußeren Erscheinungen“ fällt. Ihr kommt eodem actu „empirische Realität“ und „transzendentale Idealität“ zu (B 52). Nun ist es doch bemerkenswert, dass und wie Kant das Thema „Zeit“ an späterer Stelle seines kritischen Projekts aufgreift, nämlich im Rahmen seiner Lehre von der transzendentalen Urteilskraft (B 169–B 349). Unter dem Term „Urteilskraft“ ist nach Kant zu verstehen „das Vermögen unter Regeln zu subsumieren (im Original gesperrt), d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht“ (B 171). Es ist daher aus diesem Grunde nicht damit getan, den „inneren Sinn“ der Zeit als jene „subjektive Bedingung“ zu erklären, unter der das Gemüt der Person das In-Bewegung-Sein und das Verändert-Werden der Gegenstände in der „äußeren“ Um- und Mitwelt anzuschauen vermag. Es muss vielmehr auch möglich sein, auch diejenigen Regeln zu erfassen, nach denen

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jene Bewegungen bzw. jene Veränderungen geschehen. Von diesen Regeln handelt das 1. Hauptstück des Zweiten Buches der transzendentalen Analytik: „Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe“ (B 176–B 187). Es würde zu weit führen, dieses 1. Hauptstück detailliert zu interpretieren. Kant geht hier – wie ich ihn verstehe – davon aus, dass der Begriff der Zeit des „inneren Sinnes“ als der „Zeitfolge“ noch nicht genüge, um die synthetische Kraft des Verstandes zu denken, der die Bewegung und die Veränderung „äußerer Gegenstände“ zu erkennen hat. Denn um die sich bewegenden und sich verändernden „äußeren Gegenstände“ in ihrer Eigenart zu erkennen, bedarf es einer „Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt“ (B 181); und diese „Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt“ gilt nicht etwa nur für allgemeine empirische Begriffe – wie z. B. für den „Begriff vom Hunde“ (verstehe: für den Satz „das ist ein Hund“ [B 180]); sie gilt vielmehr auch und vor allem für die Regel der Einheit der reinen Verstandesbegriffe – d. h. der Kategorien –. Und diese für alle allgemeinen empirischen Begriffe konstitutiven reinen Verstandesbegriffe – die Kategorien – prägen die „Bestimmung des inneren Sinnes überhaupt“ (B 181), weil sie und sofern sie „Zeitbestimmungen (im Original gesperrt) a priori nach Regeln sind“ (B 184).113 Kants Begriff der Zeit als innerer Sinn umfasst mithin die Zeit als subjektive Bedingung der Anschauung und zugleich als „Korrelatum der Bestimmung eines Gegenstandes“ (B 184). Kant hat das Thema „Raum“ ebenso wie das Thema „Zeit“ in den Rahmen einer Theorie des Transzendentalen gestellt. Sie fragt nach den Bedingungen, unter denen es uns möglich ist, das unseren Sinnen als „äußere Gegenstände“ phänomenal Gegebene auf wissenschaftliche und d. h. auf naturwissenschaftliche Weise zu erkennen (vgl. B 20f.). Sie beschreibt Zeit als diejenige Weise des „Uns-gegenwärtigSeins“, kraft derer wir die Gegenstände der Natur im weitesten Sinne des Begriffs konstituieren. Sie sieht ausdrücklich davon ab, das Konstituiert-Sein dieses „Unsgegenwärtig-Seins“ zu erhellen, so wie es Schleiermachers Theorie des Selbstbewusstseins tut. Infolgedessen gipfelt die „Kritik der reinen Vernunft“ in einer „Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft“ (B 659–B 604), die unter dem Begriff des höchsten Wesens kein konstituierendes, sondern allenfalls ein regulatives Prinzip anerkennt. Dass die transzendentale Idealität der Zeit als des inneren Sinnes im intuitus originarius der intellektuellen Anschauung gründen könnte, die „allein dem Urwesen … zuzukommen scheint“ (B 72 [Kursivierung im Original]), bleibt eine Nebenbemerkung, deren konsequente Ausführung das kritische Projekt gesprengt hätte. Meine systematische Besinnung auf Gottes Ewigkeit als Grund

113 Darunter ist nach Kant zu verstehen die „Zeitreihe“, der „Zeitinhalt“, die „Zeitordnung“ und der „Zeitinbegriff“ (B 184f. [Unterstreichungen im Original gesperrt]).

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Gottes schöpferischer Geist

der Zeit hat diese Nebenbemerkung gegen Kants Aussageintention zur Hauptsache gemacht.114 Zum andern: Martin Heideggers Lehre von der Zeitlichkeit des Daseins als der „endlichen eigentlichen Zeitlichkeit“ (331) legt die Pointe des frühen Hauptwerks „Sein und Zeit“ dar.115 Dieses frühe Hauptwerk hat das Ziel, die Frage nach dem „Sinn von Sein überhaupt“ (436 [verstehe: nach dem Sinn des Ausdrucks „Sein“]) zu stellen; und zwar im fundamentalontologischen Interesse einer Ersten Philosophie, ohne welche weder das alltägliche Dasein noch die einzelnen wissenschaftlichen Erforschungen begriffen werden können. Das frühe Hauptwerk bietet eine „existenzial-zeitliche Analytik des Daseins“ (436), die der Absicht des Autors gemäß es möglich machen soll, jene Frage zu stellen und zu beantworten. Zu diesem für den Zweiten Teil von „Sein und Zeit“ vorgesehenen Gedankengang ist es bekanntlich nicht gekommen; vielmehr hat Heidegger erst im Laufe und am Ende der sog. „Kehre“ Entwürfe dazu vorgelegt, die das Verständnis der ursprünglichen Zeit als Ereignis des Seyns entwickeln wollen. Ihm schwebt es vor, jene „Seinsverzeitlichung“ zu denken, die die nach seiner Ansicht schon von Platon initiierte Seinsvergessenheit des metaphysischen Denkens – und damit letzten Endes auch der Technik – überwinden soll.116 Ohne jetzt auf dieses Spätwerk einzugehen, frage ich, ob denn die „existenzial-zeitliche Analytik des Daseins“ in „Sein und Zeit“ etwa an die Stelle der biblisch-religiösen Rede von der ursprünglichen Zeit der Ewigkeit Gottes treten könne. Heideggers Entwurf einer „existenzial-zeitlichen Analytik des Daseins“ ist einem transzendentalen Interesse verpflichtet. Verglichen mit der Geschichte, in der der 114 Zur Kritik vgl. auch Wolfhart Pannenberg, STh II, 115f.; sowie Karl Hinrich Manzke, Ewigkeit und Zeitlichkeit (wie Anm. 79), 155–160. – Eine eingehende Kritik der transzendentalen Logik der „Kritik der reinen Vernunft“ liegt zugrunde den verschiedenen Entwürfen einer Dialektik bei Friedrich Schleiermacher (vgl. KGA II.10,1; 2). Sie unterscheiden sich von Kants Theorie des Transzendentalen letzten Endes dadurch, dass sie die Möglichkeit einer autopoietischen Entstehung des Universums konsequent ausschließen. 115 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 9 1960. Nachweise aus diesem Werk sind im Folgenden im Text notiert. – Zur Interpretation und zur Kritik vgl. bes. Karl Löwith, Heidegger. Denker in dürftiger Zeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 3 1965; sowie Karl Hinrich Manzke, Ewigkeit und Zeitlichkeit (wie Anm. 79), 161–209; 245–258. 116 Vgl. bes. Martin Heidegger, Zur Seinsfrage, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 4 1977. – Heideggers Spätwerk hat nicht zuletzt Eberhard Jüngel dazu inspiriert, das Gottesverständnis des Christus-Glaubens und dessen systematische Entfaltung auf eine dezidiert anti-metaphysische Weise zu entwickeln; vgl. bes. Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theologie und Atheismus, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 2 1977. Wie in Karl Barths „Kirchlicher Dogmatik“ ist in diesem Werk eine Besinnung auf den transzendentalen Grund des „Sich-gegenwärtig-Seins“ der geschaffenen Person nicht erkennbar.

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transzendentale Grund des endlichen Bewusstseins und seiner Kraft der Synthesis verstanden werden soll, entdeckt er die Bedingung, unter der allein es möglich ist, Wahrheit zu finden, in der „Grundverfassung des Daseins“ überhaupt (52–62). Indem er mit dem Ausdruck „Dasein“ jenes Seiende bezeichnet, zu dessen „Wesensverfassung“ es gehört, das angemessene Verständnis von „Sein“ zu suchen (8), konzentriert er diese „Wesensverfassung“ auf die „Sorge“, in der die „Grundbefindlichkeit der Angst“ gegenwärtig ist.117 Im Gegensatz zur bisherigen Geschichte des transzendentalen Denkens soll diese „Wesensverfassung“ auf dem Weg der „vollen und ständigen phänomenologischen Vergegenwärtigung“ (303 [Kursivierung im Original]) erhoben werden, weil diese und nur diese der „Situation“ (299 [Kursivierung im Original]) des Daseins gerecht wird. Wie wird nun das Verfahren einer transzendentalen Phänomenologie der „Situation“ des Daseins in dessen Zeitlichkeit gerecht? Nach Heidegger wird das Verfahren einer transzendentalen Phänomenologie der „Situation“ des Daseins dadurch und nur dadurch gerecht, dass es das Phänomen der Sorge als das „Sein zum Tode“ (329) kenntlich macht. Vor jenem sogenannten „vulgären Zeitverständnis“, das uns das Messen und Berechnen der Naturzeit nahelegt, zeichnet sich das existenziale Verständnis der Zeit als Zeitlichkeit dadurch aus, dass es das radikal endliche Existieren des Daseins ernst nimmt. Heidegger will daher die Modi bzw. die Ekstasen der erlebten Zeit – der Zukunft, der Gewesenheit, der Gegenwart – als „Zeitigung“ (329) verstehen. Zeit wird gezeitigt und d. h. doch wohl hervorgebracht, indem das Dasein sich von seinem radikalen Ende im Tode her bestimmt. Darin erfasst es sich als „Selbst“ (322 [verstehe: als ein Sich-Verstehen-als]), das ganz im Gegensatz zur bloßen Vorhandenheit eines „Ich“ bzw. eines „Subjekts“ der ständig anwesende und ständig wirksame Grund der Sorge ist (322f.). Inwiefern aber meint Heidegger, es sei angemessen, das Sich-Verstehen des Selbst (als Grund der Sorge) als Zeitigung von Zeit – und zwar von ursprünglicher Zeit im Gegensatz zum uneigentlichen bzw. zum vulgären Zeitverstehen – zu denken? Nun: dieser Gedanke scheint ihm angemessen, weil das Sich-Verstehen des Selbst – des Grundes der Sorge – vorläuft auf die Zukunft des radikalen Endes im Tod (327ff.). Daher ist grundsätzlich zu definieren: „Das primäre Phänomen der ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit ist die Zukunft.“ (329 [Kursivierung im Original]). Von dieser Zukunft nämlich – von der Zukunft des radikalen Endes im Tode – gilt, „daß sie zukünftig gewesen allererst die Gegenwart weckt.“ (ebd.). Mit dem Begriffswort „Zeitigung“ meint Heidegger mithin das jeweils jetzige Sich-Verstehen des Selbst, das „Außer-sich“ bezogen ist auf jene jeweils seinige Zukunft des radikalen Endes

117 Vgl. bes.: Sein und Zeit, Erster Abschnitt, Sechstes Kapitel: „Die Sorge als Sinn des Daseins“ (180–230).

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Gottes schöpferischer Geist

im Tode und dadurch und nur dadurch Gegenwart konstituiert.118 Ob uns – und wenn ja, in welcher Weise – in dieser Gegenwart Gegenwärtiges gegenwärtig ist (s. o. S. 232ff.), liegt jedenfalls nicht mehr im Horizont von Heideggers Frage nach dem Sinn des Ausdrucks „Sein“. Es ist aus diesem Grunde offenkundig, dass Heideggers Interpretation der ursprünglichen Zeit in ihrem Gegensatz zum uneigentlichen bzw. zum vulgären Verstehen von Zeit als verfehlt beurteilt werden muss. Sie wird dem Phänomen des Zeitgefühls bzw. des Zeitbewusstseins nicht gerecht, wie es als solches dem leibhaften Person-Sein wesentlich ist. Sie wird ihm nicht nur deshalb nicht gerecht, weil sie im Unterschied zur Theorie der Zeit im Denken Platons, Aristoteles’ und Plotins die Bewegung und damit die Zeit des Kosmos faktisch ausgrenzt119 ; sie wird ihm auch und vor allem deshalb nicht gerecht, weil sie nicht zeigt, dass das in unserer Gegenwart für uns Gegenwärtige stets aus Möglichem in Verwirklichtes übergeht und darin ebenso wie unser „Uns-gegenwärtig-Sein“ von relativer und begrenzter Dauer ist. Das Zeitgefühl bzw. das Zeitbewusstsein der endlichen und d. h. der geschaffenen Person steht eben nicht für sich; es ist vielmehr als Implikat ihres unmittelbaren und so zur Reflexion bestimmten Selbstbewusstseins zu verstehen. Erlebt sich die Person darin als zeitlich existierend, so erlebt sie sich als zeitlich konstituiert. Ihre Zeitlichkeit wird ihr gewährt von jener ursprünglichen Zeit, die ich als die Bedeutung der Ewigkeit des göttlichen Wesens entschlüsselt habe.120 Diese ursprüngliche Zeit der Ewigkeit des göttlichen Wesens und deren Aus-Sein auf die Zukunft der Versöhnung und der Vollendung ist – wie jedenfalls dem Christus-Glauben im Sinnraum und im Verstehenshorizont der jüdische JHWH-Gemeinschaft gewiss ist – dem Zeitgefühl bzw. dem Zeitbewusstsein des leibhaften Person-Seins an sich und formaliter offenbar, auch wenn sie erst in einer Geschichte ihres Sich-Offenbarens glaub- und vertrauenswürdig wird.

118 Dem Luther- und Kierkegaard-Leser Heidegger wird vertraut gewesen sein, dass er sich der für Luthers theologisches Denken zentralen Formel „extra nos“ bediente. 119 Von dieser Kritik ist durchgehend geleitet die exzellente Abhandlung von Walter Mesch, Reflektierte Gegenwart (wie Anm. 81). Sie wäre zu ergänzen durch das Argument Plotins, dass das Nacheinander der Zeit-Momente, das die Seele erlebt, ihr als Zusammenhang gegeben ist; vgl. Plotin, Enneade III,7. 120 Vgl. auch das unverdächtige Urteil von Karl Löwith, Heidegger und Rosenzweig, jetzt in: Ders., Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz, Stuttgart: Kohlhammer, 1960, 99: „Entschlossener als der Verfasser von ‚Sein und Zeit‘ kann man die endliche Zeitlichkeit und mit ihr die Geschichtlichkeit nicht bejahen und damit die Ewigkeit preisgeben.“. – Über dieses Urteil hinaus wird grundsätzlich zu behaupten sein, dass Heideggers Theorie des transzendentalen Grundes nicht entfernt das leistet, was transzendentale Theorie zu leisten hat: nämlich die Reflexion auf die Art und Weise, in der Wesen von der Seinsart des Menschen die Gegenstände ihrer kosmischen und ihrer geschichtlichen Welt konstituieren.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

Viertens: Blicken wir zurück! Mein Abschnitt „2.3.4: Gottes Ewigkeit: Grund der Zeit“ fasst meine systematische Besinnung auf die Bedeutung dessen zusammen, was der Christus-Glaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) laut der verschiedenen regulae veritatis als Gottes Schaffen versteht und bekennt. Ich hatte die Bedeutung dieses Begriffs anhand der Interpretation der schöpferischen Eigenschaften der Allmacht, der Allwissenheit, der Allgegenwart und eben der Ewigkeit des göttlichen Wesens entfaltet: jener Eigenschaften, in denen der Christus-Glaube das Walten des schöpferischen Geistes wirksam sieht. Zwar machte diese Interpretation implizit und explizit bereits Gebrauch von jenem Selbstverständnis des Mensch-Seins, wie es die überwältigende Metapher „Bild Gottes“ erkennen lässt; aber sie legt größtes Gewicht darauf zu zeigen, dass jenes Selbstverständnis das Verständnis kosmologischer und ontologischer Bedingungen einschließt, ohne die es buchstäblich in der Luft hängen würde. Es – dieses Selbstverständnis – bildet die transzendentale Bedingung, unter der uns das Reale erkennbar ist als Gottes Schöpfung: Es ist uns Menschen allen verstehbar und bejahbar als gewährt, gegründet, geleitet und erhalten von Gottes schöpferischem Geist; und zwar im Lichte des „Uns-gegenwärtig-Seins“, in dem wir uns als jeweils individuelles Ich erschlossen sind.121 Indem wir im Lichte des „Uns-gegenwärtig-Seins“ die schöpferischen Eigenschaften der Allmacht, der Allwissenheit, der Allgegenwart und zuhöchst der Ewigkeit zu denken suchen, verstehen und bekennen wir das Reale in seiner Eigenart und in seinem Richtungssinn als ermöglicht und als verwirklicht von Gottes schöpferischem Geist, von Gottes transzendenter Idealität. In ihm – in dem Realen – ist dessen Grund und Ursprung verborgen gegenwärtig. Insofern ist es alles andere als selbstverständlich, dessen verborgenes Gegenwärtig-Sein in radikalem Grundvertrauen

121 In dogmatischer Fachsprache ausgedrückt: „Anthropologie“ im Sinne einer Darlegung dessen, was der Christus-Glaube unter der Verfassung bzw. unter der kategorialen Bestimmtheit des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins des Menschen versteht, bedarf der Rücksicht auf die kosmologischen Bedingungen des Lebens in der Natur dieser Erde in diesem Sonnensystem in dieser Galaxie, ohne die geschaffenes, leibhaftes Person-Sein nicht verwirklicht wäre. Allerdings bedarf die Kenntnis, die Erforschung und die Theorie der kosmologischen Bedingungen des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins ihrerseits der Bildung ontologischer Aussagen, die das Dass-Sein, das Erkennbar-Sein, das Im-Raume-Sein und das In-der-Zeit-Sein des Seienden betreffen. Eine systematisch-theologische Besinnung auf den Gegenstand, dem das Gefüge aller dieser Aussagen gilt, sieht diesen Gegenstand – das leibhafte Person-Sein des Menschen als „Bild Gottes“ – begründet in dem schöpferischen Geist des göttlichen Wesens in dessen ursprünglicher Zeit und in dessen ursprünglicher Zeitrichtung. Zwar erschließt sich diese Sicht dem Christus-Glauben, ohne den die systematisch-theologische Besinnung ihrerseits diesen Gegenstand nicht intendieren könnte; aber das ist keine „christologische Begründung“ im Sinne Karl Barths, deren Aporie ich nachgewiesen habe in: Konrad Stock, Anthropologie der Verheißung (wie Anm. 109).

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

auch zu sehen, dankbar zu empfangen, ehrfürchtig zu loben und hoffnungsvoll zu feiern. Das Kapitel 3: „Der christliche Glaube an Gott den Versöhner“ wird die Erfahrung des Christus-Glaubens offenlegen, dass es der Selbstvergegenwärtigung bzw. der Selbstdarstellung des göttlichen Wesens im Christus Jesus bedarf, um der Wahrheit dessen auch gewiss zu werden, was uns schon im Lichte des „Uns-gegenwärtig-Seins“ an sich und formaliter vertraut ist. Im Folgenden wird jenes Selbstverständnis des Mensch-Seins als geschaffenes, als leibhaftes Person-Sein in seinen wesentlichen Beziehungen darzulegen sein, wie es dem Christus-Glauben sich erschließt.

2.4

Der Mensch als Gottes Ebenbild122

Der christliche Glaube ist das Leben in der Gewissheit der befreienden Wahrheit des Evangeliums von der „Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm HErrn“ (Röm 8,39). Kraft dieser Gewissheit existieren die Glieder der mannigfachen kirchlichen und konfessionellen Traditionen in der Gemeinschaft mit dem Christus Jesus selbst; in ihr sind sie in ihrem Leid der Endlichkeit und in der Erfahrung des Gewissens mit Gott – mit Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen – versöhnt, von Gott gerecht gemacht (Röm 4,25), geheiligt (Röm 1,17) und von der Hoffnung ewigen Lebens in der vollendeten Gemeinschaft mit Gott selbst jenseits des Todes und durch den Tod hindurch erfüllt (Joh 5,24; Röm 5,23). Indem sich ihnen diese Gewissheit durch menschliches Offenbarungszeugnis in allen seinen Formen durch das Wehen des Wahrheitsgeistes (Joh 3,8) erschließt, werden sie aufmerksam auf die unverwechselbare Eigen-Art und damit auf das Wesen des Mensch-Seins im Ganzen des ungeheuren Geschehens der Welt und des Geschehens in der Welt, das

122 Vgl. zum Folgenden bes.: Friedrich Schleiermacher, CG2 , §§ 60–61 (I, 321–337 = KGA I.13,1, 371–9394); Jacob Jervell/Henri Crouzel/Johann Maier/Albrecht Peters, Art. Bild Gottes I.–IV.: TRE 6,491–515; Traugott Koch, Art. Mensch VIII. 19. und 20. Jahrhundert: TRE 22, 530–548; Art. Mensch IX. Systematisch-theologisch: ebd. 548–567 (Lit.); Wilfried Härle, Art. Mensch VII. Dogmatisch und Ethisch 1. Problemgeschichtlich und systematisch: RGG4 5, 1066–1072; Ders., Dogmatik5 , 440–449; Albrecht Peters, Der Mensch, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 1979 (HST; 8); Otto Hermann Pesch, Frei sein aus Gnade. Theologische Anthropologie, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1983; Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1983; Ders., STh II, 209–266; Jürgen Moltmann, Gott in der Schöpfung (wie Anm. 1), 223–278; Gerhard Sauter, Das verborgene Leben. Eine theologische Anthropologie, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2011, bes. 17–94; 330–361; Eilert Herms, STh (Bd. 1), 709–736: Die geschaffene Welt-des-Menschen II: Personale Prozesse. – Aus der römisch-katholischen Dogmatik ist hervorzuheben: Georg Langemeyer, Die theologische Anthropologie, in: Glaubenszugänge. Lehrbuch der Katholischen Dogmatik. Hg. von Wolfgang Beinert, Bd. 1, Paderborn: Schöningh, 1995, 499–620.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

Gottes schöpferisches Wort schafft, erhält und auf für uns verborgene Weise lenkt und regiert. Die mythische Schöpfungserzählung der Priesterschrift hat für die unverwechselbare Eigen-Art und damit für das Wesen des Mensch-Seins den mehrdeutigen Ausdruck „Bild Gottes“ (‫ )צלם כדמות‬gebraucht (Gen 1,26f.; vgl. 5,1.3; 9,6; Ps 8,6-9).123 Dieser mehrdeutige Ausdruck wurde in und seit der Auseinandersetzung des Bischofs Irenäus von Lyon mit der Gnosis des 2. Jahrhunderts geradezu zum signifikanten Schlüsselwort, in dessen Licht man die spezifische humanitas des homo sapiens begrifflich zu erfassen suchte. Mit steter Rücksicht auf die Theoriegeschichte der theologischen Lehre vom Menschen werde ich diese spezifische humanitas anhand des begrifflichen Feldes des geschaffenen, des endlichen, des leibhaften Person-Seins entfalten; denn dieses begriffliche Feld, das im Anschluss an Augustin von Boethius, von Richard von St. Viktor und von Johannes Duns Scotus umrissen wurde (s. 1.5.1), bietet uns die Chance, das biblische Verstehen des Mensch-Seins im kritischen Dialog mit philosophischer Selbstbesinnung auf die Natur des Menschen in der euro-amerikanischen Moderne nachdrücklich zu vertreten. Das begriffliche Feld des geschaffenen, des endlichen, des leibhaften Person-Seins hat realen und realistischen Anhalt am Phänomen des Menschlichen, wie es uns Menschen allen in und durch uns selbst vorgegeben ist. Es ist uns Menschen allen dadurch vorgegeben, dass wir uns selbst erschlossen sind als Wesen, die durch die primäre Gewissheit des je individuellen Freiheitsgefühls ausgezeichnet sind. Kraft ihrer existieren wir – um von den Grenzsituationen der frühesten MutterKind-Symbiose, der Bewusstlosigkeit sowie der schweren Krankheit wie z. B. der Demenz abzusehen – in der faktischen Notwendigkeit, über uns selbst in unserem Verhältnis zu den jeweils Andern unseresgleichen und in unserem Verhältnis zu Gott dem schöpferischen Grund und Ursprung des All des Seienden bestimmen zu sollen und bestimmen zu müssen. Ungeachtet aller kulturellen Besonderheiten und Verschiedenheiten empirischer bzw. geschichtlicher Herkunft unterliegen wir dem Verantwortlich-Sein, das als eine der universellen Kategorien menschlichen Lebens unaufhebbar ist (s. 2.4.2.1). Im Folgenden entwickle ich in gedrängter Kürze Grundlinien, die das Verständnis des Mensch-Seins darzulegen haben, wie es im Christus-Glauben in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“

123 Nach Bernd Janowski, Art. Gottebenbildlichkeit I. Altes Testament und Judentum: RGG4 3, 1159–1160, sind für das angemessene Verständnis des Ausdrucks drei Aspekte zu unterscheiden: der Aspekt der Repräsentation („Bild“ im Sinne von „als Bild“ bzw. „als Statue“); der Aspekt der Vergleichbarkeit (verstehe: des Bildes und des Abgebildeten); und der Aspekt der Herrschaft (und zwar der Herrschaft in der Natur – also der Kulturalität).

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

(Röm 1,16) stets vorausgesetzt und mitenthalten ist. Im Rückblick auf die Darstellung des Lebens in der „Einheit der Erfahrungswelt“ (vgl. STh I, 189–304) sowie auf meine Interpretation der Zeitlichkeit des menschlichen Person-Seins (s. 2.3.4.1) konzentriere ich mich hier auf eine systematische Besinnung, die den Sachverhalt des Ausdrucks „Bild Gottes“ freizulegen hat. Solche Konzentration ist nicht nur deshalb nötig, weil das „Bild-Gottes-Sein“ des Menschen schon in der Epoche des Christentums der Spätantike, sodann in Kampf der reformatorischen Bewegung um Klarheit über die Tiefe menschlicher Entfremdung und schließlich im Disput der deutschsprachigen „Theologie des Wortes Gottes“ aufs Heftigste umstritten war; sie ist auch deshalb nötig, weil sich das „Bild-Gottes-Sein“ des Menschen als das gesammelte Symbol humaner Selbstauslegung hier und heute mit guten Gründen gegenüber der Verachtung zu behaupten hat, die ihm von Seiten namhafter Intellektueller entgegenschlägt.124 Der biblische Ausdruck „Bild Gottes“ fungiert in dieser unserer Gegenwart als Leitbild, an dem sich jedenfalls das christliche Engagement für die Würde des Mensch-Seins eines jeden Menschen orientieren wird. Um nun im Rahmen meiner kritischen Besinnung auf den christlichen Glauben an Gott den Schöpfer den Sachgehalt des Ausdrucks „Bild Gottes“ freizulegen, beginne ich mit einer Rechenschaft über den Status der theologischen Lehre vom Menschen; sie schärft die Einsicht kirchlicher Lehre in der Epoche des antiken Christentums ein, dass die Natur des Menschen schon als solche gnädige Gabe des schöpferischen Geistes Gottes sei, die in der creatio continua der schöpferischen Erhaltung und Bewahrung dauerhaft gewährt wird (2.4.1). In meinem zweiten Schritt werde ich den Sachgehalt des Ausdrucks „Bild Gottes“ mit Hilfe des begrifflichen Feldes des geschaffenen, des endlichen, des leibhaften Person-Seins explizieren; ich werde zeigen, dass das Phänomen der humanitas des homo sapiens sich erfassen lässt, indem wir die Aspekte des individuellen Selbst-Seins, der Bezogenheit individueller Selbste aufeinander im Verhältnis von Geschlecht zu Geschlecht und von Freiheit zu Freiheit, und schließlich und hauptsächlich der Bestimmung des individuellen Selbst-Seins zur Willensgemeinschaft mit Gott selbst unterscheiden (2.4.2). Zu guter Letzt werde ich die Darstellung des christlichen Glaubens an Gott den Schöpfer in ein Fazit bündeln, das die Brücke zur dogmatischen Besinnung auf den christlichen Glauben an Gott den Versöhner und auf den christlichen Glauben an Gott den Vollender schlagen wird. Es wird die ethische Pointe deutlich machen, die der humanen Selbstauslegung eines Menschen als geschaffene, als endliche, als leibhafte Person in einer Welt im Werden eingezeichnet ist (2.4.3). Es weist damit

124 Hier ist vor allem zu erinnern an die anthropologischen und an die ethischen Konsequenzen, die aus der Neurobiologie gezogen werden; vgl. Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997 (stw; 1275).

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

voraus auf die Frage, ob es eine Ordnung der Schöpfung gebe und in welcher Weise sie im Sinne eines von Natur aus Rechten zu bestimmen sei (2.5). 2.4.1

Der Status der theologischen Lehre vom Menschen

Wir Menschen alle kommen nicht umhin, uns selbst zu verstehen.125 Wir kommen deshalb nicht umhin, uns selbst zu verstehen, weil wir das uns gegebene Leben und dessen Entwicklung, dessen Geschichte und dessen Geschick nicht etwa nur erleben und erleiden; wir haben es vielmehr kraft unseres Uns-gegenwärtig-Seins zu führen und in den sozio-kulturellen Wechselwirkungen mit anderen zu gestalten. Nun ist zwar das Verstehen unserer selbst als solches stets individuell; aber das individuelle Sich-Verstehen schöpft aus den überindividuellen bzw. aus den intersubjektiven Quellen, wie sie in Lebenslehren und in Zielbestimmungen der Religionskulturen und des Philosophierens, des Kunstwerks und der politischen Bewegungen fließen. Ob nun in kritischer Affirmation oder in unterwürfigem Gehorsam: solche Quellen prägen ein Selbstbild, dem wir folgen. Auch das Leben in der Gewissheit des Christus-Glaubens ist in seinem innersten Kern ein individuelles Sich-Verstehen; und zwar ein solches Sich-Verstehen, das sich nach reformatorischer Erkenntnis in singulärer Weise dem Gefüge der Bedingungen des „äußeren Wortes“ und des „inneren Wortes“ verdankt (vgl. STh I, 604–612; s. 4.1). Insofern könnte man die systematische Besinnung auf die Wahrheit und auf die Wahrhaftigkeit dieses Sich-Verstehens insgesamt als theologische Lehre vom Menschen charakterisieren, wie dies zum Beispiel Friedrich Gogarten dezidiert getan hat.126

125 In vergleichbarer Weise geht von der faktischen Notwendigkeit der „Selbstdeutung“ aus Dieter Henrich, Fixpunkte. Abhandlungen und Essays zur Theorie der Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2003 (stw; 1610), 18 u. ö. 126 Vgl. Friedrich Gogarten, Das Problem einer theologischen Anthropologie, in: ZZ 7 (1929), 493–511. – In einem vergleichbaren Interesse, jedoch am Grundgedanken der Wahrnehmung von „Gottes Handeln am Menschen“ und der entsprechenden „Selbstwahrnehmung“ orientiert, wird die theologische Lehre vom Menschen entwickelt von Gerhard Sauter, Das verborgene Leben (wie Anm. 122). Diese eindringliche Darstellung scheint mir allerdings, indem sie pointiert die „Selbstwahrnehmung als Glaubenserfahrung (verstehe: als Erfahrung des Christus-Glaubens)“ auslegt (115–151), an der „Problemgeschichte des Begriffes ‚Selbst‘“ als einer kulturellen Besonderheit der „westlichen Hemisphäre“ (117) programmatisch vorbeizugehen. Diese kritische Beobachtung hat insbesondere daran Anhalt, dass Sauters Darstellung das Zeitbewusstsein und damit das Sich-gegenwärtig-Sein der Person als die Bedingung der Möglichkeit religiöser Selbstwahrnehmung ignoriert. – Übrigens beschränken sich die Bibelwissenschaften unter den Stichwörtern „Anthropologie“ bzw. „Mensch“ gerne auf die anthropologischen Konzeptionen des Alten Testaments bzw. des Neuen Testaments (vgl. Bernd Janowski, Art. Mensch IV. Altes Testament: RGG4 5, 1057–1058; Hermann Lichtenberger, Art. Mensch V. Neues Testament: ebd. 1058–1061; und bes. Udo Schnelle, Neutestamentliche Anthropologie. Jesus – Paulus – Johannes [Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1991]), ohne

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

Demgegenüber gibt es jedoch gute und gewichtige Gründe dafür, das Thema und die Aufgabe einer theologischen Lehre vom Menschen zu begrenzen. Sie widmet sich der Antwort auf die Frage, in welcher Weise sich dem Christus-Glauben das Phänomen des Mensch-Seins zeigt, das uns wie allen Menschen in und mit der Gegenwart des je eigenen Lebens – des Lebens in selbstbewusster Freiheit unter den herrschenden Bedingungen der Natur dieser Erde und deren Bestimmtheit vom Prozess des Universums – schon erschlossen ist.127 Sie hat in dieser Begrenzung innerhalb der dogmatischen wie der ethischen Besinnung eine zweifache Funktion: Zum einen sucht die theologische Lehre vom Menschen alle diejenigen kategorialen Bestimmungen zu erkennen und zu formulieren, mit deren Hilfe und in deren Licht der Christus-Glaube anknüpft an die klassische philosophische Frage: „Was ist der Mensch?“128 Im Unterschied bzw. auch im Gegensatz zu manchen philosophischen Beantwortungen dieser Frage folgt sie allerdings dem fragenden Ausdruck des Staunens, wie es das biblische Offenbarungszeugnis artikuliert: „Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst, / und des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst?“ (Ps 8,5).

Sie nimmt das Gotteslob des 8. Psalms programmatisch ernst, indem sie zu den kategorialen Bestimmungen des Mensch-Seins in allererster Linie die Möglichkeit und die Notwendigkeit des Gott-Verstehens zählt: die Möglichkeit und die Notwendigkeit des richtigen, des gerechten, des dankbaren, des selbstbewusst-freien Verhältnisses zum schöpferischen Grund und Ursprung des All des Seienden und dessen In-Gemeinschaft-sein-Wollen. Sie tut das, weil sie die entsetzliche Erfahrung reflektiert, dass die tatsächlichen Konflikte bzw. die tatsächlichen Gewaltverhältnisse der geschichtlichen Existenz des Menschengeschlechts den mannigfachen Formen eines tiefen Selbst-Missverstehens im Sinne einer tiefen Perversion des Gott-Verstehens geschuldet sind, wie es die biblische Sprache als „In-der-SündeSein“ charakterisiert. Insofern kommt der theologischen Lehre vom Menschen die

von sich aus zu einer begrifflich-kategorialen Interpretation der quellensprachlichen Terme für die deutschen Lexeme „Geist“, „Seele“, „Leib“ vorzustoßen. Insbesondere tragen sie zum kirchenund theologiegeschichtlich heiß umstrittenen Thema der Möglichkeit und der Notwendigkeit des Gott-Verstehens für das leibhafte Person-Sein kaum etwas bei. 127 Unter verschiedenen prinzipientheoretischen Prämissen verfahren so auch Gerhard Ebeling, Dogmatik I, 376–414; Wolfhart Pannenberg, STh II, 209–266; Jürgen Moltmann, Gott in der Schöpfung (wie Anm. 1), 223–278. 128 In die Beantwortung dieser Frage wollte Immanuel Kant die drei Grundfragen einer selbstkritischen transzendentalen Theorie der endlichen Vernunft zusammenführen; vgl. Immanuel Kant, Logik (W III, 417–582), A 25. Allerdings trägt seine empirische Abhandlung „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ zur validen Beantwortung dieser Frage bedauerlicherweise nichts bei.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

normative Funktion zu, mit deren Hilfe und in deren Licht der Christus-Glaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen hier und heute jene Pathologie entwirft, ohne die wir die tatsächlichen Deformationen des Charakters in der geschichtlichen Existenz des Menschengeschlechts nicht begreifen könnten in ihrer Eigenart: als die Symptome eines Schuldig-Seins und eines immer neuen Schuldig-Werdens am göttlichen Wesen selbst, an dessen Wahrheit und an dessen Güte (Ps 51,6; vgl. 3.3).129 Zum andern aber leiten die kategorialen Bestimmungen der theologischen Lehre vom Menschen den Christus-Glauben der Person bzw. die Kommunikation der Kirche in allen ihren Medien hier und heute dazu an, das Leben in der Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums angemessen zu beschreiben und zu orientieren: nämlich als das Leben in der Erfahrung der Freiheit des Gewissens, die als solche das Leben in der Einheit der Erfahrungswelt heilsam neu bestimmt (vgl. STh I, 245–257). Die kategorialen Bestimmungen der theologischen Lehre vom Menschen dienen mithin jenem individuellen Sich-Verstehen, das sich aus der Gewissheit des erfüllten bzw. des vollendeten Gottesverhältnisses speist: aus jener Gewissheit, die uns die Bestimmung und den Sinn des endlichen, des dem Leid der Endlichkeit und der Erfahrung des Schuldig-Werdens ausgesetzten Menschenwesens kraft des Heiligenden Geistes dankbar, froh und hoffnungsvoll ergreifen lässt. In dieser zweifachen Funktion bietet die theologische Lehre vom Menschen, die das Bestimmt-Sein der endlichen, der leibhaft existierenden Person zur selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit dem wahrhaft unendlichen PersonSein Gottes und mit dessen Eigen-Sinn entfaltet, den hermeneutischen Schlüssel für die religiöse Kommunikation der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen. Sie bietet diesen Schlüssel für die Verständigung im Innenverhältnis der Christus-Gemeinschaft über die angemessene Form des Gottesdienstes im prägnanten biblischen Sinne des Begriffs (vgl. Röm 12,1); sie bietet diesen Schlüssel aber auch für die Verständigung über die Kriterien der theoretischen wie auch der praktischen Diakonie, die die Christus-Gemeinschaft in ihrer jeweiligen Gesellschaft und schließlich in der entstehenden Weltgesellschaft zu leisten versucht.130

129 Die theologische Lehre vom Menschen nimmt daher den Status einer Meta-Psychologie für die verschiedenen Praxisfelder der religiösen Kommunikation des Evangeliums in Anspruch, welcher Anspruch allerdings nur in einer vollständigen Theologischen Anthropologie einzulösen ist. Der nach wie vor wichtigste Beitrag dazu liegt m. E. vor im Werk von Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive (wie Anm. 122). 130 Ob die Kirchengemeinschaften in der gegenwärtigen Bundesrepublik Deutschland sich des hermeneutischen Schlüssels der theologischen Lehre vom Menschen als der Pointe der Lehre vom christlichen Glauben an Gott den Schöpfer wirklich bewusst sind, sei hier nur als eine mich bedrängende Frage angemerkt.

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

Im Rahmen meiner kritischen Besinnung auf die Wahrheit des christlichen Glaubens an Gott den Schöpfer hat die theologische Lehre vom Menschen in dieser ihrer zweifachen Funktion hermeneutisches Gewicht. Bevor ich nunmehr daran gehe, das Phänomen des Mensch-Seins mit Hilfe und im Lichte des Begriffs des geschaffenen Person-Seins zu entfalten, bemühe ich mich um eine Antwort auf zwei naheliegende Fragen. Die erste dieser Fragen bezieht sich auf das Verhältnis, in dem die theologische Lehre vom Menschen zu den anthropologischen Sprach- und Denkformen des biblischen Offenbarungszeugnisses und dessen Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte steht; die zweite dieser Fragen hat es zu tun mit dem Verhältnis zwischen der theologischen Lehre vom Menschen im Ganzen einer systematischen Darstellung des Christentums und dem enormen Projekt einer erfahrungswissenschaftlichen „Anthropologie“, die seit den ersten Ansätzen in der frühen euro-amerikanischen Neuzeit zur interfakultären Mega-Disziplin geworden ist. Erstens: Wie in der „Prinzipienlehre“ nachgewiesen, kommt der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments normative Bedeutung für das Leben des Christus-Glaubens in den Epochen und Perioden der Christentumsgeschichte zu. Und zwar deshalb, weil sie das ursprünglich mündliche Zeugnis für das endgültige Offenbar-Werden des göttlichen Heils-Sinnes in den Ereignissen des Dritten Tages auf pluriforme Weise als apostolisches Vermächtnis schriftlich niederlegt (vgl. STh I, 567–612). Dieses ihr ursprüngliches Zeugnis schließt als solches eine Anschauung des Lebens und der Wirklichkeit ein, welche den mehr oder weniger reflektierten Rahmen eines Überzeugt-Sein-Könnens von der Wahrheit und von der Wahrhaftigkeit ihres Zeugnisses bildet. Innerhalb dieses Rahmens signalisieren die anthropologischen Grundbegriffe der Bibel ein genuines bzw. ein spezifisches Verstehen des Phänomens des Mensch-Seins, das in dieser Anschauung des Lebens und der Wirklichkeit – in dieser Sicht des Sinnes von Sein – sachgemäß vorausgesetzt und mit enthalten ist. Wie es die christliche Rezeptions- und Wirkungsgeschichte erkennen lässt, bedürfen die biblischen Texte, die dieses genuine bzw. spezifische Verstehen des Phänomens des Mensch-Seins mitteilen131 , einer sorgfältigen Sachexegese. Es wird meinen Lesern und meinen Leserinnen gewiss willkommen sein, wenn ich die

131 Es handelt sich hauptsächlich um die beiden mythischen Schöpfungserzählungen der sog. Urgeschichte (Gen 1,1–2,4a; 2,4b–3,24), um die Anthropologie des Psalters und um die Anthropologie des Corpus Paulinum sowie des Evangeliums nach Johannes. Aus der bibelwissenschaftlichen Erforschung ist vor allem hervorzuheben: Bernd Janowski, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder. Mit einem Quellenanhang und zahlreichen Abbildungen, Tübingen: Mohr Siebeck, 2019.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

Problematik kurz markiere, mit der die christliche Rezeptions- und Wirkungsgeschichte zu kämpfen hatte. In dieser Geschichte dominiert für lange Zeit ein Verstehen, das die Bedeutung des Ausdrucks „Bild Gottes“ im kritischen Anschluss an die Psychologie der philosophischen Schulen der Spätantike formuliert. Es will darauf hinaus, das Allgemeine des je einzelnen Menschenwesens im Widerspruch zur gnostischen Bewegung bzw. im Widerspruch zur Lehre Markions in der von Gott geschaffenen strukturierten Einheit des Geistes, der Seele und des Körpers zu entdecken. Gleichzeitig macht es geltend, dass das Allgemeine des je einzelnen Menschenwesens eben wegen dieser strukturierten Einheit des Geistes, der Seele und des Körpers als ursprüngliches Existieren in Willens- bzw. in Entscheidungsfreiheit zu bestimmen sei. Die ersten Ansätze zur begrifflichen sowie zur phänomenologischen Erfassung des Wollens bei Origenes, bei Gregor von Nyssa und besonders bei Augustin erbringen eine gründliche Innovation im Vergleich zur Psychologie der philosophischen Schulen jener Zeit.132 Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir in dieser ihrer Interpretation erste Schritte zur Erkenntnis des Individuellen des je einzelnen Menschenwesens erblicken; denn das besondere Individuelle kommt dem je einzelnen Menschenwesen dadurch zu, dass es sich – mit Augustin gesprochen – über sein eigenes Wollen nicht täuschen könne.133 Es ist die offenkundig der biblisch bezeugten Selbstwahrnehmung zu verdankende Einsicht in das freie Wollen-Können, die das theologische Denken jener Epoche aufmerksam werden lässt auf das unaufhebbare Verantwortlich-Sein der Person für sich vor ihrem schöpferischen Grund und Ursprung und vor dessen In-Gemeinschaft-sein-Wollen. Just im freien WollenKönnen der individuellen Person manifestiert sich – wie schon Bischof Irenäus von Lyon betonte – jene ursprüngliche Gnade, die Gottes schöpferischem Walten schon als solchem eignet und die in Gottes erhaltendem, lenkendem und regierendem Walten fort und fort erneuert wird. Sie – Gottes schöpferische Gnade – gewährt das Individuelle des Mensch-Seins als hohes Gut. Freilich war die Sachexegese des biblischen Ausdrucks „Bild Gottes“ von einer schweren Hypothek belastet. Sie ergibt sich daraus, dass man die priesterschriftliche ebenso wie die nicht-priesterliche Schöpfungserzählung – im Widerspruch zu ihrer mythischen Form – im Sinne eines Berichts über den empirischen Anfang des Menschengeschlechts lesen und dass man in der reflektierten hebräischen Wendung

132 Vgl. die Hinweise bei Wolf-Dieter Hauschild, Art. Gnade IV. Dogmengeschichtlich (Alte Kirche bis Reformationszeit): TRE 13, 476–495; 478ff.; Christoph Markschies, Art. Wille III. Kirchen- und theologiegeschichtlich: RGG4 8, 1561–1563; 1561f.; Ders., Art. Willensfreiheit III. Kirchengeschichtlich: ebd. 1569–1573; 1569. 133 Vgl. Aurelius Augustinus, De duabus animabus, 14: „nobis voluntas nostra notissima est“ (CSEL 25/ 1, 68,21f; zit. nach Christoph Markschies [wie Anm. 132]).

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

‫( צלם כדמות‬Gen 1,26f.) den Aspekt des Bildes und den Aspekt des Ähnlich-Seins unterscheiden zu müssen meinte. Die vorkritische Lektüre sah sich deshalb bis weit in die euro-amerikanische Neuzeit hinein genötigt, die Situation eines anfänglichen Urstands zu fingieren bzw. zu imaginieren, in der das gottgewollte Ziel des individuellen freien WollenKönnens – das Höchste Gut des Ähnlich-Seins mit Gottes göttlichem Wesen in der Form der reinen ungetrübten Gottesverehrung in Dank und Bitte, in Fürbitte und Feier – tatsächlich verwirklicht bzw. in Verwirklichung begriffen war, bevor es durch den Fall verloren wurde, wie dies die nicht-priesterliche Schöpfungserzählung anzudeuten schien.134 Zwar war es jederzeit die kirchlich festgestellte Lehre, dass dieses erste, anfängliche Teilhaben am Höchsten Gut des Ähnlich-Seins mit Gottes göttlichem Wesen seinerseits die heilsame Gabe göttlicher Gnade sei – das donum superadditum, das nach scholastischer Lesart die gnadenvoll gewährte Natur des individuellen Mensch-Seins ins Übernatürliche der Teilhabe am Höchsten Gut erhebt; aber es war und blieb das unlösbare Rätsel dieser Exegese, wie es möglich sein soll, dass ein erstes Menschenpaar die ihm gnadenvoll gewährte Teilhabe am Höchsten Gut des Ähnlich-Seins mit Gottes göttlichem Wesen freiwillentlich ausgeschlagen und damit das Geschick der Gattung homo sapiens überhaupt für alle Zeit determiniert haben könne. Die nicht-priesterliche mythische Erzählung Gen 2,4b–3,24 bot für diese Lehre nicht den geringsten Anhalt. Die Theologie der reformatorischen Bewegung schien den gordischen Knoten dieses Rätsels durchhauen zu haben. Nicht nur deshalb, weil Martin Luther die Eigenart des hebräischen Lexems als Hendiadyoin erkannte und der Unterscheidung zwischen der gnadenreich gewährten Natur des individuellen Mensch-Seins und der gnadenreich gewährten Teilhabe am Höchsten Gut des Ähnlich-Seins mit Gottes göttlichem Wesen exegetisch den Boden entzog; sondern auch und vor allem deshalb, weil er mit dem Begriff des schöpferischen Sprechens (Gen 1,3) das ontologische Grundverhältnis zwischen Gottes Sein und dem Sein des All des Seienden entscheidend präzisierte. Tatsächlich aber zog die Lehre vom „Sündenfall“ zumal in ihrer augustinischen Fassung die nahezu unausweichliche Konsequenz nach sich, dass das „Bild-Gottes-Sein“ des Menschen als solches mit dem Verlust des Höchsten Guts des Ähnlich-Seins mit Gottes göttlichem Wesen überhaupt oder jedenfalls weitestgehend verloren sei: eine Konsequenz, an der sich die Theologie in der Periode der altprotestantischen Orthodoxie lutherischer wie reformierter

134 Von dieser Fiktion bzw. von dieser Imagination vermochte sich auch die Theologie der reformatorischen Bewegung noch nicht zu lösen; vgl. Martin Luther, WA 4; 19,28ff.; 42,50; ApolCA 2,15ff.; FC Epitome I,1 (BSLK 770); Jean Calvin, Inst. I; 15,1f. (OS I, 173ff.). – Vgl. hierzu Walter R. Dietz, Art. Urstand: III. Dogmatisch: RGG4 8, 843–848.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

Prägung vergeblich abarbeitete. Ihr war ebenso wie der römisch-katholischen Theologie nach dem Konzil von Trient der Blick für die Sache des biblischen Textes verstellt.135 Es bedurfte der religionswissenschaftlichen Erforschung und der literarkritischen Untersuchung des Alten Testaments, um den mythischen Charakter der sog. „Urgeschichte“ Gen 1–11 zu erkennen. Für Friedrich Schleiermacher hatte diese Erkenntnis keineswegs die Folge, im Rahmen seiner Theorie der christlichen Frömmigkeit bzw. des christlich-frommen Selbstbewusstseins ihren Ursprungsmythos rational zu destruieren; er zeichnete ihn vielmehr ein in jene transzendentale Fassung, die es möglich macht, die überlieferte Gestalt der Glaubenssätze zu größtmöglicher Bestimmtheit zu bringen. Wenn er die überlieferte Gestalt der Glaubenssätze in Frage stellt, so tut er das um willen des Begriffs der „ursprünglichen Vollkommenheit“ der Welt und des Menschen.136 Es ist hier nicht der Ort, Schleiermachers Begriff der ursprünglichen Vollkommenheit der Welt und des Menschen en détail zu analysieren. Im Kontext des Ersten Teils der „Glaubenslehre“ ist es dessen Ziel, den Term des Ursprünglichen sorgfältig zu klären. „Ursprünglich vollkommen“ ist demnach das menschliche Inder-Welt-Sein von seinem Ursprung in Gottes schöpferischer, ewiger, allmächtiger Allgegenwart her. „Ursprünglich vollkommen“ ist es von seinem transzendenten Grunde her, auf den es schlechthin bezogen und schlechthin angewiesen ist im transzendentalen Grund des Gefühls des Selbst-Seins. „Ursprünglich vollkommen“ ist es mithin deshalb, weil es – das menschliche In-der-Welt-Sein – gut ist: gut nämlich für die „Entwicklung“ (§ 59,3 [I, 316 = KGA I.13,1, 366]) und damit für die Geschichte und für das Geschick des Gottesbewusstseins „im Geist als dem Sitz des Gottesbewußtseins“ (ebd.).137 135 Das zeigt insbesondere die heftige Auseinandersetzung in der Kirche unter dem Bischof von Rom über die Lehre von Cornelius Jansen (1585–1638), dessen Gnadenlehre verurteilt wurde in den Konstitutionen „Vineam Domini“ von 1705 (DH 2390) und „Unigenitus Dei Filius“ von 1713 (DH 2400–2502). 136 Vgl. zum Folgenden Friedrich Schleiermacher, CG2 , §§ 59–61 (I, 313–337 = KGA I.13,1, 363–387). – Zur transzendentalen Fassung von Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit vgl. o. 2.2.2. 137 Mit dieser Erklärung des „ursprünglich Vollkommenen“ wird auch die mythische Form der grandiosen Aussage von Gen 1,31 ernst genommen: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“. – Mit großem Nachdruck hat Karl Barth im Ersten Teil seiner Lehre von der Schöpfung im Anschluss an Gen 1,31–2,4a von der „Schöpfung als Rechtfertigung“ (Karl Barth, KD III/1, 418–476) gehandelt, und zwar im kritischen Gespräch mit Gottfried Wilhelm Leibniz, mit Christian Wolff und mit der Physiko-Theologie des 18. Jahrhunderts. Seine Darstellung entfaltet den Satz: „Und so ist auch die Erkenntnis geschöpflicher Güte Erkenntnis der Schöpfungswohltat auf Grund der Selbstkundgebung des Schöpfers.“ (KD III/1, 419). Von dieser „Selbstkundgebung“ gilt allerdings: „Seine, des Sohnes Gottes, Erniedrigung und Erhöhung ist die Selbstkundgebung Gottes des Schöpfers“ (KD III/1, 432); und zwar deshalb, weil sie sich weder in der „Lichtseite“ noch in der „Schattenseite“ der Schöpfung in ihrer Eigenart manifestiert, sondern sie vielmehr

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

Nach alledem lässt sich der Status der theologischen Lehre vom Menschen klar und deutlich bestimmen. Ihr Status ist der status primus im transzendentalen Sinne jener Bedingungen, unter denen die geschichtliche Existenz der Menschengattung und somit die geschichtliche Existenz des individuellen Menschenwesens steht. Von diesen Bedingungen behauptet jedenfalls der Christus-Glaube, dass sie uns zu verstehen und zu praktizieren vorgegeben sind durch Gottes Walten, das sie schöpferisch werden, sein und dauern lässt. Indem ich ihre Relation entfalten werde, greife ich entschieden und bewusst die altkirchliche Lektüre von Gen 1,26f. auf, die ihr Wirklich-Sein als ursprüngliche Manifestation der schöpferischen Gnade Gottes ehrt.138 Wie verhält sich diese Intention der theologischen Lehre vom Menschen nun zu jener interfakultären Mega-Disziplin, die sich „Anthropologie“ nennt? Zweitens: Um das Verhältnis der theologischen Lehre vom Menschen zur MegaDisziplin der „Anthropologie“ zu beschreiben, sei diese Mega-Disziplin in der gebotenen Kürze geschichtlich eingeordnet, zumal dem Term „Anthropologie“ verschiedene Bedeutungen zukommen. Der christliche Glaube an Gott den Schöpfer und die systematische Besinnung auf dessen Wahrheitsgehalt stehen mit dem Interesse an der angemessenen Selbstauslegung des Menschen und an der Erkenntnis seiner Bestimmung im unbegrenzten und doch endlichen All des Seienden beileibe nicht allein. In allen Religionskulturen finden wir Deutungen des Mensch-Seins, die nicht nur dessen Grund und Ursprung, sondern auch dessen Sinn und dessen Woraufhin thematisieren; und die sich auseinandersetzen mit dem Faktum der Geschlechtsdifferenz und mit dem Geschick des Schuldig-Werdens, der Krankheit und des Todes.139 überbietet durch Gottes „eigene Teilnahme an unserer Existenz und … auch an den Widersprüchen unserer Existenz“ (KD III/1, 438). Diese „dem christlichen Glauben geschenkte Erkenntnis von der Rechtfertigung, von der Vollkommenheit des Daseins ist eine unerschütterliche Erkenntnis.“ (III/1, 445f. [Unterstreichung im Original gesperrt]). Im Gegensatz zu Schleiermachers Erklärung des Gut-Seins als des ursprünglich Vollkommenen für die Entwicklung des Gottesbewusstseins der Person bestreitet Barth nicht nur das Gefühl des Schlechthin-Abhängig-Seins (KD III/1, 397ff.); er bezweifelt auch – wie schon gezeigt – entgegen allen Beteuerungen das zweifelsfrei Gewisse des endlichen Person-Seins und liefert die gesamte Besinnung auf die Wahrheit und auf die Wahrhaftigkeit des Christus-Glaubens der ontologischen Skepsis aus. 138 Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den Kampf der französischen „Nouvelle théologie“ (Henri de Lubac [1896–1991]), die in ihrer Auseinandersetzung mit der Neuscholastik der sog. Römischen Schule und ihrer Lehre von der natura pura den übernatürlichen Charakter des menschlichen Bild-Gottes-Seins vertrat. Vgl. bes. Henri de Lubac, Le mystère du surnaturel, 1965. Vgl. Rudolf Voderholzer, Art. Lubac, Henri de: RGG4 5, 532–533. 139 Vgl. hierzu Hans Wissmann, Art. Mensch I. Religionsgeschichtlich: TRE 22, 458–464; Andreas Grünschloss, Art. Mensch II. Religionswissenschaftlich: RGG4 5, 1052–1054; und bes. Andreas Feldtkeller, Die notwendige Integration von „Innen“ und „Außen“ in der Methodologie der Religi-

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Die Deutungen der menschlichen Existenz im Lichte einer wie auch immer symbolisierten religiösen Transzendenzgewissheit werden kritisch umgestaltet in den Lebenslehren philosophischer Schulen seit ihren Anfängen in der griechischen Antike; insbesondere seit Sokrates. Diese philosophischen Schulen leiten im Rahmen anspruchsvoller geometrisch-mathematischer, kosmologischer und metaphysischer Theoria an zum Leben mit dem Ziel der Eudaimonia aus praktischer Vernunft; und so erzeugen sie in der Zeit der formativen Phase des frühen Christentums ein fruchtbares Spannungsfeld, in welchem sich die christliche Sicht der Bestimmung des Menschen zum gnadenreich gewährten Ähnlich-Sein mit Gott artikuliert. Die großen theologischen Denker – allen voran Clemens, Origenes und Augustinus – streben nach einem Verstehen der humanitas der Gattung homo sapiens, das jedenfalls die Psychologie der philosophischen Schulen kraft eigener Einsicht in die Phänomene kritisch rezipiert und integriert. Die christliche Sicht der Bestimmung des Menschen zum gnadenreich gewährten Ähnlich-Sein mit Gott, wie sie die einflussreichen Schulen der dominikanischen und der älteren sowie der jüngeren franziskanischen Scholastik in gegensätzlicher Weise entfalten, wird in der humanistischen Bewegung innerhalb der Kultur der europäischen Renaissance noch keineswegs in Abrede gestellt. Erwachsen aus dem Eifer für das Programm der studia humanitatis, schöpft sie ihr epochales Selbstbewusstsein aus der Entdeckung und aus der Aneignung der griechischen und der lateinischen Antike, ihrer Literatur und ihrer Kunst, mit deren Hilfe sie sich kritisch distanziert vom wissenschaftlichen Verfahren der mittelalterlichen Hohen Schulen. Sie praktiziert ein Ideal der Selbstbildung, das Kirchenkritik sehr wohl mit individueller Frömmigkeit verbinden kann, wie dies die überragende Rolle von Desiderius Erasmus von Rotterdam beweist. Allerdings mehren sich in dieser Zeit die Stimmen, die in der bildenden Kunst und in den technischen Errungenschaften Erweise menschlichen Erfindungsgeistes und menschlicher Schöpferkraft erkennen, die eine revolutionär neue Epoche eröffnen. Der Kult des Genialischen wirft seine Schatten voraus. Beflügelt von dem neuerwachten Interesse an einer wissenschaftlichen Medizin formiert sich in der frühen europäischen Neuzeit die „Anthropologie“ als eine eigentümliche Fragestellung. In ihrer Geschichte werden empirische Befunde, therapeutische Konzepte und kategoriale bzw. ethische Ideen miteinander verknüpft.140 Ihren verschiedenen Konstruktionen scheint dies gemeinsam zu sein,

onsbeschreibung, in: Wilfried Härle und Reiner Preul (Hg.), Religion. Begriff, Phänomen, Methode, Elwert: Marburg 2003 (MJTh; XV), 15–41. 140 Vgl. hierzu bes. die Forschungen von Odo Marquard, Art. Anthropologie: HWP 1, 362–374; Ders., Über einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapie in der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts, jetzt in: Ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1973 (stw; 394), 85–106; Ders., Zur Geschichte des philosophischen Begriffs „An-

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

dass sie sich mehr oder weniger entschieden vom biblischen Wesensbegriff des „Bild-Gottes-Seins“ ebenso wie vom metaphysischen Begriff der Theoria und nicht zuletzt von transzendentaler Reflexion distanzieren. Stattdessen wählen sie den Begriff des Verhaltens zum anthropologischen Grundbegriff. Mit diesem anthropologischen Grundbegriff verbinden sich verschiedene Erwartungen. Zum einen macht er es möglich, die Eigenart des menschlichen Lebens in ihrem Naturverhältnis und d. h. in ihrem Verhältnis zum Leben des Tiers zu erforschen; zum andern macht er es möglich, die faktische Notwendigkeit des Kulturellen und des Institutionellen zu betonen – womöglich als der Kompensation für jene Mängel, die uns Menschen allen als Naturwesen ohne die Sicherheit des Instinkts anhaften (Arnold Gehlen). Während Helmuth Plessner „Philosophische Anthropologie“ in ausdrücklichem Verzicht auf metaphysisches Denken als neue Weise einer philosophischen Grundlegung entwirft, signalisiert der Term „Anthropologie“ das Interesse mannigfacher Humanwissenschaften an den menschlichen Verhaltensweisen und an ihrer „Biologie“ (Irenäus Eibl-Eibesfeldt). Eine Besinnung auf den transzendentalen Grund, der eine Erfahrungswissenschaft vom Menschen allererst ermöglicht, bleibt – um es zugespitzt zu sagen – außer Betracht.141 Diese in gröbsten Strichen gezeichnete Lage stellt die theologische Lehre vom Menschen vor eine außerordentliche Herausforderung. Wir können ihr begegnen und wir können sie annehmen, wenn wir den transzendentalen Charakter ihrer begrifflich-kategorialen Bestimmungen zur Geltung bringen. Ich hatte diesen ihren transzendentalen Charakter darin gesehen, dass sie das unbestreitbare Sich-gegenwärtig-Sein betont, kraft dessen sich die endliche Person des relativen, des bedingten, des verlässlichen Dauerns ihrer selbst und damit des unendlichen Grundes ihres Dauerns unmittelbar gewiss ist. Auf dieser Basis bezeichnet theologische Lehre vom Menschen das menschliche Dasein als das gnadenreich gewährte leibhafte Person-Sein, das als solches in seiner Geschichte zur gnadenreich gewährten Willensgemeinschaft mit Gott selbst bzw. mit dessen In-Gemeinschaft-sein-Wollen bestimmt ist. Sie nennt den transzen-

thropologie“ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts: ebd. 122–144. – Marquard hat übrigens auf dieser Basis unter Protest gegen utopische Geschichtsentwürfe der nach seiner Ansicht wissenschaftlich inkompetenten Philosophie die Kompetenz zugewiesen, an die Quellen der tradierten Selbstauslegung des Menschen zu erinnern und damit ihre wissenschaftliche Inkompetenz zu kompensieren. Warum „der Philosophie“? Und welcher Philosophie? 141 Einen Sonderfall in der Geschichte des philosophischen Begriffs „Anthropologie“ bietet Ludwig Feuerbach, der ihn als Kürzel für die christentums- und religionskritische Umkehrung von „Theologie“ gebraucht und missbraucht. Vgl. Konrad Stock, STh I, 342–345.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

dentalen Grund für jenen elementaren Sachverhalt, für den die „Philosophische Anthropologie“ den Begriff der Weltoffenheit erfand.142 Mit diesem Begriff lässt sich durchaus die „Struktur des Erfahrens“ summieren, kraft derer wir die Einheit der Erfahrungswelt konstituieren (vgl. STh I, 189–304). An den Prozessen dieser Konstitution nehmen die verschiedenen Erfahrungswissenschaften vom Menschen teil, deren Praxis gar nicht anders als im Lichte theoretischer Hypothesen und kategorialer Leitideen vor sich geht. Wenn nun die theologische Lehre vom Menschen den transzendentalen Grund aller Weltoffenheit bezeichnet, ist sie von dieser Praxis ebenso wenig wie von der Praxis aller anderer Wissenschaftsgebiete zu ersetzen oder zu erschüttern; vielmehr begreift sie diese Praxis als eines jener Werke des Menschen, die allerdings der Bestimmung des Menschen zur gnadenreich gewährten Willensgemeinschaft mit Gott selbst bzw. mit dessen In-Gemeinschaft-sein-Wollen sowohl dienen als auch widerstehen können. 2.4.2

Mensch-Sein als geschaffenes Person-Sein

Wir haben uns in einem ersten Schritt über den Status der theologischen Lehre vom Menschen und über deren Verhältnis zur interfakultären Mega-Disziplin „Anthropologie“ verständigt. Im großen Ganzen einer Lehre vom christlichen Glauben an Gott den Schöpfer beschreibt die Theologische Anthropologie im Besonderen die Art und Weise, in der der Christus-Glaube die uns Menschen allen gnadenreich gewährte humanitas versteht und zu verstehen einlädt. Sie will damit die Glieder der Christus-Gemeinschaft dazu rüsten und dazu befähigen, in ihrer Lebensführung sowohl in der privaten als auch in der öffentlichen Sphäre ihrer Existenz für die Würde des Menschen einzutreten; und sie will die Inhaber kirchenleitender Funktionen und die repräsentativen Sprecher der Kirche in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit dazu ermutigen, angesichts der abgründigen Ambivalenz des Mensch-Seins klar und deutlich die Bedingungen zu proklamieren, unter denen allein Humanität gewollt, verteidigt und geliebt sein wird. Ich hatte schon in der „Prinzipienlehre“ (STh I, 278–304) sowie in der Lehre vom christlichen Glauben an Gott und in der Lehre vom christlichen Glauben an Gott den Schöpfer gewichtige Aspekte des Begriffs des geschaffenen Person-Seins erörtert. Ich führe diese Aspekte nun zusammen, indem ich sie als die Aspekte der strukturierten Einheit dreier gleich wesentlicher Relationen plausibel mache. Sie sind als solche für die humanitas des homo sapiens konstitutiv.

142 Vgl. zur Aufnahme und zur Diskussion dieses Begriffs von Max Scheler Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive (wie Anm. 122), 40–76: Weltoffenheit und Gottebenbildlichkeit.

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

Ich werde erstens zeigen, dass die Einheit dieser drei gleich wesentlichen Relationen ihre Wurzel hat in der primären Gewissheit des je individuellen Freiheitsgefühls. Kraft dessen trifft geschaffenes Person-Sein im jeweiligen Sich-gegenwärtig-Sein Entscheidungen über sich; und zwar Entscheidungen im Medium des je eigenen Leibes, der uns nicht anders als in der geschlechtlichen Differenz des männlichen oder des weiblichen Leibes gegeben ist. Ich spreche hier aus gutem Grunde von geschaffenem Person-Sein, weil die primäre Gewissheit des je individuellen Freiheitsgefühls von immaterieller bzw. von idealer oder intelligibler Art ist: gebildet von dem schöpferischen Geiste Gottes, der die Natur des hominiden Organismus beseelt, um sie zum Wollen des in Wahrheit Guten zu befähigen (2.4.2.1).143 Ich werde zweitens zeigen, dass geschaffenes Person-Sein in seiner jeweils individuellen Eigen-Art bezogen ist auf anderes geschaffenes Person-Sein in dessen jeweils individueller Eigen-Art. Es existiert in typischen Formen des Mit-EinanderSeins und Für-Einander-Seins, unter denen ich im Folgenden die ursprüngliche Gleichheit im Verhältnis von Geschlecht zu Geschlecht und im Verhältnis von Freiheit zu Freiheit beleuchte (2.4.2.2). Schließlich werde ich zeigen, dass geschaffenes Person-Sein in dieser ursprünglichen Gleichheit bezogen ist auf Gottes schöpferisches Person-Sein und damit auf dessen Eigen-Sinn. Es existiert als Gottes endliches und d. h. leibhaftes Bild. Als solches ist es ursprünglich zur Gemeinschaft mit Gottes Walten und mit Gottes göttlichem Wesen bestimmt; und in ihr findet es das Höchste Gut, den Frieden und die Freude seines weltoffenen Daseins. Insofern hat der Grundbegriff des Exzentrischen144 im Gottesverhältnis des geschaffenen Person-Seins seinen genuinen Ort (2.4.2.3). Indem ich diese drei Aspekte des menschlichen, des geschaffenen Person-Seins entfalte, charakterisiere ich Aspekte des christlichen Verstehens des Mensch-Seins, die sich von anderweitigen Deutungen bzw. Miss-Deutungen in Geschichte und in

143 Ich folge hier dem anthropologischen Grundgedanken der Theorie des Ethischen, wie er skizziert ist von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Brouillon zur Ethik (1805/06). Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun hg. und eingeleitet von Hans-Joachim Birkner, Hamburg: Meiner, 1981 (PhB; 334). Vgl. hierzu Eilert Herms, „Beseelung der Natur durch die Vernunft“. Eine Untersuchung der Einleitung zu Schleiermachers Ethikvorlesung von 1805/06, jetzt in: Ders., Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 2003, 49–100. Der Begriff der relationalen Struktur des geschaffenen Person-Seins wird der Besinnung auf den christlichen Glauben an Gott den Versöhner bzw. auf den christlichen Glaubens an Gott den Vollender und daraufhin der Theologischen Ethik (STh III) zugrunde liegen. 144 Der Begriff des Exzentrischen (genauer: der „exzentrischen Positionalität“) wurde in die Debatte eingeführt von Helmuth Plessner, der ihn im Sinne des zentralen Motivs einer „biologischen Anthropologie“ verwendet, die die spezifische Stellung des Mensch-Seins im Ganzen des Lebendigen erfassen will. Vgl. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlin/New York: de Gruyter, 3 1975.

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Gegenwart und ihren praktischen Konsequenzen erheblich unterscheiden.145 Sie finden ihre notwendige Ergänzung in der Darstellung des christlichen Glaubens an Gott den Versöhner bzw. in der Darstellung des christlichen Glaubens an Gott den Vollender. Erst diese notwendige Ergänzung wird verständlich machen, inwiefern das Verstehen des Mensch-Seins im Licht des Christus-Glaubens das Verstehen der Macht der Schuld und der Übermacht der Versöhnung einschließt (Röm 5,20) und deshalb tragischen Charakter im prägnanten Sinne des Begriffes hat.146 2.4.2.1

Geschaffenes Person-Sein als individuelles Selbst-Sein

Im Sinnraum und Verstehenshorizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft erkennt der Christus-Glaube das geschaffene Person-Sein als individuelles Selbst-Sein. Ich hebe daran drei Aspekte hervor, die ineinander liegen und die ich lediglich aus darstellungstechnischem Grund in einer Reihenfolge betrachte: den Aspekt der primären Gewissheit des individuellen Freiheitsgefühls; den Aspekt der Leiblichkeit als Seinsweise der geschaffenen Person; und schließlich den Aspekt der Einheit der dualen Struktur der Seele und des Leibes, in der wir füreinander und in der wir für Gott existieren. Erstens: Ich hatte immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass menschliches, geschaffenes Person-Sein von einem denkbar frühen Zeitpunkt an sich selbst versteht, und zwar indem es sich erlebt. Als was es sich erlebt, das können wir mit Hilfe und im Lichte eines bestimmten Begriffs der Theorie des Selbstbewusstseins greifen, nämlich mit Hilfe und im Lichte des Begriffs der primären Gewissheit des je individuellen Freiheitsgefühls. Indem ich diesen Begriff gebrauche, verdeutliche ich Schleiermachers Unterscheidung zwischen dem Aspekt des unmittelbaren Selbstbewusstseins und dem des reflektierten Selbstbewusstseins (s. 2.2.1). Sie weist auf jene Selbstvertrautheit hin, die die uns Menschen allen vorgegebene Bedingung dafür ist, jeweils hier und jetzt – in der jeweiligen Gegenwart unseres Lebens – eine Wahl bzw. eine Entscheidung der sprachlich-symbolisierenden, der praktischorganisierenden sowie der ästhetischen Art zu treffen. Insofern erleben wir uns in der primären Gewissheit des individuellen Freiheitsgefühls in der Zeit: und zwar in ihrer Grundform als die Gegenwart, in der uns Gegenwärtiges gegenwärtig wird (s. 2.3.4.1).

145 Vgl. hierzu Eilert Herms, Das christliche Verständnis vom Menschen in den Herausforderungen der Gegenwart, jetzt in: Ders., Zusammenleben im Widerstreit der Weltanschauungen. Beiträge zur Sozialethik, Tübingen: Mohr Siebeck, 2007, 1–24. 146 Vgl. hierzu bes. Walter Sparn, Art. Tragik/Tragödie II. Systematisch-theologisch: TRE 33, 755–762 (Lit.); bes. 758ff.: Das Tragische als Herausforderung der Theologie.

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

Indem wir jeweils hier und jetzt kraft der primären Gewissheit des individuellen Freiheitsgefühls eine Wahl bzw. eine Entscheidung über uns selbst in unserem Verhältnis miteinander und füreinander treffen, existieren wir auf zukünftige Gegenwarten hin, von denen wir uns Gutes erhoffen und allerdings auch Übles befürchten. Gleichzeitig existieren wir von vergangenen bzw. von gewesenen Gegenwarten her, in denen wir frühere Wahlen bzw. frühere Entscheidungen über uns selbst in unserem Verhältnis miteinander und füreinander trafen, die uns in der Erinnerung präsent sind, falls wir sie nicht vergessen, verdrängen oder verschweigen.147 Ich hatte in der Theorie des Zeitgefühls bzw. des Zeitbewusstseins zeigen wollen, dass dem Uns-gegenwärtig-Sein der Vorrang des Zukünftigen eingezeichnet ist (s. 2.3.4.1). Die primäre Gewissheit des je individuellen Freiheitsgefühls, in der wir uns selbst unmittelbar erleben als das verantwortliche Subjekt unseres Wählens und Entscheidens, hat mithin zeitlichen Charakter. Sie ist Gewissheit unseres Uns-gegenwärtigSeins. In ihr sind wir des Guten als des Verlässlichen gewiss, das uns in endlicher, begrenzter und bedingter Dauer schon gewährt ist und gewährt wird; in ihr sind wir allerdings auch dessen gewahr, dass diese endliche, begrenzte und bedingte Dauer beileibe nicht in unserer Macht, sondern ursprünglich und endlich einzig und allein in jener schöpferischen Macht liegt, die dieses Gute als Verlässliches gewährt, bewahrt und rettet. Deshalb erhoffen wir das Dauern des Uns-gegenwärtig-Seins; und dasjenige, wofür wir uns das Dauern des Uns-gegenwärtig-Seins erhoffen, hat die Bedeutung eines Woraufhin bzw. eines Worumwillen, von dem wir uns Erfüllung, Freude und Genuss versprechen. Es prägt und bildet jenen Grundaffekt bzw. jenen Lebenstrieb, der sich in allen einzelnen Entscheidungen materialisiert und der in eine ganz spezifische Gemeinschaft des Erhoffens integriert. Die biblische Sprache hat für die Gewissheit des Uns-gegenwärtig-Seins, die notwendig das Gute als das Verlässliche des Dauerns und als das Woraufhin und Worumwillen des Dauerns erhofft, die prägnante Metapher „Herz“ gebraucht.148

147 Die angemessene Beschreibung des Phänomens der Erinnerung dürfte daher die Brücke bilden, mit deren Hilfe die theologische Lehre vom geschaffenen Person-Sein des Menschen sich auf die tiefenpsychologischen Deutungen des „Unbewussten“ bzw. des „primären Narzissmus“ (Heinz Kohut) beziehen kann. Was wir vergessen, verdrängen oder verschweigen, sind offensichtlich solche vergangenen bzw. gewesenen Gegenwarten, die wir nicht wahrhaben wollen, obgleich sie in der Erinnerung nach wie vor präsent sind. 148 Vgl. bes. Gen 8,21; Ex 4,21; Dtn 6,5; 10,12; 1Sam 2,1; 16,7; 1Kön 3,9; 8,39; Ps 13,6; 19,15; 24,4; 28,7; 34,19; 51,12; 63,6; 73,26; 104,15 (!); 139,23; Jes 29,13; 51,7; 61,1; Jer 15,16; 17,9; 24,7; 31,33; Ez 36,26; Hos 5,4; 7,14; Sir 1,12; Mt 5,8; 6,21; 22,37; Lk 2,19; 24,32; Joh 16,22; Apg 1,24; 8,37; Röm 1,21; 5,5; 6,17; 10,10; 1Kor 2,9; 4,5; 2Kor 1,22; 4,6; Gal 4,6; Eph 3,17; Phil 4,7; Kol 3,22; 2Thess 3,5; Hebr 10,22; 13,9. – Vgl. hierzu bes. Hans Walter Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, München: Kaiser, 3 1977, 68–95; Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 4 1961, 221–226 (zu Paulus). – In der Geschichte des christlichen Denkens sind es vor allem Augustin (vgl. Anton Maxsein, Philosophia Cordis. Das Wesen der

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

Sie gab und gibt als solche der Sprache der christlichen Frömmigkeit und der kirchlichen Kommunikation das unübertrefflich starke Ausdrucksmittel, mit dessen Hilfe und in dessen Licht wir den komplexen Sachverhalt der Intentionalität benennen können.149 Denn wie wir im Schlagen des Herzens den leibhaften Übergang von gegenwärtiger Gegenwart in zukünftige Gegenwart passiv bzw. passional empfinden, so können wir in der Gewissheit des Uns-gegenwärtig-Seins dessen verlässliches Dauern und dessen Erfüllung nur erhoffen. Und wie das passive bzw. das passionale Empfinden des Herzschlags uns die selbstverantwortliche Sorge für unser aller Lebensverhältnisse nicht abnimmt, so begründet die passiv bzw. passional erschlossene Bestimmtheit eines Woraufhin bzw. eines Worumwillen die Richtung einer Lebensgeschichte, die wir selbst zu wählen und zu gestalten haben. Über das metaphorische Feld des Herzens geht der nicht-metaphorische Begriff der Intentionalität allerdings hinaus; denn er verdeutlicht den Sachverhalt, dass das Woraufhin bzw. das Worumwillen der Richtung einer Lebensgeschichte seinerseits nicht frei von uns zu wählen ist (s. u. S. 288–297). Zweitens: Nun ist die menschliche Weise, das Leben im je gegenwärtigen Aus-Sein auf Gutes, auf Verlässliches und auf Erfüllendes zu führen, unwiderruflich an den individuellen Organismus einer männlichen oder einer weiblichen Körpergestalt gebunden. Dieser individuelle Organismus – gezeugt, empfangen und geboren, im Werden und im Wachsen, im Altern und zuletzt im Sterben begriffen – ist je mein Leib, der eigene, geschlechtlich differenzierte Leib.150 Was immer wir in unserem

Personalität bei Augustinus, Salzburg: O. Müller, 1966) und Martin Luther (vgl. Birgit Stolt, Martin Luthers Rhetorik des Herzens, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000 (UTB; 2141), die das metaphorische Feld „Herz“ im Sinne eines tragenden Grundbegriffs für das sei es rechte sei es verkehrte GottVerstehen der Person verwenden.- Die Metapher „Herz“ ist nicht nur in die Sprache der gebildeten Frömmigkeit eingegangen (vgl. EG 295,2: „Von Herzensgrund ich spreche: / dir sei Dank allezeit“ [vgl. ferner EG 293,1; 295,3; 330,1; 343,3; 346,3]), sondern auch in die Sprache der Dichtung (vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Willkommen und Abschied: „Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde! / Es war getan fast eh gedacht.“; Friedrich Hölderlin, Gesang des Deutschen: „O heilig Herz der Völker / o Vaterland“); und natürlich in die Liebessprache, die von der bzw. von dem „Herzallerliebsten“ spricht. 149 Vgl. hierzu Eilert Herms, Art. Intention/Intentionalität II. Ethisch: RGG4 4, 188–189. – Von der Bestimmtheit dieses Grundaffekts her ereignen sich jeweils die proversiven oder aversiven Gefühle bzw. Emotionen, wie sie die Theorie der Emotion im Rahmen einer Darstellung der „Struktur des Erfahrens“ (vgl. STh I, 214–228) zu beschreiben hat. 150 Vgl. zum Folgenden bes.: Adalbert Podlech, Der Leib als Weise des In-der-Welt-Seins, Bonn: Bouvier, 1956; Helmuth Plessner, Philosophische Anthropologie. Lachen und Weinen. Das Lächeln. Anthropologie der Sinne. Hg. und mit einem Nachwort von Günter Dux, Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, 1970; Heinz-Horst Schrey, Art. Leib/Leiblichkeit: TRE 20, 638–643 (Lit.); Robert Jewett/ Joachim Ringleben/Kirsten Huxel, Art. Leib/Leiblichkeit I.–III.: RGG4 5, 215–221; Eilert Herms, „Füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet…“. Das dominium terrae und die

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

Uns-gegenwärtig-Sein erleben und erleiden, um daraufhin mit dem Erlebten und Erlittenen sprechend, denkend, handelnd und gestaltend umzugehen, geschieht in dessen Medium. In ihm sind wir ins Ganze des physischen Weltgeschehens und der Natur der Erde einbezogen – in Licht und Luft, in Schwerkraft und in Fruchtbarkeit –, um je in unserer Gegenwart an der sozialen, der geschichtlichen Mit-Welt und am unbeirrbar zielstrebigen Walten ihres schöpferischen Grundes und Ursprung teilzunehmen. Eine am biblischen Denken orientierte Betrachtung des je eigenen Leibes ist jedem Dualismus von Physischem und Psychischem strikt entgegengesetzt. Zum einen ist die hochkomplexe Organisation des je eigenen Leibes das Medium des sinnlichen Empfindens, Wahrnehmens und Fühlens des Anderen als Anderen in dessen jeweils sinnfälliger Eigenart. Indem wir uns in unserem Uns-gegenwärtigSein stets im je eigenen Leibe spüren, erleben wir uns unwillkürlich als rezeptiv und damit als in bestimmter Weise abhängig von dem Wirklichen, das uns insonderheit in der leibhaften Präsenz des anderen individuellen Selbst begegnet. Zum andern ist die hochkomplexe Organisation des je eigenen Leibes das Medium des Miteinander-Sprechens, des Miteinander-Handelns sowie des MiteinanderSpielens. Indem wir uns in unserem Uns-gegenwärtig-Sein stets im je eigenen Leibe spüren, erleben wir uns unwillkürlich als spontan und damit als in begrenzter und in relativer Weise frei: als frei für alle die Bewegungen, in denen wir die jeweils wechselseitige Relation mit anderem individuellen Selbst vollziehen. Wie Rezeptivität der Sinne und Spontaneität der Bewegung miteinander verschränkt sind, zeigt uns das Küssen, das Spiel des Eros und der Tanz auf geradezu außeralltägliche Weise. Schließlich ist die hochkomplexe Organisation des je eigenen Leibes auch das Medium der möglichen und der tatsächlichen Selbstdarstellung voreinander und füreinander. Vor allem geben das Gesicht, die ganze Körperhaltung, der Ton der Stimme und die Art der Kleidung dem jeweils Andern zu verstehen, welche Stimmung uns erfüllt und welche Affekte, Emotionen und Leidenschaften uns beherrschen. Ob himmelhohe Freude oder zu Tode betrübte Trauer, ob Lust des Lebens oder ob Langeweile oder gar Lebensüberdruss uns zeichnen, vermögen wir einander leibhaft mitzuteilen. Helmuth Plessner hat dem Lachen und dem Weinen als den beiden Grenzreaktionen des menschlichen Verhaltens eine einfühlsame Studie gewidmet. Namentlich diese Studie lässt erkennen, dass das Verhältnis zwischen der primären Gewissheit des individuellen Freiheitsgefühls – dem Idealen bzw. dem IntelliLeibhaftigkeit des Menschen, in: Ders., Gesellschaft gestalten. Beiträge zur evangelischen Sozialethik, Tübingen: Mohr Siebeck, 1991, 25–43; Hans Jonas, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität? Das Leib-Seele-Problem im Vorfeld des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a.M.: Insel Verlag, 1981.

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giblen der Seele – und dem individuellen hominiden Organismus des je eigenen Leibes konstituiert wird von der Seele der Person; denn in der primären Gewissheit des individuellen Freiheitsgefühls – im Idealen bzw. im Intelligiblen der Seele – sind alle rezeptiven und spontanen Bestimmungen des individuellen hominiden Organismus als rezeptive und spontane Bestimmungen des je eigenen Leibes präsent. Wie wir das sinnfällige Lachen der Geliebten bzw. des Geliebten als uns selbst geltend wahrnehmen und verstehen, so nehmen wir das unwillkürliche Ausbrechen in Tränen als eine tiefe seelische Erschütterung über uns wahr. Das Tier versteht es weder zu lachen noch zu weinen. Die phänomenologische Betrachtung des Im-Leibe-Seins der geschaffenen Person vermag zu zeigen, dass und in welcher Weise der je eigene Leib die Lebensgeschichte eines Menschen und damit dessen individuelle Identität in der Beziehung zur Gemeinschaft der geschaffenen Personen und in der Verehrung ihres schöpferischen Grundes fundiert. Er ist insofern die in der Evolution des Universums bzw. in der Evolution des Lebens in der Natur dieser Erde gewordene materielle Basis bzw. das Organon der Seele und ihrer selbstbestimmten, selbstbewusst-freien Kommunikation und Interaktion. Als solcher ist er allerdings zugleich in mannigfacher Weise den Risiken, den Störungen, den Entfremdungen einer Lebensgeschichte ausgeliefert, die wir an unserem je eigenen Leib erleiden müssen: dem Hunger und dem Durst, dem Schmerz und der Gewalt, der Krankheit, der Behinderung und zuletzt dem Prozess des Sterbens. Ich komme noch darauf zurück, dass der „beseelte Leib“ des „irdischen Menschen“, von welchem der Apostel Paulus spricht (1Kor 15,44), als ein zerbrechliches und schließlich als ein zerbrechendes Selbstverhältnis aufzufassen ist. Für die dogmatische bzw. für die ethische Besinnung auf die Wahrheit des Christus-Glaubens hat meine phänomenologische Betrachtung des geschlechtlich differenzierten Im-Leibe-Seins der geschaffenen Person erhebliches Gewicht. Sie leitet nicht nur dazu an, die machtvollen asketischen Trends der Christentumsgeschichte mit kritischem Respekt zu bewerten151 ; sie macht auch die Verantwortung für den vernünftigen und aufmerksamen Umgang mit dem je eigenen Leib in Krankheit und Gesundheit und für den globalen Kampf bewusst, den die Glieder der Christus-Gemeinschaft zusammen mit den Menschen guten Willens gegen die massiven Bedrohungen des Leibes als des Mediums bzw. des Organons selbstbewusster und selbstbestimmter Freiheit kämpfen werden.152

151 Hier ist vor allem zu erinnern an den massiven Protest der reformatorischen Bewegung gegen die Grundsätze der mönchischen Gelübde sexueller Enthaltsamkeit sowie gegen den Pflichtzölibat des Priestertums in der Tradition der Kirche unter dem Bischof von Rom. 152 Im Rahmen der Besinnung auf den christlichen Glauben an Gott den Vollender wird zu erörtern sein, dass es just das phänomenologisch gut begründete Verstehen des geschaffenen Person-Seins als „Im-Leibe-Sein“ ist, das in der zuversichtlichen Hoffnung auf die Gemeinschaft mit Gottes

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Drittens: Wie lässt sich nun die Art des Verhältnisses zwischen der primären Gewissheit des individuellen Freiheitsgefühls, den selbstbewusst-frei gewählten Intentionen und dem geschlechtlich differenzierten Im-Leibe-Sein der geschaffenen Person genauer bestimmen?153 Die biblischen Sprach- und Denkformen, die uns die Auffassung der humanitas im Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments mitteilen, gehen mehr oder weniger deutlich davon aus, dass zwischen dem ImLeibe-Sein und dem Sich-gegenwärtig-Sein der geschaffenen Person „Einheit“ bzw. „Ganzheit“ bestehe. Von welcher Art nun diese „Einheit“ bzw. diese „Ganzheit“ sei, wird allerdings kaum ausdrücklich gefragt. Es ist aus diesem Grunde unumgänglich, für die verschiedenen Formen der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche – und insbesondere für die kompetente Praxis der Seelsorge – nach einer angemessenen begrifflich-kategorialen Klärung dieser „Einheit“ bzw. dieser „Ganzheit“ zu suchen. Wirkmächtige Positionen des Philosophierens wie z. B. das Denken Platons oder das Denken René Descartes’ sprechen das Sich-gegenwärtig-Sein der geschaffenen Person als vernünftige Seele bzw. als Selbstreflexion an, ohne deren Gebundenheit an den je eigenen Leib und an dessen naturale Organisation hinreichend zu beachten. Gegen diese dualistische Figur wendet sich seit David Hume die Position, welche ewigem Leben jenseits des Todes und durch den Tod hindurch vorausgesetzt und mit enthalten ist (vgl. 1Kor 15,42-49). 153 Vgl. zum Folgenden bes.: Thomas von Aquino, STh I q 76; DH 902; Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Brouillon zur Ethik (1805/06) (wie Anm. 143); Ders., Ethik (1812/13), Einleitung (5–18); Karl Barth, KD III/2, § 46 (391–524): Der Mensch als Seele und Leib; Francis P. Fiorenza/Johann Baptist Metz, Der Mensch als Einheit von Leib und Seele: MySal II, 584–636; Jürgen Moltmann, Gott in der Schöpfung (wie Anm. 1), 250–278; Wolfhart Pannenberg, STh II, 209–232: Der Mensch als personale Einheit von Leib und Seele; Horst Seidl, Art. Seele V. Kirchen- und philosophiegeschichtlich: TRE 30, 748–759; Konrad Stock, Art. Seele VI. Theologisch: ebd. 759–773 (Lit.); Annette Wilke/Dietrich Korsch/Hans-Peter Schütt/Alfred Seiferlein/Kirsten Huxel, Art. Leib und Seele I.–VI.: RGG4 5, 221–230; Kirsten Huxel, Ontologie des seelischen Lebens. Ein Beitrag zur theologischen Anthropologie im Anschluß an Hume, Kant, Schleiermacher und Dilthey, Tübingen: Mohr Siebeck, 2004, bes. 361–374; Eilert Herms, Leibhafter Geist – Beseelte Organisation. – Schleiermachers Psychologie als Anthropologie. Ihre Stellung in seinem theologisch-philosophischen System und ihre Gegenwartsbedeutung, in: Arnulf von Scheliha und Jörg Dierken (Hg.), Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, Berlin/Boston: De Gruyter, 2017 (SchlA; 26), 217–243; Andreas Arndt, Schleiermachers Psychologie – eine Philosophie des subjektiven Geistes?, ebd. 245–256; Eilert Herms, STh (Bd. 2), 2095ff. – Im Folgenden orientiere ich mich an Schleiermachers Entwürfen zu einer „Psychologie“, ohne mich auf die Probleme ihrer Interpretation einzulassen. Wie diese Entwürfe zu einer „Psychologie“ (und wie Hegels Theorie des subjektiven Geistes) mit dem Erkenntnisinteresse der verschiedenen tiefenpsychologischen Schulrichtungen des 20. Jahrhunderts zu vermitteln sind: diese Frage bleibt in meiner systematischen Besinnung außer Betracht.

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die Selbstbezüglichkeit des Bewusstseins als die gesteigerte Weise deutet, in der die naturale Organisation des Körpers kraft des Gehirns sich reproduziert und sich erhält. Während jene dualistische Figur das Menschliche des Mensch-Seins in der für sich bestehenden Vernunft erblickt, reduziert die monistische Figur das Menschliche des Mensch-Seins auf seine hochentwickelte Natur im Prozess der Evolution des Lebens. Beide Figuren scheitern, weil sie das Sich-gegenwärtig-Sein der individuellen Person in ihrem Wechselverhältnis zum je eigenen Leib und eben damit ihre Relation zu anderem Person-Sein und zum schöpferischen Grund des menschlichen Person-Seins in dieser Welt nicht verständlich machen können. Für das Sich-gegenwärtig-Sein der individuellen Person in ihrem Wechselverhältnis zum je eigenen Leib verwende ich im Folgenden den Ausdruck bzw. das Index-Wort „Ich“. Wie leicht zu sehen, bezeichnet es weder eine „Instanz“ im Sinne Sigmund Freuds noch eine Summe mehrerer „Vermögen“; vielmehr bezeichnet es diejenige Weise des Lebens, die sich der aufmerksamen Betrachtung als eine Weise des Sich-Verstehens, der Selbstbeziehung bzw. des bewussten Selbstverhältnisses darbietet.154 Sie – diese Weise des Sich-Verstehens, der Selbstbeziehung bzw. des bewussten Selbstverhältnisses – aktualisiert sich und konkretisiert sich sowohl in der sprachlichen Kommunikation als auch in der pragmatischen bzw. der ästhetischen Interaktion in der Gemeinschaft mit anderen, die ihrerseits in ihrem Sich-Verstehen, in ihrer Selbstbeziehung bzw. in ihrem bewussten Selbstverhältnis jeweils „Ich“ sind. Dies Sich-Verstehen, diese Selbstbeziehung bzw. dieses bewusste Selbstverhältnis hat allerdings im Unterschied zu dem je eigenen geschlechtlich differenzierten Leib idealen bzw. intelligiblen Charakter. Das Verstehen der Seele im transzendentalen Sinne negiert nicht die Intention der aristotelischen Lehre von der vernünftigen Seele als immaterieller Substanz, sondern verdeutlicht sie im Sinne des unmittelbaren Bezogen-Seins der individuellen Person auf sich. Daraus ergibt es sich, dass die „Einheit“ bzw. die „Ganzheit“ des je individuellen Freiheitsgefühls und des Im-Leibe-Seins der geschaffenen Person nicht anders als im Sinne einer dualen Struktur zu beschreiben ist. In dieser dualen Struktur des Idealen bzw. des Intelligiblen und des Naturalen bzw. des Materiellen vollzieht sich das Leben der geschaffenen Person in ihrem Verhältnis zur anderen geschaffenen Person und zum schöpferischen Grund ihres Daseins in der Natur dieser Erde im ungeheuren All des Universums und seines Richtungssinnes.

154 Wer etwa diese Weise des Lebens, die sich uns im Prozess der Evolution des Lebens als eine Weise der Selbstbeziehung darbietet, in Abrede stellen würde, würde sich in den performativen Widerspruch verstricken, sie in Anspruch zu nehmen, um sie zu bestreiten. – Vgl. zur Kritik der Metapsychologie Sigmund Freuds und ihrer Lehre von einem „Nebeneinander“ von „Es“ und „Ich“ Eilert Herms, STh (Bd. 2), 2103f.

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

In jeder sprachlichen Kommunikation, in jeder pragmatischen und in jeder ästhetischen Interaktion mit anderen, die wie wir selbst jeweils „Ich“ sind, sind seelisches (also: ideales bzw. intelligibles) Leben und Leben des je eigenen (also: naturalen bzw. materiellen) Leibes demnach in ursprünglicher Einheit gegeben. Sie zeigt sich uns. Denn die Aktionen des Miteinander-Sprechens bzw. des MiteinanderErkennen-Wollens bedienen sich notwendigerweise des hominiden Organismus des je eigenen Leibes; ebenso wie die Aktionen des Miteinander-Handeln-Wollens und des Miteinander-Gestalten-Wollens ganz unmöglich wären ohne die sei es einfachen sei es komplexen Bewegungen des je eigenen Leibes. Erst recht wird uns die ursprüngliche Einheit des seelischen Lebens und des Lebens des je eigenen Leibes klar, wenn wir uns die verschiedenen Ausdrucksgestalten des Gesichts, des Mimischen, des Gestischen vergegenwärtigen, in denen Leid und Schmerz, Zorn und Wut, Freundschaft und Liebe sich darstellt. Das Phänomen des leibhaften Lebens derer, die jeweils füreinander „Ich“ sind, dementiert sowohl die dualistische als auch die monistische Figur der bewussten Selbstdeutung des Menschlichen.155 Es dementiert vor allem verschiedene Hypothesen auf dem Gebiet der rein naturwissenschaftlichen Erforschung des menschlichen Gehirns, die diesem einzigartigen Organ des hominiden Körpers geradezu den Rang des quasi-personalen Subjekts zuschreiben. Jedoch: zeigt sich das Menschliche des Mensch-Seins im Unterschied zum Leben der Pflanze und zum Leben des Tieres in ursprünglicher Einheit des seelischen Lebens und des Lebens des je eigenen Leibes, so löscht die ursprüngliche Einheit deren ursprüngliche Differenz nicht aus. Wir, die wir jeweils füreinander „Ich“ sind, nehmen uns vielmehr in den gemeinsamen Aktionen des Miteinander-Sprechens, des Miteinander-Erkennen-Wollens, des Miteinander-Handeln-Wollens und des Miteinander-Gestalten-Wollens wahr in einer Weise, die wir als geistig verstehen dürfen. Was heißt das?156 Wenn ich um willen des Verstehens der Einheit des je individuellen SelbstSeins der Person den Ausdruck „geistig“ bzw. „Geist“ verwende, so spiele ich auf

155 Vom Phänomen des leibhaften Lebens derer, die jeweils „Ich“ sind, geht seit Johann Christian Heinroth aus die psychosomatische Krankheitslehre, die sich kritisch abgrenzt von der überwiegend somatisch bzw. naturwissenschaftlich ausgerichteten Betrachtungsweise der modernen Schulmedizin. Vgl. hierzu allgemein Thure von Üxkuell u. a., Psychosomatische Medizin. Modelle ärztlichen Denkens und Handelns, Urban + Fischer/Elsevier, 6 2002. 156 Vgl. zum Folgenden bes.: Paul Tillich, STh III, 19–337: Vierter Teil: Das Leben und der Geist (darin 32ff.: Der Geist als eine Dimension des Lebens [bes. 34: „In alledem zeigt sich, daß Geist und Kraft nicht im Gegensatz zueinander stehen, sondern daß Kraft eines der beiden Elemente des Geistes ist – das andere ist ‚Leben im Sinn‘.“]; 134ff.: Die Manifestation des göttlichen Geistes im menschlichen Geist); Bernhard Taureck, Art. Geist/Heiliger Geist/Geistesgaben VII. Der philosophische Geistbegriff: TRE 12, 242–254; Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive (wie Anm. 122), 501–519; Ders., STh II, 209–232.

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eine hoch bedeutsame Theoriegeschichte an, die ich an dieser Stelle unmöglich präsentieren kann. In ihr wäre nicht nur zu erinnern an die großen Entwürfe des Denkens des Einen seit Anaxagoras bzw. seit Parmenides, seit Heraklit und seit Platon, sondern auch an die Art und Weise, in der die christliche Theologie sich auf das Denken des Einen bezog, um in dessen Kontext die Einzigkeit des dreieinen göttlichen Wesens zu betrachten (s. 1.4). Möglich war diese Rezeption – etwa bei Clemens von Alexandrien, bei Origenes, bei den kappadokischen Theologen und dann vor allem bei Augustin –, weil sich das Denken des Einen und die biblische Gottesrede in den Bestimmungen des Höchsten Gutes nahe kamen. Die deutschen Terme „geistig“ und „Geist“ intendieren insofern eine kategoriale Eigen-Art bzw. einen kategorialen Eigen-Sinn, den wir auf keinen Fall direkt mit den sprachlich geformten Kommunikationen bzw. mit den praktischen Interaktionen und mit dem Ganzen der ästhetischen Gestaltungen identifizieren dürfen.157 Was sie bezeichnen, ist die prinzipielle Orientierung hinsichtlich des in Wahrheit Guten, derer das je individuelle Selbst-Sein der Person bedarf. Weil diese prinzipielle Orientierung hinsichtlich des in Wahrheit Guten dem Leben in der ursprünglichen Einheit des Naturalen – des Leibes als des Mediums bzw. als des Organons – und des Idealen bzw. des Intelligiblen – der Seele als der Fähigkeit des freien Sich-Bestimmens – uns noch nicht von allem Anfang an gewissermaßen angeboren ist wie die geschlechtliche Differenz, erscheint sie und ereignet sie sich erst in der Entwicklungs- und der Bildungsgeschichte der Person. Für dies Erscheinen bzw. für dies Sich-Ereignen verwende ich den Ausdruck „Geist“. Mit dem Begriff des Geistigen bzw. des Geistes assoziieren wir ganz richtig jene freie selbstbewusste Selbsttätigkeit der Person, die auf ein Ziel, ein Woraufhin, ein Worumwillen zugeht. Von dieser freien selbstbewussten Selbsttätigkeit gilt offensichtlich, dass sie sich realisiert im Wollen und nicht etwa im bloßen Wünschen, Träumen oder Phantasieren. Indem wir etwas Bestimmtes wollen, treffen wir in der jeweiligen Gegenwart Entscheidungen, kraft derer wir Mögliches verwirklichen

157 Die kategoriale Eigen-Art bzw. der kategoriale Eigen-Sinn dessen, was wir im Deutschen als „geistig“ und als „Geist“ bezeichnen, wird verkannt in dem einflussreichen Werk von George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Mit einer Einleitung herausgegeben von Charles W. Morris, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1973 (stw; 28); vgl. hierzu Hans Joas, Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von George Herbert Mead, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980. Mead legt dankenswerter Weise im Teil I seines Werkes den „Standpunkt des Sozialbehaviorismus“ dar (39–79), der ausdrücklich „metaphysische Implikationen“ (79 Anm. 21) vermeiden möchte. Infolgedessen versteht er unter „Geist“ (englisch: „mind“) „die reflektive Intelligenz des Menschen“ (159) bzw. das intelligente Verhalten, das den gesellschaftlichen Prozess vermöge des Zentralnervensystems in die individuelle Person „hereinnimmt“ (230ff.). Meads „Sozialpsychologie“ versteht sich ausdrücklich als eine Theorie der „Erfahrungen des Einzelnen“ (79) im Gegensatz zu einer Theorie des Bewusstseins als einer Theorie der Bedingungen möglicher Erfahrung.

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

wollen. Und indem wir in der jeweiligen Gegenwart Entscheidungen im Verhältnis zu anderen Entscheidungen treffen, wollen wir Mögliches auf ein gemeinsames Ziel, auf ein gemeinsames Woraufhin, auf ein gemeinsames Worumwillen hin verwirklichen. Allerdings steht das gemeinsame Ziel, das gemeinsame Woraufhin, das gemeinsame Worumwillen der individuellen Entscheidungen der Person über sich in der Alternative des Sittlichen und des Noch-nicht-Sittlichen bzw. des Unsittlichen.158 Diese Alternative aber wird für die geschaffene Person entschieden durch das Erscheinen bzw. durch das Sich-Ereignen des Geistes in ihrer Bildungs- und Entwicklungsgeschichte, das ihr die Idee des Höchsten Gutes erschließt.159 Indem der göttliche, der schöpferische Geist der geschaffenen Person in ihrer Bildungs- und Entwicklungsgeschichte die Idee des Höchsten Gutes erschließt, ermöglicht und gebietet er das sittliche, das der Verfassung und der Bestimmung des geschaffenen Person-Seins angemessene Wollen. Dass die Erschließungskraft des göttlichen, des schöpferischen Geistes die Anerkennung der Idee des Höchsten Gutes im „Herzen“ der geschaffenen Person bewirkt und damit ihre Ideale evoziert: das ist die positive Fassung der Lehre Martin Luthers und Jean Calvins von der Unfreiheit des menschlichen Wahlvermögens bzw. Wählen-Könnens. Ich war von der Frage ausgegangen, wie sich die Art des Verhältnisses zwischen der primären Gewissheit des individuellen Freiheitsgefühls, den selbstbewusst-frei gewählten Intentionen und dem Im-Leibe-Sein der geschaffenen Person genauer bestimmen lässt. Diese Frage findet nun die Antwort, die das typisch Menschliche des Mensch-Seins in der Relation der vernünftigen Seele, des Leibes und des Geistes in den Blick nimmt. Um diese Relation zu klären, ging ich zurück auf die Situation je meines leibhaften Lebens, des Lebens eines menschlichen Ich in seinem Sich-gegenwärtig-Sein. Dieses Leben ist uns vertraut als seelisches Leben im Medium des Organismus je meines eigenen Leibes. Will sagen: es ist uns vertraut als Leben, das wir führen in der Geschichte des Miteinander-Sprechens, des Miteinander-Erkennens, des Miteinander-Handelns bzw. des Miteinander-Gestaltens. In ihr sind wir bezogen auf 158 Dass die Intelligenz der leibhaft existierenden Person als solche nicht gefeit ist vor dem energischen Wollen des Unsittlichen, dass sie vielmehr dem energischen Wollen des Unsittlichen auf eine in höchstem Maße effiziente Weise dient, zeigt die Schlüsselstellung, die Albert Speer in der brillanten technischen Organisation des Krieges Adolf Hitlers innehatte. 159 Mit diesem Gedanken beziehe ich mich auf den formalen Grundriss der ethischen Theorie, die Friedrich Schleiermacher im Wege der kritischen Interpretation der Ethik Platons gewonnen hatte; vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Brouillon zur Ethik (1805/06) (wie Anm. 143); Ders., Ethik (1812/13); sorgfältig untersucht von Eilert Herms, „Beseelung der Natur durch die Vernunft“, jetzt in: Ders., Menschsein im Werden (wie Anm. 143), 49–100; Ders., Platonismus und Aristotelismus in Schleiermachers Ethik, ebd. 150–172. Vgl. weiterhin: Konrad Stock, Einleitung, 314–323.

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die Einheit der Erfahrungswelt (vgl. STh I, 258–304), die wir erfassen und gestalten bzw. umgestalten wollen im Licht und in der Perspektive des Gemeinsamen: des erstrebenswerten Ziels, des Woraufhin und Worumwillen. Nun ist uns dieses Wollen nicht etwa angeboren so wie die geschlechtliche Differenz des Organismus, den wir als unseren je eigenen Leib verstehen. Es wird vielmehr dadurch und nur dadurch konstituiert, dass Gottes schöpferischer Geist uns in der Bildungs- und Entwicklungsgeschichte unseres Lebens das Höchste Gut im Sinne der Idee des in Wahrheit Guten erschließt. In diesem Wollen und vermöge dieses Wollens ist seelisches Leben im Medium des hominiden Organismus nicht etwa nur und allein seelisches bzw. vernünftiges Leben; es ist vielmehr als solches geistiges Leben, Leben, das vom Geiste Gottes her bestimmt ist und das dem Sein des Geistes Gottes sich verdankt.160 2.4.2.2

Die Bestimmtheit der geschaffenen Person für die geschaffene Person

Ich hatte angekündigt, Sinn und Bedeutung des ehrwürdigen Terms „Bild Gottes“ begrifflich-kategorial als die Struktur der dreifachen Relation zu entfalten, in der wir Menschen alle uns durch Gottes Walten als schöpferischer Geist ursprünglich gegeben sind. Nachdem ich bisher das Relat des individuellen Selbst-Seins zu verstehen suchte, wende ich mich jetzt der ursprünglichen Relation zwischen uns Menschen zu. Drei gleich wesentliche Aspekte dieser ursprünglichen Relation seien im Folgenden hervorgehoben: erstens das Geschlechtsverhältnis (2.4.2.2.1); zweitens das Verhältnis von Freiheit zu Freiheit (2.4.2.2.2); und schließlich drittens

160 Meine von Schleiermachers Entwürfen zu einer Psychologie inspirierte Darstellung unterscheidet sich grundsätzlich von der Darstellung, die Karl Barth im § 46 der „Kirchlichen Dogmatik“ vorträgt (vgl. Karl Barth, KD III/2, § 46,2: „Der Geist als Grund der Seele und des Leibes“ [414–439]). Direkt und indirekt gegen jede „Identifizierung des Menschen mit Gott“ (425) gerichtet, geht Barth von der These aus: „Geist ist das Ereignis der Lebensgabe, dessen Subjekt Gott ist … Geist ist in diesem Sinn die conditio sine qua non des Seins des Menschen als Seele seines Leibes“ (431 [Kursivierung im Original]). Denn: „er (verstehe: der Geist) ist das Prinzip, das den Menschen zum Subjekt macht.“ (437 [Unterstreichung im Original gesperrt]). Zwar entwickelt Barth im Folgenden das Subjekt-Sein des Menschen im Sinne der distinkten Einheit der Seele und des Leibes („Er [verstehe: der Mensch] ist die vernehmende und tätige Seele seines sein Vernehmen und Tun ins Werk setzenden Leibes.“ [500; Unterstreichung im Original gesperrt]); aber wie er das Subjekt-Sein des Menschen ausdrücklich ohne Rücksicht auf das unmittelbare Selbstbewusstsein bzw. auf die primäre Gewissheit des individuellen Freiheitsgefühls bestimmt, so schließt es seine Darstellung ausdrücklich aus, dass just das Wollen als Primat des geistigen Lebens der Seele zu verstehen sei, in welchem Primat uns der unendliche, der absolute Geist des schöpferischen Grundes erscheint. Gegenstand des seelischen Lebens im Medium des Leibes sind nach Barths „theologischer Begründung“ (vgl. 500) allenfalls einzelne Ereignisse bzw. einzelne Prozesse in der Welt der Natur und der Geschichte, nicht aber die Idee der Welt und erst recht nicht die Idee ihres schöpferischen Grundes. – Zur Kritik am Fideismus der „Kirchlichen Dogmatik“ s. o. Anm. 26 sowie Anm. 109.

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

die notwendige Koordination des Verhältnisses zwischen individuellem PersonSein in den Institutionen (2.4.2.2.3). Es ist mein Ziel, die Idee ursprünglicher Person-Gleichheit zu verdeutlichen, die Gottes schöpferisches Walten will und die nun allerdings erst in der kulturellen Sphäre der euro-amerikanischen Moderne zum Ideal formaler und materialer Rechtsgleichheit geworden ist. 2.4.2.2.1 Geschlecht und Liebe161

Das seelische Leben der Person, das in seiner Bildungs- und Entwicklungsgeschichte je und je durch Gottes schöpferischen Geist zum Wollen des in Wahrheit Guten erhoben wird, wird gelebt im Medium des geschlechtsbestimmten Organismus des je eigenen Leibes. Es ist seelisch-geistiges Leben im Medium des männlichen oder des weiblichen Leibes: Leben, das sich dem Walten des schöpferischen Geistes durch die Geschlechtsgemeinschaft eines Mannes und einer Frau verdankt und das in der Geschlechtsgemeinschaft neues menschliches Leben zeugt und empfängt. Der christliche Glaube an Gott den Schöpfer schließt eine Sicht der konstitutiven Sexualität des individuellen Person-Seins ein, die zu verdeutlichen ein wesentliches Thema schon der theologischen Lehre vom Menschen ist. Sie führt zu einem spezifischen Verstehen des Junktims zwischen der konstitutiven Sexualität des individuellen Person-Seins und der Intimität der erotischen Liebe, die in der Theologischen Ethik aufgenommen und entfaltet werden wird. In deren Kontext wird es darum gehen, die in der Christentumsgeschichte vielfach wirksamen asketischen Tendenzen zu korrigieren; aber auch darum, den illusionären Charakter der „irdischen Religion der Liebe“ freizulegen.162

161 Vgl. zum Folgenden bes.: Konrad Stock, Gottes wahre Liebe. Theologische Phänomenologie der Liebe, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 2000, bes. Kap. VII: Die Innigkeit der Liebe und die Leidenschaft (279–313); Ders., Einleitung, 365–373: „Liebe als Passion“. 162 Ich gebrauche hier den Ausdruck „Sexualität“ zur Bezeichnung der Geschlechtsbestimmtheit und damit der Geschlechtsdifferenz zwischen männlichem und weiblichem Person-Sein. Demgegenüber werde ich mit dem Ausdruck „Sexus“ das Verlangen bzw. die Sehnsucht nach sexueller Kommunikation bezeichnen, die heterosexuell als Geschlechtsgemeinschaft, homosexuell als Geschlechtsverkehr geschieht. Diese Wortwahl hat den Vorteil, dass sie den weiblichen Sexus bzw. den männlichen Sexus als das jeweilige Verhältnis zur weiblichen Sexualität bzw. zur männlichen Sexualität verstehen lässt: ein Verhältnis, das nicht nur geprägt ist von dieser oder jener Sitte oder Rolle, sondern auch von einer Anschauung des Lebens und der Wirklichkeit und d. h. des in Wahrheit guten Lebens. – Zur „irdischen Religion der Liebe“ vgl. Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1990 (st; 1725), bes. Kap. VI: Die irdische Religion der Liebe (222–266).

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Wir lesen in Gen 2,24.25 die bedeutungsvollen Sätze: „Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen, und sie werden sein ein Fleisch. Und sie waren beide nackt, der männliche Mensch und der weibliche Mensch, und schämten sich nicht.“

Ebenso wie es die priesterschriftliche Schöpfungserzählung tun wird (Gen 1,26ff.), macht auch die nicht-priesterschriftliche Schöpfungserzählung ausdrücklich aufmerksam auf die von Gott dem Schöpfer gewollte, bejahte und geschaffene Geschlechtlichkeit des menschlichen Person-Seins, das als solches dem Person-Sein Gottes gleicht (Gen 1,26). Sie redet nicht von einer urständlichen „Paradieses-Ehe“, sondern sie bietet in mythischer Weise eine Ätiologie des erlebbaren und erlebten Triebes bzw. der erlebbaren und erlebten Sehnsucht nach dem „Ein-Fleisch-Sein“ (Gen 2,24) zwischen dem männlichen und dem weiblichen Menschen, auf dem nach Gen 1,28 der göttliche Segen in der Form der Fruchtbarkeit ruht. Die mythisch erzählte Ätiologie des Triebes und der Sehnsucht nach dem „EinFleisch-Sein“ zwischen dem männlichen und dem weiblichen Menschen ist deshalb so erstaunlich, weil sie quer steht zur patriarchalen bzw. zur androzentrischen Kultur, wie sie das Leben der Frau in der JHWH-Gemeinschaft Israels und weithin auch im frühen Christentum und in dessen Wirkungsgeschichte bestimmt. Greift die systematische Besinnung auf die Wahrheit und auf die Wahrhaftigkeit des christlichen Glaubens an Gott den Schöpfer hier und heute auf diese Ätiologie zurück, so tut sie das in kritischer und selbstkritischer Distanz. Diese kritische und selbstkritische Distanz zur patriarchalen bzw. zur androzentrischen Kultur, wie sie das überlieferte Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testamentes faktisch prägt, ist jener zweiten Frauenbewegung seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zu verdanken, die den Begriff des Feminismus (Charles Fourier) aufnahm, um ihren Kampf für die „Überwindung patriarchaler Strukturen und Denkformen in der Gesamtkultur“ zu kennzeichnen.163 Angesichts der sexuellen Gewalt, der Diskriminierung und der Unterdrückung, die die Frauen in zahlreichen Gesellschaften dieser Erde erleiden, ist dieser Kampf nach wie vor bitter nötig. Ich komme in der Theologischen Ethik darauf zurück (vgl. STh III).

163 Vgl. Susanne Heine, Art. Theologie, Christliche II/5.1. Feministische Theologie: TRE 33, 300–306 (Lit.); Hedwig Meyer-Wilmes/J. Christine Janowski/Helga Kuhlmann/Bonnie J. Miller-McLemore, Art. Feminismus/Feministische Theologie: RGG4 3, 66–73 (Zitat: Hedwig Meyer-Wilmes, RGG4 3, 67).

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

An dieser Stelle wäre es vermessen, die Beiträge der zweiten Frauenbewegung im Allgemeinen und der Feministischen Theologie im Besonderen zum Verständnis der Geschlechtlichkeit des leibhaften Person-Seins zu diskutieren. Ich konzentriere mich vielmehr darauf, im Ganzen meiner Darstellung des geschaffenen PersonSeins den Trieb bzw. die Sehnsucht nach dem „Ein-Fleisch-Sein“ (Gen 2,24) zwischen der männlichen und der weiblichen Person in drei Aspekten zu beleuchten. Erstens: Die beiden mythischen Schöpfungserzählungen sprechen ganz ohne Zweifel von der ursprünglichen Gleichheit der weiblichen und der männlichen Person.164 Sie ist mit dem geschaffenen Person-Sein des Mannes und der Frau gegeben. Die Kulturgeschichte des Geschlechterverhältnisses und der Diskurs über den spezifischen Charakter der Geschlechter hat dies Gegeben-Sein ursprünglicher Gleichheit weitgehend verkannt. An dessen Stelle war für lange Zeit das Vorurteil der sei es schöpfungsbedingten sei es geschichtsbedingten Subordination der Frau getreten, bevor die frühe europäische Aufklärung in bester emanzipativer Absicht die Polarität des weiblichen und des männlichen Person-Seins zum Leitbild machte. Allerdings: Mit dem Leitbild der Polarität war und ist ein gravierender Nachteil verbunden. Es spricht dem Weiblichen vornehmlich den Charakter des Natürlichen, des Passiven, des Emotiven, des Privaten zu, während es dem Männlichen vor allem den Charakter des Aktiven, des Vernünftigen, des Öffentlichen zuerkennt. So spiegelt es – ob nun absichtlich oder unabsichtlich – den Gegensatz der soziokulturellen und der sozio-politischen Rollen wider, an dem sich der Protest der zweiten Frauenbewegung entzündete. Ich hatte das von Gottes schöpferischem Geist geschaffene Person-Sein als das je individuelle Selbst-Sein dargestellt. Wenn darin ursprüngliche Gleichheit gründet, so dürfen wir den Unterschied zwischen der männlichen Weise und der weiblichen Weise des individuellen Selbst-Seins mit Hilfe des Begriffs der Analogie bzw. der Ähnlichkeit verstehen.165 Dieser Begriff vermeidet es, die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen auf die Geschlechtsmerkmale des weiblichen und des männlichen Leibes zu reduzieren; und er erlaubt es, die unspezifische und die spezifische Weise zu verbinden, in der wir als männliches oder als weibliches individuelles Selbst das uns gegebene Reale in unserer jeweiligen Gegenwart erleben, sprachlich erfassen und in praktischer Interaktion bzw. in ästhetischer Kommunikation gestalten und

164 Vgl. zum Folgenden Konrad Stock, Gottes wahre Liebe (wie Anm. 161), 286–291. 165 Vgl. hierzu bes. Luce Irigaray, Ethik der sexuellen Differenz (1984), dt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991 (es; 1362 [NF 362]), bes. 138–153: Ethik der sexuellen Differenz; Adriana Cavarero, Ansätze zu einer Theorie der Geschlechterdifferenz, in: Diotima. Philosophinnengruppe aus Verona, Der Mensch ist zwei. Das Denken der Geschlechterdifferenz, Wien 2 1993, 65–102; Annemarie Piper, Aufstand des stillgelegten Geschlechts. Einführung in die feministische Ethik, Freiburg i. Br./Basel/ Wien: Herder, 1993, 178ff.

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umgestalten. Womöglich betrifft die Analogie bzw. die Ähnlichkeit des individuellen Selbst-Seins auch die Art und Weise, in der wir als Frauen und als Männer die mannigfachen Zeugnisse des Christus-Glaubens in Kraft des Heiligenden Geistes uns aneignen, verstehen und überliefern können. Zweitens: Die nicht-priesterschriftliche Schöpfungserzählung spricht ihrer Intention nach unverblümt die wechselseitige Anziehungskraft der Geschlechter füreinander an. In ihrer mythischen Form erfindet sie die ursprüngliche Szene, in der die erregende Nacktheit des männlichen und des weiblichen Leibes ohne jedes Gefühl der Scham Genuss und Glück verheißt. „Ein Fleisch“ (Gen 2,24) zu sein, „ein Fleisch“ zu werden: das bedeutet das Leben in jener Intimität, die Einsamkeit überwindet und die den sexuellen, hormonal gesteuerten Trieb, das libidinöse Begehren, in immer neuer Geschlechtsgemeinschaft wechselseitig befriedigt. Der christliche Glaube an Gott den Schöpfer versteht das Leben in jener Intimität im Spektrum der begehrens- und erstrebenswerten Güter als ein hohes Gut. Was ist unter dem Begriffswort „Intimität“ genauer zu verstehen? Günter Dux hat das Begriffswort „Intimität“ zum Schlüssel seiner Theorie des Erotischen gemacht.166 In berechtigter Kritik an Sigmund Freuds Triebtheorie möchte er zeigen, dass das erotische Begehren sich keineswegs in sexueller Organlust und in orgastischer Potenz erfüllt und erschöpft; er sieht es vielmehr eingeordnet in die Erwartung, in der alltäglichen Nähe eines Mannes oder einer Frau jene Intimität zu finden, die das Kind in der Nähe der Mutter und des Vaters erlebte und die der erwachsene Mensch im Pflichtenkreis seiner Gesellschaft braucht. Es ist nach Dux der männliche bzw. der weibliche Organismus, der sich von Zeit zu Zeit von den Notwendigkeiten seiner sozio-kulturellen Existenz entlastet, indem er in der Lust des sexuellen Geschehens sinnfreie Körperlichkeit erleben möchte.167 Insofern gibt es aus entwicklungslogischen Gründen ein Junktim zwischen der Intimität der privaten Lebenssphäre und der Sexualität, in der der Organismus nur Natur ist. Nun übersieht Dux keineswegs die besondere Erfahrung der erotischen Liebe, die über das Bedürfnis nach dem Junktim zwischen Intimität und Sexualität weit

166 Vgl. Günter Dux, Geschlecht und Gesellschaft. Warum wir lieben. Die romantische Liebe nach dem Verlust der Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1994. Zur notwendigen Auseinandersetzung mit dieser Theorie, die von der Liebe des Christus-Glaubens – der ἀγάπη bzw. der caritas – ebenso absieht wie von der Menschenliebe im Sinne von Johann Gottlieb Fichtes Religionslehre – vgl. Konrad Stock, Gottes wahre Liebe (wie Anm. 161), 294–299. 167 Vgl. Günter Dux, Geschlecht und Gesellschaft (wie Anm. 166), 71. – Für diesen Aspekt der Dux’schen Theorie könnte immerhin die Tatsache herangezogen werden, dass Kulturen und Gesellschaften Formen der Prostitution und der Pornographie dulden; und zumal in der euroamerikanischen Moderne in exorbitantem Maße.

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hinausreicht. Von dieser Erfahrung wird behauptet, dass sie in der Entdeckung ihre Wurzel habe, in dem bzw. in der Geliebten den bedeutungsvollen Anderen des bzw. der Liebenden gefunden zu haben. Gleichwohl: während es dort der sich entwickelnde weibliche bzw. männliche Organismus sein soll, der sich im sexuellen Geschehen von den Rechten und Pflichten der sozio-kulturellen Existenz entlastet, soll es hier die Entdeckung eines bedeutungsvollen Anderen sein, die eine Geschichte erotischer Liebe begründet und trägt. Zwischen dem, was der weibliche bzw. der männliche Organismus begehrt, und dem, was die Sehnsucht des individuellen Selbst-Seins nach dem bedeutungsvollen Anderen bewegt, klafft in der Dux’schen Theorie ein unüberbrückbarer garstiger Graben; und zwar vermutlich wegen des anthropologischen Irrtums, der das sachgemäße Verstehen der dualen Struktur von Sinnlichkeit und Selbst-Sein verfehlt. Die theologische Lehre vom Menschen, die das ursprüngliche Phänomen des leibhaften Person-Seins erhellen möchte, widerspricht dieser Theorie aus gutem anthropologischem Grund. Denn sie versteht und anerkennt, dass der geschlechtlich differenzierte Leib niemals dem Organismus eines hochentwickelten Tieres in dessen Paarungszeit gleicht; er ist uns vielmehr nur und von seinem Anfang an als Leib eines „Ich“, eines je individuellen Selbstgefühls und dessen intelligibler Verfassung, als dessen Medium und Darstellungsweise gegeben. Sie kommt denn auch zu einer Perspektive, die die Erfahrung der Liebe prägnant erfassen kann. Drittens: Ich entwickle diese Perspektive unter drei Aspekten.168 Zum einen: Alle Erfahrung der Liebe taucht in dem Prozess des Suchens auf, der in der Phase der Pubertät beginnt und uns durch die Adoleszenz hindurch im frühen Erwachsenenalter und womöglich weit darüber hinaus in Atem hält. Wenngleich er mit dem Reifen des männlichen bzw. des weiblichen Geschlechtsorganismus gekoppelt ist, zielt er beileibe nicht darauf, eine individuelle Geschlechtsidentität zu finden; er zielt vielmehr – mit Johann Gottfried von Herders und mit Friedrich Hölderlins programmatischem Begriff gesagt – auf „Selbstheit“169 : auf das je meinige individuelle Wesen. Darunter verstehe ich das Bild, das mir von meiner jeweiligen Lebensgeschichte her jeweils jetzt und hier für meine künftige Lebensgeschichte vorschwebt und meine einzelnen Entscheidungen und Handlungsweisen orientiert und motiviert. Es ist ein unübertragbares, ein unverwechselbares Selbstbild; ein Bild dessen, was mir als hohes Gut erscheint und was mein seelisch-geistiges Leben anzieht, in Bewegung bringt und auf diese Weise werden lässt.

168 Vgl. zum Folgenden Konrad Stock, „… ohne eigne Bildung keine Vollendung in der Liebe“. Die Erfahrung der Liebe zwischen Innigkeit und Öffentlichkeit, jetzt in: Ders., Die Gegenwart des Guten. Schriften zur Theologie, Marburg: N. G. Elwert Verlag, 2006 (MThSt; 96), 75–89; bes. 85–89. 169 Vgl. hierzu die Darstellung bei Dieter Henrich, Hegel und Hölderlin, in: Ders., Hegel im Kontext, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1967 (es; 510), 9–40.

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Im Lichte eines solchen Selbstbilds begegnen wir bedeutungsvollen Anderen, die ihrerseits im Lichte eines solchen Selbstbilds existieren. Je nachdem in welchem Grade sich das jeweils unübertragbare und unverwechselbare Selbstbild eines Lebens in solchen Begegnungen näher kommt, entstehen die verschiedenen Formen der Sympathie: des Mitgefühls, der Zuneigung, der Freundschaft und der wechselseitigen Begleitung. Sie äußern sich nicht nur im Ton der Stimme, in der Mimik des Gesichts und in den Gesten des Aufeinander-Zugehens; sie nehmen auch den jeweils Andern in Anspruch, im Gespräch über Sinn und Ziel des Lebens das jeweils eigene Werden zu ergänzen, zu vertiefen oder selbstkritisch zu revidieren. Sie zeigen sich mithin im Streben nach leibhafter Nähe und leibhaftem Zusammensein in mehr oder weniger regelmäßig gemeinsam erlebter Zeit. So sind sie die notwendigen personalen Bedingungen, unter denen sich im Laufe eines Lebens die gereifte Anschauung des Wirklichen und das energische Wollen des in Wahrheit Guten bildet.170 Zum andern: Im Spektrum der verschiedenen Formen der Sympathie kommt dem Gefühl der erotischen Liebe eine einzigartige Kraft zu, die das Hohe Lied der Liebe im Tanakh der jüdischen JHWH-Gemeinschaft mit den starken und strengen Metaphern des Todes, der Unterwelt, der Feuersgluten und der Flammen nennt (Hhld 8,6-7). Diese Metaphern wollen offensichtlich das Leidenschaftliche der erotischen Liebe fassen, die Robert Musil als „das reine Gefallen zweier Menschen aneinander“ definiert.171 Solch reines Gefallen ist nicht willkürlich geplant und ist nicht frei gewählt; es ist ein passionales Geschehen, das – ob nun auf den berühmten ersten Blick oder ob in einer längeren Zeit des Vertraut-Werdens – die Liebenden ergreift und hält und buchstäblich voneinander hingerissen sein lässt. Es stiftet jene Intimität, die sich im gegenseitigen Verstehen-Wollen und Verstehen-Können konkretisiert und die sich deshalb der Gefahr des illusionären Wünschens und Träumens entzieht. Sie ist der Raum, in dem die Liebenden einander im Lichte ihres jeweils unübertragbaren und unverwechselbaren Selbstbilds begegnen, um nun „das weitere Werden des eigenen Personseins mit dem weiteren Werden des anderen Personseins in einer gemeinsamen Geschichte zu verbinden.“172 Sie ist 170 Vgl. hierzu insbesondere das frühe Hauptwerk Friedrich Schleiermachers – die „Reden“ und die „Monologen“ –, das die dialogische Verbindung von Sinn und Liebe zu den beiden „höchsten Bedingungen der Sittlichkeit“ erhebt: Friedrich Schleiermacher, Monologen (KGA I.3, 1–61), 22. Vgl. auch: „Keine Bildung ohne Liebe, und ohne eigne Bildung keine Vollendung in der Liebe; Eins das Andere ergänzend wächst beides unzertrennlich fort.“ (ebd.). 171 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1978, 284; aufgenommen von Eilert Herms, Liebe, Sexualität, Ehe. Unerledigte Themen der Theologie und der christlichen Kultur, jetzt in: Ders., Zusammenleben im Widerstreit der Weltanschauungen (wie Anm. 145), 391–431: Liebe als das „radikale Wohlgefallen“ (402); vgl. zum Folgenden auch Eilert Herms, STh (Bd. 2), 1859–1870. 172 Eilert Herms, Liebe, Sexualität, Ehe (wie Anm. 145), 404.

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insofern derjenige Aspekt der Lebensgeschichte, in der die Liebenden kraft ihres Miteinander-Seins zur Bildung und Entwicklung ihres eigenen Wesens gelangen.173 Als dieser Raum ist die Intimität des Eros der Raum des Sexus, der Geschlechtsgemeinschaft. Mag auch die Zärtlichkeit des Umarmens, des Streichelns, des Berührens und des Küssens die frühe Lebensphase unserer Eltern-Kind-Beziehung wiederholen, so ist demgegenüber die mannigfache sexuelle Kommunikation bis hin zur geschlechtlichen Vereinigung der tiefste Ausdruck und das expressive Zeichen unserer allumfassenden wechselseitigen Zuneigung. Als dieser tiefste Ausdruck und als dieses expressive Zeichen ist ihre zu erlebende Lust insofern und nur insofern „selbstlos“, als sie stets und zugleich die andere Lust, die Lust des Du erstrebt und genießt. Darin ist sie – im glatten Gegensatz zu allen anderweitigen Formen der Triebbefriedigung, die die entwickelte Moderne täuschen – die einzigartige, die intensivste irdische Lust: Liebeslust. Und schließlich: Im Gegensatz zur Dux’schen Theorie, die ohne jeden Realitätssinn vom „Verlust der Welt“ daherredet, ist die Intimität des Eros als der Raum des Sexus nicht im Geringsten weltlos. Die Geschichte einer Liebe ereignet sich vielmehr in der Geschichte eines kontinuierlichen Liebesgesprächs bzw. in dem Zwischenraum des Liebesbriefs.174 Zwar wird im Liebesgespräch bzw. im Zwischenraum des Liebesbriefs stets auch die wechselseitige Freude am Dasein der Liebenden zu Worte kommen; aber wie die Erfahrung zeigt, sind Liebesgespräch und Liebesbrief Medien, in denen sich die Liebenden über ihre Perzeption des uns gegebenen Realen und damit letzten Endes über ihre Anschauung des Lebens und des Wirklichen – über ihre jeweilige Sicht des Sinnes von Sein – verständigen wollen. Nichts wird von diesem Thema ausgeschlossen; je aufmerksamer die Liebenden sein werden auf die Trends, auf die Gefahren und auf die Chancen ihrer Zeit, desto entschiedener wird ihr Erlebnisraum das Politische im weiten Sinne des Begriffes einbeziehen.

173 So verstehe ich den tiefen Gedanken Schellings: „Dieß ist das Geheimniß der Liebe, daß sie solche verbindet, deren jedes für sich seyn könnte und doch nicht ist, und nicht seyn kann ohne das andere“: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809), in: Sämmtliche Werke, hg. von Karl Friedrich August Schelling, Bd. I/7, Stuttgart/Augsburg 1860, 408. 174 Hierfür verweise ich auf das große, von Renate Stauf ins Leben gerufene Projekt der Erforschung des Liebesbriefs; vgl. bes.: Renate Stauf/Annette Simonis/Jörg Paulus (Hg.), Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin/New York: de Gruyter, 2008; Renate Stauf/Jörg Paulus (Hg.), SchreibLust. Der Liebesbrief im 18. und 19. Jahrhundert, Heidelberg: Winter, 2013. Dieses großartige Projekt hat eine Fülle bewegender intimer Korrespondenzen zu Tage gefördert; und es hat darin erhebliche Bedeutung für eine „Phänomenologie der Liebe“, dass es im Gegensatz zur Dux’schen Theorie die Breite und die Tiefe der Wahrnehmung der jeweils geschichtlichen „Welt“ dokumentiert, die im Liebesgespräch wie im Liebesbrief zu Worte kommt.

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Im Vorblick auf die Theologische Ethik, im Vorblick auf die Darstellung, die sie vom Ethos des Christus-Glaubens gibt, sei schon an dieser Stelle festgehalten, dass Liebesgespräch und Liebesbrief last but not least als jene Zwischenräume zu erleben sind, in denen es um die göttlichen Dinge geht. Sie bilden nicht zuletzt den Raum, in dem die Liebenden nachdenken über den Sinn und die Bedeutung der überlieferten Offenbarungszeugnisse von Gottes wahrer Liebe und über deren Ausstrahlung in ihr gemeinsames Leben. Hochbeglückt wird eine Liebe sein, die mitten in der Endlichkeit mit ihren Fragen, Zweifeln, Schmerzen und Beschwerden „unter dem Schirm des Höchsten“ und „unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt“ (Ps 91,1).175 2.4.2.2.2 Das Verhältnis von Freiheit zu Freiheit

Dem Leben in der Gewissheit des Christus-Glaubens – dem christlich-frommen Selbstbewusstsein – ist eine eigentümliche und einzigartige Erfahrung von Freiheit gegeben. Wo immer und wann immer Gottes Heiligender Geist das Zeugnis von der letztgültigen Offenbarung in der religiösen Kommunikation des Evangeliums in der Kirche und den Kirchen dem Herzen und Gewissen eines Menschen nahe bringt, begründet er die Lebensweise, die von der befreienden Wahrheit des Evangeliums lebt; und alle Formen des Gottesdienstes und des Gebets, der Andacht und des Schatzes christlicher Kunst, die dessen befreiende Wahrheit regelmäßig 175 Im Rahmen seiner Lehre von der Schöpfung hat Karl Barth die Bedeutung des Ausdrucks „Bild Gottes“ geradezu im Sinne der strukturellen Differenzierung und damit der strukturellen Beziehung des weiblichen und des männlichen Mensch-Seins definiert (vgl. Karl Barth, KD III/1, 206–214; 329–377; III/2, 344–391; III/4, 127–269); denn diese strukturelle Beziehung sei die exemplarische Gestalt der Mitmenschlichkeit, der „Begegnung von Ich und Du“ (III/2, 349), der „Humanität“ als ein „unangreifbares Kontinuum menschlichen Daseins“ (ebd.) im Sinne der „dem Menschen von Gott gegebenen Natur“ (III/2, 353). Als solche aber ist sie zu verstehen als „Gleichnis“ des Bundes und „Hoffnung“ auf den Bund zwischen „Jesus Christus und seiner Gemeinde, der schon das Geheimnis der Schöpfung ist“ (III/2, 361 [Unterstreichung im Original gesperrt]) – freilich nur und ausschließlich in der Perspektive des Christus-Glaubens. Es handelt sich bei dieser Definition und ihrer weitschweifigen Erläuterung um Barths Versuch, die Analogie zwischen Gottes unendlichem schöpferischem Geist und der endlichen, der passiv konstituierten Verfassung des menschlichen Person-Seins zu ersetzen durch die Analogie des Bundes „zwischen Schöpfer und Geschöpf “ – des Urbilds – und des Bundes „zwischen Geschöpf und Geschöpf “ (III/2, 359) – des Abbilds dieses Urbilds in der Sphäre des Geschaffenen, des Seiend-Seins des Seienden. Konsequenterweise bestreitet Barth, dass dies Verständnis der Begegnung von Ich und Du ein „Anknüpfungspunkt für die Verkündigung von Gottes Gnade und Offenbarung“ (III/2, 387) und damit eine Bedingung der Möglichkeit des Verstehens der religiösen Rede von Gott und von Gottes Walten sei. Ebenso wie Barths Lehre vom Menschen das Thema der Religiosität des Daseins mit Schweigen übergeht, setzt seine exegetisch unhaltbare Deutung des Ausdrucks „Bild Gottes“ alles daran, die strukturelle Beziehung des weiblichen und des männlichen Mensch-Seins auf einen extrinsischen Hinweis auf „Gottes Absicht bei des Menschen Erschaffung“ (III/1, 225) zu reduzieren. – Vgl. hierzu die berechtigte Kritik an dieser Willkür von Wolfhart Pannenberg, STh II, 259–261.

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und unverkürzt vergegenwärtigen, wollen jene Anziehungskraft vermitteln, die ursprünglich von Jesu Christi Botschaft selbst ausgeht (s. 4.2). Mit vollem Recht hat der Apostel Paulus die „Freiheit …, die wir im Christus Jesus haben“ (Gal 2,4; vgl. Joh 8,32ff.), ins Zentrum seiner Mission gestellt.176 Denn die Gemeinschaft mit dem Christus Jesus selbst, wie Gottes Heiligender Geist sie stiftet, macht der Person die objektive Wahrheit über Gottes Wesen, Wollen und Walten und damit die Bestimmung ihres Daseins endgültig offenbar; und indem ihr diese objektive Wahrheit zur inneren Gewissheit ihres Herzens und Gewissens wird, wird ihr inmitten des Bewusstseins ihrer Sünde (Röm 7,14) und ihres Seins zum Tode tragender Lebenssinn erschlossen, der Zuversicht, Geduld, Hoffnung, Liebesfähigkeit und realistische Selbstbejahung gewährt (vgl. Röm 5,4f.). Das Gründen der Freiheit des Herzens und Gewissens in der Gewissheit objektiver Wahrheit verstehe ich als das beherrschende Thema dieser meiner Darstellung Systematischer Theologie, die insgesamt dem Christentum in der entstehenden Weltgesellschaft vorzudenken sucht. Nun ist in der befreienden Wahrheit, die Gottes Heiligender Geist dem Herzen und Gewissen eines Menschen im Medium der religiösen Kommunikation des Evangeliums in der Kirche und den Kirchen nahe bringt, das ursprüngliche FreiSein der geschaffenen, der leibhaft existierenden Person vorausgesetzt und mit enthalten (vgl. STh I, 278–282). Insofern wird die Aufgabe, die befreiende Wahrheit des Evangeliums in der religiösen Kommunikation der Kirche und der Kirchen regelmäßig unverkürzt zu vergegenwärtigen, dann und nur dann angemessen zu lösen sein, wenn wir das Phänomen des ursprünglichen Frei-Seins selbst und als solches konsequent zum Thema machen. Ich knüpfe deshalb an die Darstellung des individuellen Selbst-Seins an, und ich ergänze sie an dieser Stelle um den Gesichtspunkt seines kommunikativen bzw. seines interaktionellen Sinnes, der wiederum nicht ohne Vorblick auf den Begriff der Institution zu fassen ist (s. 2.4.2.2.3). Zugleich markiere ich den Punkt, an dem die theologische Lehre vom Menschen sich in die Diskussion über „Freiheit als Möglichkeitsbedingung und Prinzip sittlichen Handelns“ einzumischen hat, die Immanuel Kant mit der Theorie der Autonomie des Willens eröffnete.177 176 Vgl. hierzu Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (wie Anm. 148), 332–353; sowie Konrad Stock, Befreiende Wahrheit. Gedanken zur Vergebung der Sünden, jetzt in: Ders., Die Gegenwart des Guten (wie Anm. 168), 122–130. 177 Zitat: Michael Kuch, Wissen – Freiheit – Macht. Kategoriale, dogmatische und (sozial-)ethische Bestimmungen zur begrifflichen Struktur des Handelns, Marburg: Elwert, 1991 (MThSt; 31), 41. – Nach Oswald Bayer bestreitet der christliche Glaube, „daß F.(reiheit) der Möglichkeit nach schon im Menschen liegt“, die deshalb angemessen nur als „zugesprochene“ bzw. als „zugesagte“ Freiheit zu verstehen sei (vgl. Oswald Bayer, Art. Freiheit VIII. Ethisch: RGG4 3, 319–320; 319; Ders., Freiheit als Antwort. Zur theologischen Ethik, Tübingen: Mohr Siebeck, 1995). Diese Behauptung ist deshalb selbstwidersprüchlich, weil sie das Phänomen und den Begriff des menschlichen Handelns

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

Wir Menschen alle sind mit dem Phänomen, das das Begriffswort „ursprüngliches Frei-Sein“ intendiert, durch uns selbst vertraut. Wir sind uns nämlich jeweils hier und jetzt in unserem Uns-gegenwärtig-Sein der Tatsache bewusst, dass wir – natürlich in den Grenzen unseres leibhaft seelisch-geistigen Befindens – kraft der primären Gewissheit des je individuellen Freiheitsgefühls Entscheidungen zu treffen und damit über uns selbst zu bestimmen haben: Entscheidungen der sprachlich-gedanklichen ebenso wie der praktisch-gestaltenden Art. Je mehr wir im Verlauf der Kindheits- und der Jugendgeschichte in die Lage gebildeter und reflektierter Handlungsfähigkeit gelangen, desto mehr erleben wir uns selbst als in verschiedener und begrenzter Weise machtvoll.178 Ohne Rekurs auf die primäre Gewissheit des je individuellen Freiheitsgefühls könnten wir das „Um-sich-Wissen“ einer handelnden Person in ihren Handlungsweisen nicht verstehen. Nun sind wir in dem Hier und Jetzt unseres Uns-gegenwärtig-Seins in seiner relativen und begrenzten Dauer auf die Gemeinschaft mit der jeweils anderen geschaffenen Person bezogen, die uns in ihrem Sich-gegenwärtig-Sein und so in ihrer Handlungs- und Entscheidungsfreiheit begegnet. Schließlich verdanken wir das eigene leibhafte Person-Sein dem schöpferischen Walten Gottes, das sich in der Geschlechtsgemeinschaft unserer Eltern – in dem Gezeugt-, Empfangen- und Geboren-Werden – konkretisiert und das uns damit in die Gemeinschaft einer Familie und in die wie auch immer strukturierte Gemeinschaft von Familien stellt. In ihr erleben, erleiden und gestalten wir eine Lebensgeschichte, in der wir notwendigerweise auf die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit anderer angewiesen sind, so wie wir umgekehrt kraft eigener Handlungs- und Entscheidungsfreiheit Einfluss nehmen auf die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit anderer. Wir werden deshalb das Begriffswort „Freiheit“ anthropologisch dann und nur dann sachgemäß verwenden, wenn wir es als den konkreten Begriff der Relation zwischen Wesen von der Seinsart des leibhaften Person-Seins verwenden: „Wir verstehen Freiheit als kommunikative Freiheit.“179

überhaupt bestreitet und damit faktisch auch bestreitet, dass der leibhaften Person – im Unterschied zum Tier – ihr Handeln zugerechnet wird und werden muss. – Der Begriff der Institution als einer Ordnung des ursprünglichen Frei-Seins – und zwar unter den faktischen Bedingungen des Entfremdet-Seins – wird in der Theologischen Ethik (STh III) aufzunehmen und zu entfalten sein. 178 Dass das Begriffswort „Macht“ im Unterschied zu „Gewalt“ und im Gegensatz zur landläufigen Vermischung von „Macht“ und „Gewalt“ das „Implikat“ und den „Vollzug“ von Freiheit meint, zeigt sorgfältig Michael Kuch, Wissen – Freiheit – Macht (wie Anm. 177), 80–102. 179 Wolfgang Huber, Freiheit und Institution. Sozialethik als Ethik kommunikativer Freiheit, jetzt in: Ders., Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1983, 113–127; 119 – in Aufnahme von Michael Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1978 (stw; 314), 37ff.; 433ff.; 486. Auf Hubers Interpretation von Freiheit als kommunikativer Freiheit geht jetzt ein Hans Joas, Im Bannkreis der Freiheit. Religionstheorie

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

Der Begriff der kommunikativen Freiheit bringt im Vergleich zur Theoriegeschichte von Freiheit in der gegenwärtigen Philosophie der Praxis erhebliche Präzisierungen mit sich. Sie sind für die Verständigung über die faktische Entfremdung des geschaffenen Wollens vom schöpferischen Wollen des göttlichen Wesens ebenso wie für die Rechenschaft von der sittlichen Kraft des „Wortes der Versöhnung“ (2Kor 5,19) von eminenter Bedeutung. Wenn es wahr ist, dass der Christus-Glaube mit der Gewissheit der „Gerechtigkeit Gottes“ im Christus Jesus (2Kor 5,21) steht und fällt – und es ist nach dem Apostel Paulus wahr –, so ist die Wahrheit dieser Botschaft von dem Begriff der kommunikativen Freiheit her hermeneutisch zu erschließen. Denn dieser Begriff macht aufmerksam auf den unhintergehbar moralischen bzw. den unhintergehbar sittlichen Charakter des leibhaften Person-Seins.180 Zum einen: Ist kommunikative Freiheit das Wesensmerkmal des ursprünglichen Frei-Seins der leibhaft existierenden Person, so ist sie notwendig verankert in den Lebensbedingungen der Natur der Erde. Sie realisiert sich gar nicht anders als in dem Medium und in der Darstellung des je eigenen Leibes. Sie ist deshalb bezogen auf Wasser, Licht und Luft, auf Schwerkraft und auf Fruchtbarkeit und damit auf die anorganische Materie und auf die Phasen der Evolution des Lebens, ohne die es Wesen von der Seinsart des leibhaften Person-Seins unmöglich geben würde. Erstlich und letztlich existiert sie im unbegrenzten Werden dieses ungeheuren Universums, das uns das Raum-Zeit-Kontinuum gewährt, innerhalb dessen wir Gegenwart als jeweils unser Uns-gegenwärtig-Sein erleben. Ein abstrakter Gegensatz zwischen der Autonomie der praktischen Vernunft und der streng geregelten Gesetzesförmigkeit der Natur im Sinne Immanuel Kants verfehlt das Phänomen des Frei-Seins als geschaffenen Frei-Seins.181 Zum andern: Als kommunikative Freiheit ist die Relation zwischen Wesen von der Seinsart des leibhaften Person-Seins positiv zu denken. Sie realisiert und konkretisiert sich gar nicht anders als in der jeweils individuellen Teilhabe und Teilnahme an den Formen und den Regeln des sprachlichen, des praktischen sowie des darstellenden Handelns in einer sei es einfachen sei es hochentwickelten Kultur. Namentlich die jeweils gesprochene Sprache wirkt als das „Medium des Geistes“ (Wolfhart Pannenberg), weil sie und sofern sie ein alltägliches Wissen repräsentiert, ohne das es wechselseitiges Sich-selbst-Bestimmen schwerlich geben könnte. Eine grundsätzlich negative Sicht der Freiheit, die sich auf das Moment der Abwesenheit

nach Hegel und Nietzsche, Berlin: Suhrkamp, 2020, 381–400. – Vgl. ferner Hermann Krings, Handbuchartikel: Freiheit, jetzt in: Ders., System und Freiheit. Ges. Aufsätze, Freiburg/München: Alber, 1980 (Reihe: Praktische Philosophie; 12), 99–130; 125: „Der Begriff Freiheit ist mithin ab ovo ein Kommunikationsbegriff.“ 180 Vgl. zum Folgenden meine Beiträge zum Thema in: Konrad Stock, Die Gegenwart des Guten (wie Anm. 168), 101–130. 181 Vgl. etwa Immanuel Kant, KpV A 77 (W IV, 158f.).

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äußeren Zwangs beschränken würde, würde dem Phänomen des Frei-Seins als geschaffenen Frei-Seins nicht gerecht. Schon in der „Prinzipienlehre“ hatte ich aus diesem Grunde im Anschluss an Friedrich Schleiermachers Güterlehre die soziale Natur des menschlichen PersonSeins skizziert (vgl. STh I, 279–297). Sie erfordert es, die „Institutionalität als Struktur sozialen Lebens“182 ernst zu nehmen und im Lichte dieses Grundgedankens das simultane Teilhaben und Teilnehmen an den Lebens- und Funktionsbereichen zumal der hochentwickelten Gesellschaften in der euro-amerikanischen Moderne zu erfassen. Ursprüngliches Frei-Sein der Person erweist sich darin, dass sie freiwillentlich ohne äußeren Zwang den Inbegriff der Güter besorgt, die der Erhaltung, der Bewahrung und der Vervollkommnung des uns gegebenen Lebens auf der Basis der Natur der Erde dienen.183 Allerdings wird eine systematische Besinnung auf die Wahrheit und auf die Wahrhaftigkeit des Christus-Glaubens um willen dieses Zieles den Begriff der kommunikativen Freiheit noch vertiefen. Sie wird nämlich die Frage stellen: welche notwendige Bedingung muss erfüllt sein, damit wir – die wir jeweils jetzt in unserer Gegenwart frei zu entscheiden und zu handeln sind, sofern uns nicht ein äußerer Zwang bestimmt – tatsächlich im moralischen bzw. im sittlichen Sinne handeln und entscheiden? Auf diese notwendige Bedingung weist der Begriff der kommunikativen Freiheit hin, sofern er wesentlich als praktische Freiheit zu verstehen ist. Indem ich nun die kommunikative Freiheit als praktische Freiheit zu erklären suche, berühre ich das kritische Verhältnis, das derzeit zwischen philosophischen und theologischen Beiträgen zur Theorie der Intersubjektivität bzw. der Sozialität besteht. Zum Dritten: M. W. hat Hermann Krings den Ausdruck „praktische Freiheit“ in die Debatte eingeführt; und zwar in dem Bestreben, das Grundproblem der Lehre Immanuel Kants von der Autonomie des vernünftigen Willens (bzw. der praktischen Vernunft) zurechtzurücken. Kant hatte es sich vorgesetzt, dasjenige Vermögen reiner Vernunft aufzuklären, das der Bestimmungsgrund des sittlichen Gesetzes sei: jenes Gesetzes nämlich,

182 Vgl. Dietz Lange, Schöpfungslehre und Ethik, in: ZThK 91 (1994), 157–188; 170. 183 Wenn wir die Kategorie des Zwecks auf diesen Inbegriff der Güter beziehen, wird sich der Gegensatz zwischen einem „teleologischen Modell“ des Handelns (im Sinne von Oswald Schwemmer, Philosophie der Praxis. Versuch zur Grundlegung einer Lehre vom moralischen Argumentieren, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980) und einer „kausalen Erklärung“ des Handelns (im Sinne von Wilhelm Vossenkuhl, Freiheit zu handeln. Analytische und transzendentale Argumente für eine kausale Handlungstheorie, in: Hans Michael Baumgartner [Hg.], Prinzip Freiheit. Eine Auseinandersetzung um Chancen und Grenzen transzendentalphilosophischen Denkens. Zum 65. Geburtstag von Hermann Krings, Freiburg/München: Alber, 1979, 97–138) wohl schlichten lassen; vgl. zu diesem Gegensatz die Analysen von Michael Kuch, Wissen – Freiheit – Macht (wie Anm. 177), 31–39.

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

welches die Relation zwischen intelligiblen, d. h. freiwillentlichen und deshalb verantwortlichen Wesen ordne. Nach seiner Ansicht kann ein solcher Bestimmungsgrund auf keinen Fall in den verschiedenen Strebezielen liegen, die man empirisch gesehen haben oder auch nicht haben mag; denn die verschiedenen Strebeziele können auf keinen Fall diejenige strenge ausnahmslose Geltung beanspruchen, wie sie das sittliche Gesetz für alle vernünftigen Wesen faktisch notwendig in Anspruch nimmt.184 Vielmehr hat dieser Bestimmungsgrund die Funktion eines Kriteriums, mit dessen Hilfe und in dessen Licht die empirische – mithin die einzelne, die leibhaft existierende – Person ihre Handlungen und Handlungsweisen jederzeit auf ihre Sittlichkeit zu prüfen hat. In der Funktion dieses Kriteriums ist der Bestimmungsgrund allerdings formal (GMS BA 64; [W IV, 59]) und gleichwohl weder unbestimmt noch leer. Er kann als das Kriterium fungieren, weil er seinerseits auf einem objektiven Grund bzw. auf einem absoluten Wert beruht: auf einem Grund und einem Wert, der im Person-Sein des Menschen als dem „Zweck an sich selbst“ gegeben ist (GMS BA 66 [W IV, 60]). Der Königsberger Philosoph spricht das gesuchte Kriterium aller Selbstprüfung in der Form eines praktischen Imperativs in grandioser Weise an: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“185

„Autonom“, in praktischer Hinsicht frei, verdient demnach diejenige und nur diejenige Handlungsweise genannt zu werden, deren Subjekt zur Anerkennung der „Person eines jeden andern“ entschlossen ist. Jedoch: Wie kommt dieser Entschluss zustande? Und wodurch gewinnt er seine Dauer und Beharrlichkeit? Kant selbst hatte diese Fragen damit beantwortet, dass er auf das Problem der „Triebfedern der reinen praktischen Vernunft“ aufmerksam machte (KpV A 127–159 [W IV, 191–212]). Unter den möglichen Triebfedern, unter den möglichen Motiven eines autonomen bzw. eines wahrhaft freien sittlichen Handelns wollte er ausschließlich das Gefühl der „Achtung fürs Gesetz“ (KpV A 145 [W IV, 203]) bzw. das „moralische Gefühl“ (KpV A 143 [W IV, 202]) gelten lassen. Diese Antwort aber provoziert die wiederholte Frage: Wie kommt das „moralische Gefühl“ zustande? Und wodurch gewinnt es seine Dauer und Beharrlichkeit? Zum Vierten: Diese Frage indiziert nicht nur das Missverhältnis, das in Kants Lehre von der Autonomie zwischen den Aussagen über das transzendentale Ich

184 Vgl. bes. Immanuel Kant, GMS, BA 62 (W IV, 58). Darin liegt auch der Grund dafür, dass Kant die teleologische Form der antiken Ethik geradezu als „pathologisch“ ablehnt. – Belege aus Kants Schriften GMS und KpV sind im Folgenden im Text notiert. 185 Immanuel Kant, GMS BA 66f. (W IV, 61; im Original gesperrt).

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und den Aussagen über das individuelle bzw. über das empirische Ich der jeweils handelnden Person besteht; sie macht auch deutlich, dass und inwiefern Kants Lehre von der Autonomie das Phänomen des Frei-Seins als des geschaffenen FreiSeins verkennt. Zwar rechnet diese Lehre mit Recht damit, dass praktische Freiheit in der Form der wechselseitigen Anerkennung der „Person eines jeden andern“ geboten und gesollt ist; aber sie lässt die Bedingungen außer Acht, unter denen das Gesetz der praktischen Freiheit zu erfüllen sei. Sie lässt diese Bedingungen letztlich deshalb außer Acht, weil sie sich der anthropologischen Einsicht verschließt, dass die primäre Gewissheit des je individuellen Freiheitsgefühls in ihrem Woraufhin bzw. in ihrem Worumwillen passiv bzw. passional bestimmt ist. Sie ist von ihrem Woraufhin bzw. von ihrem Worumwillen passiv bzw. passional bestimmt, sofern sie dessen Anziehungskraft erfährt. Und sie erfährt dessen Anziehungskraft, sofern es ihr als Endzweck und als Höchstes Gut erschlossen ist. Ich hatte in der Darstellung der dualen Struktur des Verhältnisses von Leib und Seele gezeigt, dass dieser Endzweck und dass dieses Höchste Gut durch Gottes schöpferischen Geist als die Idee erschlossen wird, welche das Wahlvermögen der Person zum Wollen des in Wahrheit Guten treibt (s. 2.4.2.1). Martin Luther hat diese anthropologische Einsicht in seiner großen Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam „De servo arbitrio“ im Jahre 1525 vehement vertreten und begründet. Weil sie nach wie vor für das Verständnis des Frei-Seins als des geschaffenen Frei-Seins außerordentlich bedeutsam ist, hebe ich an dieser Stelle ihre Pointe hervor. Ist sie doch erstlich und letztlich diejenige Einsicht, die erklärt, in welcher Weise jedenfalls der Christus-Glaube Gottes schöpferisches Walten kennt und anerkennt. Es ist nicht überflüssig zu betonen, dass diese Einsicht nichts zu tun hat mit einem konsequenten Determinismus hinsichtlich des Geschehens der Welt und des Geschehens in der Welt, der als die Anschauung eines sich selbst als frei und deshalb als verantwortlich verstehenden Wesens ohnehin selbstwidersprüchlich wäre.186

186 Zum Verständnis der Luther‘schen Aussageintention in der Schrift „De servo arbitrio“ ist unerlässlich die exzellente Untersuchung von Melanie Beiner, Intentionalität und Geschöpflichkeit. Die Bedeutung von Martin Luthers Schrift „Vom unfreien Willen“ für die theologische Anthropologie, Marburg: Elwert, 2000 (MThSt; 66). Die Autorin bezieht sich kritisch auf die seinerzeit bahnbrechende Darstellung von Wilfried Joest, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1967; sie führt darin den Nachweis, dass Luther in dieser Schrift von einer „Wesensbestimmung“ des geschaffenen Person-Seins im Sinne des „exzentrischen“ Existierens ausgeht, die sich keineswegs begrenzen lässt auf das Sein der Person in der Christus-Gemeinschaft. Diese „Wesensbestimmung“ muss vielmehr gelesen werden als Luthers „fundamental-anthropologische Theorie über das Wesen der menschlichen Intentionalität“ (52). – Vgl. zum Folgenden Wilfried Härle, Der (un-)freie Wille aus reformatorischer und neurobiologischer Sicht, in: Ders., Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005, 253–304; bes. 268–285 (Härle gibt in diesem Text den Unterschied zwischen den lateinischen

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

Wie schon Luthers Titel deutlich macht, steckt in der Streitschrift gegen Erasmus eine tiefgreifende Kritik am Verständnis des menschlichen Person-Seins jedenfalls im Denken der dominikanischen Scholastik und im Bibelhumanismus seiner Zeit. Diese Kritik bestreitet keineswegs das vernünftige Wählen-Können der geschaffenen Person, das ihr verglichen mit der Lebensweise des Tiers das „Selbst-Sein-Müssen“ auferlegt. Allerdings nimmt Luther die Erfahrung ernst, dass das vernünftige Wählen-Können der geschaffenen Person nicht im Geringsten dazu fähig ist, von sich aus und aus eigener moralischer Kraft jenes Gut bzw. den Inbegriff jener Güter zu verstehen und zu ergreifen, die der geschaffenen Person als solcher angemessen sind. Und zwar deswegen nicht, weil das vernünftige WählenKönnen der geschaffenen Person eingebunden ist in den Grund des Herzens und des Gewissens. Mit diesen Termini rührt Luther an das Erkenntnisinteresse der Theorie des Selbstbewusstseins und der Struktur von unmittelbarem und vermitteltem Selbstbewusstsein, wie Schleiermacher sie in sorgfältiger Kritik an Kants Verständnis des Gemüts entwickelt hatte (vgl. STh I, 151–166). Nach Luther ist das menschliche Person-Sein als geschaffenes Person-Sein „exzentrisch“ verfasst. Es existiert an sich und formaliter im Aus-Sein auf den Inbegriff des Guten und der Güter, von denen es sich – wie ich mit Rücksicht auf die Zeitlichkeit des „Uns-gegenwärtig-Seins“ zeigte (s. 2.4.2.1) – Dauer erwartet und erhofft. Mit Recht nennt Beiner dies formale Existieren im Aus-Sein auf den Inbegriff des Guten und der Güter das Existieren in „intentionalen Akten“. Doch was genau der geschaffenen Person als Inbegriff des Guten und der Güter und damit als ihr Woraufhin und als ihr Worumwillen vorschwebt, vermag sie offensichtlich nicht kraft ihres vernünftigen Wählen-Könnens bloß als solchen zu bestimmen. Sie wird vielmehr im Grund des Herzens und des Gewissens – also in der Tiefe des individuellen Freiheitsgefühls – von dem ergriffen und von dem hingerissen, was ihr als Inbegriff des Guten und der Güter erscheint oder aber nicht erscheint. Und eben deshalb eignet ihrem Wollen faktisch jene „Notwendigkeit“, der sie nicht im Geringsten kraft ihres vernünftigen Wählen-Könnens entgeht.187

Termini „arbitrium“ und „voluntas“ richtig mit den deutschen Termini „Wahlvermögen“ und „Wille“ wieder [vgl. 257 Anm. 22]); Eilert Herms, Art. Servum arbitrium I. II.: RGG4 7, 1233–1235; Ders., Art. Willensfreiheit IV. Religionsphilosophisch: RGG4 8, 1573; V. Dogmatisch: ebd. 1574–1576; VI. Ethisch: ebd. 1576–1577. 187 Luther beruft sich für diese fundamentalanthropologische und damit ontologische These bemerkenswerter Weise auf Erfahrung, wenn er den Sachverhalt der „necessitas immutabilitatis“ (der „Notwendigkeit der Unveränderlichkeit“) erläutert: „Hoc vocamus modo necessitatem immutabilitatis, id est, quod voluntas sese mutare et vertere alio non possit, sed potius irritetur magis ad volendum, dum ei resistitur, Quod probat eius indignatio, Hoc non fieret, si esset libera vel haberet liberum arbitrium. Interroga experientiam, quam sint impersuasibiles, qui affecti aliqua re haerent.“ („Auf diese Weise sprechen wir von der Notwendigkeit der Unveränderlichkeit. Das bedeutet, der Wille kann sich nicht ändern und anderswohin wenden. Im Gegenteil wird er vielmehr noch

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Nun hat zwar Luthers „fundamental-anthropologische Theorie über das Wesen der menschlichen Intentionalität“ (Melanie Beiner) das Ziel, die typisch reformatorische Lehre von Gottes versöhnendem und Gottes vollendendem Walten zu untermauern und zu verteidigen; doch just um dieses Zieles willen legt sie ein Verstehen des menschlichen Frei-Seins als des geschaffenen Frei-Seins vor, das das „Verhältnis von Freiheit zu Freiheit“ im Vergleich zur Theoriegeschichte der praktischen Philosophie radikal erfasst. Dieses Verstehen läuft darauf hinaus zu zeigen, dass das Verhältnis von geschaffenem Frei-Sein zu geschaffenem Frei-Sein nicht anders zu erklären ist denn als Verhältnis im Lichte dessen, wovon die handelnden Personen jeweils unwiderstehlich angezogen sind. Es bestreitet keineswegs die „Kausalität durch Freiheit“ (Kant, KrV A 538), sofern die „Kausalität durch Freiheit“ als ihr „arbitrium“ bzw. als ihre Handlungs- und Entscheidungsfreiheit zu verstehen ist; sie sieht die „Kausalität durch Freiheit“ allerdings fundiert in dem, was der Person als ihr Endzweck und als ihr erfüllendes Gut erschlossen oder aber nicht erschlossen ist.188 Ich werde noch ergänzen, dass diese fundamentalanthropologische Erkenntnis nicht etwa nur die jeweils individuelle, sondern auch und erst recht die überindividuelle, die gemeinschaftliche bzw. die kollusive Handlungsweise der Person betrifft. Aus alledem folgt systematisch: Indem der Christus-Glaube Freiheit als geschaffene und d. h.: als im Christus-Glauben stets vorausgesetzte und mitenthaltene Freiheit erkennt und anerkennt, sieht er Freiheit stets als die von Gottes schöpferischem Walten gewährte und bestimmte Freiheit an. Während sie sich auf jeden Fall – abgesehen von den extremen Situationen der Unzurechnungsfähigkeit –

zum Wollen gereizt, wenn ihm Widerstand entgegengebracht wird. Eben dies beweist doch sein Widerwille. Das würde nicht geschehen, wenn er frei wäre oder ein freies Willensvermögen hätte. Befrage die Erfahrung, wie wenig die zu überzeugen sind, die irgendeiner Sache leidenschaftlich anhängen.“ [LDStA Bd. 1, 288/289; Übersetzung Athina Lexutt]). – Von dieser Erfahrung zeugt der vielfach überlieferte Ausspruch Adolf Hitlers: „Es ist mein unabänderlicher Wille!“. Just dieser Ausspruch illustriert den Sachverhalt, dass das „Wahlvermögen“ bzw. die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit der Person bedingt ist und bestimmt ist von dem, was ihr im Lichte ihrer Anschauung des Wirklichen – in meinem Beispiel: im Licht der Weltanschauung Hitlers – als Endzweck und als Höchstes Gut gewiss ist und deshalb mit Notwendigkeit gewollt wird. Just wegen dieser Weltanschauung konnte Hitler nicht anders!!! 188 Diese fundamentalanthropologische Erkenntnis betrifft das geschaffene Person-Sein ursprünglich – in dogmatischer Fachsprache: „supralapsarisch“ –; weshalb die seit Irenäus von Lyon diskutierte Lehre vom gnadenreichen „donum superadditum“ des Ähnlich-Seins mit Gott in einem „status primus“ (vgl. hierzu das Dekret des Tridentinum „de peccato originali“ [DH 1510–1516; 1511]) gegenstandslos ist. Ebenso gegenstandslos ist die Verurteilung der angeblichen Lehre, dass die Freiheit des Wahlvermögens – d. h.: der Handlungs- und Entscheidungsfreiheit der Person – nach dem „Fall“ Adams gänzlich verloren und erloschen sei (Kanon 5 des „Decretum de iustificatione“ [DH 1555]), weil sie jedenfalls die Aussageintention der fundamentalanthropologischen Einsicht Luthers nicht im Geringsten erfasst.

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

als Wählen-Können bzw. als Handlungs- und Entscheidungsfreiheit konkretisiert, steht ihr die wechselseitige „Achtung fürs Gesetz“ im Sinne Immanuel Kants bzw. die wechselseitige Anerkennung des andern als andern im Sinne Georg Wilhelm Friedrich Hegels durchaus nicht von ihr selbst her zu Gebote. Praktische Freiheit im prägnanten Sinne des Begriffs – wirkliches Wollen und wirkliches Lieben des Endzwecks und des wahrhaft Guten, das in Gottes Willensfreiheit gründet – ist bedingte Freiheit.189 Sie ist grundsätzlich und ganz allgemein bedingt durch jene Bildungsgeschichte, in der die Person jenes Endzwecks bzw. jenes wahrhaft Guten in ihrem Herzen und Gewissen realiter gewiss wird und realiter gewiss bleibt. Auf diese Bildungsgeschichte spielt der Apostel Paulus an, wenn er in der polemischen Situation des Briefs an die Gemeinden in Galatien programmatisch schreibt: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ (Gal 5,1). Es ist die Bildungsgeschichte Gottes, in der Gott selbst als „Bildner“ waltet.190 2.4.2.2.3 Die Ordnung der geschaffenen Freiheit191

In der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) wird der Person durch Gottes Heiligenden Geist die Wahrheit der

189 Zu dieser begrifflichen Bestimmung von bedingter Freiheit dringt nicht vor Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt a.M.: Fischer, 11 2013 (Fischer TB; 15647). Ebenso wenig achtet Bieri auf die „Institutionalität“, auf welche wir in unseren „intentionalen Akten“ (Melanie Beiner) angewiesen sind. 190 Vgl. hierzu Reiner Preul, Evangelische Bildungstheorie, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2013. Preul fasst unter dem Titel „Gott als ‚Bildner‘“ seine theologische Fundierung und Akzentuierung des Bildungsbegriffs zusammen (150–153) und entfaltet von hier aus seine Lehre vom Verhältnis von „Bildung und Selbstbestimmung“ (155–253) und von den „Bildungsinstitutionen“ (255–399). Ich freue mich, von den Erkenntnissen dieses bedeutenden Werkes meines altbewährten Freundes selbst nachhaltig gebildet worden zu sein. 191 Vgl. STh I, 282–297. – Es ist zu würdigen, dass Karl Barth im ethischen Teil der Lehre von der Schöpfung unter dem Titel „Freiheit in der Gemeinschaft“ auf seine Weise auf das Thema der „Ordnung der geschaffenen Freiheit“ zu sprechen kommt (vgl. Karl Barth, KD III/4, § 54 [127–366]) und unter dem maßgeblichen Begriff der „Menschlichkeit“ als „Mitmenschlichkeit“ das Gebot Gottes des Schöpfers nicht nur für das Verhältnis von Mann und Frau und nicht nur für das Verhältnis von Eltern und Kindern, sondern auch für das Verhältnis zwischen den „Nahen“ und den „Fernen“ – verstehe: für das Verhältnis der Person zu ihrem eigenen Volk und für das Verhältnis der Person zu den Völkern der Menschheit – interpretiert. Ich hatte Barths Prinzip der christologischen Begründung der Lehre von der Schöpfung bereits bestritten (s. o. Anm. 26; Anm. 109). Ganz abgesehen davon ist festzustellen, dass es der „Ethik als Aufgabe der Schöpfungslehre“ (KD III/4, § 52 [1–50]) an einem Begriff der „Ordnung der geschaffenen Freiheit“ fehlt, der die Grundaufgabe der Koordination zwischen geschaffenen Freiheitswesen kenntlich macht und diese Grundaufgabe vermittelt mit den notwendigen Beziehungen jeder Kultur bzw. jeder Gesellschaft. „Die Kirchliche Dogmatik“ hat keine ethische Theorie, mit deren Hilfe und in deren Licht die Theologische Ethik das Ethos des Christus-Glaubens im Sinne der christlichen Teilnahme an den Institutionen des Sozialen entfalten könnte.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

Rede von Gottes schöpferischem Walten endgültig erschlossen. Sie erlebt und sie erfährt sich selbst in ihrer Gegenwart als geschaffen und erhalten für die selbstverantwortliche Führung und Gestaltung ihres Lebens im Kontext bzw. im Kairos ihrer kulturellen bzw. ihrer gesellschaftlichen Konstellation. Ihr wird in der Gewissheit des Christus-Glaubens klar, dass ihre individuelle Identität nur möglich und nur wirklich wird im ungeheuren Zusammenhang aller Geschehnisse, in denen das Raum-Zeit-Kontinuum des Universums prozediert; und ihr wird explizit bewusst, dass sie von allem Anfang an – von ihrem Gezeugt-, Empfangen- und GeborenWerden an – bezogen ist und angewiesen ist auf alle gleichartigen Wesen von der Seinsart des leibhaften Person-Seins, die ihrerseits um ihre individuelle Identität ringen. Der Stil, der ihre selbstverantwortliche Lebensführung und Lebensgestaltung prägt, macht ernst mit dem Prinzip der Gleichheit aller Menschen vor Gott und Gottes Gnadenwahl. Wird uns in der Gewissheit des Christus-Glaubens explizit bewusst, dass wir im Ganzen des Raum-Zeit-Kontinuums des Universums bezogen sind und angewiesen sind auf alle gleichartigen Wesen von der Seinsart des leibhaften Person-Seins, so wird uns explizit bewusst, dass sich die selbstverantwortliche Lebensführung und Lebensgestaltung nicht anders als in sprachlicher Kommunikation sowie in praktischer bzw. in ästhetischer Interaktion mit anderen vollzieht. Es ist deshalb von grundsätzlichem Gewicht zu begreifen, dass es und warum es Ordnungen der sprachlichen Kommunikation sowie der praktischen bzw. der ästhetischen Interaktion gibt; und es ist ebenso wichtig zu verstehen, dass solche Ordnungen die sprachliche Kommunikation sowie die praktische bzw. die ästhetische Interaktion der individuellen Freiheitswesen miteinander ermöglichen und vermitteln. Insofern gebieten sie Gehorsam. Gibt es für solche Ordnungen und gibt es für den Gehorsam, den sie gebieten, ein Kriterium? Im Leben welcher Zivilisation auch immer stoßen wir auf soziale Regeln, in denen eine menschliche Gemeinschaft in ihrer jeweiligen natürlichen Umwelt existiert: also auf sprachlogische Regeln des Denkens, des Wissen- und des Lehren-Wollens; auf ökonomische und auf technische Regeln des Wirtschaftens und des Erwerbs der Mittel des Lebens; auf sittliche und auf rechtliche Regeln, nach denen die Beziehung der Geschlechter und die Familie sich richtet bzw. nach denen Recht gesprochen und Rechtsverletzung geahndet wird; auf politische Regeln im engeren Sinne des Begriffs, nach denen Herrschaft ausgeübt und übertragen wird; und schließlich auch auf kultische Regeln, nach denen eine menschliche Gemeinschaft ehrt und anerkennt, was ihr als Manifestation des transzendenten Grundes und Ursprungs ihrer selbst und ihrer Welt präsent geworden ist. Allerdings lehren uns die Sitten-, die Rechts- sowie die Kult- und Religionsgeschichte, dass die Systeme der sozialen Regeln, in denen eine menschliche Gemeinschaft existiert, immer wieder als unrichtig und als ungerecht empfunden und bekämpft wurden. Solches Empfinden wirft die brennende Frage auf, ob es einen

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

Maßstab und damit ein Kriterium gebe, mit dessen Hilfe und in dessen Licht ein geltendes System sozialer Regeln der Kritik verfallen müsse: mit dem Ziel, es von Grund auf zu reformieren und durch Regeln zu ersetzen, die dem je individuellen Freiheitsgefühl und damit der Gleichheit aller Menschen vor Gott und vor Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen entsprechen. Diese brennende Frage ist der Selbsterfahrung des individuellen Christ-Seins eingezeichnet als die Frage, was denn die Ordnung des geschaffenen Frei-Seins sei und wie man sie erkennen könne. Sie stellt sich insbesondere als die Frage, wie das Verhältnis zwischen der jeweils individuellen Handlungs- und Entscheidungsfreiheit der Person und dem Gehorsam angemessen zu bestimmen sei, den die Gemeinschaft Freier und Gleicher von ihren Gliedern fordern und erwarten darf; und zwar deshalb, weil sie selbst nur als Gemeinschaft geschaffener Freiheitswesen richtig beschrieben ist.192 Um es vorweg zu sagen: die systematische Besinnung auf die Wahrheit des christlichen Glaubens an Gott den Schöpfer expliziert – kritisch und selbstkritisch – die Ordnung des geschaffenen Frei-Seins als Ordnung der Institutionen. Ein solcher Begriff der Ordnung des geschaffenen Frei-Seins müsste im Verhältnis zu den mannigfachen geschichtlich gegebenen und überlieferten Normen menschlicher Handlungs- und Entscheidungsfreiheit den Charakter einer MetaNorm besitzen, welche die selbstverantwortliche Führung und Gestaltung unseres Lebens orientiert und motiviert. Wiewohl sie deshalb in der Grundlegung der Theologischen Ethik ausführlich zur Sprache kommen muss (STh III), legt es sich schon an dieser Stelle nahe, sie als die lebenspraktische Pointe unseres Glaubens an Gottes schöpferisches Walten und an dessen Sinn und Ziel zu betrachten. Sie müsste jene Aufgabe vor Augen bringen, die Gottes schöpferisches Walten ursprünglich uns Menschen allen stellt, indem es sie im Ganzen des ungeheuren Universums in der Atmosphäre dieser Erde als selbstbewusst-freie Wesen werden, sein und dauern lässt. Sie definiert das in sich eine und zusammenhängende gute Werk des Christus-Glaubens, der nach Luthers ebenso einfacher wie tiefer Einsicht kraft des Wahrheitsgeistes „Lust und Liebe zu allen Gepoten Gottes“ erweckt.193 192 Mit diesem Satz erinnere ich an den Grundgedanken der Nikomachischen Ethik und der Politik von Aristoteles (vgl. bes. Politik, 1275a 22f.), den ich zugleich im Lichte des biblischen Verstehens des Mensch-Seins präzisiere und korrigiere. – Wo immer die Gemeinschaft nicht als Gemeinschaft geschaffener Freiheitswesen gesehen wird – wie dies in der euro-amerikanischen Moderne der Fall ist in den verschiedenen Nationalismen, im Marx-Leninschen Sozialismus und seinen verschiedenen Metastasen, im Faschismus Benito Mussolinis und im Nationalsozialismus Adolf Hitlers –, kam es und kommt es zu willkürlicher und zu organisierter Gewalt im Innenverhältnis der Gesellschaft und im Außenverhältnis zwischen Gesellschaften, und zwar mit unvorstellbarer Brutalität. 193 Vgl. Martin Luther, Großer Katechismus (BSLK 661, 36f.); vgl. CA VI: „Auch wird gelehrt, daß solcher Glaube (verstehe: der Christus-Glaube) gute Frucht und gute Werk bringen soll und daß

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

In Aufnahme eines wichtigen Textes von Eilert Herms verwende ich für diese Meta-Norm den Begriff der Schöpfungsordnung im Singular.194 Er korrigiert und präzisiert verschiedene Modelle, im Licht des christlichen Glaubens an Gottes schöpferisches Walten eine solche Meta-Norm der geschichtlichen Systeme sozialer Regeln zu finden: die Meta-Norm des „von Natur aus Rechten“, die Meta-Norm der „Schöpfungsordnungen“, und schließlich die Meta-Norm der „Mandate“ im Sinne Dietrich Bonhoeffers. Erstens: Ein erstes Modell, das mit Rücksicht auf die geschaffene Natur des MenschSeins eine Meta-Norm für die geschichtlichen Systeme sozialer Regeln aufstellen möchte, begegnet uns in der Figur des „natürlichen Gesetzes“.195 Sie geht zurück auf die Rezeption der stoischen Lebenslehre im christlich-theologischen Denken der späten Antike und des frühen Mittelalters. Die Quintessenz jener Lebenslehre liegt in den beiden dichten Formeln vor, es gelte, gemäß der menschlichen Natur zu leben bzw. gemäß der Vernunft zu leben. Mit ihrer Hilfe schien es möglich zu sein, ein Kriterium des unbedingt Verpflichtenden als des von Natur aus Guten zu

man musse gute Werk tun“ (BSLK 58, 12–14); Jean Calvin, Inst. III, 1 (OS IV, 1–6); HK Frage 86. – Zu Luthers Lehre vom Zusammenhang von Christus-Glaube und Erfüllung des göttlichen Gebots vgl. bes. Michael Kuch, Wissen – Freiheit – Macht (wie Anm. 177), 157–195; Wilfried Härle, Glaube und Liebe bei Martin Luther, jetzt in: Ders., Menschsein in Beziehungen (wie Anm. 186), 145–168. – Wie der Aufbau des Kleinen und des Großen Katechismus Luthers und wie Calvins Lehre vom Ethos des Christus-Glaubens in der Christus-Gemeinschaft zeigen, ist sich die reformatorische Bewegung zutiefst dessen bewusst, wie angefochten und bedrängt die „Lust und Liebe zu allen Gepoten Gottes“ in dieser Weltzeit ist. 194 Vgl. Eilert Herms, Die Lehre von der Schöpfungsordnung, in: Ders., Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1992, 431–456. Vgl. zum Folgenden auch: Ders., Art. Schöpfungsordnung I. II.: RGG4 7, 990–992 (allerdings nimmt Herms in diesem Artikel die Rede von der Schöpfungsordnung für das Ganze der asymmetrischen Kooperation zwischen der schöpferischen Freiheit Gottes und der geschaffenen Freiheit des Menschen in Anspruch, was ich im Folgenden nicht tue); Hartmut Rosenau, Art. Schöpfungsordnung: TRE 356–358. – Die tradierte Rede von der Schöpfungsordnung behauptet – inspiriert von Röm 2,14f. – die „Übereinstimmung zwischen dem Gesetz Gottes und der Ordnung der Natur, die allen Menschen eingeprägt ist“ (Jean Calvin, Kommentar zu 1Tim 4,4-5 [zit. nach Guenther H. Haas, Ethik und Kirchenzucht, in: Calvin Handbuch. Hg. von Herman J. Selderhuis, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008, 326–338; 330]); vgl. auch Jean Calvin, Inst. II, 8.1 (OS III, 343–344). 195 Vgl. zum Folgenden bes.: Thomas von Aquino, STh I – II q 94: De lege naturali; q 95: De lege humana; Friedo Ricken/Falk Wagner, Art. Naturrecht I. II.: TRE 24, 560–623 (Lit.); Georg Zenkert/Eilert Herms/Klaus Hock/Christoph Link, Art. Naturrecht I.–IV.: RGG4 6, 129–139; Ernst Wolf, Sozialethik. Theologische Grundfragen. Unter Mitarbeit von Frieda Wolf und Uvo A. Wolf hg. von Theodor Strohm, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1975, 89–114; Franz Böckle, Fundamentalmoral, München: Kösel, 1978, 235–261: Das natürliche Sittengesetz; Anselm Hertz, Das Naturrecht: HCE 317–338; Hans Dieter Schelauske, Naturrechtsdiskussion in Deutschland. Ein Überblick über zwei Jahrzehnte 1946–1965, Köln: Bachem, 1968.

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

formulieren, das im Vergleich zu positiv gesetzten Rechts- und Moralordnungen vorpositiv begründet ist. Vorpositiv ist es begründet, weil es sich in der Perspektive des Christus-Glaubens dem schöpferischen Walten Gottes und eben damit der göttlichen Vernunft verdankt, die der universalen Gemeinschaft selbstbewusstfreier Wesen die ihr gemäße bzw. die ihr entsprechende Ordnung auferlegt.196 Namentlich Thomas von Aquino hat darauf insistiert, dass Gottes schöpferisches Walten leibhaftes Person-Sein als jene Seinsweise sein lässt, die in ihrer praktischen Vernunft – in ihrem lumen naturae rationalis – an Gottes schöpferischer Vernunft Anteil hat. Sie hat an ihr insofern Anteil, als sie im Lichte eines ersten praktischen Prinzips erkennt und urteilt, das da lautet: „Et ideo primum principium in ratione practica est quod fundatur supra rationem boni, quae est, Bonum est quod omnia appetunt. Hoc est ergo primum praeceptum legis, quod bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum. Et super hoc fundantur omnia alia praecepta a legis naturae…“197

Diese glanzvolle Definition bestimmt ein oberstes Prinzip jedweder sittlichen Ordnung der Gemeinschaft zwischen Wesen, die im Ganzen des All des Seienden als Bild Gottes ausgezeichnet sind. Dies oberste Prinzip jedweder sittlichen Ordnung bzw. jedwedes bonum commune ist keineswegs das einzige Prinzip, das Thomas geltend macht. Wenn er in Aufnahme der Nikomachischen Ethik von Aristoteles das Streben des vernunftbestimmten Menschenwesens nach dem ihm eigenen Gut zum Thema des Gesetzes der geschaffenen Natur des menschlichen Daseins erhebt, so sieht er dieses Streben von vornherein in dem Zusammenhang mit dem zentralen Anliegen der Summa Theologiae, Gottes heilsame und heiligende Gnade im Christus Jesus durch das Amt der Kirche theoretisch und praktisch zu vergegenwärtigen. Sie – diese Gnade – und nur sie verklärt das vernunftbestimmte Menschenwesen im Leben in der zeitlichen Liebe und deren ewiger Erfüllung: nämlich in der Schau des dreieinigen

196 Für diesen Grundgedanken wurde klassisch die Definition Augustins, Contra Faustum XX, 2, 27: „Lex … aeterna est ratio divina vel voluntas Dei, ordinem naturalem conservari iubens, perturbari vetans“ („Das ewige Gesetz ist die göttliche Vernunft bzw. das Wollen Gottes, welches vorschreibt, dass die natürliche [verstehe: die der Wesensnatur des Menschen entsprechende] Ordnung bewahrt werde, und verbietet, dass sie zerstört werde“ [meine Übersetzung]). 197 „Und deshalb ist das erste Prinzip in der praktischen Vernunft begründet auf dem Wesensbegriff des Guten, nämlich: Gut ist, was alles (sic! K.S.) erstrebt. Also ist es das erste Gebot des Gesetzes, dass Gutes zu tun und zu verfolgen ist, und Böses zu meiden ist. Und darin (verstehe: in diesem ersten Gebot) gründen alle anderen Gebote des Gesetzes der Natur.“ (STh I – II q 94 a 2 c [meine Übersetzung]).

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Gottes (vgl. Mt 5,8; 1Joh 3,2), die als solche das höchste, das allein beseligende Gut des Menschen ist. Zwischen der Fähigkeit der praktischen Vernunft, die sittliche Ordnung des bonum commune in relativer Autonomie zu erstreben, und Gottes heilsamer und heiligender Gnade im Christus Jesus durch das Amt der Kirche besteht nach Thomas ein heilsgeschichtlicher Zusammenhang. In diesem heilsgeschichtlichen Zusammenhang ist die sittliche Ordnung des bonum commune nicht etwa nur implizit erkennbar, sondern auch – der Macht und der Versuchung des Bösen zum Trotz – explizit erkannt. Dass dieser heilsgeschichtliche Zusammenhang in Gottes lex aeterna selbst theonom begründet ist, das hält der fabelhafte Grundsatz fest: „Gratia non tollit, sed elevat et perficit naturam.“198 Auch wenn er in der Kirchengeschichte des römischen Katholizismus seither gegensätzliche Konkretionen erfahren hat, bildet er doch die Basis der kirchlichen Morallehre und ihrer Entfaltung in römisch-katholischer Moraltheologie (vgl. STh III). Auf der Linie der Einsichten, wie sie die reformatorische Bewegung des 16. Jahrhunderts im bitteren Streit um das Gewiss-Werden der Wahrheit des Evangeliums in der religiösen Kommunikation der Kirche errungen hatte, ist diesem Grundsatz gar nicht prinzipiell zu widersprechen. Allerdings ist es in höchstem Maße zweifelhaft, ob er tatsächlich der geschichtlichen Erfahrung standhält. Die geschichtliche Erfahrung lehrt vielmehr, dass das lumen naturae rationalis der geschaffenen praktischen Vernunft das erstrebenswerte bonum commune bzw. das Gemeinwohl der Gemeinschaft und der Gemeinschaft von Gemeinschaften keineswegs jederzeit erkennt und keineswegs an einer Meta-Norm des von Natur aus Rechten jederzeit kritisch misst.199 Vielmehr bedarf das lumen naturae rationalis der geschaffenen praktischen Vernunft des ausdrücklichen Verstehens des Geschaffen-Seins, um in dessen Licht Projekte einer Ordnung des geschaffenen Frei-Seins der Person zu denken und zu realisieren. Auf der Linie reformatorischer Erkenntnis fragt es sich daher, ob – und wenn ja, in welcher Weise – sich das wirkliche und wirksame Verstehen des Geschaffen-Seins ereignet. Es fragt sich also, ob – und wenn ja, in welcher Weise – das Mensch-Sein als der Selbstzweck im Sinne Immanuel Kants und als der Träger unantastbarer Würde tatsächlich auch geachtet und als die Basis der verschiedenen Anerkennungsverhältnisse ernst genommen wird. Ich hatte schon gezeigt, dass und wie Martin Luther diese Fragen mit der Lehre von der Unfreiheit des Wollens zu beantworten suchte (s. o. S. 288–297). Ich sehe ih-

198 „Die Gnade (verstehe: die gerecht machende Gnade Jesu Christi) hebt die Natur (verstehe: das geschaffene Wesen des Mensch-Seins) nicht auf, sondern erhebt und vollendet die Natur“ (meine Übersetzung). 199 Unüberbietbar krass tritt uns diese geschichtliche Erfahrung entgegen in der Existenz der furchtbaren Gewaltmenschen wie Wladimir Iljitsch Lenin, Josef Stalin, Adolf Hitler, Mao Zedong, Pol Pot, Wladimir Putin (Ergänzung 19.03.2022) und ihrer jeweils willigen Helfer entgegen.

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

ren harten Kern in der Beschreibung, die die Richtung und die Energie des Wollens abhängig sieht von den Situationen der Erscheinung bzw. des Sich-Erschließens des in Wahrheit Guten. In ihnen bilden sich die Intentionen und die Interessen der Person, die über die private Sphäre hinaus der Grundaufgabe gewidmet sind, die angemessene Ordnung des geschaffenen Frei-Seins zu entwerfen und im Gespräch bzw. im Konsens immer wieder neu zu reformieren. Die scheinbar negative Lehre von der Unfreiheit des Wollens hat insofern eine wesentliche bzw. eine positive sozialethische Pointe. Ob diese wesentliche, diese positive sozialethische Pointe in der „Theologie der Schöpfungsordnungen“ richtig erfasst wurde, sei jetzt überlegt. Zweitens: Die Lehre von den „Schöpfungsordnungen“, wie sie vor allem von Paul Althaus, von Emil Brunner und von Werner Elert konzipiert worden war, sollte einer Neubestimmung des Gegenstandes einer christlich-theologischen Ethik im reformatorischen Sinne dienen; sie sollte insbesondere die Einsicht in die Sozialität des geschaffenen Frei-Seins der Person untermauern.200 Angesichts der tiefen ökonomischen und politischen Krise, in die der Große Krieg von 1914 bis 1918 und dessen Ende in den Pariser Vorortsverträgen die europäischen Gesellschaften gestürzt hatte, strebte sie nach einem Grundverständnis der vita christiana, das allerdings – wie Christof Gestrich zeigt – zwei zu unterscheidende Interessen verfolgt. Einerseits bewegte sie das hermeneutische Interesse, die Bedingungen verständlich zu machen, unter denen die Verkündigung des Evangeliums Glauben und Vertrauen finden könne; andererseits aber suchte sie nachzuweisen, dass und in welcher Weise die vita christiana sich in den natürlichen Ordnungen des Lebens konkretisiert, die ihrer Ansicht nach in Gottes schöpferischem Walten vorgegeben sind. Beide Interessen kamen in dem Grundsatz überein, dass das Offenbar-Sein des Evangeliums notwendigerweise auf das Offenbar-Sein des Gesetzes bezogen sei. Wir gehen deshalb wohl nicht fehl, wenn wir die „Theologie der Schöpfungsordnungen“ grosso modo als eine Lehrgestalt verstehen, die im Widerspruch zum römisch-katholischen Modell von Natur und Gnade, aber auch im Widerspruch 200 Wichtigste Quellentexte: Paul Althaus, Die Theologie der Ordnungen, Gütersloh: Bertelsmann, 2 1935; Ders., Grundriß der Ethik, Gütersloh: Bertelsmann, 2 1953; Emil Brunner, Das Gebot und die Ordnungen. Entwurf einer protestantisch-theologischen Ethik, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1932; Werner Elert, Das christliche Ethos. Grundlinien der lutherischen Ethik, Hamburg: Furche-Verlag, 2 1961. – Vgl. hierzu Wolf Krötke, Das Problem „Gesetz und Evangelium“ bei Werner Elert und Paul Althaus, 1965 (ThSt [B]; 83); Christof Gestrich, Neuzeitliches Denken und die Spaltung der dialektischen Theologie. Zur Frage der natürlichen Theologie, Tübingen: Mohr, 1977 (BhTh; 52), 295–342. – Die „Theologie der Schöpfungsordnungen“ darf wohl auch als ein Versuch gewertet werden, unter den Bedingungen der „Weimarer Republik“ das sozialtheoretische und sozialethische Defizit im Werk Albrecht Ritschls und Wilhelm Herrmanns auszugleichen.

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gegen Karl Barths Kirchliche Dogmatik die fundamentale Unterscheidung zwischen dem Wort Gottes als „Gesetz“ und dem Wort Gottes als „Evangelium“ geltend macht.201 Diese reichlich komplizierte Konstellation bringt es mit sich, dass die „Theologie der Schöpfungsordnungen“ dazu neigt, bestimmte geschichtlich gewordene Typen sozialer Regeln direkt mit Gottes schöpferischem Wollen zu identifizieren; und zwar weitgehend ohne Rücksicht auf die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft und auf die positive Gestaltungsmacht des Rechts. Jedenfalls bleibt es ihr weithin verborgen, dass die sozialen Regeln Regeln der Kommunikation und der Interaktion sind, an denen die Glieder einer sozialen Formation faktisch teilnehmen und kritisch-konstruktiv teilzunehmen haben. Eine lebens- und bildungsgeschichtlich bedingte Verirrung ist es, wenn man wie Althaus und wie Elert dem völkischen Konstrukt verfällt, dass „nach Gottes Schöpferordnung ‚Nationen‘, die sich im Staate als solche erfassen, die eigentlichen Träger des geschichtlichen Lebens“ seien und dass deshalb selbst das „Ja zum Kriege“ sittlich geboten sei.202 Drittens: Unter konspirativen und bedrängten Lebensumständen zu Papier gebracht, haben Dietrich Bonhoeffers Entwürfe zu einer „Ethik“ auf die unübersehbaren Schwächen und Probleme jener Lehre von den Schöpfungsordnungen energisch reagiert.203 Die allerdings ganz fragmentarische Lehre von den göttlichen „Mandaten“ berührt sich durchaus mit der Lehre von den Schöpfungsordnungen.

201 Eine aufschlussreiche Definition der „Schöpfungsordnung“ findet sich bei Emil Brunner, Das Gebot und die Ordnungen (wie Anm. 200), 329: „Jede Schöpfungsordnung ist … eine dem Geschaffenen mitgegebene Ordnung, die durch die Sünde wohl verdeckt und außer Acht gelassen, aber nicht aufgehoben werden kann, eine Ordnung, die auch vom ‚natürlichen‘ Menschen irgendwie gewußt, wenn auch nicht recht erkannt werden kann, sondern erst dem Glauben nach ihrem wahren Sinn sich erschließt.“ Sie ist vor eventuellen „völkischen“ Vereinnahmungen der ethischen Konzeption der „Schöpfungsordnungen“ gefeit. 202 Paul Althaus, Staatsgedanke und Reich Gottes, Langensalza: Hermann Beyer & Söhne, 4 1931 (Schriften zur politischen Bildung IX. Reihe, Heft 1), 73; zur „Sinnhaftigkeit des Krieges“ als eines Geschehens, das in Gottes „Schöpfergeheimnis“ gründet, vgl. bes. 105–112. 203 Vgl. zum Folgenden Dietrich Bonhoeffer, Ethik (DBW; 6), 392–412: Das konkrete Gebot und die göttlichen Mandate. Die einleitende Definition lautet: „Gottes in Jesus Christus offenbartes Gebot in seiner das ganze menschliche Leben umfassenden Einheit, in seiner ungeteilten Inanspruchnahme des Menschen und der Welt durch die versöhnende Liebe Gottes, begegnet uns konkret in vier verschiedenen, nur durch das Gebot selbst geeinten Gestalten: in der Kirche, in Ehe und Familie, in der Kultur, in der Obrigkeit.“ (392). Dieser nach der aktuellen Anordnung der Herausgeber letzte Abschnitt der Entwürfe zur „Ethik“ nimmt Bezug auf den Abschnitt „Das ‚Ethische‘ und das ‚Christliche‘ als Thema“ (365–391) sowie auf die früheren Abschnitte „Die letzten und die vorletzten Dinge“ (137–162) und „Das natürliche Leben“ (163–217). – Nach Auskunft des Literaturverzeichnisses hat Bonhoeffer für die „Ethik“ weder die „Kurze Darstellung“ noch die „Ethik“ noch „Die christliche Sitte“ von Friedrich Schleiermacher benutzt: erstaunlicherweise.

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

Wie diese nimmt sie Gottes schöpferisches Walten als den Bestimmungs- und Verpflichtungsgrund für das geschaffene Frei-Sein der Person – d. h. als das „konkrete Gebot“ Gottes des Schöpfers – in Anspruch; wie diese will sie im sozialethischen Interesse geltend machen, dass der Bestimmungs- und Verpflichtungsgrund des Schöpfers das Frei-Sein der Person in ihren elementaren Gemeinschaften betrifft.204 Im Gegensatz zu jener Lehrgestalt jedoch betrachtet Bonhoeffer das von Gott dem Schöpfer gnadenreich gewährte Frei-Sein der Person zugleich als Basis ihrer je konkreten Verantwortlichkeit, deren Struktur ein früherer Abschnitt unter die Lupe nimmt.205 Was Bonhoeffer in jenem Text über den „Ort der Verantwortung“ skizziert206 , sollte in der Lehre von den göttlichen Mandaten offensichtlich detailliert entfaltet werden. Mit Bonhoeffers Verhaftung am 5. April 1943 brach die Arbeit an der „Ethik“ unvollendet ab: an ihrer wichtigsten Stelle! Auch wenn man auf die fragmentarische Gestalt der Lehre von den vier göttlichen Mandaten Rücksicht nimmt, kann sie nicht wirklich überzeugen. Zwar achtet sie mit vollem Recht darauf, dass diese elementaren Formen menschlicher Gemeinschaft geprägt sind von der Macht des menschlichen Entfremdet-Seins; zwar sagt sie ebenfalls mit vollem Recht, dass es die Perspektive des Christus-Glaubens sei, die uns den Sinn und die Bestimmung dieser vier göttlichen Mandate zu verstehen gebe; aber es erschließt sich durchaus nicht, warum es sich in jedem Fall um irdische Autoritätsverhältnisse handeln soll; so wenig es plausibel wird, dass das „Verhältnis von Freiheit zu Freiheit“ sich simultan in allen Formen menschlicher Gemeinschaft abspielt. Wir können nicht erkennen, wie sich die Lehre von den vier göttlichen Mandaten mit dem komplexen Gefüge der sozialen Regeln einer hochentwickelten Gesellschaft nach dem Fall des Nationalsozialismus vermitteln lässt; und das hängt wohl damit zusammen, dass Bonhoeffers Ethik eben doch als Pflichtenlehre und nicht als Güterlehre konzipiert war. Viertens: Meine Kritik an diesen drei Varianten, soziale Regeln der Geschichte an einer Meta-Norm des Sittlichen zu messen, weist auf die Grundlegung der Theologischen Ethik voraus (STh III). Im Vorblick darauf sei versucht, im Lichte der Erfahrung des Christus-Glaubens, wie ihn die geistliche Erschließung der Wahrheit des Evangeliums erweckt, den sachgemäßen Begriff einer Ordnung des geschaffenen Frei-Seins zu umreißen: eines Frei-Seins, das von Gottes schöpferischem Walten gnadenreich gewollt, gewährt, in relativer und begrenzter Dauer erhalten und zur selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott selbst – mit Gottes InGemeinschaft-sein-Wollen – in Zeit und Ewigkeit bestimmt ist. 204 Vgl. etwa Emil Brunner, Das Gebot und die Ordnungen (wie Anm. 200), 277–323: Der Einzelne, die Gemeinschaft und die Gemeinschaftsordnungen. 205 Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Ethik (wie Anm. 203), 256–289: Die Struktur des verantwortlichen Lebens. 206 Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Ethik (wie Anm. 203), 289–299: Der Ort der Verantwortung.

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Ein solcher sachgemäßer Begriff der Ordnung des geschaffenen Frei-Seins geht davon aus, dass das geschaffene Frei-Sein die Verantwortung für das hohe Gut des gemeinsamen Frei-Seins in einer jeweils gemeinsamen, mit anderen geteilten Gegenwart menschlichen Lebens in der Natur dieser Erde impliziert. Nehmen wir diese Verantwortung wahr, so tun wir das nicht etwa willkürlich und beliebig heute so und morgen so und übermorgen gar nicht; wir tun es vielmehr in der Form von „auf Dauer gestellten Geregeltheiten“.207 Solche Geregeltheiten haben daran Anhalt, dass das Leben des individuellen Selbst wie alles Leben auf dieser Erde zutiefst bedürftig und verwundbar ist. In der Geschlechtsgemeinschaft eines Mannes und einer Frau gezeugt und empfangen, von einer Mutter geboren und gesäugt, ist das Leben des individuellen Selbst von allem Anfang an bezogen und angewiesen auf Erwartungssicherheit. Es erwartet nicht allein die Sorge für den Unterhalt des Organismus, den Schutz vor Hunger, Durst, Hitze und Kälte; es erwartet gleichursprünglich die liebevolle Annahme und das Angesprochen-Werden in der Muttersprache und peu à peu die Anleitung und die Einführung in das Wissen der Kultur bzw. der Gesellschaft, in die es geworfen wird. Im Medium der gesprochenen Sprache sucht es mit Hilfe dieses Wissens seine besondere Funktion im Prozess des Wirtschaftens; gleichzeitig macht es die Erfahrung, dass alle seine lebenswichtigen und lebensbedeutsamen Interessen des rechtlichen und des politischen Schutzes bedürfen. Und schließlich braucht es eine besondere ethische Kommunikation, in der ihm eine Perspektive des Lebenssinnes begegnet, in deren Horizont es sich selbst zu verstehen und sich selbst zu bestimmen lernt. Ist das geschaffene Frei-Sein an und für sich ein hohes Gut, so ist ihm damit aufgegeben, es in den Grenzen seines Dauerns zu erhalten, zu verteidigen, zu überliefern und zu vervollkommnen; und zwar nicht anders als im Austausch mit anderem geschaffenen Frei-Sein im Horizont der egalité, der Gleichheit vor Gott und vor Gottes Gnadenwahl. Ich nenne die Regeln der Kommunikation und der Interaktion, in denen menschliche Gemeinschaften die elementaren Bedürfnisse und Interessen eines jeden individuellen Selbst zu befriedigen meinen, Institutionen. Ihr Begriff und ihre Funktion im Leben einer jeden Kultur bzw. einer jeden Gesellschaft wird innerhalb der Lehre 207 Eilert Herms, Art. Institution: ESL (NA 2001), 748–752; 750. – Vgl. zum Folgenden bes.: Ernst Wolf, Sozialethik (wie Anm. 195), 168–289: Die Institutionen als von Gott angebotener Ort der Bewährung in Verantwortung; Wilhelm Korff, Die naturale und geschichtliche Unbeliebigkeit menschlicher Normativität, in: HCE, 147–164; Ders., Institutionstheorie: Die sittliche Struktur gesellschaftlicher Lebensform: ebd. 168–176; Heinz Eduard Tödt, Art. Institution: TRE 16, 206–220; Wolfgang Huber, Freiheit und Institution. Sozialethik als Ethik kommunikativer Freiheit, in: Ders., Folgen christlicher Freiheit (wie Anm. 179), 113–127; Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive (wie Anm. 122), 385–471: Der kulturelle Sinngehalt der gesellschaftlichen Institutionen; Reiner Preul, Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 190): 255–311: Bildungsinstitutionen – Bildung und die gesellschaftlichen Institutionen.

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

von der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen (s. u. 4.4.5) und in der Grundlegung der Theologischen Ethik ausführlich zu besprechen sein. An dieser Stelle genüge das Bemerken, dass Institutionen als relativ dauerhafte und stabile Formen zu verstehen sind, in denen eine menschliche Gemeinschaft die Lösung der identischen Grundaufgabe eines jeden individuellen Selbst koordiniert. Nicht etwa die geschichtlich variierenden Formen solcher Koordination, sondern vielmehr diese identische Grundaufgabe ist das „Mandat“, das uns – wie dies der Selbstwahrnehmung der Person im Lichte des Christus-Glaubens evident wird – der Geist des schöpferischen Waltens Gottes gebietet. Angesichts der Geschichte der sozialen Regeln, angesichts ihrer unbezweifelbaren Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten fragt es sich: Gibt es denn ein Kriterium, mit dessen Hilfe wir die überlieferten Formen solcher Koordination kritisch beurteilen; und gibt es eine „idée directrice“ (Maurice Hauriou), gibt es die Zielgestalt einer Ordnung, die dem individuellen Selbst-Sein aller und dessen Bedürfnissen und Interessen angemessen und deshalb gerecht zu heißen verdient? Der Begriff dieses Kriteriums bzw. dieser anzustrebenden und immer wieder neu zu behauptenden Zielgestalt einer Ordnung der Koordination geht davon aus, dass die Institutionen als die relativ stabilen und dauerhaften Formen der Koordination von allen Mitgliedern der Kultur einer Gesellschaft vollzogen werden. Sie werden vollzogen, indem die Mitglieder der Kultur einer Gesellschaft sich im Medium der gesprochenen Sprache die relativ stabilen und dauerhaften Formen der Koordination verstehend und bejahend zu eigen machen und aus eigener Einsicht in ihre lebensdienliche Qualität befolgen208 ; jedoch nicht etwa nur befolgen, sondern auch zu verbessern und von Grund auf zu erneuern trachten. Die Geschichte der

208 Einfaches Beispiel ad 1: Die Institution der freien Liebe bzw. der ehelichen Lebensgemeinschaft wird vollzogen, indem die Liebenden bzw. die Eheleute voneinander empfangen und einander geben, was ihr vitales Bedürfen und was ihr Interesse an liebevoller Annahme und Anerkennung erwartet und mit Recht erwartet. Einfaches Beispiel ad 2: Die Institution der allgemeinen Rechtssicherheit wird vollzogen, indem die Teilnehmer des Kreisverkehrs auf den sechs Spuren um den Arc de Triomphe zu Paris herum die einfache Regel des „Rechts vor Links“ befolgen. Einfaches Beispiel ad 3: Die Institution der repräsentativen Form des demokratischen Rechtsstaats wird vollzogen, indem die wahlberechtigten Bürger und Bürgerinnen ihre Repräsentanten als Inhaber einer Herrschaft auf Zeit wählen. Einfaches Beispiel ad 4: Die Institution der ästhetischen Kommunikation wird vollzogen, indem ein Orchester wie z. B. das Orchester der Berliner Philharmoniker die Symphonie Nr. 8 von Anton Bruckner für ein Publikum aufführt. Einfaches Beispiel ad 5: Die Institution der Bildung der ethischen Gesinnung bzw. der Verantwortungsfähigkeit der Person wird vollzogen, indem das Kind, der junge Mensch und der junge Erwachsene ethisch gesinnten bzw. verantwortungsfähigen Menschen begegnet – sei es in der Familie, sei es in der Schule, sei es in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen. In dieser Begegnung wird das in Wahrheit Gute verstehbar und bejahbar präsent, das jegliches abstrakte Selbstinteresse ins Interesse am Kommen des in Wahrheit Guten integriert, wie es das die biblische Sprache mit dem Kommen des Reiches bzw. der Herrschaft Gottes meint.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

Verfassungen der Staaten in den Gesellschaften der euro-amerikanischen Moderne seit der Unabhängigkeitserklärung der 13 Kolonien vom 4. Juli 1776 ist das eindrücklichste Beispiel einer Evolution der Institution, die auf der willentlichen konstruktiven Teilnahme all derer beruht, die sich jeweils der Verfassung unterwerfen. Nun ist dieses Kriterium bzw. diese Zielgestalt einer Ordnung der Koordination und damit Sinn und Bedeutung des Gerechten ein reflexiver Sachverhalt. Ich habe ihn gewonnen aus der Besinnung auf das je individuelle Freiheitsgefühl der Person, die sich in der Gemeinschaft findet mit allen Wesen ihresgleichen, die wie sie selbst des individuellen Freiheitsgefühls – des „Bild-Gottes-Seins“ – teilhaftig sind; ich habe ihn mithin gewonnen aus der Besinnung auf die Wahrheit des ChristusGlaubens, der uns das Geschaffen-Sein der Person und dessen ewige Bestimmung endgültig erfahren und ergreifen lässt. Dieser reflexive Sachverhalt markiert das sittliche Grundgebot des Einander-Achtens und des Einander-Anerkennens, das wir in allen Vollzügen der relativ dauerhaften und stabilen Koordination erfüllen oder aber nicht erfüllen. Ob jemand dieses sittliche Grundgebot in allen Vollzügen der relativ dauerhaften und stabilen Koordination des geschaffenen Frei-Seins erfüllt oder aber nicht erfüllt; ob jemand wirklich willens ist, in dem präzisen Sinne des Einander-Achtens und des Einander-Anerkennens gerecht zu sein: das ist nach allem, was wir kraft geschichtlicher Erfahrung sagen können, das kontingente Resultat einer Geschichte der Bildung des Herzens, des Gewissens und damit des Charakters.209 Um der Geschichte der Bildung des Herzens, des Gewissens und damit des Charakters willen bedarf die Erkenntnis des von Natur aus Rechten der freien religiösen Kommunikation im Lebensbereich des Menschen- und des Grundrechts der Religionsfreiheit bzw. der Freiheit des weltanschaulichen Bekenntnisses. Weder kann die Erkenntnis des von Natur aus Rechten einem zentralen Lehramt wie dem Lehramt des Bischofs von Rom überlassen werden210 ; noch steht es der Wissenschaft von der Verfassung und vom Staate zu, das vorpositive Recht in einem vernunftrechtlichen Sinne gegen das jeweilige gesatzte positive Recht zur Geltung zu bringen. Vielmehr ist der Erkenntnisprozess der praktischen Vernunft hinsichtlich des von Natur aus Rechten und ihre jeweilige Konkretion bedingt durch unsere konstruktiv-

209 Dass diese wohlverstandene ethische Bildung der Person des Funktionierens der „Bildungsinstitutionen“ im präzisen Sinne des Begriffs bedarf – nämlich der Familie, der Schule, der Medien und der Kirche –, ist die zentrale, die erhellende These von Reiner Preul, Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 190). Eine von Preuls These belehrte Evangelische Theologie nimmt insoweit die entsprechenden Argumente auf, die wir finden bei Charles Taylor, Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988. 210 Das lehrt uns die Erinnerung an das Lehrschreiben Papst Pauls VI. „Humanae Vitae“ (DH 4470–4479) überaus eindringlich.

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

kritische Teilnahme an jenen Bildungsinstitutionen, die uns das ebenso einfache wie unbedingte Einander-Achten und Einander-Anerkennen in allen notwendigen Beziehungen des Zusammenlebens als das von Gottes schöpferischem Walten Gewollte nahebringen möchten. Sie – diese Bildungsinstitutionen – haben die Verheißung, die Ordnung der geschaffenen Freiheit als die Ordnung Gottes des Schöpfers für die geschaffene Freiheit plausibel zu machen. 2.4.2.3

Die Bestimmtheit der geschaffenen Person für Gott211

In der Besinnung auf die Wahrheit des Christus-Glaubens an Gottes schöpferisches Walten und auf dessen ewiges Ziel tun wir nun einen letzten Schritt. Auf diesem letzten Schritt gilt es zu zeigen, worin der Christus-Glaube das Woraufhin bzw. das Worumwillen des geschaffenen Person-Seins sieht: nämlich aus dem radikalen Grundvertrauen auf die dauerhafte, die beharrliche, die treue Intention des schöpferischen Waltens zu existieren. Es gilt mithin zu zeigen, dass Gottes schöpferisches Walten jenes All des Seienden kontinuierlich ins Dasein ruft, innerhalb dessen das geschaffene Person-Sein des homo sapiens seinen Sinn, seine Bestimmung, seinen Frieden und seine ewige Seligkeit zu finden erwählt ist. In der Besinnung auf die Wahrheit des Christus-Glaubens erschließt sich uns zu guter Letzt immer wieder neu jene eschatische Perspektive, die uns an den Grenzen unserer irdischen Lebenszeit ins radikale Grundvertrauen fliehen lässt: „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit. In ihm leben, weben und sind wir, solange er will.

211 Vgl. zum Folgenden bes.: Cardinal Henri de Lubac, Le mystère du surnaturel (1965), Paris: Les éditions du Cerf, 2000 (Oeuvres complètes XII). – Angeregt von Maurice Blondel und dessen Engagement gegen die grundsätzliche Trennung von philosophischem und theologischem Verstehen des Menschen in der römisch-katholischen Neuscholastik der sog. „Römischen Schule“ haben Pierre Rousselot, Joseph Maréchal und eben auch de Lubac entschieden deren Lehre von der „natura pura“ des geschaffenen Person-Seins bekämpft und sie als Missverständnis der scholastischen Unterscheidung von „Natur“ und „Gnade“ nachgewiesen (vgl. die informative Einführung von Rudolf Voderholzer, Henri de Lubac begegnen, Augsburg: Sankt-Ulrich-Verlag, 1999, sowie die Selbstdarstellung: Henri Cardinal de Lubac, Meine Schriften im Rückblick, Freiburg: Johannes Verlag Einsiedeln, 1996). Namentlich de Lubac hat maßgeblich die heilsgeschichtliche Orientierung des 2. Vatikanischen Konzils von 1965–1968 angeregt und gleichzeitig auf die neuere römischkatholische Theologie von Hans Urs von Balthasar und von Karl Rahner eingewirkt. – Vgl. zum Problem zuletzt: Eilert Herms, Natur ist Gnade. Vorschlag für eine kohärente Rede von „Natur“ und „Gnade“ in der christlichen Theologie, in: Elisabeth Gräb-Schmidt und Reiner Preul (Hg.), Natur, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2015 (MJTh; XXVII), 51–70; hier wurden die wichtigen Intentionen der „Nouvelle théologie“ allerdings außen vor gelassen.

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In ihm sterben wir zu rechter Zeit, wenn er will.“212

Mein bisheriger Gedankengang hatte den biblischen Ausdruck „Bild Gottes“ (Gen 1,26f.) auf nicht-metaphorische Weise erklärt: nämlich als Begriff, der das Mensch-Sein des Menschen als geschaffenes und fort und fort erhaltenes Person-Sein zu verstehen lehrt. Ich hatte diesen Begriff mit Rücksicht auf die streitbefangene Geschichte seiner Auslegung in einer zweifachen Hinsicht entfaltet: Zum einen intendiert dieser Begriff das individuelle Selbst-Sein der geschaffenen Person für sich, das uns vertraut ist in der unmittelbaren Gewissheit, frei zu sein. Kraft dieser unmittelbaren Gewissheit – kraft dieses Freiheitsgefühls – erleben wir uns ursprünglich in unserer jeweiligen Gegenwart hier und jetzt als das verantwortliche Subjekt in allen sprachlichen Äußerungen, in allen praktischen Interaktionen und nicht zuletzt in allen ästhetischen Inszenierungen. Selbst wenn man dieses unmittelbare Freiheitsgefühl bezweifeln und verleugnen wollte, würde man es just für diese reflektierten Akte des Bezweifelns und Verleugnens in Anspruch nehmen als deren transzendentalen Grund. Zum andern aber intendiert der Begriff des geschaffenen und fort und fort erhaltenen Person-Seins gleichursprünglich das schlechthin Allgemeine bzw. das schlechthin Gemeinsame des individuellen Selbst-Seins. Insofern achtete ich auf die Bestimmtheit, in der wir Menschen alle miteinander und füreinander in der Natur des Lebens auf dieser Erde existieren, die uns im ungeheuren All des Universums und seines Richtungssinnes vorgegeben ist. An dieser Bestimmtheit hob ich das Geschlechtsverhältnis des weiblichen und des männlichen Selbst-Seins und ebenso das Verhältnis von Freiheit zu Freiheit hervor: jene beiden Grundverhältnisse, die je auf ihre Weise die Grundaufgabe jeder menschlichen Gemeinschaft in der Geschichte der Menschengattung unabweisbar machen. In der Erkenntnis dieser Grundaufgabe wird der Christus-Glaube an Gottes schöpferisches Walten und an dessen ewiges Ziel ethisch relevant.213

212 Johann Sebastian Bach, „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ (Actus tragicus [BWV 106]). – Die Hoffnung auf das absolut-zukünftig ewige Leben in Gottes Gemeinschaft, die dem ChristusGlauben an Gottes schöpferisches Walten innewohnt, kommt eindringlich zur Sprache bei Wolfhart Pannenberg, STh II, 162–201: III. Schöpfung und Eschatologie. Bachs Actus tragicus wäre natürlich ebenso wie die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens zutiefst missverstanden, wenn er empfunden würde als ein hilfloses bzw. kampfloses Hinnehmen der mannigfachen Mechanismen des Tötens. 213 Cum grano salis können wir das Verständnis des menschlichen Person-Seins, wie es im ChristusGlauben stets vorausgesetzt und mit enthalten ist, mit Hilfe des Begriffs eines konkreten Personalismus charakterisieren. Im weiten Feld der Spielarten des Begriffs des Personalismus seit Bronson Alcott (vgl. Martin Leiner, Art. Personalismus: RGG4 6, 1130–1133; Ders., Gottes Gegenwart. Martin Bubers Philosophie des Dialogs und der Ansatz ihrer theologischen Rezeption bei Friedrich Gogarten und Emil Brunner, Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, 2000) zeichnet sich dieser

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

Wir dürfen das geschaffene und fort und fort erhaltene Person-Sein im All des Universums bzw. in der Natur des Lebens auf dieser Erde als die geschaffene Bedingung denken, unter der selbstverantwortliche Lebensführung ermöglicht und damit auch aufgegeben ist. Wer sich im Christus-Glauben an Gottes schöpferisches Walten und an dessen ewiges Ziel in dieser Weise selbst erlebt, erlebt mithin nichts Selbstverständliches. Vielmehr erlebt er und erlebt sie sich im Widerspruch zu den verschiedenen Varianten naturalistischer, evolutionärer bzw. agnostischer Überzeugung wie auch im Widerspruch zur Lebens- und Weltanschauung Buddhas und zu deren Rezeption bei Arthur Schopenhauer und bei Richard Wagner. Im Christus-Glauben an Gottes schöpferisches Walten und an dessen ewiges Ziel erleben wir – mit Eilert Herms zu sprechen – das jeweils eigene Person-Sein im Ganzen des Realen als jene Faktizität, die ihren Grund und Ursprung hat in Gottes Wahl der Gnade (s. o. S. 161–178).214 Ist jeweils eigenes leibhaftes Person-Sein im All des Seienden weder schlechthin unmöglich noch schlechthin notwendig, so ist es uns schlechthin gewährt im Sinne der Bestimmtheit, die ich nunmehr als dessen Bestimmtheit für Gott verständlich machen möchte. Drei Dinge seien jetzt hervorgehoben, die für die weitere dogmatische Besinnung auf die Wahrheit des Bewusstseins der Versöhnung wie für die ethische Besinnung auf die Selbstverantwortung der Person sowohl in der Sphäre des privaten Lebens als auch in der Sphäre des öffentlichen Lebens (STh III) von grundsätzlicher Bedeutung sind. Zum einen: Ist die je individuelle Person für Gott bestimmt, so ist sie dazu bestimmt, in gemeinschaftlicher Weise das „Angesicht Gottes“ zu suchen (vgl. Ps 42,3), das ihr im Medium der Zeitlichkeit des unmittelbaren Selbstbewusstseins als dessen Grund verborgen gegenwärtig ist. Zum andern: Ist die je individuelle Person für Gott bestimmt, so ist sie dazu bestimmt, in und mit ihrer eigenen Lebensgeschichte dem schöpferischen Walten Gottes und dessen Sinn und Ziel zu dienen. Unter dieser Bestimmtheit geschieht ganz elementar die Geschlechts- und Lebensgemeinschaft einer Frau und eines

konkrete Personalismus dadurch aus, dass der Begriff der leibhaften Person das individuelle Selbstverhältnis, das sprachlich, praktisch und ästhetisch vielfach vermittelte und sozialgeschichtlich bedingte Verhältnis zu anderem individuellen Selbstverhältnis im Gefüge der sozialen Institutionen und schließlich das Verhältnis zu dem sich selbst erschließenden transzendenten Grund des leibhaften Person-Seins (im Sinne des sog. „Boston-Personalism“ von Borden Parker Bowne) integriert; und zwar in steter Rücksicht auf die kosmischen und auf die naturalen Bedingungen, die leibhaftes Person-Sein in der Atmosphäre dieser Erde möglich machen. – Von diesem Personalismus, der sich auf die Gottebenbildlichkeit und damit auf die Würde eines jeden Menschen berief, war inspiriert der Kampf, den Martin Luther King Jr. in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung für Freiheit und soziale Gerechtigkeit führte. 214 Vgl. Eilert Herms, STh (Bd. 1), 40ff.; 312ff. u. ö.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

Mannes, in deren Fruchtbarkeit das neue personale Selbst-Sein eines Kindes entsteht. Zum Dritten: Ist die je individuelle Person für Gott bestimmt, so ist sie schließlich dazu bestimmt, in und mit ihrer eigenen Lebensgeschichte dem Wirklich-Werden des Guten – dem Kommen des Reiches Gottes in Gottes schöpferischem, versöhnendem und vollendendem Walten – zu dienen. Sie dient dem Kommen des Reiches Gottes in Gottes schöpferischem, versöhnendem und vollendendem Walten, indem sie angesichts der faktischen Geneigtheit der geschaffenen Person zum Bösen die Institutionen des gerechten Rechts und dessen Rechtsgüter erstrebt, beachtet und verteidigt; und sie dient dem Kommen des Reiches Gottes in Gottes schöpferischem, versöhnendem und vollendendem Walten, indem sie alle die Medien der religiösen Kommunikation zu pflegen sucht, in denen die überlieferten Zeugnisse der endgültigen Offenbarung der wahren Liebe Gottes durch Gottes Heiligenden Geist zum inneren Wort, zur Gewissheit ihrer Wahrheit werden. In diesen drei Aspekten dürfen wir jedenfalls im Licht der reformatorischen Perspektive des Christus-Glaubens den objektiven Sinn und damit die Bestimmung des geschaffenen Person-Seins sehen. Mit der Entfaltung dieses objektiven Sinnes bzw. dieser Bestimmung zur selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott bzw. mit Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen wird die Lehre vom christlichen Glauben an Gott den Schöpfer schließen.215 Erstens: Dem Christus-Glauben in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) ist es als wahr gewiss, dass Gottes

215 Im Folgenden entfalte ich einen Grundgedanken, den Martin Luther angedeutet hat in seiner Schrift „De servo arbitrio“ (LDStA Bd. 1, 570/572; 571/573): „Sicut homo, antequam creatur, ut sit homo, nihil facit aut conatur, quo fiat creatura. Deinde factus et creatus nihil facit aut conatur, quo perseveret creatura, Sed utrunque fit sola voluntate omnipotentis virtutis et bonitatis Dei, nos sine nobis creantis et conservantis, sed non operatur in nobis, sine nobis, ut quos ad hoc creavit et servavit, ut in nobis operaretur, et nos ei cooperaremur, sive hoc fiat extra regnum suum generali omnipotentia, sive intra regnum suum singulari virtute spiritus sui …“ („Der Mensch vor seiner Erschaffung zum Menschen tut oder unternimmt nichts, wodurch er ein Geschöpf wird; ferner: Auch der gewordene und geschaffene Mensch tut oder unternimmt nichts, um Geschöpf zu bleiben. Sondern beides geschieht einzig durch den Willen der allmächtigen Kraft und Güte Gottes, der uns ohne uns erschafft und erhält, aber nicht in uns wirkt ohne uns, die er uns dazu geschaffen und errettet hat, dass er in uns wirke und wir mit ihm zusammenwirken. Dabei ist es gleich, ob dies außerhalb seines Reiches durch allgemeine Allmacht geschieht oder innerhalb seines Reiches durch die einzigartige Kraft seines Geistes.“ [Übersetzung Athina Lexutt]). – Allerdings ergänze und erweitere ich diesen Grundgedanken im Folgenden um den im Text angesprochenen ersten Aspekt der Bestimmtheit der geschaffenen Person für Gott, der dem von Luther intendierten Begriff des „Zusammenwirkens mit Gott“ seine wohlverstanden „soteriologische“ Spitze gibt. – Zum Begriff der „Bestimmung des Menschen“ vgl. bes. Wolfhart Pannenberg, STh II, 232–266.

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

schöpferisches Walten dem geschaffenen, dem endlichen, dem leibhaften PersonSein relative Dauer auf ein schlechthin erfüllendes und schlechthin befriedigendes Ziel hin gewährt. Das neutestamentliche Offenbarungszeugnis hat im Wege seiner kritischen Revision der Bibel Israels dieses schlechthin erfüllende und schlechthin befriedigende Lebensziel als jenseitige und d. h. als eschatische Vollendung angesprochen, wie sie der Christus-Glaube, der in der Liebe wirksam ist (vgl. Gal 5,6), geduldig und zuversichtlich als des dreieinen Gottes absolute Zukunft erhofft. Erst das Kapitel 4: „Der christliche Glaube an Gott den Vollender“, wird den Sachgehalt dieses Zeugnisses präzise darlegen können; und zwar im Ausgang von der Frage, ob wir und wie wir die Teilhabe des geschaffenen, des endlichen, des leibhaften PersonSeins am Höchsten Gut der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott bzw. mit Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen verstehen und verständlich machen können.216 Es ist für die Beantwortung dieser Frage von großem Gewicht, dass uns der Christus-Glaube das geschaffene, das endliche, das leibhafte Person-Sein als hohes Gut begreifen lässt, das unantastbare Würde trägt und das aus diesem Grunde auch den Schutz der mannigfachen Rechtsgüter genießen soll. Insofern hat die theologische Explikation der Hoffnung des Christus-Glaubens seit Justin dem Märtyrer sich sachgemäß zurückbezogen auf die Wege des antiken Philosophierens, die das Wesen der Eudaimonia und die Bedingungen der Möglichkeit des wahrhaft guten Lebens zu erkunden suchen. Diese Wege gehen nämlich seit der platonischen Interpretation der mythischen Figur des Eros im Dialog „Symposion“ davon aus, dass das menschliche In-der-Welt-Sein als erotisch im strikten Sinne zu denken ist, weil es als solches all der mannigfachen Güter bedürftig ist, auf die es sich begehrend und verlangend richtet.217 Grosso modo gesprochen trennen sie sich in der Beantwortung der Frage, worauf sich das erotische Begehren und Verlangen denn tatsächlich richten soll und worin es dementsprechend sein Glück und seinen Frieden finden wird. Die theologische Explikation der Hoffnung des Christus-Glaubens auf das schlechthin erfüllende und schlechthin befriedigende Lebensziel konnte im Medium des Gesprächs mit dem antiken Philosophieren im Grundriss zeigen, dass das leibhafte Person-Sein als geschaffenes, als endliches Person-Sein hinsichtlich

216 Vgl. hierzu vorläufig: Konrad Stock, Art. Seligkeit III. Dogmengeschichtlich und dogmatisch: RGG4  7, 1180–1183; Art. Seligkeit IV. Ethisch: ebd. 1183–1184. – Zum folgenden Gedankengang vgl. bes. Konrad Stock, Gottes wahre Liebe (wie Anm. 161), passim und bes. 314–328. 217 Vgl. Platon, Symposion 202b–e; 206a; 210e und bes. 211b; vgl. dazu Gerhard Krüger, Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 4 1973; sowie Wolfgang Janke, Plato. Antike Theologien des Staunens, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007, bes. 83–107; Ders., Das Glück der Sterblichen. Eudämonie und Ethos, Liebe und Tod, Darmstadt: WBG, 2002.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

der zu Recht begehrten und verlangten Güter durchaus bildungsbedürftig ist. Es hat buchstäblich die Unterschiede zu erlernen zwischen dem Inbegriff der materiellen Güter und dem der immateriellen Güter des Hauses, der Liebe, der Freundschaft und der pädagogischen bzw. der politischen Praxis; es hat jedoch darüber hinaus darauf aufmerksam zu werden, dass alle diese Güter ihrerseits nur möglich und nur wirklich sind im Ganzen jener Faktizität, die uns gewährt ist und gewährt wird von dem schöpferischen Geist des göttlichen Wesens. Es hat aus diesem Grunde – anders gesagt – auf jene offenbarenden Szenen zu warten, in denen ihm die kategoriale Differenz zwischen dem Inne-Sein des transzendenten, des göttlichen Wesens und den Zusammenhängen seines Umwelt- und seines Weltverhältnisses aufgeht (vgl. STh I, 368–373). In solchen offenbarenden Szenen ereignet sich nicht nur das unwillkürliche Staunen und Sich-Wundern eines aufgeweckten Kindes über das „Ich bin“; in ihnen fangen auch die Wege des philosophischen Staunens und Sich-Wunderns an, wie Wolfgang Janke sie mit großem Ernst und Sympathie interpretiert.218 Wir dürfen jenes Warten auf die offenbarenden Szenen, in denen wir der kategorialen Differenz zwischen dem Inne-Sein des transzendenten göttlichen Wesens und den Zusammenhängen des Umwelt- und des Weltverhältnisses gewahr werden, mit dem Begriffsmerkmal der Religiosität erfassen. Im Unterschied zur unübersehbaren Vielfalt geschichtlicher bestimmter Religionen, doch auch im Unterschied zu den Verfallsformen und zu den Schwundstufen impliziter Religion bedeutet das Begriffsmerkmal der Religiosität jenes Transzendieren zum Grund und Ursprung unserer selbst in dieser unserer ungeheuren kosmischen und geschichtlichen Welt, ohne das es Religion überhaupt und wahre Religion im Besonderen nicht wohl geben würde. Was die geschaffene, die leibhafte, die endliche Person in diesem Transzendieren sucht, ist nichts Geringeres als die Erfahrung des Wesens und des Eigen-Sinnes jenes Grundes und Ursprungs, in der sie – die der Mühsal und dem Leid, der Bosheit und dem Tode ausgesetzt ist – sich schlechthin geborgen und getragen fühlt. In den offenbarenden Szenen des unwillkürlichen Staunens und Sich-Wunderns wird jene Gottessehnsucht wach, die inmitten der Endlichkeit Eins-Werden mit dem Unendlichen begehrt.219 Als universelle kategoriale Bestimmung des Mensch-Seins meint das Begriffsmerkmal der Religiosität jene geschaffene Bedingung dafür, dass des dreieinen Gottes endgültiges Offenbar-Werden im Christus Jesus durch den

218 Vgl. Wolfgang Janke, Plato (wie Anm. 217). Jankes sorgfältige Interpretationen richten sich polemisch gegen die „Schreckensherrschaft des Mißtrauens“ im Denken Friedrich Nietzsches, und zwar im Interesse an der „Restituierung gottoffenen Staunens im gegenwärtigen Zeitalter“ (229). 219 Ich spiele an auf den berühmten Schlusssatz der Zweiten Rede über die Religion: „Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblik, das ist die Unsterblichkeit der Religion.“ (Friedrich Schleiermacher, Reden über die Religion [KGA I.2, 247]).

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

Geist der Wahrheit die zuversichtliche Hoffnung auf das Lebensziel jenseitiger und d. h. eschatischer Vollendung weckt. Augustin hat diese geschaffene Bedingung in dem ergreifenden Satz des ersten Kapitels des ersten Buches der „Confessiones“ formuliert: „Tu excitas, ut laudare te delectet, quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te.“220

Zum Christus-Glauben gekommen, spielt Augustin mit der biblischen Metapher „Herz“ auf jene „emotive Intentionalität“ an, die sich in der Entwicklungs- und Bildungsgeschichte eines jeden Menschen als Aus-Sein auf Erfüllendes und Bleibendes bekundet. Obgleich von Gottes schöpferischem Geist für Gott geschaffen, verirrt sie sich de facto in den Widerspruch des verwerflichen Begehrens zu jener Bestimmung, wie Augustin dies nicht allein an seinen eigenen Verirrungen, sondern auch im weiten geschichtstheologischen Horizont des großen Buches „De civitate Dei“ an der Gewaltherrschaft des Imperium Romanum illustriert. Nur deshalb, weil im Christus Jesus die wahre Liebe als das Wesen Gottes endgültig offenbar wird, ereignet sich im Raum und in der Zeit der Kirche jenes „Erregen“, das die Person zum Lobe Gottes als des wahrhaft Höchsten Gutes und damit zur Erfahrung ihres Glückes, ihrer Freude und ihres Friedens befreit. Es ist mithin die „emotive Intentionalität“ des menschlichen, des leibhaften, des endlichen PersonSeins, die in der Hoffnung des Christus-Glaubens auf das Lebensziel jenseitiger bzw. eschatischer Vollendung stets vorausgesetzt und mit enthalten ist.221

220 „Du erregst ihn (verstehe: den Menschen) dazu, dass es ihm Freude macht, dich zu loben; denn du hast uns zu dir hin geschaffen, und unser Herz ist unruhig (verstehe: beunruhigt), solange bis es Ruhe findet in dir.“ (Conf. I, 1 [Meine Übersetzung]). – Man beachte, dass dieser Satz exemplarisch gemeint ist! 221 Augustin hat damit das Ringen der patristischen Exegese um das Verständnis von Gen 1,26f. in einer Weise geklärt, die die scholastische Unterscheidung zwischen „Natur“ und „Gnade“ bzw. zwischen „Natur“ und „Übernatur“ inspirierte. Sie besagt, dass Gottes schöpferisches Walten das menschliche Person-Sein – das Bild-Gottes-Sein – als jenes Seiende sein lässt, das der Seligkeit der Anschauung Gottes durch Gottes Gnade bedürftig und fähig ist (vgl. Thomas von Aquino, STh I–II q 113 a 10 c: „Eo enim ipso quod facta est ad imaginem Dei, capax est Dei per gratiam, ut Augustinus dixit“ [„Eben indem die Natur des Menschen als Bild Gottes geschaffen ist, ist sie Gottes fähig kraft der Gnade, wie Augustin sagte“] {Meine Übersetzung}). Thomas entfaltet diese Fähigkeit genauer als das „naturale desiderium“ (STh I–II q 3 a 8 c), als die dem Menschen wesentliche Sehnsucht nach der unendlichen Betrachtung des Wesens Gottes in seinem Eigen-Sein. – Von der Seligkeit als letztem Ziel des menschlichen Person-Seins handelt Thomas ausführlich zu Beginn der Prima Secundae in den Quaestionen 1–5. – Die analytische Methode der sog. lutherischen Orthodoxie des 17. und des 18. Jahrhunderts beginnt ihre Darstellung in entsprechender Weise mit dem Kapitel der Lehre von Gott als dem „Ziel der Theologie“ und unterscheidet darin die Bestimmung des objektiven Sinnes – nämlich des göttlichen Wesens als des in Wahrheit Guten –

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

Ich werde die Hoffnung des Christus-Glaubens auf das Lebensziel jenseitiger bzw. eschatischer Vollendung in der Anschauung der wahren Liebe Gottes erst im Zusammenhang der folgenden Kapitel über den christlichen Glauben an Gott den Versöhner und über den christlichen Glauben an Gott den Vollender detailliert entfalten können (s. 4.3.3.; 4.5.1). An dieser Stelle sei jedoch bemerkt, dass diesem Aspekt der Bestimmtheit der geschaffenen Person für Gott enorme lebenspraktische Bedeutung zukommt. Er macht uns darauf aufmerksam, dass diese Sicht eines Lebensziels erstlich und letztlich gründet in der Erfahrung der ontologischen Differenz zwischen dem „Sein-Selbst“ des göttlichen Wesens und dem Seiend-Sein des Seienden als solchem. Mit ihr sind wir im „Herzen“, im jeweils individuellen Gefühl des Frei-Seins vertraut, in welchem wir im Laufe unserer jeweiligen Entwicklungsund Bildungsgeschichte den ewigen Lebensgrund als ewigen Vertrauensgrund erleben dürfen: Werden wir Gottes in unserer jeweiligen Entwicklungs- und Bildungsgeschichte als des ewigen Lebens- und Vertrauensgrundes gewiss, so finden wir den Mut, alle unsere irdischen Lebensziele – wie großartig oder wie bescheiden auch immer sie sein mögen – als Lebensziele im Lichte des uns passiv bzw. passional gewährten Lebensziels jenseitiger und d. h. eschatischer Vollendung aktiv zu verfolgen. Werden wir Gottes in der jeweiligen Entwicklungs- und Bildungsgeschichte als des ewigen Lebens- und Vertrauensgrundes gewiss, so finden wir die Kraft, das Leid der Endlichkeit anzunehmen und unseren Tod als Tor zur Ewigkeit, zur „Unverweslichkeit“, zur „Unsterblichkeit“ (1Kor 15,50) zu bejahen.222 Zweitens: Wenn Martin Luther den objektiven Sinn bzw. die Bestimmung des geschaffenen Person-Seins im Licht der Perspektive des Christus-Glaubens auf den Begriff des „Zusammen-Wirkens mit Gott“ zu bringen lehrt, so hat er selbstverständlich das radikal asymmetrische Verhältnis zwischen Gottes schaffendem Person-Sein und den Handlungsmöglichkeiten des geschaffenen Person-Seins im Hinterkopf. Wir werden dieses radikal asymmetrischen Verhältnisses gewahr, wenn

und die Bestimmung des formalen Sinnes – nämlich der fruitio Dei, welche im Leben des ChristusGlaubens hier und jetzt anfänglich gewährt und in der jenseitigen, der eschatischen Teilhabe an Gottes Wesen vollendet und erfüllt wird. Vgl. hierzu exemplarisch die Thesen von Johann Friedrich König, Theologia positiva acroamatica, 1644, §§ 13–20 und § 21 (wiedergegeben bei Carl Heinz Ratschow, Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung. Teil II, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 1966). 222 Dass die in der patristischen Exegese und in der lutherischen bzw. in der reformierten Orthodoxie vertretene Ansicht, dem geschaffenen Person-Sein des Menschen sei ursprünglich Unsterblichkeit verliehen gewesen, jedenfalls dem neutestamentlichen Offenbarungszeugnis nicht entspricht, lehrt namentlich das Argument des Apostels Paulus, der Mensch sei „verweslich“ bzw. „in Niedrigkeit“ und als „natürlicher Leib“ bzw. als „irdischer“ geschaffen (1Kor 15, 42-44; 47f.).

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

wir uns der verschiedenen Momente erinnern, in denen Gottes schöpferisches Walten dem christlich-frommen Selbstbewusstsein gegenwärtig wird. Ich hatte dessen verschiedene Momente anhand der schöpferischen Eigenschaften der Allmacht, der Allwissenheit, der Allgegenwart und der Ewigkeit des göttlichen Wesens in den Blick gefasst. Sie indizieren jene Energien, denen das Seiend-Sein des Seienden – das ungeheure All des Universums und seines Richtungssinns ebenso wie das Leben der Natur der Erde und innerhalb dieses Lebens das leibhafte Person-Sein des homo sapiens – alle die Möglichkeiten seines Prozedierens verdankt: alle die Möglichkeiten, die zuletzt wie durch ein unableitbares Wunder in die Seinsweise eines der Sprache, der Liebe, der Kunst und der Erkenntnis fähigen weltoffenen Wesens münden. Die radikale Asymmetrie zwischen dem „Sein-Selbst“ (Paul Tillich) und dem Seiend-Sein des Seienden, zwischen dem schöpferischen Grund und Ursprung und dem Kontinuum des Werde-Prozesses des Universums, derer das christlich-fromme Selbstbewusstsein ansichtig wird, liegt dem menschlichen Zusammen-Wirken mit dem Walten Gottes stets zugrunde.223 Das menschliche Zusammen-Wirken mit Gottes Walten geschieht ganz elementar in der Geschlechtsgemeinschaft einer Frau und eines Mannes, in deren Fruchtbarkeit das neue personale Selbst-Sein eines Kindes entsteht (vgl. Gen 1,28). Es setzt sich in der elterlichen Sorge für das Kind und in der liebenden Annahme seines Lebensrechtes fort. Und weil das neue personale Selbst-Sein eines Kindes von allem Anfang an in die Gemeinschaft selbstbewusst-freier Wesen strebt, ist deren gesamte kommunikative und interaktive Praxis als die Weise zu verstehen, in der sie dem schöpferischen Walten Gottes und dessen ewigem Ziel zu dienen bestimmt ist. Indem sie so oder so eine Ordnung des geschaffenen Frei-Seins etabliert und in geschichtlichen Prozessen und Konflikten evolviert und reformiert, existiert sie unwissentlich oder wissentlich in der Pflicht, gemeinsam alle die Güter zu produzieren, die das Leben eines individuellen Selbst im Naturzusammenhang dieser Erde erhalten, schützen und vervollkommnen. „Ehrfurcht vor dem Leben“ bildet sich, indem wir diese Pflicht als eine uns gegebene Verpflichtung anerkennen.224 Sie ist die theonom begründete Pflicht, im wohlverstandenen Sinne autonom zu sein.

223 Diese fundamentale ontologische Einsicht des christlich-frommen Selbstbewusstseins ist poetisch vorgebildet in Ps 104,24: „HErr, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weise geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter.“ 224 Gerne erinnere ich an die Maxime, mit der Albert Schweitzer das Thema seines ärztlichen Lebenswerks und seiner öffentlichen Mahnungen kennzeichnete. Zur notwendigen Kritik an Schweitzers Maxime, die bei ihm selbst zum Konflikt zwischen Leben und Leben führt, vgl. Wilfried Härle, „Ehrfurcht vor dem Leben“. Darstellung, Analyse und Kritik eines ethischen Programms, in: Ders. und Reiner Preul (Hg.), Leben, Marburg: Elwert, 1997 (MJTh IX), 53–81.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

Drittens: Wenn wir mit Albert Schweitzers großer Maxime „Ehrfurcht vor dem Leben“ das Ganze des menschlichen Zusammen-Wirkens mit Gott als diese theonom begründete Pflicht – als das „Mandat“ des schöpferischen Grundes und Ursprungs unserer selbst – umfassen dürfen, so sind wir uns doch dessen zutiefst bewusst, wie furchtbar die Gemeinschaft autonomer Wesen an dieser theonom begründeten Pflicht gesündigt und gefrevelt hat und an ihr fort und fort sündigt und frevelt. In aller Geschichte, wie wir sie in der eigenen Erinnerung und in der unbestechlich freien historischen Forschung erfahren, erhebt sich Kain in vielgestaltiger Weise gegen seinen Bruder Abel: in Mord und Totschlag, in Lüge und Bereitschaft zur Gewalt, in Krieg und Unterdrückung, in Hinterlist und Korruption, in Hass und Neid.225 Ist es dem Christus-Glauben an Gottes schöpferisches Walten und an dessen ewiges Ziel gewiss, dass Gottes Wahl der Gnade alle Morgen neu ist (vgl. EG 440), so ist ihm doch das Risiko und die Gefahr der jederzeit ausbrechenden Bosheit beschämend, erschreckend und entsetzenerregend vertraut. Im folgenden Kapitel 3: „Der christliche Glaube an Gott den Versöhner“ werde ich die Phänomene der Sünde ausführlich beschreiben. Nun lebt der Christus-Glaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) von der Kraft der Versöhnung (2Kor 5,17-21). Ihm wird durch Gottes Heiligenden Geist als wahr gewiss, dass Gott der Schöpfer eben wegen dessen ewigen Ziels die unwillkürliche Geneigtheit der Person zum Bösen im Christus Jesus trägt, erträgt und überwindet. Er – der Christus-Glaube – erfährt sich selbst in einer lebenslangen Umkehr (vgl. Mk 1,15): in einer „Revolution“ des Herzens, der Gesinnung und der Denkungsart, die ihn zum guten Werk der „Ehrfurcht vor dem Leben“ im weitesten Sinne dieser Maxime bildet und befähigt. Um ihretwillen wird das ursprüngliche „Mandat“, das in und mit der autonomen Verfassung des geschaffenen Person-Seins uns gegeben ist, in zweifacher Weise konkretisiert. Vor allem Martin Luther hat die zweifache Konkretion der autonomen Verfassung des geschaffenen Person-Seins mit Rücksicht auf die faktische Geneigtheit der Person zum Bösen ernst genommen in der berühmten Lehre von Gottes zweifacher Regierweise. Im Vorblick auf das folgende Kapitel 4 „Der christliche Glaube an Gott den Vollender“ und auf die Grundlegung der Theologischen Ethik (STh III) hebe ich an dieser Stelle das nach wie vor Richtige und Wichtige an dieser Lehre hervor. Sie ist in ihrem harten Kern die Lehre von der Ordnung einer Herrschaft des weltlichen Rechts und von der kirchlichen Verantwortung für die

225 Es hat sein tiefes theologisches Recht, wenn die nicht-priesterliche „Urgeschichte“ Gen 4–11 die Geschichte der Menschheit mit der Erzählung von Kains Brudermord eröffnet (Gen 4,1-16) und sie in der Erzählung vom „Turmbau zu Babel“ (Gen 11,1-9) zu ihrem immanenten Ziele führt. In ihrer Erzählung interpretiert sie den ebenso rätselhaften wie tiefsinnigen Spruch Gottes des HErrn: „Siehe, Adam ist geworden wie unsereiner, und weiß, was gut und böse ist.“ (Gen 3,22).

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Der Mensch als Gottes Ebenbild

religiöse Kommunikation des Evangeliums unter den geschichtlichen Bedingungen der faktischen Geneigtheit der Person zum Bösen. Sie entwirft mithin die beiden zentralen Aspekte der Art und Weise, in der der dreieine Gott die selbstbewusstfreie Willensgemeinschaft der geschaffenen Person mit Gottes schöpferischem, versöhnendem und vollendendem Walten in Anspruch nimmt.226 Zum einen: Die faktische Geneigtheit der durch Gottes schöpferisches Walten als autonomes Wesen begründeten Person zum Bösen ist keineswegs, wie Friedrich Nietzsche wähnte, die ressentimentgeladene Erfindung einer servilen jüdischen Gesinnung; sie drängt sich vielmehr jeder ernsten, jeder aufrichtigen Selbstwahrnehmung auf und legt sich jeder ehrlichen Betrachtung der Sozialgeschichte nahe. Ihretwegen haben so gut wie alle Kulturen und Gesellschaften im Rahmen ihrer Ordnung des Politischen das Mittel der strafbewehrten Sanktion entwickelt, mit dessen Hilfe sie die Regeln eines geltenden Rechts vor willkürlicher Gewalt zu schützen suchen. Ohne dass ich hier auch nur mit einem Wort erörtern könnte, ob das Mittel der strafbewehrten Sanktion dem Kriterium eines gerechten Rechts genügt, gründet es in der Erfahrung, dass die Sicherheit und dass der Friede im Innenverhältnis der sozialen Formation letztlich eines Gewaltmonopols bedarf. Die legale Befugnis zu zwingen und zu strafen dient dem notwendigen Interesse an der generellen Prävention. Sie ist nicht etwa nur gegenüber den individuellen Gliedern einer Gemeinschaft, sondern auch gegenüber gewaltbereiten und gewaltsamen Gruppierungen ohne Ansehen der Person zu praktizieren. Ich werde diese wenigen Bemerkungen erst in der Güterlehre der Theologischen Ethik einlösen können, in der das Ethos des Christus-Glaubens im Lebensbereich des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats, wie er erst in der euroamerikanischen Moderne möglich wurde, zur Sprache kommen wird (STh III). Im Vorblick darauf sei nur festgehalten, dass just die Sorge „für Recht und Frieden“ im Innenverhältnis einer Kultur bzw. einer Gesellschaft als eine Weise anzusehen ist, in der gemäß dem Gottesverständnis des Christus-Glaubens das menschliche Zusammen-Wirken mit Gott in Anspruch genommen wird.227

226 Vgl. zum Folgenden bes.: Ulrich Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre, Stuttgart: Ernst Klett Verlag, 1970; Wilfried Härle, Luthers Zwei-Regimenten-Lehre als Lehre vom Wirken Gottes, jetzt in: Ders., Spurensuche nach Gott. Studien zur Fundamentaltheologie und Gotteslehre, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 257–285; Reiner Anselm/Wilfried Härle/Matthias Kroeger, Art. Zweireichelehre I.–III.: TRE 36, 776–793; Eilert Herms, STh (Bd. 1), §§ 45–47 (847–1021). 227 Ich erinnere hierfür an die „Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche“ der Bekenntnissynode von Barmen vom 31. Mai 1934, in deren 5. Artikel es heißt: „Die Schrift sagt uns, daß der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.“. – Im Anschluss daran ist mit Wolfgang Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien

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Zum andern: Die faktische Geneigtheit der durch Gottes schöpferisches Walten als autonomes Wesen begründeten Person zum Bösen wird – wie dem ChristusGlauben durch Gottes Heiligenden Geist als wahr gewiss ist – letztlich und endgültig überwunden von dem Christus Jesus, von dem der Täufer nach dem Zeugnis des Evangeliums nach Johannes prophezeit: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt.“ (Joh 1,29).

Wird uns in den Ereignissen des Dritten Tages die schöpferische Gnade Gottes endgültig als versöhnende und als vollendende Gnade Gottes offenbar, so wird sie uns als Kraft des „Friedens mit Gott“ (Röm 5,1), als Kraft des radikalen Grundvertrauens auf Gottes Treue und auf Gottes Beständigkeit eben als Treue und Beständigkeit des „Seins-Selbst“ offenbar (vgl. Röm 4,13-18). Von diesem harten Kern des Evangeliums ist in der Existenz der ganzen Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments auf relativ plurale Weise die Rede (vgl. STh I, 557–566). Sie hat nach den Erkenntnissen der reformatorischen Bewegung den Status eines Kanons aller Überlieferung und aller religiösen Kommunikation, weil sie die ursprüngliche Gestalt des äußeren Wortes ist, in dem die Kraft des radikalen Grundvertrauens auf Gottes Treue und Beständigkeit – die Kraft des inneren Wortes – die Person durch Gottes Heiligenden Geist ergreift. So wie die Existenz der Bibel selbst mit Gottes versöhnendem und vollendendem Walten zusammenwirkt, so wirkt auch ihre Überlieferung in allen Formen religiöser Kommunikation mit Gottes versöhnendem und vollendendem Walten zusammen. Ausdrücklich sei betont, dass über den Gottesdienst hinaus auch der kirchliche Unterricht, die christliche Erziehung, das christliche Bildungswesen bis hin zur theologischen Forschung, die christliche Kunstpraxis und die Diakonie der solidarischen Hilfe als Formen des äußeren Wortes einzuschätzen sind, derer sich Gottes versöhnendes und vollendendes Walten im Christus Jesus durch den Geist der Wahrheit frei bedient.

2.5

Fazit: „Alles, was Odem hat, lobe den HErrn! Halleluja!“ (Ps 150,6)

Am Ende des Kapitels „Der christliche Glaube an Gott den Schöpfer“ wird es meinen Leserinnen und Lesern gewiss willkommen sein, wenn ich den bisherigen Gedankengang prägnant zusammenfasse. Im Leben des Christus-Glaubens – im christlich-frommen Selbstbewusstsein der Person – ist „immer schon vorausgesetzt und ist also auch darin mit enthalten“

christlicher Rechtsethik, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 3 2006, eine „kritische Theologie des Rechts“ (152) zu entwickeln.

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Fazit: „Alles, was Odem hat, lobe den HErrn! Halleluja!“ (Ps 150,6)

(CG2 § 32 L [I, 171 = KGA I.13,1, 201]) das Gottesbewusstsein im Sinn des radikalen Grundvertrauens auf Gottes schöpferisches Walten, auf Gottes gnadenreiches Geben und Erhalten unserer selbst im ungeheuren All des Seienden, worin die transzendente Idealität des Geistes Gottes verborgen gegenwärtig ist. Wer immer hier und heute sich dazu berufen weiß, die religiöse Kommunikation des Evangeliums kompetent zu leiten, wird dieses radikale Grundvertrauen schlichter Frömmigkeit verständlich machen wollen angesichts mancher Zweifel, mancher Skepsis, mancher Ignoranz.228 Die systematische Besinnung auf die Wahrheit des christlichen Glaubens an Gott den Schöpfer hat deshalb einen Weg zu suchen, welcher die großen Zeugnisse des biblischen Schöpfungsdenkens und den Reichtum kirchen- und theologiegeschichtlicher Schöpfungslehre konsequent zurückbezieht auf unsere alltägliche Grund-Erfahrung, wie sie den Gliedern der Christus-Gemeinschaft mit allen Menschen gemeinsam ist. Ich nenne diese uns Menschen allen gemeinsame Grund-Erfahrung die GrundErfahrung des „Sich-gegenwärtig-Seins“, so wie der Christus-Glaube sie zu sehen lehrt. Die drei Hauptabschnitte des Kapitels thematisieren das „Sich-gegenwärtigSein“ der Person als ihr Geschaffen-Werden und Geschaffen-Sein; und zwar im Lichte dreier Fragen: Erstens: In welcher Weise werden wir überhaupt – erkenntnistheoretisch bzw. methodisch überlegt – des Geschaffen-Werdens und Geschaffen-Seins des Seienden im präzisen Sinn des Ausdrucks gewiss? Zweitens: Welches sind die allerallgemeinsten Kategorien des Seienden als Seienden, aus denen wir die schöpferischen Eigenschaften Gottes erkennen können? Drittens: Was meint die biblische Sprache, wenn sie das Wesentliche des weiblichen und des männlichen Mensch-Seins mit der großartigen Metapher „Bild Gottes“ (Gen 1,26f.) bezeichnet? Erstens: Das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments bezeugt in seinem harten Kern auf pluriforme Weise den „Neuen Bund“ (1Kor 11,25; Lk 22,20; vgl. Mt 26,28; Mk 14,24), dessen Glieder kraft des ChristusGlaubens der Versöhnung, der Rechtfertigung, der Heiligung des Lebens gewiss sein dürfen (s. 4.3.1). Im Sinnraum und im Verstehenshorizont der Bibel Israels weisen diese überaus gewichtigen Terme auf die verschiedenen Aspekte des christlichfrommen Selbstbewusstseins hin, das sich durch Gottes Heiligenden Geist in einer

228 Solche Ignoranz macht sich breit in der entschieden anti- und a-christlichen Rezeption antiker bzw. außereuropäischen Religionen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts; vgl. Hubert Mohr, Art. Neopaganismus: RGG4 6, 186–189. Ich rede hier von Ignoranz, weil diese Rezeption weder mit der begriffenen Erfahrung der Natur noch mit der begriffenen Erfahrung der Freiheit und der Unfreiheit kompatibel ist.

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religiösen Bildungsgeschichte im Raum der Kirche bildet, wenn auch auf immer wieder angefochtene Weise. In dieser Bildungsgeschichte wird das Staunen und wird die Verwunderung über das pure Faktum des je eigenen selbstbewusst-freien Lebens wach; in ihr herrscht allerdings zugleich die stille oder auch die laute Sorge um das Dauern und Beharren des je eigenen selbstbewusst-freien Lebens, die sich in jedem Herzschlag und in jedem Atemzuge meldet. In beidem, in der staunenden Verwunderung und in der Sorge um das Dauern und Beharren, sind wir in aller Geschichte mit dem Phänomen des Geschaffen-Werdens und Geschaffen-Seins vertraut. Es ist womöglich die glückliche Geburt unseres Kindes, die uns das tiefe Gefühl des Danks ganz unwillkürlich und ergreifend nahebringt, ebenso wie sie auch die Bitte um Bewahrung und um Rettung evoziert. Vornehmlich in dieser Szene erleben wir hautnah das hohe Gut des leibhaften Person-Seins. Indem wir uns an dieser Szene orientieren, gewinnen wir den Zugang zur sachgemäßen Interpretation des biblischen Schöpfungsdenkens.229 Wir dürfen es als einen besonderen, als einen singulären Fall der Bestimmtheit des frommen Selbstbewusstseins der Person charakterisieren: nämlich als jenen Fall, in dem das fromme Selbstbewusstsein der Person bestimmt ist von der Einzigkeit des transzendenten Grundes und von dem Sinn und Ziel des schöpferischen „Ins-Dasein-Rufens“ (Röm 4,17). Dieser besondere, dieser singuläre Fall hat nicht etwa nur für das

229 Wegen ihrer antisubjektiven Grundentscheidung (vgl. STh I, 461–471) ist die Interpretation des biblischen Schöpfungsdenkens bei Karl Barth, KD III/1, § 41: Schöpfung und Bund (44–377), als unsachgemäß zu beurteilen. Ich verkenne nicht im Geringsten, dass Barths Lehre vom schöpferischen Walten Gottes darauf ausgerichtet ist, das Wirklich-Sein des Menschen im All des Seienden aus dem Zusammenhang des im Christus Jesus erfüllten Bundes Gottes mit dem Menschen zu verstehen (vgl. III/1, 377). Nur wegen dieses Zusammenhangs und nur in der Perspektive dieses Zusammenhangs ist es nach Barth unzweifelhaft gewiss, dass das Reale – das Wirklich-Sein des Menschen im All des Seienden – sich des „Ja Gottes des Schöpfers“ (KD III/1, § 42, 377–476) erfreuen darf. Dieses Erkenntnisinteresse ist das Motiv dafür, dass Barth die beiden mythischen Schöpfungserzählungen Gen 1,1–2,4a und Gen 2,4b–2,25 zueinander in Beziehung setzt nach dem Verhältnis von „äußerem Grund“ und „innerem Grund“. Der Schlüsselsatz für Barths Verhältnisbestimmung von „Schöpfung“ und „Bund“ lautet: „Seine (verstehe: des menschlichen Person-Seins) Natur ist nichts anderes als seine Zurüstung für die Gnade (verstehe: der Geschichte der göttlichen Fürsorge und Fürsprache, die sich in der Dahingabe des Christus Jesus am Kreuz auf Golgatha erfüllt und vollendet).“ (III/1, 261; vgl. bes. 337). Wegen dieser Verhältnisbestimmung von „Schöpfung“ und Bund“ betrachtet Barth das leibhafte Person-Sein des Menschen mit exegetischer Gewaltsamkeit auf doppelsinnige Weise: zum einen im Sinne der Natur des In-Beziehung-Seins des männlichen und des weiblichen Mensch-Seins; zum andern aber im Sinne der Natur des In-Beziehung-Seins als „Vorbild der ihm (verstehe: dem Menschen) zugewendeten Gnade Gottes“ (KD III/1,337). Mit dieser doppelsinnigen Weise der Betrachtung des Verhältnisses von „Schöpfung“ und „Bund“ schafft sich Barth die Besinnung auf den transzendentalen Grund des frommen Selbstbewusstseins vom Halse. – Zur Kritik vgl. bes. Wolfhart Pannenberg, STh II, 37 mit Anm. 60.

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Fazit: „Alles, was Odem hat, lobe den HErrn! Halleluja!“ (Ps 150,6)

Verständnis des Wissen-Könnens, sondern vor allem auch für das Verständnis des Wollen-Könnens der Person erhebliche Konsequenzen (s. 2.2.2). Wie in der „Prinzipienlehre“ ausführlich erläutert (vgl. STh I, 151–171), betrachte ich die Theorie der Frömmigkeit, die sich im philosophisch-theologischen Werk Friedrich Schleiermachers findet, grundsätzlich als das sachgemäße Instrument, mit dessen Hilfe wir die religiöse Zeichenpraxis als wesentliches Element des menschlichen Zusammenlebens verstehen können. Sie – diese Theorie – ergreift Partei im Kontext der großen Debatte über die Erkenntnis der Bedingungen möglicher Erfahrung, ohne die es weder valides Wissen noch reflektiertes Handeln geben könnte. Schleiermacher mischte sich in diese Debatte ein, indem er das Phänomen des Selbstbewusstseins der Person mittels der fundamentalen Unterscheidung zwischen dem Aspekt des vermittelten bzw. des reflektierten Selbstbewusstseins und dem Aspekt des unmittelbaren bzw. des vorreflexiven Selbstbewusstseins erfasst. Wohlverstanden leitet diese Unterscheidung dazu an, das menschliche PersonSein als ein „Sich-gegenwärtig-Sein“ zu prädizieren. Wir sind uns nämlich in der jeweiligen Gegenwart unserer Lebensgeschichte dessen bewusst, dass wir und wie wir uns mit anderen über die Gegenstände unserer jeweiligen Mit-Welt im ungeheuren Geschehen des Universums sprachlich verständigen und praktische bzw. auch ästhetische Ziele verfolgen wollen; wir sind allerdings auch damit vertraut und zwar „unmittelbar“ damit vertraut, dass diese selbstbewusst-freie Weise des Kommunizierens und Interagierens einem Grunde zu verdanken ist, der sein Sein als dieser Grund nicht wiederum einem anderen höheren Grunde verdankt und deshalb als der transzendente Grund allen „Sich-gegenwärtig-Seins“ zu denken ist. In Anlehnung an den klassischen Begriff des Thomas von Aquino verwende ich für die Struktur des „Sich-gegenwärtig-Seins“ der leibhaften Person den Ausdruck lumen naturae rationalis. In aller religiösen Zeichenpraxis wird das schöpferische Walten des transzendenten Grundes, dessen wir uns in unserem „Uns-gegenwärtig-Sein“ an sich und formaliter bewusst sind, mehr oder weniger angemessen symbolisiert. Im weiten Spektrum dieser Symbolisierungen bewegt sich auch das Schöpfungsdenken, das uns im Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testamentes überliefert ist. Innerhalb dieses Spektrums zeichnet sich dies Schöpfungsdenken vor allen Dingen dadurch aus, dass es sich mehr und mehr der kategorialen Differenz zwischen dem schöpferischen Walten des göttlichen Wesens und dem von ihm geschaffenen Seienden öffnet. In der hartnäckigen Kritik und in dem hartnäckigen Verbot des kultisch zu verehrenden Gottesbildes (vgl. bes. Ex 20,4; Dtn 4,15-18) kommt das Gespür für diese kategoriale Differenz an den Tag. Sie ist als ontologische Differenz zwischen dem „Sein-Selbst“ (Paul Tillich) und dem All des Seienden zu deuten, kraft derer das „Sein-Selbst“ das All des Seienden wirklich werden, sein und bleiben lässt. Nur jene Prädikation des „Seins-Selbst“, die es als den sich selbst bestimmen-

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den Ursprung des Alls des Seienden anzusprechen wagt, wird dem Wesen dessen gerecht, was das Wort „Gott“ tatsächlich meint. Die hartnäckige Kritik, das hartnäckige Verbot des kultisch zu verehrenden Gottesbildes hat erkannt, dass das Wort „Gott“ das „Sein-Selbst“ bedeutet, das als solches zugleich als jenseitig-verborgen und als immer wieder neu von sich selbst her diesseitig-wirksam erfahrbar ist. Unerreichbar für den perversen Drang, es ins Idol zu fassen und es auf diese Weise zum Götzenbild zu machen, erweist es sich als ewiger Vertrauensgrund, dem Lob und Dank, beständiges Gedenken und in dem allen radikales Grundvertrauen gebührt.230 Wie das Schöpfungsdenken der Bibel Israels lehrt auch der christliche Glaube an Gottes schöpferisches Walten das Werden und das Dauern dieser Welt als das Werden und das Dauern der kosmischen bzw. der naturalen Basis jedweder selbstbewusst-freien Lebensform des Menschen zu verstehen. Wie jenes Schöpfungsdenken sieht auch er, dass Gottes schöpferisches Walten auf Gottes Gemeinschaft mit dem Menschen als dem Bilde Gottes zielt: auf eine Gemeinschaft, die es de facto nur – wie der Redaktor der „Urgeschichte“ Gen 1,1–11,32 sehr wohl weiß – unter den Bedingungen des Leids der Endlichkeit und der Entfremdung gibt. Im Gegensatz zum Schöpfungsdenken der Bibel Israels ist es jedoch dem ChristusGlauben in der Christus-Gemeinschaft der Kirche als wahr gewiss, dass Gottes Gemeinschaft mit dem Menschen als dem Bilde Gottes unter den Bedingungen des Leids der Endlichkeit und der Entfremdung erst kraft der Wirksamkeit des Christus Jesus im Geist der Wahrheit unüberbietbar wirklich wird. Unübersehbar deutlich wird uns diese Differenz, wenn wir uns auf die Wahrheit des Glaubenssatzes besinnen, den der Apostel Paulus in stillschweigender Anlehnung an die Reihenformeln der kaiserzeitlichen Stoa formuliert: „… so haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm; und einen Herrn, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn.“ (1Kor 8,6).

230 Vgl. hierzu bes. Friedhelm Hartenstein in: Friedhelm Hartenstein/Michael Moxter, Hermeneutik des Bilderverbots. Exegetische und systematisch-theologische Annäherungen, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2016 (ThLZ.F; 26), 23–182, bes. 153–182. Hartenstein führt hier zu dem klassischen Text Ex 33,18-23 aus: „Der Text betont eine Dialektik von Nähe und Ferne, von Enthüllung und Verbergung JHWHs: Nur in der Spannung zwischen Gottesschau und Verschonung kann Mose JHWH in dieser Situation begegnen.“ (163). – Mehr als je in aller Geschichte ist das Bilderverbot der jüdischen JHWH-Gemeinschaft aktuell; vgl. Christoph Schwöbel (Hg.), Gott – Götter – Götzen. XIV. Europäischer Kongress für Theologie, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2013 (VWGTh; 38). Darin bes. Wolfgang Huber, „Keine anderen Götter“. Über die Notwendigkeit theologischer Religionskritik (23–35), der diesen perversen Drang treffend als den „Vergötzungswahn des Menschen“ (35) charakterisiert.

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Fazit: „Alles, was Odem hat, lobe den HErrn! Halleluja!“ (Ps 150,6)

Nun lässt der Glaubenssatz des Apostels Paulus klar erkennen, dass das christlichfromme Selbstbewusstsein im Sinnraum und im Verstehenshorizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft nicht etwa nur anthropologische, sondern auch und vor allem ontologische und kosmologische Implikationen besitzt, die eine systematische Besinnung explizieren wird. Sie seien kurz rekapituliert. Zweitens: Die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche setzt voraus und schließt grundsätzlich ein das jeweils individuelle Gefühl des SelbstSeins, das als solches das Erfahren-Können und Erfahren-Wollen der Einheit der Erfahrungswelt ermöglicht (vgl. STh I, 258–304). Worauf sich dies je individuelle Gefühl des Selbst-Seins richtet, bezeichnen wir als Gottes Schaffen. Darunter ist die „Relation der Existenzbegründung“ (Eilert Herms) zu verstehen, in welcher Gottes schöpferischer Geist kontinuierlich wirksam ist. Um dessen schöpferische Wirksamkeit zu erkennen, bezog ich mich auf die vier allerallgemeinsten Kategorien, mit deren Hilfe und in deren Licht die theoretische Vernunft das Seiend-Sein des Seienden als solchen – also: aller möglichen Gegenstände des Erfahrens – thematisiert: das Existieren; das Existieren als etwas; das Existieren als etwas im Raum; das Existieren als etwas im Raum in der Zeit. Ich unterstellte, dass die „schlechthinnige Ursächlichkeit“ (CG2 § 51 L [I, 263 = KGA I.13,1, 308]) des schöpferischen Geistes Gottes uns in diesen vier allerallgemeinsten Kategorien gegenwärtig wird, so dass wir Gottes schöpferisches Walten insgesamt als kontinuierliches Gewähren des Raum-Zeit-Kontinuums verehren dürfen, in dem uns sinnhaft Existierendes erscheint. Ohne die schöpferischen Eigenschaften der Allmacht, der Allwissenheit, der Allgegenwart und der Ewigkeit Gottes wäre unser Erfahren der Einheit der Erfahrungswelt unmöglich. Das, was sie miteinander und zugleich als Setzen und Erhalten des ontologischen Grundverhältnisses zwischen Gottes Sein – dem „Sein-Selbst“ – und dem All des Seienden prädizieren, sei nun der Reihe nach besprochen: Im ontologischen Grundverhältnis zwischen Gottes Sein und dem All des Seienden erscheint uns erstens Gottes schöpferische Macht. Darunter verstehe ich das schöpferische Realisieren, das Seiendes als Seiendes überhaupt wirklich werden, sein und dauern lässt. Um den Bedenken gegenüber dieser Definition gerecht zu werden, scheint es mir wichtig zu sein, dies schöpferische Realisieren des Seienden als Seienden von vornherein vermittelt mit dem Eigen-Sein des Seienden zu sehen. Mit Friedrich Schleiermacher achtete ich darauf, dass Gottes schöpferische Macht nicht anders als im Ganzen des „Naturzusammenhangs“ erfahrbar ist, den wir mit Rücksicht auf die theoretische Kosmologie von heute als „emergente Evolution“ (C. Lloyd Morgan) begreifen. In ihr beobachten und erforschen wir alle die tatsächlichen Übergänge aus Möglichem in Verwirklichtes, in denen die verschiedenen Prozesse, die Strukturen, die Gestalten des Seienden bis hin zum Leben in der Atmosphäre dieser Erde ihre je typische relative Selbständigkeit besitzen. Es wäre

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

mehr als kurzsichtig, die relative Selbständigkeit des Naturzusammenhangs gegen das schöpferische Realisieren selbst und als solches auszuspielen. Verdankt sie sich doch zweifellos dem ursprünglichen Übergang des Möglichen in Wirkliches und in Verwirklichtes, auf den die alte Formel „creatio ex nihilo“ sich bezieht.231 Im ontologischen Grundverhältnis zwischen Gottes Sein und dem All des Seienden erscheint uns zweitens Gottes schöpferisches Wissen. Ich hatte das Verstehen dieser schöpferischen Eigenschaft des göttlichen Geistes dadurch angebahnt, dass ich an unser Erfahren-Können und Erfahren-Wollen von etwas als etwas für jemanden in seiner Eigen-Art erinnerte. In den Prozessen der Erfahrung der Erfahrungswelt zeigt sich das Seiende als Seiendes eben nicht etwa nur als wirklich und verwirklicht; es zeigt sich vielmehr stets in einer sinnhaften Struktur, auf die wir uns im Medium einer gesprochenen Sprache und mit den Mitteln ihres semantischen Potentials beziehen und die wir uns in mehr oder weniger komplexen Hypothesen und Theorien zugänglich machen wollen. Zum Umfang und zum Inbegriff der sinnhaften Struktur des Seienden zählen wir natürlich nicht allein die Regeln des kosmischen bzw. des natürlichen Geschehens; zu ihm zählen wir auch und erst recht die Verfassung des menschlichen, des leibhaften Person-Seins, kraft derer wir Subjekte des geschichtlichen Geschehens sind, innerhalb dessen es das Interesse an der Erkenntnis jener Regeln gibt. Wegen der sinnhaften Struktur des Seienden, die wir in Anspruch nehmen und erklären wollen, eignet dem Seienden das Intelligible, ohne das es dem Verstehen- und Gestalten-Wollen des lumen naturae rationalis schlechterdings dunkel und verschlossen wäre. Mit der schöpferischen Eigenschaft

231 Die alte Formel „creatio ex nihilo“ bedeutet mithin das besondere bzw. das singuläre Verstehen der Kontingenz des Geschehens der Welt und des Geschehens in der Welt als ursprünglich gewollte Kontingenz, die immerhin faktisch notwendig ist. Dieses Verstehen der Kontingenz des Geschehens der Welt und des Geschehens in der Welt befindet sich denn auch im Gegensatz zum Verstehen des Kontingenten im Lichte der Idee des Schicksals bzw. im Lichte der Idee des Zufalls, obgleich es just Dasselbe zu verstehen sucht: nämlich die je individuelle Erfahrung, wie im Leid so in der Freude, wie in der Gefahr so in der Rettung des Lebens schlechthin abhängig zu sein von der Macht und dem Sinn des „creator ex nihilo“. Wie der Christus-Glaube das Geschick des eigenen Lebens und das unergründlich Zufällige zu deuten sucht, sprechen vielleicht am Tiefsten und am Schlichtesten aus die Verse Paul Gerhardts: „Der Wolken, Luft und Winden / gibt Wege, Lauf und Bahn, / der wird auch Wege finden, / da dein Fuß gehen kann.“ (EG 361,1). Sie artikulieren auf poetische Weise – belehrt von der Sprache der Bibel Israels – das radikale Grundvertrauen in die Vorsehung Gottes. – Ich verstehe die Besinnung auf den christlichen Glauben an Gottes Vorsehung nicht als einen Teilaspekt der Besinnung auf den christlichen Glauben an Gott den Schöpfer; es scheint mir vielmehr angebracht zu sein, den Sachgehalt des christlichen Glaubens an Gottes Vorsehung im Sinne einer Klammer freizulegen, die das christlich-fromme Bewusstsein von der Versöhnung (s. u. Kap. 3) und das christlich-fromme Bewusstsein von der Vollendung (s. u. Kap. 4) zusammenhält. Vgl. hierzu insbesondere Heiko Schulz, Eschatologische Identität. Eine Untersuchung über das Verhältnis von Vorsehung, Schicksal und Zufall bei Søren Kierkegaard, Berlin/New York: de Gruyter, 1994 (TBT; 63), bes. 462–496.

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Fazit: „Alles, was Odem hat, lobe den HErrn! Halleluja!“ (Ps 150,6)

der göttlichen Allwissenheit achtet das Grund-Vertrauen des Christus-Glaubens auf jenen Aspekt des schöpferischen Geistes, der der Evolution des Seienden dessen Eigen-Sinn als dessen Erkennbarkeit gewährt.232 Im ontologischen Grundverhältnis zwischen Gottes Sein und dem All des Seienden erscheint uns drittens Gottes schöpferische Allgegenwart als Grund des Raums. Um diesen Aspekt des schöpferischen Geistes zu erfassen, ist es – im Vorgriff auf den Aspekt der schöpferischen Ewigkeit – angebracht, an jene Grund-Erfahrung der leibhaft existierenden Person anzuknüpfen, die der Christus-Glaube als ihr Geschaffen-Werden und Geschaffen-Sein versteht: nämlich an das Im-Raume-Sein des Seienden. Die systematische Besinnung auf die Wahrheit des Christus-Glaubens wird zeigen wollen, dass das Begriffswort „Raum“ eine kontingent gewährte – und deshalb wirkliche und wirksame – Bedingung des Im-Werden-Seins des Universums meint; eine Bedingung, ohne die es die Gemeinschaft zwischen geschaffenen Freiheitswesen und die Selbstvergegenwärtigung des göttlichen Wesens für das geschaffene Freiheitswesen nicht wohl geben würde. Ist alle Erfahrung Erfahrung eines jeweils gegenwärtigen Hier und Dort bzw. einer jeweils gegenwärtigen Nähe und Ferne, so liegt es nahe, den personalen bzw. den existentialen und den kosmologischen Aspekt des Raums zusammenzuführen. Indem wir uns selbst unmittelbar in einem jeweiligen Hier gegenwärtig sind, sind wir uns unseres Im-Raume-Seins als Medium aller menschlichen Gemeinschaft – allerdings auch als Medium aller bitteren Konflikte um „Lebensraum“ bzw. um Herrschaft über den Raum – bewusst. Wir sind in einem Raum sei es friedlich sei es konfliktträchtig zusammen, weil unser Leib organische Materie ist: geworden in der Evolution des Lebens auf dieser Erde in dieser Galaxie, die ihrerseits im Gravitationsfeld der schweren und der trägen Massen existiert. Aus diesem Grunde wäre es zu kurz gegriffen, wenn wir die Räumlichkeit des menschlichen Person-Seins abstrakt in einem geometrischen bzw. in einem substantialen Sinn erfassen würden. Vielmehr gewährt uns eben die organische Materie unseres Leibes, vermöge derer wir wie alle Raumpunkte aneinander grenzen, die Möglichkeit gemeinsamer Geschichte. Sie – diese Möglichkeit gemeinsamer Geschichte – wird nirgends intensiver wirklich als in der Geschichte einer Liebe und der Gemeinschaft

232 Der religionstheoretisch gern verwendete Begriff der „Sinnstiftung“ nimmt insofern keine Rücksicht auf den von Gottes schöpferischer Allwissenheit gewährten Sinn des Seienden. Im Lebensbereich der Religion – d. h. der Kommunikation von „Lebenssinn“ – ist es deshalb ein entscheidendes Kriterium wahrer Religion, ob eine „Sinnstiftung“ den dem Seienden schöpferisch gewährten Eigen-Sinn erkennt und anerkennt oder aber – wie zum Beispiel in den Spielarten des Nihilismus – einfach ignoriert. Vgl. hierzu Konrad Stock, STh I, 305–324.

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des Geschlechts, die sie besiegelt. Sie ist als solche auch der Raum, in dem allein neues leibhaftes Person-Sein gezeugt, empfangen, geboren und gebildet wird.233 Allerdings wäre es auch zu kurz gegriffen, wenn wir die Räumlichkeit des menschlichen Person-Seins abstrahieren würden von der aktuellen kosmologischen Theorie, die das Problem des „Weltraums“ in die Idee einer Gesamtstruktur des RaumZeit-Kontinuums integriert.234 Nach aktueller kosmologischer Theorie dehnt sich das Universum aus mit Lichtgeschwindigkeit, und zwar in einen noch materiefreien Raum. Ist das Raum-Zeit-Kontinuum, in dem wir Wechselwirkung zwischen Materie und Strahlung sowie das Werden und Vergehen fester Körper identifizieren, in solcher Ausdehnung begriffen, so hat es guten Sinn, die kategoriale Bestimmung „Raum“ als diejenige Bestimmung zu denken, die das sinnhaft Seiende der transzendenten Idealität des schöpferischen Geistes Gottes verdankt. Sinnhaft Seiendes wird als Raumartiges geschaffen in dessen schöpferischer Allgegenwart. Im ontologischen Grundverhältnis zwischen Gottes Sein und dem All des Seienden erscheint uns schließlich viertens Gottes schöpferische Ewigkeit als Grund der Zeit. Um die Bedeutung des Begriffs der schöpferischen Ewigkeit zu erschließen, war ich von der Besinnung auf den Aspekt der Zeitlichkeit des geschaffenen PersonSeins ausgegangen. Darunter verstehe ich ganz elementar das „Sich-gegenwärtigSein“ der leibhaft existierenden Person, in dem ihr Gegenwärtiges gegenwärtig wird. Mit dieser transzendentalen Formel ist grundsätzlich angenommen, dass wir in der erlebten Zeit, d. h. in unserem Zeitbewusstsein bzw. in unserem Zeitgefühl,

233 Aus diesem Grunde wird denn auch ein Verständnis, das den Begriff der Materie reduziert auf dessen „physikalistische“ Deutung, wie dies im französischen Materialismus von J. O. de La Mettrie und von P. H. D. de Holbach sowie im sog. Vulgärmaterialismus von Ludwig Büchner, Jakob Moleschott und Karl Vogt geschehen ist, dem Phänomen des leibhaften Person-Seins und damit dem Verständnis des materiell Seienden als solchen nicht im Geringsten gerecht. Zur theologischen Kritik eines Materialismus, welcher die materielle Bestimmtheit des leibhaften Person-Seins zu dessen Wesensbestimmung erhebt, vgl. Dirk Evers, Art. Materialismus III. Theologisch: RGG4 5, 906–907. 234 Eine solche Abstraktion liegt vor bei Martin Heidegger, Sein und Zeit (wie Anm. 115), 101–113: Das Umhafte der Umwelt und die Räumlichkeit des Daseins. Zwar geht Heidegger ganz richtig davon aus, dass „das Dasein selbst hinsichtlich seines In-der-Welt-Seins ‚räumlich‘ ist“ (104); doch alle seine Erläuterungen des Terms „In-der-Welt-Sein“ als „existenzialer Verfassung“ (109) beschränken sich auf die Räumlichkeit des Daseins auf dem Planeten Erde und blenden im Jahre 1927 (!) die kosmologische Thematik des Raum-Zeit-Kontinuums, innerhalb dessen der Planet Erde, das Leben auf der Erde und das sich selbst verstehende Dasein eines Lebewesens in begrenzter Zeit existiert, rücksichtslos aus. In Heideggers Sprachgebrauch bedeutet „Weltlichkeit“ des Daseins das „Begegnenlassen des innerweltlich Seienden“ (111) lediglich auf dieser Erde. – Meine eigene Verwendungsweise des Terms „In-der-Welt-Sein“ achtet demgegenüber auf die universalen Bedingungen des individuellen Selbst-Seins, das ausdrücklich das Erforschen-Wollen und das Betrachten-Wollen des Universums einschließt.

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Fazit: „Alles, was Odem hat, lobe den HErrn! Halleluja!“ (Ps 150,6)

das jeweils Gegenwärtige erfassen als Werdendes und als Gewordenes, das – modal geredet – weder unmöglich noch schlechthin notwendig ist. Ich sprach daher von gegenwärtiger Gegenwart als der Grundform unserer Zeitlichkeit, in der uns Mögliches als faktisch Verwirklichtes erscheint. In dieser Grundform gegenwärtiger Gegenwart sind uns nicht nur die Übergänge des Möglichen ins Verwirklichte im Geschehen des Kosmos bzw. im Geschehen der Natur dieser Erde, sondern auch die Übergänge des Möglichen ins Verwirklichte in der Geschichte menschlicher Gemeinschaften präsent. In ihr erleben und erfassen wir zum einen jene Bewegungen, die uns die Zeit gemäß der Definition von Aristoteles als „Zahl“ bzw. als „Maß“ des Früheren und des Späteren bestimmen, messen und berechnen lässt. In ihr erleben und erfassen wir zum andern das Existieren in der geschichtlichen Form der Entscheidungszeit bzw. der Handlungszeit. In ihr sind wir bezogen auf zukünftige Gegenwart, die wir nicht anders intendieren als im Eingedenken vergangener bzw. gewesener Gegenwart. Insofern dürfte es plausibel sein, in dem prägnanten Begriff der Zeitlichkeit des geschaffenen Person-Seins diese beiden Aspekte zu verschränken; denn wie das Berechnen der Zeit als „Zahl“ bzw. als „Maß“ des Früheren und des Späteren stets geschieht in der erlebten Zeit der gegenwärtigen Gegenwart, so gibt es unsere Handlungs- bzw. unsere Entscheidungszeit nur unter der Bedingung, dass die zu messende und zu berechnende Zeit des Raum-Zeit-Kontinuums andauert und im Gange bleibt. Die Zeitlichkeit des personalen Selbstbewusstseins macht es nun möglich und notwendig, den Weg zum Verstehen der schöpferischen Ewigkeit Gottes zu beschreiten. Wie die Geschichte des Nachdenkens über das biblische Zeugnis von Gottes Ewigkeit eindrücklich zeigt, bringt dieser Weg den Grundsatz der kategorialen Differenz zwischen Gottes Sein und dem All des Seienden nicht zum Verschwinden. Suchen wir eingedenk dieses Grundsatzes den univoken Kern und damit den identischen Sinn von Zeitlichkeit und Ewigkeit zu fassen, so werden wir das Attribut der Ewigkeit wohl am besten als das Attribut der zeittranszendenten und daher ursprünglichen Zeit bestimmen. Es meint als solches – wie ich sowohl gegenüber der Theorie der Zeit bei Immanuel Kant als auch gegenüber der Theorie der Zeit in Martin Heideggers frühem Hauptwerk „Sein und Zeit“ betone – jene transzendente Idealität, die ursprünglich Gott eignet. Sie eignet Gott insofern, als wir dem göttlichen Wesen in Aufnahme und in Weiterführung Augustins das „Sichganz-gegenwärtig-Sein“ zusprechen dürfen, das alle Übergänge des Möglichen ins Verwirklichte und damit alle geschaffene Zeitlichkeit schöpferisch werden, sein und dauern lässt. Drittens: Das christlich-fromme Selbstbewusstsein und dessen Leben, das ich als einheitliches Thema einer kritischen systematischen Besinnung betrachte, schließt ein spezifisches Verständnis des menschlichen Person-Seins ein, das ich im Ausgang von der altehrwürdigen Metapher „Gottes Bild“ (Gen 1,26f.) entwickelte. Es

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ist in allen einzelnen Aspekten der dogmatischen und der ethischen Reflexion vorausgesetzt und mit enthalten; es steht zugleich in einem heftig diskutierten Verhältnis zu Selbstdeutungen des gegenwärtigen philosophischen Diskurses wie zu den uferlosen Forschungen der Humanwissenschaften. Als Gegenstand der theologischen Lehre vom Menschen begründet es, warum der Christus-Glaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen die unantastbare Würde des Menschen verteidigt; und es erklärt, warum die religiöse Kommunikation des Evangeliums die Bildung und die Reifung der Person zur ewigen Gemeinschaft mit Gott menschlich möglich macht (Reiner Preul). Die altehrwürdige Metapher „Gottes Bild“ hat nicht-metaphorische Bedeutung. Ich hatte sie durch kategoriale Bestimmungen erschlossen, die das uns Menschen allen vertraute Phänomen des Mensch-Seins explizieren wollen. Sie haben darin ihren Grund, dass uns der Christus-Glaube und dessen Lehrgestalten eine radikale Sicht des Phänomens des Mensch-Seins eröffnen, welche die klassische philosophische Frage: „Was ist der Mensch?“ (Immanuel Kant) aufnimmt und vertieft; und zwar in der Form des Staunens über das göttliche Gedenken (Ps 8,5). Ich nenne diese Sicht des Phänomens des Mensch-Seins deshalb radikal, weil sie es von dessen Grund und Ursprung in Gottes schöpferischem Walten her – d. h.: von seiner Faktizität her – wahrnimmt. Um diese radikale Sicht des Phänomens des Mensch-Seins zu entfalten, ging ich zwei Schritte. In einem ersten Schritt charakterisierte ich den eigentümlichen Status der theologischen Lehre vom Menschen (2.4.1). In einem zweiten Schritt entwickelte ich die radikale Sicht des Phänomens des Mensch-Seins als geschaffenen Person-Seins (2.4.2), und zwar im Sinne der drei gleichursprünglichen Relationen des individuellen Selbst-Seins (2.4.2.1), der Bestimmtheit des individuellen Selbst-Seins als Mit-und-Für-Einander-Sein (2.4.2.2) und der Bestimmtheit des individuellen Selbst-Seins für Gott (2.4.2.3). Zum einen (2.4.1): Wir dürfen den eigenartigen Status der theologischen Lehre vom Menschen ohne falsche Scheu behaupten. Sie nimmt die besondere Stellung des leibhaften Person-Seins im ungeheuren Prozess des Universums und in der Evolution des Lebens in der Natur dieser Erde ernst; und sie markiert das Verhältnis, in dem die kategorialen Bestimmungen des Bild-Gottes-Seins des Menschen zu den Beobachtungen und zu den Hypothesen der Humanwissenschaften stehen. Das sei mit wenigen Worten dargetan. Ad 1: Die biblische Quelle für die Erkenntnis der besonderen Stellung des leibhaften Person-Seins im ungeheuren Prozess des Universums und in der Evolution des Lebens in der Natur der Erde findet sich in der sog. „Urgeschichte“ (Gen 1,1–2,25) bzw. in deren Redaktion (Gen 1,1–11,32), die auch die Anthropologie des Psalters, der Weisheit, des Evangeliums nach Johannes und des Corpus Paulinum inspirierte.

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Fazit: „Alles, was Odem hat, lobe den HErrn! Halleluja!“ (Ps 150,6)

Erst die historisch-kritische Forschung der euro-amerikanischen Neuzeit hat ihre sachgemäße Exegese möglich gemacht, indem sie deren mythischen Charakter zu sehen lehrt und so das Missverstehen ausschließt, es handle sich um den „Bericht“ von einem status integritatis, von einem unschuldigen Urstand in sprichwörtlicher paradiesischer Nacktheit vor aller leid- und schuldbeladenen Geschichte.235 Belehrt von dieser Exegese hat Friedrich Schleiermacher und hat alle ernsthafte theologische Theorie seither die biblische Quelle als eine keineswegs naive Beschreibung des leibhaften Person-Seins in seiner ursprünglichen Vollkommenheit gelesen. Von ursprünglicher Vollkommenheit ist die Rede, weil und sofern der biblische Text auf seine Weise im Ganzen des Werdens des Universums und der Evolution des Lebens (Gen 1,1-25) das leibhafte Person-Sein als das hohe Gut vorstellt, um dessen Recht, um dessen Bewahrung und um dessen Rettung aus dem Leid der Endlichkeit und aus dem Fluch der Bosheit es in aller Geschichte geht.236 „Ursprünglich vollkommen“ ist daher das passende Prädikat für jenes geschaffene lumen naturae rationalis, welches den transzendentalen Grund der menschlichen Weise zu denken, zu sprechen, zu handeln, zu phantasieren, zu spielen und zu lieben bildet. Es ist und bleibt von seinem Grund und Ursprung in Gottes schöpferischem Walten ausgezeichnet; als solches aber braucht es notwendigerweise jene Bildungsgeschichte, die ihm das Wollen und Erstreben des wahrhaft Höchsten Guts erschließt. Ad 2: Wenn wir die theologische Lehre vom Menschen als Lehre von den universellen kategorialen Bestimmungen des leibhaften Person-Seins entfalten, gewinnen wir auch den angemessenen Blick für die großartigen Leistungen der Humanwissenschaften. Die systematische Besinnung auf den Wahrheitswert des

235 Freilich verdanken wir diesem Missverstehen anrührende und ergreifende Darstellungen des Paradieses in der europäischen Malerei und Literatur (vgl. Hans Georg Thümmel, Art. Paradies VII. Kunst- und literaturgeschichtlich: RGG4 917–919), sowie die Suche nach dem Ort des „irdischen Paradieses“ (noch bei Paul Gauguin) und die Erfindung des Botanischen Gartens. Darüber hinaus hat dieses Missverstehen die Idee eines „Naturzustands“ befördert im Sinne eines Status vorpolitischer bzw. gesetzesfreier individueller Freiheit, der sei es negativ sei es positiv den Zwängen einer politischen Ordnung des Sozialen entgegengesetzt wird (vgl. Georg Zenkert/Friedrich Lohmann, Art. Naturzustand I. II.: RGG4 6, 154–155). 236 Dieser fundamentale Gesichtspunkt prägt die Komposition des Pentateuch, der auf die mythische Darstellung des furchtbaren Gegensatzes zwischen dem hohen Gut des leibhaften Person-Seins und der tatsächlichen Selbstverfehlung des Menschengeschlechts seit Kains Mord an seinem Bruder Abel die Erzählung von Gottes Bund mit Noah (Gen 9,1-17) und die Erzählung von der Berufung Abrams/Abrahams (Gen 12,1-3) folgen lässt. Die christliche Rezeption der Hebräischen Bibel als „Altes Testament“ hat diese heilsgeschichtliche Perspektive ausdrücklich aufgenommen als den Sinnraum und als den Verstehenshorizont der Ereignisse des Dritten Tages, des geschichtlichen Ursprungs der Christus-Gemeinschaft aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16).

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Christus-Glaubens und der Geschichte seiner Überlieferung im Leben der ChristusGemeinschaft lernt von ihnen, die Struktur des Erfahrens und die Gegenstände der Erfahrung der Freiheit und der Unfreiheit empirisch besser zu verstehen; sie wird sich allerdings von ihrer Praxis distanzieren, wenn diese ihrerseits sich von den universellen kategorialen Bestimmungen des leibhaften Person-Seins distanziert, unter denen der Christus-Glaube das Phänomen des Mensch-Seins wahrzunehmen hat. Zum andern (2.4.2): Wenn ich den Sachgehalt der biblischen Metapher „Bild Gottes“ mit Hilfe und im Lichte des Begriffs des Mensch-Seins als geschaffenen Person-Seins kläre, so ist das keineswegs willkürlich ersonnen. Vielmehr hat meine Erklärung daran Anhalt, dass christlich-theologisches Denken seit Justin dem Märtyrer die biblische Metapher „Bild Gottes“ im kritisch-konstruktiven Kontakt mit philosophischer Selbstdeutung in den Schulen der antiken Bildung interpretiert. Klarer und deutlicher als diese Schulen erfasst das christlich-theologische Denken das Moment des freien Wählen-Könnens und findet – im Raum der biblischen IchSprache, wie sie die Prophetie, den Psalter und vor allem Jesu Christi Frohbotschaft auszeichnet – zur Erkenntnis des Individuellen und zu dessen unaufhebbarem Verantwortlich-Sein. Namentlich Augustin, in dessen Confessiones die biblische Ich-Sprache konsequent die Formen des Gesprächs des Herzens, des Innen, des Gewissens mit Gott in Gottes Gegenwart prägt, hat das Verstehen der condition humaine für die Geschichte einer theologischen Lehre vom Menschen nachhaltig bestimmt. In dieser ihrer Geschichte und in der jetzigen unübersichtlichen kulturellen Gegenwart zeichnet sich die theologische Lehre vom Menschen vor anderweitigen Selbstdeutungen philosophischer und künstlerischer Natur dadurch aus, dass sie das Mensch-Sein als geschaffenes Person-Sein verständlich macht; und zwar mit ethischer und mit politischer Relevanz. Gründet das Mensch-Sein als das endliche, das leibhafte Person-Sein, in welchem wir uns selbst erleben, im schöpferischen Walten des göttlichen Geistes, so zeigt es sich in den drei gleichursprünglichen Relationen, die ich an dieser Stelle in der gebotenen Kürze in Erinnerung rufe. Ad 1 (2.4.2.1): In einer ersten Hinsicht hatte ich gezeigt, was wir genau unter dem Begriff des individuellen Selbst-Seins verstehen dürfen. Ich hatte mich dafür an Friedrich Schleiermachers Unterscheidung zwischen dem Aspekt des unmittelbaren Selbstbewusstseins und dem Aspekt des vermittelten bzw. des reflektierten Selbstbewusstseins orientiert. Ich erläuterte den Aspekt des unmittelbaren Selbstbewusstseins mit Hilfe der Bestimmung der primären Gewissheit des je individuellen Freiheitsgefühls, mit dem wir als der uns Menschen allen vorgegebenen Bedingung dafür vertraut sind, dass wir etwas als etwas für jemanden sinnhaft erleben und dass

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wir uns im Verhältnis zum Erlebten für etwas als etwas sinnhaft entscheiden.237 Ist diese uns vorgegebene Bedingung bewussten Erlebens und bewussten sprachlichen, praktischen und ästhetischen Handelns richtig beschrieben, so ist mit ihr zugleich das je individuelle Zeitgefühl im Blick. Denn kraft der Zeitlichkeit des je individuellen Freiheitsgefühls wird uns Gegenwärtiges gegenwärtig im jeweiligen Jetzt; und zwar für unser bewusstes Erleben und für unser bewusstes Entscheiden, in dem wir Mögliches zu verwirklichen suchen. Dies jeweilige Jetzt erleben und erhoffen wir – im großen Ganzen der Eigen-Zeit der Erde in ihrer Konstellation im Sonnensystem dieser Galaxie und deren Bewegung im ungeheuren Raum-Zeit-Kontinuum des Universums – als relativ dauernd auf zukünftige Gegenwart hin. Indem wir uns im jeweiligen Jetzt gegenwärtiger Gegenwart auf zukünftige Gegenwart richten, richten wir uns auf ein Woraufhin bzw. auf ein Worumwillen, auf ein Gutes aus, von dem wir uns Erfüllung, Freude und Genuss versprechen.238 Die biblische Metapher „Herz“ gibt jenem Grundaffekt des Menschenlebens beredten Ausdruck, der sich in einer wie auch immer inhaltlich bestimmten Impression des Guten bildet. Dass eine solche Impression des Guten in der Entwicklungs- und der Bildungsgeschichte eines Menschen zunächst abstrakt und darüber hinaus irrtümlich, selbstwidersprüchlich und zerstörerisch wirksam ist – nämlich als Impression des Bösen unter dem Schein des Guten –, versteht der Christus-Glaube als Indiz des „unmerklichen“ und unbegreiflichen Gangs der göttlichen Vorsehung.239 Nun gibt es diese uns vorgegebene Bedingung des je individuellen Freiheitsgefühls in seiner zeitlichen Verfassung nicht anders als in unlösbarer Einheit mit unserer sei es weiblichen sei es männlichen Körpergestalt. Sie ist das Medium bzw. das Organon, in welchem und durch welches wir uns selbst erleben als von Anderem affiziert und zugleich als spontan im Miteinander-Sprechen bzw. im MiteinanderHandeln auf Anderes zugreifend. Indem wir uns im Flusse des bewussten Erlebens und Entscheidens der Sinnlichkeit unseres Körpers bewusst sind, empfinden und

237 Die Wendungen „‚etwas als etwas für jemanden‘ sinnhaft erleben“ bzw. „sich ‚für etwas als etwas‘ sinnhaft entscheiden“ markieren die pragmatische bzw. die pragmatizische Dimension des sprachlichen, des praktischen und des ästhetischen Miteinander und Füreinander, die ich unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses „von Freiheit zu Freiheit“ vor Augen habe. 238 Vom Augenblick, in dem wir das Gute gegenwärtig haben, von dem wir uns Erfüllung, Freude und Genuss versprechen, sagt Faust im Dialog mit Mephistopheles: „Verweile doch! du bist so schön!“ (Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie Erster Teil [1700]). 239 Vom „unmerklichen Schritt“ bzw. vom „Gang“ der Vorsehung spricht Gotthold Ephraim Lessing in der Schrift „Über die Erziehung des Menschengeschlechts“ (aufgenommen bei Johann Gottfried von Herder, Palingenesie. Vom Wiederkommen menschlicher Seelen [1797]: „Allerdings geht die Vorsehung einen unmerklichen Gang, und dieser Unmerklichkeit wegen wollen wir an ihrem Fortschritt nicht verzweifeln, nicht verzweifeln an ihr, selbst wenn ihre Schritte uns scheinen sollten zurückzugehen.“).

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verstehen wir sie als unseren je eigenen Leib. Ganz abgesehen von der elementaren sittlichen Aufgabe, um unserer selbstverantwortlichen Lebensführung auf das Höchste Gut hin für die Gesundheit des je eigenen Leibes und für die Gesundheit jedes Menschenlebens zu sorgen, fragt es sich, ob und wie wir die unlösbare Einheit des Intelligiblen des je individuellen Freiheitsgefühls und des je eigenen Leibes genauer denken können. Im Widerspruch zu dualistischen und ebenso im Widerspruch zu monistischen Deutungen des Verhältnisses von Seele und Leib regt die sorgsame Wahrnehmung des geschaffenen Person-Seins im biblischen Offenbarungszeugnis dazu an, die unlösbare Einheit des Intelligiblen des je individuellen Freiheitsgefühls und des Naturalen des je eigenen Leibes im Sinne einer dualen Struktur zu beschreiben. Ich hatte es mir vorgenommen, den Begriff dieser dualen Struktur im Rückgang auf die Bedeutung des Indexwortes „Ich“ genauer zu erhellen. Es weist auf eine ursprüngliche Einheit zwischen dem seelischen Leben der Person und dem Leben ihres je eigenen Leibes hin; es weist aber auch auf eine ursprüngliche Differenz zwischen dem seelischen Leben der Person und dem Leben ihres je eigenen Leibes hin. Wir werden aufmerksam auf diese duale Struktur, indem wir das gemeinsame Handeln derer, die jeweils füreinander „Ich“ sind, als geistig bestimmt ansprechen. Mit dem Begriff des Geistigen bzw. des Geistes assoziieren wir ganz richtig jene freie selbstbewusste Selbsttätigkeit der Person, die vermöge der dualen Struktur der Einheit ihres seelischen und ihres leibhaften Lebens in der Gemeinschaft mit ihresgleichen auf ein Ziel, ein Woraufhin, ein Worumwillen zugeht, das ihr als Gut und womöglich als das Höchste Gut erscheint. „Geistig“ ist diejenige Bestimmtheit des vernünftigen Wählen- und Entscheiden-Könnens, kraft derer wir das Gute selbstverantwortlich wollen. Nun lehrt uns die aufrichtige begriffene Selbsterfahrung, dass wir uns nicht von uns aus und aus eigener moralischer Energie zum Leben im beharrlichen, im selbstverantwortlichen Wollen des Guten entschließen; vielmehr bedürfen wir in unserer Bildungs- und Entwicklungsgeschichte solcher Szenen, in denen die Idee des Höchsten Gutes als des in Wahrheit Guten sich erschließt. In solchen Szenen erscheint der schöpferische Geist als Heiligender Geist; und sofern er und soweit er sich als solcher erschließt, bestimmt er und erhebt er die Lebensführung der Person zum Leben im Geist (vgl. Röm 6,6; Gal 5,25).240

240 Im Kapitel 3 „Der christliche Glaube an Gott den Versöhner“ und im Kapitel 4 „Der christliche Glaube an Gott den Vollender“ wird zu zeigen sein, dass dem christlich-frommen Selbstbewusstsein das Leben im Geist im Sinne von Röm 6,6 und Gal 5,26 als Leben im Werden – und zwar im Kampf zwischen dem Leben im Ungeist (paulinisch gesprochen: nach dem Fleisch [Röm 8,4]) und dem Leben im Geist (vgl. Röm 8,23-25) – gegenwärtig ist. Aus diesem Grunde kann die Theologische Ethik (STh III) das Ethos des Christus-Glaubens schwerlich anders entfalten denn als das Ethos der geduldigen Hoffnung (Röm 8,24f.). – Vgl. hierzu Johannes Fischer, Leben aus dem Geist. Zur Grundlegung christlicher Ethik, Zürich: Theologischer Verlag, 1994.

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Fazit: „Alles, was Odem hat, lobe den HErrn! Halleluja!“ (Ps 150,6)

Ad 2 (2.4.2.2): In einer zweiten Hinsicht hatte ich gezeigt, dass das geschaffene Person-Sein ursprünglich bestimmt ist zum gemeinsamen Leben und damit letztlich zum gemeinsamen Wollen des in Wahrheit Guten.241 Indem ich diesen Aspekt des Bild-Gottes-Seins rekapituliere, schlage ich den Bogen zum späteren Gedanken zur „Bestimmtheit der geschaffenen Person für Gott“. (2.4.2.2.1): Im Rahmen meiner systematischen Besinnung auf den Wahrheitsgehalt des altehrwürdigen Begriffs „Bild Gottes“ war ich darauf aufmerksam geworden, dass dieser zentrale anthropologische Term nach Gen 1,26ff. für das weibliche wie für das männliche Mensch-Sein in gleicher Weise gilt. Nun blendet die Idee der ursprünglichen Gleichheit des männlichen wie des weiblichen Mensch-Seins – die Gott sei’s geklagt in zahlreichen Kulturen dieser Erde nach wie vor schrecklich missachtet wird – die wie auch immer zu bestimmende Differenz zwischen der weiblichen und der männlichen Weise des Erfahrens nicht aus. Im Hinblick auf das Ethos des Lebens im Geist des Christus-Glaubens, wie es die Theologische Ethik darzustellen hat (STh III)242 , lag mir allerdings daran, auf jenen Trieb bzw. auf jene Sehnsucht nach der Intimität im Zwischenraum erotischer Liebe einzugehen, die in der Sexualität des männlichen wie des weiblichen Mensch-Seins wurzelt. In kritischer Auseinandersetzung mit den Ansichten von Günter Dux zeigte ich, wie das Nachdenken über die Wahrheit des Christus-Glaubens sinnvoll das Junktim zwischen der Libido des sexuellen Begehrens und der Leidenschaft erotischer Liebe zueinander und füreinander wahrnimmt: verstehen wir doch die Leidenschaft erotischer Liebe als allumfassende wechselseitige Zuneigung, die im Geschehen der geschlechtlichen Vereinigung ihr expressives Zeichen findet. Dass die erotische Liebe den Zwischenraum der Kommunikation der Liebenden über Gott und Welt bildet, hatte ich im Gegenüber zu den Illusionen einer „irdischen Religion der Liebe“ besonders unterstrichen. (2.4.2.2.2): Die Idee der ursprünglichen Gleichheit des geschaffenen PersonSeins weist über dessen sexuelle Differenz hinaus. Indem wir gar nicht anders können als das je individuelle Freiheitsgefühl als allgemeines und gemeinsames

241 In dieser Hinsicht berührt sich meine Darstellung mit Martin Bubers Philosophie des Dialogs. Bubers „dialogisches Prinzip“, wie es hauptsächlich in der Schrift „Ich und Du“ entfaltet wird, intendiert auf der Basis einer Theorie des Selbstbewusstseins eine Beschreibung der „Ich-DuBegegnung“ im Sinne wesentlicher Gleichheit des Person-Seins. Wie Martin Leiner zeigte, haben die „dialektischen Theologen“ Friedrich Gogarten und Emil Brunner wegen ihres Brechen-Wollens mit dem, was sie für „Idealismus“ hielten, diese entscheidende Pointe in ihrer Rezeption des Dialogismus gerade nicht übernommen; vgl. Martin Leiner, Gottes Gegenwart. Martin Bubers Philosophie des Dialogs (wie Anm. 213), 277–281. 242 Hier wird auch einzugehen sein auf den bemerkenswerten Unterschied zwischen dem gemeinsamen Leben einer Liebe und der Lebensgemeinschaft einer Ehe als einer Institution, die sich im Zusammenhang eines Familienverbands insbesondere als Erziehungsgemeinschaft versteht und dafür auch den besonderen Schutz des Staates der Gesellschaft genießt.

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

Wesensmerkmal der Menschengattung wahrzunehmen, schließt die Erkenntnis des geschaffenen Person-Seins die Erkenntnis des Verhältnisses von Freiheit zu Freiheit ein. Ich hatte dieses Verhältnis in Anlehnung an Hermann Krings mit dem Begriff der praktischen Freiheit dargelegt. Krings wollte mit der Entfaltung dieses Begriffs das Grundproblem der Lehre korrigieren, das Immanuel Kants Deutung der Autonomie des vernünftigen Willens bzw. der praktischen Vernunft belastet. Zwar gehen die verschiedenen Fassungen des kategorischen Imperativs davon aus, dass der Begriff der Autonomie bezogen ist auf jenen objektiven Grund bzw. auf jenen absoluten Wert, der uns im menschlichen Person-Sein als „Zweck an sich selbst“ schlechthin vorgegeben ist; aber Kant antwortet auf die Frage, wie denn der jeweilige Entschluss zur wechselseitigen Anerkennung des Andern als „Zweck an sich selbst“ zustande kommt, auf aporetische Weise. Zwischen dem Aspekt der Freiheit als Wählen- und Entscheiden-Können und dem Aspekt der Freiheit als wirkliches Wollen des Guten klafft in Kants Theorie der moralischen Praxis eine nicht zu schließende Lücke.243 Demgegenüber macht die systematische Besinnung auf den Wahrheitsgehalt des christlichen Glaubens an Gott den Schöpfer darauf aufmerksam, dass Frei-Sein als allgemeines bzw. als gemeinsames Wesensmerkmal menschlichen Person-Seins in doppelter Hinsicht als bedingtes Frei-Sein zu verstehen ist. Es ist nicht allein dadurch bedingt, dass es im Sinn des freien Wählen- und Entscheiden-Könnens im ungeheuren Ganzen des Universums von Gottes schöpferischem Geist gewährt und auf das Wollen des in Wahrheit Guten hin erhalten wird; es ist vielmehr auch dadurch und nur dadurch bedingt, dass der geschaffenen Person in ihrer Bildungsund Entwicklungsgeschichte die Idee des in Wahrheit Guten – das Höchsten Guts – als motivierend und als orientierend erscheint. Luthers Lehre von der Unfreiheit des menschlichen Wahl- und Entscheidungsvermögens hat insofern eine höchst präzise und erhellende Bedeutung für das Sich-als-geschaffen-Verstehen, welches dem Christus-Glauben eigentümlich ist. Die kritische Besinnung auf das Wesen des Lebens im Christus-Glauben wird sie umso mehr geltend machen, als sie im philosophischen Diskurs über das Wesen der menschlichen Freiheit weithin und zu dessen Schaden ignoriert wird. (2.4.2.2.3): Ist das bedingte Frei-Sein das allgemeine bzw. das gemeinsame Wesensmerkmal des geschaffenen Person-Seins, so empfangen und so führen wir das Leben eines individuellen Selbst faktisch notwendig in einer Gemeinschaft geschaffener Freiheitswesen. Deren Zusammenleben auf welchem Niveau der sozialen Evolution auch immer bedarf ganz offensichtlich geregelter Ordnungen mit 243 An der Erkenntnis dieser Lücke entzündete sich die fundamentale Kritik, die Friedrich Schleiermacher und Georg Wilhelm Friedrich Hegel an Kants Philosophieren übten. Diese Kritik nimmt de facto eine, wenn nicht die zentrale fundamentalanthropologische These auf, die Martin Luther in „De servo arbitrio“ vorgetragen hatte. S. o. Anm. 215.

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Fazit: „Alles, was Odem hat, lobe den HErrn! Halleluja!“ (Ps 150,6)

normativer Kraft. Ob jedoch alle die realgeschichtlich bekannten Ordnungen dem allgemeinen bzw. dem gemeinsamen Wesensmerkmal des geschaffenen PersonSeins tatsächlich entsprechen: das ist wohl mehr als zweifelhaft und deshalb bis auf diesen Tag Anlass und Ursache erbitterter Konflikte und gnadenloser Kämpfe auf Leben und Tod. Im Vorblick auf die Grundlegung der Theologischen Ethik (STh III) sucht deshalb schon die Lehre vom christlichen Glauben an Gott den Schöpfer eine Antwort auf die Frage, ob es denn ein Kriterium gebe, das im Verhältnis zu dem Inbegriff aller realgeschichtlich bekannten Ordnungen so etwas wie eine Meta-Norm errichtet, die für die politische Praxis im weiten Sinne des Begriffs evaluativen und präskriptiven Rang besitzt. In Aufnahme eines wichtigen Textes von Eilert Herms hatte ich für die gesuchte Meta-Norm den Begriff der Schöpfungsordnung im Singular gebraucht und ihn im Gegenüber zu anderen Meta-Normen christlicher Theologie profiliert: nämlich im Gegenüber zur Meta-Norm des „von Natur aus Rechten“, der „Schöpfungsordnungen“ und der „Mandate“ im Sinn der Ethik Dietrich Bonhoeffers. Gegenüber diesen Deutungen einer Meta-Norm macht der Begriff der Schöpfungsordnung darauf aufmerksam, dass jedes individuelle Selbst in jeder Gemeinschaft individueller Selbste die mit dem schieren Dasein des leibhaften Person-Seins gesetzte identische Grundaufgabe zu bewältigen hat. Deren Koordination innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft und zwischen bestimmten Gemeinschaften nenne ich Institution. Darunter verstehe ich den Inbegriff der relativ dauerhaften und stabilen Regeln der Kommunikation und der Interaktion, welche die Glieder der Gemeinschaft individueller Selbste sei es aus eigener Einsicht befolgen, sei es zu verbessern bzw. von Grund auf zu erneuern trachten. Sie zu befolgen bzw. sie zu verbessern oder von Grund auf zu erneuern ist möglich und ist geboten im Lichte der Idee des Gerechten, die als ein reflexiver Sachverhalt für alle Vollzüge der Koordination in Geltung steht. Es versteht sich freilich nicht von selbst, dass sich die Glieder der Gemeinschaft individueller Selbste von der Idee des Gerechten leiten lassen. Vielmehr hängt dies, wie die geschichtliche Erfahrung lehrt, grundsätzlich von den Institutionen ab, in denen wir den objektiven Sinn und damit das objektive Ziel des Mensch-Seins als des von Gott für Gott geschaffenen Person-Seins menschlich möglich machen wollen. Zu ihnen zählen insbesondere die Rituale, in denen wir uns eingedenk des göttlichen In-Gemeinschaft-sein-Wollens im Lied und im Gebet, in der Festesfreude und im Mahl des HErrn zu Gott erheben (vgl. Lk 1,46f.). Zum Dritten (2.4.2.3): In einer dritten Hinsicht hatte ich gezeigt, dass das geschaffene Person-Sein, welches als individuelles Selbst-Sein nicht anders existiert denn in der wechselseitigen Bestimmtheit eines Lebens miteinander und füreinander, ursprünglich und endlich existiert in der Bestimmtheit für Gott. Die Interpretation des christlichen Glaubens an Gott den Schöpfer kommt zum Ziel, indem sie diese Pointe

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„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ (Joh 1,1)

des biblischen Offenbarungszeugnisses verständlich macht. Quer zu den anderweitigen Selbstdeutungen des Mensch-Seins in der Epoche der euro-amerikanischen Moderne spricht sie die Teilhabe des selbstbewusst-freien, leibhaften Person-Seins am Höchsten Gut der Willensgemeinschaft mit Gott selbst an, auf deren Vollendung der Christus-Glaube zuversichtlich und geduldig hofft: angesichts des Todes und durch den Tod hindurch.244 Von dieser Teilhabe des Endlichen am Unendlichen – d. h.: von der Gemeinschaft mit dem göttlichen Wesen selbst in Zeit und Ewigkeit – ist christlich-frommes Selbstbewusstsein geprägt auch dann, wenn es durch Schicksal, Leid und Schuld zutiefst in dieser Zuversicht erschüttert ist. Ich hatte die geschaffene Bestimmtheit der geschaffenen Person für Gott bedacht in zwei Aspekten, welche das asymmetrische Verhältnis des Zusammen-Wirkens mit Gott im Sinne Martin Luthers zurückbeziehen auf die uns Menschen allen eingestiftete Sehnsucht, im Grund und Ursprung unserer selbst in dieser unserer Welthabe (William James) getragen und geborgen zu sein. Diese uns Menschen allen eingestiftete Sehnsucht scheint mir der wesentliche Gehalt dessen zu sein, was wir mit dem Term „Religiosität“ bezeichnen. Sie – diese Sehnsucht – fängt in solchen Augenblicken an, in denen wir uns wundern und ins Staunen geraten angesichts des unfassbaren Faktums unseres schieren Daseins in der Natur dieser Erde im unbegrenzten Geschehen der Welt des RaumZeit-Kontinuums und in dessen zweifelsfreiem Richtungssinn. In solchen Augenblicken werden wir jener Faktizität gewahr, die uns nach ihrem unendlichen Grund und Ursprung und nach dessen Gesinnt-Sein fragen lässt.245 Ohne das staunende Gewahr-Werden jener Faktizität gäbe es keine kultische Verehrung in der Geschichte der bestimmten Religionen und ebenso wenig den Gottesdienst der Christus-Gemeinschaft aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16). Dem Christus-Glauben ist es kraft des Heiligenden Geistes als wahr gewiss, dass der unendliche Grund und Ursprung jener staunenerregenden, uns Menschen alle

244 Dass diese zuversichtliche und geduldige Hoffnung auf Teilhabe am Höchsten Gut selbst angesichts des Todes und durch den Tod hindurch nichts Opakes ist, das für die Aufgabe der Verständigung über das Mensch-Sein erst der „Versprachlichung“ bedarf (Jürgen Habermas), lehrt die ergreifende Darstellung, die Platon im Dialog „Phaidon“ von den Gesprächen des Sokrates mit seinen Schülern im Gefängnis vor seinem Tode gibt. Diese Darstellung des Sich-Verstehens an der Grenze des irdischen Daseins etabliert gerade jenen common sense, der schwerlich ohne „Metaphysisches“ auskommt. 245 Ich spiele an auf die Analyse der religious affections von Jonathan Edwards (vgl. hierzu Hermann Deuser, Religionsphilosophie, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2009, 249ff.) sowie auf den Grundgedanken von Josiah Royce, der Glaube sei „die Anerkennung einer Wirklichkeit, die nicht nicht-sein kann“ (John E. Smith, William James and Josiah Royce [zitiert nach Hans Joas, Religiöse Erfahrung und ihre Interpretation. Reflexionen zu William James und Josiah Royce, in: Markus Kleinert und Heiko Schulz {Hg.}, Natur, Religion, Wissenschaft. Beiträge zur Religionsphilosophie Hermann Deusers, Tübingen: Mohr Siebeck, 2017 (RPT; 91), 337–354; 352]).

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Fazit: „Alles, was Odem hat, lobe den HErrn! Halleluja!“ (Ps 150,6)

umfassenden Faktizität im Christus Jesus endgültig offenbar ist als wahre Liebe. Von ihr erfüllt zu werden und erfüllt zu sein: das versteht der Christus-Glaube als jenes Glück, in dem alles Begehren nach wahrhaft Erfüllendem sein Ziel und seinen Frieden findet. Auf dieses Ziel, auf diesen Frieden hin bezieht sich alles asymmetrische Zusammen-Wirken mit Gott in Gottes weltlicher und in Gottes geistlicher Regierweise. Es ist als solches der vernünftige Gottesdienst (Röm 12,1), der für uns Menschen alle eine Ehre ist.

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Kapitel 3: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20) Der christliche Glaube an Gott den Versöhner Leitsatz: Der Christus-Glaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) ist die Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums. Die Wahrheit des Evangeliums aber ist die Wahrheit hinsichtlich des unbedingten Heilssinns des dreieinen Gottes, wie ihn das Lebenszeugnis Jesu von Nazareth in Wort und Tat bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha vergegenwärtigt. Kraft der Ereignisse des Dritten Tages hat Jesu Lebenszeugnis die Macht, von der Ungewissheit hinsichtlich des Heilssinns des dreieinen Gottes zu befreien, die uns in den Erfahrungen des Bösen, des Üblen und der Angst des Todes bestimmt. Nicht an diesen Erfahrungen vorbei, sondern in ihnen und durch sie hindurch von dieser Ungewissheit befreit, entfaltet sich das Leben des Christus-Glaubens als praktische Gewissheit in der Ordnung der Liebe, in der zuversichtlichen Hoffnung und im Kampf für den Frieden in der entstehenden Weltgesellschaft. Indem das Leben des Christus-Glaubens zur Erkenntnis des Wesens Gottes gelangt, übt es den Widerstand und Widerspruch gegen alle Missverständnisse des Einen, des Unendlichen, als einer selbst endlichen und weltlichen Instanz.

3.1

Einführung

Der Christus-Glaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) ist Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums. In seinem harten Kern bezeugt das Evangelium, wie es die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testaments in durchaus pluriformer Weise zur Sprache bringt, das „Wort von der Versöhnung“ (2Kor 5,19). Unter dem „Wort von der Versöhnung“ verstehe ich im Anschluss an den Spitzensatz des Apostels Paulus den Inbegriff der Botschaft, die die Verkündigungsgespräche der Apostel insgesamt in mündlicher Form ihren jeweiligen Adressaten zu ihrer Zeit überbrachten und die zu allen Zeiten das ChristSein als das Sein in Christus (2Kor 5,17) möglich macht. Inhalt und Gegenstand ihrer Botschaft aber, ohne die es keine christliche Sicht des Lebens auf dieser Erde in diesem ungeheuren Universum und keine Christentumsgeschichte geben würde, ist des dreieinen Gottes versöhnendes Walten: das Walten des schöpferischen Grundes und Ursprungs unserer selbst und jedes Menschenlebens im All des Seienden durch Christus Jesus unseren HErrn im Geist, der in die Wahrheit führt. Vom versöhnenden Walten des schöpferischen Grundes und Ursprungs im Christus Jesus durch den Geist der Wahrheit behauptet der Apostel Paulus in

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„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)

der Korrespondenz mit der Gemeinde zu Korinth geradezu überschwänglich, es begründe und es bewirke Neues Sein (Paul Tillich): „Wenn jemand in Christus (ist), (so ist er eine) Neuschöpfung; das Alte ist vergangen – siehe, Neues ist geworden.“ (2Kor 5,17 [Übersetzung Ulrich Wilckens]).

Ist Christus-Glaube die Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums, so ist er dieser überschwänglichen Behauptung zufolge als das Sein in Christus nichts Geringeres als jene Selbsterfahrung, die sich im Vergehen des Alten durch das Werden des Neuen zeigt. Deshalb: Wie die systematische Besinnung auf das Wesen des christlichen Glaubens an Gott und auf das Wesen des christlichen Glaubens an Gott den Schöpfer fängt auch die systematische Besinnung auf das Wesen des christlichen Glaubens an Gott den Versöhner mit der schlichten Frage an: Ist diese überschwängliche Behauptung wahr, und inwiefern ist sie wahr? Oder ganz einfach: gibt es diese Selbsterfahrung? Ich habe mir das Ziel gesetzt, im Rahmen der dogmatischen Betrachtung und ihrer ethischen Entfaltung auf diese Frage eine befriedigende Antwort zu geben. Gemäß den Grundsätzen der „Prinzipienlehre“ (vgl. STh I) wird diese Antwort kein beweisendes Wissen bieten können. Sie wird es vielmehr wagen, den Inhalt und den Gegenstand der christlichen Sicht des Lebens – also: die Sache selbst als das in allen ihren sprachlich-gedanklichen Mitteilungen Gemeinte und das in allen ihren übersprachlichen Riten Gezeigte – so überzeugend wie nur möglich vorzuführen. Mit dieser Intention sind zwei Gesichtspunkte angedeutet, welche die darstellungstechnische Verklammerung des 3. Kapitels und des 4. Kapitels betreffen. Sie aktualisieren die reformatorische Grundeinsicht, dass Christus-Glaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen sich nicht anders bildet als im Zusammenspiel von „äußerem Wort“ und „innerem Wort“, von menschlichem Offenbarungszeugnis in allen seinen Medien und dem erleuchtenden Walten des Wahrheitsgeistes, der als der Heiligende Geist Gottes des Schöpfers und Gottes des Versöhners wirksam ist (vgl. STh I, 604–612). Diese Grundeinsicht schärft gegenüber der römisch-katholischen Sicht des Verhältnisses von Offenbarung, bischöflichem Amt, kirchlicher Lehre und individuellem Christus-Glauben das Walten des Heiligenden Geistes als den beharrlichen Grund des christlich-frommen Selbstbewusstseins ein. Diesem Gesichtspunkt widme ich die Darstellung des 4. Kapitels: Der christliche Glaube an Gott den Vollender.1

1 Diesen noch immer herrschenden Gegensatz zwischen dem Selbstverständnis der Kirche unter dem Bischof von Rom und den Kirchengemeinschaften, die aus der reformatorischen Bewegung hervorgegangen sind, habe ich ausführlich erörtert: Konrad Stock, STh I, 423–487; vgl. u. S. 522–551.

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Einführung

Demgegenüber wäre es ein groteskes Missverständnis der reformatorischen Erkenntnislehre, wenn man sie in einem biblizistischen oder gar in einem fideistischen Sinne auffassen würde; so als würde sie behaupten, jenes Sein in Christus sei identisch mit der Anerkennung der Heiligen Schrift bzw. ihrer Auslegungsgeschichte als unfehlbar wahres göttliches Wort. Sie – die reformatorische Erkenntnislehre – will vielmehr zeigen, dass das Sein in Christus letztlich jener „inneren Klarheit“ der Heiligen Schrift zu verdanken ist, für die alle menschliche Arbeit an der „äußeren Klarheit“ der Heiligen Schrift nur als die tatsächlich notwendige Bedingung in Betracht kommt (vgl. STh I, 604–612). Was demgegenüber unter dem Sein in Christus selbst und als solchem zu verstehen sei: der Beantwortung dieser Frage widmet sich das jetzige Kapitel 3: Der christliche Glaube an Gott den Versöhner.2 Es entfaltet jene Eigenschaften des göttlichen Wesens, die wir mit dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde zu Rom in einem isotopen Sinne „Treue“, „Gerechtigkeit“ und „Wahrheit“ angesichts des unbezweifelbaren Faktums des menschlichen „In-der-Sünde-Seins“ – des Syndroms von erlittenem Leid und verschuldetem Leid – nennen dürfen.3 Nun bildet sich der Christus-Glaube – das christlich-fromme Selbstbewusstsein der Person –, sofern er sich im Raum der Kirche im Zusammenspiel des „äußeren Wortes“ und des „inneren Wortes“ bildet, de facto unter jener zweifachen Gegebenheit, die der Apostel Paulus schlicht das Alte nennt (2Kor 5,17). Wollen wir die singuläre Selbsterfahrung explizieren, die der Christus-Glaube als das Sein in Christus wirklich ist, so müssen wir die Aufmerksamkeit zuallererst auf jene zweifache Gegebenheit richten: ist sie doch nicht einfach verschwunden oder als bloßer Schein durchschaut, sondern bestimmt die Lebensgeschichte mit ihrer ganzen Härte. Sie kennzeichnet die reale Grundsituation des Mensch-Seins, in der der unbedingte Heilssinn des dreieinen Gottes bzw. Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen in seiner ganzen Herrlichkeit noch immer tief verborgen ist. Anders als der Apostel Paulus an der erwähnten Stelle rede ich ausdrücklich von einer zweifachen Gegebenheit.4

2 Eine vergleichbare Verklammerung findet sich in Martin Luthers Auslegung des 2. und des 3. Artikels des Apostolischen Glaubensbekenntnisses im Kleinen bzw. im Großen Katechismus (BSLK 650–662) und in Jean Calvins Institutio Christianae religionis von 1559 im Verhältnis von Buch III und Buch IV (OS IV; OS V). 3 Vgl. bes. Röm 3,1-7 und dazu Michael Wolter, Der Brief an die Römer (Teilband 1: Röm 1–8), Neukirchen-Vluyn/Ostfildern: Neukirchener Theologie/Patmos Verlag, 2014 (EKK; VI/1), z. St. (209–223). 4 Vgl. zum Folgenden bes. Paul Tillich, STh II, 52–87. Im „Dritten Teil“ seiner Systematischen Theologie legt Tillich nicht nur die „Merkmale der menschlichen Entfremdung und den Begriff der Sünde“, sondern auch die „existentielle Selbst-Zerstörung und die Lehre vom Übel“ dar. Indem Tillich den Abschnitt I: „Die Existenz und die Erwartung des Christus“ (25–106) dem Abschnitt II: „Die

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„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)

Für die erste dieser Gegebenheiten hat der Christus-Glaube, so wie er in der Heiligen Schrift ursprünglich zur Sprache kommt und wie er in der Überlieferung der Kirche, in ihren gottesdienstlichen Ritualen und in ihrer Frömmigkeitsund Lehrgeschichte entwickelt wird, neben anderen Synonymen das Begriffswort Sünde geprägt. So gut wie alle Religionskulturen und wie die jüdische JHWHGemeinschaft im Besonderen ist sich die Christus-Gemeinschaft nämlich einer tiefen Entfremdung bewusst, welche den Werdeprozess des leibhaften Person-Seins schwer versehrt. Würden wir diese erste Erscheinung des Alten nicht verstehen und nicht verständlich machen können, so würden wir auch nicht das Sein in Christus zeigen können als jene Selbsterfahrung der Person im Vergehen des Alten durch das Werden des Neuen. Um des Bewusstseins der Versöhnung, der Vergebung, der Erneuerung und der Befreiung willen kommt es nun darauf an, das Phänomen der Sünde in seinen verschiedenen Gestalten als Reales zu beschreiben und es in seinem Wesen bzw. in seinem Unwesen zu erhellen. In seinem Wesen bzw. in seinem Unwesen aber wird das Phänomen der Sünde in seinen verschiedenen Gestalten letztlich nur erhellt, wenn es als Phänomen je meines Gewissens erhellt wird, das da spricht: „An dir allein habe ich gesündigt / und übel vor dir getan“ (Ps 51,5).

Jedoch: Als jene singuläre Selbsterfahrung des In-Christus-Seins schließt der Christus-Glaube nicht nur die Erfahrung des Gewissens ein, die das Verstrickt-Sein der Person ins allgemeine Phänomen der Sünde bezeugt; sie schließt mit gleichem Ernst auch die Erfahrung des Üblen ein, jene zweite Gegebenheit, für die der Apostel Paulus an anderer Stelle den Begriff der „Nichtigkeit“ (Röm 8,20 [Übersetzung Ulrich Wilckens]) bzw. den Begriff der „Knechtschaft der Vergänglichkeit“ (Röm 8,21) gebraucht. Indem ich die Erfahrung des Üblen skizziere, markiere ich die unbestreitbare Verschränkung zwischen dem Phänomen der Sünde und dem Inbegriff des Üblen: dem Leid. Mit dem Begriff des Leids assoziiere ich die unbezweifelbaren Widerfahrnisse des Üblen in ihren typischen Gestalten. Sie fangen an mit den Entbehrungen und mit den Schmerzen, wie sie der Hunger und der Durst, die beißende Kälte und die sengende Hitze erzeugen. Sie steigern sich in den Erfahrungen des Krank-Seins und des Behindert-Seins, welche die Aufgabe einer selbstbewusst-freien, selbstverantwortlichen Lebensführung schwer gefährden, wenn nicht dauerhaft zerstören. Sie brechen unerwartet aus wie ein Vulkan, wie ein Tsunami, wie das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755. Sie lassen uns hilflos bleiben gegenüber den Attacken, die

Wirklichkeit des Christus“ (107–194) vorordnet, bringt er mit Recht den apologetischen bzw. den phänomenologischen Charakter der Systematischen Theologie zur Geltung.

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Einführung

uns in der Beleidigung und in der Verachtung, in der Gewaltandrohung und in der Gewaltanwendung des Feindes und der Feinde überfallen. Sie dominieren ganze Epochen der Geschichte in der Form unbeschreiblicher Armut, tiefsten Elends, strukturellen Unrechts und ungeheurer Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und schließlich macht das Todesbewusstsein uns leiden, das uns von einem frühen Zeitpunkt unserer Lebensgeschichte an schweigend begleitet; ebenso wie die tiefe und oft untröstliche Trauer über den Tod des allernächsten Menschen, der uns in Einsamkeit zurücklässt. Alle die unbezweifelbaren Widerfahrnisse des Üblen erschüttern uns als die geschaffene Person, die wir in der dualen Struktur der Seele und des Leibes sind; sie rufen insbesondere die wilden Emotionen der Angst und des Entsetzens, der Wut und der Verzweiflung hervor, die überhaupt nicht willentlich zu beherrschen sind. Im Lichte der Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums nimmt der ChristusGlaube – das christlich-fromme Selbstbewusstsein der Person – nicht etwa nur mit aller Schärfe die Phänomene der Sünde im Gewissen wahr; er nimmt mit gleichem Ernst alle die unbezweifelbaren und oft undurchschaubaren Widerfahrnisse des Üblen wahr, die uns am radikalen Grundvertrauen auf den schöpferischen Grund und Ursprung unserer selbst im ungeheuren All des Seienden und auf dessen ewig währende Gnade und Treue (vgl. Ps 106,1) irre werden lassen.5 Wenn ich im Folgenden von der Verschränkung zwischen der Wahrnehmung der Phänomene der Sünde im Gewissen und der Wahrnehmung der Widerfahrnisse des Üblen spreche, so wird sie auf keine andere Weise offenkundig als im Leid. Denn was wir als erlittenes Leid wahrnehmen, wird nicht nur von den Widerfahrnissen des natürlich, physisch oder organisch Üblen hervorgerufen; es wird in gleicher Weise wie gezeigt hervorgerufen von dem uns angetanen Leid des sittlich bzw. des moralisch Bösen und Verwerflichen; und in der Klarheit des Gewissens werden wir uns eingestehen müssen, dass wir auf diese oder jene Weise verstrickt sind in das erlittene und zu erleidende Leid, das andern auch von uns angetan wurde und immer wieder angetan wird. Im angetanen Leid und im erlittenen Leid ist für das Selbstbewusstsein der geschaffenen Person bzw. für ihr „Sich-gegenwärtig-Sein“ in der dualen Struktur der Seele und des Leibes das natürlich, physisch, organisch Üble und das sittlich bzw. das moralisch Böse verschränkt.

5 Es ist von größtem systematischem Gewicht, dass der Kanon der ganzen Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments dies „Irre-Werden“ selbst artikuliert; nämlich im Buche Hiob. Nach Hi 42,8 hat die literarische Figur „Hiob“ im Gegensatz zu ihren „Freunden“ deshalb „recht“ von Gott geredet, weil sie die Straflogik des Tun-Ergehens-Zusammenhangs im Lichte ihres undurchschaubaren Geschicks in grundsätzlichen Zweifel zieht. Ich sehe das systematische Gewicht der Dichtung des Buches Hiob darin, dass sie das unitarische Verstehen der Einzigkeit Gottes anfänglich vertieft und damit das trinitarische Verstehen der Einzigkeit Gottes vorbereitet, das erst in der Frömmigkeit und in der Theologie des frühen Christentums zum Durchbruch kommt.

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„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)

Da dem so ist, ist es die Intention der systematischen Besinnung auf den christlichen Glauben an Gott den Versöhner, den Trost des Evangeliums bzw. das Evangelium als Trost verständlich zu machen.6 Der Trost des Evangeliums aber und das Evangelium als Trost hat seinen Grund und Ursprung in den Ereignissen des Dritten Tages, in denen die berufenen Apostel der Auferstehung des Gekreuzigten als der Verifikation der Lebensgeschichte und des Lebenszeugnisses Jesu von Nazareth bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha gewiss werden; denn die Ereignisse des Dritten Tages lassen Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen endgültig offenbar werden als im Christus Jesus in Erfüllung gehend. Sie stiften die Gewissheit hinsichtlich des unbedingten Heilssinns des dreieinen Gottes für „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16). Sie und nur sie vermag uns von der Ungewissheit hinsichtlich dieses Heilssinns zu befreien, die uns in den Widerfahrnissen des Üblen, in den Erfahrungen des Bösen und in der Angst des Todes bestimmt; sie und nur sie vermag uns angesichts der Schuldgeschichte der kirchlichen Gestalten der Christus-Gemeinschaft die Kraft zur Buße und zur Umkehr zu geben. Es ist – ich wiederhole es – die zentrale These dieser meiner Darstellung der Systematischen Theologie, dass die Gewissheit hinsichtlich des unbedingten Heilssinns Gottes des schöpferischen Grundes und Ursprungs unserer selbst im All des Seienden das Leben in der Einheit der Erfahrungswelt heilsam neu bestimmt. Denn sie befreit von jener Ungewissheit, in der wir Menschen alle in den Erfahrungen des Üblen und des Bösen und angesichts der Angst des Todes zweifellos befangen sind. Weil sie von dieser Ungewissheit befreit, begründet und ermöglicht sie die Lebensform, die sich konkretisiert in den alltäglichen Entscheidungen und Engagements für die Ordnungen des Rechts, des sicheren Friedens, der sozialen Gerechtigkeit, der Versorgung der Kranken und des weltweiten diakonischen Helfens. Die Theologische Ethik (STh III) wird den inneren sachlogischen Zusammenhang zwischen der „Freiheit“, zu der uns der Christus Jesus durch die Gabe des Trostes „befreit hat“ (Gal 5,1), und der Lebensform der Liebe, der Hoffnung und der Selbstverantwortung vor Gott für das gemeine Wohl ausführlich entfalten.

6 In kritischem Anschluss an Ps 4,2; 73,26; Jes 40,1; 49,13; 66,13; Jer 15,16 konkretisiert der deuteropaulinische 2. Brief an die Gemeinde zu Thessaloniki das Evangelium von Gottes wahrer Liebe ausdrücklich als die Gabe des ewigen Trostes und der guten Hoffnung (2Thess 2,16): „ewiger Trost“ und „gute Hoffnung“ sind Aspekte des Lebens in Zuversicht, das der Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums just angesichts des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids entspricht. In dieser Gewissheit vermögen wir unsererseits in einem umfassenden Sinne zu trösten, d. h. Lebensmut und Lebensfreude zu erwecken, so wie es das Jesajabuch mit einer kühnen metaphorischen Anspielung auf „Jerusalem“ in Aussicht stellt: „Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres (verstehe: Jerusalems) Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an dem Reichtum ihrer (verstehe: Jerusalems) Mutterbrust.“ (Jes 66,11). – Vgl. hierzu jetzt Reiner Strunk, Wer spricht von Trost. Entdeckungen in Literatur und Bibel, Stuttgart: Evang. Verlag, 2020.

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Einführung

Diese zentrale These hat methodische und inhaltliche Konsequenzen für die Art und Weise, in der ich hier den christlichen Glauben an Gott den Versöhner darzustellen suche.7 Das sei im Folgenden skizziert. Ist dem christlich-frommen Selbstbewusstsein im Raum der religiösen Kommunikation der Kirche der unbedingte Heilssinn des dreieinen Gottes durch Gottes Heiligenden Geist erschlossen, so setzt dies prinzipiell voraus, was sich im religionswie auch im weltanschauungsgeschichtlichen Vergleich keineswegs von selbst versteht. Es setzt die Faktizität des menschlichen, des leibhaften Person-Seins im Richtungssinn des ungeheuren Universums voraus, die ich im Kapitel 2 „Der christliche Glaube an Gott den Schöpfer“ im Rückgriff auf Kapitel 1 „Der christliche Glaube an Gott“ beschrieben hatte.8 Es setzt mithin das je individuelle „Sich-gegenwärtigSein“ des weiblichen wie des männlichen Menschenlebens voraus, kraft dessen wir uns in der Anziehung der Geschlechter füreinander und in den verschiedenen Gemeinschaften ursprünglich Gleicher und Freier finden. Ich hatte das je individuelle „Sich-gegenwärtig-Sein“ beschrieben als den transzendentalen Grund, der es ermöglicht und der dazu nötigt, das Gute des uns selbst gewährten Lebens in wechselseitiger Kommunikation und Interaktion mit anderem ihm selbst gewährten Leben zu führen, zu erhalten und zu vervollkommnen (s. o. 2.4.2). Indem wir uns kraft des je individuellen „Sich-gegenwärtig-Seins“ in welcher sozio-kulturellen Ordnung auch immer wechselseitig aufeinander beziehen, kommunizieren und interagieren wir miteinander letztlich in der Beantwortung der Frage, wie denn der transzendente Grund und Ursprung des Guten dieses unseres gemeinsamen In-der-Welt-Seins zu verstehen und wie er angemessen zu loben, zu ehren und zu lieben sei. Sie ist die fundamentale religiöse bzw. die fundamentale weltanschauliche Frage.

7 In der dogmatischen Fachsprache ausgedrückt: sie hat methodische und inhaltliche Konsequenzen für die „Christologie“ und für die „Soteriologie“. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass Martin Kähler das Thema einer „Christologie“ dezidiert als das Thema einer „Soterologie“ zur Geltung brachte; vgl. Martin Kähler, Die Wissenschaft der christlichen Lehre, von dem evangelischen Grundartikel aus im Abrisse dargestellt, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1966 (Neuauflage); dazu HansGeorg Link, Geschichte Jesu und Bild Christi. Die Entwicklung der Christologie Martin Kählers in Auseinandersetzung mit der Leben-Jesu-Theologie und der Ritschl-Schule, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1975, bes. 295–408. 8 Die Spielarten einer „nach-theistischen“ bzw. einer „nicht-theistischen“ Rede von der Faktizität des menschlichen, des leibhaften Person-Seins, wie sie sich im philosophischen Diskurs beispielsweise bei Martin Heidegger und im deutschsprachigen theologischen Diskurs beispielsweise bei Dorothee Sölle finden, sind m. E. für die systematische Besinnung auf die Wahrheit des Christus-Glaubens irrelevant; und zwar deshalb, weil sie das ontologische Grundverhältnis zwischen Gott, dem „Sein-Selbst“ (Paul Tillich), und dem All des Seienden nicht erfassen. Dass die Erkenntnis dieses Grundverhältnisses den Spuren der Botschaft des Jesaja-Buches – insbesondere der Botschaft „Deuterojesajas“ – folgt, hatte ich hervorgehoben im Kapitel 2: „Der christliche Glaube an Gott den Schöpfer“.

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Wenn sich der Christus-Glaube bzw. wenn sich das christlich-religiöse Selbstbewusstsein der Person im Licht und in der Bewegung dieser Frage bildet, so ist ihm allerdings nicht nur die Faktizität des menschlichen, des leibhaften Person-Seins im Richtungssinn des ungeheuren Universums als solche gegenwärtig; es sind ihm auch im Medium des eigenen Lebenslaufs und im Erinnern der geschehenen Geschichte alle die schweren, dunklen, abgründigen Widerfahrnisse des Leids, der Bosheit und des Seins zum Tode gegenwärtig, die das Gemeinsam-Sein ursprünglich Gleicher und Freier zutiefst bedrohen und in die sich das Gemeinsam-Sein ursprünglich Gleicher und Freier unweigerlich verstrickt. In der Geschichte des Menschengeschlechts ist es zumal die Epoche der euroamerikanischen Neuzeit und Moderne, welche die abgründigen Widerfahrnisse des Leids, der Bosheit und des Seins zum Tode ins schlechthin Unerträgliche und Höllische gesteigert hat. Die koloniale und die imperiale Expansion der großen Mächte, die fürchterlichen Kriege, die totalitären Ideen des Staats und der Gesellschaft, die mörderischen Weltanschauungen mit ihren Folgen im „Archipel Gulag“ und insbesondere in der Shoa rufen den Zweifel und die Verzweiflung am unbedingten Heilssinn des dreieinen Gottes für „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) wach, der sich von allem Anfang an im personalen „Sich-gegenwärtig-Sein“ des Gegenwärtigen und in dessen kontingenter und begrenzter Dauer bekundet. Nun ist der Christus-Glaube – das christlich-fromme Selbstbewusstsein – wie gesagt in seinem harten Kern die Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums von Gottes unbedingtem Heilssinn bzw. von Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen. Ihm sind deshalb alle die abgründigen Widerfahrnisse der Bosheit, des Leids, des Seins zum Tode in einer einzelnen Lebensgeschichte ebenso wie in der Geschichte des Menschengeschlechts präsent im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages: Sie nämlich und nur sie lassen Gottes unbedingten Heilssinn unüberbietbar klar verstehen, erkennen, bejahen und lieben als Heilssinn in der Weise des versöhnenden Waltens. Gemäß dem frühen Hymnus, den der Apostel Paulus im Brief an die Gemeinde zu Philippi zitiert, lassen die Ereignisse des Dritten Tages die Existenz des Christus Jesus verstehen als das Geschehen der Selbsterniedrigung des göttlichen Wesens, welches die abgründigen Widerfahrnisse der Bosheit, des Leids, des Seins zum Tode annimmt, auf sich nimmt und an sich selbst erträgt (vgl. Phil 2,6-11). In der Betrachtung des Christus-Geschehens wird zu zeigen sein, dass das Geschehen der Selbsterniedrigung des göttlichen Wesens im Widerspruch zur hoch problematischen Rede vom ohnmächtig leidenden Gott, aber auch im Widerspruch zur ebenso hoch problematischen Rede vom „Strafleiden“ des Christus Jesus nicht anders denn als frei-willentliches Leid angemessen zu verstehen ist (s. 3.5.2.3).9

9 Vgl. zur Einführung in das zentrale Symbol des Todes des Christus Jesus am Kreuz auf Golgatha im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages bes. die Beiträge in: Peter Koslowski/Friedrich Hermanni (Hg.),

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Einführung

Versteht der Christus-Glaube – das christlich-fromme Selbstbewusstsein der Person – kraft der Ereignisse des Dritten Tages die Existenz des Christus Jesus in diesem Sinne als das Geschehen der Selbsterniedrigung des göttlichen Wesens, so hat er für die abgründigen Widerfahrnisse der Bosheit, des Leids, des Seins zum Tode einen neuen, einen religions- und weltanschauungsgeschichtlich singulären Blick. Zwar nimmt er solidarisch teil am heißen Bemühen aller Menschen guten Willens, das erlittene Leid ebenso wie das verschuldete Leid zu bewältigen, zu begrenzen und zu heilen; aber er stiftet dazu an, die Wurzel der Bosheit radikal in sich selbst zu erkennen, ebenso wie er alles erlittene Leid in bitterer Klage und dennoch in geduldigem Warten dem unbedingten Heilssinn des dreieinen Gottes anvertraut (Ps 73,23-26!). Der Christus-Glaube ist insofern weit entfernt von der ursprünglichen Intuition des Prinzen Gautama, des Buddha, dass alles Leben Leiden sei; er findet aber auch die dualistische Idee absurd, der schöpferische Grund und Ursprung dieser unserer Faktizität trage anstatt des unbedingten Heilssinns den Zwiespalt zwischen Gutem und Bösem, zwischen Schönem und Üblem, zwischen Glück und Unglück, zwischen Sein und Nicht-Sein in sich selbst.10 Schließlich sprengt er den vulgären Glauben an die Allmacht eines Schicksals: ob die Allmacht eines Schicksals nun als schlechthin willkürlich und blind oder aber als mit Hilfe astrologischer Deutungen erkennbar und vorhersehbar verstanden wird.11 Diese meine allerersten Beobachtungen, die den singulären Blick des ChristusGlaubens – des christlich-frommen Selbstbewusstseins – für die Zusammenhänge zwischen dem erlittenen Leid und dem verschuldeten Leid betreffen, haben für den Gedankengang des jetzigen Kapitels höchst wichtige Konsequenzen. Sie wenden sich zum einen gegen Engführungen der „Soteriologie“, welche das Heilsame des

Der leidende Gott. Eine philosophische und theologische Kritik, München: Fink, 2001. – Die hiermit angesprochene weitgespannte Problematik der Theodizee-Argumente wird gründlichst diskutiert im Werk von Armin Kreiner, Gott im Leid. Zur Stichhaltigkeit der Theodizee-Argumente, Freiburg i.Br./Basel/Wien: Herder, 2005 (Erweiterte Neuauflage). 10 Diese dualistische Idee findet sich nach langer Vorgeschichte schließlich auch bei Martin Heidegger, Über den Humanismus, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 8 1981, bes. 49, wo der Autor jenes strittige Sein beschwört, in dem gleichermaßen „das Heile und das Grimmige … wesen.“ 11 Vgl. hierzu Paul Bauer, Art. Astrologie V. Astrologie als gegenwärtiges pastoraltheologisches Problem: TRE 4, 311–315; Andreas Fincke, Art. Astrologie V. Praktisch-theologisch: RGG4 1, 862–863; 863: „Es ist davon auszugehen, daß die A.(strologie) in den nächsten Jahren weiter an Bedeutung gewinnen wird. In einigen westeur.(opäischen) Staaten (z. B. Frankreich und Großbritannien) sowie in Asien (z. B. Indien) spielt die A.(strologie) bereits heute eine wesentlich größere Rolle als in Deutschland.“. – Der Glaube an die Allmacht eines Schicksals illustriert besonders krass die Richtigkeit der religionstheoretischen These Friedrich Schleiermachers, jede bestimmte Form von Frömmigkeit sei zu verstehen als eine Bestimmtheit des Gefühls bzw. des unmittelbaren Selbstbewusstseins, schlechthin abhängig zu sein (s. 2.2.1).

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Christusgeschehens auf das individuelle Selbstverhältnis der Person reduzieren; sie wenden sich zum andern aber gegen solche Deutungen des Unverfügbaren im kulturellen Kontext der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne, die den Trost des Evangeliums sei es aus pessimistischen sei es aus optimistischen Motiven nicht wahrhaben wollen. Ihnen allen eignet objektiver Zynismus, dem das Leid der vergangenen Gegenwart und der zukünftigen Gegenwart gleichgültig sein muss. Nach alledem legt sich die folgende Gliederung nahe: Ich setze ein mit einer Betrachtung dessen, was ich die Verschränkung von erlittenem Leid und verschuldetem Leid nenne (3.2). Von da aus werde ich die „Phänomene des In-der-Sünde-Seins“ ins Auge fassen, die nach der Selbstbesinnung des Christus-Glaubens auf sein eigenes Wesen letztlich wurzeln in der Ungewissheit hinsichtlich des unbedingten Heilswillens bzw. des In-Gemeinschaft-sein-Wollens des dreieinen Gottes; sie hat als die je individuelle Ungewissheit allerdings stets kollektive Form (3.3). Diese Phänomene treiben dazu an, das biblische Offenbarungszeugnis von der Art und Weise, in welcher der dreieine Gott diese Ungewissheit überwindet, ernst zu nehmen und für unsere sozio-kulturelle Situation hier und heute überzeugend und gewinnend zu vertreten. Die sachgemäße Lösung dieser Aufgabe schließt es ein, wenigstens skizzenhaft die Wege der Verheißung, d. h. der Vorbereitung und der Vorgeschichte nachzuzeichnen, ohne die sich uns Gottes versöhnendes Walten nicht erschließt (3.4). In diesem Rahmen und unter dieser Voraussetzung gilt es sodann, das Lebenszeugnis Jesu von Nazareth bis hin zum Tode am Kreuz auf Golgatha im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages als das Geschehen des versöhnenden Waltens des dreieinen Gottes darzulegen: als das Geschehen, das uns Gottes Wesen als das Wesen „voll Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,14) vergegenwärtigt (3.5). Dass sich in der Gemeinschaft mit dem Christus Jesus, die der Heiligende Geist der Wahrheit stiftet, der lebensgeschichtliche Übergang aus der Ungewissheit in die Gewissheit hinsichtlich des unbedingten Heilswillens bzw. des In-Gemeinschaftsein-Wollens des dreieinen Gottes bildet: das ist die heilsame Erfahrung, die die christliche Lebenslehre nahebringt. Ihre Beschreibung blickt voraus und führt hinüber zum Kapitel 4, das dem vollendenden Walten Gottes gewidmet ist (3.6).

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Erlittenes Leid – verschuldetes Leid

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Erlittenes Leid – verschuldetes Leid12

Seit Menschengedenken erleben wir Menschen alle Leid. Nicht nur die überlieferten Zeugnisse der Religionskulturen, sondern auch die großen Texte der tragischen, der epischen und der lyrischen Dichtung seit Aischylos ergreifen uns mit ihrem Bemühen, erlebtes Leid zu erinnern und womöglich in einem größeren Zusammenhang zu verstehen. Will die dogmatische Besinnung auf die Wahrheit des Christus-Glaubens jene Gegebenheiten präsentieren, die die heilsame Erfahrung des Übergehens aus der Ungewissheit in die Gewissheit des unbedingten göttlichen Heilswillens menschlich möglich machen, so tut sie gut daran, anzufangen mit der Betrachtung des erlebten Leids. Erlebtes Leid ist offenbar sowohl als erlittenes Leid als auch als verschuldetes Leid bezogen auf das Phänomen des Lebens, das nach dem Stand der Forschung vor etwa 3,55 oder vielleicht schon vor etwa 3,8 Milliarden Jahren auf dieser Erde erschien.13 Es zeigt sich uns an Seiendem, das jedenfalls aus organischer Materie besteht und das zu seiner Existenz, zu seiner Erhaltung und zu seiner Ausbreitung der physikalischen und chemischen Bedingungen auf dieser Erde – des Wassers, der Luft, des Lichts, der Wärme, der Schwerkraft – bedarf. Die verschiedenen „Stufen des Organischen“ (Helmuth Plessner) sind entstanden im Zuge einer vertikalen Evolution von Zellen aus universellen biotischen Substanzen bis hin zur hohen Komplexität menschlichen Lebens. In dieser vertikalen Evolution tauchen schließlich tierische Lebewesen auf, die vermöge eines neurophysischen Mechanismus fähig sind, Schmerz zu empfinden.14 Jedes Schmerzempfinden signalisiert dem Lebewesen einen Mangel, eine Krankheit, eine Gefahr, die sein Leben hemmt, verletzt oder gar zerstört. Es schreit. Teilt das menschliche Leben, das Leben des geschaffenen, des leibhaften PersonSeins, mit dem Leben der Tiere die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, so scheint es ihm doch vorbehalten zu sein zu leiden. Zwar schließt das zu erleidende Leid alle die Schmerzen ein, die je meinen Leib als Medium meines personalen und sozialen In-der-Welt-Seins behindern und beschweren; aber vermöge der Einheit des Leibes 12 Vgl. hierzu bes.: Walter Sparn, Leiden – Erfahrung und Denken. Materialien zum Theodizeeproblem, München: Kaiser, 1980 (ThB; 67) (Lit.!); Ders., Art. Leiden IV. Historisch/Systematisch/Ethisch: TRE 20, 688–707 (Lit.); Konrad Stock, Sprechen mit Leidenden: EvErz 36 (1984), 545–554; Jürgen Mohn/Heinz Mürmel/Heinz Halm/Heinz-Josef Fabry/Friedrich Avemarie/Stefan Schreiner/Walter Rebell/Martin Abraham/Oswald Bayer/Josef N. Neumann/Michael Klessmann, Art. Leiden I.–VII.: RGG4 5, 233–248 (Lit.). – Nachdrücklich sei daran erinnert, wie Johann Baptist Metz sein Konzept einer „Politischen Theologie“ in den „Leidens- und Katastrophengeschichten dieser Zeit“ situiert; vgl. Johann Baptist Metz, Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft. In Zusammenarbeit mit Johann Reikerstorfer, Freiburg i. Br.: Herder, 4 2006, 1–62. 13 Vgl. hierzu Christian de Duve, Art. Leben VI. Naturwissenschaftlich: RGG4 5, 142–145. 14 Vgl. hierzu Konrad Stock, Art. Schmerz: RGG4 7, 931–932.

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und der Seele in der dualen Struktur des individuellen Selbst-Seins erleben wir Leid darüber hinaus in affektiver bzw. in emotiver Form. Wir leiden unter den mannigfachen Ängsten; wir leiden in der Trauer über den Tod eines geliebten Menschen; wir leiden an den Beleidigungen und an den Kränkungen, die andere uns mit den Mitteln ihrer Sprache, ihrer Mimik, ihrer Gestik zufügen; wir leiden an den Störungen und den Erkrankungen des Psychischen in der ganzen Bandbreite der Zwänge und der Phobien, der Depressionen und Neurosen; wir leiden unter den ökonomischen, den politischen, den kulturellen Repressionen, die ganz bestimmte Systeme der Gesellschaft stillschweigend oder dezidiert ausüben. Was wir erleiden, betrifft zutiefst das je individuelle Freiheitsgefühl, das die uns vorgegebene, die geschaffene Bedingung reflektierter, selbstbewusster, selbstverantwortlicher Teilnahme am Leben der Gemeinschaft ist (s. o. 2.4.2.2.2). Was wir erleiden, betrifft mithin zuinnerst den transzendentalen Grund, das „Sich-gegenwärtig-Sein“ der leibhaft existierenden Person und dessen emotive Intentionalität, die unmittelbar aus ist auf ihr Dauern in ihren notwendigen privaten und sozialen Beziehungen. Dieser transzendentale Grund ist das begriffliche Korrelat zu jener Selbstvertrautheit, für die der Apostel Paulus den Ausdruck „innerer Mensch“ (Röm 7,22) gebraucht und an die jedenfalls die deutsche Bildungssprache mit dem Term „Innerlichkeit“ appelliert.15 Nun erleben wir wie angedeutet erlittenes Leid in hohem Maße als verschuldetes Leid; und in der Klarheit und der Aufrichtigkeit des Gewissens werden wir umgekehrt gestehen, dass wir selbst in vieler Hinsicht verstrickt sind in das Leid, das andere erleiden. Allerdings ist die alltagssprachliche Wendung „Verstrickt-Sein“ sorgfältig auszuleuchten, damit das dialektische Verhältnis zwischen der individuellen Verantwortung und der kollektiven Verantwortung für das verschuldete Leid deutlich werde.16 Für die dogmatische Besinnung auf die Wahrheit des christlichen Glaubens an Gott den Versöhner ist es ausschlaggebend, dieses dialektische Verhältnis so genau wie möglich zu erfassen; werden wir doch die „Engführung“ der Soteriologie zumal in der Geschichte des lateinischen Christentums dann und nur dann korrigieren 15 Vgl. hierzu Christoph Markschies/Hans Dieter Betz/Matthias Heesch, Art. Innerer Mensch: RGG4 4, 154–157; Heiko Schulz, Art. Innerlichkeit: ebd. 157–158. – Das schöne deutsche Wort „Innerlichkeit“ bezeichnet also nicht etwa das Abstand-Nehmen, sondern vielmehr das „Inne-Sein“ bzw. das „InneWerden“ dessen, was uns in unserem „Uns-gegenwärtig-Sein“ tatsächlich angeht. 16 Die Wendung „Verstrickt-Sein“ hat eine gewisse Popularität erfahren durch das Werk von Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a.M.: Klostermann, 5 2012. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass Schapp das „Verstrickt-Sein“ als die Weise des Erzählens versteht und von dem Erforschen und Beschreiben der Quellen und der Monumente des Geschehenen und damit der Konflikte des Geschehenen absieht. Die ausführliche Begründung dafür findet sich in: Wilhelm Schapp, Philosophie der Geschichten. Neuausgabe. Hg. von Jan Schapp und Peter Heiligenthal, Frankfurt a.M.: Klostermann, 2 1981.

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Erlittenes Leid – verschuldetes Leid

können, wenn wir den angemessenen kategorialen Begriff für das Verhältnis zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven so genau wie möglich in den Blick bekommen. Dieses Verhältnis erfährt in der Epoche der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne eine gravierende Veränderung. Zwar gilt für diese Epoche wie für jede Epoche, dass das geschaffene, das leibhafte Person-Sein in seinem Zentrum als unmittelbares Selbstbewusstsein, als je individuelles Freiheitsgefühl bzw. als „Sichgegenwärtig-Sein“ verfasst ist; aber die Modernisierung vor allem der öffentlichen Lebensverhältnisse besteht ja darin, dass das bewusste und gewählte Handeln der Person in ihren notwendigen sozialen Beziehungen mehr und mehr geregelt und gesteuert wird von Organisationen, die ihrerseits der Leitung kollektiver Akt- und Entscheidungszentren bedürfen. Wer immer in der Leitung kollektiver Akt- und Entscheidungszentren mitbestimmt, folgt darin keineswegs dem Muster freier rationaler Vorzugswahl. Das Mitbestimmen bringt vielmehr nicht nur ein jeweils individuelles Interesse zur Geltung. Es spiegelt auch das jeweilige praktische Programm einer Klasse, einer Schicht bzw. einer Gruppe der Gesellschaft wider; und es sucht diesem oder jenem Trend bzw. dieser oder jener Stimmung der Öffentlichen Meinung zu entsprechen, die sich in der alltäglichen Unterhaltung ebenso wie in den Medien der Information artikuliert – bis hin zu den erbitterten Meinungskämpfen, die die schweren sozialen Konflikte der Moderne austragen. Die Leitung kollektiver Akt- und Entscheidungszentren steht mithin nicht etwa unparteiisch über den Parteien; zwischen ihrer Politik im weiten Sinne des Begriffs und der oft so gegensätzlichen und gespaltenen politischen Perzeption in einer Gesellschaft finden vielmehr komplexe Wechselwirkungen statt.17 Es ist die Journalistik bzw. die Publizistik einer Gesellschaft und deren massenmediale Praxis, in der die gegensätzlichen und gespaltenen politischen Perzeptionen um Anerkennung und um Einfluss kämpfen. Sie kämpfen offensichtlich nicht etwa nur um Maßnahmen oder um Wege, sondern vor allem und mit größter und erbitterter Leidenschaft um Ziele bzw. um vorzugswürdige Ordnungen des sozialen Systems als Ganzen. Die französische Revolution von 1789, die bolschewistische Revolution vom Oktober 1917, die nationalsozialistische Machtergreifung seit dem 30. Januar 1933 und schließlich die militärische Eroberung der Macht in China durch die Truppen Mao Zedongs im Jahre 1949 sind des Zeuge.18

17 Zum Begriff der politischen Perzeption vgl. die Theoriebildung von Ernst Vollrath, Was ist das Politische? Eine Theorie des Politischen und seiner Wahrnehmung, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003. 18 Zur sozialethischen Problematik der Revolutionen der euro-amerikanischen Moderne – zu denen auch die chinesische Revolution unter Mao Zedong zu rechnen ist – vgl. die vorzügliche Skizze von Ralf Stroh, Art. Revolution I.–III.: RGG4 7, 475–480; bes. 478ff. Stroh macht unmissverständlich

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Diese wenigen sozialtheoretischen Beobachtungen müssten natürlich für die verschiedenen Gesellschaften der euro-amerikanischen Moderne detailliert entfaltet werden. Ohne dies an dieser Stelle leisten zu können, ziehe ich aus ihnen Schlüsse für den angemessenen kategorialen Begriff des Verhältnisses zwischen Individuellem und Kollektivem. Sie sind insofern praktisch relevant, als wir mit ihrer Hilfe innerhalb der Phänomenologie des Negativen die Verantwortung für „Schuld in der Geschichte“ identifizieren können.19 Zum einen: Der angemessene kategoriale Begriff des Verhältnisses von Individuellem und Kollektivem geht davon aus, dass geschaffenes, leibhaftes Person-Sein stets in Gemeinschaft mit anderem geschaffenen, leibhaften Person-Sein existiert (s. o. 2.4.2.2.2). Vermöge des transzendentalen Grundes des unmittelbaren Selbstbewusstseins vollzieht sich dieses Existieren sowohl in sprachlich-kognitiver als auch in praktisch-technischer Interaktion sowie in religiös-ethischer bzw. in ästhetischer Kommunikation. Es ist natürlich nicht beschränkt auf die private Sphäre der Familie, der Ehe, der Liebe und der Freundschaft; es partizipiert vielmehr in simultaner Weise am Alltag der verschiedenen Subsysteme bzw. der verschiedenen Lebensbereiche einer rechtlich und staatlich verfassten Gesellschaft. In ihnen nehmen wir, jeweils bedingt durch unsere Bildungs- und Entwicklungsgeschichte, teils einfache, teils höhere, teils höchste Positionen und Funktionen wahr mit teils geringem, teils mäßigem, teils weitreichendem Aktionsradius. Es sind zumal die repräsentativen Gremien des Rats, der Kammer, der Redaktion, des Vorstands, des Generalstabs, der Konferenz und des Parlaments, deren Mitglieder als ein kollektives Aktzentrum ihrer jeweiligen Organisation als ganzer agieren. Gab es und gibt es „Schuld in der Geschichte“ – und es gab sie und es gibt sie in ungeheuerlichem Maß20 –, so gab es und so gibt es für die „Schuld in der Geschichte“ Verantwortung im Verhältnis zwischen Individuellem und Kollektivem, das sich in allen Subsystemen bzw. in allen Lebensbereichen einer Gesellschaft identifizieren lässt. Zum andern: Wenn kollektive Aktzentren für ihre jeweilige Organisation Entscheidungen mit Folgen und mit Konsequenzen treffen, die Leid bewirken, so sind darauf aufmerksam, dass das geradezu chiliastische Heilsversprechen der modernen Revolutionen die menschliche Handlungs- und Gestaltungskompetenz qualitativ übersteigt und deshalb aus der Perspektive des christlichen Ethos als unsittlich zu beurteilen ist. Dass dieses geradezu chiliastische Heilsversprechen sich mit der Implosion des sowjetischen Sozialismus keineswegs in Luft aufgelöst hat, zeigen die verschiedenen revolutionären Experimente in mittel- und in südamerikanischen Gesellschaften. 19 Vgl. zum Folgenden: Eilert Herms, Schuld in der Geschichte, jetzt in: Ders., Gesellschaft gestalten. Beiträge zur evangelischen Sozialethik, Tübingen: Mohr, 1991, 1–24. 20 Es gab sie und es gibt sie jedenfalls dann und nur dann, wenn man nicht mit Friedrich Nietzsche das „Jenseits von Gut und Böse“ proklamiert bzw. wenn man nicht mit Konrad Lorenz „Das sogenannte Böse“ propagiert.

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Erlittenes Leid – verschuldetes Leid

die Mitglieder einer Gesellschaft daran nicht unbeteiligt. Sei es, dass sie die Taktik und die Strategie kollektiver Akteure teils geduldet teils bejubelt haben (wie z. B. die überwältigende Mehrheit der Gesellschaften Europas und der Vereinigten Staaten von Amerika das Streben nach kolonialer und imperialer Macht über lange Zeit teils geduldet teils bejubelt hat). Sei es, dass sie die schweren sozialen Konflikte der Neuzeit und der euro-amerikanischen Moderne in den Formen des revolutionären und des reaktionären bzw. des gegenrevolutionären Engagements ausgefochten haben ohne jede Rücksicht auf den möglichen Kompromiss widerstreitender Interessen. Sei es, dass sie Weltanschauungen ihren Glauben und ihre Hoffnung schenkten, denen in vorhersehbarer Weise die Gewalt, der Terror, das Verbrechen an der Stirn geschrieben war (wie z. B. der Weltanschauung des sowjetischen Bolschewismus à la Lenin und Stalin, der Weltanschauung Adolf Hitlers und der Weltanschauung Mao Zedongs). Zum Dritten: Gestützt auf die Duldung bzw. auf den Jubel und den Glauben der Mitglieder einer Gesellschaft ist es nun allerdings das kollektive Aktzentrum und letzten Endes dessen Haupt, dem die Verantwortung für die Folgen seines Handelns und damit für verschuldetes Leid präzise zuzuweisen ist. Die Wechselwirkung zwischen Individuellem und Kollektivem, die ich hier skizziere, offenbart nun freilich ein typisches Problem der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne. Ich sehe dieses Problem darin, dass die Sphäre der religiös-ethischen Kommunikation in den Prozessen der Modernisierung in eine tiefe Krise gerät.21 Die Sphäre der religiös-ethischen Kommunikation ist ja diejenige Sphäre, in der die Mitglieder einer Gesellschaft in ihrer Bildungs- und Entwicklungsgeschichte ihre individuelle Gewissheit hinsichtlich des Höchsten Gutes zu finden haben, das dem endlichen, dem selbstbewusst-freien Menschenleben hier und jetzt in dieser seiner Lebenszeit Sinn und Ziel gewährt. Solche individuelle Gewissheit hinsichtlich des Höchsten Gutes schließt das Verstehen dessen ein, was als der Grund und Ursprung unserer selbst in diesem ungeheuren Universum und damit als der Grund und Ursprung menschlicher Verantwortlichkeit wirklich und wahrhaftig in Betracht kommt (s. 1.5.3.3.4). Sie hat für eine individuelle Lebensgeschichte für ihre Mitwirkung und Mitbestimmung an den kollektiven Aktzentren und an deren weitreichenden Entscheidungen praktisch-ethische Relevanz. Die Geschichte der religiös-ethischen Kommunikation in der Epoche der euroamerikanischen Neuzeit und Moderne lässt jedoch erkennen, dass ihre institutio-

21 Ich übersehe nicht, dass Hans Joas an einer Theorie der Moderne im Sinne von Max Weber grundsätzliche und detaillierte Kritik übt; vgl. Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin: Suhrkamp, 2019. Gleichwohl dürfte die im Folgenden skizzierte These, in der Epoche der Prozesse der Modernisierung sei die praktisch-ethische Relevanz der religiös-ethischen Kommunikation in eine tiefe Krise geraten, nach wie vor gut zu begründen sein.

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nellen Formen in erhebliche Probleme verwickelt sind. Zwar bilden sich unter dem Schutz des Grundrechts der Religionsfreiheit mit gutem Grund die Anfänge eines religiös-weltanschaulichen Pluralismus heraus; aber zugleich geraten jedenfalls die Institutionen der christlich-religiösen Überlieferung ins Dauerfeuer philosophischer, politischer, ideologiekritischer und schließlich naturwissenschaftlicher Kritik, welche die Orientierungskraft des Christus-Glaubens zumal in den Eliten schwer erschüttert. An deren Stelle machen sich nun ihrerseits Ideologien breit, die den Mitgliedern der Gesellschaft neue Integration, neue Zielsetzungen und damit neue Lebenszuversicht verheißen. Das sind zum einen Ideologien der Nation seit etwa 1800, die der wie immer auch konstituierten eigenen Nation einen Höchstwert, eine Heiligkeit beimessen, ohne den die individuelle Identität der Person nahezu bodenlos wäre.22 Das sind zum andern Ideologien der objektiven Bewegungsgesetze der Geschichte, die ihren Besitzern diktatorische Gewalt über die Planung und Gestaltung des Zusammenlebens zuschreiben.23 Beide Ideologien kommen darin überein, dass sie dezidiert die universale Idee der Würde des Mensch-Seins verachten, die mit dem christlichen Verstehen des unbedingten Heilssinns des dreieinen Gottes nun einmal unwiderruflich gegeben ist. Jene Amalgame des Christus-Glaubens und der nationalen bzw. der sozialen Ideologien, die die Gräueltaten der Epoche der euro-amerikanischen Moderne unterstützten, waren und sind Verrat und Verzweiflung am versöhnenden Walten Gottes des Schöpfers im Christus Jesus unserem HErrn durch den Heiligenden Geist der Wahrheit für „Juden“ und für „Griechen“ (Röm 1,16). Aus alledem folgt: Um der dogmatischen Besinnung auf die Wahrheit des christlichen Glaubens an Gott den Versöhner willen richte ich jetzt die Aufmerksamkeit auf jene Phänomene, die uns die tiefe Ambivalenz des Mensch-Seins als des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins zeigen. Als das geschaffene, das leibhafte Person-Sein existiert Mensch-Sein im Zusammenhang des Lebendigen von Gottes schöpferischem Geiste her, der jedem individuellen Menschenwesen gegenwärtig ist und bleibt. Es ist gleichwohl als das leib-seelische, als das selbstbewusst-freie Lebewesen dem Leid der Endlichkeit aus-

22 Vgl. hierzu Carl-Henric Grenholm, Art. Nationalismus: TRE 24, 21–34; Friedrich Wilhelm Graf, Art. Nation: RGG4 6, 61–63; Ders., Art. Nationalismus II. Sozial- und kulturwissenschaftlich; III. Politisch; IV. Stellung der Kirchen 1. Europa: ebd. 68–74. Graf macht aufmerksam auf die beschämende Tatsache, dass die nationalistischen Wertorientierungen seit den Anfängen des kleindeutschen Nationalstaats unter der Führung des Königreichs Preußen die Verkündigung und die pastorale Praxis eines großen Teils der evangelischen Pfarrerschaft nachhaltig prägten. Vgl. hierzu auch Jochen Böhler, Bürgerkrieg im Herzen Europas, in: F.A.Z. Nr. 275 (26.11.2018), S. 6. 23 Der geschlossenste Entwurf einer solchen Ideologie ist wohl Georgi Walentinowitsch Plechanow, Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung (1895), dt. Berlin (Ost): Dietz Verlag, 1975, zuzuschreiben.

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Erlittenes Leid – verschuldetes Leid

gesetzt, das ihm vertraut ist in der Angst des Todes. Ich hatte deshalb das Verstehen jener tiefen Ambivalenz angebahnt mit der Betrachtung der Verschränkung von erlittenem Leid und verschuldetem Leid. Sie führt an die Schwelle der menschlichen Verantwortung für das Böse, für das verschuldete Leid. Die elementare Grundfrage lautet hier und heute: Gibt es überhaupt menschliche Verantwortung für das Böse des verschuldeten Leids? Und wenn ja: wie kommt jener „Friede mit Gott“ (Röm 5,1) zustande, der das Böse des verschuldeten Leids zu überwinden vermag? Meine Betrachtung ist dazu bestimmt, mit Rücksicht auf die Lage moderner Gesellschaften die soteriologische „Engführung“ behutsam zu korrigieren, die jedenfalls die Frömmigkeits- und Lehr-Geschichte der lateinischen Christenheit beschwert. Aus diesem Grunde suchte ich nach einem angemessenen kategorialen Begriff für das Verhältnis der Wechselwirkung zwischen Individuellem und Kollektivem. Es zeigte sich, dass dieses Verhältnis seinerseits bedingt ist durch die Sphäre der religiös-ethischen Kommunikation in der Gesellschaft hinsichtlich dessen, was für das ephemere Menschenleben als das in Wahrheit Höchste Gut in Betracht kommt. In dieser Sphäre der religiös-ethischen Kommunikation hat kraft des Grund- und Menschenrechts der Religionsfreiheit der christliche Begriff des Höchsten Gutes seine spezifische Funktion. Wenn ich im Folgenden auf die Phänomene des Bösen unter dem Gesichtspunkt des biblischen Grundworts Sünde zu sprechen komme, so will ich allerdings mit dem Apostel Paulus auf die Allgemeinheit der Sünde hinaus (vgl. Röm 3,23; 5,12.19). Um von der Allgemeinheit der Sünde angemessen zu sprechen, ist es jedoch geboten, die tiefe Ambivalenz des Mensch-Seins über die Lehre des Apostels Paulus hinaus zugleich in individueller und in kollektiver Hinsicht darzustellen. Wenn zwischen individueller und kollektiver menschlicher Verantwortung für das Böse ein Wechselverhältnis herrscht, so ist genau die religiös-ethische Kommunikation der Gesellschaft jene Sphäre, in der Gottes versöhnendes Walten real und wirksam wird. Wie Gottes versöhnendes Walten in der Sphäre der religiös-ethischen Kommunikation der Gesellschaft wirksam wird, wird darzustellen sein im „christologischen“ Thema dieses Kapitels, das seinerseits die Brücke bildet zum Kapitel 4: Der christliche Glaube an Gott den Vollender. In ihm wage ich es darzulegen, in welcher Weise die Gewissheit, mit Gott versöhnt zu sein, die Hoffnung auf Gottes absolute Zukunft jenseits des Todes und durch den Tod begründet: auf jene Zukunft, in der alles Leid, alles Geschrei und aller Schmerz (vgl. Apk 21,4) getröstet sein wird.

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins24

„Daß die Welt im Argen liege: ist eine Klage, die so alt ist, als die Geschichte.“25 Um einen Zugang zu eröffnen zum Verstehen des Evangeliums vom unbedingten Heilssinn, vom In-Gemeinschaft-sein-Wollen des dreieinen Gottes, hatte ich die Verschränkung zwischen erlittenem Leid und verschuldetem Leid skizziert. Sie ist ein wesentliches Thema der religionsvergleichenden Forschung, welche die mannigfachen religiösen Deutungen negativ qualifizierter Handlungsweisen ebenso wie die mannigfachen Formen ihrer religiösen Bewältigung untersucht. Diese reichen von Ritualen der Tilgung über Praktiken des Schulderlasses bis hin zur Botschaft radikaler Vergebung; sie alle setzen die mehr oder weniger ausgeprägte Einsicht in die Schuldfähigkeit des Menschen und damit in die Verantwortlichkeit für das wie immer auch benannte und erkannte Böse voraus.26 Sie bilden damit 24 Ich berufe mich für diese Überschrift auf den singularischen Gebrauch des Begriffs ἁμαρτία, wie er begegnet bei Joh 1,29; 8,34; Röm 3,9.20; 5,12.13.20; 6,1 u. ö. – Vgl. zum Folgenden bes.: Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, in: Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode u. a. Hg. Von Hermann Diem und Walter Rest, Köln und Olten: Jakob Hegner, 2 1956, 23–177; Ders., Der Begriff der Angst, ebd. 445–640; Friedrich Schleiermacher, CG2 §§ 66–74 (I, 355–410 = KGA I.13,1, 405–470); Julius Müller, Die christliche Lehre von der Sünde, Breslau: Verlag von Josef Max, 1844; Karl Barth, KD IV/1, 395–573: § 60: Des Menschen Hochmut und Fall; KD IV/2, 423–564: § 65: Des Menschen Trägheit und Elend; KD IV/3, 425–551: § 70: Des Menschen Lüge und Verdammnis; Paul Ricœur, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II, Freiburg/München: Karl Alber, 1971; Joachim Ringleben, Hegels Theorie der Sünde. Die subjektivitätslogische Konstruktion eines theologischen Begriffs, Berlin/New York: de Gruyter, 1977 (TBT; 31); Heinrich Maria Köster, Urstand, Fall und Erbsünde. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1982 (HDG; II.3c); Ders., Urstand, Fall und Erbsünde in der katholischen Theologie unseres Jahrhunderts, Regensburg: Verlag Friedrich Pustet, 1983; Jürgen Werbick, Schulderfahrung und Bußsakrament, Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag, 1985; Wolfhart Pannenberg, STh II, 266–314; Christof Gestrich, Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt. Die christliche Lehre von der Sünde und ihrer Vergebung in gegenwärtiger Verantwortung, Tübingen: Mohr, 2 1996, 33–193: Kap. II. Zum Problemstand in der Lehre von der Sünde und vom Bösen; Julia Knop, Sünde – Freiheit – Endlichkeit. Christliche Sündentheologie im theologischen Diskurs der Gegenwart, Regensburg: Verlag Friedrich Pustet, 2007 (ratio fidei; 31); Eilert Herms, STh (Bd. 1), 758–768; Wilfried Härle, Dogmatik5 , 459–494. – Zur exegetisch-theologischen Erklärung des für die Geschichte der christlichen Lehre von der Sünde wohl wichtigsten Textes Röm 1,18–3,20 vgl. zuletzt Michael Wolter, Der Brief an die Römer. Teilband 1: Röm 1–8 (wie Anm. 3) z. St.: Nach Wolter bewertet der Apostel Paulus das „In-derSünde-Sein“ sowohl der „Juden“ als auch der „Griechen“ als das Unterdrücken der „Wahrheit durch Ungerechtigkeit“ (Röm 1,18; 1,19-32; 2,1-29). 25 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (W IV, 665). 26 Vgl. Klaus Hock, Art. Sünde/Schuld und Vergebung II. Religionswissenschaftlich: RGG4 7, 1869–1871. – Unter den Beiträgen zur Forschung ragt hervor: Raffaele Pettazzoni, La confessione dei peccati, 3 Bde., 1929–1936. – Die verschiedenen „‚Mythen‘ vom Anfang und vom Ende“ (verstehe: des Bösen) interpretiert im Lichte seiner Theorie des Symbols Paul Ricœur, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II (wie Anm. 24), 183–393. Sein philosophisches Interesse,

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins

mannigfache Formen der Entlastung aus, ohne die es in der jeweiligen Gemeinschaft keinen Frieden geben könnte. Im Sinnraum und Verstehenshorizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft und ihres Zeugnisses in ihrer Frömmigkeit und in ihrer schriftlichen Überlieferung bewegt sich auch der christliche Glaube an Gottes versöhnendes Walten im Christus Jesus unserem HErrn. Nicht nur im Spektrum der Religionsgeschichte, sondern auch im Kontext der philosophischen Lebenslehren der alten und der neuen Zeit ist seine Einsicht in die Schuldfähigkeit des Menschen und in deren Grund allerdings singulär und provokativ. Sie – diese Einsicht – ist es deshalb, weil sie sich dem Bewusstsein der Aufhebung des Bösen, der Aufhebung des verschuldeten Leids und damit des erlittenen Leids durch Gott selbst verdankt. Als solche ist sie „innergeschichtlich unüberholbar“ (Eilert Herms; vgl. Apk 21,1-5). Ich hatte eingangs dies Bewusstsein der Aufhebung des Bösen mit dem zutiefst anrührenden Zeugnis des Apostels Paulus von der Gewissheit der Wahrheit des „Wortes von der Versöhnung“ (2Kor 5,19) illustriert. Es vertieft die alte Klage, dass die Welt im Argen liege, in radikaler Weise, indem es das je meinige Schuldbewusstsein vertieft; und zwar im Sinne des Bewusstseins einer „Wurzel der Sünde“ – eines stets wirksamen Grundes dafür, dass die je individuelle Lebensgeschichte in ihrer Verstrickung ins Leben ihrer jeweiligen Gesellschaft zum Bösen geneigt27 und dass die Geneigtheit zum Bösen unbeherrschbar ist (vgl. Gen 4,7). Das deutsche Begriffswort „Sünde“ bezieht sich keineswegs auf etwas Nebensächliches oder gar Lächerliches. Es hat vielmehr verschiedene Phänomene des leibhaften Person-Seins zum Gegenstand, die selbst dann zweifelsfrei erfahrbar sind, wenn man sie nicht im Licht der christlichen Anschauung des Lebens und der Wirklichkeit beschreiben wollte. Diese zweifelsfrei erfahrbaren Phänomene „die überethische Dimension des Fallmythos“ als „Grenze jeder ‚Philosophie des Willens‘“ (393) aufzuweisen, konvergiert mit der reformatorischen Lehre von der Unfreiheit des Wählen-Könnens (vgl. bes. 175–181). 27 Vgl. Gen 8,21: „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ – Im Gegensatz zu späteren philosophischen Diskursen spricht Immanuel Kant im „Ersten Stück“ der Religionsschrift eindringlich „von dem Hange zum Bösen in der menschlichen Natur“ (W IV, 675–680), die er insbesondere festmacht an der derjenigen „Verkehrtheit (perversitas) des menschlichen Herzens“, welche die „Denkungsart … in ihrer Wurzel (was die moralische Gesinnung betrifft) verderbt“ (W IV, 677). – Im Rahmen seiner Metapsychologie hat Sigmund Freud nachdrücklich die Hypothese eines „Todestriebs“ entwickelt; vgl. bes. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Sigmund Freud, Das Unbewußte. Schriften zur Psychoanalyse. Hg. von Alexander Mitscherlich, Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, 1960, 339–415; 391: „Denn die Kindlein, sie hören es nicht gerne, wenn die angeborene Neigung des Menschen zum ‚Bösen‘, zur Aggression, Destruktion und damit auch zur Grausamkeit erwähnt wird.“ Im Gegensatz zu Kants Beschreibung der „Verkehrtheit (perversitas) des menschlichen Herzens“ führt Freud die Hypothese eines „Todestriebs“ allerdings auf somatische und d. h. auf animalische Impulse zurück. – Zum Stand der aussertheologischen Aggressionsforschung vgl. Hans-Jürgen Fraas, Art. Aggression: RGG4 1, 183–184.

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des leibhaften Person-Seins führen ins Zentrum des christlichen Verstehens der Abgründe des Mensch-Seins.28 Dem christlichen Verstehen der Abgründe des Mensch-Seins nämlich ist es evident, dass sie bedingt sind und bestimmt sind durch die Ungewissheit der Person hinsichtlich des unbedingten Heilssinnes des dreieinen Gottes und dessen Ziels, das schöpferische und das versöhnende Walten jenseits des Todes und durch den Tod hindurch zu vollenden. Ihretwegen umschreibe ich die paulinische Verwendungsweise des Begriffs der Sünde mit dem Ausdruck „In-der-Sünde-Sein“ im Sinne des Sich-Verstehens der Person vor dem bzw. außerhalb und jenseits des „In-Christus-Seins“.29 Um nun die Phänomene der Sünde als des stets wirksamen Grundes unserer verfehlten und verwerflichen Entscheidungen und Handlungen aufzuzeigen, beginne ich mit einer theologiegeschichtlichen Skizze, die den tradierten Begriff der „Erbsünde“ („peccatum originale“) destruiert. Ich modifiziere diesen Begriff nach dem Vorbild Friedrich Schleiermachers und Søren Kierkegaards im Licht der Theorie des Selbstbewusstseins der Person und ihrer ihr von Gott dem Schöpfer gegebenen Bestimmung (3.3.1). Auf dieser Basis setze ich ein mit einer Analyse der Angst (3.3.2), der ich die Analyse der Scham zur Seite stelle (3.3.3). Ausgehend von diesen Analysen entwickle ich sodann die Unterscheidung zwischen dem Begehren und der Begierde (3.3.4). Sie macht es möglich, typische Grundformen des „In-derSünde-Seins“ zu beschreiben: die Haltungen des Lasters (3.3.5), die unwillkürliche Bereitschaft zum Zorn, zum Hass und zur Gewalt (3.3.6). Sie alle indizieren jene radikale Selbstverfehlung, die ich in einem Fazit zusammenfassen werde, das das Bekenntnis des Psalms 51 zur Geltung bringt (3.3.7). Die weitere Darstellung wird zu zeigen haben, was der Christus-Glaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen unter Gottes versöhnendem Walten versteht, das jene radikale Selbstverfehlung der Person im Christus Jesus aufhebt, heilt und überwindet (3.4; 3.5).

28 „Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“: Georg Büchner, Woyzeck (Handschrift 2, Szene 8). Ich verdanke den Nachweis dieser Stelle meiner lieben Freundin Renate Stauf. 29 Vgl. bes. Röm 14,23: „Was aber nicht aus dem Glauben kommt, das ist Sünde (verstehe: ‚In-derSünde-Sein‘)“ (vgl. hierzu Michael Wolter, Der Brief an die Römer. Teilband 1 [wie Anm. 3], z. St.). – Wenn Martin Luther (z. B. WA 31 I; 148,1) und wenn Jean Calvin (Inst. II, 1,3 [OS 3, 271–290]) im Anschluss daran das „In-der-Sünde-Sein“ als „Unglaube“ interpretieren, so unterscheiden sie nicht klar und deutlich genug zwischen dem „Nicht-Glauben“ als einem allgemeinen anthropologischen Sachverhalt und dem Christus-Glauben, der nach dem Apostel Paulus nicht vor Anfechtung, vor Zweifel und – wie die Geschichte der christlichen Kirchengemeinschaften erschütternd beweist – vor Missverstehen gefeit ist. Vgl. hierzu Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (W IV, 678), und Wolfhart Pannenberg, STh II, 288f.

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins

3.3.1

Kritik des Begriffs der „Erbsünde“30

Im Christus-Glauben in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) sind wir der Wahrheit des Evangeliums von des dreieinen Gottes unverbrüchlichem Heilssinn gewiss. Die Feier dieses Evangeliums im Gottesdienst und im Kirchenjahr, die Formen der Unterweisung in Schule und Gemeinde, die Praxis der Seelsorge und der Diakonie sowie die reflektierte systematische Besinnung auf dem Forum der gesellschaftlichen Öffentlichkeit schließen allerdings stets die Einsicht in die radikale Versöhnungsbedürftigkeit des Menschen ein. Von dieser Einsicht handelt das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments auf eine geradezu bestürzende Weise.31 Würden wir diese Einsicht nicht für die gegenwärtige Selbsterfahrung erschließen können, so würden wir auch nicht plausibel machen können, dass Gottes des Schöpfers versöhnendes Walten just durch die Reue, durch die Buße, durch die Umkehr in die „Neuheit des Lebens“ (Röm 6,4) führt. Dieses zentrale Thema der Botschaft der Christus-Gemeinschaft an die „Welt von heute“ ist weder vom Spektrum der psychotherapeutischen Schulen noch vom Diskurs der Philosophien der Praxis obsolet gemacht. Wenn ich im Folgenden das Wesen bzw. das Unwesen der Sünde und ihre Manifestationen im Leben interpretiere, so setze ich mit einem kritischen Blick auf die tradierte Unterscheidung zwischen einem status integritatis und einem status corruptionis ein, die jedenfalls die Frömmigkeits- und Lehr-Geschichte des lateinischen Christentums schwer belastet.32 Im Rahmen seiner Redaktion der „Urgeschichte“ Gen 1,1–11,32 erzählt der Autor mittels mythischer Motive einen für das Menschengeschlecht als ganzes und für dessen Geschichte unter Gottes Vorsehung typischen existentiellen Konflikt.

30 Vgl. zum Folgenden bes.: Dietrich Bonhoeffer, Akt und Sein. Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie ([1931] DBW 2); Ders., Schöpfung und Fall. Theologische Auslegung von Genesis 1 bis 3 ([1933] DBW 3); Paul Ricœur, Die „Erbsünde“ – eine Bedeutungsstudie, dt. in: Ders., Hermeneutik und Psychoanalyse. Der Konflikt der Interpretationen II, München: Kösel-Verlag, 1974, 140–161; Tom Kleffmann, Die Erbsündenlehre im sprachtheologischen Horizont. Eine Interpretation Augustins, Luthers und Hamanns, Tübingen: Mohr Siebeck, 1994 (BHTh; 86); Christof Gestrich, Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt (wie Anm. 24), 196–298: Kap. III. Systematische Entfaltung: Was ist Sünde?; Ders., Peccatum – Studien zur Sündenlehre, Tübingen: Mohr Siebeck, 2003. 31 Vgl. hierzu bes. Rolf P. Knierim, Art. Sünde II. Altes Testament: TRE 32, 365–372; Martin Karrer, Sünde IV. Neues Testament: ebd. 375–389. 32 Vgl. zum Folgenden bes.: Julius Gross, Geschichte des Erbsündendogmas. Ein Beitrag zur Geschichte des Problems vom Ursprung des Übels. 4 Bde., München/Basel: Reinhardt, 1960–1972; Christof Gestrich, Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt (wie Anm. 24), 102–159; Wolfhart Pannenberg, STh II, 266–274.

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Seine Erzählung geht wie selbstverständlich aus von dem ursprünglich Guten und Lebensdienlichen des schöpferischen Waltens des göttlichen Geistes, der leibhaftes Person-Sein im ungeheuren All des Seienden sein und werden lässt (Gen 1,31). Sie mündet gleichwohl in die Diagnose, dass sich das Menschengeschlecht von allem Anfang an bestimmen lässt von jener Macht der Bosheit (vgl. Gen 6,5; 8,21), die in Kains Mord an seinem Bruder Abel offenkundig wird (Gen 4,1-16). Wie dieser Widerspruch zwischen dem ursprünglich Guten und Lebensdienlichen des leibhaften Person-Seins und jener prototypischen Verschränkung des erlittenen und des verschuldeten Leids überhaupt möglich werden kann, das fasst er in die tiefsinnige Erkenntnis: „Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist.“ (Gen 3,22a)!33 Die Redaktion der „Urgeschichte“, die seit dem Schluss des Doppel-Kanons der ganzen Heiligen Schrift wie ein Prolog das Zeugnis vom versöhnenden und vom vollendenden Walten des dreieinen Gottes eröffnet, bringt die Erfahrung jenes existentiellen Konflikts bzw. jenes Widerspruchs in die Form der Erzählung. In ihrer Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte wurde diese ihre narrative Strategie bis in die europäische Neuzeit gründlich missverstanden. Bereits die sog. AdamChristus-Typologie, die in dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde zu Rom die zentrale Rolle spielt (Röm 5,12-21), handelt ganz selbstverständlich von dem geschichtlichen Ereignis, in welchem „durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist“ (Röm 5,12). Diese steile These bringt die kirchlich-theologische Reflexionsgeschichte spätestens seit Tertullian dazu, einen Zusammenhang zu behaupten zwischen der „Sünde des Einen“ und der „Verdammnis über alle Menschen“ (Röm 5,18): einen Zusammenhang, der für den Apostel Paulus wegen der Herrschaft des Todes (Röm 5,14.17) zweifelsfrei gegeben ist. Namentlich Augustin hat diesen Zusammenhang präzise darin gesehen, dass das Menschengeschlecht als eines und als ganzes „in Adam“ und in dessen frei-willentlicher Entscheidung gegen das Gebot Gottes des Schöpfers präsent gewesen sei; das „Erbe“ dieser seiner freiwillentlichen Entscheidung und deren Allgemeinheit ist mithin eher juridisch als genetisch vorgestellt.34 Gleichwohl treibt diese Deutung des „In-der-Sünde-Seins“

33 Vgl. zur „Urgeschichte“ bes. Jörg Jeremias, Theologie des Alten Testaments, Göttingen/Bristol: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015 (Grundrisse zum Alten Testament; 6), 338–350; 482–483. Nach Jeremias ist die sog. „J“-Urgeschichte (Gen 2–3) älter als die priesterliche Urgeschichte „P“ und umfasste auch die Sintfluterzählung (Gen 6,1–9,17). 34 Vgl. bes. Augustin, De civitate Dei, XIII,14: „Omnes enim fuimus in illo uno, quando omnes fuimus ille unus … Nondum erat nobis singillatim creata et distributa forma, in qua singuli viveremus; sed iam erat natura seminalis, ex qua propagaremur.“ („Alle nämlich waren wir in jenem Einen, als wir alle jener Eine waren … Zwar war die Wesensgestalt, in der wir je als Einzelne leben würden, noch nicht für uns im einzelnen geschaffen und verteilt; aber es gab schon jene ursprüngliche Natur [verstehe: des Mensch-Seins], aus der wir alle hervorgehen würden“ [meine Übersetzung]).

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins

der Person in die unlösbare Aporie, dass die je individuelle Lebensgeschichte für eine Un-Tat haftet, die sie nicht verschuldet hat. Die systematische Besinnung auf die Wahrheit des Evangeliums von Gottes des Schöpfers versöhnendem Walten steht deshalb vor der Frage, ob und wie sie das Allgemeine des menschlichen „In-der-Sünde-Seins“ plausibel machen kann, ohne in jener unlösbaren Aporie gefangen zu bleiben. Die kirchlich-theologische Reflexionsgeschichte müht sich um der Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums willen damit ab, einerseits das Gute und das Lebensdienliche des leibhaften Person-Seins und namentlich dessen freien Wahlund Entscheidungsvermögens festzuhalten und andererseits der Gnade des „InChristus-Seins“ gerecht zu werden, die zu bejahen und von ganzem Herzen zu lieben in der Grundsituation des „In-der-Sünde-Seins“ – in der Verstrickung in den Zusammenhang von erlittenem Leid und verschuldetem Leid – gerade ausgeschlossen ist. Wir kommen deshalb nicht darum herum, die kirchlich-theologische Reflexionsgeschichte jedenfalls in der lateinischen Christenheit als eine ebenso ernste wie hochproblematische Geschichte zu lesen und zu beurteilen, die das Verhältnis zwischen dem Guten und Lebensdienlichen der Natur des Mensch-Seins und der Gratuität des „In-Christus-Seins“ nicht angemessen zu erfassen vermag. Noch der erbitterte Streit zwischen der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders, wie sie die reformatorische Bewegung formuliert, und der römisch-katholischen Reform des Konzils von Trient bewegt sich in dem Bannkreis jener Aporie, „durch den Ungehorsam des einen Menschen (seien) die Vielen zu Sündern geworden“ (Röm 5,19).35 Die kirchlich-theologische Aufklärung in Deutschland hat diese Aporie mit weitreichender Wirkung aufgedeckt. Vorbereitet durch die Kritik, die bereits Fausto Sozzini bzw. Hermann Samuel Reimarus vorgetragen hatten, wiesen Johann Gottlieb Töllner, Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Franz Volkmar Reinhard,

35 Vgl. als wichtige Quellen der Lehrbekenntnisse der lutherischen Reformation: CA II (BSLK 53,2–8); CA XIX (BSLK 75,2–6); ApolCA II (BSLK 148,13; 149,12f.); FC I (BSLK 770,32f.); SD I (BSLK 852,11f.). Zum Verständnis der Sünde in der reformierten Reformation vgl. bes. Jean Calvin, Inst. 1559, II, 1,1–3; 1,4; 1,6; 1,8 (OS 3, 228–290; 291–297; 320–326; 343–398). – Vgl. demgegenüber das „Decretum de peccato originale“ des Konzils von Trient: DH 1510–1516 (mit dem Spitzensatz: das peccatum originale bestehe in der Sünde Adams, „quod origine unum est et propagatione, non imitatione transfusum omnibus inest unicuique proprium“ (DH 1513 [„welche ursprünglich eine ist und durch Fortpflanzung, nicht durch Nachahmung übertragen allen einwohnt als einem jeden (verstehe: Menschenleben) eigene“]). – Zur exegetisch-theologischen Erklärung des schwierigen Gedankengangs von Röm 5,12-21 vgl. jetzt Michael Wolter, Der Brief an die Römer. Teilband 1 (wie Anm. 3), zu Röm 5,18.19: „Mit dem Adamsgeschehen hat das Christusgeschehen gemeinsam, dass in beiden Fällen das Verhalten eines einzigen Menschen das Geschick aller Menschen bestimmt…“ (355).

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Joachim Jakob Spalding und manche andere dieses Verständnis des „peccatum originale“ mit dem Argument zurück, ein Schuldvorwurf sei dann und nur dann begründet, wenn man die Un-Tat einem verantwortlichen Subjekt kraft seiner frei-willentlichen Entscheidung zurechnen könne. Lapidar erklärte Töllner: „Wir haben in Adam nichts verloren“. Allerdings hatte die Kritik der kirchlich-theologischen Aufklärung am Verständnis des „peccatum originale“ ihrerseits prekäre Konsequenzen. Zum einen deshalb, weil sie das biblische Begriffswort „Sünde“ ganz überwiegend im Sinne eines Sammelbegriffs für individuelle Verfehlungen erfasst, die das gebotene sittlich Gute verletzen. Und zum andern deshalb, weil sie den Christus Jesus im Wesentlichen als den Lehrer bzw. als das Vorbild des sittlich Vollkommenen predigt und damit Gottes des Schöpfers versöhnendes Walten drastisch verkürzt. Auf die Frage, ob es nicht einen stets wirksamen und latenten Grund und damit eine „Wurzel“ bzw. ein Motiv aller Verfehlungen gebe, fand diese Kritik keine überzeugende Antwort. Sie ist zumal in Kenntnis der unfassbaren Gräuel und Verbrechen in der Epoche der euro-amerikanischen Moderne und angesichts des Dilemmas ihrer ökonomischen Systeme an Blauäugigkeit nicht zu überbieten. Eine überzeugende Antwort auf diese Frage ist nun aber wie gesagt für die systematische Besinnung auf die Wahrheit des Evangeliums von Gottes des Schöpfers versöhnendem Walten im Christus Jesus durch den Heiligen Geist und auf das Wirksam-Werden der Gewissheit dieser Wahrheit schlechterdings notwendig. Eine solche Antwort wird zu finden sein, wenn wir das „In-der-Sünde-Sein“ des Menschen als diejenige Weise des geschaffenen Person-Seins erfassen, das sich selbst faktisch notwendig verfehlt, sofern es seine Bestimmung zur selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit seinem schöpferischen Grund und Ursprung und damit seine Bestimmung zum Zusammenleben des Menschengeschlechts in gerechtem Frieden verfehlt. Die biblischen Beschreibungen des „In-der-Sünde-Seins“ bedürfen mithin einer Interpretation, welche die Möglichkeit des „In-der-Sünde-Seins“ und dessen unwiderstehliche Macht in der geschaffenen Struktur des Selbst-Seins der Person aufdeckt: sie bedürfen also einer Interpretation, die das Sich-Verstehen der Person in ihren wesentlichen Relationen ins Zentrum stellt. Erst eine solche Interpretation wird zeigen können, dass und warum der Christus-Glaube – das „In-Christus-Sein“ der Person – „neue Schöpfung“ (2Kor 5,17) ist, weil er wie angefochten und wie vorläufig auch immer „aus der Wahrheit ist“ (Joh 18,37).36 Dass dieser Christus-Glaube

36 Ich plädiere mithin für diejenige allgemeine bzw. öffentliche Verständigung über die unbezweifelbare Verstrickung in den Zusammenhang von erlittenem Leid und verschuldetem Leid, die nach deren transzendentalem Grund im leibhaften Person-Sein fragt. Eine solche subjektivitätstheoretisch ausgewiesene Lehre von der „Wurzel“ der Erscheinungsformen der Sünde hat im Rückgriff auf Augustin, auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel und auf Søren Kierkegaard vorgelegt Wolfhart

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins

die Verheißung eines ewigen Bundes, wie sie die „Bundestheologie“ der Priesterschrift artikuliert, ebenso voraussetzt wie erfüllt, wird im Übergang zum Abschnitt 3.5 (Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes“) einzuschärfen sein.37 Nun ist, wie wir gesehen haben (s. o. 2.4.2.1), die geschaffene Struktur des SelbstSeins der leibhaften Person von ihrem Anfang in der Verschmelzung der Gameten an in ihrer jeweils individuellen Bildung und Entwicklung begriffen. In dieser ihrer jeweils individuellen Bildung und Entwicklung ist die Geneigtheit der Person zum Bösen – ihr abstraktes Selbst- bzw. Lebensinteresse – de facto stets das Frühere, das der Beherrschung, der Begrenzung und der lebenslangen Überwindung zutiefst bedürftig ist. Sie ist das Unreife eines Lebenswillens, der sich hinsichtlich der geschaffenen Struktur des leibhaften Person-Seins und hinsichtlich ihrer objektiven Bestimmung de facto täuscht und damit sich verfehlt. Im Banne dieser Selbst-Täuschung bzw. dieser Selbst-Verfehlung wird das freie Wählen- und Entscheiden-Können der Person mitnichten aufgehoben; es wird allerdings bestimmt von der Geneigtheit der Person zum Bösen, sofern es nicht beherrscht, begrenzt und endlich überwunden wird. Ich hatte diese schmerzliche Erkenntnis als die fundamentalanthropologische Pointe der Lehre Martin Luthers von der „Unfreiheit des freien Wählens und Entscheidens“ herausgestellt (s. o. Anm. 215). Um auf dem Boden der Kritik des Begriffs der Erbsünde die vielfach vergessenen, verschwiegenen und verdrängten Phänomene des „In-der-Sünde-Seins“ zu erhellen, analysiere ich im Folgenden die Aspekte der Angst (3.3.2), der Scham (3.3.3), der Begierde (3.3.4), der Laster (3.3.5), der unwillkürlichen Bereitschaft des Zorns, des Hasses und der Gewalt (3.3.6). Namentlich die Analyse der Gewaltbereitschaft wird zeigen, inwiefern das Allgemeine des „In-der-Sünde-Seins“ als individuelles Allgemeines zugleich als sozio-kulturelles Allgemeines zu betrachten ist. Meine Zusammenfassung wird erklären, dass allein die religiöse Kommunikation des Evangeliums von Gottes des Schöpfers versöhnendem Walten durch Gottes Heiligenden Geist im Schutz der Institutionen des Rechts das „In-der-Sünde-Sein“ der Person wirksam aufhebend zu überwinden vermag (3.3.7).

Pannenberg, STh II, 274–290. Vgl. hierzu bes. Christine Axt-Piscalar, Ohnmächtige Freiheit. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Sünde bei August Tholuck, Julius Müller, Sören Kierkegaard und Friedrich Schleiermacher, Tübingen: Mohr Siebeck, 1996 (BHTh; 94). 37 Vgl. hierzu bes. Jörg Jeremias, Theologie des Alten Testaments (wie Anm. 33), 484–485, zum Verhältnis zwischen der Bundestheologie der Priesterschrift und der an JHWHs Offenbarung am Sinai orientierten deuteronomistischen Theologie!

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„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)

3.3.2

Angst38

In der Besinnung auf die Phänomene des „In-der-Sünde-Seins“ tun wir nun einen ersten Schritt: wir wenden uns dem Phänomen des menschlichen Empfindens und Erlebens zu, das wir im Deutschen mit dem Begriffswort „Angst“ bezeichnen. Das Phänomen, das wir mit diesem Begriffswort bezeichnen, ist uns aus eigenem Empfinden und Erleben wohlvertraut. Wie anderen höheren Lebewesen, die sich vermöge ihres zentralen Nervensystems in ihrer Umwelt orientieren, gibt das Gefühl der Angst uns Menschen eine Bedrohung zu verstehen, die unwillkürlich Reaktionen des Organismus auslöst. Um zu begründen, warum ich das Phänomen der Angst als erstes im Zusammenhang der Phänomene des „In-der-Sünde-Seins“ betrachte, frage ich, von welcher Art und Weise diese Bedrohung ist. Auf diese Frage lässt sich eine Antwort finden, wenn wir zurückgehen auf das Phänomen des leibhaften Person-Seins; ich hatte es als das endliche „Sich-gegenwärtig-Sein“ bestimmt. Wenn die deutsche Sprache wie andere indogermanische Sprachen zwischen dem Erleben der Furcht und dem Erleben der Angst unterscheidet, so hat das seinen guten phänomenalen Grund. Sowohl das Erleben der Furcht als auch das Erleben der Angst ergreift uns je in unserer jetzigen Gegenwart stets dann, wenn wir für unsere zukünftige Gegenwart Bedrohliches, Furchtbares, Entsetzliches erwarten; jedoch besteht zwischen dem Sich-Fürchten und dem Sich-Ängstigen ein gravierender Unterschied. Wovor wir uns in unserer jetzigen Gegenwart fürchten, ist offensichtlich das Bedrohliche, dem wir uns durchaus gewachsen zeigen bzw. dem wir Kampf und Widerstand entgegensetzen können: sei es, indem wir uns dagegen sichern und versichern; sei es, indem wir rechtliche oder ärztliche, seelsorgliche oder therapeutische Hilfe suchen. Empfinden wir und erleben wir Furcht, so fühlen wir uns nicht

38 Vgl. zum Folgenden bes.: Søren Kierkegaard, Der Begriff der Angst (wie Anm. 24); Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 9 1960; Paul Tillich, Der Mut zum Sein (1952), dt. Stuttgart: Steingrüben Verlag, 1953, 29–64 (= GW 11, 13–139); Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München: R. Piper & Co. Verlag, 1968; Axel Michaels/Joachim Ringleben/Heiko Schulz/James E. Loader, Art. Angst/ Furcht I.–IV.: RGG4 1, 496–499; Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1983, bes. 98ff.; 127ff.; 146f.; Ders., STh II, 286ff.; Kirsten Huxel, Das Phänomen Angst. Eine Studie zur theologischen Anthropologie, in: NZSTh 47 (2005), 35–57; Christoph Demmerling/Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart/Weimar: Verlag J. B. Metzler, 2007, 63–91; Eilert Herms, Handeln aus Gewißheit. Zu Martin Heideggers Phänomenologie des Gewissens, jetzt in: Ders., Erfahrung und Metaphysik. Lektüren aus Theologie, Philosophie und Literatur, Tübingen: Mohr Siebeck, 2018, 626–654; Wilfried Härle, Dogmatik5 , 483–487.

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins

schlechthin in unserem „Uns-gegenwärtig-Sein“, in dessen Dauer und in dessen Handeln-Können bedroht. Anders steht es mit uns, wenn wir Angst empfinden und erleben. Im Gegensatz zum Fürchten, das sich auf ein „Objekt“ bezieht – auf eine zukünftige Situation, die mich in meiner jetzigen Gegenwart bedrohlich angeht –, ist das Sich-Ängstigen ein teils diffuses teils ungeheuer intensives Selbstgefühl. Es ist ein ungeheuer intensives Selbstgefühl, wenn wir uns in der jeweils jetzigen Gegenwart für alle künftigen Gegenwarten nahezu ausweglos in die Enge getrieben fühlen; es ist ein ganz diffuses Selbstgefühl, wenn wir des Risikos des Scheiterns oder gar des Gescheitert-Seins gewahr werden. Wer sich in dieser wie in jener Weise unwillkürlich ängstigt, sieht sich in dieser seiner bzw. in dieser ihrer jeweils jetzigen Gegenwart ohnmächtig eingesperrt. Es scheint in dieser jeweils jetzigen Gegenwart keine Chance mehr zu geben, ihr Dauern zu verstehen und deshalb Mögliches zu planen, zu entscheiden und zu verwirklichen. Wir empfinden und wir erleben jedoch Angst nicht etwa nur um uns selbst; wir ängstigen uns vielmehr auch um alle die Nächsten, um alle die Anderen, die unsere Anderen sind. Empfinden und erleben wir Angst um sie, so deshalb, weil uns jede Macht genommen ist, ihnen in ihrer Not – in einer Panik, in einem Krieg, in einem Konzentrationslager, in einem lebensbedrohlichen Unfall oder Unglück bzw. in einer schweren Krankheit – mit unserer Hilfe beizustehen. Indem wir uns um sie ängstigen, empfinden und erleben wir unsere Ohnmacht.39 Es ist beileibe nicht resignativ, Ohnmacht zu empfinden und zu erleben. Ohnmacht erzeugt vielmehr traumatisches seelisches Leid, das sich im weiten Spektrum unserer Verstimmungen niederschlägt. Auch wenn sich dieses Trauma nicht in den akuten depressiven Schüben bzw. in der Vielfalt der Phobien äußert, bewirkt es doch jene tiefe Verdunkelung des Selbstgefühls, auf die uns der Begriff der Melancholie aufmerksam macht. Sie zu verstehen und sie mitzuteilen, ist schon der Anfang des Gesundens. Im Erleben der Angst ist uns das hohe Gut des leibhaften Person-Seins und seiner objektiven Bestimmung zur selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott und Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen und damit für das menschliche Zusammenleben in gerechtem Frieden schlechthin verstellt.40 Angst ist das elementare

39 Dieser Aspekt des Phänomens der Angst findet sich in den kollektiven Stimmungen der Angst, wie sie sich in der Gewaltherrschaft der Diktaturen verbreiten, in denen jeder rechtliche Schutz versagt. 40 Paul Tillich hat daher seine „Ontologie der Angst“ auf die Analyse der Verzweiflung hin zugespitzt: Paul Tillich, Der Mut zum Sein (wie Anm. 38), 44. – Michael Theunissen, Melancholisches Leiden unter der Herrschaft der Zeit, in: Ders., Negative Theologie der Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991 (stw; 938), 218–281, hat im Anschluss an und in Auseinandersetzung mit der psychiatrischen Krankheitslehre chronische bzw. pathologische Erscheinungen der Angst als „Zeitkrankheit“ gedeutet, in der das Leben unter der Herrschaft der Zeit in krankhafter Weise eben nur erlitten werde.

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„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)

Indiz dafür, dass wir des unbedingten Heilssinns Gottes des Schöpfers noch nicht in der Tiefe des Selbstgefühls gewiss geworden sind. Insofern ist meine Beschreibung der Angst ebenso wie die folgende Analyse der Scham für die Besinnung auf das biblisch-christliche Bewusstsein der Sünde deshalb so entscheidend wichtig, weil sie den vor- bzw. den außermoralischen Sinn des „In-der-Sünde-Seins“ zur Klarheit bringt. Vergleichen wir diese meine Beschreibung des Phänomens der Angst in der gebotenen Kürze mit der Beschreibung, die wir Martin Heidegger verdanken. Dieser Vergleich wird zu der prinzipiellen Frage führen, ob eine Darstellung des Negativen wirklich erhellende Kraft besitzt, die von dem biblisch-christlichen Bewusstsein des „In-der-Sünde-Seins“ grundlos absieht. In seinem frühen Hauptwerk „Sein und Zeit“ von 1927 hat Martin Heidegger dem Phänomen der Angst im Rahmen seiner fundamentalen Analyse des Daseins (verstehe: des menschlichen Daseins) eine Schlüsselrolle zuerkannt.41 Diese Analyse bereitet die Interpretation der Zeitlichkeit des Daseins vor, mit der „Sein und Zeit“ abbricht. Um dieser Aufgabe willen sucht sie Angst als eine „Grundbefindlichkeit“ und zwar als eine „ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins“ (184 [Kursivierung im Original]) verständlich zu machen. Das ist für diesen Autor deshalb unabweisbar, weil das Dasein im normalen Trott des Alltags vor dieser seiner Erschlossenheit geradezu flieht: es flieht „vor ihm selbst als eigentlichem Selbst-sein-können“ (184). Für die alltägliche Flucht-Bewegung verwendet Heidegger durchweg den Ausdruck „Uneigentlichkeit“, den wir als Existieren in der Unwahrheit bzw. als Existieren in der Selbst-Täuschung übersetzen dürfen. Ist uns in der alltäglichen FluchtBewegung verschlossen, was eigentliches und d. h. was wahres „Selbst-sein-können“ ist, so fragt es sich, ob wahres „Selbst-sein-können“ überhaupt bestimmbar sei. Es ist nach Heidegger bestimmbar, wenn wir die Angst als die „erschließende Befindlichkeit“ (185) bzw. als die Stimmung deuten, die uns wahres „Selbst-sein-können“ und damit Existieren in der Wahrheit zeigt. Inwiefern? Im Unterschied zum Erleben der Furcht, das ganz und gar von den Bedrohungen durch innerweltlich Seiendes hervorgerufen wird (185f.), gilt nach Heidegger: Anders als das Leben in der „Zeitkrankheit“ ereigne sich das gesunde Leben, das dem Erleben der Angst gewachsen sei, in der prospektiven Vision einer Zukunft der „Freiheit von Zeit“. Theunissens hier skizzierte „Ontologie der realen Zeitherrschaft“ scheint mir allerdings den Charakter der von Gottes schöpferischem Geist geschaffenen Zeitlichkeit des menschlichen Daseins im Raum-ZeitKontinuum des Universums zu verkennen (s. o. S. 2.3.4.2). – Das Verhältnis von Furcht, Angst und Verzweiflung hatte Thomas von Aquino im Kontext der theologischen Tugend der Hoffnung dargestellt (vgl. Thomas von Aquino, STh 2–2 q 19; q 20). 41 Vgl. zum Folgenden Martin Heidegger, Sein und Zeit (wie Anm. 38). Nachweise aus diesem Werk sind im Text notiert. – Natürlich wäre in diesem Kontext auch der Vergleich mit der Analyse der Angst in Søren Kierkegaards Schrift „Der Begriff der Angst“ (1844) wichtig, die eine psychologische Überlegung bieten will im Interesse des dogmatischen Begriffs der Sünde.

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins

„Das Wovor der Angst ist das In-der-Welt-Sein als solches.“ (185 [Kursivierung im Original]). Die festgeprägte Formel „In-der-Welt-Sein“ (vgl. bes. 63–130) soll den prinzipiellen Gegensatz zwischen dem uneigentlichen Existieren in Unwahrheit und dem eigentlichen Existieren in Wahrheit bewusst machen; und zwar als Gegensatz zwischen zwei Weisen der Wahrnehmung des Realen. Während nämlich das uneigentliche Existieren in Unwahrheit mehr oder weniger unbekümmert vor sich hin lebt, wird das eigentliche Existieren in Wahrheit seiner Zeitlichkeit gewahr (231ff.; 301–333): es wird seines „Sich-gegenwärtig-Seins“ gewahr, in dem ihm sein „Sein zum Tode“ unentrinnbar gegenwärtig ist als unvertretbar (235–267). Mit der Formel „In-der-Welt-Sein“ möchte Heidegger mithin die Verfassung eines Seienden charakterisieren, das sich selbst als zeitliches Selbst erschlossen ist und das nun dennoch in der Lage ist, sich dieser seiner Verfassung zu verweigern bzw. sich gerade nicht zu ihr zu entschließen (267–301). Inwiefern ist es nun ausgerechnet die Angst, die diese sich-entschließende Übernahme des Daseins als zeitliches Selbst in seinem Sein zum Tode möglich macht? Sie macht es möglich, weil sie das Verstehen des eigentlichen „Selbst-seinKönnens“ vorbereitet, indem sie zur „daseinsmäßige(n) Bezeugung eines eigentlichen Seinkönnens“ (267–270 [Kursivierung im Original]) hinführt. Sie führt zu dieser „daseinsmäßige(n) Bezeugung“ hin, weil sie die Grundbefindlichkeit bzw. die Stimmung ist, die illusionslos der „Unheimlichkeit“ (189), des „Un-zuhause“ (ebd.), des Geworfen-Seins gewahr wird. In dieser Grundbefindlichkeit, in dieser Stimmung wird das Dasein des Rufes des Gewissens inne, der es zu nichts anderem ruft als zum Verstehen und Ergreifen seiner „Nichtigkeit“ (283). Ob – und wenn ja, unter welchen notwendigen Bedingungen – dieser Ruf tatsächlich auch Gehör findet: darüber schweigt sich der Verfasser aus. Ohne dass ich an dieser Stelle auf Heideggers Interpretation des Gewissens eingehen könnte, zeigt sich hier die Angst als diejenige ausgezeichnete Stimmung, in der der Umschwung aus dem uneigentlichen bzw. aus dem unwahren ins eigentliche bzw. ins wahre Selbst-sein-Können möglich wird.42 Sie ist die Chance der notwendigen Gewissheit, nichtig zu sein. Allerdings: nachdem der zweite Teil von „Sein und Zeit“, nämlich die Zeitlichkeit des Seins selbst und als solchen, ungeschrieben blieb, sind wir der Mühe überhoben zu erraten, wie Heidegger das ontologische Grundverhältnis zwischen dem „Sein-Selbst“ und dessen ewigem „Sich-gegenwärtig-Sein“ und dem menschlichen Dasein und dessen zeitlichem „Sich-gegenwärtig-Sein“ beschrieben haben würde. Soviel ist im Zusammenhang der systematischen Besinnung auf die Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums allerdings klar: die Analyse der Angst ist und

42 Vgl. hierzu Eilert Herms, Handeln aus Gewißheit (wie Anm. 38), bes. 634ff.; 646–653.

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bleibt in Heideggers frühem Hauptwerk abstrakt. Zum einen deshalb, weil sie ohne jede Rücksicht auf das Verstehen der eigentümlichen Zeitlichkeit des „SeinsSelbst“ entwickelt wird43 ; zum andern deshalb, weil sie das Verstehen des leibhaften Person-Seins – sein ursprüngliches Aus-Sein auf das hohe Gut, sich selbst in seinen wesentlichen Relationen zum Andern seiner selbst und zu seinem unendlichen Grund und Ursprung zu verhalten und zu vervollkommnen, mithin seine ihm aufgegebene Intention – entscheidend verfehlt. 3.3.3

Scham44

Gemäß dem tiefsinnigen Text der nicht-priesterlichen Paradies-Erzählung, die der Redaktor der „Urgeschichte“ komponiert, löst das verbotene Essen vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen augenblicklich das Gefühl der Scham aus: „Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, daß sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.“ (Gen 3,7; vgl. Gen 2,25).

In reflektierter Weise macht die Erzählung darauf aufmerksam, dass das Gefühl der Scham sich früher meldet als das ausdrückliche Schuldbewusstsein bzw. als die ausdrückliche Erfahrung des Gewissens. Kunstgeschichtlich inspirierend knüpft sie das Gefühl der Scham an die Entdeckung der Nacktheit der Geschlechtsmerkmale und erfasst es so als das Gefühl der Blöße. Allerdings indiziert das jeweils aktuelle Gefühl der Blöße, das kulturgeschichtlich variabel die Sexualität des menschlichen

43 Es ist das Interesse der systematischen Besinnung auf den christlichen Glauben an Gott, die spezifische und eigentümliche Zeitlichkeit des Seins-Selbst und als solchen darzulegen; und zwar in einer Weise, die die Intention des metaphysischen Denkens nicht etwa schlechthin destruiert, sondern sie vielmehr im Licht des endgültigen Offenbar-Werdens der Gottheit Gottes präzisiert (s. o. 2.3.4.2). – Eine solche systematische Besinnung auf Gottes Ewigkeit als die spezifische und eigentümliche Zeitlichkeit des Seins-Selbst und als solchen vermisse ich in dem Entwurf einer „vokativen Theologie“ von Christof Gestrich, Christentum und Stellvertretung. Religionsphilosophische Untersuchungen zum Heilsverständnis und zur Grundlegung der Theologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 2001, bes. 255–343. 44 Vgl. zum Folgenden bes.: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels „Lucinde“, KGA I.3, 139–216; Knud E. Løgstrup, Art. Scham: RGG3 V, 1383–1386; Max Scheler, Über Scham und Schamgefühl, in: Ders., Ges. Werke X, Bern 1957, 67–153; Matthias Heesch, Art. Scham: TRE 30, 65–72; Hans Peter Duerr, Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988; Kirsten Huxel, Art. Scham II. Ethisch: RGG4 7, 862–863; Christoph Demmerling/Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle (wie Anm. 38), 219–244; Jürgen Ruhnau, Art. Scham, Scheu: HWP 8, 1208–1215. – Man beachte im Zusammenhang der aktuell wachsenden Sorge um das Klima der Erde den Neologismus „Flugscham“.

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins

Organismus zu verhüllen motiviert, eine elementare Funktion der Scham, die wir erst im Rahmen des Begriffs des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins voll ermessen können (s. 2.4.2.2.1). Dieser Begriff lässt uns das Phänomen der Scham verstehen in der Struktur des individuellen Selbstverhältnisses in seiner Relation zu anderem individuellen Selbstverhältnis und in seiner Relation zum schöpferischen Grund und Ursprung unseres geschaffenen, leibhaften Person-Seins. Prima vista gesprochen scheint das Gefühl der Scham tatsächlich an der Scheu zu haften, die Sexualität des eigenen Leibes nackt zu präsentieren und die – gleichwohl verborgen anziehende – Sexualität des anderen Leibes nackt in den Blick zu nehmen. Doch reicht das jeweils aktuelle Gefühl der Scham weit über dieses Motiv hinaus. Wir schämen uns beispielsweise für Armut oder für Suchtverhalten, für Jähzorn oder für dummes Gerede, für die erlittene und erduldete Schande, missbraucht zu sein, oder für die unerwartete Gnade des Überlebens. Indem uns das Gefühl der Scham ergreift – und zwar unwillkürlich ergreift –, ergreift uns das Gefühl der Angst, das Ansehen in den Augen der Anderen und damit ihre Achtung zu verlieren. Im jeweils aktuellen Gefühl der Scham ist uns Beschämendes im Nachhinein präsent, ebenso wie es uns vor etwas Beschämendem hemmt. Es nötigt uns zu schweigen, sofern es nicht in einem Akt bewussten Wollens überwunden wird. Das jeweils aktuelle Gefühl der Scham offenbart Scham als einen wesentlichen Aspekt des unmittelbaren Selbstbewusstseins, des „Sich-gegenwärtig-Seins“ der leibhaften Person in ihrem Grundverhältnis zum „Sich-gegenwärtig-Sein“ der Anderen. Im Grundverhältnis des „Sich-gegenwärtig-Seins“ erleben wir uns wechselseitig als Wesen, deren seelisch-geistige Kommunikation und Interaktion des Mediums des je eigenen Leibes bedarf. Sie – diese seelisch-geistige Kommunikation und Interaktion – ist nicht nur deshalb fragil und labil, weil der je eigene Leib und dessen Sexualität sie unwillkürlich irritieren kann; sie ist es auch deshalb, weil sie den wechselseitigen Respekt vor jener Grenze bzw. vor jener Schranke fordert, die mit dem Intelligiblen der leibhaft existierenden Person gegeben ist. Indem wir Scham als wesentlichen Aspekt des unmittelbaren Selbstbewusstseins der Person verstehen, wird sie uns deutlich als ein Implikat der notwendigen Achtung, die wir einander schulden und die wir durch etwaige Übergriffe in die Sphäre des Anderen verletzen. Scham ist insofern das Minimum an Integrität, das wir einander in den privaten wie in den öffentlichen Beziehungen des Lebens unwillkürlich zugestehen, wenn auch wie gesagt auf fragile und labile Weise.45 In der Besinnung auf die duale Struktur des geschaffenen, des leibhaften PersonSeins hatte ich das unmittelbare Selbstbewusstsein bzw. das „Sich-gegenwärtig-Sein“ 45 In diesem Zusammenhang ist zu verweisen auf die anregende Theoriebildung von Didier Anzieu, Das Haut-Ich, dt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991, und von Micha Hilgers, Scham. Gesichter eines Affekts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 3 2006, die in verschiedener Weise Scham als Voraussetzung von Relationalität und damit von Sozialität verständlich machen.

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das Intelligible im Medium des je eigenen Leibes genannt (s. 2.4.2.1). In diesem ihrem Intelligiblen ist sich die Person im Kontext der Religionsgeschichte ihrer Faktizität und d. h. ihres Gewährt- und Geschaffen-Werdens von der schöpferischen Macht des Grundes und des Ursprungs ihrer selbst bewusst. Wir würden daher das Phänomen der Scham nur verkürzt beschreiben, wenn wir es reduzieren würden auf seine notwendige psychische Funktion für die Entwicklung emotionaler und sittlicher Reife. Es ist vielmehr in dieser seiner notwendigen psychischen Funktion das unwillkürliche Zeichen des Geistes des göttlichen Wesens, der das geschaffene, das leibhafte Person-Sein in seinen mannigfachen Gemeinschaften zur Gemeinschaft mit sich bestimmt (s. 2.4.2.3). Aus diesem Grunde besteht das jeweils aktuelle, das unwillkürliche Gefühl der Scham darin, die leibhaft existierenden Freiheitswesen zu hemmen und davor zu warnen, einander das Minimum an Integrität zu nehmen, das sie einander schulden. Wie die ausdrückliche Erfahrung des Gewissens und erst recht wie die ihrer selbst bewusste ernste Reue signalisiert es jene Fehlbarkeit des menschlichen Selbst- und Lebensinteresses, die selbst im Stand des Christus-Glaubens zeitlebens schwelt. 3.3.4

Begehren und Begierde

Im Glauben an den Christus Jesus des dreieinen Gottes ist es der ChristusGemeinschaft durch Gottes Heiligenden Geist als wahr gewiss, dass unsere je individuelle Verstrickung in die Sünde des Menschengeschlechts getragen ist: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ (Joh 1,29). Es ist deshalb von höchstem Interesse, jenen stets wirksamen Grund bzw. jenes unbeherrschbare Motiv zu verstehen, das anzusprechen die berechtigte Intention der mythischen Erzählung eines Sündenfalls ist (Gen 3,1-24). Der Apostel Paulus hatte in seiner heftigen Auseinandersetzung mit der sog. judaistischen Mission in den galatischen Gemeinden die These vertreten, es sei die heilsgeschichtlich notwendige Funktion des Gesetzes, das Wesen bzw. das Unwesen der Sünde erkennbar zu machen (Gal 2,15–4,20).46 Während das „ganze Gesetz“ nichts anderes gebietet als das Lieben des Nächsten wie sich selbst (Gal 5,14), verbietet es in allen seinen Konkretionen nur das Eine: „begehre nicht“ (Röm 7,7).

46 Vgl. auch Röm 2,1-29 und bes. 3,20; 7,7d. Vgl. hierzu jetzt Michael Wolter, Der Brief an die Römer. Teilband 1 (wie Anm. 3), z. St. Nach Wolter versteht der Apostel Paulus jedenfalls in Röm 3,20b unter dem Subjekt der Erkenntnis der Sünde bzw. des Erkennbar-Machens der Sünde Gott selbst in der eschatischen Situation des Gerichts. Aus diesem Grunde behauptet der Apostel in Röm 3,31: „Setzen wir nun durch den Glauben das Gesetz außer Kraft? Natürlich nicht! Wir halten vielmehr am Gesetz fest.“ (Übersetzung Michael Wolter). – Der Apostel bewegt sich hier im Rahmen des eschatologischen Duals des apokalyptischen Mythos, den wir um willen des angemessenen Verstehens der Versöhnung dekonstruieren müssen; vgl. hierzu 4.5.4.2.

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins

Der Apostel geht geradezu soweit zu behaupten, es sei der Sinn dieser Konzentration auf das Eine, die Begierde als das Wesen bzw. als das Unwesen der Sünde benennbar und bewusst zu machen. Er versteht darunter jene unwillkürliche Tendenz, die die Gesinnung der Person (Röm 8,5a.6a) und deshalb auch von Fall zu Fall ihr Handeln in ihren privaten wie in ihren öffentlichen Beziehungen prägt (Röm 7,17). Die unwillkürliche Tendenz der Begierde müsste den Tod – und zwar den „endgültigen Tod“ – zur Folge haben (Röm 6,21), wenn sie nicht durch Gottes des Schöpfers versöhnendes Walten im Christus Jesus überwunden würde; und zwar so, dass die durch Gottes Heiligenden Geist gewirkte Gewissheit des Versöhnt-Seins die Tendenz des Liebens auf ewiges Leben hin entzündet und erhält (Röm 6,23; 8,5b.6b). Um diese These des Apostels Paulus sachgemäß zu interpretieren, ist es wohl angebracht zu fragen, aus welchem Grunde jene unwillkürliche Tendenz, die die Gesinnung und das Handeln der Person in destruktiver Weise prägt, als Begierde anzusprechen ist. Was ist das Destruktive, was ist das Nicht-sein-Sollende, was ist das Böse der Begierde? Ich antworte auf diese Frage, indem ich anknüpfe an den Begriff des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins, den ich im Rahmen des Kapitels über den christlichen Glauben an Gott den Schöpfer entwickelt hatte (s. 2.4.2.1). Ist nämlich das Destruktive, das Nicht-sein-Sollende bzw. das Böse der Begierde im Sinne des Apostels Paulus der stets wirksame Grund und das unbeherrschbare Motiv für alles, was der Inbegriff des sittlichen Gesetzes verbietet, so wurzelt es doch zweifellos in der Verfassung des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins, ohne mit dieser Verfassung selbst und als solcher identisch zu sein. Ich spreche diesen Wesenszug mit dem Begriff des ursprünglichen Begehrens bzw. der emotiven Intentionalität an, die sich von allem Anfang an in dem Bestreben zeigt, das Gut des uns gegebenen Lebens zu erhalten, zu verteidigen, zu vervollkommnen und zu genießen. Selbst wenn das Destruktive, das Nicht-sein-Sollende bzw. das Böse der Begierde nicht anders denn als Widerspruch zu der geschaffenen Natur des Mensch-Seins zu bewerten wäre, kommt es doch nur als eine Deformation des ursprünglich Guten in Betracht.47

47 Aus diesem Grunde hat die christliche Theologie seit Augustin die sog. „Privationslehre“ des Malum entwickelt. Diese Lehre stellt natürlich nicht in Abrede, dass es sowohl das physische bzw. das somatische Übel als auch insbesondere das moralisch Böse in seinen mannigfachen Gestalten gibt; sie behauptet allerdings im Widerspruch zum gnostischen bzw. zum manichäischen Dualismus, dass dem physischen bzw. dem somatischen Übel und insbesondere dem moralisch Bösen Existenz im ontologischen Sinne nur im Sinne des Verkehrt-Seins bzw. der Negativität des Seiend-Seins zugesprochen werden könne. – Vgl. hierzu insgesamt Friedrich Hermanni, Das Böse und die Theodizee. Eine philosophisch-theologische Grundlegung, Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus. 2002.

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Methodisch geredet werden wir mithin das Bewusstsein der Sünde, das in der Wahrheitsgewissheit des Christus-Glaubens nach wie vor vorausgesetzt und mit enthalten ist, dann und nur dann verständlich machen können, wenn wir es in den Rahmen fundamentalanthropologischer Aussagen einbeziehen. Ich werde deshalb im Folgenden in einem ersten Schritt an den Aspekt des ursprünglichen Begehrens bzw. an den Aspekt der emotiven Intentionalität erinnern, bevor ich dann in einem zweiten Schritt die Begierde als das abartige Begehren des Destruktiven, des Nichtsein-Sollenden bzw. des Bösen unter dem Schein des Guten zu bestimmen suche. Mit Hilfe dieser Unterscheidung zwischen dem ursprünglichen Begehren und der Begierde wird auch die Metapsychologie Sigmund Freuds zu korrigieren sein.48 Erstens: Ich hatte das uns allen vertraute Phänomen des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins mit Hilfe und im Lichte des Begriffs eines Gefüges von Relationen beschrieben. Es ist zum einen zu verstehen als das je individuelle Selbst-Sein, das sein Leben in der dualen Struktur des Leibes und der Seele selbstbewusst-frei und deshalb selbstverantwortlich zu führen hat. Es existiert zum andern von seinem Anfang in der Zeugung, in der Empfängnis, im Getragen- und Geboren-Werden her als individuelles Selbst faktisch in mannigfachen wechselseitigen Beziehungen zu anderem individuellen Selbst. Und schließlich ist sein Leben in der Geschichte dieser mannigfachen wechselseitigen Beziehungen von allem Anfang an bestimmt zum radikalen Grundvertrauen auf Gottes des Schöpfers unbedingten Heilssinn, auf Gottes In-Gemeinschaft-seinWollen, in welchem es das Woraufhin bzw. das Worumwillen seines Daseins in Zeit und Ewigkeit findet. Im Ganzen dieses ungeheuren, unbegrenzten Universums und abhängig vom Naturzusammenhang dieser Erde – von ihrer Atmosphäre, von ihrer Fruchtbarkeit, vom Leben der Pflanzen und der Tiere – ist es dem geschaffenen,

48 Die Unterscheidung zwischen dem Aspekt des ursprünglichen Begehrens und der maßlosen Begierde als der „Wurzel“ alles destruktiven bzw. bösen Wollens und Tuns hatte bereits Augustin in seiner Schrift „De libero arbitrio“ entwickelt; vgl. die Nachweise bei Wolfhart Pannenberg, STh II, 278 Anm. 225. – Wie schon erwähnt, befinde ich mich mit diesem Verfahren in striktem Gegensatz zum Verfahren Karl Barths. Aufgrund der christologischen „Grundentscheidung“ der „Kirchlichen Dogmatik“ behauptet Barth, man könne und man müsse das Allgemeine des menschlichen „In-derSünde-Seins“ ausschließlich aus dem „Spiegel des Gehorsams des Sohnes Gottes“ – d. h.: aus dem „in der Auferweckung des für uns gekreuzigten Jesus Christus gesprochene(n) Urteil Gottes“ (KD IV/1, 395 [Kursivierung im Original]) erkennen – nämlich als den Widerstand gegen die Herrschaft der Gnade Gottes (vgl. bes. die ausführliche Begründung in KD IV/1, 395–427). Dieses Verfahren, das natürlich nur das Programm der Formel „Evangelium und Gesetz“ vollstreckt, ist schon exegetischtheologisch unhaltbar und ergibt sich schlüssig aus der antisubjektiven Theorie des Erkennens, die die Basis der Methode der „Kirchlichen Dogmatik“ ist (vgl. meine Kritik in: STh I, 461–471).

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins

dem leibhaften Person-Sein somit aufgegeben, der Ordnung der Schöpfung bzw. dem Mandat Gottes des Schöpfers zu gehorchen (s. 2.4.2.2.3). Wir sind uns dieses Auftrags unwillkürlich auch bewusst. Wir sind uns seiner bewusst in der jeweiligen Gegenwart im Hier und Jetzt. In unserem „Uns-gegenwärtigSein“ verstehen wir das uns gegebene Leben in den erwähnten Grundbeziehungen als hohes Gut, das wir mit jedem Herzschlag und mit jedem Atemzug, mit jedem Essen und mit jedem Trinken, mit jedem Lernprozess und mit jedem Lebensziel, mit jeder Sehnsucht nach Liebe und nach Anerkennung zu erhalten, zu verteidigen und zu vervollkommnen trachten. In der Erfahrung der Zeit der Gegenwart, in unserem Entwerfen und Gestalten zukünftiger Gegenwart im Eingedenken vergangener Gegenwart intendieren wir relatives, stetiges wenn auch begrenztes Dauern.49 Wenn ich dies ursprüngliche Begehren vom Destruktiven, vom Nicht-seinSollenden und vom Bösen der Begierde unterscheide, so meine ich mit diesem Ausdruck jenen Trieb, jenen Grundaffekt, jene Intentionalität bzw. jenen Lebenswillen, der das geschaffene, das leibhafte Person-Sein in den erwähnten Grundbeziehungen bestimmt. Von ihrem Ursprung her in Gottes schöpferischem Geist, vermittelt durch die Geschlechtsgemeinschaft ihrer Eltern, kann die geschaffene, leibhafte Person gar nicht anders als das Dauern ihres Lebens zu begehren und von diesem ihrem Begehren motiviert auf seine Erfüllung bzw. auf sein Ganz-Werden auszurichten. Im Blick auf diesen Wesenszug hatte ich in der Analyse der personalen Zeiterfahrung vom Primat zukünftiger Gegenwart und deshalb vom Primat der praktischen Vernunft gesprochen (s. 2.3.4.1). Zweitens: Die Analyse des ursprünglichen Begehrens im Sinne des Aus-Seins auf das relative, stetige, wenn auch begrenzte Dauern des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins macht es nun möglich, das Phänomen zu sehen, das der Apostel Paulus mit Hilfe des griechischen Begriffsworts ἐπιθυμία bzw. mit der Wendung φρόνημα τῆς σαρκός (Röm 8,6) disqualifiziert und das in die Geschichte der kirchlichtheologischen Lehre mit dem lateinischen Ausdruck concupiscentia eingegangen ist (vgl. Gen 3,6). Alle diese Terme kennzeichnen jene faktische Tendenz, die das ursprüngliche Begehren der geschaffenen, der leibhaften Person zu deformieren und zu pervertieren droht und die es tatsächlich deformiert und pervertiert. Sie – diese faktische Tendenz – treibt eben als die Deformation und als die Perversion des ursprünglichen Begehrens uns Menschen alle von Fall zu Fall in die Entfremdung vom Gefüge der Relationen, in denen wir als die geschaffene, die leibhafte Person

49 Vgl. zum Folgenden Konrad Stock, Grundlegung, 40–57: Die affektive Bestimmtheit des individuellen Selbstgefühls; Ders., Art. Streben: RGG4 7, 1776–1778 (mit Hinweisen zu Platon [Politeia 439d 6ff.; Symposion 207d 1], Aristoteles [De anima III 10: 433b 5; Nikomachische Ethik I 1: 1094a 1ff.; III 5: 1113a 9ff.], Thomas von Aquino [STh 1–2 q 8 a 1; q 22 a 3] und Immanuel Kant [KpV A 221]).

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notwendig existieren. Sie treibt uns in den Widerspruch zu unserer Bestimmung. Sie treibt uns dazu, uns selbst zu verfehlen und uns selbst zu betrügen. Die faktische Tendenz der Begierde wird erlebt. Sie wird erlebt in der Versuchung, d. h. in der Anziehungskraft dessen, was nicht sein soll und nicht geschehen soll. Allerdings ist realistischerweise zuzugeben, dass die zu erlebende Tendenz der Begierde unter dem Mantel des Vergessens, des Verschweigens, des Verdrängens schwelen kann und schwelt. Dieser Sachverhalt, der in der therapeutischen Beratung und der im seelsorglichen Gespräch eine zentrale Rolle spielt, macht Martin Luthers steile These durchaus plausibel, die Erkenntnis des Wesens bzw. des Unwesens der Sünde ergebe sich letzten Endes nur aus dem Verstehen der Heiligen Schrift als „Wort Gottes“ (vgl. STh I, 429–437).50 Sie – diese These – weist voraus auf jenes „Mit-sich-ins-Gericht-Gehen“, das in der aufrichtigen Erfahrung des Gewissens stets geschieht. Als diese faktische Tendenz scheint sich die Begierde ihrerseits auf das Gut bzw. auf den Inbegriff der Güter zu beziehen, von dem wir uns in unserer jeweiligen Gegenwart Dauer, Stetigkeit und wirkliche Erfüllung versprechen. Tatsächlich aber begehrt die Begierde im jeweiligen Moment der Gegenwart Dauer, Stetigkeit und wirkliche Erfüllung auf eine Weise, die radikal vereinzelt. Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat diese faktische Tendenz der Begierde ganz richtig so erfasst: sie ist „die Willkür, die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Prinzipe zu machen, und sie durch Handeln zu realisieren – böse zu sein.“51

50 Vgl. etwa Martin Luther, WA 39 II, 365; 25: „Homo sua natura non solum nescit, unde peccatum sit, sed ipsum peccatum nescit. Manet autem cognitio peccati in homine per verbum Dei“ („Der Mensch weiß von Natur aus nicht nur nicht, woher die Sünde sei, sondern weiß auch nicht um die Sünde selbst [verstehe: um das Wesen der Sünde]. Erkenntnis der Sünde aber [verstehe: Erkenntnis des Wesens der Sünde] ereignet sich kontinuierlich in einem Menschen durch das Wort Gottes“ [meine Übersetzung].). – Luthers steile These ist nicht in einem biblizistischen oder gar in einem fideistischen Sinne zu verstehen; sie führt die Erkenntnis des Wesens der Sünde vielmehr zurück auf die Erkenntnis je meines Verantwortlich-Seins vor dem einzig-einen – d. h. vor dem dreieinen – schöpferischen Grund und Ursprung je meines individuellen Selbst, also vor dem schöpferischen Wort, das als solches die normative ethische Instanz und das Kriterium des Guten und des Bösen ist. Diese Erkenntnis ist exemplarisch formuliert im Dekalog, insbesondere im 1. Gebot, von dem Jörg Jeremias, Theologie des Alten Testaments (wie Anm. 33) sagt: „Das 1. Gebot ist das Herzstück des Alten Testaments, der Maßstab aller seiner Maßstäbe für das rechte Reden von Gott und das rechte Verhalten ihm gegenüber“ (367; Kursivierung im Original). 51 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg: Felix Meiner, 1967 (PhB; 124a), § 129 (S. 124). – Vgl. hierzu Joachim Ringleben, Hegels Theorie der Sünde. Die subjektivitätslogische Rekonstruktion eines theologischen Begriffs (wie Anm. 24), 65ff.; 116ff. Hegels treffliche Definition der Begierde darf natürlich nicht allein bezogen werden auf das Handeln individueller Subjekte, die der Rechtsstaat miteinander „versöhnt“; sie muss auch auf das Handeln kollektiver Subjekte übertragen werden, die ihrerseits das Handeln individueller Subjekte zwingen, böse zu sein, d. h. Leid zu verschulden; vgl. hierzu u. 3.3.6. Es ist

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins

Sehe ich recht, so zeigt sich die radikal vereinzelnde Tendenz der Begierde, die sich von Fall zu Fall in sprachlichen wie in interaktionellen Handlungen realisiert, in vielerlei Gestalt. Sie zeigt sich zum einen in jenen unwillkürlichen Dispositionen, die wir auf den Sammelbegriff des Lasters bringen (3.3.5). Zum andern aber zeigt sie sich in den Konflikten, in denen sowohl individuelle Subjekte als auch soziale Subjekte – wie z. B. ökonomische Subjekte und politische Subjekte im engeren Sinne des Begriffs – miteinander konkurrieren um das, was ihnen als ihr Gut und als ihr Höchstes Gut erscheint; und zwar mit unwillkürlicher Bereitschaft zum Zorn, zum Hass und zur Gewalt (3.3.6).52 Insgesamt ist es die große Aufgabe der dogmatischen Besinnung auf das Phänomen der Sünde, jene Verschränkung zwischen den individuellen und den sozialen Gestalten des deformierten bzw. des pervertierten Begehrens zu erkunden, mit der uns die geschichtliche Erfahrung konfrontiert (3.3.7). 3.3.5

Haltungen des Lasters

Im größeren Ganzen einer realistischen Lehre vom christlichen Glauben an Gott den Versöhner darf eine Darstellung der Phänomene des Lasters nicht umgangen werden. Was die deutsche Sprache als Neid, als Geiz, als Habsucht bzw. als Gier, als Ruhmsucht, als Unzucht, als Völlerei, als böse Traurigkeit bezeichnet, ist offensichtlich ein erlebbares Motiv zahlloser unlauterer und perfider Weisen der Kommunikation und Interaktion: erlebbar auch dann, wenn es durch Scham, durch Regeln der Sitte und des Rechts bzw. durch den gebildeten Trieb der Selbstbeherrschung gehemmt sein sollte. Die dogmatische Besinnung auf die Freiheit, die der

fraglich, ob Hegels Theorie des Rechtsstaats Rücksicht nimmt auf die Konflikte der politischen Souveräne, die ihre jeweiligen Interessen mit militärischer Gewalt durchzusetzen suchen. 52 Georg Wilhelm Friedrich Hegel nannte dies den wechselseitigen „Kampf auf Leben und Tod“ (Phänomenologie des Geistes. Hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg: Verlag von Felix Meiner, 6 1952, (PhB; 114), 144). – Erstaunlicherweise übergeht Christof Gestrich, Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt (wie Anm. 24), nicht nur das Laster, sondern auch die ungebändigte Bereitschaft zur Gewalt sowohl individueller als auch sozialer Subjekte mit Schweigen.

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Wahrheit zu verdanken ist, wird diesem eigenartigen Motiv ihre volle Aufmerksamkeit schenken müssen.53 Das Offenbarungszeugnis des Neuen Testaments kommt auf das Phänomen des Lasters und der Laster – belehrt und angeregt von der Gerichtsbotschaft der Prophetie der jüdischen JHWH-Gemeinschaft – in lockerem Anschluss an die frühjüdische Zwei-Wege-Lehre und an die hellenistische Diatribe zu sprechen (vgl. bes. Röm 1,28ff.; Gal 5,19ff.). Letztere hatte Einsichten rezipiert, die schon in Platons Rede von der „Vielnamigkeit“ des Frevels zu finden sind.54 Sie kombiniert ein Schema von vier sog. Kardinallastern (Unbesonnenheit; Zügellosigkeit; Ungerechtigkeit; Feigheit) mit den vier sog. Hauptaffekten (Trauer; Furcht; Begierde; Lust); und sie will damit jene Lebensweise identifizieren, die kraft der praktischen Vernunft zur Lebensweise in den vier sog. Kardinaltugenden (der Weisheit, der Besonnenheit, der Gerechtigkeit und der Tapferkeit) veredelt werden soll. Deren Gefüge hatte Platon im IV. Buch der „Politeia“ maßgeblich für die philosophischen Lebenslehren der Antike entwickelt.55 Auch wenn sich diese wie in der Stoa an der Idee des vernunftgemäßen Lebens in Übereinstimmung mit der göttlichen Weltvernunft des Logos orientieren, reden sie doch der sittlichen Selbstmacht der Person das Wort, durch die Herrschaft des Vernünftigen das Affektive in der Seele zu zähmen oder gar zu überwinden. Natürlich steht die Rezeption der philosophischen Ethik im griechischen wie im lateinischen Christentum der Spätantike unter dem Vorbehalt des ChristusGlaubens, der das Ideal der sittlichen Selbstmacht der Person entscheidend korrigiert. Gleichwohl ist es unter diesem Vorbehalt zur Ausbildung einer förmlichen „Acht-Laster-Lehre“ gekommen.56 Papst Gregor I., d. Gr., (590–604) hat sie syste53 Vgl. zum Folgenden Konrad Stock, Einleitung, 157ff.; Ders., Art. Laster: RGG4 5, 85–89 (Lit.); Ders., Laster – der „vielnamige Frevel“. Eine theologische Erinnerung an ein vergessenes Problem, jetzt in: Ders., Die Gegenwart des Guten. Schriften zur Theologie, Marburg: Elwert, 2006 (MThSt; 96), 165–177; Ders., „Das große Fressen“ – Völlerei als Laster und als Krankheit, in: Peter Nickl (Hg.), Die Sieben Todsünden – Zwischen Reiz und Reue, Berlin: LIT, 2009 (Thomas-Morus-Impulse; 3), 97–111. – Trotz meinen Analysen ist das Laster ein derart vergessenes Problem, dass der Herausgeber Peter Nickl nicht zwischen den „Haupt“- bzw. den „Kopf “- Sünden und den „Todsünden“ der Tradition zu unterscheiden weiß. Es spielt im Übrigen auch keine Rolle in den aktuellen Entwürfen einer philosophischen Theorie der Tugenden, wie dies beispielsweise die vieldiskutierten Studien von Martha C. Nussbaum zeigen; vgl. Martha C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Hg. von Herlinde Pauer-Studer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1999 (es; 1739 [Gender Studies]), bes. 227–264: Nicht-relative Tugenden: Ein aristotelischer Ansatz. – Eine theologische Interpretation des Phänomens der Tugenden werde ich vorlegen in STh III. 54 Vgl. Platon, Phaidros 237d/238a. 55 Vgl. Platon, Politeia IV, 514a–520e. 56 Vgl. bes. Reinhart Staats, Art. Hauptsünden: RAC XIII, 734–770; Anton Vögtle, Art. Achtlasterlehre: RAC I, 74–79; Paul Schulze, Die Entwicklung der Hauptlasterlehre und Tugendlehre von Gregor d. Gr. bis Petrus Lombardus, Diss. Greifswald 1914. – Eine wichtige Quelle hierfür ist

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins

matisiert, und zwar im Interesse einer Beichtpraxis, die der Person für ihre Buße zur Einsicht in ihre Selbstverfehlung helfen sollte. Dem Vorbild Augustins folgend versteht er den Hochmut als diejenige Wurzel, aus der die Siebenzahl der Laster erwächst. Er schuf damit das Grundmuster, auf das sich die gesamte Gnadenlehre der hoch- und spätmittelalterlichen Scholastik bezog. Seine detaillierte Entfaltung in der Summa Theologiae Thomas’ von Aquino sei hier in gebotener Kürze erwähnt, weil sie das verdrängte und vergessene Problem des Lasters und der Laster auf eine nach wie vor erhellende Weise präsentiert.57 Im Gegensatz zur Wahrnehmung des Lasters und der Laster in den Lebenslehren des antiken Philosophierens geht Thomas wie schon Augustin von der positiven Qualität des ursprünglichen Begehrens als des elementaren Strebevermögens („amor“) des geschaffenen Person-Seins aus. Er sieht mithin die Möglichkeit des freien Wählens und Entscheidens stets bezogen auf „passiones animae“: auf unwillkürliche Bestimmtheiten der geschaffenen Person, auf das ihr Gute aus zu sein (q 22 a 1–3). Nun expliziert die Summa insgesamt die Wahrheit der heilsgeschichtlichen Perspektive des Christus-Glaubens, dass das für die geschaffene Person bestimmte Gute ursprünglich und endlich das Höchste Gute der vollkommenen Seligkeit, der Schau des göttlichen Wesens – des Grundes und Ursprungs des Seiend-Seins des Seienden –, sei (q 2 a 8c; q 3 a 8c). Um ihretwillen existiert die geschaffene Person je in ihrer irdischen Lebenszeit in ihrer jeweiligen sozialen Gemeinschaft, in der sie nach dem Gemeinwohl (dem „bonum commune“) zu streben bestimmt ist. Die ursprüngliche Sünde (das „peccatum originale“ [q 82 a 1–4]) zeigt sich nun nach Thomas darin, dass die geschaffene Person sich dem für sie bestimmten Höchsten Gut der vollkommenen Seligkeit der Schau des göttlichen Wesens verschließt und stattdessen ihr erfüllendes Lebensziel im selbstsüchtigen Genuss irdischer und zeitlicher Güter erstrebt (q 2 a 1–a 8; q 71 a 1c; ad 3; q 84 a 4). Indem sich die geschaffene Person ihrem heilsgeschichtlich vorbestimmten Lebenssinn verschließt, neigt sie unwillkürlich dazu, das Gemeinwohl ihrer jeweiligen sozialen Gemeinschaft zu stören oder gar zu zerstören. Die verschiedenen Laster sind zu verstehen als Deformationen jener „passiones animae“, deren elementare Funktion im Akt des freien Wählens und Entscheidens gleichwohl nach wie vor bestehen bleibt. Im Lichte der von Gott dem Schöpfer selbst gesetzten Ordnung des in Wahrheit Guten zeigt sich das Laster in seinen verschiedenen Formen als ein „affectus

die Erfahrungstheologie des ägyptischen Mönchtums; vgl. hierzu bes. Heinrich Holze, Erfahrung und Theologie bei den ägyptischen Mönchsvätern, Johannes Cassian und Benedikt von Nursia, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1992. 57 Die allgemeine Analyse des Phänomens des Lasters findet sich in der „Prima Secundae“ (Thomas von Aquino, STh I–II q 22–48; q 71–89); die spezielle Analyse der einzelnen Laster zieht sich durch die gesamte „Secunda Secundae“ (STh II–II) hindurch. Belege aus der „Prima Secundae“ sind im Text notiert.

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inordinatus“, d. h. als eine dieser Ordnung widersprechende und widerstrebende Intention (q 71 a 1 ad 3). Die thomanische Deutung des Lasters und der Laster lässt sich verdeutlichen, wenn wir sie in die Theorie des leibhaften Person-Seins einbeziehen. Mit Hilfe und im Lichte dieser Theorie verstehen wir unser je individuelles Freiheitsgefühl als das „Sich-gegenwärtig-Sein“ der Person. Sie sucht in ihrer jeweiligen Gegenwart das Gut des ihr gegebenen leib-seelischen Lebens zu erhalten, zu verteidigen und zu vervollkommnen, indem sie in der sprachlichen Kommunikation und in der praktischen bzw. in der ästhetischen Interaktion mit anderen hier und jetzt Mögliches zu verwirklichen sucht. Allerdings ist sie stets mit einem Nicht vertraut: mit einem Bedürfnis, mit einem Hunger, mit einem Durst, mit einem Mangel, mit einem Lebenswillen und mit einem Lebensinteresse, das befriedigt werden will. Insofern existiert sie in dem Zwiespalt, dieses ihr Lebensinteresse entweder mit anderem Lebensinteresse vermitteln oder es gegen anderes Lebensinteresse rücksichtslos durchsetzen zu wollen. Mit dem Sammelbegriff „Laster“ bezeichnen wir das jeweilige abstrakte Lebensinteresse, welches die individuelle Person bzw. die Gemeinschaft individueller Personen in einem überindividuellen sozialen Subjekt unwillkürlich antreibt.58 Es ist ein dominierendes Anliegen meiner Darstellung Systematischer Theologie, die Formen des abstrakten Lebensinteresses zugleich in individueller und in überindividueller Weise zu erfassen (s. 3.3.7). Im Sinnraum und im Verstehenshorizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft indiziert das abstrakte Lebensinteresse für die christliche Sicht des Sinnes von Sein, dass sich das Wesen des göttlichen Grundes und Ursprungs und damit der unbedingte Heilssinn des dreieinen Gottes der Person noch nicht in seiner Tiefe erschloss. Zusammen mit der Angst, der Scham, der Begierde und der Bereitschaft zur Gewalt bezeugt das abstrakte Lebensinteresse, dass die Person – bzw. eine wie auch immer strukturierte Gemeinschaft von Personen – dem Wesen des göttlichen Grundes und Ursprungs und damit dem unbedingten Heilssinn des dreieinen Gottes noch zutiefst entfremdet ist. Insofern ist es eines der Symptome einer Sicht des Realen, die für die christliche Sicht des Sinnes von Sein als ein bloßer Schein und damit als ein unwillkürlicher Ausdruck radikaler Ungewissheit gilt.59 Dieses Symptom

58 Vgl. hierzu Eilert Herms, Private Vices – Public Benefits? Eine alte These im Lichte der Neuen Institutionen-Ökonomik, jetzt in: Ders., Die Wirtschaft des Menschen. Beiträge zur Wirtschaftsethik, Tübingen: Mohr, 2004, 178–197. 59 Vgl. hierzu Heiko Schulz, Art. Unglaube: RGG4 8, 741–744; Ders., Theorie des Glaubens, Tübingen: Mohr Siebeck, 2001 (RPT; 2). – In diesem Zusammenhang modifiziere ich die an Röm 14,23 anschließende These Martin Luthers, das Wesen der Sünde bestehe im „Unglauben“ (vgl. Martin Luther, WA 39/I; 84,16–23; und dazu CA II [BSLK 52f.]). Wenn es das Wesen des Christus-Glaubens im Sinnraum und im Verstehenshorizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft ist, Leben in der

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins

sei nun exemplarisch betrachtet im Blick auf die Phänomene der Resignation, des Neids und der Sucht. Erstens: Ist einem Menschen bzw. einer Gemeinschaft von Menschen das Wesen des göttlichen Grundes und Ursprungs und damit des dreieinen Gottes unbedingter Heilssinn bzw. Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen noch verschlossen, so manifestiert sich diese Verschlossenheit unwillkürlich als Resignation. Thomas von Aquino hatte die Analyse der „tristitia“ – der „bösen Traurigkeit“ – an den Anfang seiner Untersuchung der verschiedenen Formen des Lasters gesetzt.60 Er kennzeichnet damit jenes Lebensgefühl, das objektiv bestimmend ist, sofern wir unseres „bonum ultimum“ noch nicht gewiss geworden sind. Weder ist diese böse Traurigkeit zu verwechseln mit dem erschütternden Gefühl der Trauer um einen geliebten Menschen bzw. mit dem tiefen Erschrecken über ein Unglück oder über eine schwere Untat bzw. über eines der monströsen Verbrechen in der Moderne; noch verhindert sie das intensive Engagement in unserer jeweiligen Funktionsposition oder den Genuss der ästhetischen Erfahrung. Vielmehr wird sie immer wieder wach in den Momenten der Resignation, in denen sich ein Mensch dem undurchschaubaren Schicksal unterworfen weiß, zuletzt angesichts des nahenden Todes.61 Allerdings ist es höchst plausibel, auf die psychischen Folgen aufmerksam zu machen, die die Ungewissheit hinsichtlich des in Wahrheit Höchsten Guten zumal in Zeiten der euro-amerikanischen Moderne zeitigt: zum einen

Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums vom unbedingten Heilssinn des dreieinen Gottes zu sein, dann gelten andere Sichtweisen des Realen bzw. des menschlichen In-der-Welt-Seins ebenso wie auch die skeptische, die agnostische und die indifferente Selbstgewissheit im Lichte dieser Wahrheitsgewissheit als unwahr und deshalb als trügerisch. Natürlich nötigt dieser Widerstreit dazu, unter dem Schutz des Grund- und Menschenrechts der Religions- bzw. der Weltanschauungsfreiheit Foren des Gesprächs über tragfähigen Lebenssinn zu etablieren, die die Risiken schrankenloser Individualisierung bannen. Meine Deutung des Christus-Glaubens als der von Gottes Heiligendem Geist gewirkten Überwindung der Ungewissheit hinsichtlich des Wesens und des Heilssinns des dreieinen Gottes angesichts des Leids, des Bösen und des Todes macht konsequent ernst mit dem Grundgedanken von Luthers Streitschrift gegen Erasmus von Rotterdam „De servo arbitrio“ von 1523, freilich ohne damit Luthers steile Entgegensetzung zwischen dem Walten des „Deus absconditus“ und dem Walten des „Deus revelatus“ zu übernehmen. 60 Vgl. Thomas von Aquino, STh II–II q 35. – Thomas greift hier das Phänomen der „acedia“ – des Überdrusses bzw. der inneren Leere – auf, das die asketische Spiritualität des ägyptischen Mönchtums beschrieben hatte, und verallgemeinert es als Zeichen jenes Lebensgefühls, das objektiv das Abgewandt-Sein der Person von dem in Wahrheit Höchsten Gute indiziert. – Zur aktuellen Diskussion vgl. Christoph Demmerling/Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle (wie Anm. 38), 259–285: Traurigkeit und Melancholie. 61 Davon zeugt zum Beispiel das späte Werk von Richard Strauß „Vier letzte Lieder“.

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auf das Abhängig-Werden von den Mitteln des Rauschs und der Betäubung62 ; zum andern aber auf die historische Verzweiflung über das grandiose Scheitern der geschichtsphilosophischen und der politischen Utopien des 19. und des 20. Jahrhunderts.63 Zweitens: Ist einem Menschen bzw. einer Gemeinschaft von Menschen das Wesen des göttlichen Grundes und Ursprungs und damit des dreieinen Gottes unbedingter Heilssinn bzw. Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen noch verschlossen, so manifestiert sich diese Verschlossenheit unwillkürlich als Neid.64 Im Spektrum der verschiedenen Haltungen des Lasters ist es vor allem die des Neides und dessen Analyse, die die besondere Eigenart der theologischen Theorie des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins zur Geltung bringt.65 Im Anschluss an die philosophischen Lebenslehren Platons und Aristoteles’ hatte Thomas von Aquino den Neid als „böse Traurigkeit über das Gut des Andern“ definiert.66 Diese Variante der bösen Traurigkeit bezieht sich offensichtlich auf das Ganze dessen, was andere im Vergleich zu uns selbst auszeichnet bzw. was andere im Vergleich zu uns selbst besitzen und bekommen: also nicht nur auf das „Hab und Gut“, sondern auch auf das Ansehen und auf den Erfolg bzw. auf die Resonanz, die andere genießen, und nicht zuletzt auf die erotische Anziehungskraft des anderen Mannes und der anderen Frau. Neid wird erlebt im unwillkürlichen Vergleichen. Es ist für die verschiedenen Grade des unwillkürlichen Neidgefühls typisch, dass sie so gut wie keine eigenen Handlungsinitiativen freisetzen; es sei denn, dass sie sich in hinterhältigem und abschätzigem Gerede bzw. in der Schadenfreude äußern. Allerdings gibt es den extremen Fall, dass Neid umschlägt in den blinden Hass und in die ruchlose Gewalt, wie dies bereits der Redaktor der „Urgeschichte“ mit

62 Vgl. hierzu Eberhard Th. Haas, Transzendenzverlust und Melancholie. Depression und Sucht im Schatten der Aufklärung, Gießen: Psychosozial, 2006. 63 Vgl. hierzu bes. Ludger Heidbrink, Melancholie und Moderne. Zur Kritik der historischen Verzweiflung, München: Fink, 1994. – Eine Meta-Kritik dieser Kritik habe ich vorgelegt in: Konrad Stock, Lob der Melancholie, in: Heinrich Assel/Hans-Christoph Askani (Hg.), Sprachgewinn (FS. Günter Bader), Münster: LIT, 2008, 140–148. 64 Vgl. zum Folgenden bes.: Helmut Schoeck, Der Neid. Eine Theorie der Gesellschaft, München: Alber, 1966; Karl-Heinz Nusser, Art. Neid: TRE 24, 246–254; Ders., Art. Neid: HWP 6, 695–706; Christoph Demmerling/Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle (wie Anm. 38), 195–217: Neid und Eifersucht. 65 Sie bricht im Sinnraum und im Verstehenshorizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft insbesondere prinzipiell mit der Fixierung der archaischen Religionen Griechenlands und Roms auf den Neid der Götter; vgl. die Hinweise von Karl-Heinz Nusser (wie Anm. 64), 247f. 66 Vgl. Thomas von Aquino, STh II–II q 36 a 4c. – Thomas konnte sich für seine Analyse des Neids auf die breite Auseinandersetzung mit diesem Laster in den Predigten und in den Schriften bedeutender Theologen in der Periode der Patristik (vgl. die Nachweise bei Karl-Heinz Nusser, Art. Neid [TRE 24, 249ff.]) und vor allem auf Papst Gregor I., d. Gr., stützen.

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins

der Erzählung von Kain und Abel hellsichtig als den Anfang der Geschichte des Menschengeschlechts schildert (Gen 4,1-16). Während die philosophischen Lebenslehren der Antike es für möglich und für geboten hielten, den Neid durch ethische Bildung und durch politische Sorge für Gerechtigkeit zu überwinden, öffnet die christlich-theologische Seelsorge den Blick für das in Wahrheit Höchste Gut, der letzten Endes allein das neidische Vergleichen heilt. Von diesem ethischen Interesse distanzieren sich Konzepte, die in der euroamerikanischen Neuzeit und Moderne dem neidischen Vergleichen eine konstitutive Funktion für die Idee der Gleichheit und für das Ziel der Verteilungsgerechtigkeit in der Gesellschaft zuweisen. Hatte Thomas Hobbes die in dem allgemeinen Neid auf fremdes Hab und Gut verwurzelte wechselseitige Furcht als das Motiv der Unterwerfung unter einen einzigen souveränen Willen ausgemacht, so hatte JeanJacques Rousseau im Neid die unwillkürliche Reaktion auf die geschichtlichen Bedingungen sozialer Ungleichheit erblickt. Seine Lehre vom „Contrat social“, der Gleichheit kraft der allgemeinen Übereignung des individuellen Lebensinteresses an die „volonté générale“ intendiert, inspiriert die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts und insbesondere das politische Projekt, dem das von Karl Marx entworfene „Kommunistische Manifest“ den Namen „Herrschaft des Proletariats“ gab.67 Dieses politische Projekt, mit der ökonomischen Ungleichheit auch den Neid zu überwinden, geht unter furchtbaren Opfern an Sachen, an Rechten und vor allem an Menschen zugrunde. Dass die Bewältigung des Neids das hehre Ziel des sozialstaatlichen Handelns im Sinne einer fairen Verteilung der öffentlichen Güter sei, ist der Grundgedanke der einflussreichen Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls.68 Sie unterscheidet zwischen dem „besonderen Neid“ als einem Laster und dem „allgemeinen“ Neid, der sich an der Struktur einer Gesellschaft und an der mangelhaften Form des Politischen entzündet und deshalb eher auf den Begriff des „gerechten Unwillens“ (Nemesis) zu bringen ist. Im Gegensatz zu dieser Unterscheidung wird die Theologische Ethik (STh III) dafür argumentieren, dass das Motiv des Engagements für die gerechte Gestalt des Gemeinwohls einer Gesellschaft bzw. einer Gemeinschaft von Gesellschaften keineswegs unter den Begriff des Lasters des Neides fällt; sie wird vielmehr das praktische Prinzip der solidarischen Inklusion im Sinne von Franz-Xaver Kaufmann hochhalten, das Anhalt hat am biblischen Modell der konnektiven Gerechtigkeit (Jan Assmann).69 Freilich lehrt die geschichtliche Erfahrung, 67 Manifest der Kommunistischen Partei (1848), in: Karl Marx, Die Frühschriften. Hg. von Siegfried Landshut, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 1964, 525–560; 545. 68 Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, dt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975. 69 Wie die alt- und neutestamentliche Bibelwissenschaft diesen von Jan Assmann geprägten Begriff aufnimmt, zeigen Eckart Otto und Walter Klaiber, Art. Gerechtigkeit I. Biblisch: RGG4 3, 702–705.

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dass dieses Engagement nicht ohne jenen ethischen Bildungsprozess zu haben ist, welcher die unwillkürliche Neigung zum Neid begrenzt. Drittens: Ist einem Menschen bzw. einer Gemeinschaft von Menschen das Wesen des göttlichen Grundes und Ursprungs und damit des dreieinen Gottes unbedingter Heilssinn bzw. Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen noch verschlossen, so manifestiert sich diese Verschlossenheit unwillkürlich als Suchtgefahr bzw. als Sucht. Die klassische Lehre von den Symptomen des „In-der-Sünde-Seins“ hatte sich auch auf die Haltungen der Völlerei („gula“), der Trunksucht („ebrietas“) und der Sexsucht („luxuria“) bezogen.70 Es legt sich heutzutage im Blick auf die Lebensverhältnisse in den Gesellschaften der euro-amerikanischen Moderne dringend nahe, das Verständnis dieser Symptome zu verbinden mit der Analyse der verschiedenen Erscheinungen der Sucht: ist es doch den verschiedenen Erscheinungen der Sucht gemeinsam, dass sie letzten Endes münden in die psychische Selbstaufgabe der Person und in ihre soziale Isolation. Unter den Lebensverhältnissen der euroamerikanischen Moderne erscheint die Sucht im Gegensatz zur seelischen Haltung der Besonnenheit als der Verlust endlicher Freiheit.71 Über die individuellen Motive, aus denen eine Suchtgefahr zu kaum noch zu beherrschendem Suchtverhalten führt, und über das gesamte Spektrum des Suchtverhaltens ist hier nicht zu handeln. Das Suchtverhalten der Moderne hat mit den alten Lastern der Völlerei, der Trunksucht und der Sexsucht offensichtlich dies gemeinsam, dass es ein außeralltägliches Glücksgefühl erstrebt. Dies außeralltägliche Glücksgefühl soll nicht etwa nur Bedürfnisse des Organismus stillen; es soll vor allem einen Schmerz bzw. einen Konflikt beruhigen, dem jemand nicht gewachsen zu sein scheint. Es verspricht für eine gewisse Zeit Befreiung von dem Druck und Überdruck des Alltags; und es vermittelt wiederum für eine gewisse Zeit Entgrenzung, Aufhebung der Einsamkeit in einer überaus machtvoll erscheinenden Masse. Dass die erstrebten Glücksgefühle nicht halten, was sie versprechen; dass die verfestigte Sucht die individuelle Freiheit des Wählens und Entscheidens zu

Nach Otto hat das „Bundesbuch“ (Ex 20,22–23,13) das „Ethos der Solidarität mit den sozial Schwachen und der Feindesliebe“ (703) zum ersten Mal formuliert und mit JHWHs Solidarität begründet (Ex 22,20-26). Allerdings bedarf es einer gründlichen hermeneutischen Reflexion, damit die archaische Idee konnektiver Gerechtigkeit auf die Lebensverhältnisse moderner Gesellschaft übertragen werden kann. 70 Vgl. Thomas von Aquino, STh II – II q 148 („De gula“); q 150 („De ebrietate“); q 153 („De vitio luxuriae“); q 154 („De speciebus luxuriae“). Thomas erörtert diese Haltungen des Lasters unter dem Gesichtspunkt ihres Gegensatzes zur kardinalen Tugend der Besonnenheit bzw. des Maßes (q 141: „De temperantia“). – Vgl. zu dieser Tugend: Josef Pieper, Zucht und Maß (1939), jetzt in: Ders., Schriften zur Philosophischen Anthropologie und Ethik: Das Menschenbild der Tugendlehre. (Werke in 8 Bänden, Bd. 4, hg. von Berthold Wald, Hamburg: Meiner, 1996). 71 Vgl. zum Folgenden den exzellenten Artikel von Josef N. Neumann, Art. Sucht: RGG4 7, 1827–1830.

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins

zerstören neigt, das ist die leidvolle Erfahrung der weitverzweigten therapeutischen Arbeit. In ihren Forschungen zur „Ess-Störung“ hat Hilde Bruch mit Recht auf die „symbolische Bedeutung der Nahrung“ aufmerksam gemacht.72 Ihre Einsichten lassen sich – wie mir scheint – auf alle die Leiden und die Störungen übertragen, die wir unter und hinter einer Karriere des Suchtverhaltens vermuten dürfen. Es sind die Leiden und die Störungen, die einen Menschen angesichts der Endlichkeit und in der Gewissheit seines Seins zum Tode am hohen Gut des Lebens und an dessen Sinn zweifeln und verzweifeln lassen.73 Viertens: Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Haltungen des Lasters insgesamt als unwillkürliche Neigungen eines abstrakten Lebensinteresses verstehen lassen. Das Lebensinteresse eines Menschen bzw. einer Gemeinschaft von Menschen ist abstrakt, wenn es unwillkürlich von den Relationen abstrahiert, die für das geschaffene, das leibhafte Person-Sein konstitutiv sind. Niemand wäre schließlich im Dasein, wenn er bzw. wenn sie sich nicht der elterlichen Geschlechtsgemeinschaft verdanken würde, die ja ihrerseits die irdische Form des schöpferischen Geistes Gottes ist. Sieht das abstrakte Lebensinteresse der Person unwillkürlich ab von den Relationen zur gemeinsamen Mit-Welt und zu deren schöpferischem Grund und Ursprung, so wird es von der objektiven Verzweiflung bestimmt, der Søren Kierkegaard in der Schrift „Die Krankheit zum Tode“ eine eindringliche Analyse gewidmet hat. Michael Theunissen hat diese Analyse wohl mit Recht auf die Formel gebracht: „Wir wollen unmittelbar nicht sein, was wir sind.“74 Die dogmatische Besinnung auf die Wahrheit des Evangeliums von Gottes wahrer Liebe – von Gottes des Schöpfers unbedingtem Heilssinn im Christus Jesus durch den Heiligenden Geist – achtet das Anliegen der philosophischen Lebenslehren hoch, die Haltungen des Lasters kraft sittlicher Selbstmacht und Selbstbeherrschung zu zähmen oder gar zu überwinden. Ihnen gegenüber aber wird sie immer wieder neu zur Geltung bringen, dass es dazu letzten Endes des vertrauenden Glaubens an Gottes versöhnendes Walten im Sinne von Röm 1,16-17 und des herzlichen Danks für diese Gnade bedarf. Natürlich kommt es dem vertrauenden Glauben an

72 Vgl. Hilde Bruch, Eßstörungen. Zur Psychologie und Therapie von Übergewicht und Magersucht, dt. Frankfurt a.M.: Fischer, 1991 (Fischer Taschenbuch; 6796), 68. 73 Vgl. Josef N. Neumann (wie Anm. 71), 1829: „Da der bedrängende Eindruck des Absurden von der dem Menschen bewußten Todesgewißheit ausgeht, intendiert süchtiges Verhalten Vergessen von Endlichkeit. Dabei sind Wirklichkeitsflucht und Selbstzerstörung des sinnsuchenden Menschen nicht beabsichtigte, aber unausweichliche Folgen eines Weges, der die Auseinandersetzung mit den Grundbedingungen des menschlichen Daseins zu umgehen sucht.“ 74 Vgl. Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode (wie Anm. 24); Michael Theunissen, Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1993 (stw; 1062), 18.

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Gottes versöhnendes Walten und dem Dank für diese Gnade zugute, wenn eine Gesellschaft jenen Institutionen rechtlichen Schutz gewährt, in deren symbolischer Kommunikation die objektive Verzweiflung als Verzweiflung am Rettenden durch Gottes Heiligenden Geist geheilt und überwunden wird.75 Meine Darstellung des christlichen Glaubens an Gott den Versöhner möchte zeigen, dass das „In-ChristusSein“ – die heilsam neue Selbsterfahrung der Person – notwendigerweise auf den Schutz durch die Verfassung und durch das System des Rechts angewiesen ist (s. 3.4.2). 3.3.6

Zorn, Hass, Gewalt76

Ich schließe meine Darstellung der Phänomene des „In-der-Sünde-Seins“ mit den Beobachtungen zu deren dunkelsten und schwierigsten Aspekten ab. Es sind vornehmlich diese dunkelsten und schwierigsten Aspekte, die jedem Menschen guten Willens die Augen öffnen für die unentrinnbare Verschränkung von Leid und Sünde, die uns das Böse des Dichtens und Trachtens des menschlichen Herzens von Jugend auf demonstriert (vgl. Gen 8,21). Die Phänomene des Zorns, des Hasses und der Gewalt sind unbestreitbar jene Phänomene, die uns die Gründe und Motive für das verschuldete Leid – im kleinen Kreise des privaten Lebens ebenso wie im öffentlichen Leben einer Gesellschaft und im Verhältnis zwischen Gesellschaften – besonders krass und oft genug besonders grausam zeigen. Um diese Gründe und Motive zu verstehen und um zu ihrer Eindämmung beizutragen, hat sich in den außertheologischen Wissenschaften vom Menschen eine weitverzweigte Forschung etabliert, die der Aggressivität bzw. der Aggressionsbereitschaft auf die Spur zu kommen sucht. Eine Synthese der verschiedenen Ansätze scheint es nicht zu geben.77 In dieser Lage plädiere ich dafür, vom Phänomen des Zorns, und zwar des rechten Zorns auszugehen, das uns die Phänomene des Destruktiven zu erschließen hilft.

75 Vgl. hierzu Michael Theunissen, Der Begriff Verzweiflung (wie Anm. 74), in Korrektur an Kierkegaard: verzweifeln überhaupt heißt: „am Rettenden verzweifeln.“ (110). 76 Vgl. zum Folgenden bes.: Christoph Demmerling/Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle (wie Anm. 38), 287–310: Zorn und andere Aggressionsaffekte; Stefan Volkmann, Der Zorn Gottes. Studien zur Rede vom Zorn Gottes in der evangelischen Theologie, Marburg: Elwert, 2004 (MThSt; 81), 19–41; Eilert Herms, STh (bes. Bd. 2), 2245–2270. 77 Vgl. den Überblick von Hans-Jürgen Fraas, Art. Aggression: RGG4 1, 183–184. – Dass die außertheologischen Wissenschaften vom Menschen derzeit über keine Synthese ihrer Forschungen zum Thema Aggression verfügen, hat womöglich darin seinen tieferen Grund, dass sie das Phänomen der Gefühle ohne Rücksicht auf die jeweilige Sicht tragfähigen Lebenssinnes der fühlenden Person beschreiben wollen.

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins

Erstens: Mit der Sequenz von Zorn, Hass und Gewalt gehen wir zurück auf die Grundsituation des Konflikts. Wie es schon Thomas von Aquino richtig sah, gehört der Zorn zu den unwillkürlichen Äußerungen des Aus-seins-auf, des Lebenswillens der je individuellen geschaffenen Person in ihren notwendigen privaten bzw. öffentlichen Beziehungen.78 In ihnen streben wir danach, das hohe Gut des leibhaften Person-Seins in dessen begrenzter Dauer zu erhalten und eine wie auch immer geartete Ordnung des Gemeinwohls zu beachten; denn diese ist ja überhaupt die strukturelle rechtliche Bedingung dafür, dass wir das Woraufhin des Lebenswillens im Lichte eines Lebenssinnes bzw. einer letzten praktischen Gewissheit kommunikativ und interaktiv verfolgen können. Allein im Rahmen einer solchen Ordnung vermögen wir es, unsere jeweilige Handlungs- und Gestaltungsmacht tatsächlich auszuüben (s. 2.4.2.2.3). Nun sind wir Menschen alle nicht davor gefeit, das Woraufhin unseres Lebenswillens rücksichtslos zu verfolgen – jedenfalls dann nicht, wenn wir uns de facto in Ungewissheit hinsichtlich des unbedingten Heilswillens des dreieinen Gottes befinden. Erleben wir uns als angegriffen oder zurückgesetzt bzw. erleben andere sich als von uns angegriffen oder zurückgesetzt, so reagieren wir bzw. so reagieren sie unwillkürlich zürnend. Zürnend äußern wir gestisch und mimisch, sprachlich und womöglich sogar handgreiflich die aversive Emotion, mit der wir unsere Selbstachtung bzw. unser Selbst-sein-Wollen und dessen kommunikativen Lebensraum in Liebe und Ehe, in Familie und Gesellschaft verteidigen und schützen. Im Anschluss an Thomas lässt sich die aversive Emotion des Zorns danach bewerten, ob sie sich in der rechten oder aber in der unrechten Weise äußert.79 Norm und Kriterium dieser Unterscheidung ist die jeweils erreichte Einsicht in die rechtlichen und sittlichen Regeln praktischer Vernunft. Während unrechter Zorn dahin tendiert, dem andern, der den Zorn erregt, aus Rachbegierde ein Übel zuzufügen bzw. ihm eine Strafe bloß als Übel aufzuerlegen, tendiert der rechte Zorn dazu, die Geltung der rechtlichen und sittlichen Regeln praktischer Vernunft aufrecht zu erhalten; nicht zuletzt auch um willen der Einsicht dessen, der die Emotion des Zorns erregt. Sie zielt auf eine Qualität der Lebensverhältnisse, die wir als Situation des Rechtsfriedens bezeichnen können. Während demnach rechter Zorn als vernünftig und als gerechtfertigt durchaus zu loben und zu anerkennen ist, ist unrechter Zorn als unvernünftig und als verwerflich abzulehnen. Unrechter Zorn erweist sich auf der Stelle als maßlose, als

78 Vgl. Thomas von Aquino, STh II – II q 158 a 1–8; bes. a 1c; a 1 ad 1–4. – Thomas kommt auf das Phänomen des Zorns zu sprechen innerhalb seiner ausführlichen Untersuchungen zur kardinalen Tugend der temperantia, der Besonnenheit (STh II–II q 141–q 170). 79 Vgl. Thomas von Aquino, STh II – II q 158 a 1c. Thomas beruft sich hier auf Aristoteles, NE VII, 6 (1149b 20) sowie auf Augustin, De civitate Dei IX, 4 (ML 41,258) und auf Papst Gregor I., d. Gr., Moral. V, 45 (ML 75,727). – Vgl. hierzu auch Bernd Harbeck-Pingel, Art. Zorn: RGG4 8, 1900–1901.

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unbeherrschte, als zerstörerische Wut: als Wut, die sich unter bestimmten Umständen gegen die Strukturen der Verteilung der Güter und gegen das System politischer Herrschaft richtet und damit den Charakter der organisierten Revolte gewinnt. Zweitens: Mit der aversiven Emotion des Zürnens kommt die aversive Emotion des Hassens durchaus überein. Sie ist allerdings von jener dadurch unterschieden, dass sie als abgrundtief empfunden wird und sich zu einer dauerhaften Einstellung verfestigt. Während der Zorn mit der Zeit verraucht und die Wut verfliegt, schwelt der Hass kontinuierlich wie eine Glut. Worin der Unterschied zwischen dem Zürnen und dem Hassen tatsächlich besteht, ist in der Lage der außertheologischen Wissenschaften vom Menschen derzeit eine offene Frage. Wenn mich nicht alles täuscht, so bildet sich die aversive Emotion des Hassens in einem sei es einseitigen sei es wechselseitigen Verhältnis der Feindschaft. Was es mit solcher Feindschaft auf sich hat, scheint in der Sphäre der privaten Beziehungen und in der Sphäre der dominierenden öffentlichen Vorurteile durchaus verschieden zu sein.80 In der Sphäre der privaten Beziehungen entzündet sich der Hass in einer Szene bzw. in einer Konstellation, die wir als schwere Schmach oder als niederträchtige Beleidigung empfinden. In einer solchen Szene bzw. in einer solchen Konstellation finden wir uns in unserem Selbstgefühl und in unserer Selbstachtung zutiefst erschüttert. Die aversive Emotion des Hassens sinnt auf Rache; ja auf Vernichtung. Darin gehemmt durch das Gewissen und durch die Ordnungen der Sitte und des Rechts, äußert sie sich in hilflosem Geschrei, wenn sie sich nicht in tiefe depressive Verstimmung flüchtet. Im Hass reagieren wir unwillkürlich auf etwas, was nicht

80 Vgl. zum Folgenden bes. Thomas von Aquino, STh II–II q 34 a 1–a 6 (gemäß dem methodischen Prinzip der Untersuchung der Gegensätze kommt Thomas auf den Hass im Kontext des großen Abschnitts über die theologische Tugend der Liebe des Christus-Glaubens zu sprechen [q 23–q 44]). – Vgl. ferner: Joachim Ringleben/Klaus Winkler, Umgang mit Fremden, Hannover: Luth. VerlagsHaus, 1994 (Vorlagen; N. F. 21); Erich Fromm, Die Antwort der Liebe. Die Kunst des richtigen Lebens, Freiburg i. Br.: Herder, 2006 (Herder Spektrum; 5366); Christian Demmerling/Hilge Landweer, Philosophie der Gefühle (wie Anm. 38), 295ff.; Detlef Oesterreich, Flucht in die Sicherheit. Zur Theorie des Autoritarismus und der autoritären Reaktion, Opladen: Leske + Budrich, 1996; Else Frenkel-Brunswik/R. Nevill Sanford, Die antisemitische Persönlichkeit, in: Ernst Simmel (Hg), Antisemitismus, Frankfurt a.M.: Fischer, 1993; Dies., Studien zur autoritären Persönlichkeit. Ausgewählte Schriften, Wien: Nausner & Nausner, 1996; Otto F. Kernberg, Wut und Haß. Über die Bedeutung von Aggression bei Persönlichkeitsstörungen und sexuellen Perversionen, dt. Stuttgart: Klett-Cotta, 2 1998, bes. 35–48: Die Psychopathologie des Hasses; Andreas Feldtkeller, Art. Fremde IV. Sozialgeschichtlich, soziologisch, sozialethisch: RGG4 3, 342–343; Klaus Winkler, Art. Haß II.: ebd. 1468–1469. – Als Thema der Dogmatik findet sich das Phänomen des Hassens immerhin bei Gerhard Ebeling, Dogmatik II, 489–493!

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins

wieder gut zu machen ist; jedenfalls solange die verhasste Szene bzw. die verhasste Konstellation in der Erinnerung stillschweigend präsent ist. Anders verhält es sich mit solchen Erscheinungen des Hassens, die sich am puren Dasein einer Gruppe bzw. einer Klasse von Menschen entzünden, das einer „einheimischen“ Gruppe oder Klasse als zutiefst fremd begegnet. Im Vordergrund scheint das Gefühl zu stehen, von einer Gruppe bzw. von einer Klasse Fremder in den ökonomischen Lebensgrundlagen – des Wohnens, des Arbeitens, des sozialen Schutzes – und in der Rechtsordnung einer Gesellschaft bedroht zu sein; im Vordergrund steht zweifellos die Konkurrenz um die Verteilung der Ressourcen. Im Hintergrund jedoch bzw. in der Tiefe des individuellen leibhaften Person-Seins verbirgt sich die Unfähigkeit, das Fremde einer anderen Gruppe bzw. einer anderen Klasse von Menschen zu ertragen: das andere Geschlecht; die andere Hautfarbe und die andere Rasse; die andere Lebensform und nicht zuletzt die andere religiöse Praxis. Das Fremde einer anderen Gruppe bzw. einer anderen Klasse von Menschen irritiert zutiefst, weil es die Festigkeit und Orientierungskraft der eigenen Identität zutiefst erschüttert und in Frage stellt. Es wird geradezu als dämonisch wahrgenommen, das jederzeit zur Aggression und zur Vernichtung freigegeben ist. Neuere Forschungen machen es plausibel, dass die latente bzw. die akute Bereitschaft zur Aggression gegen das Fremde des Andern und der Andern ein autoritär geprägtes Selbstbild und damit eine autoritär geprägte Sicht des Lebens und des Lebenssinnes offenbart. Sie sehen das Autoritäre eines Selbstbilds bzw. einer Sicht des Lebens und des Lebenssinnes nicht – wie noch Theodor W. Adorno – in der Verpflichtung auf fraglosen Gehorsam; sie sehen es vielmehr mit Recht in den verschiedenen Graden eines schwachen bzw. eines haltlosen Selbstwertgefühls, das sich einer überaus komplexen sozialen bzw. kulturellen Situation nicht gewachsen zeigt. Indem es die Erfahrungen des Differenten, des Fremden und des überraschend Neuen nicht verkraftet, regrediert es unwillkürlich auf die scheinbare Sicherheit des primär Gewohnten und primär Vertrauten. In solcher Regression offenbart sich Angst. Schlägt Hass in diesem Sinne in aggressive Phantasie und aggressive Sprache und in Mord und Totschlag um, so manifestiert er sich als angsterfüllte autoritäre Aggression.81 Drittens: Ich bin in meiner Analyse des Zürnens und des Hassens von der Erkenntnis ausgegangen, dass die Grundsituation des Mensch-Seins de facto als die

81 Jüngste Statistiken in den USA verzeichnen deshalb erschreckend hohe und wachsende Zahlen von hate crimes. Auch in der Bundesrepublik Deutschland ist die Zahl der hate crimes, für die die rechtsextreme Szene verantwortlich ist, im Steigen begriffen. – Dass insbesondere die Erscheinungen des modernen Mythos des Rassismus sowie des Antisemitismus als Symptome der „tiefliegenden Angst vor dem Fremden“ zu verstehen sind, zeigt in sozialpsychologischer und in ethischer Hinsicht auch Friedrich Lohmann, Art. Rassismus II. Sozialwissenschaftlich; III. Ethisch: RGG4 7, 40–41.

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Grundsituation des Konflikts anzusprechen ist: nicht etwa nur des Konflikts zwischen Einzelnen, sondern auch und hauptsächlich des Konflikts zwischen Familien, Ethnien, Herrschaften, Staaten und Imperien. In allen diesen Konfliktsituationen droht Gewalt und ereignet sich Gewalt. Nun will die religiöse Kommunikation des Evangeliums, wie sie die ChristusGemeinschaft der Kirche und der Kirchen in ihrer jeweiligen Gesellschaft zu pflegen hat, Gewalt begrenzen und Gewalt mit Gottes Hilfe überwinden. Aus diesem Grunde bedarf ihre Botschaft vom „Frieden mit Gott“ (Röm 5,1) eines vertieften Verstehens des Phänomens der Gewalt. Zu solch vertieftem Verstehen trage ich bei, indem ich mich im Folgenden exemplarisch auf die Aspekte krimineller Gewalt, struktureller Gewalt, militärischer Gewalt, religiöser Gewalt und weltanschaulicher Gewalt konzentriere.82 Ad 1: Kriminelle Gewalt. In aller Geschichte bestand und besteht die Gefahr, dass Mitglieder einer sozialen Formation gegeneinander brachiale Gewalt anwenden. Solche brachiale Gewalt zielt auf das Hab und Gut bzw. auf Leib und Leben, also auf alles, was dem Andern in irgendeinem Sinne zu eigen ist und seine Lebenssphäre bildet. Brachiale Gewalt zeigt sich in allen Versuchen, das eigene Lebensinteresse gegen den Willen einer anderen leibhaften Person bzw. einer anderen Gemeinschaft mit den Mitteln des Zwangs oder mit List und Tücke durchzusetzen. Sie bringt auf diese Weise den Zusammenhalt einer sozialen Formation in Gefahr; zumal dann, wenn ihre innere Sicherheit noch nicht von einem wirksamen Gewaltmonopol geschützt sein sollte.83

82 Vgl. zum Folgenden die Beiträge in: Friedrich Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt. Kongressband des XII. Europäischen Kongresses für Theologie 18.–22. September 2005 in Berlin, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2006 (VWGTh; 29); darin bes.: Eilert Herms, Wahrheitsanspruch und Gewaltverzicht, 58–89. – In meiner folgenden Darstellung setze ich als zugestanden voraus, dass die Bedeutung der deutschen Termini „Macht“, „Gewalt“ und „Herrschaft“ sorgfältig zu unterscheiden ist (vgl. hierzu Konrad Stock, Einleitung, 415–421). Während wir unter dem Term „Macht“ den Aspekt des menschlichen Handelns als des „Verwirklichens“ verstehen dürfen, bezeichnen wir mit dem Term „Gewalt“ jede Tendenz, Macht gegen den Willen der Anderen durchzusetzen und somit zu missbrauchen. Der Term „Herrschaft“ schließlich weist auf die verschiedenen Formen der politischen Ordnung hin, die im Interesse der inneren Sicherheit eines Gemeinwesens auf einem Gewaltmonopol beruhen (das ist die Bedeutung des Ausdrucks „Gewalt“ bzw. des Ausdrucks „staatliche Gewalt“ z. B. im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland). Dass „Herrschaft“ ihre Legitimität aus ihrer Bindung an die Achtung der unantastbaren Würde des Menschen gewinnt, ist eine ethische Erkenntnis, deren Brisanz sich für die Erfahrung vergangener und gegenwärtiger politischer Gewaltherrschaft zeigt. 83 Dazu zählen insbesondere die mannigfachen Formen der Männer-Gewalt gegen Frauen sowie die sexuelle Gewalt (nach einer jüngsten Erhebung kommt es in der Bundesrepublik Deutschland täglich zu etwa 40 Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen!! Es ist zu befürchten, dass die Dunkelziffer des sexuellen Missbrauchs ebenso wie die der Vergewaltigungen weit größer

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins

Die innere Sicherheit einer sozialen Formation hängt mithin davon ab, dass ihre Mitglieder sich gegenseitig als Rechtspersonen achten. Ich verstehe unter dem Begriff des Rechts jene Institution, die die Erwartungen der Rechtspersonen aneinander normiert und die Verletzung ihrer Normen mit den verschiedenen Formen der Rechtsstrafe sanktioniert. Die Institution des Rechts hat deshalb in ihrer Geschichte eine doppelte Funktion. Einerseits setzt sie im Sinne des positiven Rechts alle die Normen fest, die das Zusammenleben in welcher Art von Gemeinschaft immer allererst möglich machen; andererseits aber schließt sie die Befugnis ein, den Rechtsgehorsam durch die Androhung der Rechtsstrafe zu erzwingen. Die Institution des Rechts hat deshalb stets den Charakter der generellen Prävention. Dass solche generelle Prävention faktisch notwendig ist, ist wohl die allgemeine Einsicht der Kulturen und der sozialen Formationen in aller Geschichte. Auf welche Weise unter dem Schutz der Institution des Rechts die Bereitschaft zu krimineller Gewalt zu minimieren sei, wird auf der Basis der dogmatischen Besinnung das besondere Thema der Theologischen Ethik und ihrer Theorie des Rechts sein (STh III). Ad 2: Strukturelle Gewalt.84 Zu den Erscheinungsformen der Gewalt gehört auch strukturelle Gewalt. Im Gegensatz zu den Bestimmungen dieses Begriffs, wie sie John Galtung aufgestellt hat, verstehe ich darunter diejenige Gewalt, die eine Obrigkeit im Innenverhältnis einer Gesellschaft praktiziert. Gewaltsam im Verhältnis zu den Mitgliedern einer Gesellschaft wird eine Obrigkeit verfahren, wenn sie die Handlungsmacht der Justiz, der Polizei und schließlich auch des Militärs beherrscht. In diesem Falle ist die Teilung der Gewalten in einem Gemeinwesen entweder noch nicht erreicht oder stark beschädigt bzw. überhaupt ausgesetzt. Dies aber ist das untrügliche Indiz dafür, dass eine Obrigkeit das staatliche Gewaltmonopol nicht im Lichte und im Interesse einer Vision des Gemeinwohls gebraucht, sondern vielmehr ausschließlich in einem partikularen Interesse. Mit dem Begriff der strukturellen Gewalt dürfen wir alle die autoritären, diktatorischen und totalitären Herrschafts-

ist). Eine neue Dimension der sexuellen Gewalt zeigt sich im Darknet, in dessen einschlägigen Portalen pädophile Nutzer in enormer Größenordnung kinderpornographische Fotos und Videos austauschen. Vgl. hierzu den Bericht: „Schlag gegen Plattform für Kinderpornos“ in: F. A. Z. vom 04.05.2021 [Nr. 102], S. 7). – Eine unerwartet neue Variante krimineller Gewalt bedroht uns in Gestalt der sog. Cyber-Kriminalität. 84 Vgl. zum Folgenden bes.: John Galtung, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek: Rowohlt, 1975; Michael Kuch, Wissen – Freiheit – Macht. Kategoriale, dogmatische und (sozial-)ethische Bestimmungen zur begrifflichen Struktur des Handelns, Marburg: Elwert, 1991 (MThSt; 31), 147–156 (mit präziser Kritik an Galtung).

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formen charakterisieren, die das leibhafte Person-Sein und damit die Freiheitsrechte aller unterdrücken und zu zerstören trachten.85 Ad 3: Militärische Gewalt.86 Zu den Erscheinungsformen der Gewalt gehört in aller bisherigen Geschichte der reguläre bzw. der irreguläre Krieg. Unter dem regulären Krieg verstehe ich jeden Konflikt zwischen sozialen Subjekten, Herrschaften („Reichen“) oder Staaten, der mit Waffengewalt und mit militärischen Formationen ausgetragen wird. Ohne an dieser Stelle einzugehen auf die mannigfachen Anlässe und Ursachen kriegerischer Handlungen im Selbstverständnis der kriegführenden Parteien, meine ich mit dem Begriff des regulären Kriegs einen Konflikt, den zu eröffnen, durchzuführen und zu beenden ein wie auch immer gearteter und begründeter Rechtsanspruch – ein ius ad bellum – besteht. Aus diesem Grunde wird der Krieg formell erklärt und mit der Schließung eines Friedens bis auf weiteres beendet. Nach den brutalen Verwüstungen des sog. Dreißigjährigen Kriegs haben jedenfalls die Souveräne der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne Regeln und Normen eines ius in bello entwickelt, aus denen die verschiedenen Konventionen eines Kriegsvölkerrechts hervorgegangen sind.87 Erschüttert von dem Rückblick auf den Trend zum totalen Krieg, der zwischen Kombattanten und zivilen Personen nicht mehr unterscheidet, hat die UN-Charta von 1948 in ihrem 85 Vgl. hierzu den informativen Artikel von Georg Zenkert/Friedrich Wilhelm Graf, Art. Totalitarismus: RGG4 6, 486–489; sowie bes. Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, 1951; dt.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München/ Berlin/Zürich: 20 2017 (Serie Piper; 1032); Karl Dietrich Bracher, Die totalitäre Erfahrung, München: Piper, 1987. 86 Vgl. zum Folgenden bes.: Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, in: Sigmund Freud, Das Unbewußte. Schriften zur Psychoanalyse, hg. von Alexander Mitscherlich, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 1960, 185–213; Ders., Warum Krieg?, ebd. 417–430; Wolfgang Huber/Hans-Richard Reuter, Friedensethik, Stuttgart: Kohlhammer, 1990; Stavros Mentzos, Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1993; Martin van Crefeld, Die Zukunft des Krieges (1991), dt. München: Gerling Akademie Verlag, 1998; Herfried Münkler, Gewalt und Ordnung. Das Bild des Krieges im politischen Denken, Frankfurt a.M.: Fischer, 1992; Ders., Der Krieg der Zukunft und die Zukunft der Staaten, in: Wolfgang Knöbl/Gunnar Schmidt (Hg.), Die Gegenwart des Krieges. Staatliche Gewalt in der Moderne, Frankfurt a.M.: Fischer, 2000 (Fischer TB; 14265), 52–71; Hans Joas, Kriege und Werte. Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2000 (der Band enthält die Beiträge, in denen der Autor auf die Schwierigkeiten aufmerksam macht, die eine Theorie der Modernisierung mit dem Verständnis des Krieges hat; vgl. bes. das Kapitel: Die Modernität des Krieges [ebd. 67–86]); Heinz-Horst Schrey, Art. Krieg IV. Historisch/Ethisch: TRE 20, 28–55 (Lit.); Hans-Richard Reuter, Art. Krieg I. Sozialwissenschaftlich: RGG4 4, 1765–1767. 87 Vgl. das IV. Haager Abkommen von 1907 („Landkriegsordnung“); die vier Genfer RotkreuzAbkommen von 1949 (Grundsätze eines humanitären Völkerrechts); sowie das I. und II. Genfer Zusatzprotokoll von 1977. – Vgl. hierzu bes. Joachim Hinz/Elmar Rauch, Kriegsvölkerrecht, Köln: Heymann, 3 1984; Hans-Richard Reuter, Art. Kriegsvölkerrecht: RGG4 4, 1776.

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Artikel 2 die Ächtung des Krieges und das grundsätzliche Verbot kriegerischer Gewalt proklamiert, das freilich noch immer gegenüber den jeweiligen Interventionen der Weltmächte versagt. Im Unterschied zur kriminellen Gewalt ist kriegerische Gewalt ein Prozessmuster der Instanzen, die mehr oder weniger effizient das Gewaltmonopol in ihrer Herrschaft innehaben. Für die historische und für die systematische Beantwortung der Frage, aus welchen Gründen sie ein ius ad bellum und damit die Rechtfertigung des Kriegs in Anspruch nehmen, müssen wir auf die Interessen bzw. auf die Raison ihrer Herrschaft achten. Wie immer es damit in früheren und ferneren Epochen stehen mag: für die Epoche der euro-amerikanischen Neuzeit und der Moderne scheint es mir typisch zu sein, dass den Entscheidungen zum regulären Krieg bzw. zum irregulären Krieg der Annexion und der Okkupation Motive der Ehre, der Wohlfahrt, der Sicherheit und der wechselseitigen Furcht der Souveräne zugrunde liegen. Solange jedenfalls die Konkurrenz der Souveräne um ihr Prestige und um ihre ökonomischen Ressourcen nicht gebändigt wird von den Systemen völkerrechtlich bindender Verträge, bleibt es beim Risiko der militärischen Gewalt, die auf die Unterwerfung eines Feindes zielt.88 Wie immer auch das Interesse einer Obrigkeit, ein ius ad bellum in Anspruch zu nehmen, mit dem erklärten oder unerklärten Willen eines Volkes bzw. einer Gesellschaft vermittelt sein mag: es demonstriert eine abstrakte Art der Selbstbehauptung, die um den Preis des Töten- und Zerstören-Wollens Böses unter dem Schein des Guten wirkt. Es stellt eine Grenzsituation her für alle, die freiwillig oder unfreiwillig dem Befehl zu töten und zu zerstören unterworfen sind.89 Als einzelne in einer kleineren oder größeren Einheit – in einer Kompanie, in einer Staffel, in einem Geschwader, in einem Bataillon, in einer Division, in einer Armee – existieren sie in der Gefahr des Todes, der Verwundung, der Gefangenschaft; umgekehrt aber existieren sie in der Pflicht zu töten und zu zerstören, die jede rechtliche und

88 Einen besonderen Fall militärischer Gewalt sehe ich in dem Prozessmuster der imperialen Mächte der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne, einheimische Kulturen als Kolonien zu besetzen, um sie in ihre Herrschaft und vor allem in ihre Wirtschaft einzugliedern. Zu den unvorstellbar hohen Werten, die die imperialen Mächte aus ihren Kolonien schöpften, vgl. jetzt den Bericht der F.A.Z. Nr. 12 vom 15. Januar 2019, S. 16: Die Kosten der Kolonialzeit (er gibt Berechnungen indischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wieder, die die Wertschöpfung des British Empire während der kolonialen Beherrschung Indiens auf 43 Billionen USD schätzen!!!). 89 Ich spiele an auf den Begriff der „Grenzsituation“ bei Helmut Thielicke, ThE II/1, 202–327 (im Kontext seiner Lehre vom ethischen Verhältnis der „Kirche“ zur „Welt“ unter dem Gesichtspunkt der „Konfliktsituation“).

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jede sittliche Regel bricht. Es ist womöglich die brisante Mischung von Angst und Enthemmung, die schließlich auch das Kriegsverbrechen entzündet.90 Ad 4: Religiöse Gewalt; weltanschauliche Gewalt.91 Es darf in einer systematischen Besinnung auf die Wahrheit des Christus-Glaubens in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) nicht unerwähnt bleiben, in welch ungeheuerlichem Maße jedenfalls in der Geschichte der europäischen Neuzeit und Moderne Gewalt aus religiösen und aus weltanschaulichen Motiven geübt wurde. Damit wir uns die Phänomene des „In-der-Sünde-Seins“ konkret vor Augen führen, seien wenigstens die Ereignisse der sog. Konfessionskriege und dann vor allem das Projekt der Auslöschung des europäischen Judentums genannt. Nach Johannes Burkhardt ist der Begriff des Konfessionskriegs zu präzisieren im Sinn des Begriffs des Konfessionsbildungskriegs.92 Er bezeichnet das dominierende Interesse der Souveräne, den christlichen Religionskonflikt für ihre frühmoderne und moderne Staatsbildung in Gebrauch zu nehmen, nachdem er in der Bildung der Konfessionen sich endgültig verfestigt hatte. Beginnend mit den Hussitenkriegen des 15. Jahrhunderts bis hin zu den verschiedenen Phasen des sog. Siebenjährigen Krieges von 1756 bis 1763 hatten die militärischen Operationen der rechtmäßigen Kriegsherren stets eine religionspolitische Bedeutung. In ihrem Hintergrunde steht die schreckliche Befürchtung, die reformatorischen Christus-Gemeinschaften verführten die Menschen zur Häresie und damit zu ihrem ewigen Unheil, während umgekehrt der Bischof von Rom als Inbegriff des Antichristen galt. Wir müssen der bitteren Tatsache ins Auge sehen, dass der religiöse Konflikt um die angemessene Form der Vergegenwärtigung des Evangeliums zum Beweggrund der Souveräne dafür wurde, militärische Gewalt einzusetzen. Solche religiöse Gewalt, wie sie in der Periode zwischen den beiden Kappeler Kriegen von 1529 und 1531 und den

90 Vgl. zu den obigen Andeutungen die Studie von Stavros Mentzos, Der Krieg und seine psychosozialen Funktionen (wie Anm. 86). Eine kritische Rezeption dieser Theorie der psychosozialen Dimension des Krieges im Diskurs der Theologischen Ethik ist mir noch nicht bekannt geworden. – Vgl. zu der Entwicklung der Instrumente, die dazu bestimmt sind, Kriegsverbrechen zu verhüten bzw. durch das Recht der internationalen Strafgerichtsbarkeit zu ahnden, Kai Ambos, Art. Kriegsverbrechen: EStL (NA 2006), 1349–1353; Ders., Internationales Strafrecht. Strafanwendungsrecht, Völkerstrafrecht, Europäisches Strafrecht, Rechtshilfe, München: C.H.Beck, 5 2006. 91 Vgl. zum Folgenden bes.: Konrad Repgen, Was ist ein Religionskrieg?: ZKG 97 (1986), 334–349; Peter Herrmann (Hg.), Glaubenskriege in Vergangenheit und Gegenwart, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1996; Johannes Burkhardt, Art. Religionskrieg: TRE 28, 681–687; Bernhard Maier, Art. Religionskriege: RGG4 7, 334–337. – Meine Skizze lässt natürlich die militärische Expansion des Islam, die koranische Idee des Heiligen Krieges sowie die mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikte um die legitime Nachfolge des Propheten Muhammad außer Betracht. 92 Vgl. Johannes Burckhardt, Art Religionskrieg (wie Anm. 91), 683f.

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins

Friedensschlüssen von Paris und von Hubertusburg im Jahre 1763 praktiziert wurde, verkennt zutiefst das genuine Selbstverständnis des Christus-Glaubens und seiner Glaubens- und Gewissensfreiheit; ebenso wie sie die Grenzen des Politischen im Allgemeinen und der legitimen politischen Herrschaft im Besonderen verkennt. „Nach Auschwitz“ (vgl. STh I, 19).93 Der Holocaust (die Shoa) zwingt die systematische Besinnung auf die Wahrheit des Glaubens an Gottes versöhnendes Walten, schließlich und endlich der weitgehenden Auslöschung des europäischen Judentums unter der Gewaltherrschaft Adolf Hitlers zu gedenken. Sie ist der einzigartige Fall des minutiös geplanten und exakt organisierten Mordens aus weltanschaulichen Motiven, das sich insbesondere nach der sog. Wannsee-Konferenz zu Berlin vom 20. Januar 1942 zutrug. Obwohl der Holocaust nicht ohne die mannigfachen Formen des antiken wie des christlichen Antijudaismus und wiederum nicht ohne den sozialen bzw. den rassistischen Antisemitismus der Moderne zu beschreiben ist, ist er zuerst und zuletzt das Werk der Weltanschauung Hitlers und seiner von ihm faszinierten willigen Helfer (Daniel Jonah Goldhagen): einer Weltanschauung, die durch Politik vollzogen wurde.94 Für diese seine Weltanschauung hatte Hitler ewige Wahrheit – nämlich Einsicht in die ehernen Gesetze der ewigen Natur – in Anspruch genommen und sich als deren vollmächtiger Prophet inszeniert. Joseph Dan hat festgehalten, dass sich der Antisemitismus in seiner mehr als zwei Jahrtausende andauernden Geschichte „jeder rel.(igiösen), kulturellen oder wirtschaftlichen Erklärung“ entziehe.95 Immerhin lehrt „Auschwitz“ – dieses entsetzenerregende Symbol des abgrundtief Bösen –, dass das „In-der-Sünde-Sein“ sich letzten Endes konkretisiert als Unterdrücken der Wahrheit durch Ungerechtigkeit (Röm 1,18).

93 Vgl. zum Folgenden bes.: Heiko A. Oberman, Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Reformation, Berlin: Severin und Siedler, 2 1982; Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1975; Helmut Berding, Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988 (NHB: es 1257 [NF 257]); Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. 1. Die Jahre der Verfolgung, 1933–1939, München: Beck, 1998; 2. Die Jahre der Vernichtung, 1939–1945, ebd. 2 2006; Joseph Dan/Peter Schäfer/Berndt Schaller/Jörg Thierfelder/Christofer Frey: Art. Antisemitismus/Antijudaismus: RGG4 1, 556–574. 94 Vgl. bes. Eberhard Jäckel, Hitlers Herrschaft. Vollzug einer Weltanschauung, Darmstadt: WBG, 3 1991. 95 Vgl. Joseph Dan, Art. Antisemitismus/Antijudaismus I. Definitionen und Probleme (wie Anm. 93), 556.

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Fazit: „An dir allein habe ich gesündigt“ (Ps 51,6). Zum Verhältnis von Sünde und Schuld

Wie der Apostel Paulus im Brief an die Gemeinde zu Rom es maßstabsetzend deutlich macht, ist die systematische Besinnung auf die Wahrheit des Christus-Glaubens und nur sie die Klammer, innerhalb derer die Phänomene des „In-der-Sünde-Seins“ zur Sprache kommen müssen. Sie müssen allerdings in dieser Klammer zur Sprache kommen; denn der Christus-Glaube ist nur deshalb die „Macht Gottes zum Heil“ (Röm 1,16 [Übersetzung Michael Wolter]), weil er im Gewissen eines Menschen kraft des Heiligenden Geistes die Gewissheit des Friedens mit Gott (Röm 5,1) erleben lässt. Indem die systematische Besinnung auf die Wahrheit des Christus-Glaubens die Phänomene des „In-der-Sünde-Seins“ zur Sprache bringt, tut sie nur das und genau das, was jede ernste und gewissenhafte Selbsterforschung eines Menschen mehr oder weniger tief erbringt. Sie dient der Wahrheit, die befreit, indem sie das Vergessen, das Verdrängen, das Verleugnen schmerzlich unterbricht und das Reale der Geschichte zu Bewusstsein bringt. Vergleichbar den therapeutischen Schulen und Richtungen der Gegenwart und doch gründlich anders leitet sie die Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche dazu an, die ernste Reue zu erwecken, ohne die es keine Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums gibt. Vorliegendes Kapitel hat das Ziel, die Gewissheit des Friedens mit Gott im Gewissen der Person im Sinnraum und Verstehenshorizont der Bibel Israels als Zentrum und als harten Kern des Evangeliums darzulegen.96 Um dieses Zieles willen ging ich aus von der Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins – des inneren Menschen, des Selbstverhältnisses der Person –, sofern es sich der Gewissheit des unbedingten Heilssinns des dreieinen Gottes nicht oder noch nicht erfreut.97 Anders als der Apostel Paulus selbst und anders als lang-

96 Vgl. zu dieser Zielsetzung Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen: Mohr Siebeck, 3 1999, bes. 207–209. Allerdings scheint mir in Jüngels Interpretation der reformatorischen Exklusivartikel (126–220) das von den maßgeblichen Lehrern der reformatorischen Bewegung eindringlich beschriebene Walten Gottes als Heiligender Geist (s. 4.1) nur ganz am Rande beachtet zu sein. 97 Friedrich Schleiermacher, CG2 § 66 L (I, 355 = KGA I.13,1, 405), erfasst daher das „Bewußtsein der Sünde“ auf eine heutzutage irritierende Weise als „Unlust“: „Wir haben das Bewußtsein der Sünde, sooft das in einem Gemütszustand mitgesetzte oder irgendwie hinzutretende Gottesbewußtsein unser Selbstbewußtsein als Unlust bestimmt…“. – Der Leitsatz und seine Entfaltung machen allerdings nicht genügend klar, dass das „in einem Gemütszustand mitgesetzte oder irgendwie hinzutretende Gottesbewußtsein“ auch ein „unfrommes“ – d. h. ein abstraktes oder ein geradezu perverses Bewusstsein eines scheinbar Absoluten – sein kann: wie z. B. das der Dystopie der klassenlosen Gesellschaft oder das der Dystopie des „Tausendjährigen Reiches“. Offensichtlich kommt

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins

zeitige Gestalten der christlichen Glaubenslehre setzte ich ein mit einer Betrachtung, die die tatsächliche Verschränkung von erlittenem Leid und verschuldetem Leid vor Augen bringt; sie nimmt von vornherein das Problem der Theodizee ins Visier, das uns in Kenntnis der unfassbaren Gräuel der bolschewistischen Bewegung, der deutschen Kriegsführung im Osten zwischen 1939 und 1945 und insbesondere der Auslöschung des europäischen Judentums in der Shoa zum dumpfen Schweigen zu verdammen scheint. Eine Betrachtung, die die tatsächliche Verschränkung von erlittenem Leid und verschuldetem Leid vor Augen bringt, wird die Phänomene des „In-der-Sünde-Seins“ schärfer und deutlicher als Aspekte unserer Selbsterfahrung ansprechen können: nämlich als die abgründigen Aspekte des gemeinsamen menschlichen In-der-Welt-Seins, das sich als solches stets im Verhältnis zum schöpferischen Grund und Ursprung des gemeinsamen menschlichen In-der-Welt-Seins befindet (vgl. Röm 1,19). Um die Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums als das Zentrum des ChristusGlaubens zu entfalten, setzte ich ein mit der Kritik des Begriffs der Erbsünde (des „peccatum originale“), der zu der Unterscheidung zwischen einem status integritatis und einem status corruptionis in der Heilsgeschichte des Menschengeschlechts Anlass gab. Hat man das Missverständliche dieser Unterscheidung einmal durchschaut, so hat sie freilich nach wie vor ihre richtige und wichtige Bedeutung. Sie will plausibel machen, dass die verschiedenen Phänomene des „In-der-Sünde-Seins“ die uns Menschen allen gemeinsame Natur des Mensch-Seins de facto verfehlen und nicht etwa – so wie ein Hurrikan – als eigenständiges Reales existieren. Das Böse, das uns in der Geschichte der tatsächlichen Verschränkung von erlittenem Leid und verschuldetem Leid begegnet, existiert am Guten der uns Menschen allen gemeinsamen Natur des Mensch-Seins und verfehlt die ihr von Gottes schöpferischem Geist unwiderruflich zugedachte Bestimmung.98 Die quälende Frage,

Schleiermacher auf das Bewusstsein der Sünde ausschließlich im Rahmen der „Entwicklung des Bewußtseins der Gnade“ (§§ 86–169) zu sprechen und lässt den Zusammenhang zwischen dem „unfrommen“ Gottesbewusstsein und der Verschränkung von erlittenem Leid und verschuldetem Leid außer Betracht. Meine Darstellung des christlichen Glaubens an Gott den Versöhner enthält insofern eine erhebliche Korrektur an Schleiermachers Deutung des Bewusstseins der Sünde. 98 Man kann sich das besonders klar am Phänomen der Lüge deutlich machen, die ja die Sprache als das „Medium des Geistes“ (vgl. STh I, 197–213) in Anspruch nimmt, um in einer sei es einfachen sei es hochkomplexen Gesprächssituation das Wahr-Sein von Aussagen über Reales, das uns für unsere Verständigung gegeben ist, wissentlich und willentlich zu leugnen. Vermutlich in allen Menschensprachen indiziert das Wort „Lüge“ – im Unterschied zum Irrtum – das wissentliche und willentliche Leugnen des Wahr-Seins von Aussagen über Reales, ohne welches es die Sprachhandlungen des Lügens gar nicht geben könnte. In einem erweiterten und übertragenen Sinne dürfen wir auch eine Weltansicht wie die des dialektischen Materialismus von Friedrich Engels, Wladimir Iljitsch Lenin, Josef Stalin und Mao Zedong bzw. die in „Mein Kampf “ proklamierte Ideologie Adolf Hitlers als

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die der Christus-Glaube im Sinnraum und im Verstehenshorizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft zu beantworten sucht, lautet daher: wie ist überhaupt in jeder individuellen Lebensgeschichte diese Verfehlung möglich? Um die Antwort des Christus-Glaubens auf diese alles und alle bewegende Frage verständlich zu machen, ging ich den verschiedenen Phänomenen des „In-derSünde-Seins“ nach. Ich setzte ein mit der Beschreibung des Phänomens der Angst, um daran anschließend die Phänomene der Scham, der Begierde, der Haltungen des Lasters und ganz besonders der Gewaltbereitschaft vorzuführen, wie sie sich in der Sequenz von Zorn, Hass und brachialer Gewalt präsentiert. Indem ich diese Reihe namhaft mache, orientiere ich mich grundsätzlich an dem Konzept der Bildung und Entwicklung individueller Identität, die ihren Sinn und ihre Bestimmung in ihrer Beziehung zu anderer individueller Identität im Ganzen einer wie auch immer lebendigen Gemeinschaft zu suchen und zu finden hat. Gespräche über diese Konzeption mit den theoretischen Entwürfen aus den Wissenschaften vom Menschen in Psychologie und Soziologie sind dringliches Desiderat. In diesen Gesprächen wird christliche Theologie im Interesse der religiösen Kommunikation des Evangeliums darauf bestehen, dass alle diese Phänomene – im Gegensatz zu ihrer abstrakten humanwissenschaftlichen Analyse – als Phänomene des „In-der-Sünde-Seins“ zu verstehen sind.99 Die theologische Wahrnehmung der Phänomene des Bösen als Phänomene des „In-der-Sünde-Seins“ geht aus von dem Begriff des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins, wie ich ihn im Kapitel „Der christliche Glaube an Gott den Schöpfer“ entwickelt hatte (s. 2.4.2). Im Lichte dieses Begriffs erscheint uns der Prozess der Bildung und Entwicklung individueller Identität in einem verhängnisvollen und geradezu tragischen Zwiespalt. Zum einen ist geschaffenes leibhaftes Person-Sein ausgezeichnet durch jenen transzendentalen Grund, kraft dessen wir von einem ziemlich frühen Zeitpunkt an von einem individuellen Selbstgefühl bzw. von einem individuellen Freiheitsgefühl beseelt sind. Ich hatte diesen transzendentalen Grund als das „Sich-gegenwärtigSein“ der geschaffenen leibhaften Person erfasst, vermöge dessen sie in ihrer Bildungs- und Entwicklungsgeschichte über sich selbst in ihrem jeweiligen Verhältnis zu anderem geschaffenen leibhaften Person-Sein und zur jeweiligen gemeinsamen Welt frei und bewusst und d. h. wissentlich und willentlich entscheidet.

Lüge – und zwar als Lebenslüge – charakterisieren. Diese Weltansichten leugnen den fundamentalen Sachverhalt, dass das Reale, das angemessen zu verstehen wir in unserer je individuellen Lebensgeschichte bestimmt sind, natürlich den schöpferischen Grund und Ursprung des All des Seienden und damit dessen Dauer und dessen Ziel umfasst. 99 Dieses Interesse finde ich in der deutschsprachigen evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts besonders ausgeprägt bei Paul Tillich und bei Wolfhart Pannenberg.

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Phänomene des In-der-Sünde-Seins

Ihr kommt als endlichem Freiheitswesen die grundsätzliche Verantwortung dafür zu, das hohe Gut des geschaffenen leibhaften Person-Seins in ihrer jeweiligen gemeinsamen Welt zu schützen, zu bewahren und zu vervollkommnen. Indem sie ihr Leben als geschaffenes endliches Freiheitswesen im Verhältnis zum Leben des jeweils anderen geschaffenen Freiheitswesens führt, realisiert sie ihre sei es bescheidene sei es überragende Macht. Zum andern aber ist das jeweils individuelle Selbstgefühl bzw. das jeweils individuelle Freiheitsgefühl in der Ausübung seiner Macht nicht etwa unabhängig. Es ist vielmehr bezogen auf die verschiedenen Motive und Beweggründe, die es in seiner jeweiligen Gegenwart bestimmen. In solchen Motiven und Beweggründen meldet sich stets das ganz bestimmte Woraufhin und Worumwillen, das uns im Augenblick bzw. im Zeitraum des Entscheidens als begehrens- und erstrebenswert gewiss ist. Aus diesem Grunde steht das Leben des geschaffenen, des endlichen Freiheitswesens in seiner jeweiligen gemeinsamen Welt grundsätzlich in der Alternative, entweder in der Gewissheit eines gemeinsamen und deshalb konkreten Woraufhin und Worumwillen oder aber in der Gewissheit eines nur partikularen und deshalb einseitigen und abstrakten Woraufhin und Worumwillen zu entscheiden. Die Phänomene des „In-der-Sünde-Seins“, die ich betrachtet hatte, sind ganz allgemein Symptome dieses Zwiespalts. Sie repräsentieren jeweils die Gewissheit eines nur partikularen und deshalb einseitigen und abstrakten Woraufhin und Worumwillen: eines Lebensinteresses, das sich nicht mit anderem Lebensinteresse vermitteln lässt. Als solche sind sie unwillkürliche und d. h. vorwillentliche Bestimmtheiten des Lebensinteresses. Begierde, Laster und Gewaltbereitschaft sind nicht frei gewählt; sie sind die negativen bzw. die destruktiven passiones animae, in denen wir die Anziehungskraft dessen erleiden, was nicht sein soll. Als solche aber treiben sie zur Tat bzw. zur Un-Tat an, sofern sie nicht gehemmt, beherrscht und kraft der Gewissheit eines gemeinsamen und deshalb wahrhaft konkreten Woraufhin und Worumwillen wirksam überwunden werden.100

100 An dieser Stelle ist es angebracht, an die Verwendung des Begriffs „Trieb“ in der Metapsychologie Sigmund Freuds zu erinnern. Freuds Fassung einer Triebtheorie, die das bewusste Wählen und Entscheiden der Person (Freud verwendet dafür das substantivierte Pronomen „Ich“) letztlich als „Abfuhr“ eines sei es libinösen sei es aggressiven Dranges des Organismus deutet, beruht auf einem animalischen Missverständnis des personalen Selbstbewusstseins in seiner Suche nach Beziehung zu anderem personalen Selbstbewusstsein. Sie ist deshalb mit Recht von den verschiedenen Fassungen der Psychologie der „Objektbeziehungen“ (Melanie Klein; Michael Balint; Donald Woods Winnicott) kritisiert und erheblich modifiziert worden (vgl. Hans-Jürgen Fraas, Art. Objektbeziehungen, Psychologie der: RGG4 6, 448). Wie sich diese Konzeptionen mit dem Verständnis des Seelischen im Rahmen des theologischen Begriffs des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins vermitteln lassen, scheint mir ein dringendes Desiderat der Lehre von der religiösen Kommunikation des Evangeliums in den Subdisziplinen der Praktischen Theologie zu sein.

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„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)

Unter den Phänomenen des „In-der-Sünde-Seins“ verdient die unwillkürliche, d. h. die vorwillentliche Bestimmtheit des Lebensinteresses durch die Bereitschaft zur Gewalt besondere Aufmerksamkeit. Und zwar deshalb, weil sie wie kein anderes dieser Phänomene die soziale Struktur des „In-der-Sünde-Seins“ zum Vorschein bringt. Aus diesem Grunde hatte ich auf die Aspekte der strukturellen Gewalt, der militärischen Gewalt und der religiösen bzw. der weltanschaulichen Gewalt geachtet. Sie sind von individueller Schuld dadurch verschieden, dass kollektive Subjekte sie verüben, und zwar im Rahmen einer Organisation der effizienten Herrschaft. Es ist die furchtbare geschichtliche Erfahrung der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne, dass Gewalthaber vermöge dieser ihrer Organisation im Apparat der Verwaltung, der Justiz und des Militärs ihre rücksichtslos abstrakten Ziele durchzusetzen imstande sind durch Befehl und Gehorsam. In der Geschichte der Gewalt stehen die bolschewistische Bewegung, die deutsche Kriegsführung im Osten zwischen 1939 und 1945 und insbesondere die weitgehende Auslöschung des europäischen Judentums in der Shoa einzigartig da als unfassbare Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Freilich: In den schweren Krisen der euro-amerikanischen Moderne handeln der Gewalthaber und seine Clique nicht im privaten Interesse. Ihr Aufstieg zu politischer Herrschaft ist vielmehr gestützt von den Erwartungen, den Wünschen und den Träumen einer Masse, die sich mit einem Duce, mit einem Caudillo, mit einem Comandante, mit einem Führer und mit seiner scheinbaren Größe begeistert identifiziert. Die Identifikation der Masse mit dem Gewalthaber ist ein hochmodernes Symptom des „In-der-Sünde-Seins“, das eine künftige Systematische Theologie im Gespräch mit sozialpsychologischen Autoren noch erkunden muss.101 Es ist nun dieses hochmoderne Symptom, das uns das Wesen bzw. das Unwesen des „In-der-Sünde-Seins“ mit brutaler Klarheit vor Augen bringt. In den Ereignissen der Identifikation einer Masse mit ihrem Führer wird das geschaffene, das leibhafte Person-Sein unmittelbar verraten und verkannt als das vom schöpferischen Geiste Gottes gewährte und zur selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott bestimmte Leben eines individuellen Selbst. Es verkennt und es verfehlt sich selbst als das von Gottes schöpferischem Walten, von dessen Dauer und von dessen Sinn schlechthin abhängige Leben; und es vermeint, das Unverfügbare dieses

101 Vgl. hierzu bes. Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München: Piper, 19 2007 (Serie Piper; 168), bes. 71–77. – Am heutigen 5. Mai 2021 sei darauf aufmerksam gemacht, dass die Gesellschaft der Französischen Republik des 200. Todestages Napoleon Bonapartes am 5. Mai 1821 mit nach wie vor dominierender Begeisterung gedenkt. Des genialen Feldherrn verheerende Kriege mit ihren riesigen Opfern scheinen demgegenüber vergessen zu sein.

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Das Scheinen des Lichts in der Finsternis (Joh 1,5)

schöpferischen Waltens sich verfügbar machen zu können.102 Dass diese Selbstverkennung, dass diese Selbstverfehlung in dieser grauenhaften Weise sich auch in der Kulturgeschichte der Christus-Gemeinschaft zugetragen hat und zuträgt: das gibt dem Problem der Theodizee seine letzte Schärfe.

3.4

Das Scheinen des Lichts in der Finsternis (Joh 1,5)

3.4.1

Vorblick

Es ist das generelle Interesse der vorliegenden Darstellung Systematischer Theologie, das Wesen des Christus-Glaubens in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) hier und heute in der aktuell riskanten Lage der entstehenden Weltgesellschaft zu beschreiben und dessen befreiende und befriedende Kraft zu zeigen. Um dieses Interesses willen zielt meine Darstellung auf der Basis der „Prinzipienlehre“ (STh I) auf die „Theologische Ethik“ (STh III), welche die individuelle Lebensform des Christus-Glaubens im Innenverhältnis einer Gesellschaft und im Verhältnis zwischen den Gesellschaften dieser Erde zu erkunden sucht. In diesem Rahmen bildet vorliegende „Dogmatik“ (STh II) die Brücke; sie will plausibel machen, dass die individuelle Lebensform des Christus-Glaubens (vgl. Röm 3,22) – die Lebensform des radikalen Grundvertrauens, der Hoffnung, der Liebe und der Selbstverantwortung vor Gott – notwendig bedingt ist durch die religiöse Kommunikation des Evangeliums in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen. Wie deren cultus publicus im Gottesdienst des Kirchenjahrs die Einzelnen die Christus-Gemeinschaft kraft des Heiligenden Geistes der Wahrheit stets neu

102 Vgl. hierzu Michael Wolter, Der Brief an die Römer. Teilband 1 (wie Anm. 3), zu Röm 1,19-32. Wolter zeigt hier als das Gemeinsame dieses Abschnitts auf, „dass es immer die Verweigerung der Gott als dem einzigen und wahren Gott geschuldeten Verehrung ist, die jeweils als Grundsünde aufgewiesen wird … Ihre (verstehe: aller Menschen) Grundsünde, die Nicht-Anerkennung des Gott-Seins Gottes, ist jedesmal die Ursache für das Zerbrechen der Ordnung in ihrer eigenen Welt …“ (137). Zwar findet sich dieses Urteil des Apostels in der Passage, die das „In-der-SündeSein“ der „Völker“ namhaft macht; aber die spätere Deutung der Glaubensgerechtigkeit Abrahams (Röm 4,1-25) weist darauf hin, dass auch die jüdische Berufung auf den Toragehorsam letztlich eine spezielle Variante der „Nicht-Anerkennung des Gott-Seins Gottes“ ist (vgl. bes. Röm 4,17), weil sie angesichts des jüdischen „In-der-Sünde-Seins“ (Röm 3,9) Gottes des Schöpfers versöhnendes Walten auch zugunsten der „Völker“ nicht wahrhaben will. – Des Apostels Argument lässt sich jedenfalls dann auf die Phänomenologie des „In-der-Sünde-Seins“ übertragen, wenn man es – wie im Kapitel 2 vorgezeichnet – auf das Gewähren des leibhaften Person-Seins unter den ontologischen bzw. den kosmologischen Rahmenbedingungen des Seiend-Seins, des Bestimmbar-Seins, des ImRaume-Seins und des In-der-Zeit-Seins hin zuspitzt.

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erspüren und erleben lässt, so bildet er die Quelle des diakonischen, des kulturellen und des politischen Engagements der Kirche in der Kultur der Gesellschaft.103 Zwar ist meine Darstellung unverkennbar geprägt von meiner Teilnahme am Leben der evangelischen Kirchengemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland; aber sie weiß sich doch dem aufmerksamen ökumenischen Blick auf die Kirchengemeinschaften der weltweiten Christenheit unter deren oft so schwierigen und harten Lebensbedingungen verpflichtet. Ich hatte mich bisher darum bemüht, die Phänomene des „In-der-Sünde-Seins“ so zur Sprache zu bringen, dass jede Leserin und jeder Leser darin das tatsächliche Geschick des menschlichen Geschlechts als ganzen erkennen kann. Ich stellte diese Phänomene als die Symptome eines existentiellen Zwiespalts dar: eines Zwiespalts, der nicht möglich wäre ohne das hohe Gut des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins, und der nun dennoch dessen Ziel und dessen Bestimmung radikal verfehlt. Wie sehr das Leben unter der Dominanz dieses Zwiespalts das Ziel und die Bestimmung des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins verfehlt, demonstrieren namentlich die extremen Formen abstrakter Selbstbehauptung, die um den Preis des Elends, des Hungers, der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und des Krieges das jeweils eigene Lebensinteresse erbarmungslos und gnadenlos verfolgen. Angesichts dieses schwerlich zu leugnenden Zwiespalts fragt es sich, ob überhaupt – und wenn ja, in welcher Weise – die Phänomene des „In-der-Sünde-Seins“ zu hemmen, zu begrenzen, zu heilen oder gar zu überwinden sind. Diese Frage ist die hermeneutische Grundfrage, die uns die Wahrheit des Evangeliums im Sinne des äußeren Worts in seinen verschiedenen Medien zu erschließen hilft.104 Sie – diese Frage – zielt auf die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die geschaffene, die leibhafte, doch ihrem Sinn und ihrer Bestimmung noch entfremdete Person in ihrem Herzensgrund der versöhnenden bzw. der vollendenden Gnade Gottes des Schöpfers gewiss werde und gewiss bleibe. Die sachgemäße Beantwortung dieser Frage bildet den Schwerpunkt der vorliegenden „Dogmatik“.105

103 Vgl. hierzu zuletzt die Beiträge in: Elisabeth Gräb-Schmidt und Reiner Preul (Hg.), Gottesdienst, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2018 (MJTh; XXX). 104 In dieser Form beziehe ich die „hermeneutische Grundfrage“ auf die Grundfrage Martin Luthers, der die Interpretation des „äußeren Wortes“ bzw. der „äußeren Klarheit“ der Heiligen Schrift in den Medien der Vorlesung, der Predigt, des Unterrichts und des erbaulichen Traktats zurückbindet an den ethischen Ernst der Person, die in der Erfahrung des Gewissens des Zornes Gottes gewahr wird. Allerdings korrigiert meine Darstellung Luthers hermeneutische Grundfrage, indem sie an jene Verheißungen erinnert, die seit jeher auf Gottes des Schöpfers versöhnendes und vollendendes Walten aufmerksam machen. – Vgl. dazu und demgegenüber die Ansätze verschiedener psychologischer Schulen, über die unterrichtet Elisabeth Otscheret, Ambivalenz. Geschichte und Interpretation der menschlichen Zwiespältigkeit, Heidelberg: Roland Assanger Verlag, 1988. 105 Weil die christliche Religion im Rahmen der Religionsgeschichte auf diese Frage eine innergeschichtlich unüberbietbare Antwort gibt, gilt sie für Georg Wilhelm Friedrich Hegels philosophi-

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Das Scheinen des Lichts in der Finsternis (Joh 1,5)

Nun gibt das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift der ursprünglichen Gewissheit der ersten Christus-Gemeinschaft Ausdruck, dass es just das ChristusGeschehen sei, in welchem sich Gottes des Schöpfers versöhnendes und vollendendes Walten wirklich und unüberbietbar ereigne. Aber diese ursprüngliche Gewissheit fällt keineswegs wie ein Meteor vom Himmel dieser unserer Galaxie. Vielmehr setzt sie voraus und ist sie bezogen auf Konstellationen der Verheißung. Darunter verstehe ich solche Formen und Regeln menschlicher Kommunikation, deren Funktion es ist, die gnadenlosen und erbarmungslosen Trends eines abstrakten Lebensinteresses zu begrenzen und wenn irgend möglich zu befrieden. Solche Formen und Regeln menschlicher Kommunikation begegnen uns in der geschichtlichen Erinnerung und in der gegenwärtigen geschichtlichen Erfahrung als Institutionen, die ihre Mitglieder und ihre Teilnehmer auf eine gewiss immer wieder brüchige und gebrochene Ordnung des äußeren Friedens zu verpflichten suchen. Der Christus-Glaube sieht in solchen Institutionen Wege des göttlichen Wesens, das geschaffene, das leibhafte Person-Sein auf die Gewissheit des versöhnenden und des vollendenden Waltens seines schöpferischen Grundes und Ursprungs hin vorzubereiten und zu erhalten. Mit der metaphorischen Bestimmung „Wege des göttlichen Wesens“ meine ich mithin die Geschichte derjenigen Institutionen, durch deren Regeln menschliche Gemeinschaften sich selbst als Gemeinschaften leibhafter Personen physisch und kulturell in der ihnen von Gottes schöpferischem Walten gewährten relativen Dauer erhalten: nicht nur gegenüber dem Üblen, sondern auch und erst recht gegenüber dem Bösen.106

sche Interpretation als die „vollendete Religion“; vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Bd. 3: Die vollendete Religion. Neu hg. von Walter Jaeschke, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1995 (PhB; 461). Zwar möchte Hegel mit der Bezeichnung des (reformatorischen) Christentums als der „vollendeten Religion“ dessen Eigenart im Vergleich mit den anderen Religionen der Religionsgeschichte erfassen; aber seine Darstellung gibt doch wohl Anlass zu der kritischen Frage, ob sie nicht das Geschehen der Versöhnung mit Gott identifiziere mit der Sittlichkeit der Rechtstreue gemäß der Ordnung des Staates. 106 Mit der folgenden Skizze nehme ich die Intentionen auf, die sich zum einen in den Unterscheidungen der lutherischen Reformation zwischen den zwei „Regierweisen“ Gottes bzw. zwischen dem Wort Gottes als Gesetz und dem Wort Gottes als Evangelium und zum andern in Paul Tillichs „Theologie der Kultur“ im Band III seiner „Systematischen Theologie“ finden. Ich gehe über diese Intentionen insbesondere dadurch hinaus, dass ich sie im Anschluss an das Selbstverständnis des Tanakh der jüdischen JHWH-Gemeinschaft um das Grundvertrauen auf Gottes ewigen Bund ergänze, wie es die Theologie der Priesterschrift in ihrer Version der Erzählung von der Sintflut artikuliert (Gen 9,11-17). – Vgl. hierzu Eilert Herms, Bildung und Ausbildung als Grundthemen der Theologie, in: Ders., Erfahrbare Kirche. Beiträge zur Ekklesiologie, Tübingen: Mohr, 1990, 209–221).

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3.4.2

Institutionen der Verheißung des „Friedens mit Gott“ (Röm 5,1)

Dem Christus-Glauben – dem christlich-frommen Selbstbewusstsein – ist es als wahr gewiss, dass des dreieinen Gottes unbedingter, unverbrüchlicher Heilswille – Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen – das Syndrom von erlittenem Leid und verschuldetem Leid zu überwinden mächtig ist. Natürlich ist ihm gegenwärtig, dass die Gemeinschaft des Christus-Glaubens in ihrer jeweiligen Lebens- und Geschichtszeit jeweils koexistiert mit Mitgliedern einer sozialen Formation, die dieser Gewissheit nicht bzw. noch nicht teilhaftig sind; und selbstverständlich ist ihm gegenwärtig, dass auch das eigene Leben und dass auch die Geschichte der Christus-Gemeinschaft dem „In-der-Sünde-Sein“, dem Leid und der Angst des Todes noch immer ausgeliefert ist. Versteht der Christus-Glaube sich in Kraft der religiösen Ordnung des äußeren Wortes und des inneren Wortes in das „In-ChristusSein“ versetzt (s. 4.2), so ist er notwendigerweise involviert in die Strukturen des Zusammenlebens in dieser oder jener Kultur. Es war und es ist die Intention der sog. „Zwei-Reiche-Lehre“ bzw. „ZweiRegimenten-Lehre“ Martin Luthers, die notwendige Beziehung zweier Weisen der Herrschaft des dreieinen Gottes plausibel zu machen. Sie spricht um willen der notwendigen Prävention gegenüber den mannigfachen Symptomen des „In-der-Sünde-Seins“ anschaulich von der Herrschaft Gottes zur Linken, auf deren Schutz und Schirm Gottes Herrschaft zur Rechten in dieser Weltzeit angewiesen ist. Sie entwickelt damit eine Lehre von der Legitimität politischer Herrschaft, ohne die die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche schweren Schaden leiden würde, wenn nicht gar unmöglich wäre. Wilfried Härle hat sie einleuchtend als Luthers Lehre von Gottes Wirken nachgezeichnet.107

107 Vgl. Wilfried Härle, Luthers Zwei-Regimenten-Lehre als Lehre vom Wirken Gottes, jetzt in: Ders., Spurensuche nach Gott. Studien zur Fundamentaltheologie und Gotteslehre, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2008, 257–285. – Wenn wir am 18. April 2021 der Weigerung Luthers gedenken, auf dem Reichstag zu Worms am 18. April 1521 seine als häretisch verurteilte Lehre zu widerrufen, so sind die revolutionären rechts- und religionspolitischen Folgen dieser Weigerung doch erst zu Tage getreten, als Kaiser Karl V. das Wormser Edikt vom 8. Mai 1521 – die Sanktion der Reichsacht gegen Luther und gegen dessen Anhänger – im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation nicht durchzusetzen vermochte. Dieser Misserfolg war jedenfalls im Reich der Anfang vom Ende der strafrechtlichen Funktion des Kaisers als Vogt bzw. als Advokat der Heiligen römischen Kirche im Corpus Christianum. Es bedurfte freilich langwieriger Verhandlungen und Auseinandersetzungen, bis im Westfälischen Frieden von 1648 ein Religionsverfassungsrecht in Kraft gesetzt wurde, in dessen säkularem Rahmen die verschiedenen konfessionellen Formen des Christus-Glaubens koexistieren konnten. In Luthers Zwei-Regimenten-Lehre ist ein solches Religionsverfassungsrecht vorgezeichnet.

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Das Scheinen des Lichts in der Finsternis (Joh 1,5)

An dieser Stelle ist es nicht der Ort, Luthers eigene Texte und deren problematische Rezeptions- und Wirkungsgeschichte zu interpretieren und zu diskutieren.108 Ich unternehme vielmehr den Versuch, ihre grundsätzlich richtige Intention zu präzisieren, indem ich das biblische Offenbarungszeugnis für Gottes des Schöpfers versöhnendes und vollendendes Walten zurückbeziehe auf die sozio-kulturellen Institutionen, die den Zwiespalt der conditio humana hemmen und begrenzen wollen. Auf diese Weise wird erkennbar werden, wie die von dem Apostel Paulus inspirierte Lehre Martin Luthers hinsichtlich des Verhältnisses von „Gesetz“ und „Evangelium“ in einen größeren Zusammenhang zu bringen ist. In diesem größeren Zusammenhang wird die heilsnotwendige Funktion des „Gesetzes“ in Gottes des Schöpfers Herrschaft zur Linken darin zu entdecken sein, dass sie das Gewissen der Person zur Reue, zur Umkehr und zum „Glauben an das Evangelium“ reizt, welches das Evangelium nach Markus als „Evangelium Gottes“ präsentiert (Mk 1,14). Wir können diesen größeren Zusammenhang identifizieren, wenn wir die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche einzeichnen in das Bild der wesentlichen Institutionen des menschlichen Zusammenlebens in einer wie auch immer geschichtlich gewordenen Gesellschaft. Für dieses Bild ist m. E. Friedrich Schleiermachers rudimentäre Theorie der „vollkommenen ethischen Formen“ hilf- und aufschlussreich, auch wenn sie für die ausdifferenzierte Struktur der hochentwickelten Gesellschaft der Moderne erheblich zu erweitern ist.109 Und zwar aus folgenden Gründen: Zum einen ordnet diese Theorie die Institution der Kirche als einer „Vernunftreligion“ (§ 229 [125]) den Institutionen des Staates (verstehe: der politischen Herrschaft: §§ 84–145 [94–107]) sowie den Organisationen des Wissens (§§ 146–191 [107–117]) zu. Sie tut das deshalb, weil die Mitglieder der Gesellschaft bzw. der Kultur in diesen Institutionen und Organisationen sich simultan in jenem sittlichen (verstehe: geschichtlichen bzw. ethischen) Prozess befinden, der auf das „höchste Gut“ im Sinne der „Totalität“ der Güter ausgerichtet ist (§ 83 [16]). Nicht etwa nur in der „Vernunftreligion“ der Kirche, sondern auch in der Rechtssetzung und im Bildungswesen der Gesellschaft bzw. der Kultur geht es darum, der individuellen Entwicklung der Person zur einheitlichen Ethosgestalt zu verhelfen. Zum andern aber bildet diese rudimentäre Theorie der Institutionen den Rahmen, innerhalb dessen wir das christlich-fromme Selbstbewusstsein in seinem

108 Für meine Diskussion der Lehre Luthers verweise ich auf die entsprechenden Passagen in STh III. Im Übrigen ist zu betonen, dass auch Karl Barth im Rahmen des Projekts der „Kirchlichen Dogmatik“ eine Variante der „Zwei-Reiche-Lehre“ bzw. der „Zwei-Regimenten-Lehre“ skizziert, und zwar in den beiden kleinen Schriften: Karl Barth, Rechtfertigung und Recht, Zollikon-Zürich: Evang. Verlag, 3 1948; sowie Ders., Christengemeinde und Bürgergemeinde, München: Chr. Kaiser, 1946. 109 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Ethik 1812/13 (Ethik, 80–131); Belege aus diesem Werk sind im Folgenden im Text notiert. – Vgl. hierzu Konrad Stock, Einleitung, 16–21.

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Gegensatz von Sündenbewusstsein und Gnadenbewusstsein explizieren können. Das christlich-fromme Selbstbewusstsein – der individuelle Christus-Glaube – setzt nämlich voraus und schließt noch immer ein „die Anerkennung der eigenen Erlösungsbedürftigkeit“ (CG2 § 64,1 [I, 349 = KGA I.13,1, 399]), die nichts anderes ist als der je individuelle Fall der „Erlösungsbedürftigkeit des menschlichen Geschlechts“ (ebd.). Nach Schleiermachers „Glaubenslehre“ aber besteht die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen darin, dass die „freie Entwicklung des Gottesbewusstseins“ und eben damit das sittliche Erstreben des höchsten Guts „gehemmt“ ist (CG2 § 66,1 [I, 355 = KGA I.13,1, 406]). Die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche ist daher in allen ihren Vollzügen das geschichtliche Medium, in welchem Gott selbst im Christus Jesus durch den Geist der Wahrheit das „schlechthinnige stetige Wollen des Reiches Gottes“ (CG2 § 116,3 [II, 219 = KGA I.13,1, 244]) wirkt. Drittens schließlich dürfen wir nun umgekehrt die heilsnotwendige Funktion der Kirche, wie sie die „Glaubenslehre“ als real beschreibt, zurückbeziehen auf die rudimentäre Theorie der Institutionen in Schleiermachers „Ethik“. Sie leitet dazu an, jedenfalls die Institution des Staates (verstehe: der politischen Herrschaft) und die Organisation des Bildungswesens als Medium zu verstehen, in welchem Gottes Heiligender Geist den existentiellen Zwiespalt der Person erspüren, erleben und begrenzen lässt. Das sei in der gebotenen Kürze thetisch formuliert. 3.4.2.1

Grundsätzliches

Die systematische Besinnung auf das Wesentliche des Christus-Glaubens hat das Ziel, die Freiheit durch Wahrheit zu entfalten, die sich in den alltäglichen Handlungsweisen der Hoffnung, der Liebe und der Selbstverantwortung vor Gott konkretisiert. Die Formel Freiheit durch Wahrheit zeigt aufs Ganze jener expliziten Gottesgewissheit, die dem Kind seiner Eltern im Laufe seiner Bildungs- und Entwicklungsgeschichte in der Begegnung mit dem Evangelium zuteilwerden soll. Zugespitzt gesagt, sieht sie unser aller Lebensgeschichte im Licht des göttlichen Bildens.110 Es ist dies göttliche Bilden, das – so hoffen wir – unter den überaus riskanten Lebensbedingungen einer entstehenden Weltgesellschaft Frieden durch Recht wird herrschen lassen (vgl. STh III). Nun lehrt uns jede ungeheuchelte Erinnerung, wie tief wir Menschen alle verstrickt sind ins Syndrom von erlittenem Leid und verschuldetem Leid. Zwar gibt es uns nur kraft des Wunders des Geschaffen-Werdens und Geschaffen-Seins durch

110 Vgl. hierzu Reiner Preul, Evangelische Bildungstheorie, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2013, 150–153: „Gott als ‚Bildner‘“; sowie überhaupt 140–150: Bildung und das System der christlichen Lehre.

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Das Scheinen des Lichts in der Finsternis (Joh 1,5)

Gottes schöpferischen Geist; doch ohne die Geschichte des versöhnenden und des vollendenden Waltens des Schöpfers wäre es ausgeschlossen, jemals der ethischen Grundnorm gerecht zu werden, die uns in und mit dem geschaffenen, dem leibhaften Person-Sein aufgegeben ist. Im Rückgriff auf den fundamentalen ethischen Grundbegriff der „Würde des Mensch-Seins“ definiere ich diese ethische Grundnorm als die Lebensform der Achtung vor jedem Menschenwesen, das als solches Träger der Würde des Mensch-Seins ist; wohl wissend, dass sich diese Lebensform realiter der Ehrfurcht vor dem schöpferischen Grund und Ursprung des All des Seienden verdankt.111 Die Phänomene des „In-der-Sünde-Seins“, die ich beschrieben habe, demonstrieren samt und sonders jenen existentiellen Zwiespalt, in dem die ethische Grundnorm der wechselseitigen Achtung vor dem Träger der Würde des Mensch-Seins verletzt, beschädigt oder gar mit Füßen getreten wird. Gleichwohl gilt es ernst zu nehmen, dass Gottes versöhnendes und vollendendes Walten im Christus Jesus durch den Heiligenden Geist stets und konsequent bezogen ist auf alle die kulturellen Bildungsprozesse, die die Potentiale des „In-der-Sünde-Seins“ benennen und bekämpfen. Im Folgenden komme ich in der gebotenen Kürze auf drei derartige kulturelle Bildungsprozesse zu sprechen: auf die Suche nach der richtigen Ordnung des Rechts (3.4.2.2); auf die Suche nach der richtigen ethischen Selbstbildung (3.4.2.3); und schließlich auf die Erfahrung der Kunst (3.4.2.4). Bevor ich danach übergehe zur Darstellung des Christus-Geschehens, ist es notwendig, das Gott-Verstehen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft als die „Wurzel“ der christlichen Gottesgewissheit zu skizzieren (3.4.2.5).

111 Ich spreche hier das ursprüngliche, im unmittelbaren Gefühl des Selbst-Seins bzw. im unmittelbaren „Sich-gegenwärtig-Sein“ der Person mitgesetzte Gefühl des Verpflichtet-Seins für den Andern als Andern an, im Gegensatz zu solchen Theorien der Moral bzw. des Ethos, die ethische Normen der Verhaltenswahl sei es deskriptiv sei es polemisch ausschließlich als sozial bzw. als kulturell bedingt verstehen (beispielsweise die Theorien des Moralischen im Gesamtwerk von Friedrich Nietzsche und von Sigmund Freud). Zu welchen mörderischen Konsequenzen die grundsätzliche Leugnung des Gefühls des Verpflichtet-Seins für den Andern als Andern führt, illustrieren für alle Zeit die Weltanschauungen des Bolschewismus Wladimir Iljitsch Lenins und Josef Stalins, des chinesischen Sozialismus Mao Zedongs sowie die Weltanschauung Adolf Hitlers; aber natürlich auch die terroristischen Strategien des Islam im beginnenden 21. Jahrhundert. Diese entsetzenerregende geschichtliche Erfahrung ist ganz offensichtlich in der Debatte der „Metaethik“, aber auch in der Debatte der Philosophie der Praxis noch nicht angekommen.

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3.4.2.2

Die Rechtsordnung112

Ohne weitere historische Nachweise setze ich als zugestanden voraus, dass Gemeinwesen in aller Geschichte einer Rechtsordnung bedürftig sind und eine Rechtsordnung welcher Art auch immer errichten. Der anarchische Gedanke, ein anfänglicher herrschaftsfreier Naturzustand sei der erstrebens- und erkämpfenswerte Vorschein eines zukünftigen Zusammenlebens, hat seine irrealen Träume glücklicherweise nicht realisieren können. Wenn man Gemeinwesen in aller Geschichte als Gemeinschaften unter der Macht des „In-der-Sünde-Seins“ verstehen muss, ordnet das Recht nicht nur die innere Kommunikation und Kooperation; eine Gemeinschaft ist sich vielmehr stets in ihrer jeweiligen Rechtsordnung des latenten wie des akuten Potentials ihrer inneren Konflikte bewusst. Sie sorgt für die bedrohte innere Sicherheit durch generelle Prävention. Sie kündigt all denen, die das Leid des Andern verschulden, die Sanktionen der Rechtsstrafe an und führt sie aus. Eine Geschichte der Rechtsordnungen und des Prozessrechts würde zeigen, wie unglaublich variabel, doch auch wie inhuman die notwendige Funktion des Rechts de facto gehandhabt wurde. Gleichwohl ist diese Geschichte genau der Ort, an dem seit Hammurabi, seit Konfuzius, seit Platon und seit dem Bundesbuch um richtiges Recht gestritten wurde und gestritten wird. Der theoretische Streit um richtiges Recht hat jedenfalls in den Gesellschaften der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne dazu geführt, die Idee einer Verfassung zu bilden, die sowohl

112 Vgl. zum Folgenden bes.: Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten. Erster Teil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (W IV, 309–425); Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (wie Anm. 52), 342–346: Rechtszustand; Ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts (wie Anm. 51), §§ 34–104; 209–256; 257–329; Otfried Höffe, Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1987. Freilich setzt Höffe als zugestanden voraus, dass eine aktuelle kritische Philosophie von Recht und Staat nur innerhalb einer „säkularen“ Weltansicht zu argumentieren vermag. Aus diesem Grunde sieht er in den Potentialen des Konflikts natürlich keine Phänomene des „In-der-Sünde-Seins“. Höffes Begründung dafür entbehrt freilich nicht der Willkür. – In der alttestamentlichen Bibelwissenschaft hat sich vor allem Eckart Otto um das Verständnis der Rechtsordnung Israels im Kontext der Kulturen des Alten Orients verdient gemacht; vgl. bes. Eckart Otto, Art. Recht/Rechtstheologie/Rechtsphilosophie I. Recht/Rechtswesen im Alten Orient und im Alten Testament: TRE 28, 197–209 (Lit.); Ders., Gottes Recht als Menschenrecht. Rechts- und literaturhistorische Studien zum Deuteronomium, Wiesbaden: Harrassowitz, 2002; Ders., Art. Recht III. Alter Orient und Altes Testament: RGG4 7, 87–89. Nach Otto dokumentiert das Alte Testament einen „Durchbruch in der ao. (altorientalischen) Rechtsgesch.(ichte)“; und zwar deshalb, weil die priesterlichen Sammlungen das Recht auf JHWH als „Rechtsquelle“ zurückführten und auf die Idee sozialer „Kohäsion“ der Gesellschaft zuspitzten (88). – Erstaunlicherweise fehlt eine fundamentaltheologisch ausgewiesene Theorie des Rechts in: Paul Tillich, STh III, wie auch in: Gerhard Ebeling, Dogmatik I – III; vgl. demgegenüber die umfassende Darstellung von Wolfgang Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 3 2006.

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Das Scheinen des Lichts in der Finsternis (Joh 1,5)

die Setzungen des Rechts als auch die Praxis des Rechts für die verschiedenen soziokulturellen Situationen an Prinzipien bzw. an Grundsätze bindet. Die Verfassung schließt ihrem Wesen nach die Willkür aus, deren sich sowohl die Setzungen des Rechts als auch die Praxis des Rechts zu Schulden kommen lassen können. Nirgends ist die kritische Idee der Verfassung klarer und deutlicher ausgesprochen worden als in den Grundsätzen, die alle staatliche Gewalt auf die Achtung der Würde des Mensch-Seins verpflichten.113 Die „rechtsnormative Sollensordnung“ (Heinz Mohnhaupt) einer Verfassung, die den Prinzipien unserer Erkenntnis der Würde des Mensch-Seins folgt, gibt keine Garantie dafür, dass wir – die Mitglieder dieses oder jenes Gemeinwesens – jederzeit die Unantastbarkeit der Würde des Mensch-Seins achten; und sie gibt ebenso wenig eine Garantie dafür, dass wir – die Mitglieder dieses oder jenes Gemeinwesens – dem wahren Grund und Ursprung und der wahren Bestimmung der Würde des Mensch-Seins jederzeit entsprechen. Unser aller Existenz im Zwiespalt des „In-der-Sünde-Seins“ lässt das auch nicht erwarten. Gleichwohl: der Weg zur Einsicht in das Wesen der Würde des Mensch-Seins ist ebenso wie die Selbstverpflichtung der modernen Souveräne auf ihre Geltung für den Christus-Glauben das Indiz des Waltens des schöpferischen Geistes Gottes. Auf diesem Wege bzw. in dieser Selbstverpflichtung hat sich das Wesen des personalen Selbst-Seins mehr und mehr just so erschlossen, wie es der deutsche Ausdruck „Würde“ angemessen zu erfassen sucht. Die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen erkennt es dankbar an, dass diese Einsicht bzw. dass diese Selbstverpflichtung der Aufmerksamkeit auf Gottes unbedingten Heilssinn auch und gerade angesichts des Zwiespalts des „In-der-Sünde-Seins“ geschuldet ist. Sie wird aus diesem Grunde alles tun, um angesichts des Zwiespalts des „In-der-SündeSeins“ die unverkürzte Geltung dieser elementaren Grundnorm in ihrer jeweiligen sozio-kulturellen Umwelt zu schützen und zu verteidigen; und sie wird in Gemeinschaft mit den anderen Religionen dafür kämpfen, dass die unantastbare Würde des Mensch-Seins endlich auch dort Achtung genießt, wo sie noch immer bedroht, verletzt und niedergehalten wird.114

113 Vgl. GG Art. 1 Satz 1 und Satz 2. – Es ist bekanntlich die Aufgabe eines Verfassungsgerichts, die Normen einer Verfassung und deren Respektierung durch die legislative und exekutive Gewalt zu sichern. Vgl. hierzu und zum Folgenden bes.: Wolfgang Huber, Gerechtigkeit und Recht (wie Anm. 112), passim; Eilert Herms, Menschenwürde, jetzt in: Ders., Politik und Recht im Pluralismus, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008, 61–124; Wilfried Härle, Würde. Groß vom Menschen denken, München: Diederichs Verlag, 2010. 114 Einen nicht hoch genug zu schätzenden Fortschritt im wahrsten Sinne des Wortes bildet die Gründung einer internationalen Rechtsgemeinschaft; vgl. hierzu Wolfgang Huber, Gerechtigkeit und Recht (wie Anm. 112), bes. Kap. C. III: Auf dem Weg zur internationalen Rechtsgemeinschaft: Gewaltverbot und Menschenrechte (435–477). Es versteht sich von selbst, dass auch die entstehende

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3.4.2.3

Ethische Selbstbildung115

Im Banne des Syndroms von erlittenem Leid und verschuldetem Leid sind es nicht nur die Ordnungen des richtigen Rechts, die zu den notwendigen Bedingungen des göttlichen Waltens zur Rechten gehören; zu diesen notwendigen Bedingungen sind vielmehr auch die Prozesse ethischer Selbstbildung zu rechnen, die uns zur Bildung eines reifen Charakters befähigen können. Diese Prozesse ethischer Selbstbildung sind schon deshalb unerlässlich, weil die Ordnungen des richtigen Rechts ohne kritische Rechtstreue bzw. ohne kritischen Rechtsgehorsam schwerlich funktionieren können. Ich verstehe unter dem Begriff der ethischen Selbstbildung das Ganze des Verhaltens zu sich selbst, welches das selbstbewusst-freie Leben der geschaffenen Person in allen notwendigen privaten und öffentlichen Beziehungen kontinuierlich begleitet. Dieses Verhalten zu sich selbst geschieht von einem ziemlich frühen Zeitpunkt unserer Entwicklung an in den verschiedenen Weisen des stillen oder auch des expliziten Sprechens mit sich selbst, in dem wir unser eigenes Gegenüber sind. Im Medium dieses Mit-sich-Sprechens tauchen die bedeutungsvollen Anderen wie etwa die Eltern, die Freundinnen und Freunde, die Lehrer, die Vorbilder, die Idole und die Helden auf, die unser jeweiliges Ich-selbst-sein-Wollen prägen: sei es anziehend sei es abstoßend. Sie prägen es durch ihre Art und Weise, ihr Leben in den notwendigen privaten und sozialen Beziehungen mutig, hoffnungsvoll und einfühlsam zu führen oder auch angstvoll, deprimiert und desinteressiert zu erleiden. Indem wir durch die Art und Weise der bedeutungsvollen Anderen in unserem Ich-selbst-sein-Wollen geprägt werden, bildet sich unsere individuelle Identität. Wie leicht zu sehen, bildet sie sich auf passionalen Wegen in der Geschichte der Begegnungen mit anderer individueller Identität. Es wäre deshalb viel zu kurz gegriffen, wenn man das Bildungswesen, wie es die politischen Systeme der hochentwickelten Gesellschaften der Moderne organisieren, auf die Vermittlung mathematischen, naturwissenschaftlichen und informatischen Wissens konzentrieren würde. Solches Wissen genügt ganz offensichtlich nicht für eine Bildung individueller Identität, die sich in der verantwortlichen Teilnahme an allen praktischen Belangen eines Gemeinwesens bewährt und darin ethische Qualität beweist. Zur Bildung solcher individueller Identität braucht es

internationale Rechtsgemeinschaft einer Strafgerichtsbarkeit bedarf; vgl. hierzu Kai Ambos, Art. Internationale Strafgerichtsbarkeit: EStL (NA 2006), 1039–1044. 115 Vgl. zum Folgenden bes.: Konrad Stock, Pneumatologie und ethische Theorie, jetzt in: Ders., Die Gegenwart des Guten. Schriften zur Theologie, Marburg: Elwert, 2006 (MThSt; 96); 28–40 (hier beschreibe ich die Genese sittlicher Einsicht am Beispiel des Selbstzeugnisses Albert Schweitzers); Reiner Preul, Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 110), 176–202: Ethische Bildung; Wilfried Härle, Ethik, Berlin/New York: De Gruyter, 2011, 204ff.: Auf dem Weg zu einer Leitbildethik.

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Das Scheinen des Lichts in der Finsternis (Joh 1,5)

vielmehr alle die Lehr- und Lernprozesse, die uns in Geschichte und Gegenwart gelebtes Ethos zeigen. Sie sind für unser Ich-selbst-sein-Wollen wichtig, weil sie uns ein Ich-Ideal vor Augen führen, das unsere selbstbestimmte Lebenspraxis zu orientieren und zu motivieren vermag. Bedeutungsvolle Andere, die uns ein solches Ich-Ideal vor Augen halten, zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie kraftvoll, phantasievoll und mit aller Leidenschaft brennende Notlagen im Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids erkennen und überwinden wollen. Sie stehen ganz zu Recht im Mittelpunkt ethischer Lehr- und Lernprozesse in offenen bzw. in aufgeklärten Kulturen einer Gesellschaft.116 3.4.2.4

Die Erfahrung der Kunst117

Als eine dritte Weise, durch welche Gottes schöpferischer Geist das menschliche Geschlecht zur heilsnotwendigen Gewissheit des wahren Wesens Gottes führt, betrachte ich die Geschichte der Kunst. Mit dem allgemeinen Begriff der Kunst beziehe ich mich nicht etwa nur auf die verschiedenen Gattungen der bildenden Kunst, sondern erfasse darüber hinaus auch die Gattungen der Dichtung und der Tonkunst. Weit davon entfernt, an dieser Stelle einen allgemeinen Begriff der Kunst zu definieren, suche ich hier das Wesen der ästhetischen Erfahrung zu verstehen: und zwar als einer Erfahrung, die Integration zu stiften vermag. Dass die ästhetische Erfahrung ebenso wie die religiöse Erfahrung de facto angewiesen ist auf die innere Sicherheit, die der Rechtsschutz eines politischen Herrschaftsverbandes gewährt, ist die besondere Pointe einer ästhetischen Besinnung im Zusammenhang der Theologie. Irre ich mich nicht, so blenden die ästhetische Theorie bzw. die Philosophie der Kunst diesen elementaren Sachverhalt aus ihren Überlegungen weitestgehend aus. Mit dem Begriff der ästhetischen Erfahrung möchte ich bezeichnen, was die verschiedenen Gattungen der verschiedenen Künste in ihrer jeweiligen Geschichte gemeinsam haben. Ob sie sich nun im Medium einer der menschlichen Sprachen oder im Medium der Töne oder im Medium der Bilder im engeren Sinne des Begriffs oder im Medium des Plastischen bewegen: in einem Kunstwerk sucht der Autor bzw. die Autorin durch Einbildungskraft, durch Phantasie, durch Genialität eine spezifische Kommunikation mit einem sei es engen sei es weiten Kreis der

116 Am heutigen 9. Mai 2021 erinnere ich exemplarisch an die Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ um Kurt Huber, Willi Graf, Christoph Probst, Alexander Schmorell und Hans und Sophie Scholl. 117 Vgl. zum Folgenden den Gesamtartikel „Kunst und Religion“ I.–IX: TRE 20, 243–337, und den Gesamtartikel „Kunst und Religion“ I.–IV.: RGG4 4, 1858–1891; Konrad Stock, Über die Idee einer theologischen Ästhetik, in: Elisabeth Gräb-Schmidt und Reiner Preul (Hg.), Ästhetik, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2010 (MJTh XXII), 79–105); Reiner Preul, Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 110), 202–229: Ästhetische Bildung.

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Hörer und der Leser, der Zuschauer und der Betrachter zu inszenieren: vermutlich in aller Regel in der Erwartung, dass diese Kommunikation die jeweilige Gegenwart überdauert. Aus ihrem Alltag in ihrer jeweiligen Kultur erwachsen, inszeniert die Kommunikation der Kunst Außeralltägliches, das diesen Alltag unterbricht und reflektiert. Sie haftet – wie z. B. im Kontext religiöser Traditionen – am Kult; sie haftet – wie z. B. in den Anfängen einer Demokratie zu Athen – am Theater; sie haftet – wie z. B. in der bürgerlichen Aufklärung der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne – am Konzertsaal, am Museum, am Verlagswesen und am Markt der Literatur; und im Zeichen der bewussten Autonomie der Künste haftet sie an der genialen und mitunter skandalösen Einsamkeit des Künstlers bzw. der Künstlerin, die im Sinne einer Avantgarde bisher unerhörte und ungesehene Stile entwerfen. Es scheint schlechthin vergebliche Liebesmüh zu sein, in der unbegrenzten Vielfalt ästhetischer Kommunikation in den verschiedenen Gattungen der Kunst und ihrer Geschichte etwas Gemeinsames entdecken zu wollen. Georg Wilhelm Friedrich Hegels Vorlesungen über die Ästhetik, die die Dialektik des Begriffs des Kunstschönen entwickelten, scheinen jedenfalls den schlechthin unübersichtlichen Trends der ästhetischen Moderne nicht im Geringsten mehr gerecht zu werden.118 Immerhin bietet Schleiermachers Unterscheidung zwischen dem Aspekt des „wirksamen Handelns“ und dem Aspekt des „darstellenden Handelns“ einen Fingerzeig, der das gesuchte Gemeinsame entdecken lassen könnte.119 Wer etwas darstellt – wie z. B. Sophokles die „Antigone“, wie Bruno Ganz die Rolle des „Faust“, wie Anton Bruckner die 8. Symphonie, wie Gustav Klimt die hocherotischen Akte im Wiener Atelier, wie Thomas Mann die Figur Hans Castorps im „Zauberberg“ oder wie Ingeborg Bachmann die „Todesarten“ –, stellt Erfundenes bzw. Gefundenes dar. Er stellt bzw. sie stellt für einen offenen unbekannten Rezipientenkreis das eigene Finden dar – und zwar in einem unverwechselbaren Stil der Sprache und der Tonsetzung, des Malens, des Spielens und des Tanzens. Was ist es, das ein Autor bzw. eine Autorin einem offenen unbekannten Rezipientenkreis als dieses je eigene Finden darzustellen sucht? Was schwebt einer Autorin bzw. einem Autor vor, wenn sie bzw. wenn er die Medien der alltäglichen Erfahrung bricht, um Neues, Unvertrautes, Unanschauliches, Noch-nicht-Mögliches zu schaffen?120

118 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I – III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1 1986 (stw; 613; 614; 615). 119 Diese Unterscheidung ist vor allem entwickelt in: Friedrich Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Hg. von Jacob Frerichs, Schleiermacher’s sämmtliche Werke. Erste Abtheilung. Dreizehnter Band, Berlin 1850. 120 Ich spiele an auf eine Aussage Gerhard Richters über die Eigenart abstrakter Bilder: „Mit der abstrakten Malerei schufen wir uns eine bessere Möglichkeit, das Unanschauliche, Unverständliche anzugehen … das, was vordem nie gesehen wurde und was nicht sichtbar ist. Das ist kein kunstvolles

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Das Scheinen des Lichts in der Finsternis (Joh 1,5)

Mit aller Vorsicht sei‘s gesagt: Dieses je eigene Finden sucht Wahrheit, Wahrheit, die dem Menschen zumutbar ist (Ingeborg Bachmann) als je eigene Wahrheit für andere. Es setzt das unwiderrufliche je eigene Bestimmt-Sein zur Selbstbestimmung in einem ungeheuren Universum artistisch und artifiziell in Szene. Es ruft das Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids in Erinnerung, um es dem bequemen Vergessen zu entreißen. Es wehrt sich deshalb oft genug in scharfer oder gar überscharfer Kritik gegen die sozio-kulturellen Lage, so wie sie ein Autor bzw. eine Autorin zu erleben meint; es nimmt insofern teil an der Wahrnehmung des Zwiespalts in uns Menschen allen, den die religiöse Sprache als das „In-derSünde-Sein“ identifiziert. Gleichzeitig imaginiert es Hoffnungen des Friedens, selbst wenn es alle die Bedingungen außer Acht lässt, unter denen Frieden im Inneren und im Äußeren wirksam gestiftet wird – nämlich als Frieden durch Recht (STh III). Die ästhetische Kommunikation der Kunst hat bildende Funktion, sofern sie das je eigene Wahr-Sein-Wollen der Künstlerin bzw. des Künstlers mitteilt. Alles andere ist Kunstgewerbe oder Kitsch und deshalb mit vollem Recht Gegenstand seriöser Kunstkritik. 3.4.2.5

Die Erwählung Israels zum Volk JHWHs

In einem letzten Schritt sei nun die Aufmerksamkeit meiner Leserinnen und Leser auf jenen Weg des göttlichen Wesens zur Überwindung des Übels, des Bösen und des Todes gelenkt, der in der Erwählung Israels zum Volk JHWHs konkret wird (vgl. Röm 9,4.5). Indem sich die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) zu guter Letzt dieses Weges bewusst wird, bezieht sie sich auf jenen Sinnraum bzw. auf jenen Verstehenshorizont, innerhalb dessen sie sich selbst im Ereignis des unbedingten Heilswillens des dreieinen Gottes versteht. Die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen versteht die Erwählung Israels zum Volke JHWHs deshalb als ihren Sinnraum bzw. als ihren Verstehenshorizont, weil sie darin im Einklang mit der Theologie der Priesterschrift die partikulare Verheißung des universalen versöhnenden und vollendenden Waltens des wahrhaft göttlichen Wesens erblickt.121

Spiel, sondern Notwendigkeit; weil alles Unbekannte uns ängstigt und gleichzeitig hoffnungsvoll stimmt, nehmen wir die Bilder als Möglichkeit, das Unerklärliche vielleicht etwas erklärlicher, auf jeden Fall aber umgänglicher zu machen.“ (Zit. nach Michael Moxter, Zur Eigenart ästhetischer Erfahrung, in: Elisabeth Gräb-Schmidt und Reiner Preul [Hg.], Ästhetik (wie Anm. 117), 53–78; 76). 121 Vgl. hierzu und zum Folgenden bes. Jörg Jeremias, Theologie des Alten Testaments (wie Anm. 37), bes. 311–314; vgl. auch: Ders., Die Reue Gottes, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 2 1997 (BThSt; 31); Ders., Der Zorn Gottes im Alten Testament, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 2009 (BThSt; 104).

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Ich gehe davon aus, dass dieser Blick zugleich das fromme Selbstbewusstsein der jüdischen JHWH-Gemeinschaft kritisch revidiert. Er revidiert es deshalb kritisch, weil die Ereignisse des Dritten Tages das universale versöhnende und vollendende Walten des wahrhaft göttlichen Wesens über das Paradigma von Tun und Ergehen, von Schuld und Strafe, von Zorn und Gnade hinaus verstehen lassen (s. 4.5.4.2). Letzten Endes ist diese kritische Revision begründet in der Erkenntnis der trinitarischen Struktur des göttlichen Wesens als Geist, die das unitarische bzw. das monarchische Gott-Verstehen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft präzisiert und konkretisiert (s. 1.5.3). Mit dem Begriff der kritischen Revision seien die beiden Momente des Bewahrens und des Aufhebens zusammengefasst. Nur im Sinne des bewahrenden Aufhebens und des aufhebenden Bewahrens ist der Tanakh der jüdischen JHWH-Gemeinschaft mit sachlichem und bleibendem Recht als Altes Testament der erste Teil des christlichen Kanons der Heiligen Schrift.122 Um die Verheißung zu ermessen, die das Gott-Verstehen der jüdischen JHWHGemeinschaft in der relativen Endgestalt des Tanakh artikuliert, sei an die theologische Konzeption der Priesterschrift erinnert, wie sie sich aus der Verknüpfung von „Noah-Bund“ und „Abraham-Bund“ ergibt. Ebenso wie die deuteronomistische Theologie im Rückblick auf die Katastrophen des Untergangs des nördlichen Staates Israel im Jahre 720 v. Chr. und des südlichen Staates Juda im Jahre 587/586 v. Chr. entworfen, sucht auch die Theologie der Priesterschrift nach tragfähigen Gründen für das Vertrauen auf JHWHs trotz allem bleibenden Heils- und Friedenswillen. Sie tut das im aufrichtigen Bewusstsein der schweren Schuld, die die vorexilische JHWH-Gemeinschaft auf sich geladen hat; und sie nimmt diese Katastrophen demütig an als die vernichtende Strafe, die JHWHs gerechter Zorn geschehen ließ. In einer Situation tiefer Verzweiflung sucht sie eine glaubwürdige Antwort auf die bedrängende Frage, ob es denn überhaupt angesichts der offenkundigen Schuldfähigkeit der JHWH-Gemeinschaft ein Leben vor JHWH in der Freiheit von Schuld und in der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit dem Wollen des göttlichen Wesens geben werde. Um dieser Antwort willen nimmt die Priesterschrift eine kühne Verknüpfung zweier Überlieferungen vor: der mythischen Erzählung von der Bewahrung Noahs in der alles vernichtenden Sintflut (Gen 6,5-22 und 7,1–9,17) und der Berufung Abrams unter den Bedingungen der allgemeinen Verwirrung der menschlichen Sprachen (vgl. Gen 11,1-9 mit Gen 12,1-3; 17). Mit dieser Verknüpfung formuliert

122 Das zeigt auf ihre Weise die Geschichte des Judentums nach 73 n. Chr., soweit sie von der Praxis der Auslegung der Tora für das alltägliche Leben in der Treue zum geoffenbarten Wollen JHWHs in den verschiedenen rabbinischen Schulen geprägt ist. – Vgl. zum Thema bes. Friedhelm Hartenstein, Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments. Studien zur Relevanz des ersten Kanonteils für Theologie und Kirche, Göttingen/Bristol CT.: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016 (BThSt; 165). Zum Begriff der kritischen Revision vgl. Konrad Stock, STh I, 557–566.

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Das Scheinen des Lichts in der Finsternis (Joh 1,5)

die Priesterschrift mit Hilfe des Begriffs des „Bundes“ bzw. des „Bundesschlusses“ eine singuläre Einsicht in die Weise des göttlichen Waltens angesichts des faktischen „In-der-Sünde-Seins“ des Menschengeschlechts: Zum einen ist es der Priesterschrift als wahr gewiss, dass das göttliche Walten die faktische Neigung des Menschen zur Bosheit (vgl. Gen 8,21) nicht ungestraft lässt, sondern schrecklich ahndet; zum andern aber versteht die Priesterschrift unter dem „Bund“ bzw. unter dem „Bundesschluss“ eine „Selbstverpflichtung“ (Jörg Jeremias) der Gottheit, ihren gerechten Zorn, ihr gerechtes Gericht zu begrenzen zugunsten eines Übermaßes an Güte und an Erbarmen. Während jedoch der „Noah-Bund“ den gnädigen Strafverzicht der Gottheit zugunsten des Menschengeschlechts als ganzen symbolisiert, macht die Priesterschrift mit der Erzählung vom „Abraham-Bund“ das neue Verhältnis von göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit kenntlich, das jetzt – im Rückblick auf die Katastrophen von 720 und 587/586! – das fromme Selbstbewusstsein der jüdischen JHWH-Gemeinschaft bestimmen darf. Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir den dem Abram zugesagten Segen (Gen 12,2.3) im Sinne des Höchsten Guts des diesseitigen bzw. des innergeschichtlichen Lebens im Vertrauen auf JHWHs ewige Treue und deshalb in der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit JHWHs Wollen interpretieren.123 Ob die Priesterschrift dem Segen des „Abraham-Bundes“ eine Verheißung für die Existenz des Menschengeschlechts im Segen des „Noah-Bundes“ zuerkennt, muss an dieser Stelle offen bleiben. Ich hatte behauptet, dass der Blick, den die Ereignisse des Dritten Tages der Christus-Gemeinschaft eröffnen, das fromme Selbstbewusstsein der jüdischen JHWH-Gemeinschaft kritisch revidiere. Es bedarf der folgenden Darstellung des Christus-Geschehens insgesamt, um diese Behauptung solide zu begründen. Im Vorblick auf diese Darstellung sei jetzt nur gesagt, dass diese kritische Revision im Wesentlichen die Aporie betrifft, welche die mythische Idee des Tun-ErgehensZusammenhangs bzw. der Konzeption der „Gerechtigkeit als Weltordnung“ (Hans Heinrich Schmid) betrifft. Wenn ich mich nicht täusche, ist es nämlich die mythische Idee des Tun-Ergehens-Zusammenhangs bzw. die Konzeption der „Gerechtig-

123 Eine vergleichbare Verknüpfung der Noah-Überlieferung mit dem prophetischen Ruf zum Vertrauen auf JHWHs errettendes und befreiendes Walten findet sich in der Botschaft „Deuterojesajas“: „Im Überfluten von Zorn habe ich mein Angesicht kurz vor dir verborgen, aber in Gnade/Güte fernster Zeit habe ich mich deiner erbarmt, hat dein (Er-)Löser gesprochen: JHWH. Ja, die Tage Noachs sind dies für mich, als ich abgeschworen habe vom weiteren Überfluten der Wasser Noachs über die Erde: Genau so habe ich (nun) abgeschworen vom Überfluten (des Zorns) über dich und vom Schelten gegenüber dir!“ (Jes 54,8f. [Übersetzung Friedhelm Hartenstein]). – Ob und wie sich diese Prophetie erfüllt, muss angesichts der traumatischen Geschichte der jüdischen JHWH-Gemeinschaft seither als offene und unbeantwortbare Frage stehen bleiben.

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„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)

keit als Weltordnung“, welche die Logik des zürnenden, des richtenden, des strafenden Waltens JHWHs im Selbstverständnis der jüdischen JHWH-Gemeinschaft begründet. Worin besteht diese Aporie? Zum einen: Im Lichte der altorientalischen Sicht einer konnektiven Gerechtigkeit (Jan Assmann) sucht die mythische Idee des Tun-Ergehens-Zusammenhangs bzw. die Konzeption der „Gerechtigkeit als Weltordnung“ die tatsächliche Wirksamkeit bzw. Folgeträchtigkeit des menschlichen Handelns in seinen wesentlichen Beziehungen plausibel zu machen. Sie zielt auf die wechselseitige Verantwortlichkeit handlungsfähiger Subjekte für ihr gelingendes, aber auch für ihr misslingendes bzw. für ihr gescheitertes Leben; und sie beansprucht ihre Geltung nicht etwa nur für das Handeln individueller Subjekte in ihren privaten bzw. in ihren familialen Beziehungen, sondern auch für das Handeln der Institutionen einer wie auch immer verfassten Gemeinschaft. Nun erzeugt die mythische Idee des Tun-Ergehens-Zusammenhangs bzw. die Konzeption der „Gerechtigkeit als Weltordnung“ immer dann eine enorme Irritation, wenn die Entsprechung zwischen der Tugend einer Lebensgeschichte und dem erstrebten und erhofften Gelingen des Lebens durchkreuzt wird: sei es durch das erlittene Leid einer unerwartet ausbrechenden Krankheit, sei es durch das Leid, das andere individuelle handlungsfähige Subjekte mir antun bzw. das politische Institutionen anderen politischen Institutionen antun.124 Es ist das unerklärlich zugeschickte bzw. das schuldlos erlittene Leid, welches die scheinbar so plausible mythische Idee des Tun-Ergehens-Zusammenhangs zutiefst irritiert. Zum andern: Auf diese Irritation reagiert das fromme Selbstbewusstsein der jüdischen JHWH-Gemeinschaft seit den vorexilischen Anfängen der Prophetie mit der Logik des zürnenden, des richtenden, des strafenden, des vergeltenden Waltens JHWHs. Zwar ist es wie erwähnt die Intention des entstehenden Tanakh und seiner großen Erzählung, das Übermaß der Güte, der Gnade und des Erbarmens im Verhältnis zum gerechten Zorn des göttlichen Wesens zu bezeugen; aber der prophetische Ruf zum Leben im Vertrauen auf JHWHs immerwährende Treue und zur selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit JHWHs Wollen schließt doch stets die bittere Zumutung ein, in dem erlittenen Leid das Geschehen des Zorns, der Strafe, der Vergeltung zu erkennen und anzuerkennen. Der Ruf zum Leben im Vertrauen auf JHWHs immerwährende Treue und zur selbstbewusstfreien Willensgemeinschaft mit JHWHs Wollen kommt nicht aus ohne Rekurs auf

124 Also beispielsweise das Leid der Zerstörung des nördlichen Reiches Israel durch Sargon II., das Leid der Zerstörung des salomonischen Tempels zu Jerusalem durch Nebukadnezar oder das Leid der Auslöschung des europäischen Judentums in der Shoa, allerdings auch das Leid der Zerstörung der deutschen Städte durch das „moral bombing“ der Alliierten im 2. Weltkrieg zwischen 1942 und 1945, gegen das der Bischof von Chichester, George Kennedy Allen Bell, vehement protestierte. Ehre seinem Andenken!

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Das Scheinen des Lichts in der Finsternis (Joh 1,5)

das „Prinzip der Gegenseitigkeit, das auch dem Modell der sozialen Interaktion zugrunde liegt“.125 Innerhalb des entstehenden Kanons des Tanakh ist es das Buch Hiob, das einen bedeutsamen Schritt zur Überwindung der geschilderten Aporie vollzieht.126 Das Buch erreicht seine Klimax in den Kapiteln 38–42, die die mythische Idee des Tun-Ergehens-Zusammenhangs bzw. die Konzeption der „Gerechtigkeit als Weltordnung“ und ihre Funktion für die Logik von Schuld und Strafe dramatisch in Zweifel ziehen. Die beiden an Hiob gerichteten Reden JHWHs „aus dem Wettersturm“ unterbrechen nämlich souverän das ernste Bemühen der Freunde, jene Idee und ihre Funktion zu verteidigen, indem sie Hiobs schuldlos erlittenes Leid in den größeren Zusammenhang des göttlichen Waltens als des Allmächtigen, als des Grundes und Ursprungs des All des Seienden und dessen unerforschlicher Aspekte einordnen (vgl. bes. Hi 40,2; 42,2). JHWHs Reden „aus dem Wettersturm“ geben der leidenschaftlichen Klage Hiobs gegen die so ernst verteidigte mythische Idee des Tun-Ergehen-Zusammenhangs bzw. gegen die Konzeption der „Gerechtigkeit als Weltordnung“ und deren Funktion aufs Gründlichste recht (vgl. Hi 42,7f.). Ihr Vorwurf gegen Hiob besteht nur darin, dass der leidenschaftliche Kläger dem unerforschlichen „Ratschluss“ (Hi 42,3) des Allmächtigen und damit dessen noch ausstehendem, noch zukünftigem, noch gewissermaßen „jenseitigem“ Segen (vgl. Hi 42,12) der Erfüllung und Vollendung seines leidgeprüften Lebens nicht traut (vgl. Hi 42,6). In dieser seiner Klimax weist das Buch Hiob über die scheinbar schlüssige Logik des Verhältnisses von Schuld und Strafe, von Unrecht und Vergeltung, von Zorn und Gnade hinaus, ohne schon die Überwindung dieser scheinbar schlüssigen Logik in den Ereignissen des Dritten Tages ahnen zu können. Sie sind es letzten Endes, die ihren Zeugen die Tiefe und die Tragweite des versöhnenden und vollendenden Waltens des Gottes zu verstehen geben, dessen Gottheit letzten Endes als die Gottheit des dreieinen Gottes anzubeten und zu ehren ist. Es wäre allerdings kurzsichtig, wenn wir übersehen würden, dass sich die Überwindung der scheinbar schlüssigen Logik des Verhältnisses von Schuld und Strafe, von Unrecht und Vergeltung, von Zorn und Gnade schon in der Komposition des Tanakh der jüdischen JHWH-Gemeinschaft in ihrer relativen Endgestalt erkennen lässt. Im Offenbarungszeugnis dieser Komposition als ganzer kommt nicht nur der

125 Bernd Janowski, Art. Vergeltung II. Altes Testament: RGG4 8, 1000; vgl. auch: Ders., Die Tat kehrt zum Täter zurück. Offene Fragen im Umkreis des „Tun-Ergehen-Zusammenhangs“, jetzt in: Ders., Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1999, 167–191. 126 Vgl. zum Folgenden bes. Jörg Jeremias, Theologie des Alten Testaments (wie Anm. 37), 460–472: 1. Das Leiden des Gerechten (Hiob).

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„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)

Darstellung der Priesterschrift von der Begründung und von dem Vollzug des Kults im Heiligtum des Tempels zu Jerusalem eine herausragende Bedeutung zu; in ihm hat auch die heilsprophetische Rahmung des corpus propheticum der „Hinteren Propheten“ größtes Gewicht, die jene „Selbstverpflichtung“ JHWHs (Jörg Jeremias) zur „Barmherzigkeit“ in einer Willensumkehr im Selbst JHWHs anschaulich machen (Hos 11,8-9; s. 3.6). Es ist daher die Komposition des Tanakh der jüdischen JHWH-Gemeinschaft in ihrer relativen Endgestalt als ganze bis hin zum Zweiten Buch der Chronik, von der wir mit dem Apostel Paulus sagen können, dass sie jenes Gott-Verstehen bezeuge, das sich als „Wurzel“ und als „Saft des Ölbaums“ (Röm 11,17) erfassen lässt. Inwiefern das Christus-Geschehen jenes Gott-Verstehen nicht nur voraussetzt, sondern auch aufhebend bewahrt und bewahrend aufhebt, wird in der detaillierten Entfaltung des Christus-Geschehens zu zeigen sein. 3.4.2.6

Fazit

Unter dem Zwischentitel „Institutionen der Verheißung des ‚Friedens mit Gott‘ (Röm 5,1)“ habe ich exemplarisch bzw. pars pro toto aufmerksam gemacht auf „Wege des göttlichen Wesens“, im Banne des Syndroms von erlittenem Leid und verschuldetem Leid menschliche Gemeinschaften physisch und kulturell in relativer und begrenzter Dauer auf das Erscheinen des Erlösers in der Geschichte hin zu erhalten und zu bewahren. Im Lichte des christlich-frommen Selbstbewusstseins kam ich zu sprechen auf die Suche nach richtigem Recht, auf die Suche nach ethischer Einsicht bzw. nach ethischer Selbstbildung und auf die Suche nach ästhetischer Erfahrung in der Praxis der Kunst und der Künste. Diesen Weisen der physischen und der kulturellen Selbsterhaltung des Menschengeschlechts ist es – wie das christlich-fromme Selbstbewusstsein sieht –, gemeinsam, dass sie durchaus das Unheile, den Zwiespalt in der jeweils eigenen Lebensgeschichte und das Leid des Endlichen wahrnehmen lassen und begrenzen wollen. Sie sind insofern anzusprechen als Ereignisse dessen, was Martin Luther mit der glücklichen Metapher des göttlichen Waltens zur Linken meint. Sie sind als solche unüberholbare, bleibend notwendige Bedingungen des versöhnenden und vollendenden Waltens Gottes zur Rechten. Kein Merkmal zeigt dies unmissverständlicher als dies, dass diese exemplarisch ausgewählten Institutionen nicht ohne die generelle und die spezielle Prävention legitimen Zwangs und strafbewehrter Sanktion – also nicht ohne Gerichtsbarkeit und d. h.: nicht ohne Strafgerichtsbarkeit – auskommen. Verglichen mit der Wahrnehmung des Unheilen, des Zwiespalts in der je eigenen Lebensgeschichte und des Leids des Endlichen in aller Geschichte der Religionskulturen kommt dem frommen Selbstbewusstsein der jüdischen JHWH-Gemeinschaft für die Genese des Christus-Glaubens – für das christlich-fromme Selbstbewusstsein – eine ausgezeichnete Bedeutung zu. Ich sehe diese ausgezeichnete Bedeutung

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

nicht etwa nur darin, dass sich dem jüdisch-frommen Selbstbewusstsein unter den traumatischen Bedingungen des Exils die Einzigkeit JHWHs erschloss; ich sehe sie auch und vor allem darin, dass JHWHs Einzigkeit als die Basis des göttlichen InGemeinschaft-sein-Wollens geglaubt und verstanden wird, welches die Grenzen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft transzendieren wird. Im Gott-Verstehen, wie es der Tanakh in seiner relativen Endgestalt bezeugt, zeigt sich die Ahnung eines noch ausstehenden, noch künftigen, noch zu erhoffenden göttlichen Waltens, welches „ein neues Herz“ und einen „neuen Geist“ (Ez 36,26f.) zu geben vermag, kraft dessen die Bestimmung des Menschen zur selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wesen verwirklicht und vollendet wird.127

3.5

Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes128

In der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) ist der Christus-Glaube, der in der Hoffnung, in der Liebe, in der

127 Der Apostel Paulus bringt diese ausgezeichnete Bedeutung des jüdisch-frommen Selbstbewusstseins für das christlich-fromme Selbstbewusstsein im Brief an die Gemeinde zu Rom auf die dichte Metapher „Wurzel“ (Röm 11,17-18; 19-24). Diese dichte Metapher lässt sich insbesondere auch kanongeschichtlich und kanontheologisch erhärten, wenn man und sofern man sie im Lichte der Komposition des Tanakh in seiner relativen Endgestalt bis hin zum Zweiten Buch der Chronik als Zeugnis eines Gottesbewusstseins – und also subjekttheoretisch - entziffert. – Vgl. zum Folgenden meine Darstellung in: Konrad Stock, STh I, 500–524: Das Alte Testament des Christus-Glauben. 128 Vgl. zum Folgenden bes.: Karl Barth, KD IV/1–IV/4 Fr.; Paul Tillich, STh II; Wolfhart Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Göttingen: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 3 1969; Ders., STh II, bes. 365–440: 10. Kapitel: Die Gottheit Jesu Christi; Gerhard Ebeling, Dogmatik II; Jürgen Moltmann, Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen, München: Kaiser, 1989; Christof Gestrich, Christentum und Stellvertretung. Religionsphilosophische Untersuchungen zum Heilsverständnis und zur Grundlegung der Theologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 2001, § 5: Der gekreuzigte Menschensohn und der dreieinige Gott (345–449); Gerhard Ludwig Müller, Katholische Dogmatik. Für Studium und Praxis der Theologie, Freiburg i. Br./Basel/Wien: Herder, 2 1996, Fünftes Kapitel (254–387): Die Offenbarung Jesu als „Sohn des Vaters“ und als Mittler der Gottesherrschaft (Christologie/Soteriologie); Elisabeth Gräb-Schmidt und Reiner Preul (Hg.), Christologie, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2011 (MJTh XXIII), mit Beiträgen von Konrad Stock, Samuel Vollenweider, Christoph Schwöbel, Notger Slenczka, Hartmut Rosenau und Eilert Herms; Konrad Stock, Einleitung, 170–211; Eilert Herms, STh (Bd. 1), 778–847; Wilfried Härle, Dogmatik5 , 304–322. – Zur theologie- und dogmengeschichtlichen Lehrentwicklung vgl. bes. das Handbuch: Carl Andresen/Ekkehard Mühlenberg/Adolf Martin Ritter/Martin Anton Schmidt/Klaus Wessel, Die christlichen Lehrentwicklungen bis zum Ende des Spätmittelalters. Bearbeitet von Adolf Martin Ritter. Neuausgabe, Göttingen/Oakville: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011. – Vgl. ferner: Jürgen Werbick, Gott-menschlich. Elementare Christologie, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 2016; Gunther Wenz (Hg.), Die Christologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021 (Pannenberg-Studien; 6).

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„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)

Selbstverantwortung vor Gott wirksam ist (vgl. Gal 5,16), Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums. Unter dem Begriff der Wahrheit des Evangeliums verstehe ich den einheitlichen Sachverhalt, der uns nicht anders überliefert ist als in den pluriformen Texten des Neuen Testaments, und zwar im Sinnraum bzw. im Verstehenshorizont der Bibel der jüdischen JHWH-Gemeinschaft in ihrer griechischen Version der Septuaginta (vgl. STh I, 557–566). Entstanden in dem Zeitraum zwischen den Jahren 30 n. Chr. und 110 n. Chr., bezeugen diese Texte die Existenz einer religiösen Bewegung innerhalb des zeitgenössischen Judentums. Was sie alsbald von dessen Lebensform des frommen Bewusstseins der Erwählung sowie des Gehorsams gegenüber dem in der Tora des Mose offenbarten Inbegriff des göttlichen Gesetzes trennt, das ist die überwältigende Erfahrung, dass das Lebenszeugnis Jesu von Nazareth von Gottes wirklichem Wesen wahr ist. Wem immer diese überwältigende Erfahrung in ihrer bzw. in seiner Lebensgeschichte sich erschloss und erschließt, sieht und versteht sie – diese Lebensgeschichte – im Lichte dieses Lebenszeugnisses. Ein Leben in der Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums hier und heute ist ein Leben in Gemeinschaft mit Jesu Gottesgewissheit, wie sie die religiöse Bewegung der verschiedenen „Urgemeinden“ in verschiedener Weise aufgenommen, produktiv angeeignet und auf ihre immer wieder unerwartet neue Situation übertragen hatte. Im Folgenden ist diese überwältigende Erfahrung, die in dem christlichen Wortbekenntnis in allen seinen Medien, Bildern, Gedanken und Gestalten zur Sprache kommt, mit Rücksicht auf die Lage der weltweiten Christenheit in der entstehenden Weltgesellschaft sorgfältig zu interpretieren. Es wird die Leitlinie meiner Interpretation des christlichen Wortbekenntnisses sein, das Evangelium als jene Kraft Gottes für „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) zu entfalten, die in dieser Zeit des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids das „Wollen des Reiches Gottes“ (Friedrich Schleiermacher) als das Höchste Gut im Hier und Jetzt ermöglicht und bewirkt. Allerdings: Es ist ein entscheidend wichtiges Ergebnis der formgeschichtlichen Untersuchung des Neuen Testaments, dass die Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums von Gottes wirklichem Wesen sich noch nicht unbezweifelbar schon in der historischen, der innergeschichtlichen Nachfolge des Wanderpredigers aus Galiläa erschloss. Unbezweifelbar erschloss sie sich vielmehr erst in den Szenen, die ich die Ereignisse des Dritten Tages nenne (vgl. 1Kor 15,4; s. 3.5.2.1). Wir haben von der Art und Weise dieser Szenen keine Kenntnis. Doch ist es nicht erfolgreich zu bestreiten, dass diejenigen, die sie erlebten, sie als Zeichen einer unerwarteten und unbegreiflichen Erhöhung und Entrückung Jesu von Nazareth „zur Rechten Gottes“ verstanden: einer Erhebung in Gottes Ewigkeit, die den gewaltsamen Tod des Gerechten am Kreuz auf Golgatha überwindet und Jesu

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Lebenszeugnis von Gottes wirklichem Wesen und damit Jesu Gottesgewissheit als wahr bekräftigt und als wahr in Kraft setzt.129 Im Sinnraum und Verstehenshorizont der Bibel der jüdischen JHWHGemeinschaft in ihrer griechischen Version der Septuaginta symbolisieren die eschatologischen Wortfelder „Auferwecken“, „Erhöhen“, „Entrücken“ die eschatische Bewandtnis dieser Zeichen als Zeichen für das göttliche Walten, das dem Gerechten Ewigkeit gewährt. Indem die Botschaft der Apostel von den Ereignissen des Dritten Tages durch Gottes Heiligenden Geist radikales Gott-Vertrauen stiftet, konstituiert der Christus-Glaube sich von allem Anfang an als Osterglaube. Natürlich steht und fällt der Osterglaube mit jener ausgezeichneten Bestimmtheit des personalen Selbstbewusstseins, die sich als das Gefühl verstehen lässt, von Gott dem Grund und Ursprung des Seienden überhaupt schlechthin abhängig und d. h. zu selbstbewusst-freiem, selbstverantwortlichem Leben bestimmt zu sein.130 Für die dogmatische Besinnung auf die Wahrheit der religiösen Kommunikation des Evangeliums in ihrer ethischen Zielsetzung in der Welt von heute hat die historisch-kritische Lektüre der Offenbarungszeugnisse der Heiligen Schrift erhebliche Konsequenzen. Sie macht es nämlich unvermeidlich, das Christus-Geschehen, wie es sich dem Christus-Glauben durch Gottes Heiligenden Geist erschließt, in seiner Genese zu bedenken. Um dieser Genese willen beginne ich mit einer methodischen Betrachtung, die unter dem hergebrachten Titel „Christologie“ die Struktur des Christus-Geschehens durchsichtig machen möchte (3.5.1).

129 Vgl. zum Folgenden bes.: Wolfhart Pannenberg, Grundzüge der Christologie (wie Anm. 128), 47–112: § 3: Die Auferweckung Jesu als Grund seiner Einheit mit Gott; Samuel Vollenweider, Ostern – der denkwürdige Ausgang einer Krisenerfahrung, jetzt in: Ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie. Studien zu Paulus und zur frühchristlichen Theologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 2002, 105–124; Elisabeth Gräb-Schmidt und Reiner Preul (Hg), Auferstehung, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2012 (MJTh XXIV), mit Beiträgen von Dietrich Korsch, Michael Wolter, Michael Beintker, Michael Welker und Andreas Feldtkeller. Ich stütze mich hier und im Folgenden auf den Beitrag von Michael Wolter, Die Auferstehung der Toten und die Auferstehung Jesu (ebd. 13–54); vgl. bes. 49: „Die Deutung der visionären Erfahrungen als Auferweckung und Erhöhung steht in einer Linie mit der … individual-eschatologischen Konzeption, dass Gott Gerechte, die um ihrer Gerechtigkeit willen gewaltsam zu Tode gebracht werden, unmittelbar nach dem Verlust ihres Lebens auferweckt und in seine himmlische Welt erhöht.“ 130 Vgl. hierzu Michael Wolter, Die Auferstehung der Toten und die Auferstehung Jesu (wie Anm. 129), 35: „Der Gedanke der Auferstehung von den Toten gehört bei Paulus also nicht nur in die Eschatologie, sondern vor allem auch in die Gotteslehre. Und wenn man denn eine theologische Spitzenaussage riskieren will, kann man sagen: Es ist nichts anderes als das Gottsein Gottes, das die Auferstehung der Toten theologisch denknotwendig macht.“. – Ich ergänze: der „Gedanke der Auferstehung von den Toten“ impliziert, dass es dem „Gottsein Gottes“ möglich und deshalb verwirklichbar und faktisch notwendig ist, leibhaftes Person-Sein aus dem „Im-Tode-Sein“ in das eschatische Vollendet-Werden zu erheben (s. 4.5.2). Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn das „Gottsein Gottes“ Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen einschließt (s. 1.5.4).

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„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)

Auf dieser methodischen Basis entfalte ich das Christus-Geschehen selbst und als solches, in dem der Christus-Glaube findet, was der Apostel Petrus vor dem Hohen Rat zu Jerusalem bekennt: „In keinem andern ist das Heil, ist auch kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darin wir sollen selig werden“ (Apg 4,12).

In diesem Abschnitt wird die Frage zu beantworten sein, ob dieser Name – der Name Jesus von Nazareth – jene historische, jene individuelle geschaffene Person bloß als solche nennt oder ob er jene Einheit mit dem ewigen Sohn, dem ewigen Wort, dem ewigen Schöpfungssinne nennt, aus der und in der der historische Sohn des Zimmermanns aus Galiläa und der Maria existiert (3.5.2). Schließlich gilt es darzulegen, was genau dem christlich-frommen Selbstbewusstsein als das Heilsame und als das Rettende gegenwärtig ist und immer wieder neu gegenwärtig wird, sofern es sich durch den Geist der Wahrheit in die Gewissheitsgemeinschaft mit dem Christus Jesus selbst integriert findet. Diese „soteriologische“ Darlegung im spezifischen Sinn zielt darauf ab, das Leben im Christus-Glauben, in der Christus-Hoffnung und in der Christus-Liebe als die Lebensform zu präsentieren, die in der noch immer herrschenden Verstrickung ins Syndrom von erlittenem Leid und verschuldetem Leid jener Neuheit teilhaftig ist, von der der Apostel Paulus so gewinnend spricht (2Kor 5,17). Sie ist das Thema des Kapitels 4: Der christliche Glaube an Gott den Vollender. 3.5.1

Christologie. Eine methodische Betrachtung131

Der Christus-Glaube – das christlich-fromme Selbstbewusstsein –, wie es ihn hier und jetzt in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen gibt, ist wie angefochten und wie bruchstückhaft auch immer der Gnade Gottes des Schöpfers (Joh 1,16), des Friedens mit Gott (Röm 5,1), der Neuheit des Sich-selbst-Verstehens (vgl. 2Kor 5,17) gewiss. Er verdankt diese Gewissheit einzig und allein dem ChristusGeschehen selbst und als solchem. In welcher Weise der Christus-Glaube sich selbst dem Christus-Geschehen verdankt, das spricht das vielgestaltige Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift in mannigfachen Bildern, Metaphern und Gedanken, aber auch in sorgsam komponierten und reflektierten Texten wie z. B. in der Gattung des Evangeliums oder in der Form der apostolischen Briefe aus. Alle diese schriftlichen 131 Vgl. zum Folgenden bes.: Gerhard Ebeling, Dogmatik II, 16–40; 46–49; Wolfhart Pannenberg, STh II, 316–336: 1. Die Methode der Christologie; Konrad Stock, Einleitung, 173–178; Eilert Herms, STh § 41: Das Christusgeschehen als Erfüllung seines Verheißenseins (Bd. 1), 778ff.; § 42: Die gleichursprünglichen Aspekte des Christusgeschehens und ihre konstitutive Ordnung, (Bd. 1), 785–786.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Überlieferungen weisen zurück auf die kultische Institution des Gottesdienstes, in deren Ordnung eine versammelte Gemeinde der Getauften bzw. der Taufbewerber das Christus-Geschehen regelmäßig feiert. In dieser Feier und zentral in dem gemeinsamen Mahl des Herrn (1Kor 11,20) versteht die versammelte Gemeinde den Christus Jesus des dreieinen Gottes als das Subjekt, das sich dem Inneren, dem individuellen Selbst der Teilnehmer, von sich aus durch den Heiligenden Geist der Wahrheit vergegenwärtigt. Als solches wird er angebetet, gelobt und „bis er kommt“ verkündigt (1Kor 11,26).132 Ich verwende deshalb das Kunstwort „Christologie“ als Chiffre für die mannigfachen Formen des Benennens und Bekennens, die von diesem Sitz im Leben des Gottesdienstes her und auf ihn hin die eigenartige Seinsweise artikulieren wollen, die dem Subjekt des Christus-Geschehens zukommt. Die methodische Betrachtung beschreibt den Weg, der zur Erkenntnis der eigenartigen Seinsweise Jesu Christi – des Subjekts des Christus-Geschehens – führt. Nun ist es offenkundig, dass jedenfalls die deutschsprachige evangelische Theologie seit den Anfängen der theologischen Aufklärung – der Neologie mit ihrer Kritik am Offenbarungsobjektivismus der lutherischen wie der reformierten Orthodoxie – hinsichtlich der Erkenntnis des Subjekts des Christus-Geschehens in recht erheblichen Gegensätzen existiert. Eine methodische Betrachtung wird daher versuchen, angesichts dieser Gegensätze einen Konsens zu finden, der sie in eine höhere vermittelnde Einheit aufhebt. Erstens: Es ist nicht zu erwarten, dass das apostolische Kerygma des Neuen Testaments im Sinnraum und Verstehenshorizont der Bibel Israels in ihrer griechischen Version der Septuaginta eine einheitliche christologische Lehr- und Bekenntnisbildung enthalten würde. Wie Jesu eigenes Lebenszeugnis von Gottes wirklichem Wesen bewegt sie sich grundsätzlich im Horizont des JHWH-Glaubens in dessen nachexilischer monarchischer bzw. unitarischer Gestalt.133 Infolgedessen stoßen wir auf Texte, die die Relation zwischen dem Einen, dem einzigen Gott, und der

132 Vgl. hierzu bes. Michael Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, Tübingen: Mohr Siebeck, 2011; Michael Wolter, Das neutestamentliche Christentum und sein Gottesdienst, in: Elisabeth Gräb-Schmidt und Reiner Preul (Hg.), Gottesdienst, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2018 (MJTh XXX), 1–22. Wolter macht S. 19ff. darauf aufmerksam, dass der den Gottesdienst eröffnende Gruß – „Im Namen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ – recht verstanden den Grund der gottesdienstlichen Feier benennt: „Nur ‚um Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes willen‘ wird jetzt dieser Gottesdienst gefeiert, und aus keinem einzigen (verstehe: anderen) Grund.“ (22). 133 Vgl. hierzu bes. den Überblick von Eduard Schweizer, Art. Jesus Christus I. Neues Testament: TRE 16, 670–726; sowie jüngst Samuel Vollenweider, Zwischen Monotheismus und Engelchristologie. Überlegungen zur Frühgeschichte des Christusglaubens, jetzt in: Ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie (wie Anm. 129), 3–27; Ders., Christozentrisch oder theozentrisch?

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„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)

Gestalt des Christus Jesus in einem theozentrischen Sinne zu verstehen suchen (vgl. bes. Röm 14,9-12; Phil 2,6-11; 1Kor 3,23; 15,23-28); ihnen stehen andere Texte gegenüber, die diese Relation dezidiert als Relation des Eines-Seins des Christus Jesus und Gottes des Vaters betonen (vgl. bes. Joh 5,30; 2Kor 5,17). Wenn es in der Geschichte der christologischen Lehr- und Bekenntnisbildung im Neuen Testament etwas Einheitliches gibt, so findet es sich im christlich-frommen Selbstbewusstsein, just in der Gestalt des Christus Jesus der all-erneuernden Gnade des schöpferisch waltenden Gottes in letztgültiger Weise teilhaftig zu werden. Mit der Ausbreitung des Christus-Glaubens in der Kultur des Imperium Romanum wächst das Bedürfnis und das Interesse, über die Art und Weise der Relation des Durch bzw. des In Klarheit zu gewinnen. In der Begegnung mit dem Philosophieren in der Periode der Spätantike bzw. im Kampf gegen häretische Missverständnisse des christlich-frommen Selbstbewusstseins bilden sich theologische Schulen, die in der Suche nach solcher Klarheit alsbald in schweren Streit geraten. Er wird entschieden durch die Beschlüsse der Konzilien von Nicaea im Jahre 325 bzw. von Konstantinopel im Jahre 381, die das Bekenntnis zur wesentlichen Einheit Gottes in der Person des Vaters, der Person des Sohnes und der Person des Heiligen Geistes formulieren (s. 1.5.3.3). Mit tiefem Ernst spricht das Symbol von dem dreieinen Gott als dem transzendenten Subjekt des unbedingten, des unverbrüchlichen Heilswillens, der in der Fleischwerdung (vgl. Joh 1,14) bzw. in der Menschwerdung der Person des Sohnes und in der lebenspendenden Kraft des Heiligen Geistes immanent wirklich und wirksam wird.134 Das Bedürfnis bzw. das Interesse des christlich-frommen Selbstbewusstseins an Klarheit über die Relation zwischen der Gestalt des Christus Jesus und der letztgültig erfahrbaren Gnade des schöpferisch waltenden Gottes selbst war mit den Stichworten der „Fleischwerdung“ bzw. der „Menschwerdung“ noch nicht befriedigt. Es suchte vielmehr nach dem angemessenen Gedanken dafür, dass die Gestalt des Christus Jesus in jener Relation die Gestalt eines individuellen, personalen, leibhaften Selbst ist und bleibt. Und es fand diesen angemessenen Gedanken im Symbol des Konzils von Chalkedon im Jahre 451, das die Gestalt des Christus Christologie im Neuen Testament, in: Elisabeth Gräb-Schmidt und Reiner Preul (Hg.), Christologie (wie Anm. 128), 19–40. 134 Text: DH 150; BSLK 26f.; vgl. hierzu Adolf Martin Ritter, Das Konzil von Konstantinopel und sein Symbol, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1965 (FKDG; 15). – Sowohl im Verhältnis zur Verehrung des Einzigen im JHWH-Glauben des nachexilischen Judentums als auch im Verhältnis zum metaphysischen Denken zwischen Parmenides und Plotin bedeutet das trinitarische Verstehen des Absoluten einen entscheidenden Schritt des Erkennens, dessen Fruchtbarkeit sich insbesondere im Philosophieren Georg Wilhelm Friedrich Hegels zeigt. Es ist eine theoretische Legende, dass das trinitarische Verstehen des Absoluten durch die Kritik des metaphysischen Denkens in den Werken Immanuel Kants, Friedrich Nietzsches, Martin Heideggers und Theodor W. Adornos erledigt worden sei.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Jesus als die Gestalt der einen, der geschaffenen, der unvertretbaren, der leibhaften Person verständlich macht, die – im Unterschied zu allem anderen geschaffenen Person-Sein – nicht anders existiert als kraft der Einung des gottheitlichen und des menschheitlichen, des transzendenten und des immanenten Seins.135 Die Antwort auf die Frage, von welcher Art denn das Subjekt des ChristusGeschehens sei, dem sich der Christus-Glaube verdankt, skizziert das Symbol mithin in einer Zwei-Naturen-Christologie bzw. in einer Deszendenz-Christologie. Sie hat die Frömmigkeit nicht nur, sondern auch das Denken der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen bis in die euro-amerikanische Neuzeit und Moderne zutiefst geprägt; und sie fand ihr ergreifendstes Medium in der Vertonung des Symbols von Nicaea und Konstantinopel im „Credo“ der Messe bei Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert, Anton Bruckner und Antonín Dvořák.136 Zweitens: In der Periode der religionsphilosophischen und der theologischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts wird der entschiedenste Widerspruch gegen das christologische Dogma der römisch-katholischen wie der reformatorischen Kirchenlehre laut. Er steht im Zusammenhang der Anfänge der historisch-kritischen Lektüre der Heiligen Schrift und macht in diesem Kontext die Argumente des Deismus für die natürliche Religion bzw. für die natürliche Gotteserkenntnis geltend. Diese entzünden sich am Offenbarungsobjektivismus der römisch-katholischen wie der altprotestantischen Orthodoxie und zielen auf vernünftige Prüfung der Gründe für das Ansehen der Bibel als einziger Quelle der von Gott zum Heil des Menschen geoffenbarten Wahrheit. Infolgedessen wendet sich das Interesse der Frage zu, ob nicht die biblische Überlieferung einen zutreffenden Bericht über Jesu eigenes Wollen und Wirken enthalte, der vom Bekenntnis der Christologie der Kirche kritisch zu unterscheiden sei. Zum ersten Mal wird dieses Interesse greifbar in den verschiedenen Abhandlungen von Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), die sich in seiner „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“ finden.137 Sie gaben den 135 Der griechische Text des Bekenntnisses von Chalkedon vom 22. Oktober 451 und dessen lateinische Übersetzung finden sich in: DH 300–303. Er präsentiert sich ausdrücklich als Ergänzung bzw. als Erweiterung der Bekenntnisse von Nicaea und von Konstantinopel, und zwar in der Frontstellung gegenüber Eutyches und Nestorius. 136 Sie bildet insbesondere den Hintergrund bzw. die Voraussetzung der Feier der Eucharistie bzw. des Heiligen Abendmahls; und ihre divergierenden Lehrgestalten zeigen sich in den Konflikten der reformatorischen Bewegung mit der römisch-katholischen Messfeier sowie im Streit der lutherischen und der zwinglischen Reformation über die Gegenwart des Christus Jesus im Mahl des Herrn. 137 Nachdem der Autor es nicht wagte, diese „Apologie“ zu Lebzeiten zu veröffentlichen, publizierte Gotthold Ephraim Lessing als Bibliothekar des Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttel zwi-

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„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)

Anstoß für die uferlose „Leben-Jesu-Forschung“ des 19. Jahrhunderts bis hin zur Jesus-Biographie und zum Jesus-Roman, die mit den Anfängen einer liberalen und d. h. dogmen- und kirchenkritischen Theologie fest verwoben ist. In seinem großen und auch literarisch großartigen Werk „Geschichte der LebenJesu-Forschung“ meinte Albert Schweitzer das Scheitern dieses Projekts nachweisen zu können. Allerdings proklamierte er seinerseits – angeregt von den Thesen von Johannes Weiß – ein Bild des historischen Jesus, das dessen angeblich apokalyptisch geprägte und deshalb weltanschaulich unhaltbare Rede in eine „ethische Eschatologie“ verwandelt. Ihr harter Kern ist Jesu „Hoffen und Wollen einer ethischen Weltvollendung“, das in der jetzigen Gegenwart eine Hilfe zur Entbindung unserer sittlichen Kräfte bieten soll.138 Ebenso wie die Autoren der „Leben-Jesu-Forschung“ sieht er die historische Betrachtung des Wanderpredigers aus Nazareth in einem unüberbrückbaren Gegensatz zum christologischen Bekenntnis, das die Einung des gottheitlichen und des menschheitlichen, des transzendenten und des immanenten Seins in Jesus als dem Christus des dreieinen Gottes lehrt. In seiner Studie aus dem Jahre 1892 „Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus“ hatte Martin Kähler dem Bild des historischen Jesus, wie es der Mainstream des liberalen Protestantismus zeichnete, entschieden widersprochen.139 Diese Studie präludiert der intensiven Diskussion, die namentlich die deutschsprachige evangelische Theologie des 20. Jahrhunderts über die Frage geführt hatte, wie das Verhältnis zwischen dem Lebenszeugnis Jesu von Nazareth, das die synoptischen Evangelien erzählen, und dem Christus-Glauben des apostolischen Kerygmas zumal des Paulus zu bestimmen sei. Sie entzündete sich an Rudolf Bultmanns hermeneutischem Programm einer existentialen Interpretation der neutestamentlichen Verkündigung, die das „Wort vom Kreuz“ (1Kor 1,18) als

schen 1774 und 1778 aus ihr einige „Fragmente eines Ungenannten“ und entfachte damit den „Fragmentenstreit“ – eine der heftigsten und intensivsten Kontroversen der Intellektuellen des 18. Jahrhunderts. Reimarus entwickelt in dem Text „Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger“ eine Betrugshypothese, derzufolge die Auferweckung des Gekreuzigten eine Erfindung des enttäuschten Jüngerkreises sei, um Jesu eigene Botschaft zum Ursprung einer Erlösungsreligion zu verfälschen. Demgegenüber möchte er die Notwendigkeit von Offenbarung überhaupt widerlegen und sucht im „Buch der Natur“ die allgemeine Quelle einer vernünftigen Gotteserkenntnis, die zu moralischer Vollkommenheit führt. Vgl. hierzu Harald Schultze, Art. Reimarus, Hermann Samuel (1694–1768): TRE 28, 470–473; Albrecht Beutel, Art. Reimarus, Hermann Samuel: RGG4 7, 238. 138 Vgl. Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, München und Hamburg: Siebenstern Taschenbuch Verlag, 1966, Bd. 2 (Siebenstern-TB; 79–80), 626. 139 Vgl. Martin Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, München: Chr. Kaiser, 4 1969 (ThB; 2). – Kähler wird allerdings der Tatsache nicht gerecht, dass die synoptischen Evangelien im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages und für die Lebensgegenwart ihrer Christus-Gemeinschaften die Botschaft Jesu von Nazareth in einer Weise erzählen, die gemäß der Zwei-Quellen-Theorie durchaus historisch zu rekonstruieren ist.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

„Anrede, Zuspruch der je mir geltenden Gnade Gottes“ plausibel machen möchte: jener Gnade, die „den Menschen von sich selbst (verstehe: von der Sünde des verkehrten Sich-Verstehens) befreit“.140 Bultmanns Programm lässt eine Aporie erkennen. Sie beruht auf dem unvermittelten Gegensatz zwischen objektivierendem Erkennen (bzw. weltanschaulichem Wissen) und geschichtlichem Verstehen, wie Bultmann ihn im Gespräch mit dem philosophischen Freund Martin Heidegger entwickelt hatte. Im Banne dieses Gegensatzes hat es den Anschein, als diene jedwedes objektivierende WissenWollen dem beherrschenden und distanzierenden Verstand, während geschichtliches Verstehen-Wollen sich dem Anspruch eines Selbstverständnisses öffnet, das uns in einer Anrede-Situation begegnet. Aus diesem Grunde ist für Bultmann das Projekt einer historischen Rekonstruktion der Verkündigung Jesu zwar nicht von vornherein verkehrt; aber es steht dem Aufruf zum Gehorsam des Glaubens an das „Wort vom Kreuz“ geradezu im Weg, sofern es den einsehbaren Grund und die bestätigende Legitimation des Christus-Glaubens nachweisen soll. Was für den Christus-Glauben schlechterdings entscheidend ist, ist deshalb letzten Endes nur das „Daß“ des Wortes vom Kreuz der apostolischen Verkündigung: „Es braucht also inhaltlich von Jesus nichts gelehrt zu werden als dieses Daß, das in seinem historischen Leben seinen Anfang nahm und in der Predigt der Gemeinde weiter Ereignis wird.“141 In einem späten Text hat Bultmann – wohl im Rückblick auf die intensive Diskussion mit seinen Schülern – das Verhältnis zwischen dem „historischen Jesus“ und dem „immer gegenwärtigen Herrn“ als das der „Paradoxie Christi“ bezeichnet.142

140 Rudolf Bultmann, Geschichte und Eschatologie, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1958, 180. – Zum hermeneutischen Programm der existentialen Interpretation vgl. Konrad Stock, STh I, 626–638. 141 Rudolf Bultmann, Der Begriff des Wortes Gottes im Neuen Testament (1931), jetzt in: GuV 1, 268–293; 292. 142 Rudolf Bultmann, Geschichte und Eschatologie (wie Anm. 140), 182 (Bultmann spielt hier auf die Art und Weise an, in der das Begriffswort „Paradox“ verwendet wurde von Søren Kierkegaard, Philosophische Brosamen, Kapitel III: Das absolute Paradox. Eine metaphysische Grille [zitiert nach: Sören Kierkegaard, Philosophische Brosamen und unwissenschaftliche Nachschrift. Unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft hg. von Hermann Diem und Walter Rest, Köln und Olten: Jakob Hegner, 2 1959, 48–67]). Kierkegaard versteht unter dem „absoluten Paradox“ diejenige Synthese von Zeit und Ewigkeit im Augenblick, die den existierenden Menschen im Bewusstsein der Sünde trifft und die insofern dem Verstand des logisch strengen Denkens zum „Ärgernis“ wird. In diesem Sinne ist das „Paradox“ zu unterscheiden von der Antinomie und vom Absurden. Vgl. hierzu bes. Hermann Deuser, Sören Kierkegaard. Die paradoxe Dialektik des politischen Christen, München/Mainz: Kaiser/Grünewald: 1974 [GT. Syst. Beiträge; 13], 27–107). – Die Debatte wurde eröffnet von Ernst Käsemann, Das Problem des historischen Jesus, jetzt in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen. Bd. I, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1960, 187–214. Vgl. ferner: Ernst Fuchs, Die Frage nach dem historischen Jesus, jetzt in:

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Drittens: In der Debatte, die Ernst Käsemann, Gerhard Ebeling und Ernst Fuchs mit Rudolf Bultmann führten, war diejenige Konzeption anscheinend nicht präsent, die den abstrakten Gegensatz zwischen dem Bekenntnis des Konzils von Chalkedon und dem liberalen Interesse an Jesu eigener Botschaft zu überwinden trachtet: die christologische Konzeption in Friedrich Schleiermachers „Glaubenslehre“. Ich rufe sie hier in Erinnerung, weil sie es möglich macht und dazu anregt, das Eines-Sein zu entfalten, das gemäß dem Evangelium nach Johannes zwischen der Einzigkeit des göttlichen Wesens und dem Lebenszeugnis Jesu von Nazareth bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha besteht (vgl. Joh 5,30).143 Zum einen: In ihrer Komposition weist Schleiermachers Dogmatik stets und konsequent zurück auf ihre „Einleitung“ und insbesondere auf die Gedanken zum „Verhältnis der Dogmatik zur christlichen Frömmigkeit“ (CG2 §§ 15–19 [I, 105–125 = KGA I.13,1, 127–150]). Sie stellt das christlich-fromme Selbstbewusstsein – den Wurzelgrund dogmatisch reflektierter Lehre – als exemplarischen Fall des frommen Selbstbewusstseins vor, das wiederum nicht anders als im Sinne einer jeweiligen „Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins“ (CG2  § 3 L [I, 14 = KGA I.13,1, 19f.]) nachgezeichnet werden kann. Als Quelle dieser jeweiligen Bestimmtheit aber kommen weder die Sprachformen eines solennen Bekenntnisses bloß als solche noch eine theoretische Leistung natürlicher Vernunft in Betracht; als ihre Quelle kommt vielmehr nur das Offenbarungsgeschehen eines „Totaleindrucks“ in Betracht, das seinen Empfängern eine je bestimmte, je geschichtlich geprägte Sicht ihres leibhaften Person-Seins erschließt. Es ist mithin die transzendentale Analyse, die die Besinnung auf das Christus-Geschehen auf die Vielfalt religiöser Erfahrung in der Geschichte bezieht und die zugleich den Offenbarungsobjektivismus eines Dogmas bloß als solchen fraglich macht (vgl. STh I, 452–450). Zum andern: Infolgedessen ist nach Schleiermacher das Verhältnis zwischen Sätzen, „welche unmittelbare Ausdrücke unseres christlichen Selbstbewußtseins sind“

Ernst Fuchs, Zur Frage nach dem historischen Jesus. Ges. Aufsätze. Bd. 2, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 2 1965, 143–167. Aus der Debatte ist hervorzuheben: Gerhard Ebeling, Theologie und Verkündigung. Ein Gespräch mit Rudolf Bultmann, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1962, bes. 19–82. 143 Vgl. zum Folgenden: Friedrich Schleiermacher, CG2 §§ 92–99 (II, 31–89 [KGA I.13,2, 38–104]); Nachweise aus diesem Abschnitt sind im Text notiert. – Zu Schleiermachers Christologie vgl. bes.: Dietz Lange, Historischer Jesus oder mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen Friedrich Schleiermacher und David Friedrich Strauß, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 1975, 21–172; Bernd-Holger Janssen, Die Inkarnation und das Werden der Menschheit. Eine Interpretation der Weihnachtspredigten Friedrich Schleiermachers im Zusammenhang mit seinem philosophisch-theologischen System, Marburg: Elwert, 2003 (MThSt; 79). – Ich lasse hier Schleiermachers Hypothese auf sich beruhen, das Evangelium nach Johannes sei die authentische Quelle, die uns das Selbstbewusstsein des irdischen Christus Jesus zu rekonstruieren erlaubt.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

(§ 91,2 [II, 31 = KGA I.13,2, 37]), und Sätzen der kirchlichen Lehre bzw. der theologischen Reflexion von Grund auf neu zu bestimmen. Als solche unmittelbaren Ausdrücke des Christus-Glaubens gelten Sätze über die „eigentümliche Tätigkeit und die ausschließliche Würde des Erlösers“ (§ 92 L [II, 31 = KGA I.13,2, 38]), durch die dem Christus-Glauben das Christus-Geschehen erschlossen wird; demgegenüber sind die Sätze der kirchlichen Lehre bzw. der theologischen Reflexion daraufhin zu prüfen, ob sie die Relation zwischen dem Christus-Geschehen und dem Christus-Glauben angemessen artikulieren oder aber nicht. Eine Kritik, wie sie zum Beispiel Reimarus unter der Prämisse der zureichenden Erkenntnis Gottes aus dem Buche der Natur vorträgt, wird dem Niveau des Christus-Glaubens nicht gerecht; und zwar deshalb nicht, weil sie keine Selbstgewissheit hinsichtlich des wahren bzw. des wirklichen Wesens Gottes eröffnet.144 Und schließlich: Um die basale Relation zwischen dem Christus-Geschehen und dem Christus-Glauben in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) angemessen zu artikulieren, gibt Schleiermacher dem harten Kern des Bekenntnisses zum Christus Jesus als „wahrer Gott“ und „wahrer Mensch“ eine radikale Wendung. Er tut es im Lichte der psychologischen Frage: Kann es überhaupt endliches und d. h. geschaffenes Selbst-Sein geben, das als solches ein „Im-anderen-Selbst-Sein“ ist? Kann es überhaupt Lebenseinheit geben, und zwar Lebenseinheit zwischen dem unendlichen Selbst-Sein Gottes und dem endlichen und d. h. dem geschaffenen Selbst-Sein? Diese Frage geht vom Phänomen des menschlichen, des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins aus. Ich hatte dieses Phänomen als das Gefüge bzw. als die Struktur des wirklichen und d. h. des zeitlichen Selbstbewusstseins erfasst, mit der wir im transzendentalen Grunde unserer selbst unmittelbar vertraut sind (s. 2.3.4.1). Wenn das christologische Bekenntnis vom Christus Jesus als dem „wahren Menschen“ spricht, dann meint es offenkundig die „Gleichheit“ bzw. die „Selbigkeit“ (§ 94 L [II, 43 = KGA I.13,2, 52]), die zwischen jedem menschlichen Person-Sein und dem Person-Sein des Erlösers besteht. Wenn das christologische Bekenntnis jedoch vom Christus Jesus als dem „wahren Gott“ spricht, so ist dies zu verstehen als die „stetige Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins“ (§ 94 L [II, 43 = KGA I.13,2, 52]), die das Person-Sein des Erlösers von uns Menschen allen unterscheidet. Und zwar deshalb, weil die „stetige Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins“ gar nicht anders denkbar ist denn als „ein eigentliches Sein Gottes in ihm“ (ebd.). Sie ist „ein eigentliches Sein Gottes in ihm“ bzw. „das Sein Gottes in Christo“ (§ 116,3 [II, 220 =

144 Die Kritik, die Reimarus an der Möglichkeit eines übernatürlichen Offenbarungsgeschehens übt, erschließt deshalb keine Selbstgewissheit hinsichtlich des wahren bzw. des wirklichen Wesens Gottes, weil sie weder Gottes Person-Sein verstehen kann noch dem Faktum des menschlichen „In-der-Sünde-Seins“ und dem Syndrom von erlittenem Leid und verschuldetem Leid gerecht wird.

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KGA I.13,2, 244]), weil sie das Bewusstsein bzw. die Gewissheit des göttlichen Waltens ist, das wir angemessen als das Walten der Liebe und der Weisheit Gottes anzusprechen haben (§ 165,1 [II, 444f. = KGA I.13,2, 498f.]). Ausdrücklich hebt hier Schleiermacher den christologischen Grundgedanken der „Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur“ (ebd.) hervor. Schleiermacher führt mithin sowohl die Aussage-Intention des christologischen Bekenntnisses von Chalkedon als auch das historisch-kritische Interesse am historischen Jesus zurück auf den Ursprung des Christus-Glaubens, der nirgends sonst zu finden ist als in der Gemeinschaft, in der den Jüngern Jesu Eines-Sein mit Gott – und d. h.: mit Gottes „Selbstmitteilung“ (§ 168 L [II, 451 = KGA I.13,2, 506]) – offenbar wird. Insofern ist Jesu individuelles Person-Sein, so wie es uns im Offenbarungszeugnis seiner Jünger überliefert wird, nur möglich und nur wirklich kraft der Wahl der Gnade, in der das Wesen Gottes ursprünglich für uns ist. In meiner folgenden Darstellung gehe ich mit Schleiermacher davon aus, dass das christologische Denken und Bekennen in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen in jenem Geschehen entspringt, in dem den Offenbarungszeugen Jesu Eines-Sein mit Gott selbst offenbar wird. Anders als Schleiermacher identifiziere ich dieses Geschehen im Einklang mit der formgeschichtlichen Analyse des Neuen Testaments mit den Ereignissen des Dritten Tages. Darüber hinaus erscheint mir allerdings die monarchische bzw. die unitarische Form, in der hier Jesu Eines-Sein mit Gott selbst zur Sprache kommt, als unbefriedigend. Zwar macht sie Ernst mit der Kritik, die Schleiermacher an der asymmetrischen Struktur der Lehre von der göttlichen Dreiheit übt; aber diese Kritik gibt – wie ich zeigte (s. 1.5.2) – ihrerseits den Weg frei, von Gottes dreieinem Wesen in der symmetrischen Weise zu sprechen, die das Geheimnis der Existenz des Christus Jesus als das Geheimnis ehrt, von welchem das Evangelium nach Johannes sagt: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“ (Joh 1,14). 3.5.2

„In ihm allein wohnt doch die ganze Fülle des Göttlichen leibhaftig, und in ihm habt ihr an dieser Fülle teil.“ (Kol 2,9-10).145 Der Lebensgrund der Christus-Gemeinschaft: die offenbare Wahrheit

Gemäß dem Zeugnis des ersten Briefs an Timotheus will Gott, unser Heiland, „dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1Tim 2,4). Gottes des Heilands rettende Hilfe besteht nach diesem Zeugnis in nichts anderem als in dem immer wieder neu gewährten Erkennen der Wahrheit. Von dieser Wahrheit behauptet das Evangelium nach Johannes, dass sie frei macht

145 Übersetzung Ulrich Wilckens.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

(Joh 8,32): sie ist befreiende Wahrheit. Sie ist befreiende Wahrheit, weil sie diejenige Wahrheit zur Sprache bringt und zu Herzen gehen lässt, die als des göttlichen Wesens eigene und darum objektive Wahrheit zu bezeichnen ist; und zwar für uns, die wir in dem gewissenhaften Eingedenken des Syndroms von erlittenem Leid und verschuldetem Leid in aller Geschichte und in der Angst des Todes existieren (s. 3.3.7). Ich hatte meine Darstellung des christlichen Glaubens an Gott in den Gedanken der dem göttlichen Wesen eigenen und darum objektiven Wahrheit zusammengefasst, wie sie in den Ereignissen ihrer endgültigen Erschließung zu verstehen, zu bejahen und zu lieben ist (s. 1.5.4). Dem Christus-Glauben wird und ist die befreiende Wahrheit, die als des göttlichen Wesens eigene und darum objektive Wahrheit zu bezeichnen ist, offenbar. Als offenbare Wahrheit hinsichtlich des unbedingten Heilswillens Gottes integriert sie die „Vielen“ (vgl. Mt 26,28) in die Christus-Gemeinschaft, die als solche in den psycho-sozialen bzw. in den kulturellen Prozessen existiert und koexistiert, die wir „Geschichte“ nennen. Wir dürfen daher mit Fug und Recht im Offenbar-Werden dieser befreienden Wahrheit den Lebensgrund erkennen, in welchem sich die „Vielen“ in ihrem Herzensgrunde gründen und gegründet wissen (vgl. EG 351,3). Im Folgenden ist darzustellen, in welcher Weise die befreiende Wahrheit hinsichtlich des unbedingten Heilswillens Gottes für Wesen von der Seinsart des leibhaften Person-Seins offenbar wird. Aufs kürzeste gesagt, wird sie uns endgültig offenbar in solchen Szenen bzw. in solchen Situationen, in denen Gottes Wahrheitsgeist das menschliche Verstehen und Bezeugen dieser Wahrheit als wahr und als schlechthin vertrauenswürdig erleben und bejahen und ergreifen lässt. Mit der prägnanten Unterscheidung Martin Luthers formuliert, wird die befreiende Wahrheit hinsichtlich des unbedingten Heilswillens Gottes offenbar, indem der Inbegriff der Medien des „äußeren Wortes“ durch Gottes Wahrheitsgeist im Lauf der Bildungs- und Entwicklungsgeschichte eines Menschen zum „inneren Wort“ wird, das da spricht: „Eia, vere sic est!“.146 Ich hatte schon betont, dass die ursprünglichen Szenen, in denen die befreiende Wahrheit hinsichtlich des göttlichen Heilswillens aufleuchtet, in den Ereignissen des Dritten Tages zu finden sind, die wir als die Ereignisse der Wahrheit identifizieren dürfen. Sie sind Ereignisse der Wahrheit, weil sie dazu führen, Jesu Lebenszeugnis für das unscheinbare Kommen des königlichen Herrschens Gottes zur Rechten – für

146 Vgl. Martin Luther, WA 3; 549, 33–35. – Nach wie vor markiert diese Unterscheidung die fundamentaltheologische Differenz, die zwischen dem Verständnis des Offenbarungsgeschehens im römischen Katholizismus und in der reformatorischen Bewegung bis heute steht. Verheißungsvolle Ansätze zu einer Überwindung dieser Differenz liegen jetzt vor in: Eilert Herms und Lubomir Žak (Hg.), Grund und Gegenstand des Glaubens nach römisch-katholischer und evangelischlutherischer Lehre. Theologische Studien, Tübingen: Mohr Siebeck/Lateran University Press, 2008. – Vgl. Konrad Stock, STh I, 472–487.

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das Reich der Wahrheit, der Gnade und des Friedens (vgl. Jes 54,10) in ihm selbst – als wahr zu erinnern. Sie führen freilich zur Erinnerung der befreienden Wahrheit des Lebenszeugnisses Jesu nicht etwa trotz des Todes am Kreuz auf Golgatha; sie führen vielmehr in die erschütternde Erkenntnis, dass Jesu Tod am Kreuz auf Golgatha das Lebenszeugnis für das unscheinbare Kommen des königlichen Herrschens Gottes zur Rechten in ihm selbst vollendet. So bilden sie die Quelle der mannigfachen Annäherungen an das Geheimnis, das schließlich Thema des Bekenntnisses des Konzils von Chalkedon wird: an das Geheimnis des Subjekts des Christus-Geschehens. Im Folgenden sei gezeigt, dass die Ereignisse des Dritten Tages als die Ereignisse zu denken sind, die das Geheimnis des Subjekts des Christus-Geschehens offenbaren (3.5.2.1). Als solche rufen sie – den Zweifel überwindend – in ihren Zeugen die begeisternde Erinnerung an Jesu eigenes Lebenszeugnis hervor (3.5.2.2); als solche bringen sie allerdings auch die Frage in Bewegung, ob dem Abgründigen des Todes am Kreuz auf Golgatha ein Sinn zukomme und wie man diesen Sinn im Horizont des Lebenszeugnisses Jesu denn finden könne (3.5.2.3). Und schließlich treiben sie zur Vielzahl jener „Hoheitstitel“, die das Subjekt des Christus-Geschehens mehr und mehr als die „Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur“ (Friedrich Schleiermacher, CG2 § 165,1 [II, 445 = KGA I.13,2, 499]) in der Gestalt des Christus Jesus bekennen (3.5.2.4). Wegen dieser Einung und nur ihretwegen weiß sich die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) jetzt und hier in dieser irdischen Weltzeit ins „Wollen des Reiches Gottes“ (ebd.) versetzt, dessen Lebensform und dessen Lebensgestalt ich in der pneumatologischen Betrachtung des 4. Kapitels deutlich machen werde. 3.5.2.1

„Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden.“ (Mt 28,18). Die Ereignisse des Dritten Tages: Ereignisse der Wahrheit147

Dem Christus-Glauben in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) ist es als wahr und als vertrauenswürdig gewiss, dass Gott der schöpferische Grund und Ursprung unserer selbst im All des Seienden den am Kreuz auf Golgatha hingerichteten Jesus durch den Tod hindurch

147 Vgl. zum Folgenden: Karl Barth, KD IV/1, § 59,3: Das Urteil des Vaters (311–394); Gerhard Ebeling, Dogmatik II, 279–368: Die Hineinnahme des Menschen in das Leben Gottes; Jürgen Moltmann, Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen (wie Anm. 128), 237–296: V. Die eschatologische Auferstehung Christi; Ingolf U. Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen: Mohr, 1994, 38–84: Kreuz und Auferweckung: Das Wort vom Kreuz; Joachim Ringleben, Wahrhaft auferstanden. Zur Begründung der Theologie des lebendigen Gottes, Tübingen: Mohr Siebeck, 1997, 55–105: Die Erscheinungen des Auferstandenen als Manifestation seines Lebens; Eilert Herms, STh (Bd. 1), 369–409; 409–463.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

in ewiges Leben in Gott entrückte und erhöhte. Wie etwa seit dem Jahre 190 n. Chr. sicher bezeugt, begeht die Christus-Gemeinschaft an jedem ersten Tag der Woche die Feier der Erinnerung der Auferstehung bzw. der Erhöhung des Gekreuzigten und der in ihr begründeten Hoffnung als das regelmäßige Ritual, vermöge dessen sie sich ihrer Identität vergewissert (s. 4.2.1). Diese ihre Gewissheit kommt ursprünglich zur Sprache in jenen wenigen Texten, die die Erscheinungen bezeugen, deren Empfänger sie als das Zeichen der Auferstehung bzw. der Erhöhung des Gekreuzigten verstehen.148 In der Form eines Selbstzeugnisses spricht der Apostel Paulus von der „Offenbarung Jesu Christi“, die ihn zur Verkündigung des Evangeliums unter den Völkern berufen habe (Gal 1,12.16; vgl. hierzu Apg 9,3 [in der Nähe von Damaskus]). Die bibelwissenschaftliche Analyse der Erzählungen von der Entdeckung des leeren Grabes (Mt 28,10; Mk 16,1-10; Lk 24,1-10; Joh 20,1-18) konnte – m. E. überzeugend – zeigen, dass diese narrativen bzw. legendären Texte die Gewissheit schon voraussetzen, die in der Sprache der Verkündigung zum Ausdruck kommt.149 Soviel ist klar: Ohne die Gewissheit jenes göttlichen Waltens, die die Ereignisse des Dritten Tages in ihren Empfängern erzeugten, wären die Mission und die Ausbreitung der Christus-Gemeinschaft in der Kultur des Imperium Romanum und bis hier und heute in der entstehenden Weltgesellschaft unbegreiflich.150 Für sie – für diese Gewissheit – wird der Erkenntnisgrund für des dreieinen Gottes unbedingten und unverbrüchlichen Heilssinn evident, ohne den die Christus-Gemeinschaft schwerlich die Leidenschaft für Gottes Ehre und für Gottes Menschenliebe so entwickelt hätte, wie sie sie durch alle ihre Irrungen und Wirrungen hindurch bis auf diesen Tag entwickelt hat. Die systematische Besinnung auf die Wahrheit der Gewissheit, wie sie sich jenen primären Empfängern der Ereignisse des Dritten Tages erschloss, nimmt darauf Rücksicht, dass ihre Deutung wesentlich geprägt ist von den eschatologischen Erwartungen und Hoffnungen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft nach der Rück-

148 Es handelt sich um 1Kor 15,5-8, Lk 24,34 und 1Tim 3,16. – Der „Dritte Tag“ ist vermutlich kein historisches, sondern ein religiöses bzw. ein theologisches Datum, das erschlossen wurde aus dem relativ kurzen Zeitpunkt der Erscheinungen nach Jesu Tod am Kreuz auf Golgatha. Manches spricht dafür, dass es tatsächlich der „Verräter“ Simon/Kephas = Petrus war, dem eine solche Erscheinung als erstem zuteil wurde (vgl. 1Kor 15,5). 149 Vgl. hierzu zuletzt Michael Wolter, Auferstehung der Toten und Auferstehung Jesu (wie Anm. 129), 41ff. –Demgegenüber hatte Wolfhart Pannenberg, Grundzüge der Christologie (wie Anm. 128), 97ff., nachdrücklich die Historizität des leeren Grabes als Zeugnis des „historischen Ereignisses“ (95) der Auferstehung bzw. der Erhöhung des Gekreuzigten vertreten. 150 Daher sind die Mission und die Missionsgeschichte der Christus-Gemeinschaft grundsätzlich ein Thema der systematisch-theologischen Besinnung auf das Wesen des Christus-Glaubens, die auch für eine selbstkritische Missionswissenschaft bedeutsam ist.

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kehr aus dem babylonischen Exil.151 Gleichwohl befindet sie sich – jedenfalls in der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne – in einer sozio-kulturellen Lage, die diese Wahrheit für die Weltansicht zahlreicher Zeitgenossinnen und Zeitgenossen als hoch problematisch, wenn nicht als absurd empfindet. Es ist aus diesem Grunde unausweichlich, die Wahrheit dieser Gewissheit als eine vernünftige – und d. h.: als eine der Zustimmung und der Bejahung werte – Wahrheit zu vertreten. Ohne dass die Wahrheit dieser Gewissheit zu beweisen wäre, gilt es doch in gut apologetischem Interesse darzulegen, warum sie nicht schlechthin unmöglich ist und worauf ihre Möglichkeit beruht. Das sei durch eine Betrachtung des Phänomens des Todes gezeigt.152 Seit Menschengedenken ringen wir darum, die unausweichliche Tatsache des Todes zu verstehen, derer wir uns von einem ziemlich frühen Zeitpunkt unseres Lebens an verschwiegen oder angstvoll fragend bewusst sind. Ob wir sie und wie wir sie verstehen, ergibt sich keineswegs aus einer rein neutralen Perspektive. Die Rituale des Umgangs mit dem Tod, die Sitten und Gebräuche der Trauer, der Totenklage und der Bestattung, die religiösen Mythen und die philosophischen Gedankengänge gehören vielmehr jeweils in den Kontext einer Weltansicht – einer Sicht des Sinnes von Sein –, in der sich eine gemeinsame Kultur auf andere gemeinsame Kulturen bezieht und sich zugleich von anderen gemeinsamen Kulturen unterscheidet. Es ist der Kontext einer Weltansicht – einer Sicht des Sinnes von Sein –, der eine Antwort auf die Frage provoziert, ob mein Tod als diese oder jene Weise eines Übergangs oder aber als das definitive Ende je meiner Lebensgeschichte zu verstehen ist. Die Meinung, es entspreche wissenschaftlicher Rationalität, die einfache Tatsache der Vergänglichkeit in all ihrer Bitterkeit anzuerkennen, geht

151 Nach Ernst-Joachim Waschke, Art. Auferstehung I. Auferstehung der Toten 2. Altes Testament: RGG4 1, 915–916, findet sich diese Hoffnung explizit zum ersten Mal in der sog. Jesaja-Apokalypse aus frühhellenistischer Zeit (Jes 25,6-8; 26,19) sowie in Dan 12,1-4, und zwar als Antwort auf die bedrängende Frage nach JHWHs Gerechtigkeit, die in den Verfolgungen unter Antiochus IV. Epiphanes akut wird. 152 Vgl. zum Folgenden bes.: Eberhard Jüngel, Tod, Stuttgart/Berlin: Kreuz-Verlag, 1971 (ThTh; 8); Georg Scherer, Das Problem des Todes in der Philosophie. Grundzüge, Darmstadt: WBG, 2 1988; Ders., Art. Tod VIII. Philosophisch: TRE 33, 629–635; Emmanuel Lévinas, Gott, der Tod und die Zeit. Hg. von Peter Engelmann, Wien: Passagen Verlag, 2013; Wolfhart Pannenberg, STh III, 599–607. – Der bibelwissenschaftlichen Exegese der eschatologischen „Vorstellung“, die das semantische Feld von „Auferstehung“, „Entrückung“ und „Erhöhung“ andeutet, fehlt es weithin an einer Phänomenologie des Todes aus der jüdisch-christlichen Sicht des Sinnes von Sein, weshalb sie sich begnügt mit religions- und traditionsgeschichtlichen Herleitungen. Mit der folgenden Betrachtung möchte ich diesem Defizit abhelfen. S. 4.5.3.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

an der Vielfalt der geschichtlich überlieferten und gegenwärtigen Deutungen des Todes ignorant vorbei.153 Der Ausgangspunkt meiner Betrachtung besteht in der schlichten Annahme, dass das Wort „Tod“ auf keinen Fall ein wie auch immer geartetes Wesen oder gar ein wie auch immer geartetes Subjekt bezeichnet. Enden der Prozess des Sterbens oder die Untat des Tötens und des Mordens im Tod, so endet in ihm die Geschichte eines Lebewesens von der Seinsart des selbstbewusst-freien leibhaften Person-Seins. Sie war als solche nicht nur angewiesen auf die Naturbedingungen dieser Erde in diesem Sonnensystem im interstellaren Raum dieser Galaxie; sie war vielmehr ermöglicht durch die Geschlechtsgemeinschaft einer Mutter und eines Vaters, in der ein Menschenwesen wirklich wurde, um als leib-seelisches bzw. als intelligibles Subjekt an der Geschichte seiner Gemeinschaft teilzunehmen. Für dieses In-Gemeinschaft-Sein ist ihm das jeweils individuelle „Sich-gegenwärtig-Sein“ gewährt (s. 2.4.2.1), auf welchem seine unantastbare Würde ruht. Mit dem schönen deutschen Wort gesagt: es ist irdisches „Sich-gegenwärtig-Sein“ (vgl. 1Kor 15,48f.), das in Beziehung steht zu anderem irdischen „Sich-gegenwärtig-Sein“. Das jeweils individuelle „Sich-gegenwärtig-Sein“ mit Anderen, auf welchen unantastbare Würde ruht, ist jedenfalls ein Seiendes im All des Seienden. Es ist als solches möglich und de facto verwirklicht von einem absoluten Grund und Ursprung her, der ihm bis hin zum Eintritt seines Todes Dasein von begrenzter irdischer Dauer gewährt. Es gibt zwar seit Demokrit und Epikur und zumal in der Epoche der euroamerikanischen Neuzeit und Moderne raffinierte Meinungen, die jenen absoluten Grund und Ursprung meines jeweils individuellen „Mir-gegenwärtig-Seins“ mit Anderen im All des Seienden verendlichen und verweltlichen; aber sie scheitern an dem ontologischen Differenzverhältnis, in dem das All des Seienden ebenso wie mein jeweils individuelles „Mir-gegenwärtig-Sein“ mit Anderen vom schlechthin Einen und Unendlichen, vom „Sein-Selbst“ dieses Grundes und Ursprungs her und zu ihm hin existiert.154 Der christliche Glaube an den dreieinen Gott jedenfalls erlebt, versteht und anerkennt im Sinnraum der jüdischen JHWH-Gemeinschaft

153 Vgl. hierzu Georg Schwikart, Tod und Trauer in den Weltreligionen, Kevelaer: Lahn-Verlag, 3 2015; Constantin von Baerloewen (Hg.), Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen, München 1996. – Lapidar die Feststellung von Rainer Neu, Art. Totenkult/Totenverehrung I. Religionswissenschaftlich: RGG4 8, 492–494; 492: „Der Tod wird in nahezu allen Gesellschaften als ein Übergang von einer Daseinsform in eine andere begriffen.“ 154 Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass Martin Heideggers Intuition, in seinem frühen Hauptwerk „Sein und Zeit“ die Zeitlichkeit des Seins aus dem Grundgedanken der irdischen Zeitlichkeit des Daseins zu entwickeln, undurchführbar blieb. Auch Eugen Fink, Metaphysik und Tod, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz: W. Kohlhammer Verlag, 1969, verfehlt in dieser seiner eindringlichen Meditation den Gedanken der irdischen Zeitlichkeit des Seins, wenn er zu der Behauptung hinführt: „Der Mensch ist aber auch als – der Sterbliche, als der Todgeweihte, der um seine Bestimmtheit zum Nichts (sic! K.S.) weiß.“ (205). Im Übrigen gebricht es beiden Philosophen

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das jeweils eigene Leben als Existieren von Gott her und zu Gott hin (s. 2.4.2.3). Er spricht dies Existieren von Gott her und zu Gott hin an als einen kategorialen bzw. als einen universalen Sachverhalt: als die notwendige Bedingung unseres Existierens, derer wir uns im transzendentalen Grund unseres „Uns-gegenwärtig-Seins“ sehr wohl bewusst sein können und de facto auch bewusst sind. Es ist deshalb die alles entscheidende Frage, ob es tatsächlich möglich ist, dass es „nach“ dem Tode des gelebten Lebens bzw. „jenseits“ des Todes des gelebten Lebens eine unvorstellbar neue Daseinsweise gebe, von der mit dem Apostel Paulus aus gutem Grund zu sagen ist: „Denn dies Verwesliche muß anziehen die Unverweslichkeit, und dies Sterbliche muß anziehen die Unsterblichkeit“ (1Kor 15,53).

Es ist die sog. Apokalyptik innerhalb der frühjüdischen JHWH-Gemeinschaft, die dieser Möglichkeit im Sinne einer Verheißung bzw. einer Hoffnung sprachlichen Ausdruck gab (vgl. bes. Ez 37,1-4; Jes 25,6-8; 26,13-19; Dan 12,1-4).155 Zwar beschränkt sich diese Verheißung bzw. diese Hoffnung im Wesentlichen auf eine unvorstellbar neue Daseinsweise bloß der JHWH-Gemeinschaft; aber sie erwartet das Wirklich-Werden dieser Möglichkeit einzig und allein von Gottes schöpferischer Allmacht, die durch das Nicht-mehr-Sein des irdischen Lebens hindurch zu neuem, nicht mehr vom Tod bedrohtem himmlischem Leben (vgl. 1Kor 15, 48f.) in neuem „Sich-gegenwärtig-Sein“ mit Anderen und mit Gott selbst zu führen vermag. Sie erwartet eine hier und jetzt unvorstellbar neue Identität der individuellen Person, die im Gedenken des göttlichen Wesens geborgen ist (s. 4.5.3). Geht der vollendete Prozess des Sterbens nicht ins pure Nicht-mehr-Sein über, sondern vielmehr in das Gedenken des göttlichen Wesens als Zeit-Raum des „Im-Tode-Seins“, so ist es für das göttliche Wesen möglich und deshalb auch verwirklichbar, die geschaffene, die leibhafte, die selbstbewusst-freie Person aus dem „Im Tode-Sein“ zum Status ihres Vollendet-Werdens zu erheben. Die Hoffnung auf eschatisches Vollendet-Werden gründet letztlich in dem Verstehen der allumfassenden ontologischen Relation des göttlichen Seins und des All des Seienden. Im Lichte dieser Erwartung sagt das Urbekenntnis des Christus-Glaubens: „Gott hat Jesus von den Toten auferweckt“ (Röm 10,9; vgl. Röm 6,4). Es artikuliert die

an der Empörung und an dem Entsetzen über das massenhafte Sterben-Lassen und Morden in der Epoche der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne. 155 Zum Verständnis der Apokalyptik ist nach wie vor bedeutsam Hartmut Gese, Anfang und Ende der Apokalyptik, dargestellt am Sacharjabuch, jetzt in: Ders., Vom Sinai zum Zion. Alttestamentliche Beiträge zur biblischen Theologie, München: Chr. Kaiser, 1974 (BevTh; 64), 202–230: Grundinhalt der Apokalyptik ist nach Gese „die Errichtung der Königsherrschaft Gottes auf dem Zion als Eintritt der transzendenten Basileia in unsere Welt“ (205).

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Art und Weise der Evidenz, die die Erscheinungen des Dritten Tages in ihren Empfängern hervorgerufen haben und jetzt und immerdar hervorrufen, wo sie in ihrem Sachgehalt gefeiert und verkündigt werden. Ich nenne sie Ereignisse der Wahrheit. Wie kann ich diese Benennung plausibel machen? Das deutsche Begriffswort „Ereignis“ geht sprachgeschichtlich auf den Ausdruck „Er-Äugnis“ zurück. Auch wenn der alltägliche Gebrauch der deutschen Sprache zwischen dem einzelnen Geschehen in der Welt des Universums bzw. der geschichtlichen Prozesse und dem Ereignis selten unterscheidet, lässt uns die Etymologie des Ausdrucks doch etwas entscheidend Wichtiges erkennen. Ein einzelnes Geschehen in der Welt des Universums bzw. ein einzelnes Geschehen im Prozess der menschlichen Geschichte – wie z. B. die Befreiung von Auschwitz und von Birkenau am 27. Januar 1945 – ist und bleibt mehr oder weniger klar und deutlich bestimmbar und erklärbar; demgegenüber ist der „Blick“, die „Sicht“, die Perspektive, in der wir dieses einzelne Geschehen interpretieren und es uns verständlich machen, bedingt und vorgeprägt von einer Anschauung des Realen überhaupt. Sie ist als solche intelligibler und ethischer Natur. Im Lichte einer solchen Anschauung des Realen erfassen wir das einzelne Geschehen und das, was wir an ihm als Gutes oder aber als Schlechtes oder gar als Böses, als Lebensdienliches oder aber als Lebensfeindliches empfinden. Das Evidente eines solchen „Blicks“, einer solchen „Sicht“, einer solchen Perspektive sei im Folgenden mit dem Begriff „Ereignis“ festgehalten.156 Ich verstehe unter einem Ereignis das Gewiss-Werden einer Perspektive für das in Wahrheit Gute. Indem ich dies Gewiss-Werden ein Ereignis nenne, beachte ich dessen passive Konstitution. In einer bestimmten Szene bzw. in einer bestimmten Situation erschließt sich einem Empfänger ein bestimmter Inhalt, der ein bestimmtes Gesinnt-Sein sowohl hervorruft als auch fordert. Im Unterschied zu anderweitigen Erschließungs-Situationen sind die Erscheinungen des Dritten Tages solche Ereignisse, in denen Gottes unbedingter und unverbrüchlicher Heilswille als das für Gott in Wahrheit Gute und deshalb auch für uns als Höchstes Gut einleuchtet (vgl. STh I, 297–304). Wir können das, was diese Ereignisse zu sehen und zu entdecken geben, nach drei Aspekten gliedern: Zum einen lassen diese Ereignisse verstehen, dass Gottes unbedingter und unverbrüchlicher Heilswille das Im-Tode-Sein des irdischen, des endlichen, des auf Golgatha gekreuzigten Jesus im Raum-Zeit-Kontinuum dieses Universums in schlechthin schöpferischer Weise überwindet. Gott und nur Gott überwindet dies Im-Tode-Sein, indem er Jesu irdisches und d. h. endliches Leben aus dem RaumZeit-Kontinuum dieses Universums in die Teilhabe an Gottes Ewigkeit erhebt und

156 Vgl. hierzu Konrad Stock, Theorie, 69–81: Der Begriff des Offenbarungsgeschehens. – Ich greife damit zurück auf den richtigen und wichtigen Grundgedanken in Martin Luthers Lehre von der Unfreiheit des Wahlvermögens: Martin Luther, De servo arbitrio (vgl. o. S. 288–297).

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ihm auf diese Weise über die begrenzte irdische Lebenszeit hinaus unbegrenzte und unendliche Dauer gewährt. Den Empfängern der Erscheinungen des Dritten Tages wird insofern blitzartig die eschatische Qualität erschlossen, die dem Vollendet-Werden und VollendetSein des göttlichen Heilswillens – des göttlichen In-Gemeinschaft-sein-Wollens – eigentümlich ist. Aus diesem Grunde hat das Urbekenntnis des Christus-Glaubens in der Christus-Gemeinschaft der Osterzeugen bis hin zum Apostel Paulus – „Gott hat Jesus von den Toten auferweckt“ (Röm 10,9; vgl. Röm 6,4) – deskriptiven Charakter.157 Und wenn es wahr ist – und es ist wahr! –, dass dieses Urbekenntnis das ursprüngliche Ereignis des Verstehens dessen ausspricht, was Gott geschehen lässt, so können wir dies ursprüngliche Ereignis des Verstehens nicht anders denn als das Ereignis kraft des Heiligenden Geistes der Wahrheit ehren! Der Autor der Apostelgeschichte hat dies Ereignis des Verstehens kraft des Heiligenden Geistes der Wahrheit ganz angemessen in der Erzählung vom Pfingsttag zu Jerusalem und von der Pfingstpredigt des Petrus und von ihrer Wirkung nachempfunden (Apg 2,1-36). Zum andern lassen diese Ereignisse verstehen, dass Gottes unbedingter und unverbrüchlicher Heilswille – das göttliche In-Gemeinschaft-sein-Wollen – im Lebenszeugnis Jesu von Nazareth bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha der Wahrheit gemäß zur Sprache kam. Sie rufen deshalb die Erinnerung an Jesu gleichnishafte Lehre und an Jesu zeichenhafte Darstellung des wahren Wesens der Gottesherrschaft hervor; sie zünden aber auch die mannigfachen Versuche, im scheinbar sinnwidrigen Geschick der schmachvollen Rechtsstrafe des Todes am Kreuz auf

157 Genauer gesagt: Die metaphorische Rede von „Auferweckung“ bzw. von „Auferstehung“ hat ihren nicht-metaphorischen Kern darin, dass sie jenes analogielose göttliche Walten bezeichnet, das die „reine Passivität“ des Todes als des Endes aller „aktiven Möglichkeiten“ des Menschen überwindet (vgl. Wilfried Härle, Dogmatik5 , 634). Der deskriptive Charakter des Urbekenntnisses wird verkannt, wenn man ihn als Mythos bzw. als Ausdruck eines überholten Weltbilds bewertet, deren Semantik man existential interpretieren müsse (vgl. Rudolf Bultmann, Neues Testament und Mythologie, in: Ders., Offenbarung und Heilsgeschehen, München: Chr. Kaiser, 1941 [BevTh; 7], 27–69). Demgegenüber geht von einer umfangreichen Begründung dieses deskriptiven Charakters aus Wolfhart Pannenberg, Grundzüge der Christologie (wie Anm. 128), 47–112: § 3 Die Auferweckung Jesu als Grund seiner Einheit mit Gott; allerdings ohne die Erscheinungen des Dritten Tages hinreichend als Erschließungs-Situationen verständlich zu machen, in denen sich eine Sicht für das Subjekt der Auferweckung ereignet. Vgl. dagegen Wolfhart Pannenberg, STh II, 385–405: Die Rechtfertigung Jesu durch den Vater in seiner Auferweckung von den Toten. Hier heißt es dezidiert: „Die Auferweckung Jesu von den Toten, die seinen Jüngern, aber auch ihrem Verfolger Saulus, durch die Erscheinungen des Auferstandenen zur Gewißheit wurde, bildet den Ursprung der apostolischen Christusverkündigung und ist damit auch zum Ausgangspunkt der Geschichte der urchristlichen Christologie geworden.“ (385).

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Golgatha einen geradezu notwendigen Sinn zu entdecken.158 Dass es die Ereignisse des Dritten Tages sind, die Jesu irdischen Lebensweg als Lebensweg der Proexistenz für Gottes königliches Herrschen – die Herrschaft der Gnade und des Friedens – erkennen und verehren lassen, ist sowohl für die Interpretation der synoptischen Evangelien (s. 3.5.2.2) als auch für die rechte Entfaltung der sog. theologia crucis (s. 3.5.2.3) von ausschlaggebender Bedeutung. Zum Dritten schließlich bringen die Ereignisse der Erscheinungen des Dritten Tages die apostolische Verkündigung in Gang. Diese Verkündigung sucht nach der angemessenen Bezeichnung für das Eines-Sein Gottes und des Menschen im Christus Jesus und nimmt auf diese Weise das Selbstverständnis ernst, kraft dessen der Prophet aus Nazareth die Vollmacht und die Hoheit seines Lebenszeugnisses begründet. In ihrer ganzen Vielfalt prägt sie eine „explizite Christologie“ aus, die der „impliziten Christologie“ entsprechen möchte, wie sie dem Selbstverständnis Jesu offenbar zu eigen ist. Es war vermutlich der Prolog des Evangeliums nach Johannes (Joh 1,1-14), der die dogmatische Besinnung bis auf diesen Tag dazu verpflichtet zu entfalten, was genau unter dem Eines-Sein Gottes und des Menschen im Christus Jesus zu verstehen sei. Alles in allem sind es die Ereignisse der Erscheinungen des Dritten Tages, welche das Lebenszeugnis Jesu von Nazareth für das gegenwärtige Kommen der königlichen Herrschaft Gottes in ihm selbst – der Herrschaft der Wahrheit, der Gnade und des Friedens (Jes 54,10) – verifizieren. Sie verifizieren es, indem sie ihre Empfänger das Eines-Sein Jesu mit dem göttlichen Wesen selbst glauben und verstehen und deshalb nach dem gottgewollten Sinn des Todes des Gerechten am Kreuz auf Golgatha fragen lassen. Sie und letztlich nur sie bilden die Ursprungssituation der ChristusGemeinschaft, deren Glieder stante pede sich berufen und befähigt wissen zum apostolischen Zeugnis dieses Evangeliums (vgl. Lk 24,45ff.; Apg 1,8; 1Kor 15,1-11).159

158 In der ergreifenden Erzählung des Evangeliums nach Lukas von den beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus ist es der Auferstandene selbst, der die tiefe Trauer um den Gekreuzigten wirksam tröstet mit dem Wort: „Musste nicht Christus dies erleiden, um in seine Herrlichkeit einzugehen?“ (Lk 24,13-35; 26). Er tröstet, indem er die Schrift öffnet (Lk 24,32). 159 Ich komme damit auf die These zurück, die Rudolf Bultmann in der Gliederung seiner „Theologie des Neuen Testaments“ entwickelt hat; vgl. Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 4 1961, 1f.: „… die Theologie des NT besteht in der Entfaltung der Gedanken, in denen der christliche Glaube sich seines Gegenstandes, seines Grundes und seiner Konsequenzen versichert. Christlichen Glauben aber gibt es erst, seit es ein christliches Kerygma gibt, d. h. ein Kerygma, das Jesus Christus als Gottes eschatologische Heilstat verkündigt, und zwar Jesus Christus als den Gekreuzigten und Auferstandenen. Das geschieht erst im Kerygma der Urgemeinde, nicht schon in der Verkündigung des geschichtlichen Jesus …“.

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3.5.2.2

„Selig die Augen, die sehen, was ihr seht.“ (Lk 10,23). Das Lebenszeugnis Jesu von Nazareth160

Gemäß der übereinstimmenden Darstellung der synoptischen Evangelien ist es das einheitliche Thema bzw. die einheitliche Intention des Lebenszeugnisses Jesu von Nazareth, für das erhoffte und erwartete Kommen der Königs-Herrschaft Gottes – der Herrschaft der Wahrheit, der Gnade und des Friedens (Jes 54,10) – da zu sein. Bekanntlich ist uns dieses Thema bzw. diese Intention nicht direkt oder gar authentisch überliefert; was wir von Jesu irdischer, innergeschichtlicher Lebenspraxis bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha erfahren, ist uns vermittelt durch das Medium der bewusst und reflektiert gestalteten Erinnerung in den synoptischen Evangelien nach Matthäus, nach Markus und nach Lukas, die im Evangelium nach Johannes eine höchst eigenwillige Ergänzung findet. Zwar haben diese Quellen nicht das publizistische Interesse, im Sinne der antiken oder gar im Sinne der modernen Historie über Jesu irdische, innergeschichtliche Lebenspraxis zu berichten; aber es ist ihr religiöses Interesse, die Erscheinungen des Dritten Tages eben als die Ereignisse zu deuten, die Jesu Selbstverständnis und Jesu Wahrheitsanspruch über jeden Zweifel hinweg im Herzen und Gewissen ihrer Empfänger verifizieren. Die Freiheit, die der Christus-Glaube dem versöhnenden Walten Gottes verdankt (vgl. Gal 5,1), ist daher stets dem äußeren Wort der „produktiven Erinnerung“ an die mehrfach erzählte Jesus-Geschichte geschuldet, in der allein uns Jesu Frohbotschaft begegnet.161 Diese mehrfach erzählte Jesus-

160 Vgl. zum Folgenden bes.: Rudolf Bultmann, Jesus, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) (1926), 1964 (mit ausdrücklicher Hervorhebung der Intention, zur „wirklichen Begegnung mit dem Gegenstand“ anzuleiten [17]); Ders., Theologie des Neuen Testaments (wie Anm. 159), 1–34: I. Die Verkündigung Jesu; Ernst Fuchs, Zur Frage nach dem historischen Jesus. Ges. Aufsätze II, Tübingen: Mohr Siebeck, 1960; Eberhard Jüngel, Paulus und Jesus. Eine Untersuchung zur Präzisierung der Frage nach dem Ursprung der Christologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 7 2004, 71–262: C. Die Grundzüge der Verkündigung Jesu; Gerhard Ebeling, Dogmatik II, Kapitel 6: Der Mensch Jesus (363–476); Jürgen Moltmann, Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen (wie Anm. 128), 92–171: III. Die messianische Sendung Christi; Wolfhart Pannenberg, STh II, 366–385; Wilfried Härle und Reiner Preul (Hg.), Reich Gottes (mit Beiträgen von Günter Meckenstock, Wilfried Härle, Walter Sparn, Hartmut Rosenau, Eilert Herms, Michael Welker und Michael Wolter, Marburg: Elwert, 1999 (MJTh; XI); Konrad Stock, STh I, 528–534.545–553; Udo Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007 (UTB; 2917), 47–144: Jesus von Nazareth: Der nahe Gott; Gerd Theißen und Annette Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen/Oakville CT: Vandenhoeck & Ruprecht, 4 2011; Otto Hermann Pesch, KD, Teilband 1/1, 393–545; Eilert Herms, STh (Bd. 1), 376–392; Jens Schröter und Christine Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch, Tübingen: Mohr Siebeck, 2017; Michael Wolter, Jesus von Nazaret, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2019. 161 Vgl. hierzu Jens Schröter, Anfänge der Jesusüberlieferung. Überlieferungsgeschichtliche Beobachtungen zu einem Bereich urchristlicher Theologiegeschichte, jetzt in: Ders., Von Jesus zum Neuen

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Geschichte steht ihrerseits in einem inneren Verweisungszusammenhang mit jener großen Meta-Erzählung vom Buche Genesis bis hin zur Offenbarung des Johannes, als welche uns der Kanon der ganzen Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments überhaupt gegeben ist. Im Kontext dieses Kanons und seiner großen Meta-Erzählung haben wir das „äußere Wort“ des Offenbarungszeugnisses vor uns, das jetzt und immerdar die lebenspraktische Gewissheit des Christus-Glaubens inspiriert und orientiert.162 Ich konzentriere mich im Folgenden auf die Beantwortung der Frage, wie wir die Referenz des Ausdrucks „Im-Kommen-Sein der Königs-Herrschaft Gottes“ in der mehrfach erzählten Jesus-Geschichte erklären können; und zwar im Lichte der Prämisse, dass Jesu Lebenszeugnis für das „Im-Kommen-Sein der Königs-Herrschaft Gottes“ im Ganzen Jesu Selbstverständnis mitteilt, das wahre Wesen Gottes zu vergegenwärtigen. Natürlich lässt sich diese Frage nicht durch die bloße Wiederholung des biblischen Wortlauts in seinen Quellensprachen beantworten; vielmehr setzt eine zuverlässige Antwort hermeneutisch das Verständnis der Geschichtlichkeit des menschlichen In-der-Welt-Seins im präzisen Sinne des Begriffs voraus (vgl. STh I, 258-408). Erstens: Jesu Selbstverständnis, das wahre Wesen Gottes zu vergegenwärtigen, bewegt sich in dem Sinnraum und im Verstehenshorizont der jüdischen JHWHGemeinschaft und ihrer eschatologischen Erwartungen unter der Herrschaft des Imperium Romanum. Allerdings markiert es deren tiefgreifende semantische und pragmatische Innovation, die sich nicht zuletzt an Jesu Abschied von Johannes dem Täufer zeigt (vgl. Lk 7,24-28). Wir können deshalb Jesu Selbstverständnis – den Kern der „impliziten Christologie“ – dann und nur dann plausibel machen, wenn wir uns diese Innovation in der gebotenen Kürze vor Augen bringen.163

Testament. Studien zur urchristlichen Theologiegeschichte und zur Entstehung des neutestamentlichen Kanons, Tübingen: Mohr Siebeck, 2007 (WUNT; 204), 81–104. 162 Vgl. Konrad Stock, STh I, 557–566. – Im Rahmen seiner Konzeption einer praktischen Fundamentaltheologie hat Johann Baptist Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag, 2 1978, die Kategorien der Erinnerung (161–180) und der Erzählung (181–204) als „Medium des Praktischwerdens von Vernunft als Freiheit“ (172ff.) bzw. als „Medium von Heil und Geschichte“ (187ff.) skizziert. Leider ist diese Skizze gerade in fundamentaltheologischer Hinsicht nicht weiter entwickelt worden, so dass ihr zentrales Thema „Gefährliche Erinnerung der Freiheit Jesu Christi. Zur Präsenz der Kirche in der Gesellschaft“ (77–86) mangels einer Erkenntnis des Sozialen völlig unscharf bleibt. 163 Wenn ich mich im Folgenden darauf konzentriere, anhand der produktiven Erinnerung der mehrfach erzählten Jesus-Geschichte Jesu Selbstverständnis als das innerste Motiv bzw. als die Triebkraft seines Lebenszeugnisses zu interpretieren, so bin ich mir der Grenzen meiner Darstellung bewusst. Sie sind vertretbar angesichts der Aufgabe, im vorliegenden Teil II eine zusammenhängende

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Es liegt in der Natur der Sache, dass wir hier vorzugreifen haben auf die Besinnung auf Gottes vollendendes Walten: d. h. auf die Erwartung zukünftiger Ewigkeit jenseits des Todes und durch den Tod hindurch. Denn die dem Christus-Glauben eigene Erwartung zukünftiger Ewigkeit ist das Kriterium, mit dessen Hilfe und in dessen Licht die Wahrheit der eschatologischen Erwartungen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft zu prüfen und zu messen ist (s. 4.5.2). Ist es das Selbstverständnis Jesu, das wahre Wesen Gottes in seinem Lebenszeugnis für das Im-Kommen-Sein der Königs-Herrschaft Gottes zu vergegenwärtigen, so schöpft es aus den Quellen des Tanakh. Sie zeigen uns die Geschichte einer Gemeinschaft und ihres religiösen Zeichensystems, das jedenfalls in und nach der traumatischen Periode des babylonischen Exils ausgerichtet ist auf die zukünftige Vollendungsgestalt des Volkes JHWHs: auf jene Vollendungsgestalt, die dem letzten, dem unüberbietbaren, dem endgültigen, dem exklusiven Eingreifen JHWHs in allernächster Zeit zu danken sein wird.164 Sehe ich recht, so sind es ganz verschiedene Modelle und Motive der Religionsgeschichte Israels, die solches letzte, unüberbietbare, endgültige und exklusive Eingreifen JHWHs symbolisieren: die Erwartung eines „Tages JHWHs“ (Jes 13; 34; Jer 46,2-12; Ez 30,1-8); der Ansturm der Völker gegen den Zion (Ps 46; 48; 76; 87); die Völkerwallfahrt zum Zion (Jes 2,2-4; Mi 4,1-4); der neue Exodus der JHWH-Gemeinschaft aus dem Exil nach Jerusalem (Jes 40,3; 43,5-7; 49,9-12 u. ö.); der neue Bund (Jer 31,33f.; Ez 36,26) und schließlich die kommende Weltzeit der „Königs-Herrschaft“ Gottes, die die Imperien dieser Weltzeit beendet (Dan 6,27; 7,27) und die den universalen Frieden ordnen und gebieten wird (Sach 9,9ff.). Alle diese Modelle und Motive scheinen darin zu konvergieren, dass sie inmitten der chaotischen Erfahrungen politischer Gewalt, ökonomischer Not, erlittenen Leids und verschuldeten Leids auf JHWHs wunderbares Eingreifen zu hoffen lehren. Insofern bildet die apokalyptische Erwartung der Überwindung des Todes kraft der

systematische Besinnung auf den Grund und Gegenstand des Christus-Glaubens in der ChristusGemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) zu entfalten. 164 Vgl. hierzu und zum Folgenden bes.: Rudolf Smend, Art. Eschatologie II. Altes Testament: TRE 10, 256–264; Benjamin Uffenheimer, Art. Eschatologie III. Judentum: ebd. 264–270; Hans-Peter Müller, Art. Eschatologie II. Altes Testament: RGG4 2, 1546–1553; Ders., Ursprünge und Strukturen alttestamentlicher Eschatologie (1969), Berlin: de Gruyter, Reprint 2019; Horst Dietrich Preuß, Jahweglaube und Zukunftserwartung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1968 (BWANT; 87); Klaus Koch, Die Reiche der Welt und der kommende Menschensohn. Studien zum Danielbuch. Ges. Aufsätze Bd. II, hg. von Martin Rösel, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1995; Jörg Jeremias, Theologie des Alten Testaments (wie Anm. 37), 401–459: Hoffnungen. – Dass Jesu Selbstverständnis und dass dessen symbolisierende und organisierende Mitteilung für andere als eine zutiefst kritische Tradierung der Tradition der Religionsgeschichte Israels in der Zeit des Zweiten Tempels zu verstehen ist, scheint mir in dessen existentialer Interpretation im Sinne von Ernst Fuchs nicht hinreichend beachtet zu sein.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Auferstehung der Toten (Dan 12,1-3) die konsequente Pointe jener Gottesgewissheit, die uns hier begegnet. Kein biblisches Bild hat diese Gottesgewissheit anrührender zur Sprache gebracht als die prophetische Verheißung am Ende des Groß-JesajaBuchs: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden.“ (Jes 66,13).165

Der sehnsuchtsvoll erhoffte Trost besteht in nichts Geringerem als in der Gewissheit der verborgenen, der unnahbaren Gegenwart des göttlichen Wesens, die alle Zwietracht, alle Gewalt und alle Angst überwindet, indem sie von Jerusalem aus „den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach“ ausbreitet (Jes 66,13). Der sachgemäße nicht-metaphorische Kern dieser Bilder ist das Wirklich-Werden des Heilen, der allgenugsamen Erfüllung des Lebens, des für uns Menschen alle Höchsten Guts. Allerdings: In die tröstende Gewissheit der verborgenen, der unnahbaren Gegenwart des göttlichen Wesens ist eingeschlossen die erschütternde Gewissheit eines eschatischen Gerichts, das sich in ihr und mit ihr zugleich vollzieht. Dieser Aspekt der eschatologischen Erwartung greift auf die vorexilische Unheilsprophetie zurück, die uns zum ersten Mal im Buche Hosea und im Buch Amos begegnet.166 Sie sieht den unabwendbaren Untergang vorher, in dem sich JHWHs Zorn über die eklatante Ungerechtigkeit in einem Strafgericht realisiert. Während jedoch die Prophetie in der Zeit des babylonischen Exils ebenso wie die hochreflektierte Redaktion des Pentateuch JHWHs grimmigen Zorn von JHWHs Barmherzigkeit überwunden glaubt (vgl. Hos 11,8-9!), entwickelt die apokalyptische Literatur in den schrecklichen Krisen der hellenistischen und der römischen Herrschaft die Vision eines letzten, eines universalen Strafgerichts, das jeden Frevel offenbar macht

165 Wir ermessen die Tiefe dieses Bildes dann und nur dann, wenn wir es im Kontext von Jes 66,11 betrachten: „Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres (verstehe: der Stadt Jerusalem) Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an dem Reichtum ihrer Mutterbrust.“. Israels Gottesgewissheit wartet darauf, dass JHWH alle Trauer in dieser Weltzeit durch Jerusalem (genauer: durch seine unnahbare Gegenwart im Heiligtum) tröstet – wie die Mutter, die ihr Kind stillt. 166 Vgl. Klaus Seybold, Art. Gericht Gottes I. Altes Testament: TRE 12, 459–466; Werner H. Schmidt, Zukunftsgewißheit und Gegenwartskritik. Studien zur Eigenart der Prophetie, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 2 2002 (2., erweiterte Auflage [Biblisch-Theologische Studien; 51]); Jörg Jeremias, Theologie des Alten Testaments (wie Anm. 37), 285–300.

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und vernichtet als selbstverschuldeten Ausschluss aus der Freude und der Seligkeit des Höchsten Guts.167 Diesem Aspekt der eschatologischen Erwartung liegt ganz sachgemäß die Einsicht zugrunde, dass menschliches Handeln de facto verantwortliches bzw. zu verantwortendes Handeln ist (s. 2.4.2.1). In unserer jeweiligen Gegenwart treffen wir nämlich in den verschiedenen Bereichen des privaten wie des öffentlichen Lebens im Lichte einer Sicht des Guten bzw. des Rechten Entscheidungen, kraft derer wir hier und jetzt Mögliches verwirklichen oder aber unterlassen. Ich nenne dies die Folgeträchtigkeit des Sich-Entscheidens, das für den Fortgang der Geschichte eines Gemeinwesens und einer Gemeinschaft von Gemeinwesen stets bleibende und unumkehrbare Bedeutung hat.168 Wie die altorientalischen Religionskulturen diese Folgeträchtigkeit des Sich-Entscheidens sahen, hat die Forschung unter dem Stichwort des Tun-Ergehens-Zusammenhangs eingehend diskutiert.169 In ihren verschiedenen Varianten bezieht sich die Erwartung eines eschatischen Gerichts mithin auf die Frage, ob die Person in ihrer Lebensgeschichte als Glied ihrer Gemeinschaft der Grundnorm der Gerechtigkeit vor Gott gerecht geworden sei: jener Grundnorm, die das „Bundesbuch“ um das Ethos der Barmherzigkeit im Sinn der solidarischen Hilfe ergänzt (vgl. Ex 20,22–23,13 [19]). Es ist die Grundfrage des von der Gewissheit eines göttlichen Wollens gebildeten Gewissens, wie sie die Entstehungsgeschichte des Tanakh mit dem Ursprung der Erkenntnis des sittlichen Gesetzes am Sinai und mit der Funktion des Mose identifiziert (vgl. Ex 20,1-21). Diese Gewissheit wiederum ruht auf der allgemeinen ethischen Überzeugung, dass der gültige Gehalt des sittlichen Gesetzes keineswegs auf naturwüchsige Weise überall und jederzeit erkennbar wird; er wird vielmehr dadurch und nur dadurch offenbar, dass eine menschliche Gemeinschaft in geschichtlichen Ereignissen einer Bestimmtheit des leibhaften Person-Seins teilhaftig wird, die Sinn und Ziel ihres Zusammenlebens prägt.170 In ihrem nicht-metaphorischen Kern bedeuten die verschiedenen Varianten der apokalyptischen Erwartung eines eschatischen Gerichts folglich das Vernehmen bzw. das Erleiden des göttlichen Unwerturteils über die Intention bzw. über die innere 167 Vgl. bes. Dan 7,26f.; äthHen 10,6.12; 18,13ff.; 91,15; IV Esr 7,70ff. – Eine besonders drastische Schilderung des „Endgerichts“ ist zu lesen im Buch der „Weisheit Salomos“, Kap. 5 (womöglich Ende des 1. Jh. v. Chr. in Alexandria komponiert)! 168 Vgl. Eilert Herms, Art. Folge/Folgeträchtigkeit des Handelns: RGG4 3, 176–177. 169 Vgl. Alexandra Grund, Art. Tun-Ergehens-Zusammenhang I. Biblisch: RGG4 8, 654–656. 170 Im Lichte dieser allgemeinen ethischen Überzeugung widerspricht daher das in der Heiligen Schrift bezeugte sittliche Bewusstsein und dessen theoretische Gestalt in Form der Theologischen Ethik den naturalistischen Begründungen humaner Ethosgestalten. Es gleicht insoweit dem Grundgedanken der Moralphilosophie Immanuel Kants, die den gültigen Gehalt des sittlichen Gesetzes in der Struktur der Kausalität aus Freiheit gegründet sieht. Vgl. hierzu Konrad Stock, Einleitung, 309–331; Ders., STh III.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Triebkraft einer Lebensgeschichte, die sich in ihren einzelnen Entscheidungen der Ungerechtigkeit bzw. der Unbarmherzigkeit konkretisiert. Gesprochen von dem einen, dem notwendigen, dem unbedingten Grund und Ursprung des in Wahrheit Guten, stellt es ein definitives Scheitern fest. Es ist daher ganz sachgemäß bezogen auf das eine Gesamtleben des Menschengeschlechts in seinen vielen Völkerschaften und damit auf die Idee eines Kontinuums des geschichtlichen Geschehens (Charles S. Peirce). Soviel ist klar: Was uns die apokalyptischen Texte zu verstehen zumuten, ist eine zutiefst ambivalente Sicht des eschatischen Geschehens. Sie meint es offensichtlich blutig ernst mit einem Gott-Verstehen, das in der scheinbar ausweglosen Phase politisch-religiöser Unterdrückung den tiefen Widerspruch von JHWHs vernichtendem Zorn und JHWHs rettender Gerechtigkeit, von gescheitertem Leben und von erfülltem Leben proklamiert.171 Im Kontext dieser ambivalenten Sicht des eschatischen Geschehens bildet sich Jesu Selbstverständnis, in seinem Lebenszeugnis für das „Im-Kommen-Sein der Königs-Herrschaft Gottes“ – der Herrschaft der Wahrheit, der Gnade und des Friedens (Jes 54,10) – Gottes wahres Wesen zu vergegenwärtigen. Diesem Selbstverständnis wende ich mich nunmehr zu. Zweitens: Wir können uns die Referenz des Ausdrucks „Im-Kommen-Sein der Königs-Herrschaft Gottes“ in der mehrfach erzählten Jesus-Geschichte erklären, wenn wir ihn als metaphorische Rede von Gott mit nicht-metaphorischem Kern erfassen. Nun ist es für die metaphorische Denk- und Redeweise überhaupt typisch, dass sie ein bildspendendes Element auf ein bildempfangendes Element überträgt, um dessen wesentliche Merkmale für eine bestimmte Situation plausibel zu machen. Nach Harald Goertz begeht man mit der metaphorischen Denk- und Redeweise stets einen „Kategoriensprung“; man löst die direkte bzw. die wortwörtlich gemeinte Bezeichnung eines bestimmten Geschehens von ihrem Denotat und überträgt sie auf ein anderes Geschehen, um über dessen wesentliche Merkmale im Bilde zu sein bzw. ins Bild zu setzen. Freilich gelingt die metaphorische Denk- und Redeweise nur unter der Bedingung, dass sowohl das bildspendende als auch das bildempfangende Element in der Lebenswelt in irgendeiner Weise schon vertraut ist.172

171 Nach Eckart Otto, Art. Gesetz II. Altes Testament: RGG4 3, 845–848; 847f., hatte die Redaktion der Vorderen Propheten (Jos–2Kön) die geschichtliche Darstellung des am „Gesetz“ scheiternden Israel auf die Erwartung einer messianischen (verstehe: eschatischen) Zukunft ausgerichtet, indem sie die Tora – den Kanon im Kanon des Pentateuch – mit dem corpus propheticum verband. Die apokalyptische Literatur scheint die Aussage-Intention dieser hochreflektierten Komposition gebrochen zu haben. 172 Vgl. Harald Goertz, Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei Luther, Marburg: N. G. Elwert, 1997 (MThSt; 46), 40–53.

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Wie leicht zu sehen ist, greift Jesu öffentliches Lebenszeugnis in der Verkündigung, in den Machttaten des Heilens, im Zuspruch der Vergebung und in der Gemeinschaft mit den „Zöllnern“ und „Sündern“ zurück auf die lebendige Gewissheit eines königlichen Herrschens JHWHs, wie sie der Tanakh bekundet. Ebenso wie diese lebendige Gewissheit nimmt es die Königsideologie der altorientalischen Religionskulturen Mesopotamiens und Syriens als soziomorphes bildspendendes Element in Gebrauch, um die besondere Eigenart des erwarteten und erhofften göttlichen Waltens als das bildempfangende Element vor Augen zu bringen. Möglich ist diese Rezeption, weil das soziomorphe bildspendende Element – das Herrschen eines Königs – stets die Überwindung des Chaotischen, des Bedrohlichen, des Destruktiven der Gewalt, des Unrechts und der Unwahrheit umfasst. Im Gott-Verstehen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft gewinnt die metaphorische Rede von Gottes königlichem Herrschen und ihre mythologische Form ihre nicht-metaphorische Prägnanz in dreifacher Hinsicht:173 Zum einen macht sie aufmerksam auf das Gegeben- und Gewährt-Sein der Gegenwart in dieser unserer Erfahrungswelt durch Gottes schöpferisches Walten (vgl. bes. Ps 93,1ff.; Ps 24,1f.7ff.). Was immer die JHWH-Gemeinschaft von Gottes gegenwärtigem und zukünftigem Walten erhofft, bezieht sich mithin auf das Dauern des personalen Selbst-Seins in seiner naturalen und sozialen Welt und ihrer Geschichte. In diesem frei gewährten Dauern hat das göttliche Wesen seinen Königsthron: „Von Anbeginn steht dein Thron fest; du bist ewig.“ (Ps 93,2). Das gilt auch dann, wenn dieser Anbeginn als „Urknall“ eines unbegrenzt expandierenden Raum-Zeit-Kontinuums anzusprechen ist. Zum andern aber ist dem Gott-Verstehen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft in ihrer leidvollen Geschichte klar bewusst, dass die womöglich im Tempelkult besungene Gründung des Erdkreises (Ps 93,1) schwer gefährdet oder sogar der Zerstörung preisgegeben ist: Nicht nur vom gnadenlosen Imperialismus der altorientalischen Großreiche, sondern auch von den tiefen sozio-ökonomischen Gegensätzen des Reichtums und der Armut im Innenverhältnis des Gemeinwesens. Aus diesem Grunde ruft es immer wieder neu nach JHWHs „Aufstieg“ (Ps 47,6): es ruft nach jener regelmäßig zu wiederholenden „Thronbesteigung“, kraft derer der Gott Israels von jenen schweren Gefährdungen des Dauerns des von ihm gewährten Lebens aktuell und punktuell befreit. Mit Bernd Janowski dürfen wir diesen Aspekt des

173 Vgl. zum Folgenden bes. Bernd Janowski, Art. Königtum Gottes im Alten Testament: RGG4 4, 1591–1593; Ders., Das Königtum Gottes in den Psalmen, jetzt in: Ders., Gottes Gegenwart in Israel, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1993 (Beiträge zur Theologie des Alten Testaments; 1), 148–213; zuletzt Michael Wolter, Jesus von Nazaret (wie Anm. 160), 90–97; 97–101. Wolter macht darauf aufmerksam, dass die eschatologische Erwartung der eschatischen Königs-Herrschaft JHWHs zugleich „israelzentrisch“ und „räumlich und zeitlich universal“ (90) gemeint ist.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Gott-Verstehens der jüdischen JHWH-Gemeinschaft als „ingressiv-durativ“ – d. h. als regelmäßig zu erbitten, zu erleben und zu preisen – bezeichnen. Und schließlich weist die metaphorische Rede von Gottes königlichem Herrschen in nicht-metaphorischer Hinsicht hin auf eine hier und jetzt noch unvorstellbare eschatische Situation des Vollendet-Werdens und Vollendet-Seins. Zumal in der erschütternden Erfahrung des babylonischen Exils und in der Auseinandersetzung mit dem Geschick der Sterblichkeit wendet sich das Gott-Verstehen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft jenem göttlichen Walten zu, das über die jüdische JHWHGemeinschaft hinaus jenseits des Todes und durch den Tod hindurch „alle Völker“ teilhaben lässt am Jubel und an der Freude über sein Heil: „Und rüsten wird auf diesem Berge der Herr der Heerscharen allen Völkern ein Mahl von fetten Speisen, ein Mahl von alten Weinen, von fetten, markigen Speisen, von alten geläuterten Weinen. Und vernichten wird er auf diesem Berge die Hülle, von der alle Nationen umhüllt sind, und die Decke, die über alle Völker gedeckt ist. Vernichten wird er den Tod auf ewig. Und abwischen wird Gott, der Herr, die Tränen von jedem Antlitz und die Schmach seines Volkes von der ganzen Erde hinwegnehmen; denn der Herr hat es geredet.“ (Jes 25,6-8 [Übersetzung Zürcher Bibel]).

Die metaphorische Rede von Gottes königlichem Herrschen, deren mythologischen Hintergrund bereits das Offenbarungszeugnis des jüdischen Tanakh entscheidend bricht, hat mithin zu ihrem nicht-metaphorischen Kern eine Struktur. Sie fügt die unzweideutige Erfahrung der begrenzten irdischen Dauer unseres personalen Selbst-Seins zusammen mit der immer wieder neuen Bitte um gnädiges und barmherziges Helfen und Erretten und mündet schließlich in die Hoffnung auf die hier und jetzt noch unvorstellbare Gemeinschaft Gottes und des Menschen, die das erlittene Leid und das verschuldete Leid überwindet. In dieser hier und jetzt noch unvorstellbaren Gemeinschaft herrscht dauernde, nicht mehr angefochtene und d. h. ewige Freude.174 Das metaphorische Feld der königlichen Herrschaft JHWHs bezieht sich mithin auf den Begriff des richtigen bzw. des gerechten Verhältnisses zwischen personalen Selbsten; es bezieht sich auf eine innergeschichtliche „Interaktionsordnung“ (Eilert Herms), die möglich und die wirklich wird durch das richtige bzw. durch das gerechte Verhältnis zu ihrem schöpferischen Grund und Ursprung. Es imaginiert die sehnsuchtsvolle Hoffnung darauf, dass Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen

174 Das hat ebenso schlicht wie tief aufgenommen Philipp Nicolai: „Kein Aug hat je gespürt, / kein Ohr hat mehr gehört / solche Freude“ (EG 147,3). Vgl. Konrad Stock, Grundlegung, 158–159; s. u. 4.5.4.3.

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den Zwiespalt bzw. die Konfliktträchtigkeit und das Leid des innergeschichtlichen Geschehens durch wirksames Gegenwärtig-Werden überwinde. Es intendiert insofern eine Bestimmung dessen, worin allein das Höchste Gut und damit das erfüllte Leben zu finden ist. So möchte diese Rede das herzliche Vertrauen stiften, inmitten des chaotischen Syndroms von erlittenem Leid und verschuldetem Leid je und je in dieser Gegenwart auf JHWHs Heilswillen zu hoffen: nämlich auf jenen Heilswillen, der sich schon in und seit der Gründung des Erdkreises (Ps 93,1) manifestiert. Nicht von Anfang an, sondern erst sehr spät in einer schwer bedrängten und zutiefst angefochtenen Glaubensgeschichte ereignet es sich, dass dieses herzliche Vertrauen über die aktuellen und punktuellen Momente seiner jeweiligen Gegenwart hinaus sich zum Gedanken einer absoluten Zukunft jenseits des Todes und durch den Tod hindurch erhebt, in der sich JHWHs Heilswille vollendet (s. 3.5.2.1). Solche Vollendung ist allein von JHWHs Walten im exklusiven Sinne des Begriffs zu erbitten. Der nicht-metaphorische Kern der metaphorischen Rede von JHWHs königlichem Herrschen besteht nach alledem in der Antwort auf die bedrängende Frage, ob wir und wie wir inmitten des chaotischen Syndroms von erlittenem Leid und verschuldetem Leid und nicht zuletzt im Blick auf das Geschick der Sterblichkeit am Höchsten Gut des richtigen bzw. des gerechten Verhältnisses zum schöpferischen Grund und Ursprung unserer selbst in dieser Welt im Werden – an der Bestimmung zur selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott – Anteil gewinnen und darin das erfüllte Leben leben können. Meine Interpretation des Lebenszeugnisses Jesu von Nazareth geht davon aus, dass es in seinen verschiedenen Aspekten diese Antwort bringt.175 Drittens: Gemäß den produktiven Erinnerungen der mehrfach erzählten JesusGeschichte in den synoptischen Evangelien bildet sich Jesu einzigartiges Selbstverständnis in einer visionären Szene:

175 Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (wie Anm. 159), 22ff., versteht das Zentrum der „Einheit der eschatologischen und der sittlichen Verkündigung Jesu“ (22) mit überscharfer Kritik am zeitgenössischen Judentum als Verkündigung der existential bestimmten Nähe Gottes: „Er ist die gegenwärtige Macht, als Herr und Vater jeden umfangend, begrenzend und fordernd. Das findet seinen Ausdruck in der Anrede des Gebets.“ (24). Infolgedessen bestimmt Bultmann Jesu Gott-Verstehen als das der „Entgeschichtlichung oder Entweltlichung Gottes wie des Menschen“ (26), und zwar im Lichte seines Begriffs „echter Geschichtlichkeit“ (vgl. dazu Konrad Stock, STh I, 626–638). Gegenüber Bultmanns Interpretation ist geltend zu machen, dass der Begriff der existential bestimmten Nähe Gottes sich sehr wohl vermitteln lässt mit kosmologischen Aussagen über das Raum-Zeit-Kontinuum des All des Seienden bzw. mit sozialtheoretischen Aussagen über geschichtliches Geschehen und über dessen Folgeträchtigkeit.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

„Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz.“ (Lk 10,18).176

In dem Ereignis dieser visionären Szene weiß Jesus sich dazu berufen und dazu erwählt, ganz für das schon gegenwärtige Im-Kommen-Sein der Königs-Herrschaft JHWHs – der Herrschaft der Wahrheit, der Gnade und des Friedens (Jes 54,10) – da zu sein. Sein einzigartiges Selbstverständnis, das sich in seiner öffentlichen Verkündigung, in seinen heilenden Machttaten, im Zuspruch der Vergebung, in seiner Gemeinschaft mit den „Zöllnern“ und den „Sündern“ und schließlich in der Berufung der „Zwölf “ in kohärenter Weise konkretisiert, setzt voraus die lebhafte und sensible Wahrnehmung des Chaotischen in der vom Imperium Romanum unterdrückten judäischen Lebenswelt. Symptome des Chaotischen sind nicht etwa nur die mannigfachen, scheinbar unheilbaren Krankheiten des Leibes und der Seele; Symptome des Chaotischen sind nicht etwa nur die ökonomische Not der kleinen Leute bzw. die rechtliche Willkür der Präfekten und der Vasallen; Symptome des Chaotischen sind vielmehr insbesondere auch die aus dem Herzen kommenden bösen Gedanken, die das Verwerfliche – Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Lästerung – ersinnen (vgl. Mt 15,19). Chaotisch sind für Jesus also alle die Symptome, in denen sich das Leid der Endlichkeit und der Zwiespalt bzw. die Konfliktträchtigkeit einer verkehrten Streberichtung zeigt. Im Lichte dieser Wahrnehmung der Lage bedeutet die metaphorische Rede vom Im-Kommen-Sein der Königs-Herrschaft JHWHs in ihrem nicht-metaphorischen Kern diejenige Weise eines göttlichen Waltens, das die schöpferische Gründung des Erdkreises (Ps 93,1) – d. h.: das Dauern des geschaffenen, gottebenbildlichen FreiSeins der Person in ihrer naturalen und sozialen Welt – aus den Erscheinungen des Üblen und des Bösen bzw. aus dem Geschick der Sterblichkeit rettet und befreit. Im Gegensatz zu den Erwartungen, den Wünschen und den Hoffnungen der jüdischen

176 Vgl. hierzu und zum Folgenden zuletzt Michael Wolter, Jesus von Nazaret (wie Anm. 160), 99–101; 101–112. – Die im Evangelium nach Lukas erzählte sprachliche Deutung, die Jesus diesem visionären Geschehen gegeben habe, beruft sich natürlich auf diejenige Geschichte des Gott-Verstehens Israels, die schließlich in die Bestimmung des Himmels als der transzendenten Sphäre JHWHs mündet, die in kategorialer bzw. in ontologischer Differenz auf die Erde im Sinne des All des welthaft Seienden bezogen und dieser Erde dauernd zugewandt ist. Diese Geschichte des GottVerstehens gipfelt in der Erkenntnis, dass auch der Himmel als die transzendente Sphäre JHWHs, in der und aus der das göttliche Wesen schöpferisch, versöhnend und vollendend waltet, geschaffen und d. h. gewollt ist (vgl. bes. Gen 1,1!). – Vgl. hierzu Friedhelm Hartenstein, JHWH, Erschaffer des Himmels. Zur Herkunft und Bedeutung eines monotheistischen Kernarguments, in: ZThK 110 (2013), 383–409. Zum angemessenen Verständnis dieser Deutung ist es unerlässlich, mit dem biblischen Ausdruck „Erde“ das Ganze des Raum-Zeit-Kontinuums des ungeheuren Universums zu assoziieren, das sich nach heutigem Erkenntnisstand mit Lichtgeschwindigkeit unbegrenzt ausdehnt; zu diesem Ganzen gehört auch das, was das Englische als sky im Unterschied zu heaven bezeichnet.

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JHWH-Gemeinschaft jener Zeit jedoch sieht Jesus dies rettende und befreiende Walten JHWHs nicht etwa nur für eine allernächste zukünftige Gegenwart vorher; er weiß sich im Ereignis jener visionären Szene vielmehr dazu da, in dieser seiner gegenwärtigen Gegenwart – in diesem seinem Jetzt und Hier - das rettende, heilende und befreiende Walten JHWHs zu symbolisieren und zu realisieren, und d. h. zu bringen und zu stiften: „Als die Pharisäer ihn fragten, wann das Gottesreich kommen werde, antwortete er: ‚Das Reich Gottes kommt nicht so, daß man es (wie ein heraufziehendes Gestirn) beobachten könnte. Man wird auch nicht sagen können: Sieh, hier ist es, oder dort! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch!‘“ (Lk 17,20f. [Übersetzung Ulrich Wilckens]).

Es ist mithin Jesu einzigartiges Selbstverständnis, das rettende, das heilende und befreiende Walten JHWHs im Zuspruch der Vergebung, im Heilen unheilbarer Krankheit Leibes und der Seele und nicht zuletzt im Freudenmahl mit „Zöllnern“ und mit „Sündern“ mitten unter euch zu wirken. Indem er aber JHWHs rettendes, heilendes und befreiendes Walten mitten unter euch kraft seines eigenen „Sich-gegenwärtig-Seins“ wirkt, vergegenwärtigt Jesus JHWHs unbedingten und unverbrüchlichen Heilswillen hier und jetzt in jeweils punktueller bzw. in jeweils aktueller Weise; und zwar mit der dringenden Einladung, ihm glaubend zu vertrauen wie ein Kind (vgl. Mt 19,14) und sich nicht an ihm zu ärgern. In der Struktur der metaphorischen Rede von JHWHs königlichem Herrschen sieht er sich selbst jeweils an jener Stelle, an der die Frömmigkeit der Psalmen JHWHs jeweiligen „Aufstieg“ im „ingressiv-durativen“ Sinne bekennt und feiert.177 Fragen wir genauer nach, wie wir uns solches Bringen, solches Stiften bzw. solches Vergegenwärtigen vorzustellen haben, so führt uns das im Evangelium nach Matthäus erzählte Gleichnis vom Schatz im Acker auf die richtige Spur:

177 Vgl. hierzu und zum Folgenden Wilfried Härle, Die Basileia-Verkündigung Jesu als implizite Gotteslehre, in: Wilfried Härle und Reiner Preul (Hg.), Reich Gottes, Marburg: Elwert, 1999 (MJTh XI), 11–30; sowie Michael Wolter, Jesus von Nazaret (wie Anm. 160), 110f.: Wolter sieht in Jesu Selbstverständnis, „ein Stück der Heilsgegenwart der Gottesherrschaft real erfahrbar werden“ zu lassen, eine „semantische Innovation“ der jüdischen Vorstellung von der eschatischen Gottesherrschaft. Diese semantische Innovation vollzieht nun allerdings eine tiefgreifende kritische Umformung der tradierten Gottesgewissheit, die die Entscheidungsträger des Synhedriums dazu bewog, Jesus am Rüsttag zum Passa-Fest vor dem Präfekten Pilatus anzuklagen. – Vgl. hierzu zuletzt Michael Wolter, Wie aus dem Reich Gottes die Kirche wurde. Die Rezeption der Selbstauslegung Jesu bei Lukas, Johannes und Paulus: PTh 105 (2016), 234–245; 236: „Das, was in exklusiver Weise von Gott (verstehe: von JHWH) selbst und als Gottes (verstehe: JHWHs) eigenes Werk erwartet wurde, ereignet sich im Auftreten eines abgerissenen Wanderpredigers aus Galiläa.“

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

„Das Himmelreich gleicht einem Schatz, verborgen im Acker, den ein Mensch fand und verbarg; und in seiner Freude ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte den Acker.“ (Mt 13,44).

Das Gleichnis spricht von einem Menschen, der all sein Hab und Gut und damit seine ganze innergeschichtliche Subsistenz verkauft, um jenen Acker zu erwerben, in dem er überraschender und kontingenter Weise einen einzigartigen Schatz gefunden hatte. Der Fund erregt in ihm die Freude, und zwar die höchste Freude, die ihn die Freude an all den relativen innergeschichtlichen Gütern loslassen lässt, um jenen einzigartigen Schatz zu genießen. Unter der höchsten Freude verstehe ich jene Emotion, die uns als leibhafte Person erfüllt, wenn sich uns inmitten des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids Gottes wahres Wesen – die Erlösung von dem Bösen in Gottes ewiger Herrlichkeit (Mt 6,13) – erschließt; und es ist diese Emotion, die uns erfüllt, wenn wir in wie auch immer angefochtener und beschränkter Weise in selbstbewusst-freier Willensgemeinschaft mit Gott an dem Geschehen jener Erlösung von dem Bösen beteiligt sind.178 In dieser höchsten Freude geschieht das „Im-Kommen-Sein der Königs-Herrschaft JHWHs“ – der Herrschaft der Wahrheit, der Gnade und des Friedens (Jes 54,10) – unter uns im jeweiligen Hier und Jetzt. Niemand sonst als Jesus selbst erweckt diese höchste Freude, indem er Anteil gewährt an jener höchsten Freude, die ihn selbst in dem und seit dem Moment des visionären Ereignisses erfüllt (s. 3.5.3).179 In seinem Selbstverständnis ist Jesus sich sehr wohl dessen bewusst, dass dies sein jeweils punktuelles und jeweils aktuelles Wirken in dieser seiner Gegenwart noch nicht jenes eschatische Vollendet-Werden und Vollendet-Sein vorwegnimmt,

178 Ich erinnere an die Grundstruktur des Teils II der „Glaubenslehre“ Schleiermachers, die im Vorblick auf die Vorlesungen zur „Christlichen Sitte“ konsequent die Genese des „Wollens des Reiches Gottes“ aus dem christlich-frommen Selbstbewusstsein der Erlösung zur Geltung bringt. 179 Auch die Gleichnisse vom „verlorenen Schaf “, von der „verlorenen Drachme“ und vom „verlorenen Sohn“, die das Evangelium nach Lukas überliefert (Lk 15,1-7; 8-10; 11-32), haben ihre Pointe in der Emotion höchster Freude; hier ist es allerdings die höchste Freude, die den „Himmel“ (15,7), die „Engel Gottes“ (15,10) und schließlich den „himmlischen Vater“ (15,22-24) über die Buße und d. h. über die Umkehr der Sünder erfüllt. Indem ich hier auf die Emotion der höchsten Freude aufmerksam mache, korrigiere ich gründlich die Interpretation der Verkündigung Jesu von Rudolf Bultmann, die den schweren Ernst des Rufs in die Entscheidung hervorhebt; vgl. Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments (wie Anm. 159), 8f.: „Er in seiner Person bedeutet die Forderung der Entscheidung (im Original gesperrt), insofern sein Ruf Gottes letztes Wort vor dem Ende ist und als solches in die Entscheidung ruft. Jetzt ist es letzte Stunde; jetzt gilt es: entweder – oder! Jetzt fragt es sich, ob einer wirklich Gott und seine Herrschaft will oder die Welt und ihre Güter; und die Entscheidung muß radikal getroffen werden.“

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dem die eschatologische Erwartung der jüdischen JHWH-Gemeinschaft jener Zeit entgegenhofft. Nach Michael Wolter hat sich Jesus von dem Aspekt der sog. Endtheophanie des göttlichen Wesens im Heiligtum des Tempels zu Jerusalem noch keineswegs gelöst, wie die Entscheidung zum Aufbruch nach Jerusalem zur Passa-Feier zu beweisen scheint.180 Wie Jesu jeweils punktuelles und aktuelles Wirken in dieser seiner Gegenwart mit dem eschatischen Vollendet-Werden und Vollendet-Sein in Gottes absoluter Zukunft vermittelt ist, wollen die Gleichnisse vom „Senfkorn“, vom „Sauerteig“ und vom „Samenkorn“ im Horizont der alltäglichen Erfahrung deutlich machen (vgl. Mk 4,1-9; 4,26-29; 4,30-32 parr.). Sie zeichnen einen inneren bzw. einen notwendigen Zusammenhang zwischen dem, was Jesu Lebenszeugnis schon jetzt an Gutem, an Heilendem und an Erfüllendem in den Zeiten des innergeschichtlichen Geschehens bewirkt, und dem, was in der absoluten Zukunft des göttlichen Wesens – jenseits des Todes und durch den Tod hindurch – vollkommen und umfassend wirklich werden wird. Im Rahmen der produktiven Erinnerung an die mehrfach erzählte Jesus-Geschichte schließt Jesu Freudenmahl mit den Jüngern in der Nacht der Verhaftung daher ganz angemessen mit den Worten: „Wahrlich, ich sage euch, daß ich nicht mehr trinken werde vom Gewächs des Weinstocks bis an den Tag, an dem ich aufs neue davon trinke im Reich Gottes (verstehe: in der alsbald geschehenden Vollendung der ‚Endtheophanie‘ JHWHs).“ (Mk 14,25).

In ihrer Sachhälfte richten die Gleichnisse unseren Blick auf diejenige Wirkungsgeschichte Jesu, die der überwältigenden Frucht des vom Sämann ausgesäten Samens (Mk 4,8), der Ernte reifen Weizens (Mk 4,29) und der Riesenstaude eines Senfkorns (Mk 4,32) gleicht. Sie lassen uns mithin verstehen, dass jene absolute Zukunft des göttlichen Wesens genau dasjenige vollendet, was in der Wirkungsgeschichte Jesu seinen Anfang in der Zeit des innergeschichtlichen Lebens genommen hat und nimmt. Insofern weiß sich Jesus mit der Schar der Jünger eins in der Bitte:

180 Vgl. Michael Wolter, Jesus von Nazaret (wie Anm. 160), 108f.; 167ff. (zu den Gleichnissen vom „Senfkorn“ und vom „Sauerteig“); 256ff. (zur „Tempel-Kritik“). – Die Vermittlung zwischen Jesu Lebenszeugnis und der unerschütterlichen Hoffnung auf JHWHs „Endtheophanie“ im Heiligtum des Tempels zu Jerusalem, wie sie für Jesu Selbstverständnis typisch ist, ist kein mythologischer Rest, den man entmythologisieren müsste. Diese Vermittlung scheint mir in der Interpretation der Frohbotschaft bei Rudolf Bultmann und bei Ernst Fuchs nicht oder jedenfalls nicht genügend beachtet zu sein; vgl. Ernst Fuchs, Zur Frage nach dem historischen Jesus (wie Anm. 160).

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

„Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.“ (Mt 6,9f.).181

Cum grano salis spricht die Gleichnisrede von der Gewissheit eines geschichtlichen Werdens des Guten, des Heilenden und des Erfüllenden, das in der absoluten Zukunft des göttlichen Wesens vollendet und verewigt werden wird. Sie lässt sich deshalb übertragen auf jene Teilhabe an Jesu Lebenszeugnis für das Im-KommenSein der königlichen Herrschaft JHWHs, zu der Jesus einen Kreis der Nachfolger und insbesondere die Zwölf beruft (vgl. Mt 10,7-15.40). Wenn Jesus ihnen zumutet, mit ihm zusammen ein Leben der „sozialen Entwurzelung“ zu führen, so hat das darin seinen Grund, dass sie in ganz entsprechender Weise dazu da sind, in ihrer Botschaft und in ihren Zeichenhandlungen JHWHs unbedingten, unverbrüchlichen Heilswillen jeweils punktuell und aktuell zu vergegenwärtigen.182 Die Gleichnisrede weist somit schon auf die Zeit der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) voraus. Sie weist voraus auf jene nachösterliche Bestimmtheit der Geschichte in der Welt, in der die offenbare Wahrheit des Christus-Geschehens durch Gottes Heiligenden Geist Herz, Mut und Sinn des menschlichen Geschlechts ergreift, um es zum Leben in der Hoffnung, in der Liebe, in der Selbstverantwortung vor Gott hin umzukehren. Wie Jesu Lebenszeugnis ist auch das der Christus-Gemeinschaft darauf bezogen und darauf angewiesen, in Gottes absoluter Zukunft aufgehoben und vollendet zu werden. Dies sei in einem vierten und letzten Gedankenschritt entfaltet.

181 Unerlässlich zum angemessenen Verstehen dieser Bitte: Martin Luther, Kleiner Katechismus (Auslegung des Vaterunser): „Gottes guter, gnädiger Wille geschicht wohl ohn unser Gebet, aber wir bitten in diesem Gebet, daß er auch bei uns geschehe. Wie geschicht das? Antwort. Wenn Gott allen bösen Rat und Willen bricht und hindert, so uns den Namen Gottes nicht heiligen und sein Reich nicht kommen lassen wollen, als da ist der Teufel, der Welt und unsers Fleischs Wille, sondern stärket und behält uns feste in seinem Wort und Glauben bis an unser Ende; das ist sein gnädiger, guter Wille.“ (BSLK 513, 20–32). – Luthers Auslegung bezieht das Gebet mithin auf Gottes Regierweise zur Rechten, die in der religiösen Kommunikation des Evangeliums durch Gottes Heiligenden Geist geschieht; und zwar unter dem Schutz und Schirm der göttlichen Regierweise zur Linken (s. 3.4.2.2). Luthers Auslegung schließt daher die selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit dem Sinn und Ziel des göttlichen In-Gemeinschaft-sein-Wollens in beiden Regierweisen Gottes ausdrücklich ein. 182 Zum Ruf in die Nachfolge, zum Ethos des Jüngerkreises sowie zur Einsetzung der „Zwölf “ vgl. jetzt Michael Wolter, Jesus von Nazaret (wie Anm. 160), 216–233: XII Die Nachfolge der Jünger Jesu. Wolter hebt ausdrücklich hervor, dass zum Kreis der Jünger auch Frauen gehörten (219f.). – Zitat: 226.

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„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)

Viertens: Gemäß der produktiven Erinnerung der mehrfach erzählten JesusGeschichte erhebt Jesus mit seiner Verkündigung, mit seinen heilenden Machttaten, mit seiner Gemeinschaft mit „Zöllnern“ und mit „Sündern“, mit dem Zuspruch der Vergebung und schließlich mit dem Ruf in die Nachfolge den Anspruch, JHWHs wahres Wesen zu zeigen und zu vergegenwärtigen. Indem er dazu einlädt, ihm zu glauben, und indem er davor warnt, sich an ihm zu ärgern (vgl. Mt 11,6; Lk 7,23), lädt er dazu ein, der endgültigen, der ewigen Gegenwart der königlichen Herrschaft JHWHs – der Herrschaft der Wahrheit, der Gnade und des Friedens (Jes 54,10) – als dem Höchsten Gut des Mensch-Seins von ganzem Herzen zu vertrauen und an ihr als dem Höchsten Gut des Mensch-Seins von ganzem Gemüte teilhaben zu wollen. Auf diese endgültige, auf diese ewige Gegenwart der königlichen Herrschaft JHWHs ist Jesu eigene Naherwartung bezogen, wie sie das Vaterunser – das Gebet des HErrn – in der Bitte um das Kommen des Reiches und um das Geschehen des göttlichen Wollens ausspricht.183 Die Naherwartung einer „Endtheophanie“ des göttlichen Wesens im Heiligtum des Tempels zu Jerusalem ist keineswegs dadurch obsolet geworden, dass sie sich nicht in allernächster kosmischer Raum-Zeit – also beispielsweise nicht am bevorstehenden Passah-Fest – erfüllte. Wir können ihren Sachgehalt ermessen, wenn wir uns interessieren für ihre innere Struktur, die wir gedanklich und begrifflich fassen können. Eine solche gedankliche und begriffliche Fassung ist unabdingbar, wenn wir den Sachgehalt der vielfach drastischen, dunklen und erschreckenden Bildsprache der prophetischen bzw. der apokalyptischen Literatur entziffern wollen.

183 Jesu eigene Naherwartung speist sich aus der Erwartung der jüdischen JHWH-Gemeinschaft, wie sie die Entstehungsgeschichte der Tanakh bezeugt. Nach Eckart Otto ist sie greifbar in der Erwartung einer Rückkehr der „Herrlichkeit“ JHWHs in das Heiligtum des Tempels zu Jerusalem (Ez 43,2f.). Während der Pentateuch die Präsenz der „Herrlichkeit“ JHWHs im Zeltheiligtum auf dem Sinai betont, entwickelt die Verklammerung von Pentateuch und Prophetenkanon die Perspektive der Präsenz JHWHs im Heiligtum des Tempels zu Jerusalem (1Kön 8,1.6-9), die nach der Schuldgeschichte Israels, wie sie die Vorderen Propheten schreiben, auf Jerusalems „Erhöhung“ (Ez 40,2) und auf dessen ewigen Bestand (Jo 4,16f.20) hinweist. Vgl. Eckart Otto, Art. Jerusalem I. Altes Testament: RGG4 4, 428–432. Das Buch Joel verknüpft ausdrücklich JHWHs Wohnen „zu Zion auf meinem heiligen Berge“ mit dem Heilig-Sein Jerusalems (Jo 4,17)! Während jedoch das Buch Joel den ausschließenden Gegensatz zwischen JHWHs Gericht über die Völker und JHWHs beständigem Frieden für die JHWH-Gemeinschaft einschärft, prophezeit das Groß-Jesaja-Buch, dass von Jerusalem Frieden für das gesamte Menschengeschlecht ausgehen werde (Jes 2,2-4)! Von dieser Prophetie ist m. E. Jesu eigene Naherwartung inspiriert! – Angesichts der traumatischen Geschichte der jüdischen JHWH-Gemeinschaft nach der Zerstörung des 2. Tempels; angesichts der immer noch andauernden Gewalt- und Kriegsgeschichte der Menschheit; und nicht zuletzt angesichts des scheinbar unlösbaren Konflikts zwischen dem Staat Israel und der palästinensischen Nation bedarf es größter theoretischer Anstrengung, die prophetische Idee des ewigen Friedens auf die Großwetterlage der entstehenden Weltgesellschaft zu übertragen. Vgl. dazu STh III!

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Sehe ich recht, so intendiert diese Bildsprache den inneren, den sachlogischen Zusammenhang zwischen dem wahren Kult des wahren Gottes und der gerechten Interaktionsordnung eines weltumspannenden Friedens, der dieses Namens wert ist. Sie sieht im wahren Kult des wahren Gottes geradezu die notwendige und hinreichende Bedingung, die erfüllt sein muss, damit sich das Ziel der gerechten Interaktionsordnung des Friedens im Herzen, in der Gesinnung, in der Triebkraft eines Menschen bilde und von Generation zu Generation erneuere.184 Das sei unter zwei Gesichtspunkten entwickelt. Zum einen: Ich verstehe unter dem Begriff des wahren Kults des wahren Gottes jenes außeralltägliche Ritual, in dem sich eine menschliche Gemeinschaft regelmäßig zur Anbetung, zur Feier, zum Gedenken des wahren Gottes zusammenfindet. In einem solchen Ritual erhebt sich eine menschliche Gemeinschaft dann und nur dann zum wahren Gott, wenn Gottes wahres Wesen all ihren Gliedern einzeln offenbar und deshalb kontinuierlich gewiss geworden ist und alle Morgen neu gewiss werden wird. Wird Gottes wahres Wesen von Gott selbst her offenbar, so wird dessen Wahrheit in der Wahrheitsgewissheit der Person und ihrer religiösen Kommunikation mit ihresgleichen empfangen. Das außeralltägliche Ritual des wahren Kults macht den Teilnehmern des Gottesdienstes im engeren Sinne des Begriffs explizit bewusst, dass sie sich selbst bereits in ihrem Selbstbewusstsein bzw. in ihrem „Sich-gegenwärtigSein“ und in dessen Dauer im Ganzen dieses unbegrenzten Universums von Gottes schöpferischer Macht empfangen. Es macht jedoch zugleich bewusst, dass sie sich eingedenk des Zwiespalts ihrer Existenz bzw. eingedenk der Verstrickung in die menschliche Leid- und Schuldgeschichte (s. 3.2) von Gottes unbedingtem, unverbrüchlichem Heilswillen – von Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen – empfangen: Wenn es – mit dem Buch Joel gesprochen – kraft und aufgrund des göttlichen Wohnens zu Zion ein Heilig-Sein Jerusalems gibt (Jo 4,17), so ist dies jenem HeiligSein des wahren Gottes zu verdanken, das sich nicht anders als in Gottes unendlicher Geduld mit seinem fehlbaren und sich selbst verfehlenden Ebenbilde zeigt. Im wahren Kult des wahren Gottes erleben und verstehen sich die Glieder einer menschlichen Gemeinschaft als von Gott geachtet, als von Gott trotz und in ihrer Selbstverfehlung anerkannt, ja – als von Gott getragen und geliebt (s. 4.3.1). Wenn sie sich und sofern sie sich als solche tatsächlich erleben und verstehen, so deshalb,

184 Diese ethische – um nicht zu sagen: diese wohlverstanden politische – Dimension der eschatologischen Perspektive der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments wird erheblich verkürzt in der existentialen Interpretation der Botschaft Jesu, wie sie vor allem Ernst Fuchs vertrat (s. o. Anm. 160). – Vgl. zum Folgenden bes. Eilert Herms, „Cultus Deorum“ / „Cultus Dei veri“ – aus christlicher Perspektive, in: Elisabeth Gräb-Schmidt und Reiner Preul (Hg.), Gottesdienst, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2018 (MJTh; XXX), 23–67.- Vgl. 4.2.1.

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weil Gottes unendliche Geduld ihnen allen einzeln offenbar wird durch den Geist der Wahrheit (s.1.3).185 Zum andern: Erleben und verstehen sich die Glieder einer menschlichen Gemeinschaft im wahren Kult des wahren Gottes als schlechthin empfangend, so existieren und so koexistieren sie doch in ihren alltäglichen Interaktionen in ihrer jeweiligen Gesellschaft handelnd und entscheidend. Das gilt auch und erst recht für alle die Beziehungen, in denen die Kulturen und Gesellschaften dieser Erde miteinander koexistieren und – wie die Dinge liegen – konkurrieren. Wer sich im wahren Kult des wahren Gottes kraft des Geistes der Wahrheit als schlechthin empfangend erlebt und versteht, wird im Rahmen seines Berufs und seines Spielraums für alle die Rechtsordnungen des Friedens kämpfen, ohne die das Syndrom von erlittenem Leid und verschuldetem Leid nicht zu begrenzen oder gar zu überwinden ist. Insofern ist der wahre Kult des wahren Gottes in seiner deskriptiven wie in seiner performativen Funktion das Ritual, das den Frieden stiftet.186 Fünftens: Ziehen wir ein Fazit! Im Sinnraum und im Verstehenshorizont der jüdischen JHWH-Gemeinschaft ist es Jesu einzigartiges Selbstverständnis, in seinem Lebenszeugnis ganz für das erhoffte und erwartete Im-Kommen-Sein der königlichen Herrschaft JHWHs – der Herrschaft der Wahrheit, der Gnade und des Friedens (Jes 54,10) – da zu sein. Dies Selbstverständnis hatte sich womöglich im Prozess des Abschieds von der Unheilsprophetie Johannes des Täufers blitzartig gebildet in dem visionären Ereignis, das Jesus als den Sturz des Satans aus dem Himmel der transzendenten Sphäre des göttlichen Wesens deutet und das er offensichtlich als den Grund und als die Quelle seiner Vollmacht sieht (Lk 10,18).187

185 Vgl. Röm 8,16: „Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind.“. – Zur Interpretation dieses Schlüsselsatzes der paulinischen Perspektive des Evangeliums s. 4.1. 186 Zur deskriptiven und zur performativen Funktion des Gottesdienstes vgl. zuletzt Reiner Preul, Zur Morphologie und zum Erleben des evangelischen Gottesdienstes, in: Elisabeth Gräb-Schmidt und Reiner Preul (Hg.) (wie Anm. 183), 99–123. – Dass der Friede gestiftet werden muss, ist die Hauptthese von Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (W VI, 191–251). Sie steht im Kontext seiner Schrift: Das Ende aller Dinge (W VI, 173–190). Diese Schrift ist hier deshalb einschlägig, weil sie das „Ende aller Dinge“ als den „Endzweck aller Dinge“ und diesen als das Höchste Gut bestimmt (W VI, 185), das Kants Moralphilosophie ganz sachgemäß als Glückseligkeit anspricht. – Auf Kants philosophischen Entwurf werde ich zurückkommen in: Konrad Stock, STh III. 187 Dieses visionäre Ereignis ist zu verstehen als das Ereignis der Erleuchtung bzw. der Inspiration durch den Heiligenden Geist der Wahrheit (s. 4.1). Die synoptischen Evangelien (Mt 3,13ff.; Mk 1,9ff.; Lk 3,21f.) und das Evangelium nach Johannes (1,32ff.) ordnen dieses Ereignis ihrer Erzählung von Jesu Taufe durch Johannes den Täufer zu, ohne dass es dafür belastbare historische Gründe geben würde.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Nun bildet sich ein Selbstverständnis nicht im Niemandsland; es bildet sich vielmehr in der sei es affirmativen sei es kritischen Begegnung mit einem schon tradierten Selbstverständnis, das ein bestimmtes Verstehen des personalen Daseins in seinen wesentlichen Relationen artikuliert.188 Jesu einzigartiges Selbstverständnis schöpft in besonderer und d. h. in besonders kritischer Weise aus der Gottesgewissheit der JHWH-Gemeinschaft in der Zeit und nach der Zeit des babylonischen Exils, die im steten Rückblick auf die Schuldgeschichte Israels voll der glühenden Hoffnung ausgerichtet ist auf die zukünftige Vollendungsgestalt des Volkes JHWHs. Sie spricht sich neben anderen Motiven und Modellen metaphorisch mittels des semantischen Feldes der königlichen Herrschaft JHWHs aus. Und zwar deshalb, weil dieses semantische Feld hervorragend dazu geeignet ist, inmitten der Erfahrungen des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids auf JHWHs immer wieder neue „Thronbesteigung“ zu vertrauen. Sie weist in der jeweils jetzigen Gegenwart zurück auf die verborgene Gegenwart der schöpferischen Macht in der „Gründung des Erdkreises“ (Ps 93,1), ebenso wie sie sehnlichst Ausschau halten lässt nach deren unbezweifelbarem Offenbar-Sein in zukünftiger Gegenwart. Nun ist es offensichtlich typisch für das Gott-Verstehen der nachexilischen JHWH-Gemeinschaft, dass JHWHs Einzigkeit – die Einzigkeit des Ersten und des Letzten (Jes 44,6) – sich exklusiv bekundet. Ebenso wie das schöpferische Gewähren des leibhaften Person-Seins in einer Welt im Werden ist auch das hier und jetzt glühend erhoffte, das unbezweifelbare Offenbar-Sein in zukünftiger Gegenwart exklusiv Sache des unvermittelten göttlichen Waltens. Sehe ich recht, so reformiert bzw. transformiert Jesu einzigartiges Selbstverständnis das Gott-Verstehen der nachexilischen JHWH-Gemeinschaft in einer Art und Weise, die von der pharisäischen Bewegung ebenso wie von der sadduzäischen Priesterschaft am autonomen Heiligtum des Tempels zu Jerusalem nicht etwa nur als Diskontinuität, sondern vielmehr nur als Bruch empfunden werden konnte.189 Jesu einzigartiges Selbstverständnis, in seinem Lebenszeugnis JHWHs wahres Wesen zu vergegenwärtigen, nimmt nämlich nichts Geringeres in Anspruch als die Existenz in Willens- und in Handlungseinheit mit der Einzigkeit des Einen und mit dessen unbedingtem, unverbrüchlichem Heilswillen:

188 Das ist der richtige Grundgedanke der hermeneutischen Theorie Rudolf Bultmanns, die seiner Praxis der existentialen Interpretation des Neuen Testaments zugrunde liegt; vgl. Konrad Stock, STh I, 626–638. 189 Womöglich ist es dieser Bruch, der gemäß der erzählten Jesus-Geschichte des Evangeliums nach Markus den Hohepriester zu dem Urteil motiviert: „Ihr habt die Gotteslästerung gehört.“ (Mk 14,64).

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„Wenn ich aber durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen.“ (Lk 11,20).

Diese Existenz in Willens- und in Handlungseinheit mit Gott selbst und mit Gottes unbedingtem, unverbrüchlichem Heilswillen kommt am überzeugendsten zum Ausdruck in den seltenen Worten, in denen Jesus JHWH seinen „Vater in den Himmeln“ (Mt 10,32) nennt. Sie bringen Jesu Persongeheimnis zur Sprache, das dann kraft der Ereignisse des Dritten Tages in den sog. Hoheitstiteln vielfach expliziert wird.190 Jede Interpretation der Frohbotschaft Jesu von Nazareth steht vor der Frage, wie sie das angemessene Verhältnis klären könne, das zwischen Jesu Lebenszeugnis für die königliche Herrschaft JHWHs – seines „Vaters“ in den Himmeln – hier und jetzt und der glühenden Hoffnung auf das endgültige Erscheinen seiner Herrlichkeit im Heiligtum des Tempels zu Jerusalem besteht. Diese Frage findet ihre sachgemäße Antwort, wenn wir Jesu Selbstverständnis unterscheiden von dem Selbstverständnis der prophetischen Tradition. Im Unterschied zu den Gestalten der prophetischen Tradition ist es für das Persongeheimnis Jesu wesentlich, dass es im Lebenszeugnis für das königliche Herrschen JHWHs – des „Vaters“ in den Himmeln – als dem Höchsten Gut seine Erfüllung, sein Genügen, seinen Frieden findet. Was uns die produktive Erinnerung der mehrfach erzählten Jesus-Geschichte überliefert, ist daher als die jeweils punktuelle und jeweils aktuelle Mit-Teilung und Ausstrahlung jener Freude zu verstehen, die den Sohn des Zimmermanns und der Maria kraft der Gewissheit seiner Willens- und Handlungseinheit mit dem einzig einen Gott und mit dem Walten des einzig einen Gottes erfüllt.191

190 Vgl. 3.5.2.4. – Nach Michael Wolter, Jesus von Nazaret (wie Anm. 160), 234–251, bezeichnet Jesus sich selbst als „Menschensohn“ (Mk 2,10; 10,45; Lk 7,34; 9,58; 19,10); jedoch nicht im Sinne des apokalyptischen bzw. des nachösterlichen Hoheitstitels, sondern im Sinne einer rhetorischen Figur, die die kategoriale bzw. die ontologische Differenz in seinem Verhältnis zu seinem himmlischen Vater kennzeichnen will. Erst die Ereignisse des Dritten Tages geben den Anstoß zum Denken jenes Eines-Seins des „Menschensohns“ Jesus mit der Einzigkeit des Einen, das in der Glaubens- und Theologiegeschichte des Christentums der Spätantike zur trinitarischen Bestimmung der Einzigkeit des Einen führt. – Aus diesem Grunde habe ich in meiner Interpretation der Jesus-Geschichte der synoptischen Evangelien vielfach den Gottesnamen JHWH der jüdischen JHWH-Gemeinschaft gebraucht. 191 In diesem Zusammenhang sei erinnert an den Grundgedanken Wilhelm Herrmanns, der den christlichen Glauben entfaltet als das Erleben der Erlösung zum freien Wollen des sittlichen Endzwecks, des Höchsten Gutes der Gottesliebe, die der Begegnung mit der „Gesinnung“ bzw. mit dem „inneren Leben“ Jesu zu verdanken ist, das sich mitteilt in seiner Frohbotschaft des kommenden Reiches Gottes; vgl. Wilhelm Herrmann, Ethik, Tübingen: Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck),

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Jesu Gewissheit, jeweils punktuell bzw. jeweils aktuell in Willens- und in Handlungseinheit mit dem einzig einen Gott bzw. mit dem Walten des einzig einen Gottes zu existieren, hat nun für unser Verständnis der eschatologischen Erwartung der jüdischen JHWH-Gemeinschaft eine weitreichende, eine kritische Konsequenz. Denn während diese Erwartung das Höchste Gut in JHWHs endgültigem InGemeinschaft-Sein mit JHWHs Volk und darüber hinaus mit der Welt der Völker exklusiv als Gottes Wunder sieht, bezeugt Jesu Selbstverständnis, zur Willens- und Handlungseinheit mit dem einzig einen Gott und mit dem Walten des einzig einen Gottes erwählt zu sein, eine inklusive Sicht: Das Höchste Gut des endgültigen In-Gemeinschaft-Seins JHWHs mit JHWHs Volk und darüber hinaus mit der Welt der Völker schlägt nicht unmittelbar bzw. unvermittelt wie ein Meteor in die Geschichte ein, die nach wie vor als die Geschichte des erlittenen und des verschuldeten Leids zu erleben ist; es ist vielmehr vermittelt durch Jesu Lebenszeugnis und durch dessen Ausstrahlung in die Gemeinschaft seiner Nachfolger, die schon in gegenwärtiger Gegenwart die zukünftige Gegenwart des königlichen Herrschens JHWHs – des „Vaters“ in den Himmeln – zuversichtlich erbitten und erhoffen lässt. Nun macht das Licht der Ereignisse des Dritten Tages ihren Empfängern die Wahrheit jenes Selbstverständnisses Jesu, zur Willens- und Handlungseinheit mit dem Walten Gottes erwählt zu sein, jenseits ihrer Flucht in die Verzweiflung offenbar (s. 3.5.2.1). In diesen Erschließungssituationen kommt es folgerichtig zu den ersten Ansätzen des christologischen Bekennens, die jene inklusive Sicht des göttlichen Wesens explizieren. Sie bringen miteinander je auf ihre Weise die Gewissheit zur Sprache, dass Jesu Lebenszeugnis wirklich und wahrhaftig Gottes In-Gemeinschaftsein-Wollen mit und für uns Menschen alle als das Höchste Gut vergegenwärtigt. Diese ersten Ansätze des christologischen Bekennens reagieren allerdings zugleich auf die erschütternde Erfahrung der Hinrichtung des Freudenboten aus Nazareth am Kreuz auf Golgatha kraft des Urteils des römischen Präfekten Pontius Pilatus. Indem sie die Ereignisse des Dritten Tages reflektieren, stoßen sie die verschiedenen Antworten der „Urgemeinden“ auf die Frage an, aus welchem Grunde und in welchem Sinne jene mors turpissima crucis überhaupt verstehbar sein könne. In ihrer Verschiedenheit kommen diese Antworten in der Erkenntnis überein, dass Jesu Selbstverständnis, zur selbstbewusst-freien Willens- und Handlungseinheit mit JHWH erwählt zu sein, sich just in seinem Leidens- und Todesweg vollendet. Auf diese Weise entbergen sie den theo-logischen Sinn des Lebenszeugnisses Jesu,

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1904, 86–109; bes. 86ff. Diesen Grundgedanken halte ich auch dann für richtig und für wichtig, wenn man Gründe hat, an Herrmanns Grundlegung der Theologie Kritik zu üben.

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den die Entwicklung zur Lehre von Gottes dreieinem Wesen ausarbeiten wird (s. 1.3.).192 3.5.2.3

„Es ist vollbracht.“ (Joh 19,30). Der Tod am Kreuz auf Golgatha193

Einführung.– Dem Christus-Glauben ist es in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) als wahr gewiss, dass der auf Golgatha gekreuzigte Freudenbote aus Nazareth uns gegenwärtig wird und gegenwärtig bleibt kraft der „Ausgießung“ – der Mit-Teilung – seines Geistes (s. 4.1). Wegen der Gegenwart des gekreuzigten Freudenboten aus Nazareth im Heiligenden Geist der Wahrheit ist das Kreuz in vielerlei Medien, Formen und Gestalten zum zentralen Symbol der Christenheit in ihrer diachronen und synchronen Geschichte geworden. In dieser ihrer Geschichte ruft das Kreuz eine gar nicht zu ermessende Vielfalt der Andacht und der Kreuzesverehrung, der Riten und der Liturgien hervor, die im stillen Nachvollzug der Passion des Christus Jesus in der Karwoche ihren Schwerpunkt hat; und in den Gattungen der Kunst – nicht nur in der christlichreligiösen Kunst der Malerei und der Passionsmusik, sondern auch in der autonomen Kunst der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne – findet es ergreifende Resonanz.194 Womöglich sind es Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion und

192 Vgl. hierzu Wilfried Härle, Die Basileia-Verkündigung Jesu als implizite Gotteslehre (wie Anm. 177), 25–30. – Die Lehre vom christlichen Glauben an Gott als Glaube an das dreieine Wesen des einzig Einen kann deshalb nicht umhin, die Differenz zum Gott-Verstehen in der Glaubensgeschichte der jüdischen JHWH-Gemeinschaft zu betonen, das gleichwohl nach dem Bildwort des Apostels Paulus die „Wurzel“ und der „Saft des Ölbaums“ (Röm 11,17) ist und bleibt. 193 Vgl. zum Folgenden bes.: Friedrich Schleiermacher, CG2 §§ 100–105: Von dem Geschäft Christi (II, 90–147 = KGA I.13,2, 104–164); Die Heilsbedeutung des Kreuzes für Glaube und Hoffnung des Christen: ZThK 1990 (Beiheft; 8), mit Beiträgen von Gerhard Müller, Gerhard Ebeling, Jürgen Becker, Wilfried Härle und Klaus-Peter Jörns; Wolfhart Pannenberg, Grundzüge der Christologie (wie Anm. 128), 251–288: § 7 Der Kreuzestod Jesu als stellvertretendes Strafleiden; Gerhard Ebeling, Dogmatik II, 128–255: § 19 Der Tod Gottes; Jürgen Moltmann, Der Weg Jesu Christi (wie Anm. 128), 172–234: IV. Die apokalyptischen Leiden Christi; Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 2 1977, 470–505; Günter Bader, Symbolik des Todes Jesu, Tübingen: Mohr, 1988 (HUTh; 25); Christof Gestrich, Christentum und Stellvertretung (wie Anm. 128), 345–449; Georg Sans, Der Tod Jesu für uns. Zum Paradigma der Stellvertretung bei Kant, Pannenberg und Hegel, in: Gunter Wenz (Hg.), Die Christologie Wolfhart Pannenbergs (wie Anm. 128), 213–232; Heinrich Assel, Elementare Christologie. Erster Band: Versöhnung und neue Schöpfung, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2020. 194 Vgl. hierzu bes. Ulrich Köpf, Art. Kreuz IV. Mittelalter: TRE 19, 732–761 (Lit.!!); Hans Georg Thümmel, Art. Kreuz VIII. Ikonographisch (Reformationszeit bis zur Gegenwart): ebd. 768–774; Alex Stock, Art. Kreuz/Kreuz Christi VI. Darstellungen in der modernen Kunst: RGG4 4, 1753–1754.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Johannes-Passion und Mathis Nithart Grunewalds Isenheimer Altar, die selbst die „Kirchenfernen“ tief berühren und erschüttern. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass das zentrale Symbol der Christenheit zumal in der Epoche der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne Unverständnis und Missverständnis ebenso wie spöttische Ablehnung (Johann Wolfgang von Goethe) und hellsichtigen Hass (Friedrich Nietzsche) provoziert. Insofern wird die systematische Besinnung auf den christlichen Glauben an Gott den Versöhner das Wortbekenntnis des Christus-Glaubens mit Rücksicht auf die religiöse Kommunikation des Evangeliums hier und heute besonders sorgfältig, umsichtig und selbstkritisch zu tradieren und zu interpretieren haben. Ich werde deshalb zeigen, dass von einer „Heilsbedeutung des Kreuzes“ nur im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages die Rede sein kann, welche den Wahrheits- bzw. den Vollmachtsanspruch Jesu verifizieren und eben damit eo ipso Jesu Eines-Sein mit dem dreieinen Gott erschließen (s. 3.5.2.4). In diesem Kontext eignet allerdings dem Kreuz der Charakter eines Grundsymbols, das uns zu denken gibt (Paul Ricœur). Als dieses Grundsymbol der Christenheit verbindet das Kreuz zwei durchaus verschiedene Aspekte: Zum einen erinnert es an die historisch gesicherte Tatsache der Kreuzigung des Freudenboten aus Nazareth nach römischem Besatzungs-Recht unter dem Präfekten Pontius Pilatus; zum andern aber bilden die Ereignisse des Dritten Tages den Grund und Ursprung einer reichen Fülle der Versuche, der entsetzlichen Tatsache des Todes des Freudenboten am Kreuz auf Golgatha von Gottes wegen einen verstehbaren Sinn zu geben. Sie alle sind Varianten eines „Wortes vom Kreuz“ (1Kor 1,18): Elemente einer symbolischen, poetischen, metaphorischen, artistischen und architektonischen Sprache, die eine Antwort auf die Frage sucht, die nach dem Evangelium nach Lukas der Auferstandene selbst den trauernden Jüngern auf ihrem Weg nach Emmaus stellt: „Mußte nicht der Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen?“ (Lk 24,26).

Auf eine ebenso schlichte wie tief berührende Art und Weise gibt auf diese Frage – für die Geschichte der christlichen Passionsfrömmigkeit exemplarisch195 – eine Antwort das Passionslied Christoph Fischers, das insonderheit im Gottesdienst des Karfreitags, in der Beichte und in der Feier des Heiligen Abendmahls seinen unveräußerlichen Platz hat:

195 Vgl. hierzu Ulrich Köpf, Art. Passionsfrömmigkeit: TRE 27, 722–764 (Lit.!).

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„Wir danken dir, Herr Jesu Christ, daß du für uns gestorben bist und hast uns durch dein teures Blut gemacht vor Gott gerecht und gut.“ (EG 79,1)

Im Sinnraum und im Verstehenshorizont der Bibel Israels in ihrer griechischen Form der Septuaginta sammelt der Kanon des Neuen Testaments jene frühen Zeugnisse eines ersten ernstlichen Verstehen-Wollens, von denen keine systematische Besinnung hier und heute sich wird lösen können. Indem sie jeweils im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages dem Tod des Freudenboten am Kreuz auf Golgatha eine einzigartige Bewandtnis zusprechen, suchen sie dessen Sinn im Kontinuum des Waltens des dreieinen Gottes zu finden. Mein folgender Gedankengang setzt die bibelwissenschaftliche Erklärung der verschiedenen Varianten voraus, die die verschiedenen „Urgemeinden“ nach dem kanonischen Zeugnis des Neuen Testaments für Gottes versöhnendes Walten fanden. In gleicher Weise setzt er die Geschichte der kirchlichen Versöhnungslehre voraus, die sich sowohl aus den Liturgien der Heiligen Taufe und des Heiligen Abendmahls als auch aus den festgestellten Lehrsätzen der Konzilien und der Synoden bzw. aus den Debatten der Systematischen Theologie erheben lässt.196 Auf dieser Basis werde ich im Interesse der religiösen Kommunikation des Evangeliums hier und heute einen Vorschlag unterbreiten, der die Verstehenshemmungen hinsichtlich des „äußeren Wortes“ bzw. der „äußeren Klarheit“ der Heiligen Schrift überwinden möchte. Mein Vorschlag ruft natürlich meine Darstellung des menschlichen EntfremdetSeins in Erinnerung, die wie Paul Tillich den unlösbaren Zusammenhang von erlittenem Leid und verschuldetem Leid betont (s. 3.3). Wem immer die Verstrickung in das Syndrom von erlittenem Leid und verschuldetem Leid zum Erschrecken und zum Entsetzen wird, wird ergriffen werden können von der Passion des Christus Jesus, wie sie die Passionserzählungen aller vier Evangelien so empathisch schildern. Mein Vorschlag schließt allerdings auch an meine Darstellung jener Verheißung an, die uns um willen des versöhnenden Waltens des dreieinen Gottes in den kulturellen Mächten des Rechts, des Ethos und der Kunst und insbesondere in der Erwählung Israels zum Wurzelgrund des Christus-Geschehens gegeben ist (s. 3.4). In diesem Rahmen ist es die zu beantwortende Frage: inwiefern gerade die Passion des Freudenboten aus Nazareth im Lichte der Erscheinungen des Dritten Tages

196 Vgl. hierzu bes. Adrian Schenker/Otfried Hofius/Dietrich Korsch/Hans-Richard Reuter, Art. Versöhnung I.–IV.: TRE 35, 16–43; Gunther Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit, Bd. 1, München: Kaiser, 1984 (MMHST; 9); Bd. 2, München: Kaiser, 1986 (MMHST; 11).

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

zum Ereignis jener Wahrheit wird, die befreiend wirkt (vgl. Joh 8,32.36; Röm 8,21, 2Kor 3,17; Gal 5,1).197 Die systematische Besinnung auf das christliche Wortbekenntnis hat um der Beantwortung dieser Frage willen stets an das ethische Grundproblem erinnert, das uns Menschen allen als geschaffenen leibhaften Freiheitswesen in unserer gemeinsamen Geschichte de facto auferlegt ist. Dass dieses Grundproblem nicht etwa willkürlich oder gar böswillig ersonnen ist, würde die jeweils eigene Einsicht in die jeweils eigene Verstrickung in das Syndrom des erlittenen und des verschuldeten Leids wohl zeigen können.198 Allerdings würde das unvoreingenommene historische Gedenken ebenso wie die unvoreingenommene Wahrnehmung der gegenwärtigen globalen Gesamt-Situation und ihrer brennenden Interessen-Konflikte erkennen lassen, dass diese jeweils eigene Einsicht verweigert werden kann und tatsächlich auch verweigert wird: allen moralischen Appellen an die praktische Vernunft und an den guten Willen zum Trotz. Sie kann verweigert werden und sie wird verweigert im Bann der Ungewissheit hinsichtlich des unbedingten Heilswillens des dreieinen Gottes. Der Bann der Ungewissheit hinsichtlich des unbedingten Heilswillens des dreieinen Gottes aber wird dann und nur dann gebrochen, wenn der Geist der Wahrheit die Passion des Freudenboten aus Nazareth als das freie Ertragen und Erleiden der Negativität des Negativen durch Gott selbst verstehen, ehren und erinnern lässt. Er wird gebrochen, wenn das christlich-fromme Selbstbewusstsein Gottes wahres Wesen als das Wesen weiß, das sich just für das fehlbare, für das sich selbst und seine Bestimmung verfehlende Menschenwesen selbst verantwortlich macht. Indem das christlich-fromme Selbstbewusstsein das Grundsymbol des Kreuzes als das Symbol für Gottes Selbstverantwortung für das in Leid und Schuld verstrickte Menschenwesen versteht, sieht es im Verstehen dieses Symbols die notwendige und hinreichende Bedingung für die Herrschaft der Wahrheit, der Gnade und des Friedens (Jes 54,10; vgl. Mi 4,1-4). Denn dieser Blick vermag es zu bewirken, dass diese jeweils eigene

197 In der Fachsprache gesprochen: Eine theologia crucis hat in der systematischen Besinnung auf das Wesen des Christus-Glaubens ihren Ort und ihre Funktion innerhalb und nur innerhalb einer theologia resurrectionis bzw. innerhalb einer Theologie der Mit-Teilung des Heiligenden Geistes! Wird dieser ihr Entdeckungszusammenhang nicht stets und konsequent bedacht, so führt das zu abstrakten Deutungen des christlichen Wortbekenntnisses, wie sie in Martin Luthers formativer theologischer Phase vielfach begegnen (s. u. S. 468ff.). 198 Um dieses Grundproblem anschaulich zu machen, erinnere ich an die langfristigen destruktiven Folgen des Kolonialismus und des Imperialismus der europäischen Mächte, der Vereinigten Staaten von Amerika und des japanischen Kaiserreichs sowie an die Gewaltherrschaften des Bolschewismus, des Faschismus und des Nationalsozialismus. Das aufrichtige geschichtliche Gedenken nötigt und motiviert dazu, die einzigartige Bewandtnis des Todes Jesu von Nazareth am Kreuz auf Golgatha nicht etwa nur für die individuelle Bildungs- und Entwicklungsgeschichte der Person für sich, sondern auch für die Bildungs- und Entwicklungsgeschichte kollektiver Subjekte zu bedenken.

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Einsicht tatsächlich das Selbstgefühl bzw. das Selbstbewusstsein eines Menschen unverstellt bestimmt, und zwar in der Form der heilsamen Reue.199 Heilsame Reue aber bestimmt das Selbstgefühl bzw. das Selbstbewusstsein der Person jedenfalls dann, wenn ihr das Bild des dreieinen Gottes, der sich selbst für das fehlbare und sich selbst verfehlende Menschenwesen verantwortlich macht, „in der sinnlichen Gegenwart“ erscheint.200 Ich verwende im Folgenden Hegels Begriff des göttlichen „Seins für anderes“ als kritisches Interpretament für jene herausragenden Varianten des „Wortes vom Kreuz“ (1Kor 1,18), die im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages dem Tod am Kreuz auf Golgatha einen genuinen Sinn zusprechen. Ich möchte damit angesichts der unbestreitbaren Verstehenshemmungen, die das zentrale Symbol der Christus-Gemeinschaft jedenfalls unter den kulturellen Bedingungen der euroamerikanischen Neuzeit und Moderne auslöst, mit Hilfe dieses Begriffs auf die tradierte Gestalt der Lehre vom „Wort vom Kreuz“ zurückkommen und zu ihrer behutsamen Fortbildung beitragen. Um willen dieser Intention vergegenwärtige ich meinen Leserinnen und Lesern die repräsentativen Konzeptionen Anselms von Canterbury, Martin Luthers und Georg Wilhelm Friedrich Hegels, bevor ich meine These in einem ausführlichen „Fazit“ darlege. Es ist die Absicht dieser meiner These, die quellensprachlichen Bilder, Vorstellungen und Begriffe, mit deren Hilfe das neutestamentliche Offenbarungszeugnis eine „Heilsbedeutung des Kreuzes“ zur Sprache bringt, so gut wie möglich zu interpretieren. Diese Interpretation wird kritisch sein, weil sie das Woran des ChristusGlaubens auf das Christus-Geschehen als Ganzes bezieht und die Fixierungen des christlich-frommen Selbstbewusstseins auf den Tod am Kreuz auf Golgatha als solchen aufzulösen sucht.201 Sie mündet deshalb konsequent in die Betrachtung jener 199 Vgl. hierzu den aufschlussreichen Artikel von Ralf Stroh, Art. Sühne IV. Ethisch: RGG4 7, 1847–1848; sowie Kirsten Huxel, Art. Reue: RGG4 7, 467–470. 200 Ich berufe mich auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion (wie Anm. 105), 137: „Die Idee erscheint daher in sinnlicher Unmittelbarkeit, in sinnlicher Gegenwart; denn die Form des Seins für anderes ist die unmittelbare und sinnliche Form. Gott erscheint in der sinnlichen Gegenwart; er hat keine andere Gestalt als die der sinnlichen Weise des Geistes, das ist die des einzelnen Menschen (Unterstreichung im Original gesperrt), – dies ist die einzige sinnliche Gestalt des Geistes.“ 201 Ich sehe diese Fixierung vor allem in der Lehre des Apostels Paulus von der „Heilswirklichkeit des Todes Jesu“, die sich neben manchen hellenistischen und frühjüdischen Analogien insbesondere der Metaphorik des Opferkults bedient; vgl. hierzu Michael Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft, 2011, 97–128: VI. Die Heilswirklichkeit des Todes Jesu. Diese Metaphorik ist dem Christus-Geschehen – der Aufhebung des „In-der-Sünde-Seins“ kraft der Willensgemeinschaft zwischen dem dreieinen Gott und dem geschaffenen, dem individuellen Person-Sein Jesu von Nazareth –, so wie ich es in diesem Abschnitt darlege, unangemessen und jedenfalls unter den kulturellen Bedingungen der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne dem Verstehen hinderlich. Um es klar und deutlich zu sagen: nicht der

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Willensgemeinschaft zwischen dem göttlichen Wesen und dem geschaffenen, dem individuellen Person-Sein Jesu von Nazareth, die uns erst im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages offenbar wird. Vom Symbol dieser Willensgemeinschaft als für uns geschehend gehen alle ponderablen Beiträge zur Einsicht in der christlichen Frömmigkeit und in der kirchlich-theologischen Lehre aus. Erstens: Der Tod des Sohnes Gottes als satisfactio: Anselm von Canterbury.202 Dem gelehrten Erzbischof von Canterbury kommt ganz ohne Zweifel das Verdienst zu, im Rückblick auf die mannigfachen Deutungen im Christentum der Spätantike und des frühen Mittelalters zum ersten Male eine in sich schlüssige Konzeption von Versöhnung vorgelegt zu haben. Seine Schrift „Cur Deus homo“ (1098) – ein Dialog mit dem Zweifler Boso – hat denn auch in Zustimmung und in Widerspruch die kirchliche Lehre und die theologische Diskussion seither maßgeblich geprägt. Um Anselms Anliegen gerecht zu würdigen, ist zu anerkennen, dass der Erzbischof natürlich aus der Perspektive der bewussten und gebildeten Teilhabe an der Christus-Gemeinschaft argumentiert. Sein Thema ist gleichwohl ganz dominant der Gegenstand des Christus-Glaubens, den Anselm seinem zweifelnden Gesprächspartner in seiner sachlichen Notwendigkeit einsichtig zu machen gedenkt. Anselm gedenkt sein Thema – Gottes Menschwerdung, die Inkarnation des schöpferischen Wortes in der Person des Christus Jesus und damit die Erniedrigung bis hin zum Tode am Kreuz (vgl. Phil 2,8) gemäß der Tradition der Kirchenlehre – einsichtig zu machen, indem er es in einen heilsgeschichtlichen Rahmen einzeichnet. Dieser heilsgeschichtliche Rahmen des Christus-Glaubens ist gegeben durch die göttliche Bestimmung des geschaffenen frei-willentlichen Geistes zum Höchsten Gut der ewigen Gemeinschaft mit Gott selbst, welche der unbegreifliche Fall „Adams“ und „Evas“ in den Ungehorsam und damit in die Weigerung, die einzigartige Würde Gottes zu achten und zu anerkennen, unentschuldbar und selbstzerstörerisch verletzt (vgl. Gen 3,1-25; Röm 1,19-21. Anselm orientiert sich mithin an

Tod am Kreuz auf Golgatha als solcher, sondern diese Willensgemeinschaft ist das ίλαστήριον von Röm 3,25! 202 Anselm von Canterbury, Cur Deus homo – Warum Gott Mensch geworden. Lateinisch und Deutsch. Besorgt und übersetzt von Franciscus Salesius Schmitt O.S.B., Darmstadt: WBG, 3 1970. – Vgl. zum Folgenden bes.: Ludwig Hödl, Art. Anselm von Canterbury: TRE 2, 759–778 (Lit.); Gisbert Greshake, Erlösung und Freiheit – Zur Neuinterpretation der Erlösungslehre Anselms von Canterbury: ThQ 153 (1973), 323–345; Gunther Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit, Bd. 1 (wie Anm. 196), 42–55; Ders., Versöhnung. Soteriologische Fallstudien, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015 (Studium systematischer Theologie; 9), 123–142 (Lit.). – Ich konzentriere mich im Folgenden darauf, Anselms Grundgedanken zu interpretieren, und übergehe alle Fragen, die sich auf Anselms Christologie und auf die Funktion der Lehre vom Verdienst beziehen.

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der großen Meta-Erzählung der Heiligen Schrift und der Tradition der kirchlichen Lehre, die die Phänomene des „In-der-Sünde-Seins“ als Symptome eines scheinbar unaufhebbaren Widerspruchs zu der von Gott gewollten und geschaffenen Ordnung des Geschehens der Welt auf die eschatische Vollendung hin festhält. Wer innerhalb des Dramas dieser Anschauung des menschlichen In-der-WeltSeins den Sinn und die Tragweite des Todes Jesu Christi am Kreuz auf Golgatha in seiner faktischen und gottgewollten Notwendigkeit einsichtig und glaubhaft machen will, muss eine Antwort auf die Frage finden, ob Gott – und wenn ja, in welcher Weise Gott – den faktischen Gegensatz zwischen der uranfänglichen Bestimmung des geschaffenen frei-willentlichen Geistes zum Höchsten Gut der ewigen Gemeinschaft mit Gott selbst und jenem scheinbar unaufhebbaren Widerspruch zu überwinden vermag.203 Auf diese Frage bezieht sich Anselms griffige Formel: satisfactio aut poena („Genugtuung oder Strafe“ [verstehe: ewige Verdammnis im Sinne von Mt 3,10; Röm 2,8.9])! Sie formuliert – salopp gesagt – den Gedanken eines Dilemmas zwischen der Treue Gottes zu jener uranfänglichen Bestimmung und der Würde Gottes, die das Faktum des menschlichen „In-der-Sünde-Seins“ unentschuldbar antastet. Anselm vertieft insofern die Frage, die nach dem lukanischen Evangelium der Auferstandene den trauernden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus stellt (Lk 24,26), zu der Frage: ist es für Gott möglich, der uranfänglichen Bestimmung des geschaffenen Ebenbildes zum Höchsten Gut der Gemeinschaft mit Gott selbst treu zu bleiben und gleichwohl die an sich unentschuldbare Verletzung der göttlichen Würde ernst zu nehmen und bewusst zu machen? Ist es für Gott möglich, die an sich unentschuldbare Verletzung seiner Würde zu ent-schulden? Es ist diese Frage, die nach Anselm in der Menschwerdung Gottes – in der Inkarnation des schöpferischen Wortes in der Person des Christus Jesus und damit in der Erniedrigung bis hin zum Tode am Kreuz – ihre Antwort findet (vgl. Joh 1,1-14). Inwiefern? Wird uns nach Anselm in der authentischen Lehre der Kirche Gottes Menschwerdung bis hin zum Tode am Kreuz als wesentlicher Gegenstand des ChristusGlaubens zu glauben vorgelegt, so wird uns damit das Geschehen eines einzigartigen frei-willentlichen Gehorsams (vgl. Phil. 2,8) zu verstehen vorgelegt. Dieser einzigartige frei-willentliche Gehorsam ist die satisfactio: er ist die Manifestation der Rechtheit, des rechten und d. h. des asymmetrischen Verhältnisses, wie es dem Ebenbild-Sein der geschaffenen Person zum schöpferischen Person-Sein Gottes und zu dessen Heilssinn entspricht. Wegen dieser satisfactio und kraft dieser satisfactio, die nur das göttliche Wesen selbst für uns in der Gestalt eines Menschen

203 Wie o. 1.4 gezeigt, bedeutet das Wort „Gott“ für Anselms ontologischen Gottesbegriff (nicht: Gottesbeweis) jenes notwendige unendliche und vollkommene Sein, das von endlichem bzw. von unvollkommenem Seiend-Sein unmöglich übertroffen werden kann.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

darzubringen vermag, bleibt es bei Gottes uranfänglicher Bestimmung des geschaffenen Ebenbildes zum Höchsten Gut der ewigen Gemeinschaft mit Gott selbst – auch unter den noch andauernden Bedingungen des menschlichen „In-der-SündeSeins“. In Anselms Interpretation ist es keineswegs der Tod des Sohnes des Vaters bzw. des schöpferischen Wortes am Kreuz bloß als solcher, der etwa im Sinne einer stellvertretend erlittenen Strafe heilswirksam wäre; es ist vielmehr der freiwillentliche Gehorsam des menschgewordenen schöpferischen Wortes im Sinne der Gethsemane-Erzählung (Mt 26,39), der ent-schuldet.204 Anselm dürfte sehr wohl vertraut gewesen sein mit den Lehrentscheidungen des III. Konzils von Konstantinopel (DH 550–559), die den sog. „monotheletischen“ Streit im Sinne der von Maximos dem Bekenner verfochtenen Konzeption der Einheit „zweier Willen“ zu klären suchten (s. 3.5.2.4). Fraglich bleibt aus der Perspektive der reformatorischen Bewegung allerdings, wie denn für Anselms theoretisches Begründen-Wollen dieser Gegenstand des Christus-Glaubens zum effektiven Grund des Christus-Glaubens wird. An dieser Frage entzündet sich die Wahrnehmung des Todes Jesu Christi am Kreuz auf Golgatha im Lichte einer theologia crucis. Freilich kehrt diese Wahrnehmung de facto hinter Anselms heilsgeschichtlich gemeinte Alternative satisfactio aut poena zurück, mit eminenten Folgen für die Frömmigkeitsgeschichte sowohl der lutherischen als auch der reformierten Reformation.

204 Anselm hat im Wesentlichen nur den Grundgedanken expliziert, den der Apostel Paulus in der sog. „Adam-Christus-Typologie“, insbesondere in Röm 5,18.19, geltend macht. – Nach Ludwig Hödl, Art. Anselm von Canterbury (wie Anm. 203), 775, steht in Anselms Konzeption die satisfactio als Erweis der göttlichen Barmherzigkeit beileibe nicht im Zwiespalt zur möglicherweise strafenden Gerechtigkeit; vielmehr meditiert Anselm auf der Basis von Ps 25,10; 85,11; 117,2 gerade die Einheit von Gerecht-Sein und Barmherzig-Sein: „Im Erweis der Barmherzigkeit ist Gott gerecht und wahr, und er bleibt sich gerade so treu als der wahre Gott.“ (ebd.). Die Bezugnahmen auf Anselms Konzeption in der neueren deutschsprachigen evangelischen Theologie verfehlen durchweg diese entscheidend wichtige Pointe!

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Zweitens: Christi Passion als die Erfahrung der Gottverlassenheit: Martin Luther205 Anselms Interpretation des Wortbekenntnisses des Christus-Glaubens fügt sich harmonisch ein in das Programm der fides quaerens intellectum. Womöglich lässt sie übersehen, dass sie und wie sie in den kult- und frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext der Vergegenwärtigung und der Verehrung des Kreuzes in der Epoche der mittelalterlichen Christenheit gehört. Diesem Kontext hat Ulrich Köpf einen exzellenten Artikel gewidmet, welcher die enorme Vielfalt eines Kreuz-Verstehens nachzeichnet, das dem ganz und gar unbegreiflichen Leid des menschgewordenen Sohnes Gottes des Vaters gilt.206 Im Medium der Reliquien und der Bilder, der Dichtung und der Liturgie, der Predigt und der erbaulichen Traktate sucht und findet der Christus-Glaube dieser Zeit die regelmäßige Begegnung mit dem Crucifixus selbst, dem Schmerzensmann in seiner gequälten und gemarterten Gestalt. Wie andere Sprecher der reformatorischen Bewegung war auch Martin Luther von der Kreuzes- bzw. der Passionsfrömmigkeit des lateinischen Christentums zutiefst geprägt. Wenn er in der berühmten Heidelberger Disputation von 1518 den Begriff der theologia crucis als wirkungsvollen Fanfarenstoß eines neuen theologischen Denkens zugunsten der Erfahrung des Christus-Glaubens ertönen lässt, so kommt darin das Erbe Bernhards von Clairvaux und der von diesem inspirierten Praxis der Devotio moderna unverkennbar zum Tragen.207 In seiner Gegenstellung zum Verfahren eines theologischen Denkens nach der Art der Schulen der Scholastik eignet diesem Begriff eine grundsätzliche Bedeutung, die zu diskutieren die Sache der Prinzipienlehre ist. Im programmatischen Rahmen einer theologia crucis hat Luther nun Anselms Grundgedanken auf eine kühne und – wie ich zeigen werde – hochproblematische

205 Vgl. zum Folgenden bes.: Albrecht Ritschl, De ira Dei, Bonn 1859; O. Tiililä, Das Strafleiden Christi, Helsinki 1942; Walter von Loewenich, Luthers Theologia crucis, Witten: Luther-Verlag, 6 1982; Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 1962, 177–185; Karl-Heinz zur Mühlen, Art. Kreuz V. Reformationszeit: TRE 19, 762–766; Stefan Volkmann, Der Zorn Gottes (wie Anm. 76), 77–114: Der Zorn Gottes in Luthers Theologie; Gunther Wenz, Versöhnung (wie Anm. 202), 143–162 (Lit.); Reinhard Schwarz, Martin Luther – Lehrer der christlichen Religion, Tübingen: Mohr Siebeck, 2015, 237–262; 279–287. 206 Vgl. Ulrich Köpf, Art. Kreuz IV. Mittelalter: TRE 19, 732–761 (Lit.!); man beachte auch die Bildtafeln 4–9, unter denen das „Gabelkreuz“ aus Köln (Tafel 8) herausragt! Köpf macht insbesondere auch darauf aufmerksam, dass die wissenschaftliche Theologie der Scholastik das Leid des Christus Jesus kaum bedacht habe (736); dies wurde dann das beherrschende Thema der sog. monastischen Theologie, die auf ihre Weise zur religiösen Erfahrung anleitet. 207 Der Text findet sich in: LDStA 1, 35–69. Ihr geht voraus die Disputatio contra scholasticam theologiam (Disputation gegen die scholastische Theologie) von 1517 (LDStA 1, 19–33), deren Thesen sich insbesondere mit der Gnadenlehre Gabriel Biels auseinandersetzen.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Art und Weise aktualisiert. Sie ist nachhaltig geprägt von Luthers eigener religiöser Bildungsgeschichte, in der er der einfühlsamen Seelsorge Johannes von Staupitz‘ die Befreiung von der entsetzlichen Angst verdankt, von Ewigkeit her verdammt und verworfen zu sein; denn Staupitz öffnet dem an Gottes Gnade Verzweifelnden die Augen für den Gekreuzigten, dem Bild und Inbegriff der erwählenden Barmherzigkeit Gottes. Sowohl die tiefe Krise der Angst vor Gottes vernichtendem Zorn als auch die beseligende Erfahrung der Gewissheit der unbedingten und unverbrüchlichen Gnade des dreieinen Gottes ereignet sich nach Luther in der Sphäre des Gewissens; denn in der Sphäre des Gewissens weiß sich die geschaffene, leibhafte Person nicht etwa nur auf ihre Umwelt bzw. auf ihre Welt der Koexistenz mit anderem geschaffenen, leibhaften Person-Sein bezogen, sondern auch und vor allem auf ihren schöpferischen Grund und Ursprung. Es ist die Sphäre des Gewissens, in welcher die Person mit sich vertraut ist als vom Andern ihrer selbst geachtet oder aber missachtet, anerkannt oder aber abgelehnt, als gut bejaht oder aber als böse verneint. Im Lichte seiner psychologischen Einsicht in die Grundfunktion des Gewissens im Herzensgrund der Person zeichnet Luther den Weg zur Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums nach als eine Bildungsgeschichte, in der die Erfahrung des gerechten Zornes Gottes immer wieder neu zu überwinden ist von der Erfahrung der gerecht machenden, der befreienden Liebe Gottes. Ohne stete Rücksicht auf die Grundfunktion des Gewissens im Herzensgrund der Person ist die Eigenart von Luthers theologischer Denk- und Redeweise schwerlich zu erfassen.208 Mit dem semantischen Feld „Zorn Gottes“ bezeichnet Luther demnach jenes gewissenhafte Sich-Verstehen der Person vor Gott, soweit sie sich des eigenen „Inder-Sünde-Seins“ bewusst wird. Sie wird sich ihres eigenen „In-der-Sünde-Seins“ und damit ihrer Verstrickung in das Syndrom des erlittenen und des verschuldeten Leids jedoch ausdrücklich bewusst erst in der Begegnung mit dem Wesentlichen des Gesetzes; das Wesentliche des Gesetzes nämlich sieht Luther in der Zumutung,

208 Vgl. hierzu bes.: Karl Holl, Was verstand Luther unter Religion. III. Luthers Auffassung der Religion; die Religion als Gewissensreligion, in: Ders., Ges. Aufsätze zur Kirchengeschichte I. Luther, Tübingen: Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 2–3 1923, 1–110; 35–107; Konrad Stock, Luther und die Freiheit, in: Ders., Die Gegenwart des Guten (wie Anm. 115), 109–121; vgl. Konrad Stock, STh I, 245–257. – Notger Slenczka, Problemgeschichte der Christologie, in: Elisabeth Gräb-Schmidt und Reiner Preul, Christologie (wie Anm. 128), 86–92, rekurriert auf Luthers Phänomenologie der Gewissenserfahrung in dem systematischen Interesse, das „konflikthafte Wissen um sich selbst“ (95) bzw. den „Identitätskonflikt“ (99) zum Schlüssel des Verstehens der expliziten Christologie zu machen (99–111). M. E. wird Slenczkas „Reformulierung der Tradition“ (98) allerdings weder dem Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids noch der Willensgemeinschaft zwischen dem göttlichen Wesen und dem geschaffenen, dem individuellen Person-Sein Jesu von Nazareth gerecht. – S. 3.6.

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das Leben in den privaten wie in den öffentlichen Interaktionen im radikalen Grundvertrauen des Herzens auf den unbedingten Heilssinn des dreieinen Gottes zu führen.209 In jedem Augenblick, in jedem „Sich-gegenwärtig-Sein“, in welchem die Person aufrichtig ihrer Schuld bzw. ihres Widerwillens gegen diese Zumutung inne ist, erlebt sie schon jetzt Gottes endgültigen, Gottes eschatischen Zorn, erlebt sie sich als von Gott selbst verklagt, verneint und verworfen.210 Im großen Kontext der scholastischen Debatten über Gottes gerecht machende Gnade („gratia gratum faciens“) bis hin zu Gabriel Biel ebenso wie im großen Kontext der Passions- und Kreuzes-Frömmigkeit des hohen und des späten Mittelalters lautet Luthers elementare Frage mithin: werde ich, der ich mich im Ernst und in der Aufrichtigkeit des Gewissens als von Gott verklagt, verneint und verworfen empfinden muss, gleichwohl zusammen mit allen meinesgleichen des unbedingten Heilswillens Gottes gewiss (s. 4.1)? Um Luthers Beantwortung dieser elementaren Frage mit- und nachvollziehen zu können, müssen wir konsequent das reformatorische Grundverhältnis zwischen dem Inbegriff des äußeren Wortes bzw. der äußeren Klarheit der Heiligen Schrift und dem inneren Wort bzw. der inneren Klarheit der Heiligen Schrift beachten (vgl. STh I, 604-612). Luthers Antwort auf die elementare Frage, wie ich in der Erfahrung des bösen Gewissens zusammen mit meinesgleichen dennoch des un-

209 Vgl. hierzu bes. Luthers Vorrede zum Römerbrief (WA.DB 7,2; 19ff.), sowie Luthers Auslegung des Dekalogs im „Großen Katechismus“ (BSLK 560–645 [mit dem Leitgedanken, dass das 1. Gebot „Häupt und Quellborn“ aller von Gott gegebenen Gebote sei]); zu Luthers Verständnis des göttlichen Gesetzes bzw. zur Lehre vom zweifachen Gebrauch des göttlichen Gesetzes vgl. zuletzt Reinhard Schwarz, Martin Luther – Lehrer der christlichen Religion (wie Anm. 205), 119–182 sowie bes. die Bildtafel S. 184! 210 Luther steht nicht an, die Erfahrung des bösen Gewissens als die unausweichliche Erfahrung der Hölle zu charakterisieren (vgl. den autobiographischen Text WA 1; 557f.: „Da erscheint Gott furchtbar in seinem Zorn und samt ihm in gleicher Weise die ganze Kreatur. Da gibt‘s keine Flucht, keinen Trost, weder innerlich noch äußerlich, sondern alles klagt an … In solchen Augenblicken – sonderbar zu sagen – vermag die Seele nicht zu glauben, sie könne je erlöst werden, sie fühlt bloß, dass die Strafe noch nicht aus ist … Da ist die Seele ausgespannt mit [dem gekreuzigten] Christus, so dass man all ihre Gebeine zählen kann … Wenn die Seele in ihrem augenblicklichen Sein berührt wird von der darüber hingehenden ewigen Flut, fühlt sie und trinkt sie nur ewige Strafe …“ [zit. nach Michael Kuch, Herzenssache und Gottesmut. Martin Luther und das Lebensgefühl des Glaubens, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2017, 121]; ferner WA 19; 225,28: „Ein jeglicher hat seine Hölle mit sich, wo er ist, solange er die letzten Nöte des Todes und Gottes Zorn fühlet.“ Weitere Belege bei Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers [wie Anm. 205], 157ff.). – Man übersehe nicht, dass diese Beschreibung des je gegenwärtigen Erlebens des Zornes Gottes im Gewissen jedenfalls keinen Anhalt hat an der wuchtigen Eröffnung des Briefs des Apostels Paulus an die Römer in Röm 1,18; hier kündigt der Apostel vielmehr – apokalyptischer Sicht verpflichtet – die Erfahrung bzw. das Erleiden des Zornes Gottes im Sinne des künftigen eschatischen Gerichts über „Griechen“ und „Juden“ an.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

bedingten göttlichen Heilswillens gewiss werde, appelliert zuerst und zuletzt an jene unverfügbare Evidenz des Geistes der Wahrheit, der auch den Inbegriff des äußeren Wortes bzw. der äußeren Klarheit des Offenbarungszeugnisses der Heiligen Schrift ermöglicht. Allerdings: wie die Mit-Teilung des Geistes der Wahrheit das Gedacht-, Gesprochen- und Geschrieben-Werden des äußeren Wortes und dessen äußerer Klarheit allererst ermöglicht, so provoziert sie auch die Aufgabe, die in dem äußeren Wort und dessen äußerer Klarheit intendierte Sache auf ihre angemessene Beschreibung kritisch zu prüfen.211 Im Lichte dieses prinzipientheoretischen Gedankens ist Luthers reformatorische Lehre hinsichtlich der Heilsgewissheit des Christus-Glaubens, die der Geist der Wahrheit mittels der Medien des äußeren Wortes bzw. der äußeren Klarheit der Heiligen Schrift in der Bildungs- und Entwicklungsgeschichte der Person und zuhöchst in der Feier des Gottesdienstes erweckt, wie folgt zu rekonstruieren: Zum einen: Das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift ist nach Luther notwendigerweise – und zwar im Gegensatz zu Anselm von Canterbury – dahin zu interpretieren, dass es den Leidensweg des Freudenboten aus Nazareth bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha als stellvertretend erlittene Strafe zu verstehen lehrt.212 Diese Lehre ist in Luthers Sicht der Sache selbst in höchstem Maße angemessen; denn sie vergegenwärtigt jene äußerste und schrecklichste Erfahrung des bösen Gewissens, die nicht anders denn als die Erfahrung des ewigen Zornes, der endgültigen Gottverlassenheit, der Hölle zur Sprache gebracht werden kann; und zwar als die vom Christus Jesus frei-willentlich für andere und an Stelle anderer erlittene Erfahrung.213 Diese Erfahrung ist nicht nur die notwendige Bedingung dafür, dass

211 Ich erinnere an diesen prinzipientheoretischen Grundsatz der vorliegenden Darstellung einer Systematischen Theologie, um Referaten der christlichen Lehre von Gottes versöhnendem Walten entgegenzutreten, die diesen Grundsatz unbeachtet lassen. Auch Luther selbst hat den prinzipiellen Grundsatz, dass unsere sprachliche und begriffliche Darstellung des versöhnenden Waltens Gottes notwendig und hinreichend bedingt ist durch dessen Offenbar-Werden in den Ereignissen des Dritten Tages, keineswegs konsequent beherzigt! Ebenso wenig wie die anderen führenden Sprecher der reformatorischen Bewegung – wie Jean Calvin – war er davor gefeit, das geschriebene Wort der Heiligen Schrift und dessen Auslegung in den Medien der religiösen Kommunikation mit dem offenbaren Wort des göttlichen Wesens als solchem zu identifizieren. Deshalb waren sowohl die lutherische als auch die reformierte Dogmatik des Barockzeitalters in der Lage, sich für das wissenstheoretische Prinzip der Heiligen Schrift (das Prinzip „sola scriptura“) treuherzig auf Luther bzw. auf Calvin zu berufen. 212 Vgl. hierzu folgende Quellentexte: Ein Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi (1519): WA 2; 136–142; Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben (1519): WA 2; 685ff.; Operationes in Psalmos (1521): WA 5, 598ff. (zu Psalm 22); Großer Galater-Kommentar (1535): WA 40 I; 432ff. (zu Gal 3,13); vgl. Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers (wie Anm. 205), bes. 178–183. 213 Vgl. Martin Luther, WA 5; 603,11: Der Christus Jesus hat „die Angst und das Entsetzen eines erschrockenen Gewissens, das den ewigen Zorn schmeckt, erlitten.“ Im größeren Kontext seiner Interpretation übersieht Luther natürlich nicht, dass die „Wir“ der Christus-Gemeinschaft dieses

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die religiöse Kommunikation des Evangeliums hier und heute uns andere in unserer Erfahrung unseres Gewissens ansprechen, erreichen, trösten kann; sie ist als solche eo ipso auch die poena, die dem Gerecht-Sein des göttlichen Wesens und damit dessen gerechtem Zorn über das Syndrom des erlittenen und des verschuldeten Leids in der Geschichte der Menschengattung geschuldet ist und ihm Genüge tut.214 Hatte Anselm von Canterbury die satisfactio, die der menschgewordene Sohn kraft der Rechtheit seines Wollens leistet, als die Alternative zur immerhin denkbaren, realen Möglichkeit der Strafe endgültiger Verwerfung aufgefasst, so lässt sich Luthers Lehre auf die Formel bringen: satisfactio durch stellvertretend für uns erlittene Strafe! Zum andern: Nun ist das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift nach Luther allerdings auch mit gleichem Ernst zu interpretieren als ein Bekenntnis zur Einheit des dreieinen Gottes und des geschaffenen Person-Seins Jesu Christi. Insofern formuliert die Lehre, die Jesu Christi Leidensweg zum Tod am Kreuz auf Golgatha als die in Jesu Christi Gewissen für uns alle stellvertretend erlittene Strafe ewiger Verdammnis prädiziert, noch nicht die ganze Wahrheit. Nach Luther wird die ganze Wahrheit vielmehr dann und nur dann für uns verstehbar gegenwärtig, wenn sie die Ansätze des christologischen Bekennens einschließt. Angesichts der Spitzenaussage des Evangeliums nach Johannes – „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,14) – leidet es für Luther keinen Zweifel, dass die Ansätze des christologischen Bekennens im Neuen Testament implizit und explizit bereits die Lehrentscheidungen des Konzils von Chalkedon im Jahre 451 enthalten. Sie werden vorbehaltlos akzeptiert, allerdings auch in einer ganz bestimmten Weise zugespitzt. Nach Luther wäre es eine unerträgliche Verkürzung der im überlieferten Offenbarungszeugnis intendierten Sachwahrheit des Evangeliums, wenn man den Leidensweg des Christus Jesus bis hin zum Tode am Kreuz auf Golgatha lediglich

Leid nicht anders denn als „ernsten Spiegel“ ihres eigenen Erschreckens und Entsetzens über sich selbst verstehen müssen und verstehen. 214 Vgl. Martin Luther, WA 10 I,1; 470,18: „Ob nun wohl uns wird lauter aus Gnaden unsere Sünd nicht zugerechnet von Gott, so hat er das dennoch nit wollen tun, seinem Gesetz und seiner Gerechtigkeit geschehe denn zuvor allerding und überflüssig genug (sic! K.S.). Es muß seiner Gerechtigkeit solches gnädiges Zurechnen zuvor abgekauft (sic! K.S.) und erlanget werden für uns.“. – Luther meint mit dieser Interpretation genau so wie Anselm der Aussage-Intention der „Adam-Christus-Typologie“ gerecht zu werden, die der Apostel Paulus im Brief an die Römer (5,18-19) geltend macht. Es ist jedoch ganz offensichtlich, dass Luther sich mit dieser Interpretation des Terms „Gerechtigkeit Gottes“ im Widerspruch befindet zu seiner angeblichen „Entdeckung“ der richtigen Bedeutung der „Gerechtigkeit Gottes“ im Sinne von Röm 3,21f. Diese sogenannte „iustitia passiva“ setzt für Luthers Verstehen vielmehr Gottes „iustitia activa“ voraus und schließt sie ein!

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

in einem exemplarischen Sinne verstehen würde; denn die Ereignisse des Dritten Tages provozieren nichts Geringeres als alle die ersten Schritte, die schließlich zum Bekenntnis der wesentlichen Einheit des dreieinen Gottes und des geschaffenen leibhaften Person-Seins Jesu von Nazareth führen. Folglich ist es konvenient und unvermeidlich, die von dem Christus Jesus auf seinem Leidensweg erlittene Erfahrung der Angst und der Verzweiflung des Gewissens als die Erfahrung des göttlichen Wesens für sich selbst und mit sich selbst zu prädizieren: „Wir Christen müssen das wissen: Wo Gott nicht mit in der Waage ist und das Gewichte gibt, so sinken wir mit unserer Schüssel zu Grunde. Das mein ich also: wo es nicht sollt heißen, Gott ist für uns gestorben, sondern allein ein Mensch, so sind wir verloren. Aber wenn Gottes Tod und Gott gestorben in der Waageschüssel liegt, so sinket er (verstehe: Gott) unter und wir fahren empor.“215

In Luthers denkbar einfacher und dennoch dunkler Redeweise verbirgt sich ein gewaltiges Problem: welches Wirkliche bzw. welches Verstehen des unendlichen Grundes und Ursprungs alles Endlichen bezeichnen die Termen „Gottes Tod“ und „Gott gestorben“? Deckt diese denkbar einfache und dennoch dunkle Redeweise nicht das asymmetrische Verständnis der Dreieinheit des Einzig-Einen auf, das Schleiermacher gründlich zu korrigieren aufgefordert hatte (s. 1.5.2)? Und auf welchem Wege können Interpreten diese denkbar einfache und dennoch dunkle Redeweise hier und heute verstehen und verständlich machen? Eine solide Beantwortung dieser Fragen geht von der These aus, dass die verschiedenen Jesus-Christus-Erzählungen der Evangelien und dass die Sache des Christus-Glaubens ihre Geltung haben unabhängig von dem Missverständnis, die

215 Martin Luther, Von den Konziliis und Kirchen (1539): WA 50; 489-653: 590,11ff.- Die zitierte Redeweise spielt natürlich an auf die Metapher der Waage des Gerichts, die sich bereits in der Jenseitsvorstellung des Totenbuchs aus der Zeit des Neuen Reiches Ägyptens findet. Luthers Redeweise liegt die Lehre von der „unio personalis“ bzw. der „unio hypostatica“ im Sinne des Konzils von Chalkedon zugrunde, die das Person-Sein bzw. das Subjekt-Sein des Logos, des Sohnes bzw. des Wortes, als das Subjekt bzw. als die Hypostase der Einung zwischen der Wesensnatur Gottes und der menschlichen, der geschaffenen Wesensnatur behauptet. Auch Luther lehrt vorbehaltlos, dass die Einung in der wundersamen Empfängnis durch die „Kraft des Höchsten“ geschehen sei. Womöglich geht Luther über das Symbol des Konzils von Chalkedon erheblich hinaus, wenn er die vom Christus Jesus vollbrachte „Genugtuung“ (vgl. WA 10/I/1; 121,17) mit der Erfahrung des göttlichen Zorns im Gewissen identifiziert; denn die Erfahrung des Gewissens setzt das geschaffene, das individuelle Person-Sein Jesu und keineswegs das Allgemeine der Wesensnatur des Menschen voraus. – Vgl. zum Ganzen bes. Luthers Disputation „De divinitate et humanitate Christi“: WA 39/II; 92–121. – Ich sehe im Folgenden davon ab, Luthers christologischen Grundgedanken, wie er sich in seiner Lehre von der „communicatio idiomatum“ darstellt, als die Basis dieser denkbar einfachen Redeweise zu rekonstruieren. – Vgl. hierzu u. 4.2.3.2.2.

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nicht-priesterliche „Urgeschichte“ (Gen 2,4b–3,25) beziehe sich in ihrer mythischen Form auf einen empirischen bzw. auf einen historischen Anfang des Menschengeschlechts. Im Lichte der „Kritik des Begriffs der Erbsünde“ (s. 3.3.1) ist daher auch die Sachgemäßheit der paulinischen These zu bestreiten, dass „aufgrund der Verfehlung des Einen der Tod die Herrschaft ergriffen hat durch den Einen“ (Röm 5,17 [Übersetzung Michael Wolter]), so gewiss die Angst des Todes in den Kreis der Phänomene des „In-der-Sünde-Seins“ gehört. Dann und nur dann, wenn wir die Straflogik der unausweichlichen Folge von Sündenschuld und Tod (Röm 5,12) kritisch durchschauen, gewinnen wir den klaren Blick für Jesu Christi Tod am Kreuz auf Golgatha im Sinne der Vollendung seiner Lebensgeschichte und seines Lebenszeugnisses in der Handlungs- und Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wesen (Joh 19,30).216 Luthers Deutung des Leidenswegs des Christus Jesus bis hin zum Tode am Kreuz auf Golgatha hat diese Straflogik nicht als eine hochproblematische Weise menschlicher Verstehenswahrheit durchschaut; er hat sie vielmehr zugespitzt als die einzig angemessene Darlegung der Sachwahrheit, dass Jesu Christi Leidensweg bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha ein Verhältnis des Gott gegen Gott – d. h.: der Entzweiung Gottes des Vaters und Gottes des Sohnes – offenbare. Ganz abgesehen davon, dass diese Darlegung der Sachwahrheit jedenfalls in den synoptischen Evangelien bzw. im Evangelium nach Johannes keine Stütze findet, lässt sie sich schwerlich mit der Aufgabe des symmetrischen Verstehens des dreieinen göttlichen Wesens vereinbaren, wie Schleiermacher sie gefordert hat. Um nun den christlichen Glauben an Gott den Versöhner im Ganzen des Christus-Geschehens angemessen zu entfalten, rufe ich daher erneut Anselms geklärten Begriff der satisfactio – des frei-willentlichen Gehorsams Jesu Christi gegenüber der uranfänglichen Bestimmung des geschaffenen Bildes Gottes – in Erinnerung.

216 Zu dem für die Theologie des Apostels Paulus zentralen Thema von Röm 5,12-21 vgl. jetzt Michael Wolter, Der Brief an die Römer (Teilband 1) (wie Anm. 3), z. St. Im Anschluss an die neuere exegetische Literatur zu Röm 5,12d kommentiert Wolter: „Dass der Tod als integraler Bestandteil der condicio humana seinen Grund nicht lediglich in der einen Sünde des einen Menschen Adam hat, sondern für jeden einzelnen Menschen die Unheilsfolge seines je eigenen Sündigens ist, hält Paulus in V. 12d fest.“ (344). Zwar widerlegt diese Exegese den Schriftbeweis für das Dogma der „Erbsünde“ bzw. der „Ursünde“ seit Augustin (vgl. DH 1513; CA II); aber sie zieht noch nicht den paulinischen Hintergedanken in Zweifel, welcher dem apokalyptischen Mythos verpflichtet ist. Mit der Einsicht, dass die mythische Form der nicht-priesterlichen Schöpfungserzählung es ausschließt, die erzählte Figur „Adam“ zum Typos Jesu Christi zu machen, wird die sog. „Adam-ChristusTypologie“ von Röm 5,12-21 als angemessene Deutung des Christus-Geschehens nachhaltig in Frage gestellt! Die Bibelwissenschaft darf sich vor solchen sachkritischen Urteilen nicht auf die bloße Textbeschreibung zurückziehen!

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Gleichwohl ist nicht zu übersehen: zwar lässt uns dieser Begriff der satisfactio das Christus-Geschehen als die Heilung des menschlichen Böse-sein-Könnens erleben und erkennen, aber er reicht nicht dazu hin, das Christus-Geschehen gleichursprünglich als das Symbol des erlittenen und getragenen Leids zum Leuchten zu bringen. Ob und wie das Christus-Geschehen, so wie es uns Gottes Heiligender Geist im Medium der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche zu Herzen gehen lässt, gleichursprünglich das Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids zu heilen mächtig ist: das hat die systematische Besinnung auf die Wahrheit des Christus-Glaubens nun zu zeigen. Ich gehe dafür aus von Hegels Interpretation des Ausdrucks „Tod Gottes“, die einen nach wie vor fruchtbaren Ansatz bietet für das, was wir als das Geschehen der Versöhnung verstehen dürfen. Drittens: „Gott ist gestorben, Gott selbst ist tot“: Georg Wilhelm Friedrich Hegel217 In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion kommt Hegel auf die Frage, was denn genau der Ausdruck „Tod Gottes“ bedeuten könne, im Kontext des Teils 3: „Die vollendete Religion“ zu sprechen. Er trägt in diesem Teil 3 eine philosophische und d. h. eine spekulative Interpretation des christlichen Wortbekenntnisses vor, die in der Lehre von der Versöhnung ihren Schwerpunkt hat. Sein philosophisches bzw. sein spekulatives Interesse richtet sich darauf, die Sache selbst bzw. den Gegenstand

217 Ich beziehe mich auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion (wie Anm. 105), 130–174: 4. Kapitel: Der Gottmensch und die Versöhnung (Zitat: 157). Belege sind im Folgenden im Text notiert. – Eine neue Edition dieser Vorlesungen liegt jetzt vor in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion Teil 3: Die vollendete Religion. Neu hg. von Walter Jaeschke, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1995 (PhB; 461). – Vgl. hierzu bes.: Christian Link, Hegels Wort „Gott selbst ist tot“, Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 1974 (ThSt; 114); Walter Jaeschke, Die Religionsphilosophie Hegels, Darmstadt: WBG, 1983 (EdF; 201), 69–147; Ders., Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, Stuttgart/Bad Cannstatt: frommann-holzboog, 1986 (Spekulation und Erfahrung: Abt. 2; 4), 219–360. – Die Lektüre des Textes, in dem sich das christologische Verständnis der Rede vom „Tode Gottes“ beim späten Hegel findet, ist nicht zuletzt deshalb angebracht, weil es sowohl der „Theologie des Gekreuzigten“ von Eberhard Jüngel (Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus [wie Anm. 193]) als auch der „Trinitarischen Kreuzestheologie“ von Jürgen Moltmann (Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie, München: Chr. Kaiser. 1972) wichtige Impulse gab. Vgl. ferner: Hans Küng, Menschwerdung Gottes. Eine Einführung in Hegels theologisches Denken als Prolegomena zu einer künftigen Christologie, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1970; Peter Cornehl, Die Zukunft der Versöhnung. Eschatologie und Emanzipation in der Aufklärung, bei Hegel und in der Hegelschen Schule, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1971, 126–145. – Die Frage, wie sich Hegels Theorie der Logik zu Hegels verschiedenen Entwürfen einer phänomenologischen Beschreibung des Realen verhalte, muss hier natürlich außer Betracht bleiben.

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und Grund des Christus-Glaubens begrifflich zu bestimmen und so die vorstellende religiöse Sprache zur Eindeutigkeit zu bringen. Dieses sein Interesse ist umso aktueller, als es sich kritisch gegen die von Hegel selbst einmal vertretene Ansicht stellt, der Ausdruck „Tod Gottes“ bezeichne das „Grundgefühl der neuern Zeit“.218 Hegels Antwort auf die Frage, was denn genau der Ausdruck „Tod Gottes“ zu bedeuten habe, zielt auf die Darstellung des „Reiches des Geistes“ (175–232), ebenso wie sie herkommt von der Darstellung des „Reiches des Vaters“ (32–84). Sie zielt auf jene „erneuerte Subjektivität“ (175ff.), die sich als Leben in der Liebe, als Leben einer Gemeinschaft der freien wechselseitigen Anerkennung unter der Herrschaft des staatlich gesetzten Rechts konkretisiert. Mit der inneren Struktur des christlichen Wortbekenntnisses teilt der Philosoph die Überzeugung, dass sich das Leben in der Liebe, das Leben einer Gemeinschaft der freien wechselseitigen Anerkennung dem Christus-Geschehen und letztlich nur dem Christus-Geschehen verdankt, das im Heiligen Geist und als Heiliger Geist in jeweils gegenwärtiger Gegenwart wirksam wird.219 Diese Überzeugung ist durchaus begründet; und zwar zum einen durch die Idee bzw. durch die Bestimmung Gottes als Geist (s. 1.5.3.3.1) und zum andern durch die „Idee in der Erscheinung“, „wie die ewige Idee für die unmittelbare Gewißheit des Menschen geworden, d. h. wie sie erschienen ist“ (174). Was heißt das? Hegels philosophische bzw. spekulative Interpretation des christlichen Wortbekenntnisses geht offensichtlich davon aus, dass das freie „Sich-gegenwärtig-Sein“ des menschlichen Person-Seins das geschaffene Ebenbild des göttlichen PersonSeins und folgerichtig dessen „Bestimmung“ (130) sei. Dieser Bestimmung scheint nun allerdings die Selbst- und Welterfahrung zu widersprechen, die im „natürlichen Willen“ und d. h. im „Bösen“ und im „Wollen der Einzelheit“ (130) das allgemeine Faktum der Entzweiung von jener Bestimmung sehen muss, die mit dem freien „Sich-gegenwärtig-Sein“ unwiderruflich gewährt ist. Angesichts dieses unbestreitbaren Faktums ist es für Hegel „der schönste Punkt der christlichen Religion“ (134) in der Geschichte der bestimmten Religionen, ihren Grund in jener Wirklichkeit zu haben, die nichts Geringeres ist als die „Wirklichkeit der Versöhnung“ (130–142).

218 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Glauben und Wissen, in: Ges. Werke, Bd. 4: Jenaer kritische Schriften, hg. von Hartmut Buchner und Otto Pöggeler, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1968, 413f. – Vgl. hierzu Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt (wie Anm. 193), 83–132: Hegels Vermittlung des atheistisch-neuzeitlichen Gefühls mit der christologischen Wahrheit vom Tode Gottes. 219 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen (wie Anm. 105), 180: „Der Geist ist … das subjektiv Gegenwärtige und Wirkliche, das selbst so subjektiv gegenwärtig eben als die Entäußerung in jene gegenständliche Anschauung der Liebe und ihres unendlichen Schmerzes nur durch diese Vermittlung [ist]. Dies [ist] der Geist Gottes oder Gott als gegenwärtiger, wirklicher Geist, Gott in seiner Gemeinde wohnend.“

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Mit dem Ausdruck „Tod Gottes“ wird mithin ein Aspekt der „Wirklichkeit der Versöhnung“ bezeichnet, und zwar ein wesentlicher Aspekt: nämlich ein „Moment der göttlichen Idee“ (157). Wesentlich ist dieser Aspekt des Christus-Geschehens als der „Wirklichkeit der Versöhnung“ für Hegel aus zwei Gründen. Beide Gründe haben ihrerseits ihren Grund darin, dass die in den mehrfach erzählten Jesus-Geschichten der Evangelien bezeugte „Lehre Christi“ vom Reiche Gottes der „zum Mittelpunkt gemachten Liebe“ (142–155; 146) keineswegs die Lehre eines „einzelnen Individuums“ (156) bloß als solchen ist; sie ist vielmehr die Lehre dessen, in welchem „Gott im Fleisch auf der Welt erschien“ (141), weil anders es uns Menschen allen nicht zur Gewissheit werden kann, was unsere Bestimmung ist.220 Zum einen: Wenn es wahr ist – und es ist für Hegel wahr –, dass die „Wirklichkeit der Versöhnung“ für uns „die Form unmittelbarer sinnlicher Anschauung“ (141) annehmen muss, dann schließt sie just die „höchste Endlichkeit“ (157) des Todes ein. An der Tatsache des Todes des Christus Jesus wird anschaulich gegenwärtig, dass Gott als Geist uns nur auf abstrakte Weise bewusst wäre, wenn er im reinen Gegensatz zum Inbegriff des endlichen Geistes zu bestimmen wäre; an der Tatsache des Todes des Christus Jesus wird vielmehr anschaulich gegenwärtig, dass Gott als Geist des Geistes „Anderswerden“ (157) umfasst: die Annahme des Endlichen und damit die Annahme dessen höchster „Schranke“ (157). Darauf bezieht sich Hegels ergreifender Gedanke: „Das zeitliche, vollkommene Dasein der göttlichen Idee in der Gegenwart wird nur in Christi Tode angeschaut. Die höchste Entäußerung der göttlichen Idee: ‚Gott ist gestorben, Gott selbst ist tot‘ ist eine ungeheure, fürchterliche Vorstellung, die vor die Vorstellung den tiefsten Abgrund der Entzweiung bringt.“ (157f.).

Zum andern aber ist in Jesu Christi Tod „die höchste Liebe“ bzw. die „absolute Liebe“ (158) offenbar; denn unter dem Begriff der Liebe ist nach Hegel jenes EinsSein bzw. jene „Vereinigung“ (158) zu verstehen, die nicht anders zustande kommt und die nicht anders bestehen bleibt als in dem „Aufgeben“ (158) bzw. in dem „Aufheben“ (159) des bloß individuellen bzw. des bloß natürlichen Wollens. Der Tod des Christus Jesus macht für uns – und d. h.: für unser Vorstellen – das unendliche Liebe-Sein des Geistes offenbar (160). Klarer und deutlicher als in den Vorlesungen 220 Auf diesen Zusammenhang kommt es in Hegels grandiosem Kommentar zur Bergpredigt nach Mt 5,3ff. an: „Solche Worte sind vom Größesten, was je ausgesprochen ist, sie sind ein letzter Mittelpunkt, der allen Aberglauben, alle Unfreiheit des Menschen aufhebt. Es ist unendlich wichtig, daß dem Volke durch die Lutherische Bibelübersetzung ein Volksbuch in die Hand gegeben ist, worin sich das Gemüt, der Geist auf die höchste, unendliche Weise zurechtfinden kann …“ (144).

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über die Philosophie der Religion hat Hegel in den Vorlesungen über die Ästhetik das „wahrhafte Wesen der Liebe“ dahingehend definiert: „Das wahrhafte Wesen der Liebe besteht darin, das Bewußtsein seiner selbst aufzugeben, sich in einem anderen Selbst zu vergessen, doch in diesem Vergehen und Vergessen sich erst selber zu haben und zu besitzen.“221

Hegel kommt damit ganz sachgemäß sowohl auf die „Adam-Christus-Typologie“ des Apostels Paulus als auch auf Anselms und auf Luthers Grundgedanken zurück, wenn er just darin die „Genugtuung für uns“ (160) erkennt, welche der ein für alle Mal gelegte Grund unserer „Umkehrung“ bzw. unseres „Aufgeben(s) des natürlichen Willens, Interesses“ (160) ist. Gleichzeitig revidiert er das Grundanliegen der reformatorischen theologia crucis in zweifacher Hinsicht: Zum einen achtet Hegel mit dem größten Nachdruck auf die Tatsache, dass der Tod des Christus Jesus „auch noch der Tod eines Missetäters, der entehrendste Tod am Kreuz“ ist (161; Kursivierung im Original gesperrt). Er ist als solcher das Symptom einer ungeheuerlichen Anmaßung der politischen Gewalt, über die „innere Gesinnung“ (162) der Person zu richten und ein System der Willkür und der Unfreiheit zu etablieren. Indem jedoch der Tod des Christus Jesus uns als die göttliche Annahme der Endlichkeit erscheint, verstehen wir ihn als den unmittelbaren „Ausdruck der vollkommenen Revolution gegen das Bestehende, in der Meinung Geltende“ (161); denn sie – die göttliche Annahme der Endlichkeit, die „das für das Niedrigste Geltende zum Höchsten“ macht (161) – schließt das Gebot einer Interaktionsordnung des Sozialen ein, die die „erneuerte Subjektivität“ des Lebens in der Liebe bzw. in der wechselseitigen Anerkennung unter der Herrschaft des Rechts möglich macht.222

221 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Teil II, (wie Anm. 118), 155; vgl. zu Hegels dialektischem Begriff der Liebe Konrad Stock, Gottes wahre Liebe. Theologische Phänomenologie der Liebe, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 2000, 56–62. 222 Vgl. bes. 161f.: „[Das] Kreuz entspricht unserm Galgen. Wenn dies Symbol der Entehrung zum Panier erhoben, zur Kokarde gemacht ist, und zwar zum Panier, dessen positiver Inhalt zugleich das Reich Gottes ist, so ist (das Gegenteil) die innere Gesinnung in ihrem tiefsten Grunde dem Staatsleben und bürgerlichen Sein entzogen und die substanzielle Grundlage desselben hinweggenommen.“ Hegel spielt mit diesem Gedanken unverkennbar an auf die französische Revolution, deren Terror er alsbald aufs Schärfste kritisiert hatte. Ihr setzt er die nicht zuletzt auch religionsgeschichtlich begründete Überzeugung entgegen, dass das Christentum die Religion der Freiheit sei. – Anders als Eberhard Jüngel hat sich Jürgen Moltmann, Der gekreuzigte Gott (wie Anm. 271), 301–305, von diesem Aspekt der philosophischen bzw. der spekulativen Interpretation des christlichen Wortbekenntnisses zum Gedanken einer Politischen Kreuzestheologie anregen lassen, deren Bild legitimer Herrschaft auf der Basis der Teilung der Gewalten freilich undeutlich und im Ganzen seines Werkes letztlich unausgeführt bleibt.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Zum andern aber stellt Hegel klar, dass alle die Aspekte der „Wirklichkeit der Versöhnung“, wie sie bis hierher zu betrachten waren, sich letzten Endes den Ereignissen des Dritten Tages verdanken; denn sie – die „angeschaute Vollendung“ (163), wie sie als „Auferstehung“ und als „Himmelfahrt“ besprochen wird – gibt schließlich und endlich der Gewissheit Grund, dass dieser schmachvolle und entehrende Tod des Christus Jesus am Kreuz der „Tod des Todes“ (163) ist: „Aber es ist noch der Schluß des ganzen Verlaufes zu betrachten. Es ist im Tode vollbracht, daß die göttliche Idee sich entäußert hat bis zum bittern Schmerz des Todes und der Schmach des Missetäters und daß ebendamit die Endlichkeit des Menschen zum Höchsten verklärt ist [durch] die höchste Liebe.“ (162f.).

Verstehe ich es recht, will Hegel sagen: Indem wir in dem Lichte der Ereignisse des Dritten Tages den Tod des Christus Jesus am Kreuz auf Golgatha als Gottes Tod für uns verstehen, sind wir sowohl vom Vorurteil des Atheismus der euroamerikanischen Neuzeit und Moderne als auch von den politischen Gewaltansprüchen auf das Gewissen der Person befreit. In ihnen wird uns nämlich evident, dass alles wahre Gottesbewusstsein und alle wahre Gottesverehrung jenem wahrhaft unendlichen Geiste gilt, der die „allgemeine, an und für sich seiende Geschichte ist“ (161). Er ist von sich selbst her – nämlich als dreieiner Gott – jenes Kontinuum, in welchem er das Negative – das menschliche Sein zum Tode, das sich in den Symptomen des „In-der-Sünde-Seins“ mehr oder weniger gewaltsam äußert – in einem individuellen Menschen an sich selbst erträgt; und indem er es an sich selbst erträgt, wird er uns verständlich als das „Negative des Negativen“ (163). Er wird uns verständlich als die Macht, das Negative zu überwinden durch die Annahme des Negativen. Wahres Gottesbewusstsein und wahre Gottesverehrung gilt dem wahrhaft unendlichen Geist, der das Negative an sich selbst erleidet. Hegels philosophische bzw. spekulative Interpretation des christlichen Wortbekenntnisses gibt diesem eine dialektische Tiefenschärfe, die in der bisherigen Geschichte der kirchlich-theologischen Versöhnungslehre ohne Beispiel ist.223 223 Der „Bericht“, den Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt (wie Anm. 193), von „Hegels Vermittlung des atheistisch-neuzeitlichen Gefühls mit der christologischen Wahrheit vom Tode Gottes“ gibt, kommt zu dem unsachlichen Urteil: „Daß Gott in Jesus Christus Mensch wurde, um Gott und Mensch für immer definitiv zu unterscheiden (was heißt das? K.S.) – dieser fundamentale soteriologische Aspekt wird von Hegel gerade nicht zur Geltung gebracht, sondern in sein Gegenteil verkehrt. Hegels Gott braucht den Menschen, der eben dadurch selber göttlich wird.“ (124). Dieses Urteil ist vor allem deshalb unsachlich, weil es dem erklärten Ziel von Hegels philosophischer bzw. spekulativer Interpretation des christlichen Wortbekenntnisses – der Lehre vom „Reich des Geistes“ und damit von der „erneuerten Subjektivität“ im Christus-Glauben der Gemeinde – keinerlei Beachtung schenkt. Im Übrigen ist diese Lehre vom „Reich des Geistes“ auch nicht das Thema dieser „Theologie des Gekreuzigten“. – Allerdings ist die Kritik an Hegels philosophischer bzw.

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Im Unterschied zu Anselms Deutung des Todes Jesu Christi am Kreuz auf Golgatha als satisfactio, im Unterschied zu Luthers Deutung der Passion Jesu Christi als Erfahrung der Gottverlassenheit im Gewissen gibt Hegels philosophische bzw. spekulative Interpretation dem Satz „Gott selbst ist tot“ die Bedeutung des „Negative(n) des Negativen“. Es ist ihr Ziel, das Geschehen der Versöhnung nicht etwa nur auf das Verhältnis des endlichen Geistes zum unendlichen Geist zu konzentrieren; vielmehr will sie beschreiben, wie das Verstehen dieses Todes im „Geist der Gemeinde“ sich kommunikativ und sozio-kulturell konkretisiert in einer Atmosphäre des Verzeihens. Wie Klaus-Michael Kodalle zeigt, schließt Hegels Theorie der Versöhnung die lebenspraktische Intention ein, die Herrschaft des Rechts im Staat auch auf die Situation der „Opfer“ eines „Täters“ zu beziehen. Ihr Leid ist mit einer Rechtsstrafe nicht erledigt; es bleibt vielmehr als ein geschehenes in der Erinnerung präsent. Kann der „Geist der Gemeinde“ es ungeschehen machen, so doch nur, indem es als geschehenes geachtet und nur als das geachtete Geschehen auch verziehen werden kann.224 Wie ich im folgenden Kapitel über den „christlichen Glauben an Gott den Vollender“ zeigen werde, gibt diese Konkretion von Hegels philosophischer bzw. spekulativer Theorie der Versöhnung den Blick frei für eine Sicht des eschatischen Geschehens, die sich von den Aporien des eschatologischen Duals befreit (s. 4.5.4.2). Zu dieser Sicht ist Hegels Interpretation des Satzes „Gott selbst ist tot“ allerdings noch nicht vorgedrungen; und zwar wohl deshalb nicht, weil Hegel das Geschehen der Versöhnung – die Aufhebung des Negativen als Negatives – im Reich der Freiheit unter der Herrschaft des staatlich gesetzten Rechts schon als in seiner Vollendung begriffen glaubte. Viertens: „Denn ich bin Gott und nicht ein Mensch“ (Hos 11,9): Ein Fazit225 Ich habe meine Leserinnen und Leser mit drei gewichtigen Konzeptionen vertraut gemacht, die das scheinbar paradoxe neutestamentliche Zeugnis von der heilsamen und heilenden Kraft erklären wollen, die dem Verstehen des Todes Jesu

spekulativer Interpretation der „Vorstellung“ des Todes Jesu Christi als des „Todes Gottes“ ernst zu nehmen, die Wolfhart Pannenberg, STh II, 481, übt: „Hegel hat die sorgfältigen Unterscheidungen der orthodoxen Christologie zwischen göttlicher und menschlicher Natur in der Einheit der Person Christi vernachlässigt, indem er ohne solche Differenzierung vom Tod Christi als dem Tod Gottes selbst sprach.“ 224 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Annäherungen an eine Theorie des Verzeihens, Mainz/Stuttgart: Akademie der Wissenschaften und der Literatur/Franz Steiner Verlag, 2006 (Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse; 2006/8). 225 Wir dürfen freilich nicht übersehen, dass es ein Mensch ist, der da von Gott sagt und behauptet: „Denn ich bin Gott und nicht ein Mensch“! – Vgl. zum Folgenden bes. Paul Tillich, STh II, 186–189: Prinzipien für eine künftige Lehre von der Versöhnung, sowie Dietrich Korsch, Art. Versöhnung III. Theologiegeschichtlich und dogmatisch: TRE 35, 22–40.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Christi am Kreuz auf Golgatha im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages eignet. Sie kommen – grundlegend für den Christus-Glauben in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) – in der Erkenntnis überein, dass das Verstehen des Sinnes dieses Todes das Leben in der Gewissheit des Friedens mit Gott stiftet (vgl. Röm 5,1); und sie ermutigen uns dazu, stets auf die kommunikativen bzw. auf die sozio-kulturellen Rahmenbedingungen bedacht zu sein, unter denen wir in unserer je eigenen Gegenwart das Leben in der Gewissheit des Friedens mit Gott menschlich möglich machen können. Das folgende Kapitel 4: „Der christliche Glaube an Gott den Vollender“ wird diese kommunikativen bzw. diese sozio-kulturellen Rahmenbedingungen so genau wie möglich erörtern. Bevor ich nunmehr dazu übergehe, den christlichen Glauben an Gott den Versöhner im Blick auf Jesu Christi Eines-Sein mit Gott selbst zu betrachten, sei meine bisherige Darstellung pointiert zusammengefasst. Meine Zusammenfassung geht davon aus, dass das Wort bzw. das spachliche Zeichen „Gott“ als das Begriffswort bzw. als das Begriffszeichen für jenes schlechthin notwendige Sein zu verstehen sei, das als solches sich selbst schlechthin gegenwärtig ist als Sein-für-Anderes und d. h.: als In-Gemeinschaft-sein-Wollen. Insofern bedeutet das Begriffswort bzw. das Begriffszeichen „Gott“ einen vernünftigen Begriff, was sich auch daran erweist, dass Gottes Sein bzw. Gottes Existenz nicht im numerischen Sinne der Zahl „Eins“ bzw. der Zahl „Drei“ zu denken ist. Dass Gottes Sein im Sinne des schlechthin notwendigen Seins-für-Anderes bzw. als Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen zu begreifen ist, ist natürlich nicht das Ziel eines Beweisverfahrens, das eine allgemeine Zustimmung auf dem Wege des beweisenden Wissens erstrebt. Ad 1: Als der Erkenntnis- bzw. als der Verstehensgrund des christlichen Wortbekenntnisses kommen allein die Ereignisse des Dritten Tages in Betracht; denn sie erschließen ihren Empfängern kraft der Mit-Teilung des Heiligenden Geistes der Wahrheit Sinn und Bedeutung des Leidensweges Jesu Christi zum Tod am Kreuz auf Golgatha. Werden ihnen in den verschiedenen Situationen der Erschließung „ihre Augen geöffnet“ (Lk 24,31), so kommunizieren sie in diesem Licht ein Gottesbewusstsein bzw. eine Gottesgewissheit, die mit Hilfe der verschiedenen Hoheitstitel die einzigartige Gemeinschaft zwischen Jesu im Tod am Kreuz auf Golgatha vollendetem Lebenszeugnis und dem unbedingten Heilssinn des göttlichen Wesens selbst zur Sprache bringt. Die „Öffnung“ unserer Augen setzt allerdings voraus, dass unsere Selbst- und Welterfahrung von unserem je eigenen und je besonderen Verstrickt-Sein in das Syndrom des erlittenen und des verschuldeten Leids zutiefst angerührt und zutiefst erschüttert ist; sie setzt das Fühlen des je eigenen

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und je besonderen Entfremdet-Seins voraus, das uns des Trostes der Versöhnung im wahrsten Sinn des Wortes bedürftig macht.226 Erschließt sich in den Ereignissen des Dritten Tages die einzigartige Gemeinschaft zwischen Jesu im Tod am Kreuz vollendetem Lebenszeugnis und dem unbedingten Heilssinn des göttlichen Wesens selbst, so ist es für das christlich-fromme Nachdenken jedenfalls konvenient und letzten Endes unvermeidlich, die Frage nach der Form und damit nach dem inspirierenden Subjekt dieser Gemeinschaft aufzuwerfen. Diese Frage findet ihre zureichende und befriedigende Antwort dann und nur dann, wenn das inspirierende Subjekt des Christus-Geschehens als das dreieine göttliche Wesen selbst angesprochen wird (s. 3.5.2.4).227 Ereignet sich in unserer Lebensgeschichte Versöhnung, so ereignet sie sich im Kontinuum des Waltens Gottes des schöpferischen Geistes; und sie bestimmt uns in der zuversichtlichen Hoffnung auf Vollendung jenseits des Todes und durch den Tod hindurch, die wir dem Walten des Heiligenden Geistes Gottes verdanken (s. 4.5.1). Ad 2: Ist der Christus-Glaube die Lebensgeschichte eines Menschen in der Gewissheit des Friedens mit Gott (Röm 5,1), so ist in dieser Gewissheit die aufrichtige Erinnerung an das je eigene und je besondere Verstrickt-Sein in die Leid- und Schuldgeschichte des Menschengeschlechts unbewusst, stillschweigend oder höchst akut präsent. Es ist erst recht auf seine kategorial eigene Weise dem Wissen und Gedenken des göttlichen Wesens selbst bewusst als eklatanter Widerspruch gegen den Plan, gegen das Kontinuum des göttlichen Waltens auf den eschatischen Frieden bzw. auf die eschatische Freude der vollendeten Gemeinschaft Gottes und des Menschen, auf das vollendende Herrschen des dreieinen Gottes hin (vgl. Eph 1,9-10). Dieser Widerspruch – dieses je eigene und je besondere Verstrickt-Sein in Leid und Bosheit jeder Art – ist überhaupt nicht als vergangen, geschweige denn als ungeschehen zu denken, wie das Erinnern an die furchtbaren Verbrechen in der Geschichte der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne unschwer illustriert.

226 Sie setzt mithin die „religiöse Ausbildung moralischer Subjektivität“ (Dietrich Korsch, Art. Versöhnung III [wie Anm. 225], 36) voraus, die ihrerseits ein essential der Wirkungsgeschichte des Christentums ist. Solche „religiöse Ausbildung moralischer Subjektivität“ vertieft sich in dem Maße, in dem wir in der jeweiligen Gegenwart des erlittenen Leids gewärtig sind und uns auf unserer je individuelle Weise im Kampf gegen das hier und jetzt zu erleidende Leid befinden. 227 In ihren Erzählungen von der „Verklärung Jesu“ deuten die synoptischen Evangelien die Antwort auf die Frage nach der Form und damit nach dem Subjekt des Christus-Geschehens an mit der Stimme aus der Wolke: „Das ist mein lieber Sohn; den sollt ihr hören!“ (Mk 9,7; vgl. Mt 17,5; Lk 9,35). Allerdings befinden sich sowohl dieses Bekenntnis als auch die übrigen Hoheitstitel des neutestamentlichen Offenbarungszeugnisses noch nicht auf dem Niveau des „trinitarischen Monotheismus“, wie ihn die Symbole der Konzilien von Nicaea und Konstantinopel bzw. von Chalkedon formulierten. Innerhalb des Neuen Testaments ist wohl das Evangelium nach Johannes der Erkenntnis des inspirierenden Subjekts des Christus-Geschehens am nächsten gekommen.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Aus diesem Grunde hat bereits das Offenbarungszeugnis des Tanakh der jüdischen JHWH-Gemeinschaft – beginnend mit der strikten Unheilsprophetie Hoseas und Amos’ – auf immer wieder tief erschreckende Weise im Horizont der Idee konnektiver Gerechtigkeit von JHWHs Zorn, Gericht und Strafe gesprochen. Nicht nur die heilsprophetische Rahmung des Kanons der „Hinteren Propheten“ schließt das Bewusstsein der gerechten Vergeltung ein; auch und gerade die apokalyptische Literatur lebt der sicheren Erwartung, dass der kommende Tag JHWHs endgültig den gerechten und d. h. den vernichtenden Zorn des göttlichen Wesens über alle menschliche Ungerechtigkeit offenbaren werde. Diese Erwartung vermag sich das eschatische Heil des Friedens bzw. des endgültigen Herrschens JHWHs in JHWHs Volk und in der Welt der Völker nur vorzustellen durch die endgültige Vernichtung der Subjekte, die unerträglich Böses zu verantworten haben (vgl. Sach 14,3-21; AssMos 10,1-10; Mt 3,7.10.11.12; Lk 3,7.9.16.17).228 Luther hatte die Darstellung des Weges des Christus Jesus zum Tod am Kreuz auf Golgatha, wie sie die Evangelien mit ihrem Schwerpunkt in ihren PassionsErzählungen bieten, als Darstellung eines innerlichen bzw. eines selbstbewussten Erlebens interpretiert. Er sieht in dieser Darstellung mitgeteilt die ausweglose Erfahrung des bösen Gewissens, das Gottes vernichtenden Zorn in letzter Tiefe erleidet. Wird uns in unserer jeweils jetzigen Gegenwart diese Darstellung durch Gottes Geist als inneres Wort bzw. als innere Klarheit der Heiligen Schrift erschlossen, so dürfen wir das Dargestellte – nämlich des Christus Jesus selbst erlebte und erlittene Gottverlassenheit des bösen Gewissens – nach Luthers Überzeugung als an unserer Stelle und als für uns geschehen verstehen und uns aus diesem Grunde der Gnade, der Liebe bzw. der Barmherzigkeit Gottes des Vaters getrösten und erfreuen. Wo immer und wann immer Gottes Heiligender Geist diese Darstellung für unser frommes Selbstbewusstsein verifiziert, entsteht just aus der „Betrachtung des heiligen Leidens Christi“ die Freiheit des Gewissens, die für Luther das essential des Christus-Glaubens ist. Sie ist in ihrem harten Kern nichts Geringeres als je und je erfahrene Befreiung von der Angst des bösen Gewissens.

228 Von dieser Sicherheit zehrt noch die theologische Konzeption des Apostels Paulus im Brief an die Römer (vgl. bes. Röm 1,18; 5,9 u. ö.), die angesichts der Ablehnung des Evangeliums seitens des Judentums der Zeit folgerichtig in des Apostels „große Traurigkeit“ (Röm 9,2) und dennoch in die Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit (Röm 11,25-32) mündet! – Zur vielschichtigen paränetischen Verwendungsweise der Gerichtserwartung im corpus Paulinum vgl. Michael Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie (wie Anm. 201), 217–223. – Die sachkritische Interpretation dieser Konzeption muss sinnvollerweise geltend machen, dass kein Seiendes und insbesondere kein geschaffenes Person-Sein aus der für sein schieres Dasein konstitutiven schöpferischen Relation des Grundes und des Ursprungs zu ihm jemals ausgeschieden – d. h. „vernichtet“ – wird! Über die mannigfachen Vorstellungen über einen Tun-Ergehens-Zusammenhang und über ein eschatisches Gericht in der Geschichte der Religionskulturen unterrichtet in Kürze Rainer Neu, Art. Vergeltung I. Religionsgeschichtlich: RGG4 8, 997–999.

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Es ist mit Händen zu greifen, dass Luthers Konzeption eines stellvertretenden Strafleidens des Christus Jesus ihre plausible Geltung hat im Rahmen der Idee der „Gerechtigkeit als Weltordnung“.229 Sehe ich recht, so verstehen jedenfalls die altorientalischen Religionskulturen die Weltordnung der Gerechtigkeit im Sinne der Moralität, wie sie der Hegel der „Philosophie des Rechts“ erläutert hatte.230 Diese Konzeption des Gerechten orientiert und begleitet auch die Geschichte der jüdischen JHWH-Gemeinschaft, wie dies die jahrhundertelange Arbeit an der Komposition des Tanakh bis hin zu dessen relativer Endgestalt bezeugt. Innerhalb dieser Komposition können wir allerdings zwei Perspektiven bzw. zwei Schwerpunkte erkennen, die angesichts der Erfahrungen des Ungerechten bzw. des Chaotischen und des Gewaltsamen in der Geschichte in spannungsreich verschiedener Weise darum ringen, das Walten JHWHs zu verstehen, das letztlich einzig und allein das Ungerechte, das Chaotische, das Gewaltsame in der Geschichte zu bannen und zu überwinden vermag. Während die Theologie der Priesterschrift dies Walten JHWHs auf die Ordnung des Kults im Heiligtum des Tempels zu Jerusalem konzentriert, schärft die Theologie der deuteronomistischen Schule die gewissenhafte Treue zur Tora des Pentateuch ein, die in der Offenbarung des göttlichen Wollens für Mose am Sinai ihre Quelle hat. Beide Perspektiven kommen darin überein, dass sie das Bannen bzw. das Überwinden des Ungerechten, des Chaotischen und des Gewaltsamen in der Geschichte von demjenigen Walten JHWHs erwarten, das im Sinne von Jer 31,31ff. bzw. von Ez 36,26f. „ein neues Herz und einen neuen Geist“ zu geben weiß. Diese prophetische Hoffnung auf dies Walten JHWHs erklärt zwar nicht das Ungerechte, das Chaotische, das Gewaltsame in der Geschichte für gleichgültig; aber sie richtet sich auf ein Durchbrechen jener Straflogik, die mit der Idee der „Gerechtigkeit als Weltordnung“ nun einmal verbunden ist. Für das erhoffte Durchbrechen der Straflogik ersinnt der Tanakh der jüdischen JHWH-Gemeinschaft insbesondere die Vorstellung der Reue JHWHs, kraft derer JHWH sich selbst zur Verschonung und

229 Vgl. hierzu die seinerzeit aufregende Untersuchung von Hans Heinrich Schmid, Gerechtigkeit als Weltordnung, Tübingen: Mohr Siebeck, 1968 (BHTh; 40). – Wenn Luthers Konzeption des stellvertretenden Strafleidens des Christus Jesus auf dem Weg zum Tod am Kreuz auf Golgatha im Lichte der Idee der „Gerechtigkeit als Weltordnung“ – hier repräsentiert durch das Wesentliche des Gesetzes – zu lesen ist, hat das erhebliche Konsequenzen für die kritische Interpretation der reformatorischen Entdeckung der „Gerechtigkeit Gottes“ als „passiver Gerechtigkeit“ im Sinne von Röm 3,21-28! Denn die „Gerechtigkeit Gottes“, die im Sinne der „passiven Gerechtigkeit“ durch die Gabe der Gewissheit des Christus-Glaubens Ungerechte „gerecht macht“, wird von Luther offensichtlich und konsequent bezogen auf jene „Gerechtigkeit Gottes“, die als „aktive Gerechtigkeit“ Ungerechte ihre Ungerechtigkeit erleben und erleiden lässt. 230 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (wie Anm. 51), Zweiter Teil: Die Moralität (101–141).

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

zur Erneuerung des In-Gemeinschaft-sein-Wollens bestimmt.231 In welcher Weise die erhoffte Gabe des „neuen Herzens“ und des „neuen Geistes“ sich ereignen wird, bleibt im 1. Teil des Kanons der Heiligen Schrift allerdings ungesagt. Im Licht der Komposition des Tanakh der jüdischen JHWH-Gemeinschaft in ihrer relativen Endgestalt ist nicht zu sehen, dass Luthers Konzeption des stellvertretenden Strafleidens des Christus Jesus das neutestamentliche Zeugnis für Gottes versöhnendes Walten angemessen erschließt. Ihre Begründung, die sich vor allem auf die synoptischen Passionserzählungen beruft, hält der Kritik nicht stand. Es ist daher zu fragen, was genau wir meinen, wenn wir das Lebenszeugnis Jesu von Nazareth, das nach dem Evangelium nach Johannes im Tod am Kreuz vollendet ist (Joh 19,30), mit Hilfe des paulinischen Begriffs der Versöhnung uns nahebringen. Um diese Frage zu beantworten, greife ich auf Hegels philosophische bzw. spekulative Interpretation des christlichen Wortbekenntnisses zurück. Sie eliminiert nicht die Idee der „Gerechtigkeit als Weltordnung“; wohl aber regt sie dazu an, die Überwindung des je eigenen und je besonderen Verstrickt-Seins ins Syndrom des erlittenen und des verschuldeten Leids als das Geschehen eines göttlichen Erleidens zu verstehen. Der Ausdruck „göttliches Erleiden“ hat einen nicht-metaphorischen Kern, den wir durch den Rekurs auf den Begriff des wahrhaft Unendlichen plausibel machen können. Indem wir Gottes Wesen mit Hilfe des Begriffs des wahrhaft Unendlichen verstehen, verstehen wir es als das Wesen, welches das All des Seienden mit großer Geduld erträgt (vgl. Röm 3,26; 9,22). Ich expliziere dieses Gott-Verstehen durch die Erinnerung an die Lehre von Gottes dreieinem Person-Sein (s. 1.5.3.3), die ja nichts anderes sein will als der Versuch, angemessen von Gottes Selbst-Sein zu sprechen.232 Ad 3: Die christliche Lehre von Gottes dreieinem Person-Sein entfaltet den „trinitarischen Monotheismus“ (Christoph Schwöbel) des Christus-Glaubens. Sie intendiert durchaus die Einzigkeit des Einen. Entwickelt aus dem Lernprozess der Reflexion auf die Ereignisse des Dritten Tages sieht sie es freilich als notwendig an, die Einzigkeit des Einen im Sinn der differenzierten Einheit dreier gleichwesentli-

231 Vgl. hierzu bes. Jörg Jeremias, Die Reue Gottes, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 2 1997. Besonders ergreifend bringt die heilsprophetische Rahmung des Buches Hosea die „Reue“ JHWHs zur Sprache, wenn sie das Durchbrechen der Straflogik als eine Affektumkehr im Selbst JHWHs vorstellt (Hos 11,8.9). – Im Folgenden stellt sich die Aufgabe, diese Metapher hinsichtlich ihres nicht-metaphorischen Kerns verständlich zu machen. 232 Vgl. zum Folgenden auch Paul Tillich, STh II, 186ff. Tillichs „Prinzipien für eine künftige Lehre von der Versöhnung“ gehen von dem Grundsatz aus: „Versöhnung ist ein Werk Gottes und Gottes allein. Damit ist zugleich ausgesagt, daß Gott – wenn er die Schuld, die zwischen ihm und dem Menschen steht, austilgt – in diesem Handeln nicht von Christus abhängig ist, sondern daß der Christus als der Träger des Neuen Seins das versöhnende Handeln Gottes den Menschen vermittelt.“ (187).

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cher Momente auszulegen: Momente, für die wir die trinitarischen Namen „Vater“, „Sohn“ bzw. „Wort“ und „Heiliger Geist“ verwenden. Von Gottes Einzigkeit im Sinn der differenzierten Einheit dreier gleichwesentlicher Momente dürfen wir sprechen, weil sie uns in ihrem Walten – in ihrer „Ökonomie“ – jeweils als Geist, und zwar als wahrhaft unendlicher Geist erschlossen ist.233 Ist uns in Gottes Walten Gottes Sein als Geist erschlossen, so ist es uns erschlossen in jener internen Differenz, kraft derer Gott ursprünglich offen ist für Gottes irdisches Ebenbild in Gestalt des leibhaften Person-Seins, für dessen Geschichte und Geschick. Ich hatte dies ursprüngliche Offen-Sein für Gottes irdisches Ebenbild in den Begriff der „Wahl der Gnade“ zusammengefasst (s. o. S. 161–178). Ich meine mit diesem Begriff das dauernde und bleibende Zugewandt-Sein des göttlichen Wesens, in dessen Raum und Zeit Geschichte und Geschick des irdischen Ebenbildes Gottes möglich, wirklich und faktisch notwendig sind. Für dieses dauernde und bleibende Zugewandt-Sein verwendet die biblische Sprache die Termini Gnade, Treue, Barmherzigkeit und Liebe Gottes in isotopem Sinn. Nun sind Geschichte und Geschick des irdischen Ebenbildes Gottes nicht nur der Sterblichkeit unterworfen, die uns von einem denkbar frühen Zeitpunkt unserer Entwicklung an präsent ist in der Angst des Todes; sie sind de facto auch von jener Fehlbarkeit und jener fürchterlichen Selbstverfehlung gezeichnet, die uns in dem Syndrom des erlittenen und des verschuldeten Leids begegnet (s. 3.2). Angesichts dieses brutum factum scheint die Idee der „Gerechtigkeit als Weltordnung“ ihr Recht zu haben, weil sie die unaufhebbare Verantwortlichkeit der handelnden Subjekte für ihr Tun und Lassen, Denken, Sprechen und Agieren ernst nimmt. Von diesem ihrem Schein zehren solche Lehren des Tanakh der jüdischen JHWH-Gemeinschaft, welche die Logik einer Einheit zwischen JHWHs gerechtem

233 Wie ich o. 1.5.3 zu zeigen suchte, ist die Bestimmung des göttlichen Wesens als wahrhaft unendlicher Geist geeignet, den Bedenken gerecht zu werden, die Friedrich Schleiermacher gegenüber der Asymmetrie der tradierten Fassungen der Trinitätslehre geltend machte. Eine symmetrische Fassung der Trinitätslehre ist möglich, wenn man die Wurzel ihrer asymmetrischen Fassung sich bewusst macht: nämlich die Meinung, dass der trinitarische Name „Vater“ die Quelle bzw. den Ursprung der Gottheit des „Sohnes“ bzw. des „Wortes“ und der Gottheit des „Heiligen Geistes“ bezeichne. Eine solche asymmetrische Fassung des „trinitarischen Monotheismus“ des Christus-Glaubens bildet – so scheint mir – nicht nur den Hintergrund der theologia crucis Luthers, sondern auch den Ausgangspunkt für das Verständnis des Todes des Sohnes Gottes in der Versöhnungslehre Karl Barths, KD IV/1, § 59,2 (231–311): Der Richter als der an unserer Stelle Gerichtete; § 59,3 (311–394): Das Urteil des Vaters. Sie prägt auch das Konzept der „trinitarischen Kreuzestheologie“ Jürgen Moltmanns; vgl. Jürgen Moltmann, Der gekreuzigte Gott (wie Anm. 217), 184–267; Ders., Trinität und Reich Gottes. Zur Gotteslehre, München: Kaiser, 1980, bes. 129–137.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Richten und JHWHs gerechtem Erbarmen zu verstehen suchen.234 Sie scheitern jedoch an den schmerzlichen Erfahrungen der tragischen Schuld, des schicksalhaften Verhängnisses und des unschuldigen Leids; und es bleibt offen, ob im Banne dieser Logik sich die Gewissheit des Gewissens hinsichtlich des „Friedens mit Gott“ (Röm 5,1) ereignen kann. Die Idee der „Gerechtigkeit als Weltordnung“, die die Verantwortlichkeit der handelnden Subjekte vor Gottes normativer ethischer Instanz rückhaltlos ernst nimmt, mündet in eine unausweichliche Aporie.235 Ist diese Aporie zu überwinden? In seinem zweiten Brief an die Gemeinde zu Korinth behauptet der Apostel Paulus als Quintessenz des Evangeliums, Gott habe im Christus Jesus „die Welt mit sich selbst“ versöhnt und habe „unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung“ (2Kor 5,19). Wem es gegeben wird, sich kraft des Amtes, das „die Versöhnung predigt“ (2Kor 5,18), mit Gott versöhnt zu wissen, ist nach der Einsicht des Apostels dieser Aporie enthoben. Die Antwort auf die Frage, inwiefern Gottes dreieines Wesen als das Subjekt des Christus-Geschehens zu verstehen sei, wird deshalb dann und nur dann plausibel sein, wenn sie die Einsicht des Apostels hinreichend zu begründen weiß. Eine solche hinreichende Begründung ist umso wichtiger, als der Apostel selbst dem Schema einer „streng dualen Eschatologie“ (J. Christine Janowski) durchaus noch verpflichtet ist (vgl. bes. 1Thess 2,16; 5,3; Röm 1,18; 2,5.8; 9,22; 12,19). Ich hatte Gottes dreieines Wesen, das wir mit den trinitarischen Namen „Vater“, „Sohn“ bzw. „Wort“ und „Heiliger Geist“ bezeichnen, begrifflich als das wahrhaft unendliche „Sich-gegenwärtig-Sein“ bestimmt (s. 1.5.3.3.2). Kraft dieses wahrhaft unendlichen „Sich-gegenwärtig-Seins“ ist dem dreieinen Wesen Gottes das Geschehen der Welt und das Geschehen in der Welt stets gegenwärtig; ihm ist daher auch stets gegenwärtig das Unheil des Geschehens des Negativen, des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids, des „In-der-Sünde-Seins“ des Menschen. Nun wird uns in den Situationen der Ereignisse des Dritten Tages als wahr gewiss, dass Gottes dreieines Wesen im Lebenszeugnis Jesu bis hin zum Tode am Kreuz auf Golgatha

234 Vgl. hierzu Bernd Janowski, Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1999 (darin: Jan Assmann/Bernd Janowski/Michael Welker, Richten und Retten. Zur Aktualität der altorientalischen und biblischen Gerechtigkeitskonzeption [220–246]); Ders., Art. Gericht Gottes II. Altes Testament: RGG4 3, 733–734. 235 Es ist dies die Aporie des „strengen eschatologischen Duals“, wie sie gründlichst analysiert wurde von J. Christine Janowski, Allerlösung. Annäherungen an eine entdualisierte Eschatologie, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2000 (Neukirchener Beiträge zur systematischen Theologie; 23.1/2). Ich sehe in der heilsprophetischen Rahmung des Hoseabuches (Hos 11,8-9), die einen „Umsturz in Gottes Herz“, einen „Willenswandel in Gott“ (Bernd Janowski [wie Anm. 234], 238) verkündet, und zwar mit der Begründung: „denn Gott bin ich, und nicht ein Mensch, in deiner Mitte der Heilige“ (Hos 11,9), einen wichtigen Ansatz zur Überwindung dieser Aporie.

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dies Unheil für „Juden“ und für „Griechen“ (Röm 1,16) schöpferisch aufhebt und schöpferisch überwindet: „DER TOD IST IN DEN SIEG HINEINVERSCHLUNGEN WORDEN. TOD, WO IST DEIN SIEG? TOD, WO IST DEIN STACHEL?“ (1Kor 15,54f. [Übersetzung Ulrich Wilckens]). Hebt Gottes dreieines Wesen dieses Unheil schöpferisch auf, so ereignet sich, was Hegels Interpretation die Negation des Negativen nennt. Hegels Begriff der Negation des Negativen bezieht sich strikt auf die Ereignisse des Dritten Tages, die uns das Lebenszeugnis Jesu von Nazareth bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha als Aufhebung des Entfremdet-Seins verstehen lassen. Wird uns in den Ereignissen des Dritten Tages die Aufhebung des Entfremdet-Seins als wahr gewiss, so wird darin das Negative als Negatives nicht etwa ungeschehen gemacht, zumal es im unendlichen „Sich-gegenwärtig-Sein“ Gottes ebenso wie in unserem endlichen „Uns-gegenwärtig-Sein“ gegenwärtig ist und bleibt. Wem in den Situationen der Ereignisse des Dritten Tages das je eigene und je besondere Verstrickt-Sein ins Syndrom des erlittenen und des verschuldeten Leids als aufgehoben bewusst wird, wird dies Verstrickt-Sein gegenwärtig in der Form der Scham und der Reue erleben; dem Leben in der Gewissheit des Friedens mit Gott (Röm 5,1) nämlich ist das als negativ Erinnerte in der Form der Scham und der Reue präsent. Machen es die Situationen der Ereignisse des Dritten Tages darüber hinaus auch möglich und notwendig, das Gegenwärtig-Sein des Negativen als Negatives im wahrhaft unendlichen „Sich-gegenwärtig-Sein“ Gottes zu denken? Ad 4: Paul Tillich hat auf diese Frage mit der These eines vierten Prinzips der Lehre von der Versöhnung geantwortet: „Gottes versöhnendes Handeln muß verstanden werden als seine Teilnahme an der existentiellen Entfremdung und ihren selbstzerstörerischen Folgen. Er kann diese Folgen nicht einfach aufheben, denn sie gehören zu seiner Gerechtigkeit, aber er kann sie auf sich nehmen und ihnen dadurch einen anderen Sinn geben … Das Element des Nichtseins ist im göttlichen Leben in Ewigkeit überwunden. Dies Element des Nichtseins – von innen gesehen – ist das Leiden, das Gott auf sich nimmt, indem er an der existentiellen Entfremdung oder dem Zustand der nicht überwundenen Negativität teilnimmt. An dieser Stelle fallen die Lehre vom lebendigen Gott und die Lehre von der Versöhnung zusammen.“236

Im Kontext der „Systematischen Theologie“ hat Tillich die „Prinzipien für eine künftige Lehre von der Versöhnung“ nicht weiter entfaltet. Das hat – so scheint mir –

236 Paul Tillich, STh II, 188.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

darin seinen Grund, dass Tillich Gottes versöhnendes Walten nicht ausdrücklich und nicht deutlich genug als jene Form verständlich macht, kraft derer der lebendige Gott Gottes schöpferisches Walten und dessen ursprünglichen Sinn erhält, bewahrt, rettet und vollendet. Gleichwohl weisen Tillichs „Prinzipien“, verglichen mit Martin Luthers Form einer theologia crucis, in die richtige Richtung. Denn: Im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages verstehen deren Empfänger den Tod des Christus Jesus am Kreuz auf Golgatha als die Vollendung des Lebenszeugnisses für das je punktuelle und je aktuelle Im-Kommen-Sein der königlichen Herrschens Gottes, dessen dreieines Wesen erst der längerfristige theologische Lernprozess des spätantiken Christentums im Ansatz formulieren wird. Auf eine gewiss paradoxe Weise entdecken sie in dem historischen Ereignis dieser individuellen Lebensgeschichte die Selbstoffenbarung Gottes des Schöpfers in der Form des versöhnenden Waltens, das als solches die eschatische Vollendung des schöpferischen Waltens intendiert (s. 4.5). Nicht die Passion des Christus Jesus bloß als solche, nicht der Tod am Kreuz auf Golgatha bloß als solcher, sondern Jesu individuelle Lebensgeschichte und Jesu individuelles Lebensgeschick als Ganzes vergegenwärtigt Gottes des Schöpfers versöhnendes Wollen und Walten. Sie – diese individuelle Lebensgeschichte bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha – hat versöhnenden Charakter. Sie wird im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages entdeckt als Manifestation des göttlichen Wesens, von sich selbst her für das geschaffene Person-Sein in dessen Leid und in dessen Sterblichkeit, in dessen Fehlbarkeit und in dessen fürchterlicher Selbstverfehlung da zu sein. Wird Jesu individuelle Lebensgeschichte bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages als diese Manifestation des göttlichen Wesens entdeckt und daraufhin geglaubt (vgl. Mt 16,16; Joh 6,68f.), so wird in diesem ihrem Licht als wahr gewiss, dass das brutum factum des geschaffenen Person-Seins in dessen Leid und in dessen Sterblichkeit, in dessen Fehlbarkeit und in dessen fürchterlicher Selbstverfehlung vom unbedingten Heilswillen – von der Gnade, der Treue, der Barmherzigkeit, der Liebe des dreieinen Gottes – umfangen und umgriffen bleibt. Erscheint uns kraft des Heiligenden Geistes der Wahrheit das je eigene und je besondere Verstrickt-Sein ins Syndrom des erlittenen und des verschuldeten Leids dergestalt als von Gottes unbedingtem Heilswillen umfangen und umgriffen, so werden wir es keineswegs als ungeschehen nivellieren oder gar verdrängen; wir werden uns vielmehr dessen trösten, dass das je eigene und je besondere VerstricktSein ins Syndrom des erlittenen und des verschuldeten Leids von Gottes dreieinem Wesen getragen und erduldet ist. Das „Wort von der Versöhnung“ (2Kor 5,19), das uns in der religiösen Kommunikation der Kirche durch Gottes Heiligenden Geist als wahr gewiss wird, begründet jenes neue personale Sich-Verstehen des Christus-Glaubens, das die Aporie der „Gerechtigkeit als Weltordnung“ und ihres

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dualen Schemas überwunden sieht von Gottes leidender Gnade, leidender Treue, leidender Gerechtigkeit, leidender Liebe.237 Meine Darlegung dessen, was ich unter dem Gegenstand des „Wortes von der Versöhnung“ verstehen möchte, macht es notwendig, das Syntagma „das Leiden, das Gott auf sich nimmt“ (Paul Tillich) so gut wie nur eben möglich zu erfassen. Zum einen: Wie die biblisch-religiöse Sprache und wie die Begriffssprache der theologischen Denkform überhaupt steht auch die hier gewählte Ausdrucksweise unter einem wichtigen Vorbehalt. Wie alle biblisch-religiösen und wie alle begrifflich-theologischen Deutungen des versöhnenden Waltens Gottes des Schöpfers im Christus Jesus durch den Heiligen Geist erhebt sie den Anspruch, wahr zu sein und ihren Inhalt bzw. ihr Thema wahrheitsfähig zu intendieren. Gleichwohl überträgt auch sie ein Element des endlichen Vorstellens, Redens und Denkens auf die Sphäre des wahrhaft Unendlichen, seines Wollens und Waltens; sie hat insofern unvermeidlich analogen bzw. metaphorischen Charakter. Auch sie steht unter dem Vorbehalt des Nicht. Gibt sie dennoch etwas zu verstehen, so hat das darin seinen Grund, dass sie wie alle analoge bzw. wie alle metaphorische Rede von der Sphäre des wahrhaft Unendlichen einen univoken, einen nicht-metaphorischen Kern artikuliert. Deshalb ist zu fragen, worin der univoke bzw. der nicht-metaphorische Kern der Wendung „das Leiden, das Gott auf sich nimmt“ besteht. Eine solide Beantwortung dieser Frage ist umso dringlicher, als das Syntagma „Tod Gottes“ jedenfalls in der Geschichte der neueren deutschsprachigen evangelischen Theologie vielfach der Klarheit entbehrt.238 Zum andern: Die Wendung „das Leiden, das Gott auf sich nimmt“ bezeichnet einen bestimmten Aspekt des göttlichen Seins als wahrhaft unendlicher Geist, das ich als das ursprüngliche und absolute Sich-gegenwärtig-Sein bestimmt hatte (s. 1.5.3.3.1). Dem göttlichen Sein als dem ursprünglichen und absoluten Sichgegenwärtig-Sein ist dementsprechend alles gegenwärtig, was in dem All des Sei-

237 Vgl. hierzu auch Eilert Herms, STh (Bd. 1), 386ff. – Die revolutionäre Konsequenz dieser Sicht des unbedingten Heilswillens des dreieinen Gottes besteht daher in einer fundamentalen Unterscheidung zwischen dem Inbegriff der Ordnungen des Rechts und der Ordnung des Sittlichen. Während in den Ordnungen des Rechts die generelle und die spezielle Prävention der Strafe unverzichtbar ist, ist in der Ordnung des Sittlichen und nur in ihr die Macht der Vergebung und der Verzeihung nicht nur möglich, sondern auch wirklich und faktisch notwendig. Ist in der altorientalischen Idee der „Gerechtigkeit als Weltordnung“ die Einheit der Ordnungen des Rechts und der Ordnung des Sittlichen gegeben, so wird es in der Wirkungsgeschichte des Christentums möglich und unvermeidlich, zwischen Gottes Regierweise „zur Linken“ und Gottes Regierweise „zur Rechten“ zu unterscheiden (s. 3.4.2.2). Jesu Lebenszeugnis für das „Im-Kommen-Sein“ der königlichen Herrschaft JHWHs in ihm, das sich im Tod am Kreuz auf Golgatha vollendet (Joh 19,30), ist wohlverstanden das Zeugnis für Gottes Regierweise „zur Rechten“! 238 Jedenfalls sind solche Deutungen des Syntagmas Tod Gottes sinn- und bedeutungslos, die es nicht in den Zusammenhang des göttlichen In-Gemeinschaft-sein-Wollens zu bringen wagen.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

enden geschieht, das jedenfalls die Zeit und den Raum unserer, der menschlichen Erfahrungswelt bildet. Es wäre deshalb widersprüchlich, wenn wir die Erfahrung des Syndroms des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids, das seit der exemplarischen Un-Tat Kains an seinem Bruder Abel die Schuldgeschichte des Menschengeschlechts zeichnet, dem ursprünglichen und absoluten Sich-gegenwärtig-Sein des göttlichen Wesens absprechen würden. Ganz abgesehen von der Art und Weise, in der wir den ontologischen Status des Malum zu erfassen suchen239 , ist dem Christus-Glauben Gottes versöhnendes Walten offenbar als Walten des schöpferischen Grundes und Ursprungs, dem auch das Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids, das wir erfahren, stets gegenwärtig ist: „Da sprach der HErr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er (verstehe: Kain) sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er (verstehe: der HErr) aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.“ (Gen 4,9).

Cum grano salis und mit aller Vorsicht darf man sagen: das Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids, das wir erfahren, ist stets Gottes Erfahrung mit unserer Erfahrung. Da dem so ist, stellt sich die Frage, ob wir es wagen können, die Art und Weise anzusprechen, in der dem göttlichen Wesen das Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids stets gegenwärtig ist. Beantwortbar ist diese Frage jedenfalls dann und nur dann, wenn es einen zureichenden Grund bzw. eine Erschlossenheit des göttlichen Wesens für uns und alle Wesen unseresgleichen gibt, ohne die jeglicher Versuch ihrer Beantwortung schlicht und ergreifend sinnlos wäre. Ich sehe diese Erschlossenheit des göttlichen Wesens für uns und alle Wesen unseresgleichen in der zwar endlichen und begrenzten, aber doch verlässlichen Dauer unseres selbstbewusst-freien geschaffenen Person-Seins und d. h. unseres Uns-gegenwärtig-Seins (s. 2.4.2.1). In dessen Medium sind wir der Treue bzw. der Verlässlichkeit des schöpferischen Grundes und Ursprungs unseres In-dieser-WeltSeins für uns und alle Wesen unseresgleichen inne. Wir sind uns ihrer inne in der Geschichte des Sich-Erschließens bzw. des Sich-Offenbarens des göttlichen Wesens; wir sind uns ihrer inne in der Geschichte des bestimmten Gottesverhältnisses, die für den Christus-Glauben in der Selbstoffenbarung des göttlichen Wesens in den Ereignissen des Dritten Tages innergeschichtlich vollendet ist. Sie ist für

239 Vgl. hierzu bes. Ingolf U. Dalferth, Malum. Theologische Hermeneutik des Bösen, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008; sowie die Diskussion in: Friedrich Hermanni/Peter Koslowski (Hg.), Die Wirklichkeit des Bösen. Systematisch-theologische und philosophische Annäherungen, München: Wilhelm Fink Verlag, 1998.

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den Christus-Glauben deshalb innergeschichtlich vollendet, weil die Ereignisse des Dritten Tages den unbedingten Heilssinn des göttlichen Wesens jenseits des Todes und durch den Tod hindurch offenbaren. Dieser unbedingte Heilssinn des göttlichen Wesens wird uns – dem Christus-Glauben in der Christus-Gemeinschaft – mithin offenbar im Walten des Heiligenden Geistes, der in den Zirkel von Geduld, Erfahrung und Hoffnung versetzt.240 Zum Dritten: Im Lichte dieser Erschlossenheit der dauernden bzw. der verlässlichen Treue des schöpferischen Grundes und Ursprungs zum Inbegriff des Geschaffenen dürfen wir mit aller Vorsicht sagen: das göttliche Wesen ist für das Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids nicht etwa blind und für den Schrei der Angst, des Schmerzes und des Protests nicht etwa taub, wie es der sich selbst täuschende Glaube an die Macht eines Schicksals imaginiert.241 Dem Christus-Glauben in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen ist vielmehr als wahr gewiss, dass Gottes Verhältnis zum All des Seienden und insbesondere zum Ebenbilde Gottes als zutiefst empathisch, wohlwollend, beseligend und tröstend zu denken ist. Dies Gott-Verstehen hat letzten Endes darin seinen Grund, dass die Ereignisse des Dritten Tages jene ursprüngliche „Wahl der Gnade“ offenbaren, in welcher

240 Ich spiele an auf Luthers Übersetzung von Röm 5,4f.: „Geduld aber bringt Erfahrung; Erfahrung aber bringt Hoffnung; Hoffnung aber läßt nicht zu Schanden werden.“ 241 Es ist das berechtigte Anliegen der modernen religiösen und theologischen Kritik an der altkirchlichen Lehre von Gottes Apathie, mit der Bestimmung des Begriffs des leidenden Gottes Gottes Leidensfähigkeit im Sinne eines Affiziert-Werdens vom Leid zu betonen. Hatte sich die altkirchliche Lehre anregen lassen von der ethischen Theorie der antiken Stoa, die das „Frei-Sein von Affekten“ als das entscheidende Ziel der vernünftigen Lebensführung einschärft, in dem allein das Höchste Gut des inneren Friedens der Person mit sich besteht (vgl. Malte Hossenfelder, Stoa, Epikureismus und Skepsis, München: Beck, 2 1995), so intendiert die moderne religiöse und theologische Kritik ein Gott-Verstehen, das entschieden die Fähigkeit und die Bereitschaft des göttlichen Wesens zu leiden betont. – Vgl. hierzu bes. Jürgen Moltmann, Der gekreuzigte Gott (wie Anm. 217), 255–267; Paul Fiddes, The Creative Suffering of God, Oxford: Clarendon Press, 1988; Thomas Rudolf Krenski, Passio Caritatis. Trinitarische Passiologie im Werk Hans Urs von Balthasars, Freiburg i. Br./ Einsiedeln: Johannes-Verlag, 1990; Amuluche Gregory Nnamani, The Paradox of a Suffering God, Verlag Peter Lang, 1995; Johann Baptist Metz (Hg.), Landschaft aus Schreien. Zur Dramatik der Theodizeefrage, Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag, 1995; Gisbert Greshake, Der dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie, Freiburg i. Br./Basel/Wien: Herder, 1997, bes. 301–310; 340–342; Hans Waldenfels, Ist die Rede vom leidenden Gott theologisch legitim?, in: Peter Koslowski/Friedrich Hermanni (Hg.), Der leidende Gott. Eine philosophische und theologische Kritik, München: Fink, 2001, 177–191. – Die Diskussion lässt es im Unklaren, ob der Ausdruck „leidender Gott“ die Schwäche bzw. gar die Ohnmacht oder nicht vielmehr die sich selbst bestimmende Energie des göttlichen Wesens meint, das Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids zu tragen. Nur die letztgenannte Alternative kommt m. E. für das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens in Betracht.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

der dreieine Gott die Gemeinschaft mit sich selbst zum Höchsten Gut für das geschaffene Person-Sein bestimmt. Sie – diese „Wahl der Gnade“ – schließt allerdings als solche jenes Werden des geschaffenen Person-Seins ein, das zu jenem vollendenden Ziel nicht anders als durch Leid, durch Schuld, durch Tod hindurch gelangt. Indem das göttliche Wesen sich ursprünglich zur Gemeinschaft mit dem geschaffenen Person-Sein bestimmt, ist es und lebt es ursprünglich im Verhältnis zum Andern, zum Endlichen und damit zu dessen Geschichte und Geschick. Just dies ursprüngliche Verhältnis des göttlichen Wesens zum Andern, zum Endlichen und damit zu dessen Geschichte und Geschick, wie es für die Empfänger der Ereignisse des Dritten Tages offenbar wird, wird in der Vielfalt der sog. christologischen Hoheitstitel auf eine anfängliche und deshalb mehr oder weniger experimentelle Art und Weise angesprochen. Erst die Diskurse der Frömmigkeits- und Theologiegeschichte in der Periode des spätantiken Christentums klären dies ursprüngliche Verhältnis des göttlichen Wesens zum Andern, zum Endlichen und damit zu dessen Geschichte und Geschick mittels der Denkform des christologischen Symbols des Konzils von Chalkedon im Jahre 451 als das Verhältnis des Eines-Seins – d. h.: des Eines-Werdens bzw. des Eines-Geworden-Seins – des Ungeschaffenen und des Geschaffenen im Christus Jesus (s. 3.5.2.4). Erst die begriffene Erkenntnis dessen, was den Empfängern der Ereignisse des Dritten Tages kraft des Heiligenden Geistes als wahr gewiss geworden ist, vermag die Art und Weise deutlich anzusprechen, in der das göttliche Wesen „das Leiden (verstehe: alles Leid in synchroner wie in diachroner Erstreckung!!) auf sich nimmt“.242 Es nimmt alles Leid in synchroner wie in diachroner Erstreckung auf sich in der Art und Weise, die das Evangelium nach Johannes unüberbietbar klar artikuliert: „Und das Wort ward Fleisch und nahm Wohnung unter uns; und wir sahen seine Herrlichkeit – eine Herrlichkeit, wie sie im einziggeborenen Sohn vom Vater widerstrahlt – voll von Gnade und Wahrheit.“ (Joh 1,14 [Übersetzung Ulrich Wilckens]).

Der Spitzensatz bzw. die Summenformel des Prologs des Evangeliums nach Johannes lenkt unsere Aufmerksamkeit von vornherein auf jene abschließende Erzählung,

242 Zwar ist das christologische Symbol des Konzils von Chalkedon seinerseits der kritischen Interpretation bedürftig; aber in dieser seiner kritischen Interpretation ist es doch ein notwendiger hermeneutischer Schlüssel, mit dessen Hilfe wir die wie gesagt noch experimentellen Versuche des neutestamentlichen Offenbarungszeugnisses nachvollziehen können, mit den christologischen „Hoheitstiteln“ das Verhältnis des göttlichen Wesens und der Lebensgeschichte Jesu von Nazareth bis hin zum Tode am Kreuz auf Golgatha angemessen in seiner Eigenart bzw. in seiner Eigenbewandtnis zu verstehen.

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die im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages (Joh 20,1-29) den Tod des Christus Jesus und damit dessen Erscheinen in dieser unserer Welt in das tiefe Wort fasst: „Es ist vollbracht!“ (Joh 19,30)

Was hier „vollbracht“ ist, ist schwerlich anders anzusprechen denn als das radikale Annehmen des Andern; und zwar des Endlichen, das als solches der Natürlichkeit, der Sterblichkeit und insbesondere der Versuchlichkeit des geschaffenen PersonSeins ausgeliefert ist. „Vollbracht“ ist im Erscheinen des Christus Jesus zum einen das Erleiden unseres Leids (vgl. Joh 19,1-5); „vollbracht“ ist im Erscheinen des Christus Jesus zum andern das Sein des schöpferischen Grundes und Ursprungs für das Schuldig-Werden des geschaffenen Person-Seins, das als solches zur Erkenntnis des Schuldig-Werdens und damit zum Gefühl der Scham und zum Ernst der Reue bewegt. Indem uns in den Situationen der Ereignisse des Dritten Tages als wahr gewiss wird, dass in der Geschichte und in dem Geschick des Christus Jesus der schöpferische Grund und Ursprung selbst erscheint, verstehen wir das Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids als von Gott selbst getragen. Und indem wir es als von Gott selbst getragen verstehen, leben wir in dem Frieden, den der Auferstandene nach der Erzählung des Evangeliums nach Johannes den Jüngern zuspricht (Joh 20,19-21). 3.5.2.4

„Ich und der Vater sind eines“ (Joh 10,30)243

In der Besinnung auf das Subjekt des Christus-Geschehens, dem der ChristusGlaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und

243 Ich übersetze nach dem Griechischen das neutrische ἑν als „eines“. – Vgl. zum Folgenden o. 3.5.1: Christologie. Eine methodische Betrachtung. – Zur theologie- und dogmengeschichtlichen Lehrentwicklung vgl. bes. Alois Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. 1-2,4: Freiburg i. Br./Basel/Wien: Herder, 2004; ferner die einschlägigen Beiträge in: Carl Andresen/Ekkehard Mühlenberg/Adolf Martin Ritter/Martin Anton Schmidt/Klaus Wessels, Die christlichen Lehrentwicklungen bis zum Ende des Spätmittelalters (wie Anm. 128); darin bes. Adolf Martin Ritter, Der christologische Streit und das Dogma von Chalkedon (225–288). Zur dogmatischen Christologie der Gegenwart vgl. bes.: Gerhard Ebeling, Dogmatik II, § 18 (50–127): Die Menschwerdung Gottes; Wolfhart Pannenberg, STh II, 406–433: Die christologische Entfaltung der Einheit Jesu mit Gott; Gerhard Ludwig Müller, Katholische Dogmatik (wie Anm. 128), 308–320; Gunther Wenz, Christus. Jesus und die Anfänge der Christologie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011 (Studium systematischer Theologie; 5); Colin Gunton, Christ and Creation: The Didsbury Lectures, 1992; Ders., Art. Christologie III. Dogmatisch: RGG4 2, 310–319; Eilert Herms, STh (Bd. 1), bes. 778–823; Gunther Wenz (Hg.)., Die Christologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021 (Pannenberg-Studien; 6).

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

„Griechen“ (Röm 1,16) die Gewissheit des „Friedens mit Gott“ (Röm 5,1) verdankt, tun wir nun einen letzten Schritt. Wir suchen eine Antwort auf die Frage, wie wir uns diejenigen Aussagen des christlichen Wortbekenntnisses verständlich machen können, die auf der Basis des biblischen Offenbarungszeugnisses Jesu von Nazareth Lebensgeschichte und Lebensgeschick als singuläres Eines-Sein mit dem göttlichen Wesen selbst behaupten. Wir fragen also, wie wir jenes Eines-Sein zu denken und daraufhin auch homiletisch, didaktisch und publizistisch zu erschließen vermögen, auf das sich das Gebet, die gemeinschaftliche Feier des Gottesdienstes mit ihrem Zentrum im Mahl des HErrn, die Heilige Taufe und nicht zuletzt auch die überwältigende Fülle der Andachtsformen und der frommen Meditationen bezieht.244 Ohne die stete Rücksicht auf die gelebte Christus-Frömmigkeit in ihren mannigfachen ökumenischen Gestalten verlören die kirchliche Lehre und die theologische Reflexion ihre Bodenhaftung. In meiner methodischen Betrachtung zum Stichwort „Christologie“ hatte ich gezeigt, dass die historisch-kritische Erforschung der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments seit Richard Simon auch für die systematisch-theologische Besinnung eine tiefe Zäsur bedeutet. Hatte sich das christologische Denken – sowohl im römischen Katholizismus als auch in der reformatorischen Bewegung und insbesondere auch in den orthodoxen Kirchengemeinschaften – im Wesentlichen auf der Basis der Symbole der Konzilien von Nicaea und Konstantinopel bzw. von Chalkedon bewegt, so beginnt die historisch-kritische Erforschung der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments die Differenz zu entdecken, die faktisch zwischen den verschiedenen Christus-Bekenntnissen der „Urgemeinden“ im Zeitraum von 30 n. Chr. bis 110 n. Chr. und den ersten Anfängen einer kirchlichen „Christus-Lehre“ seit Bischof Ignatius von Antiochien (gest. vor 117 n. Chr. als Märtyrer in Rom, und zwar im Circus Maximus) besteht. Dieser Differenz liegt noch einmal voraus die Differenz zwischen der Art und Weise, in der nach der These der „Zwei-Quellen-Theorie“ Jesus von Nazareth selbst sein Verhältnis zum Gott-Verstehen der jüdischen JHWHGemeinschaft artikuliert, und den verschiedenen Christus-Bekenntnissen, die sich den Ereignissen der Erscheinungen des Dritten Tages verdanken. Wer wie ich hinter die methodischen Prinzipien der historisch-kritischen Interpretation der Bibel nicht zurückkehren will, sieht die systematisch-theologische Besinnung auf das Subjekt des Christus-Geschehens vor die Frage gestellt, ob und

244 Vgl. hierzu bes. Carl Richstaetter, Christusfrömmigkeit in ihrer historischen Entfaltung, Köln: J. P. Bachem, 1949; Josef A. Jungmann, Die Stellung Christi im liturgischen Gebet, Münster/W.: Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung, 2 1962; Ulrich Köpf, Art. Jesus Christus II. Jesus Christus in der Geschichte des Christentums 1. Frömmigkeitsgeschichte: RGG4 4, 470–473; Gordon W. Lathrop, Art. Jesus Christus II. Jesus Christus in der Geschichte des Christentums 2. Liturgiegeschichte: ebd. 473–475.

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wie sie im Interesse der Freiheit durch Wahrheit hier und heute mit diesen Differenzen umgehen kann.245 Die solide Beantwortung dieser Frage macht Gebrauch von den Einsichten in das Verhältnis von Christus-Glaube, religiöser Kommunikation des Evangeliums und theologischer Reflexion. Ich skizziere dieses Verhältnis in fünf Schritten. Zum einen: Ich war auf meinem bisherigen Erkenntniswege davon ausgegangen, dass die Ereignisse des Dritten Tages als die Ursprungssituationen des ChristusGlaubens in der Christus-Gemeinschaft zu verstehen sind: in ihnen nämlich ereignet sich die Selbstoffenbarung des wahren Wesens Gottes, die für uns Menschen alle das Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids aufhebend überwindet (s. 3.5.2.1). Sie verifizieren als solche Jesu einzigartiges Selbstverständnis und Jesu eigenes Lebenszeugnis für die jeweils aktuelle und punktuelle Gegenwart der königlichen Herrschaft JHWHs – der Herrschaft der Wahrheit, der Gnade und des Friedens (Jes 54,10) – in ihm selbst; sie intensivieren es allerdings auch, indem sie ihren Empfängern das Verständnis für die einzigartige Gemeinschaft erschließen, in der sich Gottes des Schöpfers versöhnendes Walten durch Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tode am Kreuz auf Golgatha vollzieht. In und kraft der Gewissheit, durch Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tode am Kreuz auf Golgatha mit Gott dem Schöpfer versöhnt zu sein, erkennen sie diese einzigartige Gemeinschaft als Jesu Erhöhung (Joh 12,32; Apg 2,33; Phil 2,9) bzw. als Jesu Einsetzung zum HErrn oder zum Sohn (Röm 1,3.4) zur „Rechten“ Gottes (Apg 7,55; Röm 8,34 [vgl. Ps 110,1]).246 Zum andern: Erleuchtet durch das Ereignis der Selbstoffenbarung des wahren Wesens Gottes, suchen deren Empfänger für ihre Verkündigungsgespräche nach Chiffren, Formeln und Funktionen, die Jesu Erhöhung in die Gemeinschaft mit Gottes versöhnendem Walten plausibel machen könnten. Neben den metaphorischen Benennungen, die uns vornehmlich im Evangelium nach Johannes überliefert sind, sind es die aus dem Tanakh entlehnten Titel „Christos“, „Kyrios / HErr“, „Sohn“, „Sohn Davids“, „Menschensohn“, die für die frühen Situationen der religiösen Kom-

245 Diese Frage stellt sich insbesondere im Blick auf die gegenwärtige ökumenische Situation der weltweiten Christenheit; vgl. hierzu die mannigfachen Hinweise bei: Susanne Heine/Hermann Brandt/Klauspeter Blaser/Julius J. Lipner, Art. Theologie, Christliche II/5. Theologie in der entstehenden Weltgesellschaft: TRE 33, 300–323. – So wichtig es ist, die „kontextuellen“ christologischen Entwürfe zu beachten, so unerlässlich bleibt die kritische Frage, ob sie bzw. in welcher Weise sie der Leitidee einer Glaubenslehre – Durch Wahrheit zur Freiheit (Joh 8,32) – gerecht werden. 246 Vgl. hierzu zuletzt Samuel Vollenweider, Ein achter Tag. Jesu Auferstehung als ein Kristallisationspunkt neutestamentlicher Gotteslehre: ZThK 116 (2019), 271–289; 281–283.

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munikation des Evangeliums typisch sind.247 Indem sie sich wie selbstverständlich auf die Erwartungen und Hoffnungen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft beziehen, bewegen sie sich noch in jenem Gott-Verstehen, das erst im Lichte der theologischen Reflexionsgeschichte seit Ignatius, dem Bischof von Antiochien, im Rückblick als das unitarische bzw. als das monarchische Verstehen der Einzigkeit des Einen kenntlich wird.248 Die jüdische JHWH-Gemeinschaft hat daher in der Entwicklung des christologischen Wortbekenntnisses eine mit dem Gott-Verstehen Israels schlechterdings unvereinbare Häresie erblickt. Zum Dritten: In den Briefen des Bischofs von Antiochien begegnen uns Anfänge eines christologischen Denkens, dem die Genese des Christus-Bekenntnisses in den Ursprungssituationen des Christus-Glaubens nicht mehr explizit gegenwärtig ist. Für den Bischof ist der Begriff der Inkarnation (Joh 1,14) der Schlüsselbegriff der christologischen Lehre; denn dieser Begriff vereint das Verstehen des ewigen bzw. des göttlichen Ursprungs – der Präexistenz im Geist und als Geist – und die liebende Verehrung des geschichtlichen Lebens des Christus Jesus, das sich im „Leiden meines Gottes“ (IgnRöm 6,3) und d. h. im „Fleisch“ vollendet. Seither kämpft sich die theologische Reflexion an der Frage ab, ob und wie denn das Eines-Sein des ewigen bzw. des göttlichen Ursprungs und des geschichtlichen Lebens Jesu, das sich im Tode am Kreuz auf Golgatha vollendet, zu begreifen und begreiflich zu machen sei. Man halte sich vor Augen, dass sich diese Frage für die Epochen und Perioden der Christentumsgeschichte seit den sog. „Apostolischen Vätern“ an der frommen Überzeugung des „empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria“ (vgl. DH 10–30; 40–64) entzündet, die im neutestamentlichen Offenbarungszeugnis lediglich in den Evangelien nach Matthäus (Mt 1,18-25) und nach Lukas (Lk 1,26-38; 2,1-14) begegnet. Diese wundersame Empfängnis gilt als der Moment der Einung, die das Eines-Sein bzw. das EinesBleiben des ewigen, des göttlichen Ursprungs und des geschichtlichen Lebens Jesu Christi bleibend konstituiert; in ihr nämlich geschieht jene „hypostatische Union“ bzw. jene „unio personalis“ der „göttlichen Natur“ und der „menschlichen Natur“, kraft derer der geschichtliche Christus Jesus versöhnend, erlösend, todüberwindend existiert. Nur in dem dauernden Geschehen jener „hypostatischen Union“

247 Vgl. hierzu zuletzt zusammenfassend: David du Toit, IV. Christologische Hoheitstitel, in: Jens Schröter und Christine Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch (wie Anm. 160), 515–526. 248 Das unitarische (bzw. das „monarchische“) Verstehen der Einzigkeit des Einen bestimmt das Lebenszeugnis Jesu für das jeweils punktuelle und aktuelle Erscheinen der königlichen Herrschaft JHWHs – der Herrschaft der Wahrheit, der Gnade und des Friedens (Jes 54,10) – in ihm selbst (vgl. hierzu zuletzt: Christine Gerber, Das Gottesbild Jesu und die Bedeutung der Vatermetaphorik, in: Jens Schröter und Christine Jacobi [Hg.], Jesus Handbuch [wie Anm. 160], 361–368) ebenso wie die Verkündigungsgespräche der Apostel und die verschiedenen „Theologien“ des Neuen Testaments.

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bzw. jener „unio personalis“ und nicht etwa außerhalb desselben ist der Christus Jesus nach der Lehre des Konzils von Chalkedon der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen gegenwärtig.249 Um es unmissverständlich zu sagen: wird die „Einung“ bzw. das „Eines-Sein“ Jesu von Nazareth mit dem dreieinen Gott wie in den Wortbekenntnissen des antiken bzw. des spätantiken Christentums gemäß der frommen Legende mit der Empfängnis durch den Heiligen Geist identifiziert, so ist es ausgeschlossen, Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick als Lebensgeschichte und Lebensgeschick einer individuellen geschaffenen Person zu erzählen. Erst unter den kulturellen Bedingungen der euro-amerikanischen Neuzeit und ihrer Moderne250 wurde und wird es möglich, die Problemgeschichte der reflektierten Christologie als eine Geschichte des Ringens um Worte und Gedanken zu rekonstruieren, die dem Persongeheimnis des Christus Jesus sich nur nähern können. Wie ich noch zeigen werde, ist eine solche Näherung unter der Bedingung möglich, dass wir den Schlüsselbegriff der Inkarnation (Joh 1,14) aus der Fixierung auf das Moment der geistgewirkten und deshalb wundersamen Empfängnis lösen und ihn auf das gesamte versöhnende Walten Gottes des Schöpfers beziehen.251 Dazu wird die erneute Besinnung auf die Bedeutung der Terme „Wesen“ und „Person-Sein“ dienen.252

249 Vgl. das Proömium und die Definition des Symbols von Chalkedon vom 22. Oktober 451 (DH 300–303). – Aus diesem Grunde korreliert namentlich im römischen Katholizismus und in den orthodoxen Kirchengemeinschaften dem Christus-Glauben eine inbrünstige Verehrung der „Gottesmutter“, die ihre Entsprechung in den mariologischen Traktaten der Dogmatik findet (vgl. z. B. Gerhard Ludwig Müller, Katholische Dogmatik [wie Anm. 128]: Achtes Kapitel: Die Mutter Jesu Christi – Urbild christlicher Existenz und Typus der Kirche (478–514). Auch wenn die reformatorische Bewegung im Vergleich mit der römisch-katholischen und der orthodoxen Marienfrömmigkeit das „Marienlob“ fühlbar beschränkt, ist das „Wunder der Weihnacht“ (Karl Barth, KD I/2, 187–221) natürlich die Basis ihres christologischen Denkens. Vgl. hierzu den umfangreichen und informativen Artikel: Häikki Räisänen/Heiner Grote/Reinhard Frieling/Franz Courth/Claudia Nauerth, Art. Maria/Marienfrömmigkeit I.–VI.: TRE 22, 115–161 (man beachte bes. die Bildtafeln 1–4!). – Dass es sich bei der (matthäischen und) lukanischen Erzählung um eine fromme „Legende“ handle, spricht klipp und klar aus Wolfhart Pannenberg, STh II, 409 Anm. 124. Diese Einsicht hat natürlich erhebliche Konsequenzen für das heutige systematische Urteil über die Sprengkraft der christologischen Kontroverse zwischen der lutherischen und der zwinglischen bzw. der calvinischen Reformation (vgl. hierzu Karl-Heinz zur Mühlen, Art. Jesus Christus IV. Reformationszeit: TRE 16, 759–772 [Lit.]; Walter Sparn, Art. Jesus Christus V. Vom Tridentinum bis zur Aufklärung: TRE 17, 1–16 [Lit.]). 250 Genauer: unter dem Eindruck der langfristig wirksamen Kritik des Sozinianismus im Rakówer Katechismus von 1605 (deutsch 1608). 251 Vgl. zum Folgenden bes.: Wolfhart Pannenberg, Grundzüge der Christologie (wie Anm. 128), § 8: Aporetik der Zweinaturenlehre (291–334); Ders., STh II, 423–433: c) Zwei Naturen in einer Person? 252 Deshalb heißt es bei Friedrich Schleiermacher, CG2 § 95 L (II, 48 = KGA I.13,2, 58) lapidar: „Die kirchlichen Formeln von der Person Christi bedürfen einer fortgesetzten kritischen Behandlung.“

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Zum Vierten: In der Problemgeschichte der reflektierten Christologie stellt die Christologie, wie Friedrich Schleiermacher sie in der „Glaubenslehre“ entwickelt, eine Schwelle dar; denn sie bezieht die überlieferten prädikativen Sätze des christlichen Wortbekenntnisses konsequent auf das christlich-fromme Selbstbewusstsein: auf den Christus-Glauben der Person in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen. Dessen elementare Funktion in der Erfahrung bzw. in der Führung des Lebens aber bedarf einer theoretischen Erhellung, für die sich Schleiermacher wie gezeigt mit Recht an den Diskursen über Selbstbewusstsein orientiert (s. 2.2.1). Ich hatte diesen transzendentalen Grundbegriff im Sinne des Sich-gegenwärtig-Seins verwendet und damit dessen zeitliche Struktur bezeichnen wollen (s. 2.3.4.1). Schleiermachers kritische Behandlung der sog. „Zwei-Naturen-Christologie“ steht natürlich in direktem Zusammenhang mit seiner kritischen Behandlung der Lehre von der immanenten Trinität des göttlichen Wesens (s. 1.5.2). Wie er die „neunicaenische“ Fassung der Lehre von Gottes dreieinem Wesen und deren Theologiegeschichte als ein Missverständnis der Einzigkeit des Einen in Frage stellt, so sieht er dementsprechend Jesu Christi erlösendes Walten im Gemeingeist der Kirche begründet im „Sein Gottes (verstehe: des Einzigen) in ihm selbst als tätiges Prinzip“ (CG2 § 100,2 [II, 91 = KGA I.13,2, 106]). Dem christlich-frommen Selbstbewusstsein, welches sich „der schöpferischen Tätigkeit Christi“ (ebd.) und nur ihr verdankt, sind nach Schleiermachers Urteil deshalb solche prädikativen Sätze fremd, die über die „Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins“ (CG2  § 100 L [II, 90 = KGA I.13,2, 104]) hinauszugehen scheinen. Jedoch: Wenn dem Christus-Glauben in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) Jesu Christi Eines-Sein mit Gottes dreieinem Wesen erschlossen ist, dann muss die systematische Besinnung einen Weg finden, der Schleiermachers kritische Behandlung korrigiert. Ist ein solcher Weg zu finden? Zum Fünften: Nach meiner festen Überzeugung ist ein solcher Weg zu finden, wenn wir von zwei gleich wesentlichen Aspekten des jeweils hier und jetzt gelebten und bekannten Christus-Glaubens in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) ausgehen: erstens, dass der Heiligende Geist der Wahrheit in und mit den Ereignissen des Dritten Tages Jesu individuelle Lebensgeschichte bzw. Jesu individuelles Lebensgeschick bis hin zum Tode am Kreuz auf Golgatha als das versöhnende Walten Gottes des Schöpfers erschließt; und zweitens, dass Gottes des Schöpfers versöhnendes Walten unsere Erfahrung des Leids der Endlichkeit – des Syndroms des erlittenen und des verschuldeten Leids – rettet, befreit und heilsam neu bestimmt, indem es sie im Medium der individuellen Lebensgeschichte bzw. des individuellen Lebensgeschicks Jesu von

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Nazareth an sich selbst erträgt und aufhebend überwindet (Joh 1,29). So und nur so versteht der Christus-Glaube Gott als „Gott für uns“ (Röm 8,31). Nehmen wir diese beiden gleich wesentlichen Aspekte des jeweils hier und jetzt gelebten und bekannten Christus-Glaubens ernst, so werden wir die Aporie der „Zwei-Naturen-Christologie“ vermeiden können. Wir können sie vermeiden, indem wir Jesu Eines-Sein mit dem göttlichen Wesen als „Eines-Sein des PersonSeins“ verstehen. „Eines-Sein des Person-Seins“ aber ist ontologisch möglich und nicht unmöglich, weil das Wort und das Phänomen „Person-Sein“ den Aspekt des „Füreinander-Seins“ bzw. das „Im-Anderen-Seins“ einschließt. Das sei im Folgenden gezeigt; und zwar zunächst für Gottes Person-Sein und sodann für das Eines-Sein des göttlichen Person-Seins mit dem menschlichen, dem geschaffenen, dem individuellen Person-Sein Jesu von Nazareth.253 Ad 1: Gottes Person-Sein.– Der Christus-Glaube schließt die Einsicht ein, dass es für Gott möglich und nicht unmöglich ist, das Verhältnis des Eines-Seins mit dem menschlichen, dem geschaffenen, dem individuellen Person-Sein Jesu von Nazareth zu stiften. Es ist dies für Gott möglich und nicht etwa unmöglich, weil wir und sofern wir Gottes Sein – Gottes Eigen-Sein – als dreieines Person-Sein ansprechen dürfen. Ich erinnere dafür an meine Skizze der Lehre von Gottes immanenter Trinität als einer Lehre vom Person-Sein des dreieinen Gottes (s. 1.5.3.3). In ihr hatte ich Friedrich Schleiermachers kritische Behandlung der überlieferten Fassung der Trinitätslehre über Schleiermachers anregende Andeutungen hinaus für das Verstehen der immanenten Trinität fruchtbar machen wollen; ich hatte nämlich auf die ontologische Differenz zwischen unserem geschaffenen Person-Sein und dem ungeschaffenen, dem unendlichen Person-Sein Gottes geachtet. Natürlich ist der Begriff der ontologischen Differenz nicht angemessen zu verstehen, wenn er nicht zugleich das ontologische Grundverhältnis mitbezeichnet, in welchem Seiendes vom Sein-Selbst her existiert und für uns erkennbar ist. Nehmen wir diese ontologische Differenz wirklich ernst, so lösen wir uns von dem numerischen Schein der Zahl Drei, wie ihn die „neunicaenische“ Formel „Einzigkeit des Wesens – Dreiheit der Hypostasen“ suggeriert. Stattdessen beziehen wir

253 Ich behaupte also, dass das subjekttheoretische Verständnis des Phänomens des Person-Seins nicht etwa im Gegensatz zu einem ontologischen Verständnis des Phänomens des Person-Seins steht; vielmehr betrachte ich das „Sich-gegenwärtig-Sein“ als wesentliches und d. h. als ontologisches Merkmal des Phänomens des Person-Seins, das sich insoweit von anderen, nämlich von apersonalen bzw. von präpersonalen Weisen des Seiend-Seins plausibel unterscheiden lässt. Damit widerspreche ich jenem christologischen Entwurf, den vorgetragen hat Notger Slenczka, Problemgeschichte der Christologie, in: Elisabeth Gräb-Schmidt und Reiner Preul (Hg.), Christologie (wie Anm. 128), 59–111; bes. 106–111. Zur Begründung dieser Behauptung greife ich zurück auf meine Darstellung in Kap. 1: Der christliche Glaube an Gott.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

die Bedeutung der trinitarischen Namen „Vater“, „Sohn“ bzw. „Wort“ und „Heiliger Geist“ auf die drei gleich wesentlichen Momente des Einen, des ungeschaffenen, des unendlichen Person-Seins Gottes. Indem wir Gottes Sein als Gottes dreieines Person-Sein ansprechen, gebrauchen wir eine prädikative Bestimmung, die sich ihrerseits dem Interesse des christlichen Gott-Verstehens verdankt. Um dieses Interesses willen hatte Richard von St. Victor über die Ansätze bei Boethius hinaus die Bedeutung des Terms „Person“ im Sinne des „In-einer-Ursprungsbeziehung-vom-Anderen-her-Seins“ expliziert. Diese Explikation lässt sich erweitern und vertiefen, indem wir unter dem Term „Person“ das moralische Sein verstehen: moralisches Sein bewegt sich in der Grundsituation des „Verantwortlich-Seins“ und schließt deshalb das selbständige „Füreinander-Sein“ bzw. das selbständige „Im-Anderen-Sein“ ein. Die Geschichte der prädikativen Bestimmung des Terms „Person“ macht es plausibel zu sagen, dass dieser Term ungeachtet jener ontologischen Differenz zwischen Gott – dem „Sein-Selbst“ – und dem Seiend-Sein des Seienden einen univoken Kern besitzt (s. 1.5.1). Aus diesem Grunde ist es höchst angemessen, im Nachdenken über Gottes dreieines Person-Sein sowohl auf Gottes Einzigkeit – die Einzigkeit des Einen – als auch auf Gottes Einzigkeit als dreieiner Geist zu achten. Das Gott-Verstehen des Christus-Glaubens widerspricht insofern auch nicht im Geringsten dem GottVerstehen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft, wie es schließlich und endlich die Botschaft „Deuterojesajas“ und die Redaktion des Pentateuch errungen hatte; es konkretisiert es vielmehr nur, indem es dieses Gott-Verstehen im Sinne eines „trinitarischen Monotheismus“ entfaltet und damit dessen unitarische bzw. dessen monarchische Pointe überwindet.254 Das heißt: Einerseits versteht der Christus-Glaube unter dem Wort „Gott“ – analog zum philosophischen Denken des Einen seit Parmenides und analog zum Gottesbekenntnis der jüdischen JHWH-Gemeinschaft – jene Einzigkeit des Einen im Sinn des transzendenten Begriffs. Als dieser transzendente Begriff bezeichnet das Wort „Gott“ jenes notwendige Sein, dem das All des Seienden und in dessen Kontinuum auch das menschliche, das leibhafte Person-Sein relative und begrenzte Dauer verdankt.255 Schon die Bestimmung der Einzigkeit des Einen hat daher nicht im Geringsten den numerischen Sinn der „Eins“ einer unbegrenzten Zahlenreihe; sie meint vielmehr jene „Nicht-Andersheit“ im Sinn von Nikolaus von Kues, die mit vollem Recht auf jene ontologische Differenz zwischen Gottes Sein-Selbst als solchem und dem zählbaren bzw. dem berechenbaren Seiend-Sein des Seienden hinweist (s. 1.5.3.3). 254 Vgl. hierzu zuletzt Michael Moxter, Konkreter Monotheismus: ZThK 116 (2019), 342–369. 255 In der Entfaltung des Begriffs „Kontinuum“ vollendet sich die bedeutende Religionsphilosophie Hermann Deusers; vgl. Hermann Deuser, Religionsphilosophie, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2009, 421–504: V. Das Kontinuum: Religiöse Erfahrung als personale Symbolisierung.

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„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)

Andererseits: Indem der Christus-Glaube in den Erfahrungen des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids radikal auf Gottes unbedingten, unverbrüchlichen, ewigen Heilssinn vertraut, ist ihm Gottes notwendiges Sein als intelligibles Sein erschlossen, das mit uns in der Zeichensprache des endlichen bzw. des geschaffenen Seienden zu reden und das die Sprache des Gebets, den Schrei der Klage, die Innigkeit des Dankens und den Jubel der Freude zu hören und zu erwidern vermag. Gottes notwendiges Sein ist deshalb als das Sein des Geistes zu verstehen, das ich mit Hilfe des Hegel‘schen Begriffs als notwendiges Sein unendlicher Subjektivität präzisiere. Im radikalen Grundvertrauen auf Gottes unbedingten, unverbrüchlichen, ewigen Heilssinn sind wir uns somit eines inneren Sinnes des göttlichen Wesens gewiss, der das zentrale Interpretandum der Geschichte der kirchlichtheologischen Trinitätslehre ist. Wohlverstanden thematisiert sie diesen inneren Sinn des göttlichen Wesens als interne Relation. Ich hatte vorgeschlagen, die trinitarischen Namen „Vater“, „Sohn“ bzw. „Wort“ und „Heiliger Geist“ als die uns durch die biblische Sprache nun einmal vorgegebenen Benennungen der Relate dieser internen Relation zu denken. Sie sind als solche die Momente der Einzigkeit des göttlichen Seins als unendlicher bzw. als absoluter Geist: nämlich des „Sich-selbst-erschlossen-Seins“, des „Sich-selbst-Bestimmens“ und des „Sich-selbst-Bejahens“. Kraft dieser so zu denkenden internen Relation vertraut der Christus-Glaube radikal auf Gottes ursprüngliches Offen-Sein bzw. auf Gottes ursprüngliches Verantwortlich-Sein für Gottes geschaffenes, irdisches Ebenbild und für dessen Geschichte und Geschick.256 Indem wir die trinitarischen Namen „Vater“, „Sohn“ bzw. „Wort“ und „Heiliger Geist“ auf diese drei Momente des göttlichen Seins als unendlicher bzw. als absoluter Geist beziehen, verzichten wir natürlich wie gesagt auf jedwede numerische Bedeutung der Zahl „Drei“.257 Wir treffen vielmehr, wie Duns Scotus zu verstehen

256 Dieses Vertrauen ist der Ansatzpunkt der sog. kenotischen Christologie, die in Aufnahme von Phil 2,7 die Inkarnation des schöpferischen Wortes in der Weise des versöhnenden Wortes als die „Selbstentäußerung“ bzw. als die „Kondeszendenz“ des göttlichen Wesens versteht. Zu ihren verschiedenen Varianten vgl. John Webster, Art. Kenotische Christologie: RGG4 4, 929–931. – Eine spezifische Variante „kenotischer Christologie“ – nämlich als Entwurf einer „kenotischen TheoLogie“ – findet sich bei Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt (wie Anm. 193), bes. § 13: Gottes Einheit mit der Vergänglichkeit als Grund der Denkbarkeit Gottes (248–306). Ihr Motiv ist es, „Gott auch in einer atheistischen Wirklichkeit denkbar“ zu machen (306). Demgegenüber hatte ich in Kapitel 1: „Der christliche Glaube an Gott“ gezeigt, dass der ontologische Begriff Gottes als des notwendigen Seins (bzw. als des „Seins-Selbst“) den Gedanken einer „atheistischen Wirklichkeit“ – im Gegensatz zu einer atheistischen Sicht des Realen - undenkbar macht. Eine „kenotische Theo-Logie“ im strikten Sinne ist m. E. selbstwidersprüchlich und darum nichtig. 257 Die numerische Bedeutung der Zahlen „Eins“ und „Drei“ ist keinesfalls vermieden in den Formeln des „Symbolum Athanasii“ (genau: Symbolum „Quicumque“ pseudo-Athanasianum [DH 75–76]), das neben dem „Apostolicum“ und dem „Nicaenum“ an der Spitze des Konkordienbuchs steht:

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

lehrte, eine distinctio formalis; und indem wir eine distinctio formalis treffen, ziehen wir die prädikative Bestimmung zweier Ursprungsrelationen im Sein Gottes als unendlicher bzw. als absoluter Geist in wohlbegründeten Zweifel. Die prädikative Bestimmung zweier Ursprungsrelationen im Sein Gottes als unendlicher bzw. als absoluter Geist hat nämlich in der Geschichte der kirchlichtheologischen Lehre von Gottes dreieinem Wesen noch immer dazu geführt, die Einzigkeit des Einen mit dem trinitarischen Namen „Vater“ zu identifizieren und damit den unitarischen bzw. den monarchischen Kern des Gott-Verstehens der jüdischen JHWH-Gemeinschaft stillschweigend oder offensichtlich festzuhalten.258

„Fides autem catholica haec est, ut unum Deum in trinitate et trinitatem in unitate veneremur, neque confundentes personas, neque substantiam separantes. Alia est enim persona patris, alia filii, alia spiritus sancti: Sed patris et filii et spiritus sancti una est divinitas, aequalis gloria, coaeterna maiestas … Ita Deus pater, Deus filius, Deus spiritus sanctus, et tamen non tres Dii, sed unus Deus.“ („Dies ist aber der rechte christliche Glaube, daß wir ein einigen Gott in drei Personen und drei Perssonen in einiger Gottheit ehren, Und nicht die Personen in einander mengen noch das göttliche Wesen zertrennen. Ein andere Person ist der Vater, ein andere der Sohn, ein andere der heilige Geist. Aber der Vater und Sohn und heiliger Geist ist ein einiger Gott, gleich in der Herrlichkeit, gleich in ewiger Majestät … Also der Vater ist Gott, der Sohn ist Gott, der heilige Geist ist Gott; Und sind doch nicht drei Götter, sondern es ist ein Gott.“ [BSLK 28,10–20; 29,1–3]). 258 In der Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts war es vor allem Karl Barth, dessen „Kirchliche Dogmatik“ mit einer Trinitätslehre im Sinne einer Lehre von der zweifachen Ursprungsrelation (sic! K.S.) der Einzigkeit des Einen einsetzt (vgl. KD I/1, §§ 8–12 [311–514]; bes. 382: „… das unterschiedliche Stattfinden der drei göttlichen Seinsweisen ist zu verstehen aus ihren eigentümlichen Beziehungen [im Original gesperrt], und zwar aus ihren eigentümlichen genetischen [im Original gesperrt] Beziehungen zueinander. Vater, Sohn und Geist sind dadurch voneinander unterschieden, daß sie ohne Ungleichheit ihres Wesens und ihrer Würde, ohne Mehrung oder Minderung ihrer Gottheit in ungleichen Ursprungsverhältnissen [im Original gesperrt] zueinander stehen.“). Dass Barth mit dem trinitarischen Namen „Vater“ den Ursprung des „Sohnes“ bzw. des „Wortes“ und des „Heiligen Geistes“ bezeichnet wissen will, führt in der Lehre von der Versöhnung dazu, den Tod des Christus Jesus am Kreuz auf Golgatha als das stellvertretend erlittene Gericht des „Vaters“ zu deuten (vgl. KD IV/1, bes. 231–311). – Erstaunlicherweise lehrt auch Wolfhart Pannenberg, STh II, 415–422, ganz und gar auf der Linie des unitarischen bzw. des monarchischen Kerns der altkirchlichen Trinitätslehre die Unterordnung des „Sohnes“ unter den „Vater“: „In der Lebensform Jesu, im Wege seines Gehorsams gegen Gott, ist der ewige Sohn in menschlicher Gestalt erschienen. Das Verhältnis des Sohnes zum Vater ist in Ewigkeit durch jene Unterordnung unter den Vater, also durch Selbstunterscheidung des Sohnes von der Majestät des Vaters gekennzeichnet, die in Jesu menschlichem Verhältnis zu Gott in Erscheinung getreten ist.“ (420). Vgl. auch 421: „Zwar tritt der Sohn, indem er den Vater als den einen Gott (sic! K.S.) von sich unterscheidet, aus der Einheit der Gottheit heraus und wird Mensch. Aber dadurch betätigt er gerade sein göttliches Wesen als Sohn.“. – Wilfried Härle, Dogmatik5 , 399–402, möchte den Aspekt der Ursprungsrelation dadurch festhalten, dass er mit dem trinitarischen Namen „Vater“ „die innertrinitarisch ursprungshafte Seinsweise Gottes“ (399) bezeichnet wissen möchte. Warum wir eine solche „Seinsweise“ ohne Rekurs auf das Moment des „Sich-selbst-erschlossen-Seins“ sollen denken können, wird jedoch nicht gezeigt.

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Ad 2: Jesu Christi Eines-Sein mit dem dreieinen Gott 259 . – Der Christus-Glaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) versteht sich selbst als Leben in der Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums. Als solcher existiert er im radikalen Grundvertrauen auf Gottes unbedingten, unverbrüchlichen Heilssinn, der sich in den Ereignissen des Dritten Tages ursprünglich erschlossen hatte und immer wieder neu erschließt. In ihnen wurde Gottes Wesen über die Vorgeschichte seines Sich-Offenbarens hinaus endgültig offenbar: nämlich als jene ursprüngliche schöpferische Macht, die auf die ewige Gemeinschaft mit dem Ebenbilde Gottes als das in Wahrheit Höchste Gut aus ist und die um willen dieser ewigen Gemeinschaft das Leid der Endlichkeit aufhebend überwindet. Weil in den Ereignissen des Dritten Tages Jesu von Nazareth Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha als Mitteilung und Darstellung des göttlichen Person-Seins offenbar wurde, ist es von allem Anfang an das Interesse des gelebten und bekannten Christus-Glaubens, eben das Verhältnis zu verstehen, in dem sich Jesu individuelles – und d. h.: geschaffenes, irdisches – Person-Sein zur Einzigkeit des Einen, zum unendlichen, zum schöpferischen Person-Sein Gottes, befindet. Mit dem Begriffswort „Christologie“ bezeichnen wir mithin das Gefüge prädikativer Aussagen, die dieses Verhältnis verstehen und für die religiöse Kommunikation des Evangeliums hier und heute verständlich machen wollen. Mit ihnen schließe ich die Antwort auf die Frage ab, wie wir das Subjekt des Christus-Geschehens – des Ereignisses des versöhnenden Waltens Gottes des Schöpfers – angemessen nennen dürfen. Indem ich diese Antwort im Raum der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen und als deren „Glied“ (vgl. 1Kor 6,15; Eph 5,30) zu geben suche, greife ich bereits voraus auf den Gedankengang des Kapitels 4: „Der christliche Glaube an Gott den Vollender“; denn dieser Gedankengang hat nachzuzeichnen, dass das Subjekt des Christus-Geschehens sich von sich selbst her kraft des Heiligenden Geistes der Wahrheit für unser Glauben, Lehren und Bekennen erschließt. Das Gefüge prädikativer Aussagen über das Subjekt des Christus-Geschehens meint daher nichts Geringeres als dessen Gegenwart für den Geist der Gemeinde bzw. das sich selbst für den Geist der Gemeinde vergegenwärtigende Subjekt: „Er ist nicht hier, er ist auferstanden“ (Lk 24,6).260

259 Vgl. zum Folgenden bes. den glänzenden Artikel von Rowan Williams, Art. Christologie II. Dogmengeschichtlich 1. Alte Kirche: RGG4 2, 289–299; ferner: Wilfried Härle, Dogmatik5 , 340–356: Die Person Jesu Christi; Eilert Herms, STh (Bd. 1), § 43: Das Christusgeschehen I. Die Inkarnation des Wesenswillens (des Logos) des Schöpfers (767–823). 260 Das Evangelium nach Johannes verdeutlicht diesen elementaren Sachverhalt in der Erzählung von der Antwort des „ungläubigen“ Thomas: „Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20,24-29; 29).

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Die Art und Weise, das Subjekt des Christus-Geschehens in seiner Gegenwart für den Geist der Gemeinde angemessen zu nennen, war – wie ich gezeigt hatte in der Lebenswelt des antiken bzw. des spätantiken Christentums vorentschieden durch eine spezifische Deutung des Geschehens der Inkarnation. In den Risiken des Martyriums, in der Begegnung mit den populären philosophischen Schulen und in den schweren Auseinandersetzungen mit der faszinierenden Bewegung der Gnosis bzw. mit dem radikalen Paulinismus Markions legte es sich nahe, das Geschehen der Inkarnation des schöpferischen Wortes (Joh 1,1.14) mit Hilfe der Legende von der wundersamen Empfängnis des „Sohnes des Höchsten“ durch die „Kraft des Höchsten“ (Lk 1,32.35) – zu bedenken. Die Symbole des Konzils von Konstantinopel im Jahre 381 (DH 150) und des Konzils von Chalkedon im Jahre 451 (DH 300–303) artikulieren ihr ökumenisches Verständnis des Eines-Seins Jesu Christi mit dem dreieinen Gott auf der Basis dieser Legende.261 Ihre von Rechts wegen geltende kirchliche Lehre hatte und hat nun allerdings die Folge, dass Jesu von Nazareth Lebensgeschichte und Lebensgeschick nicht als die Lebensgeschichte bzw. als das Lebensgeschick einer geschaffenen und d. h. einer individuellen leibhaften Person zu erzählen ist. Die christologische Formel der Symbole von Konstantinopel und von Chalkedon öffnet vielmehr die Tür zu einer Reflexionsgeschichte, die Jesu Eines-Sein mit dem dreieinen Gott ausdrücklich als das Eines-Sein des Allgemeinen des Mensch-Seins (der „humanitas“) und der von Gott dem Vater in Gottes Ewigkeit gezeugten Person Gottes des Sohnes bzw. des Wortes (der „deitas“) betrachtet. Obschon die christologische Formel des Symbols von Chalkedon treuherzig versichert, Jesu Eines-Sein mit der Person Gottes des Sohnes bzw. des Wortes konstituiere ein identisches Subjekt, stellt die weitere Reflexionsgeschichte klar, dass dies identische Subjekt – Jesus von Nazareth als der menschgewordene „Sohn“ „Gottes des Vaters“ – durch das göttliche Person-Sein des vor aller Zeit aus Gott dem Vater gewordenen Sohnes gebildet wird.262 Die Lehre

261 Wie maßgeblich diese Legende für das Bekenntnis und für das Lehramt der römisch-katholischen Kirche ist, zeigt Gerhard Ludwig Müller, Katholische Dogmatik (wie Anm. 128), 316–320, sowie bes. im 8. Kapitel (478–514): Die Mutter Jesu Christi – Urbild christlicher Existenz und Typus der Kirche (Mariologie). Zum Maria-Verständnis in den orthodoxen Kirchengemeinschaften vgl. Franz Courth, Maria/Marienfrömmigkeit IV. Orthodoxie: TRE 22, 148–151. 262 Die weitere Reflexionsgeschichte wurde maßgeblich bestimmt durch die von Leontius von Jerusalem entwickelte Unterscheidung zwischen der „Enhypostasie“ und der „Anhypostasie“ der Existenz des Christus Jesus (vgl. Karl-Heinz Uthemann, Art. Leontius von Jerusalem: RGG4 5, 273–274). Vgl. hierzu die Analyse von Notger Slenczka, Problemgeschichte der Christologie, in: Elisabeth Gräb-Schmidt und Reiner Preul (Hg.), Christologie (wie Anm. 128), 61–69; 67: Für das Verständnis des Symbols bleibt „nur die eine Möglichkeit, dass die Wesensnatur des Menschen in Christus kein eigenes suppositum hat, sondern durch das suppositum (die persona) der Gottheit im Sein gehalten wird. Gott (verstehe: der Sohn Gottes des Vaters [K.S.]) vereint die Menschheit mit sich (und nicht umgekehrt). Daher kann von dem konkreten Menschen Jesus von Nazareth ausgesagt werden,

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von den zwei „Wesensnaturen“ des Christus Jesus, die wie gesagt in der frommen Legende von der wundersamen Empfängnis des Heilands durch die „Kraft des Höchsten“ und von seiner Geburt aus der Jungfrau Maria – der „Gottesmutter“ (DH 301) – ihre biblische Basis hat, vermag das individuelle Person-Sein Jesu von Nazareth nicht zu denken. Indem ich Schleiermachers Kritik an der begrifflichen Form der Lehre der Symbole von Konstantinopel und von Chalkedon von den zwei „Wesensnaturen“ und an deren Fortschreibung ernst nehme, sehe ich mich in der Lage, Sinn und Bedeutung des Christus-Bekenntnisses „Wahrer Gott – wahrer Mensch“ angemessen zu explizieren. Diese meine Explikation geht davon aus, dass schon die ChristusBekenntnisse des Neuen Testaments auf die Ereignisse des Dritten Tages antworten; in ihnen nämlich wird es ihren Empfängern als wahr gewiss, dass sich das göttliche Wesen im Medium der Lebensgeschichte bzw. im Medium des Lebensgeschicks Jesu von Nazareth für „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) selbst versöhnend vergegenwärtigt (2Kor 5,19). Dieses „Ereignis“ – der österliche und damit der pfingstliche Erkenntnisgrund des Eines-Seins Jesu mit dem dreieinen Gott – ist mithin für das Verständnis der Inkarnation des schöpferischen Wortes um willen der Versöhnung (Joh 1,1.14) fundamental, obschon die Geschichte des Verstehens der Inkarnation natürlich unabschließbar ist. Wenn wir im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages Jesu irdische Lebensgeschichte bzw. Jesu irdisches Lebensgeschick als Inkarnation des schöpferischen Wortes um willen der Versöhnung verstehen, so knüpfen wir notwendigerweise an Einsichten und an Aussagen an, die das Phänomen des Person-Seins betreffen. Solche Einsichten und solche Aussagen sind überprüfbar, sofern wir sie im Wege der Besinnung auf das je eigene, je individuelle Person-Sein testen; denn dieses gibt es nur als den je einzelnen bzw. als den je besonderen Fall des Allgemeinen des menschlichen, des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins. Im Rahmen der Lehre vom christlichen Glauben an Gott (Kap. 1) sowie der Lehre vom christlichen Glauben an Gott den Schöpfer (Kap. 2) hatte ich gezeigt, dass die dogmatische Darlegung mit guten Gründen das Allgemeine des menschlichen Person-Seins als geschaffenes, als leibhaftes Person-Sein bestimmt. Es ist als solches das Ebenbild des ungeschaffenen, des ewigen, des wahrhaft unendlichen, des schöpferischen Person-Seins Gottes, in dessen allumfassender, allerhaltender Kraft es existiert.263 Wird es von dem Moment der Befruchtung, der Verschmelzung der Gameten an individuiert, so ist und bleibt ihm Gottes schöpferisches Person-Sein

dass er ‚ein Mensch‘ ist (eine selbständige, aber eben von der Person des Logos individuierte und verselbständigte, Menschennatur), als auch, dass er Gott ist (ein concretum von Gotthaftigkeit).“. – Vgl. Christoph Markschies, Art. Enhypostasie/Anhypostasie: RGG4 2, 1315–1316. 263 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie. Erster Teil, Marthens Garten: „Der Allumfasser, / Der Allerhalter, / Faßt und erhält er nicht / Dich, mich, sich selbst?“ (3438–3441).

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

von sich selbst her gegenwärtig. Zwar existiert es in der ontologischen Differenz zu Gottes schöpferischem Person-Sein; aber die ontologische Differenz zu Gottes schöpferischem Person-Sein wird umgriffen vom ontologischen Verhältnis zwischen Gottes schöpferischem Person-Sein und dem geschaffenen Person-Sein eines Menschen, das im Moment der Befruchtung, der Verschmelzung der Gameten als individuiertes beginnt. Zeichen und Merkmal dieses ontologischen Verhältnisses ist das jeweilige Sich-gegenwärtig-Sein (s. 2.3.4.1; 2.3.4.2). Wir dürfen das jeweilige Sich-gegenwärtig-Sein, in dem sich die Entsprechung zwischen Gottes schöpferischem Person-Sein und dem geschaffenen Person-Sein der Menschengattung und eines jeden individuierten Menschenlebens zeigt, als Geist ansprechen (s. o. S. 1.5.3.3.1). Unter dem Begriffswort „Geist“ verstehe ich sowohl die ewige bzw. die unendliche Basis des göttlichen Waltens als auch die endliche und begrenzte Basis der menschlichen Weise, leibhaft am Leben zu sein und das Leben in selbstbewusst-freier Weise in der sprachlichen Kommunikation und in der praktischen Interaktion miteinander zu führen. Sie ist als transzendentaler Grund des menschlichen Wählen- und Entscheiden-Könnens das lumen naturae, das als solches zugleich der Menschengattung und jedem individuierten Menschenleben aus der Quelle des schöpferischen Person-Seins Gottes gewährt wird. Indem wir uns auf das Geistige als auf die Basis des Phänomens des Person-Seins besinnen, gewinnen wir das angemessene Verständnis für die Aussage-Intention des Symbols des Konzils von Chalkedon, der Christus Jesus – das Subjekt des Christus-Geschehens – sei in untrennbarer Einheit „wahrer Gott“ und „wahrer Mensch“. Dies angemessene Verständnis geht nicht von der frommen Legende der wundersamen Empfängnis des Heilands durch die „Kraft des Höchsten“ und seiner Geburt von der Jungfrau Maria aus; es geht vielmehr von den Ereignissen des Dritten Tages aus. Sie nämlich machen Jesu Eines-Sein mit dem dreieinen Gott offenbar; sie machen die „Subjekteinheit“ (Gerhard Ludwig Müller) des individuellen bzw. des endlichen Person-Seins Jesu und des unendlichen Person-Seins Gottes offenbar, auch wenn dies Offenbare letztlich alles Verstehen-Können übersteigt. Und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen: Als „wahrer Mensch“ ist das Subjekt des Christus-Geschehens jene individuierte, geschaffene und d. h. leibhaft existierende Person, die wir mit dem Namen Jesus von Nazareth nennen. Sie existiert vermöge ihres individuellen Sichgegenwärtig-Seins in jener Entwicklungs- und Bildungsgeschichte, die maßgeblich bestimmt wird von der Begegnung mit Johannes dem Täufer und mit dessen apokalyptischer Botschaft.264 In dieser Entwicklungs- und Bildungsgeschichte ereignet

264 Vgl. hierzu zuletzt Knut Backhaus, Jesus und Johannes der Täufer, in: Jens Schröter und Christine Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch (wie Anm. 160), 245–252.

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„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)

sich die entscheidende Vision, die Jesu einzigartiges Selbstbewusstsein und Selbstverständnis wie ein Blitz aus heiterem Himmel hervorruft und prägt, die königliche Herrschaft JHWHs, des Gottes Israels – die Herrschaft der Wahrheit, der Gnade und des Friedens (Jes 54,10) –, in jeweils aktueller und punktueller Weise in Wort und Tat zu bringen (s. 3.5.2.2). Im Lichte dieser entscheidenden Vision weiß Jesus sich zur Proexistenz für JHWHs königliche Herrschaft und für deren unscheinbares und verborgenes Werden berufen, deren endgültige Epiphanie im Tempel zu Jerusalem er sehnlichst erwartet und erhofft.265 Wir dürfen dieses Sich-berufen-Wissen als diejenige Bestimmtheit des Selbstbewusstseins bzw. des Selbstverständnisses Jesu denken, die ihren Grund in Gottes unbedingtem Heilswillen, in Gottes InGemeinschaft-sein-Wollen hat. Sie ist die einzigartige Bestimmtheit, die Jesu Geist bestimmt.266 Wenn die dogmatische Besinnung sich an den Versionen der erzählten JesusChristus-Geschichte orientiert, hat das für ihre Christologie eine wichtige Konsequenz: eine Konsequenz, die möglich und die unabweisbar wurde durch die historisch-kritische Methodenlehre. Als „wahrer Mensch“ lebt, handelt, leidet, stirbt und aufersteht das Subjekt des Christus-Geschehens nicht etwa – wie eine „alexandrinische“ bzw. eine „kyrillische“ Lesart des Symbols des Konzils von Chalkedon meint – nur in der Weise des Allgemeinen des geschaffenen Person-Seins ohne eigenes „Suppositum“ (s. o. Anm. 261); als „wahrer Mensch“ existiert das Subjekt des Christus-Geschehens vielmehr – wie eine „antiochenische“ bzw. eine „nestorianische“ Lesart des Symbols des Konzils von Chalkedon nahelegt – in der Weise der individuellen Lebensgeschichte eines jüdischen Mannes, dessen Selbstbewusstsein und dessen Selbstverständnis das Allgemeine des geschaffenen Person-Seins allerdings zur notwendigen Bedingung hat. Deshalb und nur deshalb, weil Jesu Selbstbewusstsein bzw. Jesu Selbstverständnis das Allgemeine des geschaffenen Person-Seins zur notwendigen Bedingung hat, ist Jesu einzigartige Proexistenz für JHWHs königliche Herrschaft – für die Herrschaft der Wahrheit, der Gnade und des Friedens (Jes 54,10) – eine Proexistenz ein für allemal (Röm 6,10; Hb 10,10), eine Proexistenz für uns.267 265 Die verschiedenen Versionen der erzählten Jesus-Christus-Geschichte unterschlagen nicht, dass Jesu Lebenszeugnis für die verborgene, d. h. für die je aktuelle und punktuelle Gegenwart der Herrschaft der Wahrheit, der Gnade und des Friedens in ihm selbst die Drohung und die Warnung vor dem „Tag des Gerichts“ einschließt (vgl. nur Mt 11,20-24; 12,36). Vgl. dazu 4.5.4.2. 266 Vgl. hierzu Friedrich Schleiermacher, CG2 § 94 L (II, 43 = KGA I.13,2, 52): „Der Erlöser ist sonach allen Menschen gleich, vermöge der Selbigkeit der menschlichen Natur, von allen aber unterschieden durch die stetige Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins, welche ein eigentliches Sein Gottes in ihm war.“ 267 Sie ist solche Proexistenz ein für allemal auch dann, wenn sie sich noch im Kontext des GottVerstehens der jüdischen JHWH-Gemeinschaft und ihres monarchischen bzw. ihres unitarischen Kerns bewegt, wie dies die Anrede JHWHs als Vater bezeugt.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

Zum andern: Wenn wir der Linie des Symbols des Konzils von Chalkedon folgend das Subjekt des Christus-Geschehens als „wahren Gott“ ansprechen (vgl. schon Joh 1,1.18), so liegt uns jegliche Vergottung des Freudenboten aus Nazareth fern. Wir suchen vielmehr dem Persongeheimnis nachzudenken, so wie es die Ereignisse des Dritten Tages ihren Empfängern für deren religiöse Kommunikation offenbarten. Von diesem Persongeheimnis ist die Rede im Prolog des Evangeliums nach Johannes: „Und das Wort ward Fleisch und nahm Wohnung unter uns; und wir sahen seine Herrlichkeit – eine Herrlichkeit, wie sie im einziggeborenen Sohn vom Vater widerstrahlt – voll von Gnade und Wahrheit.“ (Joh 1,14 [Übersetzung Ulrich Wilckens])

Unter dem „Wort“ versteht der Autor des Prologs Gottes schöpferisches Wort, das als solches dem All des Seienden und darin auch dem menschlichen, dem leibhaften Person-Sein Existenz und relative Dauer in Raum und Zeit gewährt. In meiner trinitätstheologischen Skizze hatte ich den Ausdruck „schöpferisches Wort“ auf jenes Moment des göttlichen Wesens bezogen, in dem sich Gottes unendlicher bzw. Gottes absoluter Geist zum schöpferischen Gewähren unseres endlichen Geistes im All des Seienden bestimmt (Joh 1,3 [s. 1.5.3.3.2]). Von diesem „Sich-Bestimmen“ sagt der Autor des Prologs nun nicht nur, dass es das „Licht der Menschen“ (Joh 1,4) gewähre: d. h. jenes „Sich-gegenwärtig-Sein“, in dessen Licht bzw. in dessen transzendentalem Grund wir Menschen alle uns aufeinander ebenso wie auf unseren transzendenten Grund bezogen wissen268 ; er sagt vielmehr auch und zugleich, dass dieses Licht des allen Menschen gewährten 268 Es ist der Grundgedanke der Herms’schen Interpretation des christologischen Dogmas, dass dies Gewähren des personalen Sich-gegenwärtig-Seins den „ontologischen Möglichkeitsrahmen“ der Inkarnation bereitet, der seinerseits als die je individuelle „primäre unio personalis“ zwischen dem schöpferischen Person-Sein Gottes und dem je individuellen Person-Sein eines Menschen zu verstehen ist; vgl. Eilert Herms, STh (Bd. 1), 804: „Denn die Inkarnation und ihr Effekt bewegt sich … auf dem Boden und in dem ontologischen Möglichkeitsrahmen dieser primären asymmetrischen unio personalis. Die durch die Inkarnation des Schöpferlogos geschaffene unio personalis ist eine neue Qualifikationsgestalt der schon zuvor und grundlegend durch den Schöpferlogos geschaffenen unio personalis.“. – Dieses Verständnis des ontologischen Möglichkeitsrahmens der Inkarnation erinnert an die Interpretation der Ebenbildlichkeit des Menschen als der „ontologischen Beziehung zwischen Menschsein und Gotteswort“ (Unterstreichung im Original gesperrt) bei Emil Brunner, Der Mensch im Widerspruch. Die christliche Lehre vom wahren und vom wirklichen Menschen, Berlin: Furche-Verlag, 1937, 61 (vgl. auch 81–89); es konkretisiert dieses Verständnis jedoch ganz zu Recht durch den Rekurs auf die transzendentale Fassung dieser „ontologischen Beziehung“, die Brunners Personalismus übergeht. Erst recht ist der Rekurs auf die transzendentale Fassung der „ontologischen Beziehung zwischen Menschsein und Gotteswort“ in Abrede gestellt bei Karl Barth, KD III/2, 158–241: § 44,3: Der wirkliche Mensch, bzw. wohlbedacht umgangen bei Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt (wie Anm. 193).

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„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)

„Sich-gegenwärtig-Seins“ verfinstert sei (Joh 1,5). Es ist verfinstert, weil ihm und sofern ihm die „Gnade und Wahrheit“ des göttlichen Wesens (Joh 1,14) de facto noch verschlossen ist. Die „Gnade und Wahrheit“ des göttlichen Wesens – die „Lebensgemeinschaft mit Gott als einziges (verstehe: als einzig objektives [K.S.]!) Ziel der menschlichen Geschichte“269 als das in Wahrheit Höchste Gut – ist noch „unverstanden“ (Joh 1,10). Und weil und solange sie noch de facto „unverstanden“ ist, ist die menschliche Geschichte der Triebkraft bzw. der Anziehungskraft des Bösen wie auch der Angst des Todes ausgesetzt (s. 3.3.7). Nur wer sich selbst in Theorie und Praxis betrügt, wird solche Triebkraft bzw. solche Anziehungskraft des Bösen wie auch solche Angst des Todes in sich selber leugnen. Dennoch: Es ist dem Autor des Prologs ebenso wie schon den Empfängern der Ereignisse des Dritten Tages als wahr gewiss, dass dieses faktische „UnverstandenSein“ der „Gnade und Wahrheit“ des göttlichen Wesens – und d. h.: die Triebkraft bzw. die Anziehungskraft des Bösen wie auch die Angst des Todes – endgültig in Überwindung begriffen ist. Es ist endgültig in Überwindung begriffen kraft des Erscheinens des schöpferischen Wortes im Medium des geschaffenen, des individuellen Person-Seins Jesu von Nazareth (Joh 1,17), im Medium seiner Lebensgeschichte und seines Lebensgeschicks bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha. Es ist endgültig in Überwindung begriffen kraft des Erscheinens des schöpferischen Wortes in der Weise des versöhnenden Wortes (2Kor 5,19). Von dem Erscheinen des schöpferischen Wortes in der Weise des versöhnenden Wortes bezeugt das Evangelium nach Johannes: es ist das neue Sich-gegenwärtig-Sein, „das die Sünde der Welt aufhebt!“ (Joh 1,29). Es bedurfte einer langen Reflexionsgeschichte, um das Verhältnis angemessen zu bedenken, das zwischen Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick und jenem Erscheinen des schöpferischen Wortes in der Weise des versöhnenden Wortes besteht. Soviel ist klar: Ist es dem Christus-Glauben als wahr gewiss, dass Gottes schöpferisches Wort in, mit und unter Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick als Gottes versöhnendes Wort erscheint, so ist ihm damit eo ipso als wahr gewiss, dass Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick im Eines-Sein mit Gottes versöhnendem Wort existiert. Er – der Christus-Glaube – versteht das Subjekt des Christus-Geschehens als dieses Eines-Sein, so wie es nach der Erzählung des Evangeliums nach Johannes der „ungläubige“ Thomas artikuliert: „Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20,28).

Lässt sich dies Eines-Sein, welche dem Christus-Glauben durch Gottes Heiligenden Geist offenbar und das ihm deshalb als wahr gewiss ist, noch genauer erläutern? Was

269 Gerhard Ludwig Müller, Katholische Dogmatik (wie Anm. 128), 125.

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Jesus von Nazareth: Der Christus des dreieinen Gottes

meinen wir, wenn wir dies Eines-Sein als unio personalis, als personales Eines-Sein ansprechen? Wir meinen zum einen: Als personales Eines-Sein sprechen wir das Eines-Sein zwischen Gottes des Schöpfers versöhnendem Wort und Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha an, weil und sofern wir Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick als die irdische Gestalt (Phil 2,7) verstehen, in der das göttliche Wesen uns in seinem Sein für uns begegnet. Als diese irdische Gestalt ist jenes personale Eines-Sein strikt asymmetrisch. Sie hat nämlich ihren ewigen Grund und Ursprung in jener „Wahl der Gnade“, in der das göttliche Wesen sich bestimmt zum Sinn und Ziel und damit zum wahrhaft Höchsten Gut des irdischen, des menschlichen, des geschaffenen Person-Seins, um dessen faktisches Verstrickt-Sein ins Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids versöhnend und vollendend zu überwinden; und umgekehrt ist Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick bestimmt von jener blitzartigen Erleuchtung, kraft derer Jesus selbst sich gegenwärtig ist als jener Mensch, der Gottes Sein für uns auf allerdings nur jeweils punktuelle und aktuelle Weise realisiert und demonstriert. Das personale Eines-Sein zwischen Gottes des Schöpfers versöhnendem Wort und Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha wird dem Christus-Glauben im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages offenbar als selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft. Kein Text des neutestamentlichen Offenbarungszeugnisses bringt diese freie Willensgemeinschaft ergreifender zur Sprache als die übereinstimmende Erzählung der synoptischen Evangelien, die Jesu Ringen im Gebet zu JHWH im Garten Gethsemane artikuliert (Mt 26,36-46; Mk 14,32-42; Lk 22,39-46).270 270 Mit dieser Erklärung der unio personalis, des personalen Eines-Seins zwischen Gottes des Schöpfers versöhnendem Wort und Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha nehme ich das Wahrheitsmoment der Unterscheidung zwischen der „Enhypostasie“ und der „Anhypostasie“ der Existenz des Christus Jesus auf, die auf Leontios von Byzanz bzw. auf Leontios von Jerusalem zurückgeht (s. o. Anm. 261). Sie kann plausibel machen, dass der ChristusGlaube, der sich des ewigen Grundes und Ursprungs der Existenz des Christus Jesus gewiss ist, nicht notwendig auf die fromme Legende von der wundersamen Empfängnis des Heilands durch die „Kraft des Höchsten“ angewiesen ist. – Mit dem Begriff der „Willensgemeinschaft“ knüpfe ich an die Lehrentscheidungen des III. Konzils von Konstantinopel (680–681) an, die gegen den „Monotheletismus“ im Sinne von Theodor von Pharan und von Sergius von Konstantinopel den „Dyotheletismus“ als von Rechts wegen geltende kirchliche Lehre proklamieren (DH 550–559); vgl. bes. Werner Elert, Der Ausgang der altkirchlichen Christologie. Eine Untersuchung über Theodor von Pharan als Einführung in die alte Dogmengeschichte, Berlin: Lutherisches Verlagshaus, 1957, sowie Adolf Martin Ritter, Art. Monotheletismus: RGG4 5, 1467–1469. Elert sieht im erbitterten Streit über den Willen der göttlichen und der menschlichen Wesensnatur im Christus Jesus einen „Wendepunkt“ der altkirchlichen Christologie, weil er – ganz abgesehen von seinen politischen Aspekten – als „ein neuer und erfolgreicher Anlauf zur volleren Würdigung des evangelischen

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„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)

Und wir meinen zum andern: Indem dem Christus-Glauben die personale Einheit zwischen Gottes des Schöpfers versöhnendem Wort und Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha im Licht und nur im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages als selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft offenbar wird, wird ihm die Gegenwart dieses personalen Eines-Seins offenbar, die die Welt-Raumzeit dieses unseres irdischen Existierens umfasst und umgreift. Ich hatte ja gezeigt, dass die Ereignisse des Dritten Tages ihren Empfängern nicht allein die göttliche Bejahung des Lebenszeugnisses des Freudenboten aus Nazareth zu verstehen geben; sie geben ihnen vielmehr auch des Todes Tod zu verstehen, Jesu Übergang, Jesu Verwandlung in Unverweslichkeit bzw. in Unsterblichkeit (s. 3.5.2.1). Wie geschrieben steht: „DER TOD IST IN DEN SIEG HINEINVERSCHLUNGEN WORDEN. TOD, WO IST DEIN SIEG? TOD, WO IST DEIN STACHEL?“ (1Kor 15,54f. [Übersetzung Ulrich Wilckens]).

Wir dürfen dieses Zeugnis des Apostels Paulus interpretieren als den überschwänglichen Ausdruck der Gewissheit, dass die Ereignisse des Dritten Tages Jesu Erhöhung in die himmlische Gestalt des personalen Eines-Seins zwischen Gottes des Schöpfers versöhnendem Wort und Jesu individuellem Lebenszeugnis bezeichnen (vgl. 1Kor 15,48f.). Als solche Zeichen machen sie auf eine einzigartige Entgrenzung der Lebensgeschichte und des Lebensgeschicks bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha aufmerksam. Denn während die irdische Gestalt des Christus Jesus Gottes Sein für uns in der nur jeweils punktuellen und aktuellen Weise des aramäisch sprechenden Mannes aus Nazareth und seines apokalyptischen Erbes präsentiert, geschieht in den Ereignissen des Dritten Tages das Allgemeine, das Allumfassende bzw. das allem irdischen und allem geschaffenen Person-Sein Geltende und Zugewandte dieses individuellen Lebens. Kraft der Erhöhung in die himmlische Gestalt des personalen Eines-Seins zwischen Gottes des Schöpfers versöhnendem Wort und seinem individuellen Lebenszeugnis vermag der Christus Jesus nunmehr sich als Gottes Sein für uns zu vergegenwärtigen in allen kosmischen Raum-Zeit-Punkten und in allen geschicht-

Christusbildes (verstehe: des Christusbildes der Evangelien)“ (241) zu bewerten sei. – Im breiten Spektrum der „kontextuellen“ Christologien, das die derzeitige religiöse Kommunikation der ökumenischen Christenheit prägt, wird es das zentrale Thema des hoffentlich erwünschten Diskurses sein, ob sie – und wenn ja, in welcher Weise sie – die Willensgemeinschaft des versöhnenden Wortes Gottes des Schöpfers mit der Lebensgeschichte und dem Lebensgeschick Jesu von Nazareth bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha zur Geltung bringen wollen und auch können.

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Fazit: Das Christus-Geschehen

lichen Konstellationen unserer noch irdischen Existenz.271 Er vergegenwärtigt sich als Gottes Sein für uns, indem er alle die notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür gewährt, dass auch in uns unter den noch herrschenden Krisen, Konflikten und Katastophen dieser Weltzeit eben jene selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wesen entstehe, die ihn selbst bestimmt. Eben darin erweist er sich als Urbild jenes „neuen Gesamtlebens“, das sich als das Leben des Glaubens in der Hoffnung, in der Liebe und in der Selbstverantwortung vor Gott zeigt.272 Von diesem „Urbild-Sein“ des Christus Jesus sagen das Apostolische Glaubensbekenntnis bzw. das Glaubensbekenntnis von Nicaea-Konstantinopel: „Er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters“.

Ich bin damit an jene Schwelle gekommen, über die wir in den abschließenden Gedankengang dieser Darstellung der Dogmatik gelangen. Denn das „neue Gesamtleben“, das sich als das Leben des Glaubens in der Hoffnung, in der Liebe und in der Selbstverantwortung vor Gott zeigt, gibt es in der Kraft des Heiligenden Geistes, der sich des verantwortlichen Handelns in der religiösen Kommunikation der „Kirche in der Kultur der Gesellschaft“ frei bedient. Es ist das Thema des folgenden Kapitels 4: „Der christliche Glaube an Gott den Vollender“ und damit auch der Schwerpunkt der vorliegenden Dogmatik nachzuzeichnen, dass Jesu Christi „Sitzen zur Rechten Gottes“ nicht anders geschieht als in der Form der „Ausgießung“, d. h. der Mit-Teilung und der Sendung des Heiligenden Geistes in ihrer eschatischen Tendenz hin auf das Vollendet-Werden jenseits des Todes und durch den Tod hindurch.

3.6

Fazit: Das Christus-Geschehen273

Die Christus-Gemeinschaft aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) existiert – wo immer und wann immer sie existiert – in der religiösen Kommunikation des

271 Vgl. hierzu bes. Konrad Stock, Zur Rechten Gottes, in: Günter Thomas und Andreas Schüle (Hg.), Gegenwart des lebendigen Christus (FS. Michael Welker), Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2007, 261–269; Ders., „Irdisch noch schon himmlisch sein“. Das Logo christlicher Soteriologie, in: Elisabeth Gräb-Schmidt/Matthias Heesch/Friedrich Lohmann/Dorothee Schlenke/Christoph Seibert (Hg.), Leibhaftes Personsein. Theologische und interdisziplinäre Perspektiven (FS. Eilert Herms), Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2015 (MThSt; 123), 183–196. 272 Die ältere Dogmatik nannte dies den „status exaltationis“ (den „Stand der Erhöhung“). Vgl. hierzu Friedrich Schleiermacher, CG2 § 93 (II, 34–43 = KGA I.13,2, 41–52). 273 Vgl. hierzu die „Einführung“ o. S. 341–350.

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„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)

Evangeliums als „Kirche in der Kultur der Gesellschaft“. Ihr Existieren wird im folgenden Kapitel 4: „Der christliche Glaube an Gott den Vollender“, dem Schwerpunkt meiner dogmatischen Besinnung, ausführlich beschrieben werden; und zwar als Existieren in den mannigfachen Medien des „Wortes der Versöhnung“ (2Kor 5,19), dessen verantwortliche, unverkürzte, Vernunft und Herz berührende Praxis letzten Endes allein Gottes Heiligender Geist hinreichend zur Wirkung bringt. Bevor ich den Gedankengang des folgenden Kapitels eröffne, sei das Gewicht und sei die Dringlichkeit des „Wortes der Versöhnung“, dessen Wahr-Werden im je individuellen Selbst der geschaffenen Person in die Freiheit führt, in der gebotenen Kürze festgehalten. Wir können dies Gewicht und diese Dringlichkeit ermessen, wenn wir uns auf das Wesen des Mensch-Seins überhaupt und damit zugleich auf die Bestimmung besinnen, die mit dem Wesen des Mensch-Seins im All des Seienden de facto gegeben ist (s. 2.4.2).274 Indem wir das Wesen des Mensch-Seins im All des Seienden als geschaffenes, als leibhaftes Person-Sein charakterisieren, achten wir auf das unveräußerliche Merkmal des „Sich-gegenwärtig-Seins“. Ich hatte es vielfach als den transzendentalen Grund dafür bezeichnet, dass wir Menschen alle nicht umhinkönnen, uns zu uns selbst in unseren notwendigen privaten und öffentlichen Beziehungen in der geschichtlichen Welt und gleichursprünglich in der Relation zu unserem transzendenten Woher sprachlich, praktisch und expressiv zu verhalten. Mit der Formel des „Sich-gegenwärtig-Seins“ erfasse ich die eigenartige Zeitlichkeit und damit die eigenartige Sozialität bzw. die eigenartige Geschichtlichkeit des Mensch-Seins unter den Bedingungen der Raum-Zeit-Struktur des Universums und dessen unumkehrbaren Richtungssinnes (s. 2.5). Sie – diese Formel – weist auf jene transzendentale Bedingung hin, unter der wir unser Leben in der Einheit unserer jeweiligen Erfahrungswelt aktiv verstehen und gestalten (vgl. STh I, 151–171; 173–304). Für unser aller Leben in der Einheit unserer jeweils sozio-kulturell bestimmten Erfahrungswelt und für dessen Geschick sind nun in aller Geschichte zwei Grundzüge unübersehbar, die miteinander das Gewicht sowie die Dringlichkeit des „Wortes der Versöhnung“ kenntlich machen: Zum einen der Grundzug der Religionsgeschichte, in der die jeweilige Kultur das Wesentliche jenes transzendenten Woher explizit zu fassen sucht, dessen das endliche, das geschaffene, das leibhafte Person-Sein implizit bzw. unmittelbar gewiss

274 In der Fachsprache gesprochen: In den mannigfachen Formen und Niveaus der Selbstdarstellung des christlichen Glaubens an Gott den Versöhner in der religiösen Kommunikation des Evangeliums ist stets vorausgesetzt, stets mit enthalten und stets gefordert die Aufmerksamkeit auf Gottes schöpferisches Person-Sein und auf dessen Wollen, wie es dargelegt wird in der Lehre vom christlichen Glauben an Gott bzw. in der Lehre vom christlichen Glauben an Gott den Schöpfer.

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Fazit: Das Christus-Geschehen

ist. Indem sich eine Kultur in ihrem Kult, in ihrem Mythos und in ihrem Ritual zu dem ihr offenbaren Wesen jenes transzendenten Woher erhebt, übt sie eine bildende Funktion in der Entwicklungsgeschichte ihrer Glieder, nämlich für deren explizite Sicht des Guten bzw. des Gerechten. Zum andern aber ist sich jede Kultur eines Zwiespalts, einer Ambivalenz, einer Konfliktträchtigkeit und d. h. einer Negativität bewusst, die das Leben in der Einheit ihrer jeweiligen Erfahrungswelt zutiefst bedroht und oft genug im Innen- und im Außenverhältnis zum Austrag mit den Mitteln der Gewalt bewegt. Ich hatte diesen Grundzug aller Geschichte auf den Begriff des Syndroms des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids gebracht, das in den „Phänomenen des In-der-Sünde-Seins“ unbestreitbar ist (s. 3.2). In der Geschichte der bestimmten Religionen und in ihrer jeweiligen Sicht des transzendenten Woher taucht daher die besorgte Frage auf, ob – und wenn ja, in welcher Weise – das Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids jemals zu ertragen, zu heilen oder sogar zu überwinden sei.275 Das „Wort der Versöhnung“, wie es mittels der mannigfachen Medien der religiösen Kommunikation des Evangeliums wirksam wird allein durch Gottes Heiligenden Geist, hat es mit dieser besorgten Frage zu tun. Es ist die kürzest mögliche Benennung dessen, was im Christus-Geschehen hier und heute – in seiner Ausstrahlungskraft in der riskanten Situation der entstehenden Weltgesellschaft – geschieht. Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat daher im Rahmen seiner philosophischen bzw. seiner spekulativen Interpretation des Phänomens der Religion in seiner Geschichte jedenfalls das reformatorische Christentum auf den Begriff der vollendeten Religion gebracht.276 Damit verstanden werde, warum das „Wort der Versöhnung“, das nach dem Apostel Paulus das Christus-Geschehen in der kürzest möglichen Weise adäquat benennt, es mit jener besorgten Frage zu tun habe, ist zurückzugreifen auf dessen „Wurzel“ (Röm 11,18) im jüdisch-frommen Selbstbewusstsein der JHWH-Gemeinschaft in der Zeit und seit der Zeit des Exils. Dem jüdisch-frommen Selbstbewusstsein

275 Auf diese Frage bezieht sich auch die Theoriegeschichte der Ethik seit den philosophischen Schulen der Antike, die sich jedenfalls in der Epoche der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne von den Ethos-Gestalten der Religionen und insbesondere von den Ethos-Gestalten des Christentums zu emanzipieren strebt. Zu diesem Trend der Theoriegeschichte der Ethik steht quer Immanuel Kants spätes Werk „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793), das einsetzt mit der Analyse des „radikalen Bösen in der menschlichen Natur“ (W IV, 649–879; 665–694). 276 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Bd. 3: Die vollendete Religion (wie Anm. 105). – Allerdings hat Hegels philosophische bzw. spekulative Interpretation der Religion des (reformatorischen) Christentums nicht nur das Geschehen der Versöhnung unter der Herrschaft des staatlich gesetzten Rechts, sondern auch und vor allem die jenseitig-zukünftige (die „eschatische“) Tendenz des Christus-Geschehens erheblich verkürzt, wenn nicht sogar getilgt.

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„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)

ist nämlich nicht allein die Einzigkeit des transzendenten Woher unter dem Namen JHWH erschlossen; ihm ist zugleich das Wollen JHWHs erschlossen als das göttliche In-Gemeinschaft-sein-Wollen. Angesichts dieses Wollens kommt die langwierige schriftgelehrte Arbeit an der Geschichte des jüdisch-frommen Selbstbewusstseins bis zu ihrem relativen Schluss im 2. Jh. v. Chr. nicht nur zur radikalen Einsicht in das tatsächliche Böse-seinKönnen des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins (vgl. Gen 3,1-4,16; 6,1–7,24); sie nimmt auch die verschiedenen Weisen ernst, durch die das In-Gemeinschaftsein-Wollen des Einzigen jenes Syndrom von erlittenem Leid und verschuldetem Leid zu heilen bzw. zu überwinden verspricht: zum einen die Einrichtung des Kults im Heiligtum des Zweiten Tempels zu Jerusalem; zum andern die prophetischen Verheißungen eines königlichen Herrschens JHWHs, das „ein neues Herz und einen neuen Geist“ (Ez 36,26) im Selbst der Person und damit Leben in selbstbewusstfreier Willensgemeinschaft mit dem Wollen JHWHs bilden wird. Wie immer dieses Leben gebildet werden wird: es ist das Leben in der uns Menschen allen zugedachten Freiheit und darum Leben in der Freude und im Frieden der Teilhabe am Höchsten Gut. Das Christus-Geschehen, der Grund und Gegenstand des „Wortes der Versöhnung“, setzt diese Bestimmtheit des jüdisch-frommen Selbstbewusstseins als bleibend gültigen Sinnraum und Verstehenshorizont voraus. Es verifiziert mithin die explizite Gewissheit, dass diese Bestimmtheit wahr ist; es konkretisiert und intensiviert das Wahr-Sein dieser Bestimmtheit allerdings, indem es die Bestimmung zum Leben in selbstbewusst-freier Willensgemeinschaft mit dem Wollen des göttlichen Wesens als erfüllt und als kommunikativ vermittelt sehen lässt im Lebenszeugnis Jesu von Nazareth, das sich im Tod am Kreuz auf Golgatha vollendet. Es sind die verschiedenen Erschließungs-Situationen der Ereignisse des Dritten Tages, die ihren Empfängern diese Sicht – und damit überhaupt die typisch christliche Sicht des Sinnes von Sein – eröffnen. Indem ich hier das Wort „Ereignis“ verwende, spiele ich an auf dessen althergebrachte Bedeutung, „etwas als etwas im Lichte von“ als wahr zu verstehen zu geben. In jenen Erschließungs-Situationen ereignet sich für ihre Empfänger die explizite Gewissheit, dass Jesu Lebenszeugnis für das Im-Kommen-Sein der Herrschaft der Wahrheit, der Gnade und des Friedens JHWHs (Jes 54,10) in ihm selbst und damit dessen Wahrheitsanspruch seine Erfüllung findet: Es findet seine Erfüllung, weil der Tod am Kreuz auf Golgatha keineswegs ins definitive Im-Tode-Sein in Gottes unendlichem Gedenken übergeht; es findet seine Erfüllung vielmehr darin, dass Gottes „ewige Kraft und Gottheit“ (Röm 1,20) Jesu Im-Tode-Sein in himmlisches Sein (1Kor 15,47-49), in unverwesliches und unsterbliches Sein zu verwandeln willens und mächtig ist (vgl. 1Kor 15,54). Es wird in den Erschließungs-Situationen für ihre Empfänger mithin als wahr gewiss, dass Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen und damit Gottes Sein für anderes

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Fazit: Das Christus-Geschehen

just in und durch Jesu Lebenszeugnis bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha geschieht. Indem sie dessen gewahr werden, rühren sie an Jesu von Nazareth Persongeheimnis, das sie mittels der verschiedenen „Hoheitstitel“ zu benennen suchen. Sie alle symbolisieren ein spezifisches Eines-Sein zwischen dem göttlichen Wesen selbst und Jesu von Nazareth individuellem, geschaffenem, leibhaftem Person-Sein. Jesu von Nazareth Persongeheimnis, so wie es sich in den Ereignissen des Dritten Tages ihren Empfängern blitzartig erschließt, gab und gibt zu denken. Zum einen deshalb, weil es widersinnig zu sein scheint, dass Gottes In-Gemeinschaft-seinWollen, Gottes Sein für anderes soweit gehe, an eines Menschen Leidensweg zum Tod am Kreuz auf Golgatha teilzuhaben. Zum andern deshalb, weil die Intuition eines spezifischen Eines-Sein zwischen dem göttlichen Wesen selbst und Jesu von Nazareth individuellem, geschaffenem, leibhaftem Person-Sein nicht nur das GottVerstehen des jüdisch-frommen Selbstbewusstseins bzw. des islamisch-frommen Selbstbewusstseins, sondern auch das künstlerische Interesse in der Bildenden Kunst, in der Musik, in der Literatur und in den audiovisuellen Medien der Gegenwart zu sprengen scheint.277 Wie können wir Jesu Persongeheimnis angesichts dieses Scheins angemessen erfassen? Wir können Jesu Persongeheimnis angemessen erfassen, wenn wir es im Licht des wahrhaft unendlichen „Sich-gegenwärtig-Seins“ des göttlichen Wesens erfassen, das in, mit und unter Jesu individuellem, geschaffenem, leibhaftem Person-Sein das Unheil des Syndroms von erlittenem Leid und von verschuldetem Leid in aller Geschichte auf sich nimmt, trägt und leidtragend überwindet. Der Anregung Paul Tillichs folgend suche ich zu zeigen, dass Jesu Persongeheimnis angemessen zu verstehen ist, wenn wir es als versöhnendes Person-Sein verstehen. In dieser Prädikation sind zwei wesentliche Aspekte enthalten, die miteinander das Subjekt des Christus-Geschehens bezeichnen, wie geschrieben steht: „Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst“ (2Kor 5,19).

Zum einen: Unter Gottes versöhnendem Walten dürfen wir jenes göttliche Walten verstehen, das wir mit Joh 19,30 im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages als in Jesu Tod am Kreuz auf Golgatha vollbracht ansprechen. Ist es darin vollbracht, so umfasst es und vollendet es Jesu Lebenszeugnis für das je punktuelle bzw. für das je aktuelle „Im-Kommen-Sein“ des unbedingten Heils-Sinnes des göttlichen Wesens in ihm

277 Natürlich scheint es auch die Fassungskraft aller Versuche in den gegenwärtigen Diskursen einer philosophischen Ethik zu sprengen, die ohne Rücksicht auf das „Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids“ in aller bisherigen und in aller uns gegenwärtig erfahrbaren Geschichte auf ein „wahrhaft intellektuelles und gesittetes Leben der Menschen“ setzt. Vgl. hierzu die Variante der Kritischen Theorie bei Karl Heinz Haag, Metaphysik als Forderung rationaler Weltauffassung, Frankfurt a.M.: Humanities Online, 2005, 117.

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„Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20)

selbst. Es umfasst und es vollendet Jesu Lebenszeugnis radikal, indem es darin das Annehmen des Anderen als Anderen zeigt. Nun ist das Andere als Anderes, dem Gottes versöhnendes Walten gilt, das endliche, das geschaffene Person-Sein, das sich auf jeweils individuelle Weise verstrickt in das Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids. Wir werden deshalb dieses Annehmen des Anderen als Anderen zuspitzen dürfen als jenes mit-leidende Ertragen, das „die Welt“ des erlittenen Leids und „die Welt“ des verschuldeten Leids überwindet. Zum andern: Wenn wir im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages Jesu Lebenszeugnis bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha als Gottes des Schöpfers versöhnendes Walten glauben, lehren und bekennen, so nehmen wir aus gutem Grund ein Verständnis von Person-Sein überhaupt in Anspruch. Ein solches Verständnis von Person-Sein überhaupt ist möglich und ist faktisch notwendig, weil wir und sofern wir zwischen Gottes dreieinem Person-Sein und dem geschaffenen, dem selbstbewusst-freien, dem leibhaften Person-Sein des Menschen eine Entsprechung erkennen dürfen: nämlich die Entsprechung zwischen Gottes wahrhaft unendlichem bzw. absolutem „Sich-gegenwärtig-Sein“ und dem endlichen bzw. dem geschaffenen „Sich-gegenwärtig-Sein“ des Bildes Gottes, das als solches gar nicht anders seiend ist denn als im wahrhaft unendlichen bzw. absoluten „Sichgegenwärtig-Sein“ Gottes.278 Trotz aller kategorialen Differenz zwischen Gottes wahrhaft unendlichem bzw. absolutem „Sich-gegenwärtig-Sein“ und dem jeweils geschaffenen „Sichgegenwärtig-Sein“ des Bildes Gottes gibt es doch einen univoken Kern. Ich sehe diesen univoken Kern darin, dass der Term Person-Sein überhaupt moralisches Sein im Sinne von Theo Kobusch meint (s. 1.5.1). Er weist auf jene Grundsituation des Verantwortlich-Seins hin, die als solche das selbständige Füreinander-Sein bzw. das selbständige Im-Anderen-Sein einschließt. Wir dürfen daher sagen: Wenn in den Ereignissen des Dritten Tages als wahr gewiss wird, dass „Gott (verstehe: Gottes schöpferisches Wort) in Christus die Welt mit sich versöhnend ist“, dann wird in ihnen offenbar das einzigartige Eines-Sein – die unio personalis – des schöpferischen Wortes und Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick. Ontologisch möglich ist solch einzigartiges Eines-Sein, weil geschaffenes Person-Sein überhaupt nicht anders existiert als in der ontologischen Bezogenheit auf Gottes wahrhaft unendliches bzw. absolutes „Sich-gegenwärtig-Sein“. Innerhalb dieser ontologischen Bezogenheit kann es wirklich werden und wird es faktisch notwendig, dass Gottes schöpferisches Wort um der Versöhnung und um der Vollendung willen mit Jesu geschaffenem Person-Sein eines wird. Dies einzigartige Eines-Sein 278 Vgl. hierzu o. Anm. 269. Hier erinnere ich an Emil Brunners Interpretation des menschlichen BildGottes-Seins als der „ontologischen Beziehung zwischen Menschsein und Gotteswort“, die ich mit Eilert Herms als die je individuelle „primäre unio personalis“ zwischen Gottes schöpferischem Person-Sein und dem je individuellen Person-Sein eines jeden Menschen konkretisiere.

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Fazit: Das Christus-Geschehen

alteriert weder das Wesen des schöpferischen Wortes als Geist; noch hebt es Jesu individuelle Identität ins Allgemeine des geschaffenen Person-Seins auf. Vielmehr erweist es sich als jene selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft, in der des dreieinen Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen zum Ziele kommt.279 Nur als Begriff der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft ist das Eines-Sein des schöpferischen Wortes und der individuellen Identität Jesu von Nazareth als das versöhnende Person-Sein widerspruchsfrei zu denken. Es ist als solches das Subjekt des ChristusGeschehens, dem es möglich und für das es faktisch wirklich und notwendig ist, „meinen Geist aus(zu)gießen über alles Fleisch“ (Jl 3,1; vgl. Apg 2,17).

279 Vgl. hierzu o. Anm. 271. Hier verweise ich auf die Lehrentscheidungen des III. Konzils von Konstantinopel, die den sog. „Dyotheletismus“ als von Rechts wegen geltende kirchliche Lehre proklamieren.

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Kapitel 4: „Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin.“ (Röm 8,24) Der christliche Glaube an Gott den Vollender Leitsatz: Im Spektrum der verschiedenen religiösen, weltanschaulichen und ethischen Lebenslehren dieser unserer Gegenwart begegnet uns die Wahrheit des Evangeliums von Gottes versöhnendem Walten im Raum der religiösen Kommunikation der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16). Um dieser Begegnung willen hat die Christus-Gemeinschaft in ihrer Geschichte eine sinnhafte Struktur von Medien ausgebildet, die in der gottesdienstlichen Feier des Evangeliums im Kirchenjahr ihr Zentrum hat. Inwiefern die Teilnahme an diesen Medien die Wahrheit des Evangeliums der individuellen Person wirklich und wirksam erschließt, ist zwischen der Tradition der Kirche unter dem Bischof von Rom und der reformatorischen Bewegung nach wie vor strittig. Während das römisch-katholische Lehramt die sakramentale Grundstruktur behauptet, innerhalb derer der Bischof in der Nachfolge der Apostel die Wahrheit des Evangeliums objektiv darreicht, sieht die reformatorische Bewegung im Walten des Heiligenden Geistes die hinreichende Bedingung dafür, dass das „äußere Wort“ der Medien der religiösen Kommunikation zur je individuellen Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums und damit zum „inneren Worte“ werde. Diese hat als explizite Gottesgewissheit die Kraft, das Leben in der Einheit der Erfahrungswelt heilsam neu zu bestimmen, wie dies die prägnante Trias des Apostels Paulus 1Kor 13,13 mit den Begriffen des Glaubens, des Hoffens und des Liebens wegweisend formuliert. Dass die Bildung dieser Gottesgewissheit in den Medien der religiösen Kommunikation einer Ordnung der Kirchengemeinschaft als Organisation nach menschlichem – und nicht nach göttlichem – Recht bedarf: diese Einsicht der reformatorischen Bewegung verbindet die dogmatische Besinnung mit der Praktischen Theologie und mit der Wissenschaft vom Kirchenrecht und dient der sachgemäßen Präsenz der Kirchengemeinschaft in der Kultur ihrer jeweiligen Gesellschaft. Keineswegs ist das Leben in der expliziten Gottesgewissheit des Christus-Glaubens vor den Anfechtungen des Böse-Sein-Könnens, des Schuldig-Werdens, des Leids der Unterdrückung und der sozialen Ungerechtigkeit und schließlich der Todesangst bewahrt. Je intensiver es sich engagiert im Kampf für die Wohlordnung der allgemeinen Lebensverhältnisse und für den inneren und äußeren Frieden auf dieser

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„Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin.“ (Röm 8,24)

Erde, desto mehr wird ihm die Schwäche und die Ohnmacht jener „Freiheit“ bewusst, zu der uns „Christus befreit!“ (Gal 5,1). Aus diesem Grunde ist das diesseitige bzw. das irdische Leben des Christus-Glaubens ein Leben in radikaler Hoffnung auf Gottes jenseitige bzw. himmlische und d. h. zukünftige Ewigkeit. Indem der Heiligende Geist des göttlichen Wesens nicht nur das Böse des geschichtlichen Geschehens „ungeschehen“ macht (Georg Wilhelm Friedrich Hegel), sondern auch das Gute des geschichtlichen Lebens bewahrt, kommt des dreieinen Gottes „Wahl der Gnade“ in zukünftiger Ewigkeit zu ihrem Ziel.

Einführung1 In der dogmatischen Besinnung auf die Wahrheit des Christus-Glaubens tun wir nun einen letzten Schritt. Wir widmen uns der Art und Weise, in der die Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums im individuellen Selbstbewusstsein der Person zustande kommt, um sie in das gemeinsame Leben der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) zu integrieren. Wir sehen in der Bildung dieser Gewissheit das Walten des dreieinen Gottes, das Gottes schöpferisches Walten und Gottes versöhnendes Walten vollendet. Indem wir uns auf Gottes vollendendes Walten besinnen, nehmen wir die Berufung ernst, die allen Gliedern der Christus-Gemeinschaft gilt: nämlich für alle die notwendigen Bedingungen Sorge zu tragen, in, mit und unter denen Gottes Heiligender Geist

1 Vgl. zum Folgenden bes.: Friedrich Schleiermacher, CG2 §§ 113–163 (II, 207–440 = KGA I.13,2, 229–493): Von der Beschaffenheit der Welt bezüglich auf die Erlösung; Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum Communio (DBW; 1); Gerhard Ludwig Müller, Katholische Dogmatik. Für Studium und Praxis der Theologie, Freiburg i. Br.: Herder, 1995, 389–413: Sechstes Kapitel: Die Offenbarung des Geistes vom Vater und vom Sohn (Pneumatologie); Karl Barth, KD IV/1, § 62: Der Heilige Geist und die Versammlung der christlichen Gemeinde; § 63: Der Heilige Geist und der christliche Glaube; KD IV/2, § 67: Der Heilige Geist und die Erbauung der christlichen Gemeinde; § 68: Der Heilige Geist und die christliche Liebe; KD IV/3.2, § 72: Der Heilige Geist und die Sendung der christlichen Gemeinde; § 73: Der Heilige Geist und die christliche Hoffnung; Emil Brunner, Dogmatik III: Die christliche Lehre von der Kirche, vom Glauben und von der Vollendung, Zürich: Zwingli Verlag, 1960; Jürgen Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes. Ein Beitrag zur messianischen Ekklesiologie, München: Chr. Kaiser, 1975; Gerhard Ebeling, Dogmatik III: Der Glaube an Gott den Vollender der Welt; Wolfhart Pannenberg, STh III, 13–113: 12. Kapitel: Geistausgießung, Reich Gottes und Kirche; Wilfried Härle und Reiner Preul (Hg.), Kirche, Marburg: Elwert, 1996 (MJTh VIII); Reiner Preul, Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktionen der Evangelischen Kirche, Berlin/New York: de Gruyter, 1997; Konrad Stock, Einleitung, 212–285; Bernd Harbeck-Pingel, Heiliger Geist und Polykontexturalität, Münster: LIT, 2004; Wilfried Härle, Dogmatik5 , 357–383: Die Gegenwart Gottes als Heiliger Geist (Pneumatologie); 573–602: Die Kirche (Ekklesiologie); Eilert Herms, STh (Bd. 1), 824–846: § 44 Das Christusgeschehen II. Das Wirken des inkarnierten Logos im Medium des Heiligen Geistes durch die Mitteilung (Ausgießung) des Geistes.

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Einführung

die Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums selbst bewirkt. So gewiss Gottes vollendendes Walten ursprünglich und endlich die Erlösung vom Bösen bzw. die Rettung, die Bewahrung, die Verklärung unserer Lebensgeschichte schöpferisch sein und werden lässt, so gewiss mutet es uns unsere jeweilige begrenzte und besondere Verantwortung zu.2 Die dogmatische Besinnung auf die Wirksamkeit des Heiligenden Geistes reflektiert – sofern sie sich des kritischen Blicks auf die Geschichte der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen und ihrer Lehre von Gottes heilender und heiligender Gnade (der gratia creata bzw. der gratia applicatrix) befleißigt – eine spezifisch religiöse Erfahrung. Es ist dies die Erfahrung bzw. das Inne-Werden der Wahrheit hinsichtlich des Ganzen unserer individuellen Lebensgeschichte. Diese Erfahrung der Wahrheit hat die Kraft, die Sicht des Sinnes und der Bestimmung unseres Lebens in diesem ungeheuren unbegrenzten Universum radikal zu wandeln. Sie wandelt das Selbstgefühl bzw. das Selbstbewusstsein radikal, indem sie das Gefühl bzw. das Bewusstsein gibt, mit Gott versöhnt zu sein (vgl. bes. 2Kor 5,17-19). In dem Gefühl bzw. in dem Bewusstsein der Person, mit Gott versöhnt zu sein, hebt Gottes vollendendes Walten an. Wem es gewährt ist, die Erfahrung dieser Wahrheit zu machen, erlebt sich nicht allein im Traditionszusammenhang und in der Sozialgestalt einer bestimmten, eben der christlichen Religionsgemeinschaft; er bzw. sie versteht sich auch in einem bestimmten ethischen bzw. in einem bestimmten politischen Engagement innerhalb der jeweiligen Kultur einer Gesellschaft, welches das einheitliche Thema des Teils III der vorliegenden Systematischen Theologie – der Theologischen Ethik – sein wird. Die Theologische Ethik reagiert damit nicht zuletzt auf die entschiedene Herausforderung, die eine besonnene Theologie der Befreiung den Kirchengemeinschaften der sog. Ersten Welt und ihrer ethischen Reflexion zumutet.3 Die dogmatische Besinnung auf Gottes vollendendes Walten würde nämlich zu kurz greifen, wenn sie sich beschränken würde auf die Beantwortung der Frage, in welcher Weise Gottes des Schöpfers versöhnendes Walten im Christus Jesus wirksam wird im individuellen Selbstbewusstsein der Person. Sie wird vielmehr darüber hinaus bedenken, dass Gottes des Schöpfers versöhnendes Walten im Christus Jesus das individuelle Selbstbewusstsein der Person in Anspruch nimmt, die befreiende Kraft der Wahrheit des Evangeliums für andere zu bekennen, zu bezeugen, zu erklären und auf diese Weise menschlich möglich zu machen (vgl. 2Kor 5,20). In diesem Anspruch wurzelt die öffentliche Präsenz der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen in ihrer jeweiligen Gesellschaft; in diesem Anspruch wurzelt insbesondere die Aufgabe der

2 Vgl. hierzu insgesamt die Studien von: Eilert Herms, Kirche – Geschöpf und Werkzeug des Evangeliums, Tübingen: Mohr, 2010. 3 Vgl. bes. Leonardo Boff, Erfahrung der Gnade. Entwurf einer Gnadenlehre, dt. Düsseldorf: PatmosVerlag, 1978.

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Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen, die soziale Ordnung ihrer jeweiligen Gesellschaft nach dem Grundsatz des gerechten Rechts kritisch-konstruktiv mitzugestalten (s. 2.4.2.2.3). Die Theologische Ethik wird Maximen vorstellen, mit deren Hilfe und in deren Licht die Glieder der Christus-Gemeinschaft diese ihre politisch-kulturelle Aufgabe wahrzunehmen vermögen.4 Es ist die besondere Tragik des abendländischen, des lateinischen Christentums, dass es sich in der Besinnung auf Gottes vollendendes Walten vielfach zerstritten und schließlich tief gespalten hat: bis hin zu militärischer Gewalt aus Gründen der konfessionellen Identität eines Staatswesens und dessen Herrschaftsform. Die dogmatische Reflexion der Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums muss dieser spezifischen Tragik eingedenk sein, wenn sie zur aufrichtigen Katharsis in ökumenischem Geist beitragen will. Zu solcher Katharsis gehört es insbesondere, das Heilsame des Christus-Glaubens für unsere je individuelle Lebensgeschichte einzuzeichnen ins Geschehen des ursprünglichen Heilswillens des dreieinen Gottes, welches der Vollendung jenseits des Todes und durch den Tod hindurch entgegenstrebt. In der Darstellung dieses Geschehens – des göttlichen In-Gemeinschaft-sein-Wollens – sind die Lehre von der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen – die „Ekklesiologie“ –, die Lehre von der Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums – die „Soteriologie“ – und die Lehre von der Ewigkeit des ewigen Lebens – die „Eschatologie“ – wechselseitig aufeinander bezogen. In meiner ganzen dogmatischen Besinnung kommt daher der Interpretation der paulinischen Trias Glauben, Hoffen, Lieben (1Kor 13,13) die Schlüsselstellung fürs Verständnis des Wesentlichen des Christ-Seins zu (s. 4.3). Ich bin bestrebt zu zeigen, dass die dogmatische Besinnung just auf diese Weise dem existentiellen Ernst einer jeden Lebensgeschichte gerecht wird. Sie wird ihm dadurch gerecht, dass sie diese drei gleich wesentlichen Aspekte des gelebten Christus-Glaubens unter dem leitenden Gesichtspunkt des Waltens des Heiligenden Geistes zur Sprache bringt. Mit der Entfaltung dessen, was der Christus-Glaube unter der Gegenwart des Heiligenden Geistes versteht, setzt das vorliegende Kapitel ein (4.1). Bevor ich damit beginne, schicke ich in dieser „Einführung“ eine Skizze des Problems voraus, das die Geschichte der Lehre von Gottes gratia creata bzw. von Gottes gratia applicatrix im abendländischen, lateinischen Christentum seit dem Konflikt

4 Insofern kommt der Debatte innerhalb der reformatorischen Bewegung über einen „tertius usus legis“ (über einen „dritten Gebrauch des Gesetzes [verstehe: des von Gott gegebenen – nämlich in und mit dem geschaffenen Person-Sein gegebenen – Gesetzes]“) eine neue Aktualität zu. Vgl. hierzu Philipp Melanchthon, Loci 1559 (StA II/1, 321–326); Jean Calvin, Inst. 1559 (II; 7; 12), sowie Wilfried Joest, Gesetz und Freiheit. Das Problem des Tertius usus legis bei Luther und die neutestamentliche Parainese, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2 1956.

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Einführung

zwischen dem britischen Asketen Pelagius und dem Bischof von Hippo Regius Augustin schwer belastete und das auch den Konflikt zwischen der Kirche unter dem Bischof von Rom und der reformatorischen Bewegung entzündete. Ich bin bestrebt zu zeigen, dass sich dies Problem letzten Endes aus der jeweils gegensätzlichen Antwort auf die Frage ergibt, wie der Christus-Glaube das Verhältnis zwischen Gottes göttlichem Walten und der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche zu verstehen hat. Im Konflikt zwischen der reformatorischen Bewegung und der Heiligen römischen Kirche wegen der ursprungsgemäßen Praxis der Buße im Leben des Christus-Glaubens taucht urplötzlich und gleichwohl unausweichlich der Gegensatz auf zwischen der sakramental begründeten Vollmacht des bischöflichen und des priesterlichen Amts und der überraschenden Entdeckung der Wirksamkeit des Heiligenden Geistes im Medium der religiösen Kommunikation des Evangeliums. Dieser Gegensatz markiert bis auf den heutigen Tag die Unterscheidungslinie zwischen der Heiligen römischen Kirche und den Kirchengemeinschaften, die aus der reformatorischen Bewegung hervorgegangen sind.5 Meine Skizze wird plausibel machen, dass die dogmatische Besinnung auf das Gewiss-Werden der Wahrheit des Evangeliums hier und heute die Sprach- und Ausdrucksformen gründlich neu durchdenken muss, mit deren Hilfe die Geschichte der kirchlich-theologischen Lehre die Wirklichkeit des Christus-Glaubens verständlich machen wollte.6 Einer solchen dogmatischen Besinnung kommt nicht zuletzt auch eine exemplarische Bedeutung für das kritisch-selbstkritische Gespräch mit den aktuellen Theorien des Ethischen zu, die unter Berufung auf die Autonomie der praktischen Vernunft im Sinne Immanuel Kants nach wie vor der sittlichen Selbstmacht der Person das Wort reden.7 In diesem Gespräch wird christliche Theologie hartnäckig bei der tiefen Einsicht des Apostels Paulus bleiben, dass die Kräfte 5 Ich wende mich daher entschieden gegen solche Wahrnehmungen des Konflikts zwischen der Heiligen römischen Kirche und den Kirchengemeinschaften der reformatorischen Bewegung, die ihn aus der „Wiederentdeckung“ des (paulinischen) Evangeliums durch Martin Luther herleiten. Eine meist implizite Kritik solcher Wahrnehmungen bot Eilert Herms, Luthers Auslegung des Dritten Artikels, Tübingen: Mohr Siebeck, 1987. 6 Wichtige Ansätze dazu liegen jetzt vor in: Eilert Herms und Lubomir Žak (Hg.), Grund und Gegenstand des Glaubens nach römisch-katholischer und evangelisch-lutherischer Lehre. Theologische Studien, Tübingen: Mohr Siebeck/Lateran University Press, 2008; vgl. bes.: Lubomir Žak, Die Ontologie der menschlichen Person im Denken Martin Luthers, ebd. 307–337; Wilfried Härle, „Hominem iustificari fide“. Grundzüge der reformatorischen Anthropologie, ebd. 338–359; Eilert Herms, Die Christusoffenbarung als Offenbarung der Wahrheit über den Menschen: Die Abhängigkeit des Menschen von der Offenbarung der Wahrheit über Gott, ebd. 359–401; Massimo Serretti, Grundzüge der Anthropologie in den Texten des katholischen Lehramts vom Zweiten Vatikanischen Ökumenischen Konzil bis zu Johannes Paul II., ebd. 402–432. 7 Allerdings ohne Rücksicht auf die ethiko-theologischen Motive von Kants Theorie der Sittlichkeit (hier ist insbesondere an die Diskursethik im Sinne von Jürgen Habermas sowie an die Theorie demokratischer Sittlichkeit im Sinne von Axel Honneth zu denken.).

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des Vertrauens, des Hoffens, des Liebens und damit der Selbstverantwortung vor Gott aus der bestimmten Gottesgewissheit erwachsen, die das Evangelium bezeugt (1Kor 13,13; s. 4.3). Um dessentwillen erinnere ich in einem ersten Schritt an einen klassischen Text, der die von Kirchenrechts wegen geltende kirchliche Lehre der lutherischen Reformation hinsichtlich des Waltens des Heiligenden Geistes feststellt.8 In einem zweiten Schritt ordne ich diesen klassischen Text in die Geschichte der Lehre von Gottes gratia creata bzw. von Gottes gratia applicatrix ein, in der die reformatorische Bewegung unter erbitterten Konflikten und unter Gefahr für Leib und Leben einen entscheidenden Neustart vollzog. Hier sind die Gründe und Motive dafür zu erläutern, dass die reformatorische Bewegung eine Verkündigung und eine Lehre von der Gerechtigkeit bzw. von der Heiligkeit des Christus-Glaubens entwickelte, die der Kirche unter dem Bischof von Rom seinerzeit unannehmbar und unerträglich war.9 Ob sich die im 16. Jahrhundert wechselseitig ausgesprochenen Urteile im Hinblick auf eine Gemeinschaft der Kirchen revidieren und überwinden lassen, ist derzeit immer noch eine unbeantwortete Frage. In einem dritten Schritt schließlich benenne ich diejenigen Bedingungen der Möglichkeit, die mit dem In-Gemeinschaft-Sein des Menschen als des durch PersonSein ausgezeichneten Lebewesens gegeben sind. Ohne Rekurs auf die Bedingungen der Möglichkeit, die der Christus-Glaube als geschaffen anerkennt, würden wir schwerlich die Form des ethischen bzw. des politischen Engagements angemessen diskutieren können, die sich aus der uns gewährten Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums ergibt. Weil sie – die uns gewährte Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums – die Basis eines bestimmten ethischen bzw. politischen Engagements legt, ist es nicht abwegig, die dogmatische Besinnung auf Gottes vollendendes Walten im Medium des Heiligenden Geistes als die konkrete Theorie des Ethos des Christus-Glaubens ins kritische Verhältnis zu alternativen Theorien des Ethischen zu setzen. Die Theorie des Ethos des Christus-Glaubens scheint mir auch der Ort zu sein, an dem die problematische Rede vom Verdienst zu diskutieren wäre.

8 Zur aktuellen Debatte über das geschichtliche Phänomen „reformatorische Bewegung“ vgl. Berndt Hamm, Reformation als normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft, in: JBTh 7 (1992), 241–279; Ders./Bernd Moeller/Dorothea Wendebourg, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995; Christoph Markschies, Die eine Reformation und die vielen Reformen, in: ZKG 106 (1995), 18–45. 9 Die Verwerfung der reformatorischen Lehre von der Gerechtigkeit bzw. von der Heiligkeit des ChristusGlaubens wurde unmissverständlich ausgesprochen im „Decretum de iustificatione“ des Konzils von Trient (Sessio VI, 13. Januar 1547 [DH 1520–1583]).

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Einführung

Erstens: Luthers Auslegung des 3. Artikels Martin Luther hat das reformatorische Verständnis der Wirksamkeit des Heiligenden Geistes im Kleinen Katechismus auf ebenso einprägsame wie durchdachte Art und Weise formuliert: „Ich gläube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christ, meinen Herrn, gläuben oder zu ihm kommen kann, sondern der heilige Geist hat mich durchs Evangelion berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiliget und erhalten, gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden berüft, sammlet, erleucht, heiliget und bei Jesu Christo erhält im rechten einigen Glauben…“ (BSLK 511,46–512,8)10

In der Auslegung des 3. Artikels des Apostolicum gibt Luther der Erfahrung einer spezifischen Passivität bzw. Passionalität Ausdruck. Es ist die Erfahrung, dass sich die individuelle Einsicht der Person in die Wahrheit des Evangeliums weder erzwingen noch auf dem Weg der büßenden Zerknirschung noch auf dem Weg des Selbst-Denkens ergreifen lässt; sie ist vielmehr von der Art des Ergriffen-Werdens und des Ergriffen-Bleibens (vgl. Phil 3,12). Auch wenn sie sich nicht unvermittelt er-gibt, er-gibt sie sich doch durch jene Evidenz, die wir dem Walten des Heiligenden Geistes Gottes verdanken. Sie ist Ereignis in dem analogen Sinn, in dem die Ereignisse des Dritten Tages für ihre Empfänger Jesu Christi Lebensgeschichte und Lebensgeschick als Gottes des Schöpfers versöhnendes Wort Ereignis werden lassen (s. 3.6). Insofern gleicht die Gewissheit des Christus-Glaubens der Erfahrung der Liebe und der Freundschaft, die ihrerseits entstehen und bestehen in der Anziehungskraft eines Mit- und Für-einander-Seins der geschaffenen Person im Raum und in der Zeit der geschaffenen Welt. Nun ist die Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums – des Christus-Geschehens im Spiegel der verschiedenen Zeugnisse der Heiligen Schrift – von elementarer lebenspraktischer Bedeutung. Sie erschließt nämlich die selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit dem dreieinen Gott – dem schöpferischen Grund und Ursprung unserer selbst in diesem unbegrenzten ungeheuren Universum – als Sinn und Ziel des Lebens des geschaffenen Person-Seins, das als solches de facto dem Leid der Endlichkeit, dem Schuldig-Werden und der Angst des Todes ausgesetzt ist. Sie erschließt das schlechthin erfüllende Höchste Gut, so wie es uns in Jesu von Nazareth Lebensgeschichte und Lebensgeschick leibhaft begegnet. Indem die reformatorische Bewegung die selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit dem dreieinen Gott als Sinn und Ziel des Lebens des geschaffenen Person-Seins lehrt, korrigiert und

10 Vgl. dazu die Studie von Eilert Herms, Luthers Auslegung des Dritten Artikels (wie Anm. 5); vgl. auch Albrecht Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen. Bd. 2: Der Glaube – Das Apostolikum –. Hg. von Gottfried Seebaß, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1991, 175–240.

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konkretisiert sie gründlich das Motiv für Bußleistungen im satisfaktorischen Sinn und für „verdienstliche Werke“, weil dieses Motiv die Ungewissheit hinsichtlich des unbedingten göttlichen Heilswillens nicht zu überwinden vermag.11 Ob und in welcher Weise dieses Motiv auch heute noch in der römisch-katholischen Form des Christus-Glaubens wirksam ist, muss ich an dieser Stelle offen lassen. In der Besinnung auf Gottes vollendendes Walten suchen wir die valide Antwort auf die Frage, in welcher Weise sich die selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit dem dreieinen Gott als Höchstes Gut des Menschenlebens uns erschließt. Diese Antwort lenkt zurück zur Lehre von Gottes schöpferischem Walten, die diese selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit dem dreieinen Gott als diejenige Bestimmung sehen lässt, die dem uns Menschen allen gemeinsamen geschaffenen Person-Sein unwiderruflich gegeben ist; sie – diese Antwort – klärt definitiv, in welchem unendlichen bzw. in welchem allumfassenden schöpferischen Sein wir das Woher des uns gewährten Person-Seins zu suchen haben (vgl. BSLK 510,28-511,8). Sie macht allerdings auch aufmerksam auf das Faktum des Böse-Sein-Könnens: d. h. auf das Faktum des „In-der-Sünde-Seins“, das ich in seinen verschiedenen Aspekten als die Verstrickung ins Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids beschrieben hatte (s. 3.2). Die Frage, in welcher Weise sich uns die selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit dem dreieinen Gott als Höchstes Gut erschließt, ist deshalb identisch mit der Frage, in welcher Weise denn der schöpferische Grund und Ursprung unserer selbst in dieser Welt im Werden und Vergehen das Böse-Sein-Können, das „In-der-Sünde-Sein“ des Menschengeschlechts zu überwinden weiß. Sie ist die schlechthin brennende Frage. Auf diese Frage antwortet das Wortbekenntnis des Christus-Glaubens (vgl. BSLK 511,10-38). Wie Luthers Katechese deutlich macht, verknüpft es Jesu von Nazareth Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha mit jenen Situationen, in denen dessen Wahrheit über allen Zweifel und allen Unverstand hinweg durch Gottes Heiligenden Geist ursprünglich offenbar und mithin glaubhaft wurde. Im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages wird evident, dass Jesu von Nazareth Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha als Gottes des Schöpfers versöhnendes Wort Herz und Gewissen ihrer Empfänger ergreift, prägt und bestimmt. Mit dem Begriff des Christus-Geschehens, welcher die Sache des 2. Artikels und die Sache des 3. Artikels des Apostolicum aufs engste aufeinander bezieht, achten wir auf die sachlogische Einheit zwischen dem Woran bzw. dem Woraufhin und

11 Die gründliche Korrektur und Konkretion des frommen Interesses an Bußleistungen, die der büßende Mensch im Sakrament der Buße und aufgrund der priesterlich verkündeten Absolution als die gerechte Strafe zu erbringen hat – sei es diesseits oder aber sei es jenseits des Todes –, bzw. an „verdienstlichen Werken“ überhaupt ist zum ersten Mal in aller Klarheit dargelegt worden in Martin Luthers „Sermon von den guten Werken“ (1520 [WA 6; 202–276]).

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Einführung

dem Grund des Christus-Glaubens.12 Er ist deshalb der „rechte Glaube“ – die rechte Gottesgewissheit –, weil ihm der unbedingte Heilssinn, das In-Gemeinschaftsein-Wollen und damit das wahre Wesen Gottes gewiss geworden ist, welches das Negative des Böse-Sein-Könnens, des „In-der-Sünde-Seins“ und des Leids der Endlichkeit auf sich nimmt und trägt (Joh 1,29).13 Ich hatte mich energisch dagegen ausgesprochen, Gottes versöhnendes Walten in einem kompensatorischen Sinne auf Jesu Christi Tod am Kreuz auf Golgatha zu reduzieren (s. 3.5.2.3). Um nun des Christus-Geschehens – der Wahrheit des versöhnenden Wortes Gottes des Schöpfers in Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick – gewiss zu werden, muss nach den fundamentalen Einsichten der reformatorischen Bewegung eine zweifache Bedingung erfüllt sein: die erste als die notwendige, die zweite als die notwendige und zugleich allein hinreichende. Auf die Brisanz dieser Einsichten komme ich alsbald zurück.14 Die erste dieser Bedingungen besteht in der religiösen Kommunikation des Evangeliums, die von allem Anfang an ihren Sitz im Leben in der Kirche als der sozialen Gestalt des Glaubens hat (Reiner Preul [s. 4.4]). Sie wird im Abschnitt 4.2: „‚Das Haupt des Leibes‘ (Kol 1,18). Die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche“ ausführlich beschrieben werden. Die zweite dieser Bedingungen besteht in der offenbarenden Kraft des Heiligenden Geistes, die allein die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche dem Herzen und Gewissen der Person als wahres Zeugnis des Woran und Woraufhin des rechten Glaubens erschließt. Sie – die offenbarende Kraft des Heiligenden Geistes – und nur sie ist wirksam als der Grund des Christus-Glaubens und damit des Gerecht-Seins und des Heilig-Seins der Christus-Gemeinschaft. Mit dieser Einsicht ins Verhältnis der Bedingungen, unter denen sich die Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums jeweils individuell erschließt, sind wiederum zwei grundsätzliche Erkenntnisse hinsichtlich der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) gegeben. Im Blick

12 In der dogmatischen Fachsprache formuliert: Die „Christologie“ befindet sich in sachlogischer Einheit mit der „Pneumatologie“; und weil die „Pneumatologie“ den Rahmen der „Ekklesiologie“ und der „Eschatologie“ bildet, sind „Ekklesiologie“ und „Eschatologie“ Explikationen der „Christologie“. 13 Kirchlich-theologische Lehrbildungen, die das Sich-selbst-Bestimmen des göttlichen Wesens sowohl zum Heil als auch zum Unheil des geschaffenen Person-Seins behaupten, wie dies mit aller Schärfe im Denken Augustins begegnet, verwirren die gebotene Rechenschaft über die lebenspraktische Bedeutung des Christus-Glaubens. Sie stehen auch im Widerspruch zum Tenor der ganzen Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments. Allerdings ist kritisch einzuräumen, dass solche Lehrbildungen auf die duale Struktur des apokalyptischen Mythos zurückverweisen, die namentlich das Kerygma des Apostels Paulus prägt. Wie die duale Struktur des apokalyptischen Mythos zu dekonstruieren sei, suche ich zu zeigen im Abschnitt 4.5. 14 Vgl. hierzu schon Konrad Stock, STh I, 429–437; 604–612.

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auf die Geschichte und auf die gegenwärtige Situation der Christenheit in der entstehenden Weltgesellschaft kommt ihnen eine enorme selbstkritische Bedeutung zu. Die erste dieser beiden grundsätzlichen Erkenntnisse geht aus dem anschaulichen und einprägsamen Bildwort der „Ausgießung des Heiligenden Geistes“ hervor (s. 4.1). Sie besagt nichts Geringeres als dies, dass die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen durch Gottes Heiligenden Geist – den Geist Gottes des Vaters und des Sohnes (s. 1.5.3.3.2) - gestiftet bzw. geschaffen wird. Nicht nur in ihrem Ursprung in den Ereignissen des Dritten Tages, sondern in allen ihren weltgeschichtlichen Konstellationen ist sie des ernstlichen Gebets bedürftig: „Veni creator spiritus.“

Die zweite dieser beiden grundsätzlichen Erkenntnisse ist formuliert in den prägnanten Texten des Neuen Testaments, nach denen der erhöhte Christus Jesus selbst die Jünger mit dem Auftrag zur Lehre unter allen Völkern dieser Erde betraut (vgl. Mt 28,19f.; Mk 16,15; Apg 1,8). Offensichtlich halten diese Texte an der universalen Ausrichtung fest, die Jesu felsenfeste Hoffnung auf JHWHs königliches Herrschen im Heiligtum des Tempels von Jerusalem über den ganzen Erdkreis prägt (s. 3.5.2.2). Sie transformieren diese Hoffnung, indem sie sie als Auftrag für die Kirche in der Welt und für die Welt der Kulturen der Gesellschaft konzipieren: für eine Kirche, deren Verkündigung in allen ihren Medien zugleich das lebhafte Interesse an einer Wohlordnung der Gesellschaft wecken will. Was dieser Auftrag zumutet, ist nichts Geringeres als die Nachfolge in jener selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott selbst, die Jesu von Nazareth eigene Lebensgeschichte und Lebensgeschick charakterisiert. Ihre Chancen und ihre Pflichten gilt es hier und heute in der Lage einer entstehenden Weltgesellschaft neu zu erkunden. Keineswegs ist Luthers Auslegung des 3. Artikels des Apostolicum enthusiastisch gestimmt. Sie bietet uns vielmehr den Raum, in dem wir mit allem Ernst der „Leiden der gegenwärtigen Zeit“ (Röm 8,18 [Übersetzung Ulrich Wilckens]) gedenken. Die „Leiden der gegenwärtigen Zeit“: es sind nicht nur die Erfahrungen des individuellen Gewissens, in denen wir der Widersprüche zwischen dem Wollen und dem Vollbringen des Guten inne sind (vgl. Röm 7,18); es sind nicht nur die Ängste der Todesnähe, die uns verzweifelnd nach der bergenden Macht des göttlichen Wesens Ausschau halten lassen; es sind vor allem auch die – so scheint es jedenfalls – unlösbaren Konflikte, die die Innenverhältnisse der Gesellschaften und deshalb auch die Außenverhältnisse zwischen den Gesellschaften erhitzen, gefährden und zerstören. Luthers ebenso prägnante wie problematische Formel „simul peccator –

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simul iustus“15 gibt über ihre individuelle Bedeutung hinaus unseren Erfahrungen eines „Reichs der Sünde“ (Albrecht Ritschl) Raum. Nehmen wir diese Erfahrungen ernst, so wird uns klar, dass die Gewissheit des Christus-Glaubens, die sich in uns im Ganzen der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche kraft des Heiligenden Geistes bildet, als solche durch und durch Hoffnungsgewissheit ist (vgl. bes. Röm 8,24f.). Sie wartet mutig und geduldig auf jene Vollendung in Gottes absoluter, allumfassender Zukunft jenseits des Todes und durch den Tod hindurch, die in den Ereignissen des Dritten Tages schon verheißen ist (vgl. BSLK 512,8-13). Zweitens: Der Gegensatz zwischen der römisch-katholischen und der reformatorischen Glaubenslehre Wir können die Brisanz und die Tragweite des reformatorischen Neustarts im Grundverständnis des Christus-Glaubens dann und nur dann ermessen, wenn wir ihn zurückbeziehen auf die Geschichte des kirchlich-theologischen Streits um die authentische Lehre von Gottes gratia creata bzw. von Gottes gratia applicatrix. Sie sei in der gebotenen Kürze in Erinnerung gerufen: ging es und geht es doch in ihr um nichts Geringeres als um die angemessene Antwort auf die entscheidende ethische Frage, in welcher Weise Gottes versöhnendes Walten – genauer: in welcher Weise das schöpferische Wort als das versöhnende Wort (s. 3.5.2.4) – im Selbst, im Herzen und Gewissen der Person wirksam werde für ihre Lebensgeschichte in der Zeit und für ihre ewige Bestimmung. Heutige Systematische Theologie leitet dazu an, diese nach wie vor entscheidende ethische Frage im Blick auf die Herausforderungen dieser unserer Gegenwart zu beantworten. Sie wird diese ihre Aufgabe allerdings nur erfüllen können, wenn sie die Aporien kritisch sichtet, in die der kirchlich-theologische Streit um die authentische Lehre von Gottes gratia creata bzw. von Gottes gratia applicatrix seit Augustins heftiger Auseinandersetzung mit dem britannischen Asketen Pelagius verstrickt ist.16 15 Vgl. Martin Luther, WA 39/I; 552,13: „Quoad Christum dominum nostrum et remissionem peccatorum in Christo sumus vere sancti, mundi et justi … Verum quoad me et carnem meam, sum peccator“ („Hinsichtlich Christi, unseres Herrn, und hinsichtlich der Vergebung der Sünden sind wir in Christus wirklich Heilige, Reine und Gerechte … Aber hinsichtlich meiner selbst und meines Fleisches bin ich Sünder“ [meine Übersetzung]). Vgl. dazu Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 1962, 211–213. 16 Vgl. zum Folgenden bes.: Otto Hermann Pesch, Frei sein aus Gnade. Theologische Anthropologie, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1983, bes. 190–354; Gerhard Ludwig Müller, Katholische Dogmatik (wie Anm. 1), 628–768: 11. Kapitel: Das Priesteramt Christi in der Leiturgia seiner Kirche (Sakramentenlehre); 770–814: 12. Kapitel: Lebensgemeinschaft mit Gott im Heiligen Geist (Gnadenlehre); Carl Andresen/Ekkehard Mühlenberg/Adolf Martin Ritter/Martin Anton Schmidt/Klaus Wessel, Die

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Meine Skizze hat das Ziel, das tatsächliche Grundproblem der Geschichte der kirchlich-theologischen Lehre vom christlichen Glauben an Gott den Vollender so klar wie möglich freizulegen. Ich sehe dieses Grundproblem darin, dass die kirchlich-theologische Lehre die Quellensprache der Texte des biblischen Offenbarungszeugnisses und ihre Aussageintention drastisch verkürzt. Sie verkürzt sie drastisch, indem sie Gottes vollendendes Walten im Medium des Heiligenden Geistes ganz und gar auf die individuelle transmutatio der Person vom Stand des „In-der-Sünde-Seins“ zum Stand des „In-der-Gnade-Seins“ konzentriert. Sie lässt mit dieser ihrer Konzentration ganz außer Acht, dass das individuelle „In-derSünde-Sein“ nicht anders fassbar und erkennbar ist als das Verstrickt-Sein in das Allgemeine des Syndroms von erlittenem Leid und verschuldetem Leid (s. 3.2).17 Nehmen wir diesen Begriff des menschlichen „In-der-Sünde-Seins“ ernst, so hat er ernste Konsequenzen für die dogmatische Aufgabe, den nach wie vor bestehenden Konflikt zwischen der reformatorischen Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben und der Lehre der Kirche unter dem Bischof von Rom von Gottes gratia creata unter sozial- bzw. unter kulturtheoretischen Gesichtspunkten neu zu diskutieren. Zum einen: Das treibende Motiv für Martin Luthers leidenschaftliches Wirken in der Öffentlichkeit des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation hatte christlichen Lehrentwicklungen bis zum Ende des Spätmittelalters Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011; Wolfhart Pannenberg, STh III; Otto Hermann Pesch/Albrecht Peters, Einführung in die Lehre von Gnade und Rechtfertigung, Darmstadt: WBG, 1981; Eilert Herms, Gnade, in: Ders., Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen: Mohr, 1992, 1–19; Ders., Luther und Freud. Ein Theorievergleich, ebd. 102–123; Michael Bergunder/Friedrich Avemarie/ Roman Heiligenthal/Kirsten Huxel/Dorothea Sattler, Art. Verdienst I.–VII.: RGG4 8, 945–953; Gisbert Greshake, Geschenkte Freiheit. Einführung in die Gnadenlehre, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 1992; Karl-Heinz Menke, Das Kriterium des Christseins. Grundriss der Gnadenlehre, Regensburg: Pustet, 2003; Jürgen Werbick, Gnade, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2013; Wilfried Härle/Peter Neuner (Hg.), Im Licht der Gnade Gottes. Zur Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigungsbotschaft, Münster: LIT Verlag, 2004 (Studien zur systematischen Theologie und Ethik; 42). 17 Erschreckende geschichtliche Beispiele dieses Syndroms: die Akzeptanz der Politik des Kolonialismus und des Imperialismus in den christlich geprägten Gesellschaften der großen Mächte; der unausweichliche Gehorsam der Soldaten in den ungerechten Kriegen der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne; die Faszination, die Hunderttausende dazu bewog, sich in der Phase der „Weimarer Republik“ seit 1920/1921 den Gewaltorganisationen der SA und der SS anzuschließen (vgl. hierzu soeben: Daniel Siemens, „Sturmabteilung“. Die Geschichte der SA. München: Siedler Verlag, 2019); die individuelle Mitwirkung an den Gräueln des „Archipel Gulag“ bzw. an der Organisation der Auslöschung des europäischen Judentums; das Gefühl eines unerbittlichen Zwangs zur wissenschaftlich-technischen Entwicklung der atomaren Waffen; und schließlich das organisierte Verbrechen, wie es die italienische Cosa nostra ebenso wie die N‘Drangheta praktiziert. – Diese Beispiele großer geschichtlich wirksamer kollektiver Subjekte sollen die destruktive Wirksamkeit kleiner familiärer Subjekte nicht übersehen lassen, wie sie die psychotherapeutische Schule der Theorie familiärer Systeme untersucht.

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sich gebildet in den traumatischen Erfahrungen des Augustiner-Mönchs mit dem Sakrament der Buße. Um diese traumatischen Erfahrungen zu verstehen, müssen wir uns in der gebotenen Kürze die zentrale Rolle der Buße in der Frömmigkeit der Kirche unter dem Bischof von Rom vergegenwärtigen. Diese kirchlich-theologische Lehre und diese Praxis der Buße verweisen freilich ihrerseits auf die sakramentale Grundstruktur im Selbstverständnis der Heiligen römischen Kirche. Aus diesem Grunde hat sich Luthers vehemente Kritik an der Praxis der Buße und an der kirchlich-theologischen Lehre alsbald vertieft zu einer ebenso vehementen Kritik nicht nur der Kirchengewalt des Bischofs von Rom im Besonderen, sondern auch der sakramentalen Grundstruktur des römischen Katholizismus im Allgemeinen.18 Diese Kritik führt Luther und die von ihm inspirierte reformatorische Bewegung zur Konzeption des Allgemeinen Priestertums, die freilich erst aufgrund der organisatorischen Trennung der Kompetenz des Staates und der Kompetenz der Kirche in der euro-amerikanischen Moderne ein protestantisches Modell der erfahrbaren Kirche möglich macht (s. 4.4.1). Ich bin bestrebt zu zeigen, dass erst die organisatorische Trennung der Kompetenz des Staates und der Kompetenz der Kirche dem biblischen Verstehen der Freiheit aus der Wahrheit der Gottesgewissheit (Joh 8,32; 2Kor 3,17; Gal 5,1) die rechtliche Chance der Realisierung gewährt (s. 4.4.4). Unter den sieben Sakramenten der römisch-katholischen Tradition kommt dem Sakrament der Buße die zentrale Rolle zu; es weist nämlich zurück auf das Verständnis der Taufe im Leben der frühesten Christus-Gemeinschaften (s. 4.2.3.1).19 Dieses Verständnis kommt im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages auf die Praxis der „Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden“ (Mk 1,4) zurück, die Johannes der Täufer in der Rolle des apokalyptischen Propheten Elia (vgl. Mal 3,23) am östlichen Ufer des Jordan übt. Allerdings erfährt die Taufe, die Johannes der Täufer praktiziert, im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages eine grundlegend gewandelte Bedeutung. Sie gilt nun als das Ritual, das die zu taufende Person in das Christus-Geschehen initiiert und integriert: nämlich in die Gemeinschaft, der die Versöhnung Gottes mit der Welt (vgl. 2Kor 5,19) in Jesu von Nazareth Lebensgeschichte und Lebensgeschick offenbar und deshalb schlechthin heilsam und vertrauenswürdig wird. Als dieses Ritual begründet die Taufe „auf den Namen Jesu, des HErrn“ (Apg 8,16) bzw. „im Namen Jesu Christi“ (Apg 10,48) jenes neue Sich-Verstehen der Person, die

18 Vgl. hierzu bes. Reinhard Schwarz, Die gemeinsamen Grundlagen der christlichen Religion und deren strittiges Grundverständnis. Eine von Luther angeregte Unterscheidung mit ökumenischer Relevanz, in: ZThK 106 (2009), 41–78. 19 Vgl. zum Folgenden bes.: Raffaele Pettazzoni, La Confessione dei peccati, Bologna: Zanichelli, 1929–1936; Hans Wißmann/Peter Welten/Louis Jacobs/Jürgen Becker/Gustav Adolf Benrath/Falk Wagner/Inge Lønning, Art. Buße I.–VII.: TRE 7, 430–492; Wolfgang Gantke/Ernst-Joachim Waschke/ Aharon Oppenheimer/Joseph Dan/Hans Weder/Martin Ohst/Jürgen Werbick/Vladimir Ivanov/Risto Saarinen/Oswald Bayer/Hans Martin Müller/Bernd Radtke, Art. Buße I.–V.: RGG4 1, 1903–1924.

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sich in der Erfahrung des Gewissens vom Faktum des menschlichen „In-der-SündeSeins“ und deshalb von der Angst des Todes befreit weiß. In der Bezeichnung dieses neuen Sich-Verstehens der Person konvergieren – wie wir noch sehen werden – die mannigfachen soteriologischen Bilder, Begriffe, Gedanken und Erzählungen des Neuen Testaments in ihrer kritischen Revision des Tanakh der jüdischen JHWHGemeinschaft in seiner Septuaginta-Version. Die Taufe ist daher das Ritual, in welchem sich der Täufling dem Christus-Geschehen im Forum einer Gemeinde öffnet und das dazu berechtigt, im Gottesdienst an ihrer Feier des Mahls des HErrn, der Eucharistie, teilzunehmen. Nun ist es die überaus peinliche Erfahrung im Leben der frühesten ChristusGemeinschaften, dass der Stand der Gnade des Getauft-Seins bzw. der Stand der Gnade des In-Christus-Seins (vgl. bes. Röm 6,4!) – d. h.: das Leben in der wahren Gottesgewissheit – keineswegs vor schwerer Sündenschuld bewahrt. Im Horizont der Erwartung eines Jüngsten Tags bzw. eines Jüngsten Gerichts scheint diesem „Rückfall“ die Gefahr einer definitiven Verurteilung bzw. einer endgültigen Verdammung zu drohen, zumal im Bann des apokalyptischen Mythos und seiner dualen eschatologischen Struktur (s. 4.5.4.2). Aus diesem Grund entwickeln sich alsbald die ersten Ansätze eines Verfahrens, das unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit der erneuten Buße gewährt (vgl. schon Apk 2,5.16.21f.; 3,3.19). Sie wird vollzogen in der Form der Beichte, die das Bekenntnis einer schweren Sünde (confessio) in ernster Reue (contritio), den priesterlichen Zuspruch der göttlichen Vergebung (absolutio) und die angemessene Genugtuung (satisfactio) umfasst. Während der Zuspruch der Vergebung die ewige Schuld der schweren Sünde (culpa) als einer Beleidigung Gottes in Gottes Namen tilgt, hat sich ein büßender Mensch der unerlässlichen Strafe zu unterziehen, die ihm der Priester anhand eines der Bußbücher (libri poenitentiales) auferlegt.20 Ebenso wie das Ritual der Taufe ursprünglich die innere Umkehr (μετάνοια) der

20 Das Erfordernis der satisfactio als des wesentlichen dritten Teils des Sakraments der Buße ist denn auch das fromme Motiv für die Entwicklung der Lehre vom Purgatorium („Fegfeuer“) jenseits des Todes und für die päpstliche Bewilligung eines „Ablasses“ der zeitlich-geschichtlichen satisfactio aus dem „Schatz der Kirche“; vgl. hierzu Martin Ohst/Gerhard Ludwig Müller, Art. Ablaß: RGG4  1, 66–68. – Heutige römisch-katholische Kirchenlehre versteht unter dem Ablass „den Erlaß einer zeitlichen Strafe vor Gott für Sünden, die hinsichtlich der Schuld schon getilgt sind“ (Paul VI., „Indulgentiarum doctrina“). Das fromme Motiv hat seine biblische Wurzel in der Vollmacht kirchlicher Schlüsselgewalt (vgl. Friedrich Schleiermacher, CG2 §§ 144–145 [II, 367–376 = KGA I.13,2, 407–417]). Dieses Motiv ist in der deutschsprachigen römisch-katholischen Theologie durch Karl Rahner einer gründlichen Neubestimmung unterzogen worden, nämlich als Akt der kirchlichen Fürbitte (vgl. Karl Rahner, Vergessene Wahrheiten über das Bußsakrament, in: Ders., Schriften zur Theologie. Bd. II, Einsiedeln/Zürich/Köln: Benziger Verlag, 2 1956, 143–184)! In dieser Form verdient das Erfordernis der satisfactio als des wesentlichen dritten Teils des Sakraments der Buße nach wie vor die geistliche Aufmerksamkeit der reformatorischen Kirchengemeinschaften, und

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Person zum Christus-Glauben angesichts des drohenden eschatischen Gerichts bzw. der ewigen Verdammnis besiegelt (vgl. bes. Mk 16,16; Röm 1,18; 2,5; 6,4; 8,1), versteht die Kirche unter dem Bischof von Rom das Sakrament der Buße als das schlechthin heilsnotwendige Ritual, das einen schwere Sünde aufrichtig bekennenden Menschen erneut in den Stand der Gnade des Getauft-Seins bzw. in das In-Christus-Sein – und damit in die wahrhaft sittliche Autonomie – versetzt und ihn vor ewiger Verdammnis bewahrt. Insofern erfüllt es die Bedingung dafür, erneut an der gottesdienstlichen Feier der Eucharistie teilnehmen zu dürfen und mit der jeweiligen kirchlichen Christus-Gemeinschaft im Frieden zu sein. Zum andern: Im Verständnis des Sakraments der Buße bzw. in der Praxis der Beichte war von allem Anfang an natürlich eingeschlossen, dass sich der Stand der Gnade des Getauft-Seins bzw. das In-Christus-Sein der Person manifestiert in einer Lebensführung, die der Bestimmung der geschaffenen Person zur frei-willentlichen Gottes- und Nächstenliebe gerecht wird (vgl. bes. Lk 10,27 im Zitat von Dt 6,5; Röm 6,4). Auf diese Form der Lebensführung zielt die Praxis der Paränese, wie sie die verschiedenen Schriften des neutestamentlichen Offenbarungszeugnisses in ihrer kritischen Revision des Tanakh der jüdischen JHWH-Gemeinschaft in seiner Septuaginta-Version dokumentieren. Sie machen unbefangen genug Gebrauch von dem semantischen Feld des Lohns (vgl. Mt 5,11f.; 18,3ff.; 25,31ff.; 1Kor 3,8.14; 9,25), das jedenfalls die absolut zukünftige Situation eschatischer Seligkeit auch als eine Situation der göttlichen Anerkennung, des göttlichen Lobs bzw. der göttlichen Freude vorzustellen sucht. Die Praxis der Paränese appelliert in ihrer präskriptiven Redeform auf jeden Fall an jene Selbstverantwortung der geschaffenen Person vor Gott, welche die Freiheit des Wählens, des Entscheidens und des Verwirklichens des in Wahrheit Guten impliziert: zu dieser Freiheit – zur Freiheit des Glaubens, „der durch die Liebe zur Wirkung kommt“ – hat uns das Christus-Geschehen nach dem dichten Spruch des Apostels Paulus „befreit“ (Gal 5,1.6 [Übersetzung Ulrich Wilckens]). Für jene Freiheit des Christus-Glaubens, „der durch die Liebe zur Wirkung kommt“ und deshalb die „Neuheit des Lebens“ (Röm 6,4) begründet, erfinden die Gemeinden der formativen Phase des sich ausbreitenden Christentums alsbald den Begriff des verdienstlichen Werks (vgl. bes. 1Clem 49,5). An ihm entzünden sich die kirchlich-theologischen Debatten über das angemessene Verständnis der Art und Weise, in der sich das geschaffene Frei-Sein des menschlichen Person-Seins zur gratia creata – d. h.: zum wirksamen Empfang der Gnade des Christus-Geschehens

zwar im Sinne einer ernsten Wiedergutmachung! – Zur „Verzeihung“ in der eschatischen Situation des jenseitigen Vollendet-Werdens s. 4.5.4.2.

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im Herzen und Gewissen der Person – verhält. Das Desaster, in welches diese Debatten in der jüngeren franziskanischen Scholastik bzw. in der ruinösen Praxis des Ablasshandels zu Beginn des 16. Jahrhunderts mündete, erzeugte jene abgrundtiefe Verzweiflung, in der Martin Luthers und der reformatorischen Bewegung Neustart im Grundverständnis des Christus-Glaubens geboren wurde. Ich werde noch zu zeigen haben, dass diese abgrundtiefe Verzweiflung das SelbstMissverständnis der Kirche unter dem Bischof von Rom hinsichtlich des Kontinuums zwischen Gottes des Schöpfers versöhnendem Walten und Gottes des Schöpfers vollendendem Walten offenkundig macht. Dieses Selbst-Missverständnis zeigt sich darin, dass die kirchlich-theologische Lehre von der Notwendigkeit der Gnade (der gratia creata als gratia praeveniens bzw. als gratia operans und als gratia cooperans) in keinem einsichtigen Verhältnis steht zur Lehre von Gottes des Schöpfers versöhnendem Walten im Christus Jesus durch den Geist der Wahrheit. Die Kirche unter dem Bischof von Rom betont den objektiven Empfang des Christus-Geschehens im Wort der Predigt und in den Sakramenten ex opere operato, ohne mit gleichem Ernst die notwendigen und hinreichenden Bedingungen anzusprechen, unter denen der Person die Wahrheit des Evangeliums von Gottes des Schöpfers versöhnendem Walten im Christus Jesus zur heilsamen Gewissheit wird.21 Mit Luthers wirkungsvoller Kritik am Unwesen des Ablasshandels à la Tetzel beginnt daher nicht nur die folgerichtige Kritik an der obersten Kirchengewalt des Bischofs von Rom; mit ihr beginnt auch konsequenter Weise die Kritik der sakramentalen Grundstruktur der Heiligen römischen Kirche überhaupt sowie die typisch reformatorische Einsicht in das, was fundamentum fidei ist. Sie führt geradewegs zur Konzeption des Allgemeinen Priestertums, welche die Basis der Kirche als der „sozialen Gestalt des Glaubens“ (Reiner Preul) ist.22 Der theologie-

21 Dieses Selbst-Missverständnis wird daran deutlich, dass der Mainstream des scholastischen Denkens die Lehre von der Wirksamkeit der gratia creata und vom angemessenen Verhältnis zwischen der Wirksamkeit der gratia creata und den frei-willentlichen und deshalb verdienstlichen Werken der Person innerhalb der Lehre von Gott bzw. von Gottes Vorherbestimmung entfaltet, während er die Lehre von Gottes des Schöpfers versöhnendem Walten im Christus Jesus und von deren Tragweite erst innerhalb der Lehre von den Sakramenten zur Sprache bringt. Insbesondere wird die systematische Besinnung auf den Heiligen Geist des göttlichen Wesens innerhalb der Trinitätslehre nicht vermittelt mit der systematischen Besinnung auf Gottes vollendendes Walten in der „Ausgießung des Heiligenden Geistes“ (s. 4.1). 22 Vgl. 4.4.1: Die Konzeption des Allgemeinen Priestertums, die im Gebiet des Deutschen Reiches erst nach der Aufhebung des sog. landesherrlichen Kirchenregiments zu realisieren war, liegt der Kompetenz der Synode zugrunde, in ihrer Bindung an die Heilige Schrift und an das Bekenntnis der jeweiligen Kirchengemeinschaft die Ordnungen des kirchlichen Leitungsamts, des kirchlichen Lehramts und des kirchlichen Rechts normativ wirksam zu setzen.

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geschichtliche Weg von der Kritik zur reformatorischen Einsicht ins Ereignis des Christus-Glaubens sei nun in der gebotenen Kürze skizziert.23 Drittens: Die phänomenale Basis der reformatorischen Glaubenslehre Wie die dominikanische Scholastik ist auch die ältere und die jüngere franziskanische Scholastik als wissenschaftliche Begründung der authentischen kirchlichen Glaubenslehre bezogen auf die radikale Gnadenlehre Augustins, die auf den Synoden von Karthago im Jahre 418 und von Orange im Jahre 529 als normative kirchliche Lehre festgestellt worden war (DH 222–230; DH 370–397).24 Diese verschiedenen Wege der philosophisch-theologischen Reflexion gehen mit Augustin davon aus, dass es im Stande des Verlusts der iustitia originalis schlechthin der Notwendigkeit jener gratia creata bedarf, welche die iustificatio impii bewirkt, indem sie der Person durch das Wort der kirchlichen Predigt und insbesondere durch den Empfang der Sakramente die Vergebung des „In-der-Sünde-Seins“ im Christus Jesus nicht etwa nur nahebringt, sondern effektiv mitteilt. Nun zieht nach der authentischen kirchlichen Lehre der Verlust der iustitia originalis keineswegs den Verlust des freien Wollen-Könnens der geschaffenen Person überhaupt nach sich. Es ist vielmehr als wesentlicher Aspekt des geschaffenen Person-Seins der philosophisch-theologischen Besinnung auf die gratia creata nach wie vor vorgegeben, zumal es die authentische kirchliche Lehre und die fromme religiöse Praxis mit dem Begriff der verdienstlichen Lebensführung im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe stets in Anspruch nimmt. Nun wird zwischen der älteren franziskanischen sowie der dominikanischen Schule einerseits und der jüngeren franziskanischen Schule andererseits eine erhebliche Differenz deutlich an der Art und Weise, in der diese Schulrichtungen

23 Meine folgende Skizze hat nicht zuletzt das Ziel, protestantische Stereotypen in Frage zu stellen, die nach wie vor Luthers und der Reformatoren Lebenskampf als „Wiederentdeckung“ des Evangeliums bzw. der paulinischen Rechtfertigungslehre feiern. Demgegenüber werde ich zeigen, dass Luthers und der Reformatoren Lebenskampf der Einsicht ins Zusammenwirken des „äußeren Wortes“ der gesamten Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche und des „inneren Wortes“ der Wirksamkeit des Heiligenden Geistes galt. Römisch-katholische Gegenkritik, diese Einsicht vernachlässige das Lehr- und Traditionsamt der sakramental verfassten Kirche, ist m. E. fehl am Platz. – Vgl. zum Folgenden bes.: Eilert Herms, Gnade, in: Ders., Offenbarung und Glaube (wie Anm. 16), 1–19; Volker Leppin, Das ganze Leben Buße. Der Protest gegen den Ablass im Rahmen von Luthers früher Bußtheologie, in: Andreas Rehberg (Hg.), Ablasskampagnen des Spatmittelalters. Luthers Thesen von 1517 im Kontext, Berlin; Boston: De Gruyter, 2017. 24 Vgl. zum Folgenden bes.: Wolf-Dieter Hauschild, Art. Gnade IV. Dogmengeschichtlich (Alte Kirche bis Reformationszeit): TRE 13, 476–495; zu Augustin vgl. bes.: Berndt Hamm, Promissio, pactum, ordinatio. Freiheit und Selbstbindung Gottes in der scholastischen Gnadenlehre, Tübingen: Mohr, 1977 (BHTh; 54), 8–19: Augustins Lehre von der Schuldnerschaft Gottes; Volker Henning Drecoll, Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins, Tübingen: Mohr Siebeck, 1999.

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das Verhältnis zwischen dem freien Wollen-Können des geschaffenen Person-Seins und der Wirksamkeit der gratia creata zu verstehen suchen. Einheitlich beziehen sie ihre philosophisch-theologische Reflexion der authentischen kirchlichen Lehre von der iustificatio impii auf jene Fähigkeit bzw. auf jene Disponiertheit des geschaffenen Person-Seins, die gratia creata zu empfangen. Sie unterscheiden sich jedoch bemerkenswert darin, wie sie das Verhältnis zwischen dem freien Wollen-Können des geschaffenen Person-Seins und der Wirksamkeit der gratia creata genauer zu bestimmen streben. Cum grano salis handelt es sich um eine Differenz, welche die Antwort der Maria auf die Botschaft des Engels nach Lk 1,38 betrifft: „Siehe, ich bin des HErrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast.“ In dieser Differenz kommen bemerkenswerte Gegensätze im Verständnis des Phänomens des geschaffenen Person-Seins überhaupt zum Tragen. Sie betreffen zum einen die Frage, welcher Art die ernste Reue sei, ohne die das Sakrament der Buße in der Form der Beichte nicht vollziehbar ist; und sie betreffen zum andern die Frage, welche Rolle dem geweihten Priester in dem Zuspruch der Vergebung zukomme. Die sachgemäße Beantwortung dieser beiden Fragen ist im Kontext des christlich-frommen Selbstbewusstseins in der Periode des europäischen Spätmittelalters von höchster existentieller Bedeutung. In Luthers Kritik am Unwesen des Ablasshandels bahnt sich die erschütternde Einsicht an, dass diese beiden Fragen schlechthin falsch gestellt sind, weil sie nicht wahrhaben wollen, dass „das ganze Leben des Glaubens Buße (verstehe: Umkehr zu dem in Wahrheit guten Leben) sei.“25 Wie wir noch sehen werden, führt Luthers drastische Kritik an der Lehre sowohl als auch an der Praxis der Buße zu einem neuen Verstehen dessen, was wir mit dem Begriff des geschaffenen Person-Seins meinen. Ich analysiere in der gebotenen Kürze die drei maßgeblichen Schulmeinungen: Ad 1: Inspiriert von Franciscus von Assisi entsteht im Franziskanerorden die sog. ältere Franziskanerschule, wie sie von Alexander von Hales (um 1185–1245) und von Bonaventura (um 1217–1274) bestimmt ist.26 Es ist ihr Interesse, den lebensgeschichtlichen Übergang aus dem Stand des „In-der-Sünde-Seins“ in den Stand des „In-der-Gnade-Seins“, wie ihn die authentische Kirchenlehre und wie ihn die fromme religiöse Praxis versteht, durch eine psychologische Interpretation begreiflich zu machen. Ihr zufolge ist die Lebensgeschichte der Person ein Weg zum Heil der Vollendung, der mit dem Ruf zur Buße und zur Umkehr beginnt. In ihm

25 Vgl. Martin Luther, Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum (1517): „Dominus et magister noster Iesus Christus dicendo ‚Penitentiam agite &c.‘ omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit.“ (WA 1; 233–238: 233,1f.). („Unser Herr und Meister Jesus Christus wollte, indem er sprach: ‚Tut Buße‘, dass das ganze Leben der Christus-Glaubenden Buße sei.“ [meine Übersetzung]). 26 Zur Gnadenlehre Bonaventuras vgl. bes. Berndt Hamm, Promissio, Pactum, Ordinatio (wie Anm. 24), 213–245; bes. 243–245.

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Einführung

ereignet sich die gratia gratis data, die das freie Wollen-Können eines Menschen zum Christus-Glauben disponiert und eben damit das in der Bewegung der Buße und der Umkehr mögliche und erforderte meritum de congruo (das „Verdienst der Billigkeit“) begründet. An diese vorbereitende Wirksamkeit schließt nach der älteren Franziskanerschule jene Wirksamkeit der göttlichen Gnade an, die sich im Kontinuum der pastoralen und der sakramentalen Vermittlung des Christus-Geschehens in der Seele der Person als gratia habitualis bzw. als gratia iustificans oder als gratia gratum faciens manifestiert. Als solche hat sie die Kraft, die Seele der Person mit Hoffnung und mit Liebe zu erfüllen und sie zu jener Lebensführung zu befähigen, die von Gott als meritum de condigno (als „Verdienst der Angemessenheit“) angenommen wird. Indem die Wirksamkeit der göttlichen Gnade in ihrer lebensgeschichtlichen Tendenz insgesamt mit der Kategorie der Form im Sinne der spezifischen Wesensnatur erläutert wird, wird sie auf das freie Wollen-Können des geschaffenen Person-Seins als ihre Materie bezogen, das freilich seinerseits wie schon erwähnt nicht ohne den Ruf zur Buße und zur Umkehr für die Begegnung mit dem Christus-Geschehen disponiert wird.27 Alles in allem ist es – wie Berndt Hamm sorgfältig zu zeigen vermag – Bonaventuras Intention, Gottes freie Selbstbindung zugunsten des Verhältnisses der gratia creata als den verlässlichen Grund der Hoffnung des Christus-Glaubens zu bestimmen, der Ewigkeit des ewigen Lebens als „Lohn“ des Lebens der Liebe in der Zeit teilhaftig zu werden. Allerdings beruft sich Bonaventura dafür auf den Gedanken einer „pactio“, auf eine göttliche „Vertragsverheißung“, die es auszuschließen hat, dass die Liebeswerke des gelebten Lebens irgendeinen Anspruch auf die göttliche Anerkennung denkbar machen könnten. Wie sich Gottes freie Selbstbindung zugunsten des Verhältnisses der gratia creata zu dem Gedanken einer „Vertragsverheißung“ verhält, bleibt in Bonaventuras Interpretation der Kirchenlehre allerdings eine offene Stelle und ein wunder Punkt.28 Ad 2: Auch nach der Theorie der dominikanischen Scholastik, wie sie Thomas von Aquino repräsentiert29 , setzt die gratia creata, welche den Verlust der iustitia originalis und damit den Stand des „In-der-Sünde-Seins“ der Person zu überwinden

27 Das Axiom „Facienti quod est in se Deus non denegat gratiam“ („Der Person, die tut, was in ihr [verstehe: in ihren Kräften] liegt, verweigert Gott nicht die Gnade“), das in der Schule Abälards entwickelt wurde, wird also in der älteren franziskanischen Schule ebenso wie in der dominikanischen Schulrichtung nach Möglichkeit von einem „semipelagianischen“ Missverständnis freigehalten; vgl. Wolf -Dieter Hauschild (wie Anm. 24), 486. 28 Vgl. hierzu Berndt Hamm, Promissio, Pactum, Ordinatio (wie Anm. 24), 244f. 29 Vgl. hierzu Berndt Hamm, Promissio, Pactum, Ordinatio (wie Anm. 24), 312–338; sowie Henri Bouillard, Conversion et grâce chez St. Thomas d’Aquin, Paris: Aubier, 1944.

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vermag, die Fähigkeit des freien Wollen-Könnens der Person voraus, sich überhaupt der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche und der Teilnahme an den Feiern der Sakramente – und damit dem Christus-Geschehen – von sich aus zuzuwenden. Unter dieser Voraussetzung geschieht nach Thomas in der kirchlich vermittelten Begegnung der Person mit dem Christus-Geschehen die gratia habitualis. Darunter ist nach Thomas jener „übernatürliche“ – d. h.: der von Gott selbst über die geschaffene Natur des Mensch-Seins hinaus gewährte und gewirkte – Habitus zu verstehen, kraft dessen die Person in freier Selbsttätigkeit das in Wahrheit Gute erkennen, wollen und vollbringen kann. Um klarzustellen, dass die „Neuheit des Lebens“ (vgl. Röm 6,4) in dieser freien Selbstverwirklichung des in Wahrheit Guten nicht etwa irgendeinen Anspruch begründet, unterscheidet Thomas im Prozess der iustificatio impii ausdrücklich die kontinuierliche Wirksamkeit der heiligenden Gnade Gottes als gratia operans und als gratia cooperans. Im Kontinuum der kirchlich vermittelten Begegnung mit dem Christus-Geschehen ist und bleibt Gottes heiligende Gnade das donum habituale, das die Lebensführung der Person von Grund auf neu bestimmt (vgl. STh II–II, q 111 a 1–2). Die Unterscheidung zwischen meritum de congruo (dem „Verdienst der Billigkeit“) und meritum de condigno (dem „Verdienst der Angemessenheit“) gibt es bei Thomas nicht. Um nun die „semipelagianische“ Falle zu vermeiden, lehrt Thomas ausdrücklich, dass die spezifische Fähigkeit des freien Wollen-Könnens der Person, sich von sich aus der kirchlichen Vermittlung des Christus-Geschehens in der Verkündigung und in der Feier der Sakramente zuzuwenden, ihrerseits begründet und hervorgerufen sei vom wirksamen Wollen des göttlichen Wesens, das im Sinne der gratia praeveniens erstlich und letztlich in der ewigen Wahl der Gnade verankert ist. Insofern kann Thomas für sich in Anspruch nehmen, dem Grundsatz des Verständnisses der gratia applicatrix bei Augustin treu zu bleiben, welcher das Leben des ChristusGlaubens, der „in der Liebe zur Wirkung kommt“ (Gal 5,6), als Folge der gratia applicatrix begreift. Es sollte zugestanden werden, dass diese Weise der Besinnung auf die authentische kirchliche Glaubenslehre den problematischen Begriff einer verdienstlichen Lebensführung auf keinen Fall im Sinne eines irgendwie gearteten Anspruchs auf die göttliche Bejahung und Anerkennung – d. h. im Sinne einer „Schuldnerschaft“ Gottes – expliziert. Ad 3: Trotz der bemerkenswerten Unterschiede in ihrer systematischen Besinnung auf die in Geltung stehende authentische kirchliche Lehre kommen die ältere franziskanische und die dominikanische Schule darin überein, dass sie mit dem Begriff der gratia habitualis jene Wirksamkeit der göttlichen Gnade in der Seele der Person bezeichnen, die ihr im Kontinuum der kirchlichen Vermittlung des Christus-Geschehens das frei-willentliche Wollen des in Wahrheit Guten gewährt. Das Indiz dieses Konsenses liegt offenbar darin, dass das Vergebungswort des

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geweihten Priesters im Vollzug des Sakraments der Buße eine etwaige attritio (eine oberflächliche Reue aus Furcht vor Strafe) in die ernstgemeinte contritio (in die aufrichtige Selbsterkenntnis und Selbstkritik) wandelt. Dieser sachliche Konsens wird in der jüngeren franziskanischen Schule, die auf Johannes Duns Scotus (ca. 1265/66–1308) zurückgeht, erheblich modifiziert. Ich komme hier auf sie zu sprechen, weil diese theologische Schule in der Form, die sie durch die von Wilhelm von Ockham (ca. 1285–1347) angeregte via moderna fand, für Martin Luthers und der reformatorischen Bewegung prinzipielle Kritik an der authentischen kirchlichen Lehre und an der frommen religiösen Praxis unter dem Bischof von Rom ausschlaggebend war.30 Duns Scotus entwickelt auf der Basis eines prägnanten Verstehens von PersonSein eine systematische Besinnung auf die Wahrheit der authentischen Lehre von der iustificatio impii, die ganz und gar geprägt ist vom Begriff des dreieinen PersonSeins Gottes als des frei-willentlichen Sich-gegenüber-Seins (s. 1.5.3.3.2). Dieser Begriff impliziert den Grundgedanken, dass Gottes absolutes Frei-Sein nur durch sich selbst und nicht etwa durch anderes wie z. B. durch geschaffenes Frei-Sein bestimmbar ist. Nun ist zwar Gottes absolutes Frei-Sein prinzipiell das absolute Frei-Sein für das absolute Gut-Sein; gleichwohl aber gilt für die Besinnung auf die authentische Lehre von der iustificatio impii, dass Gottes absolutes Frei-Sein sich nur durch sich selbst dazu bestimmen lässt, etwas Geschaffenes wie z. B. die durch Gott gewirkte gratia creata – die ja als solche eine bestimmte Weise frei-willentlicher menschlicher Lebensführung ist – als etwas Gutes bzw. als verdienstliche Lebensführung anzuerkennen. Der Sachverhalt, dass Gottes absolutes Frei-Sein für das absolute Gut-Sein nur durch sich selbst bestimmbar sei, impliziert für Duns Scotus nun folgerichtig die Unterscheidung zwischen Gottes potentia absoluta und Gottes potentia ordinata. Es ist Sinn und Zweck dieser Unterscheidung, die tatsächliche Ordnung der Gnade – also: die Überwindung des Standes des „In-der-Sünde-Seins“ im Kontinuum der kirchlich und vor allem der sakramental vermittelten Begegnung mit dem Christus-Geschehen und deren eschatischem Ziel in ewiger Seligkeit – in Gottes frei-willentlicher Selbstbestimmung und Selbstbindung zu verankern. Allerdings trägt diese Unterscheidung den Keim und die Gefahr des Missverstehens und des Missbrauchs in sich. Sie könnte nämlich so verstanden werden, als lehre sie einen Begriff der Selbstbestimmung und der Selbstbindung Gottes, der in dem Raum des für Gott ohne Widerspruch Möglichen auch anders hätte wirklich werden

30 Vgl. zum Folgenden bes.: Werner Dettloff, Die Lehre von der acceptatio divina bei Johannes Duns Scotus mit besonderer Berücksichtigung der Rechtfertigungslehre, Werl: Dietrich-Coelde-Verl., 1954; Berndt Hamm, Promissio, Pactum, Ordinatio. Freiheit und Selbstbindung Gottes in der scholastischen Gnadenlehre (wie Anm. 24), 345–354.

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können als in der ursprünglichen Wahl der Gnade. Zu diesem Missverstehen und Missbrauchen ist es offensichtlich in der sog. via moderna gekommen. Ad 4: Wir richten unsere Aufmerksamkeit deshalb schließlich auf Gabriel Biel (ca. 1413/14–1495), der das von Wilhelm von Ockham angeregte neue Denken – die via moderna der Wissenschaftstheorie des sog. Nominalismus – als der „letzte Scholastiker“ wirkungsvoll vertreten hat.31 Die Wissenschaftstheorie der via moderna war im Unterschied zu derjenigen der via antiqua bewegt von der fundamentalen Frage, ob es bzw. unter welchen Bedingungen und in welchen Grenzen es für menschliches Erkennen Gewissheit gebe. Die lebhafte Diskussion dieser Frage bezog sich nicht nur auf das Gebiet des theoretischen Erkennens, sondern auch auf das Gebiet des praktischen bzw. des moralischen Erkennens und insbesondere auf das alles entscheidende Gebiet der religiösen Gewissheit: nämlich auf die Gewissheit, kraft der kirchlichen bzw. der sakramentalen Vermittlung des Christus-Geschehens im Wort der Predigt und im Empfang der Sakramente der gratia habitualis und mit ihr der göttlichen Akzeptation teilhaftig zu werden. Der nominalistische Grundgedanke, dass es dafür ebenso wenig wie für das theoretische bzw. für das moralische Erkennen unbedingte Gewissheit gebe, weist hin auf eine schlechthin ruinöse Wendung im Verständnis der Unterscheidung der Macht des göttlichen Wesens als potentia absoluta und potentia ordinata. Ich verstehe diese Wendung dahingehend, dass sie das, was Gott kraft seiner potentia ordinata als die Ordnung des Naturgeschehens ebenso wie als die sittliche Ordnung und insbesondere als die Ordnung der Gnade will, jederzeit kraft seiner potentia absoluta – ohne sich zu widersprechen – auch anders wollen bzw. in sein Gegenteil verkehren oder gar aufheben kann. Wegen der jederzeit für Gottes schlechthin frei-willentliches Wesen möglichen Aufhebung der uns zu verstehen gegebenen Ordnungen kann es keine unbedingte Gewissheit, insbesondere keine Heilsgewissheit geben.32 Wenn Biel in gleicher Weise wie Wilhelm von Ockham den priesterlichen Spruch der Absolution von der Voraussetzung der contritio (der Reue

31 Vgl. zum Folgenden bes.: Theo Kobusch, Art. Nominalismus: TRE 24, 589–604 (Lit.); Leif Grane, Contra Gabrielem – Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der Disputatio contra Scholasticam Theologiam 1517, Kopenhagen: Gyldendal, 1962; Heiko A. Oberman, Spätscholastik und Reformation. I. Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich: EVZ-Verl., 1965; Berndt Hamm, Promissio, Pactum, Ordinatio (wie Anm. 24), 372–375. 32 Vgl. hierzu die These von Gabriel Biel: „Nec enim quia aliquid rectum est aut iustum, ideo Deus vult; sed quia Deus vult, ideo rectum et iustum“ („nämlich nicht, weil etwas richtig oder gerecht ist, deshalb will es Gott; sondern weil Gott es will, deshalb ist es gerecht und richtig“ [zit. nach Theo Kobusch, Art. Nominalismus {wie Anm. 31}, 598]). Es ist mit Händen zu greifen, dass und wie diese These die von Duns Scotus gelehrte Beziehung des frei-willentlichen Seins des göttlichen Wesens auf Gottes absolute Gutheit auseinander reißt und das göttliche Wollen als eine Weise der Willkür bestimmt.

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im Sinn der aufrichtigen Selbsterkenntnis und Selbstkritik als des notwendigen Akts des facere quod in se est [s. o. S. 539]) abhängig macht, lässt es das Sakrament der Buße offenbar im Zweifel, ob diese Art der Reue aufrichtig sei und deshalb vor der göttlichen Gerechtigkeit bestehen könne.33 Die promissio – die „Selbstfestlegung“ Gottes hinsichtlich der Ordnung der Gnade –, wie Duns Scotus sie verstehen wollte, bleibt auf dem Hintergrund der Wissenschaftstheorie der via moderna dem um sein Heil besorgten Menschen notwendig ungewiss. Ad 5: Um dem theologischen Denken der scholastischen Phase zwischen dem 12. und dem frühen 16. Jahrhundert ohne drastische Polemik gerecht zu werden, sei das Folgende festgehalten: Dem hartnäckigen Kampf Augustins gegen das Verständnis des ChristusGlaubens beim britischen Asketen Pelagius verdanken die Kirche und die Theologie des lateinischen Christentums die Lehre von Gottes promissio – von Gottes freier Selbstbindung –, die den freien göttlichen Grund der Wirksamkeit der Gnade der iustificatio impii (vgl. bes. Röm 3,21-24; 5,5; 5,6) in der Begegnung mit dem Christus-Geschehen in der Kirche anspricht. Diese Lehre betrifft nicht nur die dispositio ad gratiam – die freie Entscheidung der dem „In-der-Sünde-Sein“ verfallenen Person zum Begehren der Verkündigung und der Taufe –; sie betrifft auch und vor allem die Würdigung der Liebe und der Hoffnung des ChristusGlaubens als des dem Willen Gottes entsprechenden Heilig-Werdens der Person. In dieser Lehre wurzelt das Problem, ob – und wenn ja in welcher Weise – die Wirksamkeit der Gnade Gottes in der Begegnung mit dem Christus-Geschehen in der Kirche (der gratia creata als gratia operans und als gratia cooperans) und das ursprüngliche Frei-Sein der geschaffenen Person zusammenwirken. Dieses Problem hält die Geschichte des scholastischen Denkens in Atem, wie dies die verschlungene Debatte über den frommen Begriff und über die fromme Praxis des Verdiensts demonstriert. Natürlich ist die Phase des scholastischen Denkens insgesamt – wie alle orthodoxe kirchlich-theologische Lehre – eschatologisch orientiert. Sie lässt sich inspirieren von der biblischen Symbolisierung, die zwischen der erhofften eschatischen Zukunft des ewigen Lebens in der beseligenden Schau des göttlichen Wesens und dem sittlichen Wert der Lebensführung der Person – wie etwa mittels der Metapher „Lohn“ (vgl. Lk 6,23; 1Kor 3,18; Apk 22,12 im Rückblick auf Gen 15,1; Ps 19,12) – eine Entsprechung nahe legt. Die verschiedenen Schulen unterscheiden sich jedoch erheblich in der Art und Weise, wie sie diese Entsprechung bei Wahrung

33 Volker Leppin, Das ganze Leben Buße (wie Anm. 23), charakterisiert daher die Biel‘sche Lehre von der Buße wie schon die Lehre Wilhelms von Ockham als „subjektiv-sakramental“.

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der freien Selbstbindung Gottes an die Heilsordnung der Begegnung mit dem Christus-Geschehen plausibel machen. Die ältere franziskanische Schule, wie sie vor allem von Bonaventura repräsentiert wird, sucht um Gottes freier Selbstbindung willen die verwegene Fehleinschätzung zu vermeiden, als verbriefe der durch Gottes gratia creata ermöglichte sittliche Wert der Lebensführung einen berechtigten Anspruch auf das Höchste Gut der himmlischen Glorie. Aus diesem Grunde tendiert diese Schule dahin, die Teilhabe eines Menschen, dem die gratia creata der Begegnung mit dem Christus-Geschehen im Raum der Kirche gewährt ist, an jenem eschatischen Höchsten Gut an den Gedanken einer „Vertragsverheißung“ (pactio divina) zu knüpfen. Es ist die Intention dieses Begriffs, auch die Teilhabe der Person am Höchsten Gut der himmlischen Glorie, auf die das Verdienst des sittlichen Wertes ihrer Lebensführung ausgerichtet ist, gleichwohl als Gabe der göttlichen Gnade einzuschärfen.34 Wie die ältere franziskanische spricht sich auch die dominikanische Schule der scholastischen Theologie – von Wilhelm von Auxerre (um 1150–1231) inspiriert – entschieden dagegen aus, dass Gottes gratia habitualis – also: die Erweckung des Akts des Glaubens an die offenbarte Lehre vom Christus-Geschehen in der Verkündigung und insbesondere im heilsamen Empfang der Eucharistie – einen Anspruch auf die Seligkeit des ewigen Lebens in der Schau des göttlichen Wesens begründe. Gleichwohl sieht auch Thomas von Aquino in der frei-willentlichen Zustimmung der Person zur offenbarten Lehre vom Sinn des Christus-Geschehen ein „Verdienst“ im Sinne des meritum de congruo (des Verdiensts der Billigkeit). Zwar schärft es Thomas dringend ein, dass auch das Leben in der Hoffnung und in der Liebe, das sich als die tatsächliche Folge des Glaubens als der frei-willentlichen Zustimmung der Person zur offenbarten Lehre vom Sinn des Christus-Geschehens manifestiert, auf Gottes Gnade in der Weise der gratia cooperans angewiesen ist; jedoch in welcher Weise die Darlegung der offenbarten Lehre zur individuellen Gewissheit ihres Wahr-Seins führt, bleibt außerhalb der theologischen Theorie. De facto verharrt die überragende systematische Kraft des thomanischen Denken in den Grenzen des Prinzips, das individuelle Leben in der Erfahrung der göttlichen Gnade auf dessen Begegnung mit dem Wahrheitsanspruch der authentischen Kirchenlehre einzuschränken. Die jüngere franziskanische Schule von Johannes Duns Scotus hat gegenüber der via antiqua der älteren franziskanischen sowie der dominikanischen Schule einen theoretischen Neuansatz zu bieten. Dessen Impuls geht von dem Gedanken des absoluten Frei-Seins des göttlichen Wesens – d. h.: des dreieinen Person-Seins Gottes – 34 Nach Berndt Hamm, Promissio, pactum, ordinatio (wie Anm. 24), 244, stehen allerdings bei Bonaventura der Begriff der promissio (der ursprünglichen Entscheidung Gottes für die Heilsordnung der Gnade) und der Begriff der pactio, der „die verdienstliche Wirkung der Gnadenwerke sichert“, „völlig unverbunden nebeneinander.“

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aus. Im Lichte dieses Gedankens gilt auch für die Auslegung der authentischen Lehre von der iustificatio impii, dass nur Gott selbst die gnädige Annahme des dem „In-derSünde“ verfallenen Menschen im Medium der sakramentalen Ordnung der Heiligen römischen Kirche vollzieht. Mittels der Unterscheidung zwischen Gottes potentia absoluta und Gottes potentia ordinata sucht Duns im Sakrament der Buße genau zu markieren, dass das gesprochene Wort der Absolution jene Disposition der contritio erzeugt, die für den heilsamen Empfang der Eucharistie unerlässlich ist. Allerdings lässt es auch die Duns’sche Theorie im Unklaren, in welcher Weise denn das sakramentale Ritual das Herz bzw. das Gewissen der Empfänger in radikalem Gottvertrauen zu erreichen vermag. Dieses Problem tritt vollends in der Theologie Gabriel Biels zu Tage, die sich theoretisch in den Bahnen der von Wilhelm von Ockham begründeten via moderna – des sog. Nominalismus – bewegt. Im Lichte eines grundsätzlichen Zweifels an der Gewissheit allen endlichen Erkennens hat diese Innovation innerhalb der jüngeren franziskanischen Scholastik die Konsequenz, eine Heilsgewissheit der Empfänger des sakramentalen Rituals zu bezweifeln. Wenn namentlich im Sakrament der Buße die ernste Reue im Sinne der contritio als notwendiges Erfordernis für die Gültigkeit der Absolution, des Zuspruchs göttlicher Vergebung, beschrieben wird, wird jegliche Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums von dem stets problematischen Ernst der ernsten Reue abhängig gemacht. Die reformatorische Bewegung hat dieses Erfordernis als das von Gott kraft der kirchlichen Ordnung der Gnade gebotene gute Werk verstanden, das jegliche Gewissheit bzw. jegliches Vertrauen auf Gottes promissio zu erschüttern droht. Ad 6: Nach seiner Priesterweihe im Jahre 1507 von den Oberen des Ordens zum Studium der Theologie und von Johannes von Staupitz zur Wahrnehmung der lectura in biblia an der im Jahre 1502 gegründeten Universität Wittenberg bestimmt35 ,

35 Bekanntlich studierte Luther von 1501 bis 1505 an der Universität Erfurt die artes liberales und wurde im Rahmen dieses Grundstudiums von Jodokus Trutvetter und Bartholomäus Arnoldi von Usingen mit der via moderna scholastischen philosophisch-theologischen Denkens vertraut gemacht. Nachdem er nach dem Erwerb des Grades eines Magisters Artium im Jahre 1505 das Studium der Rechtswissenschaften wegen seines Gelübdes abgebrochen und um Aufnahme in das Erfurter Kloster der Augustiner-Eremiten ersucht hatte, wurde er nach der Profeß und nach der Priesterweihe im Frühjahr 1507 zum Studium der Theologie an der Universität Erfurt bestimmt, in das er insbesondere durch die Erklärung des Sentenzen-Kommentars Gabriel Biels (durch Johann Nathin) eingeführt wurde, dessen „Expositio canonis missae“ er schon zur Vorbereitung auf die Priesterweihe intensiv gelesen hatte. Allerdings: so wenig die gewissenhafte Befolgung der Regeln der monastischen Bußexistenz die schweren Anfechtungen hinsichtlich der tiefsitzenden Ungewissheit des unbedingten Heilswillens Gottes zu stillen vermochte, so wenig war das philosophisch-theologische Denken der via moderna ihm hilfreich in der Angst des Gewissens, die ihn „zu verzweifeln trieb“ (EG 341,3). Im Folgenden seien die Gründe dafür benannt.

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entwickelt Martin Luther seit seiner ersten Vorlesung über die Psalmen zwischen 1513 und 1515 ein theologisches Verfahren, das sich konsequent als Interpretation der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments versteht. Kraft dieses Verfahrens ist es ihm möglich, über die frühe Phase seiner Theologie der via moderna sowie seiner monastischen Theologie der Buße und der Demut hinauszugehen und die summarische Formel des Apostels Paulus, im Evangelium werde „Gottes Gerechtigkeit kundgemacht – aufgrund des Glaubens und für den Glauben“ (Röm 1,17 [Übersetzung Ulrich Wilckens]), zum Zentrum eines neuen, eminent kirchen- und theologiekritischen Verstehens des göttlichen Waltens zu machen. Indem ich die wesentlichen Aspekte dieser Innovation benenne, eile ich zum Ende meiner einleitenden Skizze.36 In seinen Vorlesungen, in seinen lateinischen und deutschen Schriften und insbesondere in seinen Predigten entwickelt Luther Schritt für Schritt ein konkretes Verständnis der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens: nicht etwa nur in Bezug auf dessen Gegenstand (auf dessen Woran und Woraufhin), sondern zugleich in Bezug auf dessen Grund. Er lehrt den individuellen Christus-Glauben in der ChristusGemeinschaft der Kirche und der Kirchen als das Gewiss-Werden und als das Gewiss-Bleiben der Person zu verstehen, die der je ihr selbst geltenden Wahrheit des Christus-Geschehens inne ist. Dieses Grundverständnis hat verschiedene eminent kritisch-konstruktive Implikationen: Zum einen: Indem Luther den Christus-Glauben als das Gewiss-Sein der je mir selbst geltenden Wahrheit des Christus-Geschehens zu verstehen lehrt, nimmt er die Auslegung des biblischen Gott-Verstehens durch die Formeln der altkirchlichen Symbole ernst, die Gottes Sein und Wesen als Gottes dreieines Person-Sein anzusprechen suchen (s. 1.5.3.3.2). Das Gewiss-Sein des Christus-Glaubens hat deshalb darin seinen Grund, dass Gottes Heiligender Geist das Christus-Geschehen – so wie es uns im Inbegriff des äußeren Wortes begegnet (s. 4.1) – als evident erleben und als schlechthin vertrauenswürdig erfassen lässt. Die Wirksamkeit des Heiligenden Geistes hat mithin je gegenwärtig offenbarenden Charakter; sie offenbart nichts weniger als das Wahr-Sein des versöhnenden Wortes, in welchem Gottes schöpferisches Wort in Jesu Christi Lebensgeschichte 36 Vgl. zum Folgenden bes.: Gerhard Ebeling, Art. Luther, Martin II. Theologie: RGG3 IV. 495–420; Ders., Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen: Mohr Siebeck, 1964; Oswald Bayer, Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1971 (FKDG; 24); Berndt Hamm, Promissio, pactum, ordinatio (wie Anm. 24), 377–390 (kritisch zu Bayer [136]: 384f.); Reinhard Schwarz, Martin Luther – Lehrer der christlichen Religion, Tübingen: Mohr Siebeck, 2015; Volker Leppin, Das ganze Leben Buße (wie Anm. 24). – Natürlich müsste eine ausführliche Darstellung des Konflikts zwischen der Heiligen römischen Kirche und der reformatorischen Bewegung auch die biographischen und theologischen Ansätze Philipp Melanchthons, Huldrych Zwinglis, Jean Calvins und anderer führender Sprecher einbeziehen, was den Rahmen meiner Skizze sprengen würde.

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und Lebensgeschick für uns sich inkarniert (s. 3.6). So stiftet bzw. so schafft sie jenes radikale Grundvertrauen auf Gott selbst, welches das Leben in der Einheit der Erfahrungswelt heilsam neu bestimmt. Ist Gottes Heiligender Geist in diesem Sinn als Grund des Christus-Glaubens zu bezeichnen, so sind jedenfalls die Unterscheidungen zwischen Gottes potentia absoluta und Gottes potentia ordinata, wie sie die via moderna des nominalistischen Denkens traf, mit aller Schärfe als wirklichkeitsfremd und deshalb als haltlos und als ruinös zurückzuweisen. Zum andern: Indem Luther den Christus-Glauben als das durch Gottes Heiligenden Geist geschaffene Gewiss-Sein der je mir selbst geltenden Wahrheit des Christus-Geschehens zu verstehen lehrt, nimmt er sehr wohl das Anliegen der Gnadenlehre der verschiedenen scholastischen Schulen ernst. Gleichwohl berührt er deren wunden Punkt. Zwar betonen die verschiedenen scholastischen Schulen je auf ihre Weise, dass Gottes gratia creata im Kontinuum der kirchlichen bzw. der bischöflichen Repräsentanz des Christus-Geschehens die iustificatio der Person begründe und begleite; aber in ihren verschiedenen Gestalten der Gnadenlehre dominiert doch der Aspekt des objektiv Gegebenen, ohne dass der Aspekt des subjektiv als evident und als vertrauenswürdig Erlebten eine befriedigende Beschreibung finden würde. Kein Geringerer als Kardinal Thomas de Vio Cajetan (1469–1534) – der päpstliche Legat auf dem Reichstag zu Augsburg im Jahre 1518 – hat scharf erkannt, dass Luthers Einsicht in die wesentliche Relation zwischen der Verheißung des objektiv Gegebenen und dem subjektiven Gewiss-Sein der Verheißung des objektiv Gegebenen de facto einen Bruch mit der authentischen Lehre und mit der frommen Praxis der Kirche unter dem Bischof von Rom vollzieht.37 Zum Dritten: Indem Luther den Christus-Glauben als das durch Gottes Heiligenden Geist geschaffene Gewiss-Sein der je mir selbst geltenden Wahrheit des Christus-Geschehens zu verstehen lehrt, korrigiert er von Grund auf die Reflexion, die jedenfalls die ältere sowie die jüngere franziskanische Schule der seit den Zeiten des antiken Christentums erfundenen Rede von der verdienstlichen Lebensführung im Stand des „In-der-Gnade-Seins“ widmet. Er korrigiert sie dadurch, dass er sowohl die sittlichen Gebote des Dekalogs als auch die Intention und die Funktion der Paränese im Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testamentes ernst nimmt.38

37 Zu Luthers Verhör durch Kardinal Cajetan in Augsburg vom 12.–15. 10. 1518 vgl. Bernd Moeller, Luther und das Papsttum, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005, 106–115. 38 Der grundlegende Text hierfür: Martin Luther, Von den guten Werken (1520): WA 6; 202–276. Der Schlüsselsatz dieser dem Herzog Johann zu Sachsen gewidmeten Schrift lautet: „Das erste und hochste aller edlist gut werck / ist der glaube in Christum … Dan in diesem werck mussen alle werck gan / und yrer gutheit einfluß gleich wie ein lehen von ym empfangen …“ (WA 6; 204). Vgl.

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Die Basis dieser Korrektur liegt jedoch darin, dass Luther jedenfalls ansatzweise das Phänomen des Frei-Seins und damit des Verantwortlich-Seins der geschaffenen Person genauer erfasst, als dies den Schulen der älteren franziskanischen sowie der dominikanischen Scholastik möglich war.39 Nach Luthers Einsicht können wir das Phänomen des geschaffenen PersonSeins nicht anders begreifen denn als das Phänomen eines Sich-Bestimmens: d. h. als Phänomen eines je individuellen Selbstverhältnisses, das sich in seinem Sichgegenwärtig-Sein bezogen weiß sowohl auf anderes je individuelles Selbstverhältnis als auch auf jenen schöpferischen Grund und Ursprung, dessen Urentscheidung und dessen Zielsetzung sich das Dasein individueller Freiheitswesen in einem ungeheuren, unbegrenzten Universum verdankt. Würde man wie die ältere franziskanische und wie die dominikanische Schule dies Phänomen eines je individuellen Selbstverhältnisses als die von Gottes schöpferischem Walten gesetzte seelisch-geistige Qualität des freien Wollen-Könnens definieren, so würde man die zweifache Relation verkennen, in der wir Wesen von der Seinsart des geschaffenen Person-Seins faktisch existieren.40 Diese zweifache Relation – die wechselseitige Relation zu jeweils anderem individuellen Selbstverhältnis in einer gemeinsamen Erfahrungswelt sowie die einseitige bzw. die asymmetrische Relation eines jeden individuellen Selbstverhältnisses zum schöpferischen Grund und Ursprung des All des Seienden, den wir „Gott“ nennen – ist allerdings nach Luthers richtiger Einsicht von gegensätzlicher Art:41 In der wechselseitigen Relation zu jeweils anderem individuellen Selbstverhältnis sind wir Menschen durchaus einer bestimmten und begrenzten sprachlichen, praktischen und ästhetischen Handlungs- und Entscheidungsfreiheit fähig. Vermöge dieser Handlungs- und Entscheidungsfreiheit suchen wir diejenigen Güter zu erreichen und zu verwirklichen, von denen wir uns angezogen fühlen und von

hierzu bes. Michael Kuch, Herzenssache und Gottesmut. Martin Luther und das Lebensgefühl des Glaubens, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2017, bes. 78–112. 39 Vgl. zum Folgenden bes.: Martin Luther, Ein Sendbrief an den Papst Leo X. Von der Freiheit eines Christenmenschen ([1520]: WA 2; 3–38); Ders., De servo arbitrio / Vom unfreien Willensvermögen ([1525]: LDStA 1, 219–661). 40 Weil Duns Scotus in seinem Verständnis des Person-Seins diesen Aspekt des Selbstverhältnisses sichtet, ist Werner Dettloff, Art. Duns Scotus/Scotismus I.: TRE 9, 218–231, der Meinung: „Wenn nämlich auch ein Unterschied zwischen Duns Scotus und Luther besteht, so dürfte doch gleichsam Luther mit dem echten Duns Scotus wohl leichter ins Gespräch kommen können als etwa mit Thomas von Aquin.“ (228). 41 Vgl. zum Folgenden: Eilert Herms, Art. Servum arbitrium I. II.: RGG4 7, 1233–1235; Ders., Art. Wille IV. Dogmatisch; V. Ethisch: RGG4 8, 1563–1565; Ders., Art. Willensfreiheit IV. Religionsphilosophisch; V. Dogmatisch; VI. Ethisch: ebd. 1573–1577; Wilfried Härle, Der (un)-freie Wille aus reformatorischer und neurobiologischer Sicht, in: Ders., Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 2005, 253–303.

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Einführung

denen wir das Dauern unseres geschaffenen Person-Seins in einer gemeinsamen Erfahrungswelt erhoffen. Anders verhält es sich mit der asymmetrischen Relation unseres je individuellen Selbstverhältnisses zu Gott dem schöpferischen Grund und Ursprung und zu Gottes ursprünglichem In-Gemeinschaft-sein-Wollen. In dieser asymmetrischen Relation muss uns Gott selbst und Gottes ursprüngliche Wahl der Gnade von sich her offenbar werden. Wird sie uns offenbar, so wird uns die Bestimmung zur selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wesen offenbar. Wird sie uns offenbar, so wird uns jenes Höchste Gut offenbar, in dem wir Wesen von der Seinsart des geschaffenen Person-Seins unseren Frieden, unser Genügen und unsere Seligkeit erleben. Nach alledem liegt die tiefgreifende Korrektur, wie Luther und wie die reformatorische Bewegung sie an Theorie und Praxis der verdienstlichen Lebensführung kraft der gratia creata üben, auf der Hand: Selbstredend ist die aufmerksame Besinnung auf das uns selbst vertraute Phänomen des leibhaften Person-Seins der Handlungs- und Entscheidungsfreiheit gewahr, vermöge derer wir in einer gemeinsamen Erfahrungswelt auf alle lebensnotwendigen und lebensdienlichen Güter aus sind. Allerdings ist diese Handlungs- und Entscheidungsfreiheit als endliche Handlungs- und Entscheidungsfreiheit nicht allein begrenzt, sondern vor allem auch bedingt. Sie ist dadurch bedingt und davon abhängig, dass sich uns das sittlich Gute, das in Wahrheit Gute, das Höchste Gut als solches erschließe oder aber nicht erschließe. Weil unsere endliche Handlungs- und Entscheidungsfreiheit dadurch bedingt und davon abhängig ist, dass sich das Höchste Gut als solches erschließe oder aber nicht erschließe, bestreitet Luther ganz mit Recht die Willensfreiheit des geschaffenen Person-Seins im Sinne jener Freiheit, die das Höchste Gut als solches durch sich selbst zu erkennen und zu wählen vermag.42 Ich sehe jedenfalls die entscheidende Pointe der Schrift „De servo arbitrio“ darin, dass sie uns aufklärt über die endliche Handlungs- und Entscheidungsfreiheit als Handlungs- und Entscheidungsfreiheit, deren sittliche Qualität und deren Lebensdienlichkeit bedingt ist und bestimmt ist durch die Wirksamkeit des Heiligenden Geistes (vgl. bes. Röm 8,14). Um es prägnant zu sagen: nach Luthers phänomengerechter Einsicht ist die Bedingtheit des frei-willentlichen Handelns der geschaffenen Person

42 Um es an einem aufschlussreichen Beispiel zu illustrieren: Der früh gereifte und nach der sog. Machtergreifung erst peu à peu der Generalität der Reichswehr mitgeteilte Entschluss Adolf Hitlers zum Krieg und erst recht der Befehl zum Angriff auf Polen am 1. September 1939 waren zweifellos Akte der endlichen Handlungs- und Entscheidungsfreiheit des Kanzlers des Deutschen Reiches. Anders verhält es sich mit der Entwicklung einer Weltanschauung, innerhalb derer derartige freiwillentliche Entschlüsse allererst möglich und unvermeidlich waren: in ihr war Hitler unfrei.

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als ihre conditio zu verstehen; ihre Erkenntnis ist Erkenntnis eines Sachverhalts, den man fundamentalanthropologisch formulieren kann und muss. Es ist mithin das vertiefte Verständnis der Eigenart des geschaffenen PersonSeins, das der kritischen Korrektur der kirchlichen Lehre von der gratia creata und deren praktischer Konsequenz zugrunde liegt. Mit dem problematischen Begriff der verdienstlichen Lebensführung meint die Kirche unter dem Bischof von Rom jenem Aspekt des neutestamentlichen Offenbarungszeugnisses zu entsprechen, der die absolut zukünftige Situation eschatischer bzw. ewiger Seligkeit in der Schau des göttlichen Wesens auch als eine Situation der göttlichen Anerkennung, des göttlichen Lobs bzw. der göttlichen Freude vorzustellen sucht (s. 4.5.4.2). Sie intendiert eine Weise menschlicher Selbstverantwortung vor Gott, die in Gottes ewigem Sich-gegenwärtig-Sein Achtung und Bejahung findet. Doch steht sie unvermeidlich im Verdacht, die genuine Intention bzw. das Worumwillen menschlicher Selbstverantwortung vor Gott kraft der gratia creata bestehe in nichts anderem als in der Achtung und Bejahung, die sie von Gott in Gottes ewigem Sichgegenwärtig-Sein erhoffen darf. Wegen dieses unvermeidlichen Verdachts ersetzen Luther und die reformatorische Bewegung die Lehre von den heilsnotwendigen Verdiensten, indem sie das ethische Modell des Lebens in der cooperatio cum Deo – der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wesen – entwerfen. Der ebenso zeitgemäße wie zeitbedingte Entwurf eines solchen ethischen Modells ist nach meiner festen Überzeugung jenes „Zentrum des christlichen Glaubens“, das in verschiedenen Variationen die reformatorische Lehre von der Rechtfertigung als Auslegung der Wahrheit des Christusgeschehens in Atem hält.43 Das vorliegende Kapitel 4 geht deshalb davon aus, dass das semantische Feld der Lehre von der Rechtfertigung nicht die einzige, sondern eben nur eine unter verschiedenen Möglichkeiten darstellt, die notwendigen Bedingungen zu bezeichnen, unter denen die Gewissheit der Wahrheit des Christus-Geschehens sich ereignet. Mit diesem ethischen Modell wird ernst genommen, dass unser aller geschaffenes Person-Sein nicht anders als in einer relativ begrenzten Lebensgeschichte des wechselseitigen Handelns aus Gewissheit oder aus Ungewissheit existiert.44 43 Vgl. demgegenüber Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen: Mohr Siebeck, 3 1999, der dem Thema „Leben aus der Gerechtigkeit Gottes“ ganze 13 Seiten widmet! Es ist im Übrigen kaum zu glauben, dass diese Studie das Walten Gottes als Heiligender Geist lediglich an drei Stellen (S. 12; 24; 164) zur Sprache bringt. 44 Deshalb kann Luther kurz und bündig sagen: „Fides facit personam“ (Der Glaube [verstehe: der Christus-Glaube] macht die Person: Martin Luther, Die Zirkulardisputation de veste nuptiali ([1539]: WA 39/I; 283,1). Im Umkehrschluss heißt das allerdings auch: Der Unglaube in seinen mannigfachen Varianten macht die Person!– Vgl. zum Folgenden auch Eilert Herms, Handeln aus Gewißheit. Zu Martin Heideggers Phänomenologie des Gewissens, jetzt in: Ders., Erfahrung und Metaphysik. Lektüren aus Theologie, Philosophie und Literatur, Tübingen: Mohr Siebeck, 2018, 626–654.

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Einführung

Ist diese unsere Lebensgeschichte bestimmt durch das Gewiss-Sein der Wahrheit des Christus-Geschehens in der Gemeinschaft all derer, die in derselben Weise der Wahrheit des Christus-Geschehens inne sind, so werden alle ihre einzelnen Entscheidungen geleitet und gelenkt sein von der Kraft des Willens, in der Willensgemeinschaft mit Gott selbst als dem in Wahrheit Höchsten Gut zu existieren. Wenn Luther und wenn die maßgeblichen Sprecher der reformatorischen Bewegung das Gewiss-Sein der Wahrheit des Christus-Geschehens und dessen heilende und heilsame Kraft dem Walten Gottes des Heiligenden Geistes zu verdanken glauben, so bildet diese Erkenntnis den Hebel ihrer grundsätzlichen Infragestellung der sakramentalen Struktur sowie der bischöflichen Verfassung der Heiligen römischen Kirche.45 An deren Stelle entwickeln sie die Konzeption des Allgemeinen Priestertums, welches die Christus-Gemeinschaft in welcher empirischen Gestalt auch immer zum verantwortlichen Subjekt der religiösen Kommunikation des Evangeliums erhebt. Meine Darstellung orientiert sich – durchaus im Interesse des ökumenischen Dialogs – an dieser grundlegenden Differenz, die sich ganz sichtbar in den Phänotypen und in den frommen Ritualen hier und dort bemerkbar macht. Sie setzt daher mit einer Besinnung auf die „Ausgießung des Heiligenden Geistes“ ein (4.1), bevor sie unter dem Zwischentitel „Das Haupt des Leibes (Kol 1,18)“ auf das Gefüge der religiösen Kommunikation des Evangeliums zu sprechen kommt (4.2). Ich schließe daran meine Beschreibung des christlichen Lebens im Glauben, Hoffen und Lieben an, die ich insgesamt unter den Leitgedanken dieses vorliegenden Teils II „Durch Wahrheit zur Freiheit“ stelle (4.3). Weil das Gefüge der religiösen Kommunikation des Evangeliums, welches dem Walten des Heiligenden Geistes zu dienen bestimmt ist, in dieser diesseitigen bzw. in dieser irdischen Geschichts-Raumzeit einer kirchlichen Ordnung bedarf, entwickle ich im Folgenden Grundlinien der sozialen Gestalt der Christus-Gemeinschaft, die für die Funktion der Kirche in der Kultur ihrer jeweiligen Gesellschaft Konsequenzen haben (4.4). Mein gesamter Gedankengang führt schließlich an die Schwelle einer eschatologischen Meditation über die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens (4.5): In ihr erreicht meine Darstellung einer Dogmatik ihr Ziel, indem sie in der „Schlussbetrachtung“ die Brücke schlägt zur Theologischen Ethik des geplanten Teils III.

45 Vgl. hierzu die Studie von Reinhard Schwarz, Die gemeinsame Grundlage der christlichen Religion und deren strittiges Grundverständnis (wie Anm. 18).

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Die „Ausgießung“ des Heiligenden Geistes46

Das Wortbekenntnis des Christus-Glaubens – des christlich-frommen Selbstbewusstseins – artikuliert die fundamentale Erfahrung, dass menschliches Leben letztlich nur durch Wahrheit zur Freiheit kommt. Diese fundamentale Erfahrung verdankt sich ursprünglich jenem geschichtlichen Ereignis, in welchem sich die Wahrheit des Evangeliums erschließt. Ich hatte dieses geschichtliche Ereignis immer wieder als das Ereignis der Erscheinungen des Dritten Tages bestimmt. Was sich in ihnen generell ereignet, ist das Gewiss-Werden der Wahrheit des Evangeliums, das nach Apg 2,2 „plötzlich“ geschieht. Die Apostelgeschichte kleidet dies Geschehen in die dramatische Erzählung vom Wunder des Pfingsttags, das in der Predigt des Petrus seine Erklärung findet (Apg 2,1-13; 14-36). Sie sieht in diesem Geschehen jene wunderbare prophetische Verheißung in Erfüllung gehen, die im Buche Joel ausgesprochen ist: „Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht ‚Gott‘, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch …“ (Jl 3,1)

Was „in den letzten Tagen“ gemäß der prophetischen Verheißung und ihrer metaphorischen Redeweise in Erfüllung gehen soll, ist offensichtlich nichts Geringeres als das Inne-Werden befreiender Wahrheit, das im Geist „von Gottes Geist“ – d. h. im Heiligenden Geist – seinen notwendigen und allein hinreichenden Grund hat. Es ist daher ganz sachgemäß, in der dogmatischen Besinnung auf das Ganze des vollendenden Waltens Gottes zu beginnen mit der Antwort auf die Frage, was wir meinen, wenn wir im geschichtlichen Ereignis des Inne-Werdens befreiender Wahrheit Gottes Heiligenden Geist als wirksam sehen.

46 Vgl. zum Folgenden bes.: Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik. Zweiter Band, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 5 1977, 260–291: Der Geist des Vaters und des Sohnes; Heiliger Geist: JBTh, Bd. 24 (2009) [darin bes.: Klaus Müller, Heiliger Geist und philosophisches Denken. Über unerwartete Ab- und Anwesenheiten, 245–268; Dorothea Sattler, Erinnerung an den göttlichen Erinnerer. Römisch-katholische Überlegungen zur Pneumatologie in ökumenischer Perspektive, 401–428]. – Bedauerlicherweise gehen die Beiträge dieses Bandes an der tiefgreifenden Kontroverse, die ich beschrieben habe, vorbei. – Vgl. ferner: Karl Barth, KD IV/4 Frg., 3–44: Die Taufe mit dem Heiligen Geist; Gerhard Ebeling, Dogmatik III, § 31: Heiliger Geist und Menschengeist (61–124); Jürgen Moltmann, Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München: Kaiser, 1991; Wolfhart Pannnenberg, STh III, 13–40: Die Vollendung der Heilsökonomie Gottes durch den Geist; Michael Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1992, 214–258; Eilert Herms, STh (Bd. 1), § 15,1: Die Christusoffenbarung als geschichtliches Ereignis (372–409); § 15,2: Die Christusoffenbarung als die befreiende Selbstvergegenwärtigung des Wesenswillens des Schöpfers (409–463; bes. 438–463); Christian Danz, Gottes Geist. Eine Pneumatologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 2019.

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Die „Ausgießung“ des Heiligenden Geistes

Es liegt wohl auf der Hand, dass die befriedigende Antwort auf diese Frage für die gesamte Praxis der religiösen Kommunikation des Evangeliums und für deren praktisch-theologische Theorie von grundsätzlicher Bedeutung ist. Die Antwort auf diese Frage wird ins Zentrum der „Soteriologie“, der „Ekklesiologie“ und der „Eschatologie“ führen. Sinnvoller- und notwendigerweise geht sie davon aus, dass das Leben des Christus-Glaubens, das im Gewiss-Werden der Wahrheit des Evangeliums wurzelt, das Leben im durchaus angefochtenen radikalen Grundvertrauen auf den dreieinen Gott ist. Ich verstehe unter der „Ausgießung des Heiligenden Geistes“ jene Wirkungsweise, die der Christus-Glaube dem Moment des göttlichen Wesens als Heiliger Geist zuspricht. Er spricht ihm diese Wirkungsweise zu, weil es im Besonderen Gottes Heiligender Geist ist, der die Existenz in der Ungewissheit hinsichtlich des unbedingten göttlichen Heilswillens „wandelt“ und auf diese Weise „heiligt“.47 Kommt es in unserer Lebensgeschichte, die nach wie vor bestimmt ist vom Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids (s. 3.2), zu Anfängen der selbstbewusstfreien Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wesen als des Höchsten Gutes für das menschliche Person-Sein, so sind diese Anfänge in ihrer Vielfalt jeweils Früchte, die dem Geist der Wahrheit selbst zu danken sind (vgl. Mt 13,8; Lk 8,15; Joh 4,36; Röm 7,4; 2Kor 9,10; Gal 5,22; Eph 5,9; Phil 1,11; Kol 1,10; Hb 12,11; Jak 3,17). Aus diesem Grunde führt die dogmatische Besinnung auf die „Ausgießung des Heiligenden Geistes“ – d. h.: auf das Offenbar-Werden des Versöhnungsgeschehens – zur ethischen Besinnung auf den Grund und auf die Tragweite des Wirklich-Werdens des Guten (STh III). Sie ist die Pointe der vorliegenden Systematischen Theologie. Um nun die Wirkungsweise des Heiligenden Geistes zu erkunden, erinnere ich erstens an meine Besinnung auf Gottes dreieines Person-Sein; zweitens werfe ich die bedrängende Frage auf, ob – und wenn ja, in welcher Weise – Gott der schöpferische Grund und Ursprung des geschaffenen Person-Seins angesichts des Syndroms des „In-der-Sünde-Seins“ dessen Bestimmung zum Leben in der selbstbewusstfreien Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wesen realisieren und vollenden wird; und drittens suche ich zu zeigen, dass Gottes Heiligender Geist die Bestimmung des geschaffenen Person-Seins zum Leben in der frei-willentlichen Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wesen realisiert und vollendet, indem er das Christus-Geschehen als das Versöhnungsgeschehen offenbart. In der Antwort, die der Christus-Glaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) auf jene bedrängende Frage gibt, liegt heute wie eh und je die Gegenwartsbedeutung des Evangeliums.

47 Vgl. bes. Martin Luther, Großer Katechismus (Auslegung des 3. Artikels): „Aber Gottes Geist heißet allein ein heiliger Geist, das ist, der uns geheiligt hat und noch heiliget.“ (BSLK 653,42–654,1); Jean Calvin, Catechismus Ecclesiae Genevensis, c. 14 (OS II, 88).

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Erstens: Im Rahmen des Kapitels 1: „Der christliche Glaube an Gott“ hatte ich gezeigt, dass die Bestimmung des Höchsten Gutes als der freien Willensgemeinschaft des geschaffenen Person-Seins mit dem göttlichen Wesen ihren tiefsten Grund in Gottes Sein als Geist hat. Unter der prädikativen Aussage „Gottes Sein als Geist“ verstehe ich Gottes Sich-gegenwärtig-Sein, und zwar das wahrhaft unendliche bzw. das absolute Sich-gegenwärtig-Sein. Auf Gottes Sich-gegenwärtig-Sein bezieht sich der ontologische Begriff im Sinn von Anselms Argument für Gottes notwendiges bzw. vollkommenes Sein. Es ist als solches unterschieden vom Inbegriff des Seienden, das sein kontingentes Dasein und dessen relative Dauer dem notwendigen bzw. dem vollkommenen Sein Gottes verdankt. Die gesamte systematische Besinnung auf das Wesen des ChristusGlaubens und damit auf die Gewissheit der befreienden Wahrheit des Evangeliums wird insofern eine vernünftige Besinnung sein, als sie das fromme Selbstbewusstsein bzw. die menschliche Gottesverehrung auf das ontologische Grundverhältnis zwischen Gottes notwendigem bzw. vollkommenem Sein und dem Inbegriff des kontingent Seienden in dessen relativer Dauer bezieht.48 Wir dürfen Gottes wahrhaft unendliches bzw. absolutes Sich-gegenwärtig-Sein näher charakterisieren als Gottes Person-Sein. Es ist das Anliegen der kirchlichtheologischen Trinitätslehre seit ihren Anfängen, das angemessene Verständnis von Gottes Person-Sein zu artikulieren. Hervorgegangen aus den Ursprungssituationen der Ereignisse des Dritten Tages sucht sie Gottes Person-Sein in der Weise anzusprechen, dass sie sowohl die Einzigkeit des Einen als auch die dreifache Struktur des göttlichen Waltens wahrt. Um des Verstehens der Einzigkeit des Einen willen ist es daher wichtig, weder die „Einheit“ Gottes noch die „Dreiheit“ der trinitarischen Namen in einem numerischen Sinne als Zahlzeichen zu bestimmen; vielmehr beziehen sich die trinitarischen Namen „Vater“, „Sohn“ bzw. „Wort“ und „Heiliger Geist“ auf die drei gleichwesentlichen Momente, in denen Gottes unendliches bzw. absolutes Sich-gegenwärtig-Sein dem Inbegriff des Anderen als Person begegnen kann und begegnet. Die Geschichte der kirchlich-theologischen Trinitätslehre steht insofern nicht etwa im ausschließenden Gegensatz zu den verschiedenen Wegen des metaphysi-

48 Ich erinnere daran, dass Anselms ontologisches Argument nicht etwa einen „Beweis“, wohl aber einen vernünftigen „Begriff “ des göttlichen Wesens intendiert (s. o. S. 78ff.). Ihm entspricht der scholastische Begriff des göttlichen Wesens als „actus purus“ (als „reines Wirklich-Sein“). – Auf einen solchen vernünftigen Begriff des göttlichen Wesens verzichtet prinzipiell Karl Barth, KD II/1, 67–200, § 26: Die Erkennbarkeit Gottes, um daraufhin den Begriff des göttlichen Wesens – bzw. der Wirklichkeit Gottes – rein von der „Tat seiner Offenbarung“ (KD II/1, 293) her und d. h. auf Grund des biblischen Gott-Verstehens zu bestimmen. Dass dem sprachlichen Zeichen „Gott“ überhaupt eine verstehbare und verständliche Bedeutung zukomme, bleibt in diesem fideistischen Modell dogmatischer Besinnung außer Betracht.

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Die „Ausgießung“ des Heiligenden Geistes

schen Denkens, wie dies die wirkungsvolle Schule Albrecht Ritschls behauptet hatte; sie bringt vielmehr den Begriff des göttlichen Person-Seins als den vernünftigen Begriff zur Geltung, so wie er sich aus der Erfahrung letztgültiger Offenbarung ergibt. Abweichend vom Mainstream der kirchlich-theologischen Trinitätslehre verstehe ich unter den trinitarischen Namen „Vater“, „Sohn“ bzw. „Wort“ und „Heiliger Geist“ die drei gleichwesentlichen Momente des göttlichen Seins als Geist (s. 1.5.3.3.2). Zwar führt der Weg zu ihrer Erkenntnis im Sinne der „ökonomischen“ Methode über das christlich-fromme Selbstbewusstsein als eine besondere und bestimmte religiöse Selbsterfahrung im Ganzen der Struktur bzw. des Richtungssinns des göttlichen Waltens; aber das christlich-fromme Selbstbewusstsein hat durchaus Recht, wenn es im Ganzen der Struktur bzw. des Richtungssinns des göttlichen Waltens drei zu unterscheidende Momente sieht, die für das göttliche Person-Sein gleichwesentlich sind. Für Gottes Person-Sein ist es demnach zum einen wesentlich, Person-Sein auf der Basis bzw. in dem Medium des Geistes als des unendlichen bzw. des absoluten Sichgegenwärtig-Seins zu sein. Als solches sehen wir es im bedingungslosen Gegensatz zu allen Schluss-Gedanken, die ein ursprüngliches Prinzip ohne Eigen-Sein und Eigen-Sinn erdenken oder erdichten. Ich hatte vorgeschlagen, den trinitarischen Namen „Vater“ auf dies basale bzw. auf dies mediale Moment des göttlichen Sichgegenwärtig-Seins bzw. des göttlichen Sich-Erschlossen-Seins zu beziehen. Für Gottes Person-Sein ist es zum andern wesentlich, sich auf der Basis bzw. im Medium des Sich-gegenwärtig-Seins bzw. des Sich-erschlossen-Seins als Sichselbst-bestimmend gegenwärtig bzw. erschlossen zu sein. Meint der ontologische Begriff Gott im Sinne des Anselm‘schen Arguments das notwendige und als solches vollkommene Sein, so gründet doch dessen Ursprungsbeziehung zum All des Seienden in jenem Sich-selbst-Bestimmen für Anderes als dessen dauernder und überdauernder Grund. Ich hatte vorgeschlagen, den trinitarischen Namen „Sohn“ bzw. „Wort“ auf das Moment des Sich-selbst-Bestimmens für Anderes zu beziehen. Für Gottes Person-Sein ist es zum Dritten wesentlich, sich selbst in diesem seinem Sich-selbst-Bestimmen für Anderes kontinuierlich zu bejahen. Ich hatte vorgeschlagen, den trinitarischen Namen „Heiliger Geist“ zu beziehen auf das Moment des Sich-selbst-Bejahens im Sich-selbst-für Anderes-Bestimmen auf der Basis bzw. in dem Medium des Sich-gegenwärtig-Seins. Von diesem dritten Moment des göttlichen Seins als Geist her ist es aufzunehmen, dass und wie die Geschichte der kirchlich-theologischen Trinitätslehre von Gottes Selbstliebe spricht.49

49 Vgl. hierzu Konrad Stock, Art. Selbstliebe (Gottes): RGG4 7, 1169–1170; 1170: „In dieser urspr.(ünglichen) Erschlossenheit (Geistigkeit) ist Gott als er selbst durch sich selbst für sich selbst diejenige Macht, durch deren Gnade alles existiert, was existiert, und durch deren Treue zu sich selbst alles

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Zweitens: In den Erschließungssituationen, von denen in der metaphorischen Ausdrucksweise von der „Ausgießung des Heiligenden Geistes“ die Rede ist, wird der geschaffenen Person in der vermittelten Begegnung mit dem Christus Jesus – dem Subjekt des Christus-Geschehens – das Versöhnt-Sein der Welt mit Gott (2Kor 5,17) und damit die verheißene Vollendung gewiss. Dass diese Gewissheit sich auf Wahrheit stützt und nicht etwa mit der neuzeitlich-modernen Religionskritik als frommer Betrug bzw. als unvermeidliche Illusion zu bewerten sei, hat seinen guten Grund in zwei Aspekten des menschlichen, des leibhaften, des geschaffenen Person-Seins. Diese zwei Aspekte können zwar geleugnet, doch keineswegs erfolgreich bestritten werden, sofern man sich dem Phänomen des je eigenen Selbst-Seins (Dieter Henrich) vorbehaltlos öffnet: Zum einen ist dies der Aspekt des endlichen, des geschaffenen Person-Seins als solchen; zum andern ist dies der Aspekt des Entfremdet-Seins, der uns im SchuldigWerden, im Leid und in der Angst des Todes verschwiegen oder offenkundig gegenwärtig ist. Zum einen: Ich hatte den Aspekt des geschaffenen Person-Seins im Rahmen des Kapitels 2: „Der christliche Glaube an Gott den Schöpfer“ ausführlich dargelegt. In seinem Zentrum steht das Interesse, den Sachbezug der biblischen Rede vom „Bild Gottes“ (Gen 1,26f.) zu klären. Ich hebe daran drei wesentliche Merkmale hervor, die wir kontrollieren können, wenn wir uns auf das Phänomen des je eigenen, des individuellen, des leibhaften Person-Seins besinnen: nämlich das wesentliche Merkmal des freien Sich-gegenwärtig-Seins (Ad 1); das wesentliche Merkmal der Gemeinschaft des menschlichen Person-Seins (Ad 2); und schließlich das wesentliche Merkmal der Erhebung zum verstehenden Verehren des transzendenten Grundes und Ursprungs, den wir „Gott“ nennen (Ad 3). Ad 1: Ein erstes wesentliches Merkmal sehe ich in dem spezifisch freien Sichgegenwärtig-Sein, das menschliches Person-Sein von anderen Seinsweisen in diesem unbegrenzten Universum wie der der physischen bzw. der chemischen Prozesse, des biotischen Wachstums der Pflanzenwelt und der animalischen Lebensform der Tierwelt unterscheidet. Menschliches Person-Sein ist dadurch ausgezeichnet, dass es von einem sehr frühen Zeitpunkt an bis hin zu seinem irdischen Erlöschen in freier Weise sich gegenwärtig ist. Es existiert faktisch notwendig in seiner jeweiligen Gegenwart, in der es unter dem Eindruck aller ihm hier und jetzt gegenwärtigen Wahrnehmungen sprachlich-kommunikativ, praktisch-interaktiv und künstlerischkreativ agiert. Es agiert, indem es sich entscheidet, dies oder jenes Mögliche wirklich

Existierende in seiner Existenz erhalten und bewahrt wird.“. – Vgl. hierzu 4.5.4.4: Gottes ewige Freude.

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werden zu lassen; und zwar, indem es sich früherer und mithin gewesener Gegenwarten erinnert, in denen es sich entschieden hatte, dies oder jenes Mögliche wirklich werden zu lassen. Mit dem Begriff des freien Sich-gegenwärtig-Seins präzisiere ich die transzendentale Bedingung, die mit dem Begriff des unmittelbaren Selbstbewusstseins bzw. des individuellen Freiheitsgefühls verbunden ist, indem ich deren Zeitlichkeit beleuchte. Ad 2: Ein zweites wesentliches Merkmal sehe ich darin, dass das freie Sichgegenwärtig-Sein des menschlichen Person-Seins als ein je Individuelles eo ipso ein Allgemeines bzw. ein Gemeinsames Aller meinesgleichen ist. Es charakterisiert die eine und gleiche Lebensgegenwart, wie sie uns Menschen allen vorgegeben ist. Aus diesem Grunde kann sich das Agieren, in dem wir dies und jenes Mögliche wirklich werden lassen, nur in den wechselseitigen Beziehungen mit Anderen abspielen, die gleich wie wir die jeweils individuelle Erscheinung dieses Allgemeinen bzw. dieses Gemeinsamen sind. Insofern stehen wir in der Pflicht, die wechselseitigen Beziehungen mit Anderen im Lichte einer Regel des Gerechten und des Gleichen zu gestalten. Weil freies Sich-gegenwärtig-Sein uns Menschen allen eignet, markiert es diejenige universale Gemeinschaft der Menschheit, die alle geschichtlichen Unterschiede bzw. alle Differenzen oder Gegensätze – wie z. B. die des Geschlechts, des Volkes, der Sprache, der Sitte oder des Rechts – übergreift. Und weil diese universale Gemeinschaft mit dem freien Sich-gegenwärtig-Sein des menschlichen Person-Seins gegeben, und zwar vorgegeben ist, ist sie der Grund dafür, dass wechselseitige Achtung bzw. wechselseitige Anerkennung uns Menschen allen zugemutet ist.50 Ad 3: Ein drittes wesentliches Merkmal des geschaffenen Person-Seins sehe ich darin, dass es sich zum Verstehen eines transzendenten Ursprungs bzw. eines gründenden Grundes erhebt, dem es das Allgemeine bzw. das Gemeinsame des freien Sich-gegenwärtig-Seins zu verdanken glaubt. Dies Sich-Erheben vollzieht sich in den Formen der religiösen bzw. der weltanschaulichen Gemeinschaft, die sich in aller Geschichte finden lassen.51 In ihrem Zentrum stehen Riten und Rituale, Feste 50 Vgl. hierzu 2.4.2.2; sowie Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin: Suhrkamp, 3 2012. 51 Vgl. zum Begriff der Religion bzw. zum Begriff der Weltanschauung Konrad Stock, STh I, 325–400. – Wenn die Erhebung zum Verstehen des Ursprungs bzw. des gründenden Grundes des Allgemeinen bzw. des Gemeinsamen des menschlichen Person-Seins agnostisch offen gelassen oder atheistisch bekämpft oder gar unterdrückt wird, treten an deren Stelle gemeinsame Verstehensweisen des Ganzen, die sich hinter komplett unklaren Formeln wie „Schicksal“, „Leben“, „Geschichte“, „Evolution“, „ewige Wiederkehr des Gleichen“ (Friedrich Nietzsche) oder „Kampf der ‚himmlischen Mächte‘ [verstehe: Eros und Thanatos]“ (Sigmund Freud) verbergen. Was solche komplett unklaren Formeln für das Verstehen des Ganzen erbringen, ist jedenfalls aus der Sicht der jüdischen JHWH-

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und Feiern des Kults, in denen sich eine wie auch immer gewordene individuelle Gemeinschaft zu dem erhebt, was ihr als ihr transzendenter Ursprung bzw. als ihr gründender Grund offenbar geworden ist. In vielen Sprachen wird dem jeweils offenbaren Grund und Ursprung daher das Prädikat des Heiligen zugesprochen, das dessen unnahbares Eigen-Sein bezeichnet. In der Geschichte der kultischen Verehrung des transzendenten Grundes und Ursprungs ist die der Christus-Gemeinschaft ein einzigartiger Fall. Sie sieht nämlich – verwurzelt in dem Gott-Verstehen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft – im Allgemeinen bzw. im Gemeinsamen des freien Sich-gegenwärtig-Seins der Person die Bestimmtheit für Gott und für Gottes Walten vorgegeben (s. 2.4.2.3). Diese Sicht hat darin ihre Basis, dass das Agieren der Person in ihren wechselseitigen Beziehungen – ihre Handlungs- und Entscheidungsfreiheit – als Aus-Sein auf all die Güter zu verstehen ist, welche das hohe Gut des freien Sich-gegenwärtig-Seins erhalten, verteidigen und nicht zuletzt vervollkommnen sollen. Im allgemeinen bzw. im gemeinsamen Aus-Sein auf solche Güter meldet sich die Frage, ob es ein Höchstes Gut gebe, das dem Menschenleben in seiner sei es verschwiegenen sei es offenkundigen Todesahnung Bleibendes, Dauerndes und wahrhaft Erfüllendes verheißt. Der Christus-Glaube sieht dies Höchste Gut in der freien Willensgemeinschaft des je individuellen geschaffenen Person-Seins mit dem göttlichen Wesen, und d. h. mit dessen In-Gemeinschaft-sein-Wollen. Sie konkretisiert sich in der freien, der kreativen, der selbstverantwortlichen Weise, in der wir dem schöpferischen und dem versöhnenden Walten Gottes dienen. In ihr ist jener Sinn und jenes Ziel zu finden, für welches jedes individuelle Person-Sein in seiner universalen Gemeinschaft mit dem menschlichen Geschlecht geschaffen und bestimmt ist. Es ist der vernünftige Gottesdienst (Röm 12,1). Zum andern: Nun sind uns diese drei wesentlichen Merkmale des geschaffenen Person-Seins nicht anders gegenwärtig als im Banne der Erfahrungen des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids. Mitnichten dementieren diese Erfahrungen die wesentlichen Merkmale des geschaffenen Person-Seins im unbegrenzten Universum und dessen schöpferischen Grund und Ursprung. Wohl aber sind es die Erfahrungen des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids, in denen uns Sinn und Ziel der Gemeinschaft selbstbewusst-freier Wesen zutiefst verborgen und verstellt ist: nämlich zum Höchsten Gut der freien Willensgemeinschaft mit Gott selbst – und d. h.: mit Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen – zu gelangen. Ich hatte die

Gemeinschaft und erst recht aus der Sicht der Christus-Gemeinschaft gleich Null; und zwar deshalb, weil sie dem unendlichen bzw. dem absoluten Person-Sein des Ursprungs bzw. des gründenden Grundes verschlossen sind.

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Die „Ausgießung“ des Heiligenden Geistes

verschiedenen Merkmale des Phänomens des „In-der-Sünde-Seins“ sorgfältig beschrieben, die in der lauernden Bereitschaft zur rücksichtslosen und gewaltsamen Durchsetzung partikularer Willen ihre Klimax haben (s. 3.3). Es waren und es sind in aller bisherigen Geschichte die kollektiven Subjekte der politischen Organisationen, die ihren partikularen Willen durch Krieg, durch Gewaltherrschaft, durch Betrug durchsetzen. Deshalb ist es die bedrängende Frage, ob und wie der schöpferische Grund und Ursprung der Gemeinschaft der Menschheit das Negative des In-der-Sünde-Seins aufhebend überwinde und ein Leben in der freien Willensgemeinschaft mit sich selber stifte. Auf diese Frage bezieht sich die spezifisch religiöse Erfahrung des im Gott-Verstehen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft verwurzelten Christus-Glaubens, die in den Ereignissen des Dritten Tages gründet. Zum Dritten: Ich hatte die spezifisch religiöse Erfahrung des Christus-Glaubens entwickelt anhand der Formel des Apostels Paulus, sie versetze uns in den „Frieden mit Gott durch unseren HErrn Jesus Christus“ (Röm 5,1).52 Es ist der Anspruch der dogmatischen Besinnung, die Sachgemäßheit dieser Formel zu entfalten. Zum einen: Die spezifisch religiöse Erfahrung des Christus-Glaubens – das christlich-fromme Selbstbewusstsein – bildet sich im Laufe einer Lebensgeschichte, sofern uns in der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche das Lebenszeugnis Jesu von Nazareth bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha als wahr einleuchtet. Ich hatte Jesu Lebenszeugnis und dessen Wahrheitsanspruch dargestellt als die irdische bzw. als die innergeschichtliche Manifestation des versöhnenden Waltens Gottes des Schöpfers. Meine Darstellung umfasst verschiedene Aspekte, die sich aus der Ursprungssituation des Christus-Glaubens in den Erscheinungen des Dritten Tages ergeben. Ich hatte sie als Ereignisse der Wahrheit interpretiert. Mit der Beschreibung dieser verschiedenen Aspekte verfolge ich die Absicht, die Einsetzung des Apostolats als jene notwendige Bedingung verständlich zu machen, unter der der Wahrheitsanspruch des Lebenszeugnisses Jesu von Nazareth alle späteren Generationen erreicht. Im Kreise der Apostel finden wir den Nukleus der Christus-Gemeinschaft vor, die das Symbol des Konzils von Konstantinopel im Jahre 381 daher mit Recht die „eine heilige katholische und apostolische Kirche“ nennt (DH 150). Martin Luther hat daher sinngemäß die Einsetzung des Apostolats als jenen Stiftungsakt besprochen, durch welchen Gottes Heiligender Geist überall wirksam werden will:

52 Vgl. zu dieser kompakten Formel jetzt Michael Wolter, Der Brief an die Römer. Teilband 1: Röm 1–8, Neukirchen/Vluyn/Ostfildern: Neukirchener Verlagsgesellschaft/Patmos Verlag. 2014, z. St. – Natürlich hebe ich an dieser Stelle diese kompakte Formel in einem exemplarischen Sinne hervor.

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„also richtet der heilige Geist die Heiligung aus durch die folgenden Stücke, das ist durch die Gemeine der Heiligen, Vergebung der Sunden, Auferstehung des Fleisches und das ewige Leben, das ist, daß er (verstehe: der Geist!) uns erstlich führet in seine heilige Gemeine und in der Kirchen Schoß legt, dadurch er (verstehe: der Geist!) uns predigt und zu Christo bringet.“ (Großer Katechismus: Auslegung des 3. Artikels [BSLK 654,9-17]).

Um nun die notwendige Funktion des Apostolats – des Nukleus der ChristusGemeinschaft in der Geschichte – für Gottes vollendendes Walten verständlich zu machen, achte ich auf die folgenden Aspekte, durch die sich für uns jene Wahrheit ereignet, die zur Freiheit führt.53 Ad 1: Im Licht der Ursprungssituationen des Christus-Glaubens wird die Erinnerung an Jesu Lebenszeugnis und an dessen Wahrheitsanspruch sowohl in mündlicher Erzählung bewahrt als auch in verschiedener Weise produktiv verschriftet (s. 3.5.2.2). Diese Erinnerung hält fest, dass und in welcher Weise Jesu Lebenszeugnis sich auf das Gott-Verstehen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft bezieht; und zwar auf dessen apokalyptische Perspektive und auf deren Mythos. Im Lichte dieses Gott-Verstehens bildet sich Jesu einzigartiges Selbstbewusstsein bzw. Selbstverständnis, die allumfassende, die ewige königliche Herrschaft JHWHs im Kult des Heiligtums des Tempels von Jerusalem über JHWHs Volk und über die Völker dieser Erde in jeweils aktueller und punktueller Weise zu realisieren. Jesu Lebenszeugnis antizipiert, was eine apokalyptische Perspektive der jüdischen JHWHGemeinschaft als eschatische Vollendung des geschaffenen Person-Seins vorstellend entwirft: nämlich das nicht mehr angefochtene Geschehen des universalen Heilswillens JHWHs, dessen Kern das In-Gemeinschaft-sein-Wollen des göttlichen Wesens mit uns Menschen allen ist (vgl. Mt 6,10; Apk 21,3-5).54 Ad 2: Im Licht der Ursprungssituationen des Christus-Glaubens erscheint just der „Skandal“ (1Kor 1,18.23) – das scheinbare Scheitern des Freudenboten aus Nazareth am Kreuz auf Golgatha – in nach wie vor verwirrender und erschütternder Weise

53 Seit Gisbert Greshake, Geschenkte Freiheit. Einführung in die Gnadenlehre (wie Anm. 16), hat das für den Christus-Glauben zentrale Thema der „heiligenden Gnade“ (d. h.: der „gratia operans“ sowie der „gratia cooperans“) in der deutschsprachigen römisch-katholischen Dogmatik Konjunktur. Erstaunlicherweise besinnen sich Autoren wie Karl-Heinz Menke, Jürgen Werbick, Alexandre Ganoczy und Otto Hermann Pesch auf dieses Thema, ohne es – wie Martin Luther, wie Jean Calvin und wie Friedrich Schleiermacher – in den Zusammenhang einer Darstellung der ChristusGemeinschaft der Kirche und der Kirchen und ihrer Institutionen einzuordnen! 54 Im Rahmen der Betrachtung des eschatischen Geschehens im Licht der christlichen Sicht des Sinnes von Sein wird allerdings die offenkundig duale Struktur des apokalyptischen Mythos zu dekonstruieren sein; s. 4.5.1.

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Die „Ausgießung“ des Heiligenden Geistes

als das Vollbracht-Sein des versöhnenden Wollens und Waltens des dreieinen Gottes (Joh 19,30). Diese Erkenntnis bildet alsbald den Keim der Differenz zum GottVerstehen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft und zu ihrer Tora-Frömmigkeit. Davon ganz abgesehen hat sie immer wieder auch den Widerstand und Widerspruch einer moralischen Selbst- und Weltansicht provoziert, die sich auf den Nenner der sittlichen Selbstmacht praktischer Vernunft bringen lässt.55 Um diese Erkenntnis zu entfalten, genügt es m. E. nicht, Gottes versöhnendes Wollen und Walten mittels der Metaphern deutlich zu machen, die aus der Kultordnung der jüdischen JHWH-Gemeinschaft entlehnt sind. Noch weniger genügt dafür die Vorstellung eines stellvertretenden Strafleidens, die sich biblisch nicht begründen lässt (s. 3.5.2.3). Vielmehr wird diese Erkenntnis dann und erst dann als Zentrum der claritas externa der Heiligen Schrift erfasst, wenn sie Jesu Lebenszeugnis und damit Jesu Existenz bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha als Ganzes als das Geschehen der Versöhnung mit dem göttlichen Wesen erfasst (s. 3.6). Für die dogmatische Besinnung auf das Wesen des Christus-Glaubens hat das zwei wichtige Konsequenzen, die das Bekenntnis zu Jesu „Eines-Sein“ mit dem dreieinen Gott betreffen: Ad 3: Im Licht der Ursprungssituationen des Christus-Glaubens wird offenbar, dass Jesu Lebenszeugnis und damit Jesu Existenz bis hin zum Tod am Kreuz von Golgatha erhöht ist (vgl. Phil 2,9; Apg 2,33; Joh 12,32). Die Einleitung zur Apostelgeschichte bringt denselben Sachverhalt zur Sprache mit der Aussage: „Und als er (verstehe: Jesus) das gesagt hatte, wurde er zusehends aufgehoben, und eine Wolke nahm ihn auf vor ihren Augen weg.“ (Apg 1,9).

Wie ist das zu verstehen? Wird Jesu „Erhöhung“ bzw. Jesu „Aufgehoben-Werden“ offenbar, so ist hier jedenfalls vorausgesetzt, dass Jesu Lebenszeugnis bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha in unzerstörbarer Beziehung zum Wesen Gottes als Geist und so zum schöpferischen Grund und Ursprung des Seienden existiert (s. 3.5.2.4). Führt ihn sein Tod ins „Reich des Todes“, so vermag sein Tod und damit die Begrenztheit seines geschaffenen Person-Seins die unzerstörbare Beziehung nicht zu zerstören,

55 Martin Luther hat dieser moralischen Selbst- und Weltansicht schon in den Thesen der „Disputatio contra scholasticam theologiam“ (LDStA 1,19–33 [1517]) scharf widersprochen; vgl. bes. These 42: „Non efficimur iusti iusta operando. Sed iusti facti operamur iusta. Contra philosophos“ („Nicht indem wir gerecht handeln, werden wir gerecht, sondern [indem wir] gerecht geworden [sind], handeln wir gerecht. Gegen die Philosophen.“ [Übersetzung Wilfried Härle]). – Diese moralische Selbst- und Weltansicht herrscht stets dann, wenn jemand das radikale Böse-Sein-Können des geschaffenen Person-Seins für sich selbst nicht sehen und nicht wahrhaben will.

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in der er dem Wesen Gottes als Geist gegenwärtig ist; ist doch das „Reich des Todes“ umgeben vom göttlichen Gedenken (vgl. Ps 8,5), in dem die Lebensgeschichte der Toten ruht „bis zum Jüngsten Tage“ (vgl. EG 397,3). Die metaphorische bzw. die symbolische Rede von Jesu „Erhöhung“ bzw. von Jesu „Aufgehoben-Werden“ bedeutet darum nichts Geringeres als dies, dass Jesu Lebenszeugnis bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha von nun an nicht mehr im Verborgenen verbleibt, sondern als das Geschehen der Versöhnung offenbar wird. Es wird als das Geschehen der Versöhnung offenbar, indem es kraft des Heiligen Geistes – kraft des Sich-selbst-Bejahens des göttlichen Wesens (s. 1.5.3.3.2) – in seinem Eigen-Sein und Eigen-Sinn offenbar wird. Es wird entgegen aller möglichen und aller tatsächlichen Verkennung bzw. entgegen allem möglichen und tatsächlichen Zweifel offenbar als individuelles Leben für Gottes „Wahl der Gnade“: Es wird als jenes individuelle Leben offenbar, in welchem und durch welches das schöpferische Wort des göttlichen Wesens im Medium dieses individuellen Lebens – die „Sünde der Welt“ aufhebend überwindend (Joh 1,29) – erscheint. Es wird als jenes individuelle Leben offenbar, das kraft des Heiligen Geistes in die freie Willensgemeinschaft mit dem schöpferischen Wort des göttlichen Wesens aufgehoben und so zur Einheit mit dem Subjekt des Christus-Geschehens erhöht wird. Erst eine langwierige Reflexionsgeschichte kam zu der Erkenntnis, dass die personale Einheit der individuellen Lebensgeschichte Jesu von Nazareth mit dem schöpferischen Wort durch den Heiligen Geist des göttlichen Wesens gestiftet wird (s. 3.5.2.4). Wir dürfen mithin die Referenz der metaphorischen bzw. der symbolischen Rede von Jesu „Erhöhung“ bzw. von Jesu „Aufgehoben-Werden“ als gleichbedeutend mit der Rede von Jesu „Auferweckung“ und als gleichbedeutend mit der Rede von der „Ausgießung“ des Heiligenden Geistes interpretieren. Es handelt sich um drei verschiedene Weisen, ein und demselben Ereignis sprachlichen Ausdruck zu geben. In dem Ereignis der Erscheinungen des Dritten Tages wird evident, dass Jesu individuelle Lebensgeschichte bzw. Jesu individuelles Lebensgeschick bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha jenseits der Todes-Ruhe und durch die Todes-Ruhe im göttlichen Gedenken hindurch erhoben und erhöht ist in die ewig-freie bzw. in die allgegenwärtige Willensgemeinschaft mit des göttlichen Wesens schöpferischem Wort: mit jenem Wort, das nach der tiefen Einsicht des Evangeliums nach Johannes Fleisch wurde in Jesu Existenz (Joh 1,14).56

56 Weil im Ereignis der Erscheinungen des Dritten Tages Jesu Erhebung in die ewig-freie, die allgegenwärtige Willensgemeinschaft mit des göttlichen Wesens schöpferischem Wort evident wird, bietet dieses Ereignis auch den Schlüssel zum richtigen Verständnis der Realpräsenz des Christus Jesus in der Feier des Heiligen Abendmahls (s. 4.2.3.2.3). Erst die historisch-kritische Lektüre des Offenbarungszeugnisses des Neuen Testaments gibt diesen Schlüssel an die Hand!

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Die „Ausgießung“ des Heiligenden Geistes

Ad 4: Das Wortbekenntnis des Christus-Glaubens artikuliert die Gewissheit, dass die Evidenz der Erscheinungen des Dritten Tages ihren Empfängern Wahrheit erschließt. In dem Ereignis dieser Erscheinungen – und erst in ihm! – begegnet Jesus von Nazareth als der Christus; er begegnet als erhoben und erhöht in den Versöhnungswillen und in das Versöhnungswalten Gottes des Schöpfers. Er begegnet im Ereignis dieser Erscheinungen, indem er den sein Selbstbewusstsein und sein Selbstverständnis erfüllenden Heiligenden Geist als den Geist mit-teilt, der uns Menschen alle zu heiligen vermag (vgl. Apg 1,8). In dieser Mit-Teilung wird der Wahrheitsanspruch, den Jesu Lebenszeugnis erhob, durch den Heiligen Geist des göttlichen Wesens auch für ihre Empfänger und für ihr Zeugnis ursprünglich bejaht; und indem der Heilige Geist des göttlichen Wesens Jesu Wahrheitsanspruch bejaht, bewährt er ihn im Selbstbewusstsein bzw. im Selbstgefühl all derer, denen er diesen Wahrheitsanspruch auch als wahr erschließt. In allen zukünftigen Erschließungssituationen waltet Gottes Heiliger Geist als Heiligender Geist.57 Dieser Geist von Gottes Geist, der Heiligende Geist, vermag uns Menschen alle zu heiligen, indem er uns das Leben in der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wesen als das Höchste Gut und damit als das wahrhaft Erfüllende und Befriedigende erschließt. Von diesem Grundgedanken geht das vorliegende Kapitel 4: „Der christliche Glaube an Gott den Vollender“ aus. Ad 5: Aus diesem Grundgedanken folgen Konsequenzen für die Gliederung des vorliegenden Kapitels. In der dogmatischen Fachsprache gesprochen betreffen sie die Frage, wie wir die „Ekklesiologie“ – das Verständnis der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) –, die „Soteriologie“ – das Verständnis des „In-Christus-Seins“ der Person – und die „Eschatologie“ – das Verständnis der Vollendung jenseits des Todes und durch den Tod hindurch – aufeinander beziehen und miteinander vermitteln. Die sachgemäße Weise, diese drei Aspekte des vollendenden Waltens Gottes aufeinander zu beziehen und miteinander zu vermitteln, ergibt sich – wie mir scheint – aus der Besinnung auf den Apostolat.58 Ich unterscheide daran die folgenden drei Gesichtspunkte.

57 Ich sehe daher den großen Gewinn, der Luthers Auslegung des 3. Artikels des apostolischen Symbols zu danken ist, im Ansatz einer schlüssigen Entfaltung des Ordo salutis aus dem Walten des Heiligen Geistes als Heiligender Geist (s. o. S. 527–531). 58 Vgl. zum Folgenden bes.: Jürgen Roloff/Georg Günter Blum/Friedrich Mildenberger/Sven S. Hartman, Art. Apostel/Apostolat/Apostolizität I.–IV.: TRE 3, 430–445; Ferdinand Hahn, Art. Apostel I. Neues Testament: RGG4 1, 636–638; Wilfried Härle, Art. Apostolizität: RGG4 1, 653–654; Gudrun Neebe, Apostolische Kirche, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1997. – Bekanntlich war es der Apostel Paulus, der die ihm widerfahrene Berufung zum Amt eines Apostels (vgl. bes. Gal 1,1) mit besonderem Ernst und mit dem größten Nachdruck in seinen Briefen zur Geltung brachte.

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Zum einen: Mit dem Begriffswort Apostolat verweise ich auf jene Selbstbezeichnung bzw. auf jenes Selbstverständnis, in dem sich der Kreis der primären Empfänger der Erscheinungen des Dritten Tages zusammenfand. Die Glieder dieses Kreises verbindet die Überzeugung, dass sie kraft der ihnen durch Gottes Heiligenden Geist zuteil gewordenen Gewissheit, die Jesu Wahrheitsanspruch bejaht und bewährt, zu Wahrheitszeugen dieses Wahrheitsanspruchs berufen sind. Sie widmen denn auch ihre jeweilige Lebenspraxis dem Amt bzw. dem Auftrag, Jesu Wahrheitsanspruch in jeweils individueller Weise für „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) in die Öffentlichkeit zu tragen. Exemplarisch nennt der Apostel Paulus diesen Auftrag den „Dienst der Versöhnung“ (2Kor 5,18). Die Selbstbezeichnung bzw. das Selbstverständnis des begrenzten Kreises der Apostel lässt erkennen, dass er und wie er sich durch das Gemeinsame der ihm zuteilgewordenen Wahrheitsgewissheit konstituiert weiß. In diesem Gemeinsamen erlebt der Kreis der Apostel allerdings nichts Geringeres als die Gemeinschaft mit dem Christus Jesus selbst; und zwar als die Gemeinschaft, die gestiftet wird durch jenen Heiligenden Geist, in welchem sich der Christus Jesus selbst vergegenwärtigt. Wird diese Gemeinschaft durch den Heiligenden Geist gestiftet, in dem der Christus Jesus sich für menschliches, für irdisches, für leibhaftes Person-Sein selbst vergegenwärtigt, so zeigt sie sich in einer ihm entsprechenden Lebensform: der Lebensform der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wesen selbst als dem für alles menschliche Person-Sein Höchsten Gut. Insofern bildet der begrenzte Kreis der Apostel jene Grundgestalt der Christus-Gemeinschaft der Kirche, die dazu da ist, allem menschlichen Person-Sein durch ihr „Wort der Versöhnung“ (2Kor 5,19) das Leben in der Teilhabe an diesem Höchsten Gut menschlich möglich zu machen. Unter dem Zwischentitel „Die religiöse Kommunikation des Evangeliums“ werde ich die „wesentlichen und unveränderlichen Grundzüge der Kirche“59 darstellen, in denen dieser „Dienst der Versöhnung“ geschieht (4.2). Zum andern: Die religiöse Kommunikation des Evangeliums in der jeweiligen Ordnung des Gottesdienstes, der Lehre und des Lebens will allem menschlichen Person-Sein das Leben in der Teilhabe am Höchsten Gut der selbstbewusst-freien

59 Friedrich Schleiermacher, CG2 , § 127 (II, 278 = KGA I.13,2, 309 [Untertitel der „Ersten Hälfte“ {§§ 127–147} des „Zweiten Hauptstücks“ {§§ 126–156} des „Zweiten Abschnitts“ {§§ 113–163} der „Entwicklung des Bewußtseins der Gnade“ {§§ 86–169}]). – An Schleiermachers Darstellung fällt auf, dass der „Erste Abschnitt“ (§§ 91–112) der „Entwicklung des Bewußtseins der Gnade“ das Leben der „einzelnen Seele“ in der Christus-Gemeinschaft (§§ 106–112) beschreibt, bevor der Autor die kirchliche Gestalt der Christus-Gemeinschaft der „einzelnen Seele“ und deren Stiftung durch die „Mitteilung des heiligen Geistes“ (§§ 121–125) zur Sprache bringt. Meine Erinnerung an die Einsetzung des Apostolats als „Grundgestalt der Christus-Gemeinschaft der Kirche“ ist nicht zuletzt auch dazu da, die Sachlogik der Darstellung Schleiermachers zu korrigieren.

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Die „Ausgießung“ des Heiligenden Geistes

Willensgemeinschaft mit Gott menschlich möglich machen. Sie intendiert Freiheit durch Wahrheit. Allerdings: Wird uns der Wahrheitsanspruch, den Jesu Lebenszeugnis erhebt und der uns in der primären Christus-Gemeinschaft der Apostel entgegenkommt, kraft des Heiligenden Geistes als wahr gewiss, so schließt er das Bekenntnis und Geständnis der Erfahrung des Gewissens ein.60 In der Erfahrung des Gewissens wird uns klar, dass wir in jeweils individueller Weise in jener Un-Freiheit bzw. in jener Bedingtheit des Wollens des in Wahrheit Guten befangen und gefangen sind, die ich als die conditio des geschaffenen PersonSeins beschrieben hatte (s. o. S. 548f.). Sie macht es möglich und sie macht es faktisch unvermeidlich, dass die je eigene Lebensgeschichte verstrickt ist ins Allgemeine des Syndroms des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids, das uns in aller Geschichte schrecklich anblickt. Wenn diese Sicht der conditio des geschaffenen Person-Seins nicht erfolgreich zu bestreiten ist – und sie ist nicht erfolgreich zu bestreiten –, dann leuchtet wohl auf Anhieb die fundamentalmoralische Funktion des Rechts in aller Geschichte ein, die jedenfalls in welcher Form auch immer generelle und spezielle Präventionen durch das Recht der Strafe intendiert.61 Die Geschichte des Rechts in den Kulturen und in den Gesellschaften bis hin zur jüngsten Entwicklung eines Kriegsrechts und eines Völkerstrafrechts macht es offenkundig, dass das Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids – das „In-der-Sünde-Sein“ – jederzeit „vor der Tür lauert“ (Gen 4,7). Wird es durch die Funktion des Rechts wie ungerecht, wie überhart und unvollkommen auch immer „beherrscht“ (Gen 4,7), so reicht doch die Beherrschung und Begrenzung menschlicher Bosheit durch die Funktion des Rechts nicht in die Tiefe unseres Selbstbewusstseins bzw. unseres Selbstgefühls, in der wir des Verlangens nach dem Bösen (Gen 4,7) und der Lust am Bösen (Gen 3,6) durchaus gewahr sind.62 Das Verlangen nach dem Bösen bzw. die Lust am Bösen wird deshalb dann und nur dann beherrscht und begrenzt, wenn sich in der Tiefe unseres Selbstbewusstseins bzw. unseres Selbstgefühls eine Umkehr, eine „Revolution der Gesinnung“

60 Vgl. zum Folgenden Konrad Stock, STh I, 249–255. 61 Von der in dieser Weltzeit unentbehrlichen fundamentalmoralischen Funktion des Rechts gehe ich aus im Teil III dieser Systematischen Theologie: Durch Recht zum Frieden. 62 Von dieser Lust am Bösen berichtet ergreifend Augustin: „Ich beging einen Diebstahl, von keiner Not gedrungen, nur vom Mangel und Überdruß und vom feisten Behagen am Bösen. Denn was ich stahl, davon besaß ich selbst im Überfluß und noch viel besser. Ich wollte mich ja auch gar nicht an der Beute letzen, auf die ich beim Stehlen ausging, sondern allein an der Dieberei und der Sünde“ (zit. nach: Aurelius Augustinus, Confessiones/Bekenntnisse. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart, München: Kösel, 3 1966, 79). Unüberbietbar scharf legt Georg Büchner in seinem Stück „Woyzeck“ dem „Franz“ im Streit mit „Marie“ den Satz in den Mund: „Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.“

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(Immanuel Kant) ereignet.63 Ganz im Gegensatz zu Kants Lehre von der Kraft der praktischen Vernunft, diese „Revolution der Gesinnung“ vollziehen zu können, ist es dem Kreis der Apostel aus eigener Erfahrung als wahr gewiss, dass die Teilhabe am Höchsten Gut der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wesen sich der Bewährung jenes Wahrheitsanspruchs verdankt, der Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha auszeichnet. Es ist die Sache der Soteriologie zu zeigen, wie Gottes Heiligender Geist im Medium der religiösen Kommunikation des Evangeliums jenen Wahrheitsanspruch in der Tiefe unseres Selbstbewusstseins bzw. unseres Selbstgefühls bewährt, indem er unser Leben zu einem Leben im Glauben, im Hoffen und im Lieben werden lässt (vgl. 1Kor 13,13; s. 4.3). Nehmen wir die Analyse des Syndroms des „In-der-Sünde-Seins“ – des Syndroms des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids – ungeheuchelt ernst, so macht sie uns plausibel, dass das je individuelle Leben im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe jene Umkehr, jene „Revolution der Gesinnung“ niemals hinter sich hat. Es ist vielmehr ein Leben in der Umkehr bzw. in der „Revolution der Gesinnung“. Martin Luther traf insofern den Nagel auf den Kopf, als er die erste der provozierenden 95 Thesen formulierte: „Dominus et magister noster Iesus Christus dicendo ‚Penitentiam agite &c.‘ omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit.“64 (4.3).

Zum Dritten: Nun hat der Kreis der Apostel als ein Kreis leibhafter Personen den „Dienst der Versöhnung“ von allem Anfang an nicht etwa regellos oder gar chaotisch, sondern in einer wie auch immer geregelten Interaktion praktiziert. Er bildet eine soziale Gestalt. Allerdings wurde es im Verlauf der Geschichte der ChristusGemeinschaft der Kirche und der Kirchen mehr und mehr strittig, welche Dignität jenem anfänglichen apostolischen „Dienst der Versöhnung“ (2Kor 5,18) für die authentische Lehre, für die Ordnung und für das Recht der kirchlich verfassten Christus-Gemeinschaft zukomme. Nach wie vor sind die Gegensätze im Verständnis des Apostolischen zwischen der Kirche unter dem Bischof von Rom, den or-

63 Vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (W IV,645–879), 698: Das Werden eines moralisch guten (Gott wohlgefälligen) Menschen „kann nicht durch allmähliche Reform … sondern muß durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden; und er kann ein neuer Mensch, nur durch eine Art von Wiedergeburt, gleich als durch eine neue Schöpfung (Ev. Joh III,5; verglichen mit 1. Mose I,2), und Änderung des Herzens werden.“ (Unterstreichung im Original gesperrt). 64 Martin Luther, Thesen gegen den Ablaß (1517): WA 1; 233–238; 233,1f.: These 1: „Unser Herr und Meister Jesus Christus wollte, indem er sprach: ‚Tut Buße‘, dass das ganze Leben der ChristusGlaubenden Buße sei.“ (meine Übersetzung).

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Die „Ausgießung“ des Heiligenden Geistes

thodoxen Kirchengemeinschaften, der Anglikanischen Kirchengemeinschaft und den Kirchen der reformatorischen Bewegung nicht überbrückt. Deshalb schließt die dogmatische Besinnung auf die Freiheit durch Wahrheit es sinnvoller- und notwendigerweise ein, Grundfragen der sozialen Gestalt zu besprechen, die für das Leben des Christus-Glaubens in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen wichtig sind. Unter dem Zwischentitel „Kirche: die soziale Gestalt der Christus-Gemeinschaft“ werde ich diese Grundfragen diskutieren. Indem ich die Prinzipien kirchlicher Ordnung gemäß der Grundeinsicht der reformatorischen Bewegung ins Allgemeine Priestertum entwickle, nehme ich das Selbstverständnis der Heiligen römischen Kirche ernst, deren hierarchische Verfassung und deren kanonisches Recht auf der apostolischen Sukzession des Bischofskollegiums und auf dessen Weihe bzw. auf dessen Weihegewalt beruht. Damit berühre ich das dringende Thema der ökumenischen Gemeinschaft der Kirchen, das für die Sendung der Christenheit in einer entstehenden Weltgesellschaft von allergrößter Bedeutung ist. Als die soziale Gestalt der Christus-Gemeinschaft existiert die Kirche stets in der Kultur ihrer jeweiligen Gesellschaft. Sie kann nicht anders da sein denn als eine sei es einfache sei es komplexe Organisation einer religiösen Gemeinschaft, deren Glieder simultan in den Institutionen ihrer jeweiligen Gesellschaft mit Menschen anderen Glaubens und anderer weltanschaulicher Überzeugung koexistieren und kooperieren. Deshalb ist es im Vorblick auf die Theologische Ethik (STh III) angebracht, eine Antwort auf die Frage zu suchen, worin der Einfluss der Organisation der Kirche auf die Öffentlichkeit der Kultur einer Gesellschaft bestehen könnte (4.4). Zum Vierten: Das Leben in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) ist vom Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids in aller Geschichte noch nicht befreit. Selbst wer durch Gottes Heiligenden Geist im Medium der religiösen Kommunikation des Evangeliums des „Friedens mit Gott“ (Röm 5,1) gewiss geworden ist, sieht sich in der Erfahrung des Gewissens verstrickt in die sozialen, die ökonomischen, die politischen Widersprüche in und zwischen den gegenwärtigen Kulturen der Gesellschaft. Selbst wer sich leidenschaftlich engagiert für die „Option für die Armen“, für die Geltung der universalen Menschenrechte und für die nachhaltige Entwicklung des Bildungs- und des Gesundheitswesens überall auf dieser Erde, wird immer wieder an die Grenzen seines Kampfes stoßen. Selbst wen die österliche Freude tief erfüllt, von der die Lieder des Gesangbuchs singen, wird vor dem eigenen Tode Furcht und Scheu empfinden. Wir werden gewiss das pointierte Wort des Apostels Paulus nachsprechen:

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„Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin.“ (Röm 8,24).

Aus diesem Grunde kommt eine dieser unserer Gegenwart gemäße dogmatische Besinnung auf das Wesentliche des Christ-Seins zum Ziel, indem sie diese Hoffnung als Hoffnung auf Gottes zukünftig-vollendendes Walten expliziert. Sie hat das Schwierige zu versuchen, die Intention verstehbar zu machen, die die verschiedenen eschatologischen Bilder, Symbole, Metaphern und Visionen des biblischen Offenbarungszeugnisses zur Sprache bringen wollen. Ich sehe diese ihre einheitliche Intention darin, die verschiedenen Aspekte des eschatischen Geschehens zu artikulieren, die miteinander das Ziel, das Woraufhin bzw. das Worumwillen des dreieinen Gottes sind.65 Wenn nun die Hoffnung des Christus-Glaubens nichts anderes erhofft als die jenseitige bzw. die absolut zukünftige Vollendung dessen, was Gottes schöpferisches und Gottes versöhnendes Walten schon jetzt in dieser irdischen bzw. in dieser diesseitigen Geschichts-Raumzeit bewirkt, so erhofft sie nichts Geringeres als die Vollendung eines Lebens in der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen, die wir als das ursprüngliche Ziel der Wahl der Gnade verstehen dürfen. (4.5). Es wird die Sache meiner Schlussbetrachtung sein zu zeigen, dass eben die dogmatische Besinnung auf die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens die Brücke schlägt, die von dem Nachdenken über das Wortbekenntnis zur Rechenschaft über das Ethos des Christus-Glaubens im Ganzen einer Theologischen Ethik führt.

4.2

„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18). Die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche66

Die christliche Lebensweise ist uns gegenwärtig als das Leben in der Umkehr zum wahrhaft Höchsten Gut: zum Leben in der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott und Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen. Sie weiß sich als geschaffen bzw. als gestiftet durch den Heiligenden Geist, kraft dessen uns der Christus Jesus

65 Ich verwende das Wortfeld „eschatologisch“ bzw. „Eschatologie“, um die sprachliche Artikulation der Hoffnung des Christus-Glaubens zu bezeichnen, während ich mit dem Ausdruck „eschatisch“ die verschiedenen Aspekte des erhofften Geschehens bezeichne, das durch Gottes vollendendes Walten jenseits des Todes und durch den Tod hindurch realiter möglich und wirklich wird. 66 Vgl. zum Folgenden Dietrich Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin/New York: De Gruyter, 2 1994; Konrad Stock, Einleitung, 216–240. – Von großem Gewicht für die Lektüre der folgenden Darstellung ist die Beschäftigung mit der „Konstitution über die heilige Liturgie ‚Sacrosanctum Concilium‘“ des 2. Vatikanischen Konzils vom 4. Dezember 1963 (DH 4001–4048).

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

selbst – das Subjekt des Christus-Geschehens – in die Gemeinschaft seiner Lebensgeschichte und seines Lebensgeschicks bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha integriert. Damit sich diese Integration in die Gemeinschaft mit dem Christus Jesus selbst in die universale Reichweite der Räume und der Zeiten des Menschengeschlechts ausbreite, kommt es in den Ereignissen des Dritten Tages zur Einsetzung eines ersten Kreises der Apostel (vgl. Apg 1,1-5; Eph 2,20). Ich hatte sie als die Ereignisse der ursprünglichen „Ausgießung des Heiligenden Geistes“ angesprochen. Sie sind als solche Ereignisse der Berufung, weil sie in ihren Empfängern die je individuelle Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums erwecken. Von dieser ihrer je individuellen Gewissheit handelt die ursprüngliche Kommunikation der Apostel mit ihren Adressaten, wie sie uns im Kerygma der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments und in den frühesten Zeugnissen christlichen Lebens in der Kultur des Imperium Romanum überliefert ist.67 Ihr mündliches und schriftliches Lebenszeugnis bildet – zusammen mit der Hinterlassenschaft der materiellen Kultur68 – das notwendige menschlich-leibhafte Medium, welches dem versöhnenden Wort des schöpferischen Wortes Gottes und seiner Wirksamkeit in der individuellen Lebensgeschichte eines Menschen und in der Geschichte des Menschengeschlechts im Ganzen zu dienen bestimmt ist. Auf die Frage, wie wir das Verhältnis zwischen der je individuellen Wahrheitsgewissheit und dem Medium der religiösen Kommunikation des Evangeliums angemessen beschreiben können, antwortet die reformatorische Bewegung mit der Unterscheidung zwischen dem Aspekt des inneren Wortes und dem Aspekt des äußeren Wortes.69 Wie wir gesehen haben, richtet sich diese Unterscheidung kritisch gegen die römische Lehre von Gottes gratia creata und gegen deren fromme Praxis, welche das objektive Gegeben-Sein des Christus-Geschehens in der Verkündigung der Kirche und in der Feier der Sakramente unter der Leitung des geweihten Bischofs bzw. des geweihten Priesters nicht mit dem subjektiven Gewiss-Sein des objektiv Gegebenen je für mich zu vereinen weiß (s. 4.1).70 Die reformatorische Bewegung intendiert 67 Mit dieser Formulierung mache ich darauf aufmerksam, dass unsere Kenntnis der frühesten Zeugnisse christlichen Lebens sinnvollerweise auch die Texte der sog. „Apostolischen Väter“ sowie der Gegenstände der Christlichen Archäologie und der Kirchengeschichtsschreibung umfasst. 68 Ein frühes materielles Zeugnis christlichen Lebens im Imperium Romanum ist die „Hauskirche“ in Dura-Europos mit ihrem Gemeindesaal und ihrem Taufraum (ca. 241–256). 69 Vgl. Konrad Stock, STh I, 429–437; 567–612. 70 In Aufnahme eines wichtigen wahrheitstheoretischen Gedankens von Eilert Herms lässt sich sagen: die Lehre von der gratia creata und deren fromme Praxis in der Kirche unter dem Bischof von Rom krankt nicht zuletzt auch daran, dass sie das objektive Gegeben-Sein der Sachwahrheit des ChristusGeschehens im überlieferten Wahrheitszeugnis des Amtes der Apostel nicht mit der Stiftung jener subjektiven Verstehenswahrheit zu vereinen weiß, die der Wirksamkeit des Heiligenden Geistes

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und praktiziert aus diesem Grunde ein von Grund auf korrigiertes Verständnis der Christus-Gemeinschaft, das sich insbesondere im Prinzip des Priestertums aller Getauften und Glaubenden manifestiert (s. 4.4.1). Es hat enorme Konsequenzen für die Regeln einer Ordnung der Christus-Gemeinschaft und für die Kompetenzen, die der Leitung der Kommunikation des Evangeliums zustehen bzw. nicht zustehen: insbesondere unter den sozio-kulturellen Bedingungen der modernen Typen einer Mediengesellschaft.71 Meine folgende Darstellung der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche bringt diese kritische Pointe als nach wie vor aktuell zur Geltung. Sie widmet sich den wesentlichen Formen der religiösen Kommunikation des Evangeliums: nämlich dem Gottesdienst im Kirchenjahr (4.2.1), den Formen der Verkündigung (4.2.2) sowie der symbolischen Begehung des Evangeliums in der Feier der Heiligen Taufe (4.2.3.1) und in der Feier des Heiligen Abendmahls (4.2.3.2). Sie ist bestrebt zu zeigen, dass alle diese wesentlichen Formen der religiösen Kommunikation des Evangeliums miteinander als das notwendige menschlich-leibhafte Medium zu verstehen sind, in welchem sich durch Gottes Heiligenden Geist die lebenslange Umkehr in das Höchste Gut der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott und Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen ereignet. In diesem Sinne nehme ich den überlieferten Begriff der media salutis auf.72 Im Unterschied zu manchen Fassungen der kirchlich-theologischen Lehre strebe ich im Folgenden eine systematische Form an, die in der Besinnung auf den Gottesdienst im Kirchenjahr ihr Zentrum hat. Auf ihn sind nämlich sowohl die Verkündigung in ihren wesentlichen Gestalten des Unterrichts, der Predigt und der Seelsorge als auch die Feiern der Sakramente der Heiligen Taufe und des Heiligen Abendmahls bezogen. Indem ich die wesentlichen Formen der religiösen Kommunikation des Evangeliums in dieser Reihenfolge entwickle, möchte ich nicht zuletzt dem fruchtbaren Gespräch zwischen der Systematischen Theologie und der Lehre bzw. der Forschung in den verschiedenen Subdisziplinen der Praktischen Theologie dienen.

bleibend zu danken ist. Sie meint, den spezifischen Wahrheitsanspruch zu präsentieren, der dem Christus-Geschehen als solchem im überlieferten Wahrheitszeugnis der Apostel innewohnt, ohne mit gleichem Ernst auf die notwendige und hinreichende Bedingung zu achten und um sie zu bitten, unter der sich dieser spezifische Wahrheitsanspruch für seine Adressaten bewährt. Vgl. Eilert Herms, Art. Wahrheit/Wahrhaftigkeit V. Systematisch-theologisch: TRE 35, 363–378. 71 Hier zeigt sich insbesondere die Nähe der systematischen Besinnung auf das Wesen der kirchlich verfassten Christus-Gemeinschaft zu den Grundfragen einer Praktischen Theologie; vgl. hierzu bes. Reiner Preul, Kommunikation des Evangeliums unter den Bedingungen der Mediengesellschaft, in: Ders., Die soziale Gestalt des Glaubens. Aufsätze zur Kirchentheorie, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2008 (MThSt; 102), 65–103. 72 Vgl. hierzu Wilfried Härle, Dogmatik5 , 533–572.

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

4.2.1

Der Gottesdienst im Kirchenjahr73

Mit dem Zwischentitel „Der Gottesdienst im Kirchenjahr“ achte ich auf die zentrale Feier, in der die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) in ihrer jeweiligen sozio-kulturellen Lage das Evangelium kommuniziert. Um uns das Wesentliche dieser zentralen Feier im Rahmen der dogmatischen Besinnung auf die Wahrheit des Christus-Glaubens und auf deren ethische Zielsetzung nahezubringen, seien die folgenden fünf Gesichtspunkte hervorgehoben. Sie dienen auch dem notwendigen Gespräch mit der praktischtheologischen Subdisziplin der Liturgiewissenschaft, das in der derzeit kritischen Phase des Gottesdienstes besonders dringlich ist. Erstens: Der „Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde“ (Peter Brunner) ist uns präsent im Rahmen der bemerkenswerten Tatsache, dass die uns bekannten Kulturen samt und sonders gemeinschaftliche und individuelle Formen der Erhebung ausgebildet haben. Für alle diese Formen der Erhebung gebraucht die wissenschaftliche Sprache den Begriff „Kult“. Im kultischen Handeln erhebt sich eine menschliche Gemeinschaft zu jenen schöpferischen Wesenheiten, denen sie ihr Dasein, ihre Lebensgrundlagen, ihre Bewahrung vor Lebensgefahr und nicht zuletzt ihre Zeiterfahrung zu verdanken glaubt. Sie grenzt für dies ihr kultisches Handeln bestimmte heilige Zeiten und bestimmte heilige Stätten aus den Geschäften ihres Alltags aus und schafft damit den Raum für Un- bzw. für Außer-Alltägliches. Für die vielgestaltigen Szenarios der kultischen Erhebung hat sich seit langem der Begriff des Ritus bzw. der des Rituals bewährt. Darunter dürfen wir ganz allgemein ein jeweils eigentümlich begründetes Zeremoniell bzw. eine Liturgie verstehen, die insbesondere die Praxis des Opferns regelt. Das kultische Handeln in der Geschichte der Kulturen und dessen mannigfache Rituale verstehe ich als eine anthropologische Konstante, die ihrerseits die Konstante frommer und d. h. religiöser Erhebung

73 Vgl. zum Folgenden bes.: Peter Brunner, Zur Lehre vom Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde. Leiturgia, Bd. I, Kassel: Stauda, 1954, 83–361; Werner Jetter, Symbol und Ritual. Anthropologische Elemente im Gottesdienst, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1978; Ralf Stroh, Schleiermachers Gottesdiensttheorie. Studien zur Rekonstruktion ihres enzyklopädischen Rahmens im Ausgang von „Kurzer Darstellung“ und „Philosophischer Ethik“, Berlin/New York: de Gruyter, 1997 (TBT; 87); Peter Cornehl, Art. Gottesdienst VIII. Evangelischer Gottesdienst von der Reformation bis zur Gegenwart: TRE 14, 54–85; Friedrich Kalb, Art. Liturgie I. Christliche Liturgie: TRE 21, 358–377; Hans-Christoph Schmidt-Lauber, Art. Liturgiewissenschaft/Liturgik: ebd. 383–401; Konrad Stock, Einleitung, 218–220; Michael Meyer-Blanck, Gottesdienstlehre, Tübingen: Mohr Siebeck, 2011; Elisabeth Gräb-Schmidt und Reiner Preul (Hg.), Gottesdienst, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2018 (MJTh; XXX), mit Beiträgen von Konrad Stock, Michael Wolter, Eilert Herms, Cornelia Richter und Reiner Preul.

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zu einer wie auch immer vorgestellten schöpferischen Wesenheit bezeugt. Ob und inwiefern solche religiöse Erhebung mit magischen, mit mantischen bzw. mit divinatorischen Praktiken einhergeht, die eine schöpferische Wesenheit beeinflussen oder manipulieren wollen, lasse ich hier außer Betracht.74 Der Gottesdienst, der das Christus-Geschehen des Evangeliums im Rhythmus des Kirchenjahres feiert, ist religionsgeschichtlich bzw. kultgeschichtlich aus dem Kult der jüdischen JHWH-Gemeinschaft erwachsen, der seinerseits vielfach verflochten ist mit den Kulten des Alten Orients.75 In deren Kontext zeichnen sich der Kult der jüdischen JHWH-Gemeinschaft und dessen Geschichte durch jenes singuläre Gott-Verstehen aus, das sich in der Deutung des JHWH-Namens wie in einem Brennpunkt konzentriert (Ex 3,14). Nicht nur gebührt der transzendenten Wesenheit JHWHs die Verehrung der JHWH-Gemeinschaft in einem monolatrischen Sinne, wie ihn die Kultusreform des Königs Josia im Jahre 622 v. Chr. deutlich macht; nicht nur bezieht sich die Huldigung JHWHs auf JHWHs Walten in der Geschichte Israels76 ; sie – die Huldigung JHWHs – erleidet vielmehr auch nach der Zerstörung des Salomonischen Tempels und in der traumatischen Erfahrung des babylonischen Exils einen radikalen Neuanfang, indem sie eingedenk der Schuldgeschichte Israels sich in den Formen des Gebets und des Buß-Rituals konkretisiert. Wegen dieses radikalen Neuanfangs war es dem rabbinischen Judentum nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 n. Chr. möglich, seinen Gottesdienst ohne das Heiligtum des Tempels zu Jerusalem und ohne die verschiedenen Formen des Opferns als einen Wortgottesdienst zu begehen. Zweitens: Im Spektrum des kultischen Handelns in der Geschichte der Religionskulturen und dessen mannigfacher Rituale kommt der gottesdienstlichen Feier des Evangeliums eine singuläre Bewandtnis zu. Wir können diese singuläre Bewandtnis namhaft machen, wenn wir sie von ihrem geschichtlichen Ursprung her betrachten. Ihr geschichtlicher Ursprung aber sind die verschiedenen Szenen der Ereignisse des Dritten Tages, in denen dem Kreis der berufenen Apostel Sinn und Bedeutung der Lebensgeschichte und des Lebensgeschicks des Christus Jesus bis zum Tode am Kreuz auf Golgatha offenbar geworden war.77 In und mit den Sze74 Vgl. hierzu Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte der Entzauberung, Berlin: Suhrkamp, 2019 (stw; 2303), 111–164: Das Ritual und das Heilige. Zur Anthropologie der Idealbildung. 75 Vgl. zum Folgenden Beate Ego, Art. Kult/Kultus IV. Altes Testament und Antikes Judentum: RGG4  4, 1807–1809. 76 Der Kult der jüdischen JHWH-Gemeinschaft pflegt die Erinnerung an JHWHs Walten in der Geschichte Israels, wie beispielsweise die heilsgeschichtliche Interpretation ursprünglich agrarischer Feste wie des Passa- und des Laubhüttenfestes belegt. 77 Auf diesen Sachverhalt bezieht sich die These von Reinhard Staats, Die Sonntagnachtgottesdienste der christlichen Frühzeit, in: ZNW 66 (1975), 242–261, die Zeit des christlichen Gottesdienstes sei

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nen der Ereignisse des Dritten Tages gewinnt Jesu eigene Erwartung, dass JHWHs endgültige vollendende Erscheinung im Heiligtum des Tempels von Jerusalem nicht etwa nur für JHWHs Volk, sondern auch für alle Völker und Kulturen des Menschengeschlechts eschatischen Frieden bringe (s. 3.5.2.2), eine von Grund auf neue universale Bedeutung. Denn: Was dem Kreis der Apostel in der jeweiligen „Ausgießung des Heiligenden Geistes“ offenbar geworden war, ist nichts Geringeres als das wahre Wesen jener transzendenten Wesenheit, auf das sich schon der Kult der jüdischen JHWHGemeinschaft im Heiligtum des Tempels zu Jerusalem in der Fülle seiner Formen bezogen hatte. Im Woran und Woraufhin des Christus-Glaubens wird ihm – dem Kreis der Apostel – jeweils individuell als wahr gewiss, dass Gottes transzendente Wesenheit als jener unbedingte bzw. als jener unendliche Grund und Ursprung des All des Seienden zu denken und zu ehren ist, der von sich selbst her die Versöhnung und durch Versöhnung die Vollendung des geschaffenen Person-Seins intendiert. Ihm – dem Kreis der Apostel – wird als wahr gewiss, dass Gottes transzendente Wesenheit der selbstbestimmte Grund des In-Gemeinschaft-sein-Wollens über Israel hinaus mit allen Völkern und d. h. mit uns Menschen allen ist.78 Sie dürfen sich kraft dieses Gottesbewusstseins daher verstehen als mit Gottes transzendenter Wesenheit versöhnt und deshalb als „gerecht geworden“ (Röm 5,1), als „geheiligt“ (1Kor 6,11), als „wiedergeboren“ (1Pt 1,3), als „befreit“ (Gal 5,1) und als „gerettet“ (Röm 8,24). Alle diese soteriologischen Termen im strikten Sinne des Begriffs bezeichnen jene radikale Umkehr zur Lebensform der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen; jene Umkehr, die dem Geist Gottes und d. h. dem „Geist Christi“ (Röm 8,9) zu danken ist. Und so gewiss das Leben in der radikalen Umkehr zur Lebensform der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen noch immer tief in die Erfahrungen des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids verstrickt ist, so gewiss ist es schon hier und jetzt erfüllt von jener Hoffnung auf die absolute Zukunft jenseits des Todes und durch den Tod hindurch, für

ursprünglich die Zeit der vorgerückten Nacht, die Zeit der Morgenfrühe am ersten Tag der jüdischen Woche. 78 Wenn das Offenbarungszeugnis des Neuen Testaments diesen Grund und Gegenstand des ChristusGlaubens in triadischen Formeln zur Sprache bringt, so bringt doch erst das Symbol des Konzils von Konstantinopel die Bedeutung dieser Formeln ansatzweise auf den trinitarischen Begriff (s. 1.5.3.3). Dieser Begriff ist gemeint, wenn die Feier das Evangeliums im Gottesdienst mit den Worten beginnt: „Im Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!“. – Diese Formel der Eröffnung artikuliert den konkreten Monotheismus des Christus-Glaubens und der reflektierten systematischen Besinnung auf den Christus-Glauben und markiert insofern auch die Differenz zum monarchischen bzw. zum unitarischen Gott-Verstehen der jüdischen Glaubensweise.

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welche der Apostel Paulus das glanzvolle Wort „Erleben der Herrlichkeit Gottes“ (Röm 8,17 [vgl. die Übersetzung von Ulrich Wilckens]) gebraucht (s. 4.5). Im Lichte dieses inhaltlich bestimmten Sich-aus-Gott-Verstehens (vgl. STh I, 638–654) sehen der gelebte Christus-Glaube und dessen systematische Besinnung die mannigfachen kultischen Rituale in der Geschichte der Religionskulturen letztlich als abstrakte und unvollkommene Deutungen des wahrhaft göttlichen Wesens an. Sie bekräftigen auf diese Weise die prophetische Kultkritik innerhalb der jüdischen JHWH-Gemeinschaft (vgl. Jes 1,11; Hos 6,6; 14,3), welche das Opfer als die Form der Darbringung bzw. als die Form der Vergewisserung der segnenden Gegenwart JHWHs in Frage stellt und es durch die Erhebung im Opfer des Gebets und des Bekenntnisses ersetzt.79 Erstmals vom Kreis der sog. Hellenisten um Stephanus propagiert (vgl. Apg 6,11-14; 7,2-53), haben denn auch die frühen ChristusGemeinschaften den Gottesdienst ohne die verschiedenen Riten eines sacrificium gefeiert. Sie feierten ihn stattdessen als jenes singuläre Ritual der „Barmherzigkeit Gottes“. Es ist als solches jene stete Quelle des „vernünftigen Gottesdienstes“, der sich konkretisiert in der Darbringung des eigenen leibhaften Lebens „zu einem lebendigen, heiligen, ihm (verstehe: Gott) wohlgefälligen Opfer“ (Röm 12,1 [Übersetzung Ulrich Wilckens]). Drittens: In ihrer Geschichte hat die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) eine überwältigende Fülle liturgischer Formen entwickelt, in denen sie das Evangelium regelmäßig feiert. Allerdings liegt der gottesdienstlichen Feier des Evangeliums eine unbeliebige Struktur zugrunde, die ihr durch das Woran und Woraufhin des Christus-Glaubens vorgegeben ist. Ich sehe diese der gottesdienstlichen Feier des Evangeliums vorgegebene Struktur darin, dass jede solche Feier das singuläre Offenbarungsgeschehen erinnernd zu vergegenwärtigen bestimmt ist, das die „im Namen Jesu versammelte Gemeinde“ (Peter Brunner) ursprünglich konstituierte und das sie im Rhythmus der Sonnund Feiertage des Kirchenjahrs bzw. des liturgischen Jahrs immer wieder neu konstituiert. Erinnernd zu vergegenwärtigen sind erstens jene Szenen der Ereignisse des Dritten Tages, in denen Jesus Christus ihren Empfängern als das „Haupt des Leibes“ (Kol 1,18) offenbar wurde. Mit dieser dichten metaphorischen Benennung bringt der Autor des Briefs an die Gemeinde zu Kolossä die durch Gottes Geist gewiss gewordene Wahrheit zur Sprache, dass Jesus Christus aus der Todes-Ruhe im göttlichen Gedenken in die ewige, in die allgegenwärtige lebendige Gemeinschaft mit

79 Vgl. hierzu Alfred Marx, Art. Opfer II. Religionsgeschichtlich 1. Alter Orient und Altes Testament: RGG4 6, 572–576.

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

dem schlechthin absoluten Sein und Wesen Gottes erhöht ist.80 In dieser und aus dieser ewigen allgegenwärtigen lebendigen Gemeinschaft mit dem göttlichen Wesen vergegenwärtigt er sich selbst im Medium des Heiligenden Geistes für andere, die er auf diese und d. h. auf keine andere Art und Weise zur Lebensführung ihrer jeweils individuellen Willensgemeinschaft mit Gott selbst befähigt: „Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder“ (Röm 8,14).

Erinnernd zu vergegenwärtigen ist zweitens, dass Jesu Christi Erhöhung in die ewige, in die allgegenwärtige lebendige Gemeinschaft mit dem absoluten Sein und Wesen Gottes für andere und für ihre individuelle selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit Gott selbst nicht anders offenbar wird als im Medium der mündlichen Kerygmata des Kreises der Apostel. Aus diesem Grund gehört es von allem Anfang an zur unbeliebigen Struktur des Gottesdienstes im Kirchenjahr bzw. im liturgischen Jahr, dass sie Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha nicht anders als in diesem Medium zur Sprache bringt. Wiederum ist uns das Medium der mündlichen Kerygmata des Kreises der Apostel nicht anders überliefert als in dem geschriebenen Offenbarungszeugnis, das uns im Kanon der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments zu verstehen vorgegeben ist. Die erinnernde Vergegenwärtigung der Erhöhung Jesu Christi in die ewige, in die allgegenwärtige Gemeinschaft mit dem göttlichen Wesen selbst für uns geschieht daher auf keine andere Weise als in der Rezitation und Interpretation der schriftlich hinterlassenen Kommunikation des Kreises der Apostel mit ihren Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. In der liturgischen Ordnung des Gottesdienstes im Kirchenjahr kommt dem Ort und der Funktion der Predigt insofern ganz mit Recht von allem Anfang an eine hermeneutische Bedeutung zu. Denn sie – die Predigt – sucht zu zeigen, dass und inwiefern jene schriftlich hinterlassene Kommunikation das Medium ist, durch welches eine feiernde Gemeinde sich in ihrem Hier und Heute versteht: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“ (Lk 4,20)

80 Das bezeugt das apostolische Glaubensbekenntnis in der binitarischen Formel des 2. Artikels: „Er sitzt zur Rechten Gottes des Vaters“. - Vgl. hierzu Konrad Stock, Zur Rechten Gottes, in: Günter Thomas/Andreas Schüle (Hg.), Gegenwart des lebendigen Christus (FS. Michael Welker), Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2007, 261–269. – Zur Bedeutung dieser Formel für das Verstehen der Feier des Heiligen Abendmahls bzw. der Eucharistie s. 4.2.3.2.2.

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Erinnernd zu vergegenwärtigen ist drittens, dass Jesu Christi Erhöhung, die uns jeweils in unserem Hier und Heute im Medium des rezitierten und interpretierten Offenbarungszeugnisses der Heiligen Schrift ergreift, das wahre Wesen der schöpferischen Macht Gottes als des Seins-Selbst zu verstehen gibt (s. 2.5). Indem der Gottesdienst im Kirchenjahr in seiner angemessenen liturgischen Ordnung das Evangelium feiert, macht er der feiernden Gemeinde das ontologische Grundverhältnis zwischen dem wahrhaft unendlichen Sein Gottes und dem je eigenen, selbstbewusst-freien, leibhaften Person-Sein im All des Seienden bewusst. Er lässt die feiernde Gemeinde erleben, dass sie Glied einer menschheitlichen Gemeinschaft ist, der die Seinsart des je eigenen, selbstbewusst-freien, leibhaften Person-Seins im All des Seienden von Gottes schöpferischem Person-Sein frei gewährt und eben damit auferlegt wird. Ist „das Erleben der Versöhnung und Einigung mit dem Schöpfer“ mit Reiner Preul als der performative Modus des christlichen Gottesdienstes zu bezeichnen, so öffnet dieser Modus „die Versenkung in die schöpfungsmäßige Grundsituation und ihre durch den Schöpfer gewährte Geborgenheit“.81 Er lässt hautnah erleben, dass die erinnernde Vergegenwärtigung des Christus-Geschehens durch Gottes Heiligenden Geist das radikale Grundvertrauen weckt, in dem wir als geschaffene Person dem wahren Wesen Gottes entsprechen (s. 4.3.1). Die Liturgie des Gottesdienstes gibt diesem Erleben dadurch Raum, dass sie die Rezitation und Interpretation der apostolischen Kerygmata einbettet in die Stufen der Meditation. Sie gliedert eine Ordnung des Rituals durch die gemeinsam gesungenen Lieder, deren vertraute Melodie und deren poetischer Text der Stimmung des radikalen Grundvertrauens Ausdruck geben. Sie stellt die Situation der Andacht her, in der die feiernde Gemeinde und in ihr alle ihre Glieder sich im Gebet vor Gottes Gegenwart zu stehen weiß und im Gefühl der göttlichen Gegenwart ihren Dank und ihre Bitte, ihre Klage in den Ängsten und Nöten des Lebens, ihre Fürbitte und ihre Huldigung (vgl. schon 2Kor 1,3f.) und schließlich ihre radikale Hoffnung auf die jenseitige bzw. auf die absolut zukünftige Vollendung ihres diesseitigen bzw. ihres irdischen Lebens in dieser Weltraumzeit artikuliert. Und endlich lässt sie die Schwelle des Übergangs aus der regressiven Einkehr in die Quelle allen tragfähigen Lebensmutes in die progressiv zu leistende alltägliche Verantwortung empfinden unter dem Zuspruch des Segens, dessen biblische Grundgestalt wohl am intimsten das Gott-Verstehen der JHWH-Gemeinschaft und der Christus-Gemeinschaft verbindet (Num 6,24-26).82

81 Vgl. Reiner Preul, Zur Morphologie und zum Erleben des evangelischen Gottesdienstes, in: Elisabeth Gräb-Schmidt und Reiner Preul (Hg.), Gottesdienst (wie Anm. 73), 99–123; 103. 82 Bekanntlich hat vor allem Geoffrey Wainwright die Doxologie im Sinne der Anerkennung der Ehre Gottes als den beherrschenden Sinn der christlichen Liturgie gewürdigt; vgl. Geoffrey Wainwright, Doxology – The Praise of God in Worship, Doctrine and Life, London: Epworth Press, 1980.

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

Viertens: Eben wegen der erinnernden Vergegenwärtigung der Ursprungssituation der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens ist der Gottesdienst im Kirchenjahr bzw. im liturgischen Jahr für das Leben in der alltäglichen Selbstverantwortung vor Gott ethisch relevant. Nun war und ist es keineswegs unumstritten, wie diese ethische Relevanz denn klar und deutlich zu bestimmen sei; wie die Debatte über Recht und Grenzen Politischer Predigt zeigt.83 Aus diesem Grunde greife ich zurück auf Friedrich Schleiermachers Regel, welche den Gottesdienst im Horizont des großen Ganzen der Besinnung auf die Seinsweise des endlichen, des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins zu verstehen sucht. In seinen Vorlesungen zur Praktischen Theologie hatte Friedrich Schleiermacher als Regel des christlichen Gottesdienstes vorgeschlagen: „Der Cultus soll immer eine Darstellung des christlichen Lebens sein, wie es wirklich ist.“84

Diese Regel nimmt Bezug auf die theoretische Systemkonzeption, die Schleiermachers „Glaubenslehre“ ebenso wie seine Vorlesungen über „Die Christliche Sitte“ prägt. Nur in deren Rahmen wird es klar, warum der „Cultus“ eine „Darstellung des christlichen Lebens“ sein soll. Schleiermacher war in der langen Arbeit am Entwurf einer Theorie des Ethischen ausgegangen von der Unterscheidung zweier Handelnsarten, des „organisierenden“ und des „erkennenden“ Handelns.85 In diesen beiden Handelnsarten bringen wir – wir Wesen von der Seinsart selbstbewusst-freien, vernünftigen, geschaffenen Person-Seins im Verhältnis zu der uns gegebenen Natur der Erde – alle diejenigen Sie ist auch das besondere Anliegen von Edmund Schlink, Ökumenische Dogmatik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1983, bes. 33–51. 83 Vgl. hierzu Jürgen Ziemer, Art. Politische Predigt: RGG4 6, 1469–1470; Reiner Preul, Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktionen der Evangelischen Kirche, Berlin/New York: de Gruyter, 1997, 330–392: § 12: Kirche und Politik. 84 Friedrich Schleiermacher, Die praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Hg. von Jacob Frerichs in: Schleiermacher‘s sämmtliche Werke. Erste Abtheilung. Dreizehnter Band, Berlin 1850, 156. – Vgl. dazu bes.: Ralf Stroh, Schleiermachers Gottesdiensttheorie (wie Anm. 73); Christoph Dinkel, Kirche gestalten. Schleiermachers Theorie des Kirchenregiments, Berlin/New York: de Gruyter, 1996 (SchlA; 17); Eilert Herms, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, in: Wilfried Härle/Bernd-Michael Haese/Kai Hansen/Eilert Herms, Systematisch praktisch (FS. Reiner Preul), Marburg: N. G. Elwert Verlag, 2005 (MThSt; 80), 113–172; Reiner Preul, Zur Morphologie und zum Erleben des christlichen Gottesdienstes, in: Elisabeth Gräb-Schmidt und Reiner Preul (Hg.), Gottesdienst (wie Anm. 73), 99–122. – Wir werden gleich sehen, dass Schleiermacher den Begriff der Darstellung auch für den „Dienst am göttlichen Wort“ heranzieht. 85 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Ethik, bes. 35–80. – Belege aus diesem Werk sind im Folgenden im Text notiert.

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Güter hervor, die für das sittliche Sein der Person notwendig sind. In seiner Güterlehre entwirft Schleiermacher einen Grundriss der „vollkommenen ethischen Formen“, den ich als minimalen Ansatz zum Verständnis einer im Entstehen begriffenen ausdifferenzierten sozialen Ordnung auffasse. In diesem Grundriss genießt die soziale Sphäre „Kirche“ besondere Aufmerksamkeit. Unter dem Term „Kirche“ versteht Schleiermacher im Kontext der Theorie des Ethischen eine organisierte (verstehe: eine geordnete bzw. eine geregelte) Form einer „Religionseinheit“, welche die „subjective Thätigkeit der erkennenden Function (verstehe: des sozialen Handelns)“ zu pflegen habe (§ 209). Worin die „subjective Thätigkeit der erkennenden Function (verstehe: des sozialen Handelns)“ bestehe, hatte Schleiermacher schon in seinen Reden „Über die Religion“ und dann in seiner Einleitung in die „Glaubenslehre“ aufgezeigt. Auf sie bezieht sich der Aspekt des „darstellenden Handelns“. Was heißt das? Im Unterschied zu jenen Handelnsarten, durch die eine soziale Formation bzw. eine Gemeinschaft sozialer Formationen die für das sittliche Sein der Person notwendigen Güter wirksam hervorbringt, bringt das „darstellende Handeln“ nichts hervor. Analog zur freundschaftlichen Kommunikation in der Sphäre der „Geselligkeit“ und analog zur Sphäre der ästhetischen Kommunikation in der Teilnahme am Leben der Künste – der Musik, der bildenden Kunst, der Literatur, des Tanzes – äußert „darstellendes Handeln“ vielmehr eine Selbstbeschreibung eines individuellen Selbsterlebens. Im Unterschied zur Sphäre der „Geselligkeit“ sowie im Unterschied zur Teilnahme am Leben der Kunst leistet „darstellendes Handeln“ in der Sphäre einer „Kirche“ bzw. in der Sphäre einer religiösen Gemeinschaft eine solche Selbstbeschreibung, welche nichts anderes als die „Äußerung des Selbstbewußtseins (verstehe: des frommen Selbstbewusstseins)“ (CG2 § 26,2 [I, 148 = KGA I.13,1, 174]) ist; im Fall der christlich-religiösen Gemeinschaft also die „Äußerung“ des christlich-frommen Selbstbewusstseins, das sich der Erlösung kraft der ihm gewährten Gemeinschaft mit Jesu Christi Gottesbewusstsein vergewissert. Sie antwortet schlechthin auf Gottes offenbare Gnade. Wie immer es mit anderen Kulten und ihren Ritualen mit ihren möglicherweise magischen Motiven bestellt sein mag: dem christlichen „Cultus“ jedenfalls eignet der Charakter des Selbstzwecks. Indem die feiernde Gemeinde ihn gemeinsam und zugleich jeweils individuell begeht, bietet seine Liturgie allen seinen Teilnehmern den Raum ihrer jeweils ganz besonderen Selbstdarstellung. In dieser Selbstdarstellung kommt es immer wieder neu zur Umkehr der Person ins Leben in der selbstbewusstfreien Willensgemeinschaft mit Gott selbst, mit Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen. Insofern ist das Confiteor der Liturgie immer wieder neu diejenige Aktion, in der die

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

Teilnehmer des Gottesdienstes sich in der Sphäre ihres Gewissens dem Zuspruch des Mit-Gott-Versöhnt-Seins im Christus Jesus anvertrauen.86 In der Erklärung des christlichen „Cultus“ als wesentlicher Selbstdarstellung des Lebens im Gefühl des christlich-frommen Selbstbewusstseins und damit dessen, was ihm gegenwärtig als wahr gewiss ist, liegt auch der Schlüssel für die sachgemäße Antwort auf die Frage, worin die ethische Relevanz des christlichen Gottesdienstes denn bestehe. Sie besteht just darin, dass der christliche Gottesdienst im Kirchenjahr als Cultus publicus die stete notwendige Quelle jenes Cultus privatus ist, welchen die Glieder der Christus-Gemeinschaft je in ihrer eigenen Lebensführung zu begehen aufgefordert sind.87 Das heißt: Die ethische Relevanz des christlichen Gottesdienstes als der sich selbst darstellenden Teilnahme an der gemeinsamen Selbstdarstellung des Christus-Glaubens wäre zutiefst verkannt, wenn die rituelle bzw. die liturgische Ordnung schließlich und endlich ins Diktat einer bestimmten moralischen bzw. wohl gar politischen oder rechtlichen Normierung für das alltäglich „wirksame Handeln“ der Glieder der Christus-Gemeinschaft münden würde. Sie wäre deshalb zutiefst verkannt, weil sie die Eigenart des christlichen Gottesdienstes – nämlich das Ritual der erinnernden Vergegenwärtigung des Christus-Geschehens zu sein – verkennen würde. In diesem Falle würde man zutiefst verkennen, dass der Cultus publicus der Feier des Evangeliums die stete notwendige Quelle jenes Cultus privatus des ChristusGlaubens ist, der sich im Alltag einer jeweiligen Gesellschaft als der „vernünftige Gottesdienst“ (Röm 12,1) aller individuellen Glieder der Christus-Gemeinschaft vollzieht. Insofern würde man zutiefst verkennen, dass der Christus-Glaube, so wie er sich im Gottesdienst und seiner sachgemäßen Ordnung selbst darstellt, allein durch Gottes Heiligenden Geist zum Leben in der Selbstverantwortung vor Gott für alle die Güter befreit, die für das sittliche Sein der Person notwendig sind. Die Grundlegung der Theologischen Ethik wird dies dem Selbstverständnis der christlichen Glaubensweise eigentümliche Prinzip ausführlich erläutern (STh III).88 Um nun die ethische Relevanz des christlichen Gottesdienstes angemessen zu bestimmen, greife ich auf, was Schleiermacher in den Vorlesungen über „Die Christliche Sitte“ am Antrieb bzw. am Beweggrund, am Motiv bzw. an der Triebfeder

86 Das Confiteor der Liturgie des reformatorischen Gottesdienstes hält damit die Intention des Sakraments der Buße in der Kirche unter dem Bischof von Rom fest und bildet als solche den Kern der Praxis der Beichte. – Für eine genauere Beschreibung des Phänomens des Gewissens verweise ich auf Konrad Stock, Einleitung, bes. 167–171 (s. auch Begriffsregister S. 487). 87 Vgl. hierzu Eilert Herms, „Cultus Deorum“ / „Cultus Dei veri“ – aus christlicher Sicht, in: Elisabeth Gräb-Schmidt und Reiner Preul (Hg.), Gottesdienst (wie Anm. 73), 23–67; bes. 56–61. 88 Meine Formulierung markiert die aus reformatorischer Sicht notwendige kritische Grenze zur römisch-katholischen Lehre von der Verdienstlichkeit der „guten Werke“, wie sie das Konzil von Trient im Dekret über die Rechtfertigung bekräftigt hatte (vgl. bes. DH 1546; 1582).

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menschlichen Handelns beobachtet hat.89 Im Unterschied zu älteren und jüngeren Beiträgen zur Theorie der Motivation hält Schleiermacher an dem Grundsatz fest, dass eine Theologische Ethik das Phänomen des Handelns aus Impulsen nicht anders als im Weg der systematischen Besinnung auf die Tatsache des gelebten Christus-Glaubens – des christlich-frommen Selbstbewusstseins in der kirchlich verfassten Christus-Gemeinschaft – beschreiben kann. Aus der Methode solcher systematischen Besinnung ergibt sich aber eine ganz besondere bzw. eine ganz spezifische Erkenntnis jener Impulsivität, wie sie dem Leben in der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens eigentümlich ist. Denn: Das Leben in der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens erlebt und versteht sich gar nicht anders denn als das Leben in dem Gegensatz zwischen dem noch herrschenden Bewusstsein bzw. der noch herrschenden Erfahrung des „In-derSünde-Seins“ und dem befreienden Bewusstsein bzw. der befreienden Erfahrung des „Mit-Gott-im-Frieden-Seins“.90 Es existiert in der Erfahrung des Gewissens, in der ihm dieser Gegensatz stets präsent ist, sofern es sich nicht selbst belügt und betrügt. Die Kirchengeschichte kennt allerdings zahlreiche Konstellationen, in denen eine feiernde christliche Gemeinde sich in der Erfahrung des Gewissens selbst belügt und selbst betrügt, indem sie sich als Stütze oder sogar als Teil eines tyrannischen Systems ökonomischer und politischer Herrschaft bzw. als Akteur einer menschenunwürdigen und deshalb gottlosen Ideologie versteht. Solche Konstellationen sind z. B. die Gottesdienste, die die Systeme der Apartheid, die Systeme des Faschismus und des Bolschewismus oder die Strukturen ökonomischer Ausbeutung affirmieren. Möglich wurde und möglich wird der Selbstbetrug in der Erfahrung des Gewissens, wenn das Ritual des christlichen Gottesdienstes das Evangelium des Christus-Geschehens in unerträglicher Weise verkürzt und entstellt. Alle diese Verkürzungen und alle diese Entstellungen wurzeln letzten Endes darin, dass das Evangelium des Christus-Geschehens in seinem Wesen verkannt wird: nämlich die endgültige Offenbarung des Ursprungsverhältnisses zwischen dem schöpferischen Grund und Ursprung – dem Sein-Selbst und dessen In-Gemeinschaft-sein-Wollen – und dem geschaffenen All des Seienden zu sein. Wird im Evangelium des ChristusGeschehens Gottes Wesen so offenbar, wie es die kirchlich-theologische Lehre von Gottes Dreieinheit und Dreifaltigkeit artikuliert, so wird in ihm die Gleichheit aller Menschen aus Gott und vor Gott endgültig offenbar.91

89 Vgl. zum Folgenden bes. Friedrich Schleiermacher, CS. 90 Martin Luther sprach die Erfahrung dieses Gegensatzes konsequent als die Erfahrung der Anfechtung an. 91 In der Geschichte des deutschen Protestantismus muss man der „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ attestieren, dass ihr Projekt „Evangelium im Dritten Reich“ genau diese Verkürzung und

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

Indem das Leben in der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens aus der Erfahrung des Gewissens nicht herauskommt, ist ihm nicht etwa nur das „Mit-Gott-imFrieden-Sein“ gewiss, so wie es ihm die Lebensgeschichte und das Lebensgeschick des Christus Jesus bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha – nämlich das Leben in der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott selbst – kraft der Ereignisse des Dritten Tages offenbart; es ist ihm ebenso und mit aller Wucht das jeweils eigene Verstrickt-Sein ins Syndrom des erlittenen und des verschuldeten Leids präsent. Aus diesem Grunde richtet es sich sehnend, hoffnungs- und erwartungsvoll auf jenen hier und jetzt noch unausdenkbaren Zustand der Vollendung aus, von dem die prophetischen Lehrstücke des christlichen Wortbekenntnisses reden (vgl. Röm 8,23-25; s. 4.5). In der Besinnung auf die Tatsache des Christus-Glaubens bzw. des christlichfrommen Selbstbewusstseins ist es just diese Weise der Erfahrung des Gewissens, die immer wieder neu den Antrieb, den Beweggrund, das Motiv, das Streben bzw. die Triebfeder eines Lebens in der Selbstverantwortung vor Gott empfängt! Im Ritual des christlichen Gottesdienstes geschieht dies Empfangen zum einen dadurch, dass die feiernde Gemeinde im darstellenden Handeln ihrer Selbstbeschreibung zum wiederholten Male sich erinnernd auf ihren geschichtlichen Ursprung in Jesu Christi selbstbewusst-freier Willensgemeinschaft mit Gott selbst bezogen weiß; und es geschieht zum andern dadurch, dass die feiernde Gemeinde in ihrem Sich-Erinnern eodem actu zum wiederholten Male den Ansporn zu der „veränderte(n) Lebensform“ (CG2 § 107 L [II, 150 = KGA I.13,2, 168]) erlebt, der ihrem geschichtlichen Ursprung entspricht; allerdings in jeweils individueller Rezeption. Auch das Streben nach dem Höchsten Gut der je eigenen Lebensgeschichte und deren jeweils frei geplante und frei entschiedene Selbstwirksamkeit ist nach den richtigen Einsichten der reformatorischen Bewegung passiv durch Gottes Heiligenden Geist konstituiert. Nach wie vor markieren diese Einsichten den Punkt der Differenz zur Lehre und zur Praxis der gratia creata in der Kirche unter dem Bischof von Rom. Es gehört mithin zur angemessenen liturgischen Ordnung des christlichen Gottesdienstes, die Gottesgewissheit des Christus-Glauben zum wiederholten Mal als Ansporn zur „veränderte(n) Lebensform“ erleben zu lassen. Dieses Erleben vermag nach Schleiermachers ethischer Konzeption nicht etwa nur die je eigene Lebensführung in der Sphäre des Privaten und in der engagierten Pflege der kirchlich verfassten Christus-Gemeinschaft zu motivieren; es motiviert zugleich die aufmerk-

Entstellung des Wesentlichen des Evangeliums nachhaltig und mit verhängnisvollen Wirkungen vertreten hat.

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same Wahrnehmung des Zustands einer Kultur bzw. einer Gesellschaft und unter Umständen auch den zähen Kampf für dessen lebensdienliche Verbesserung.92 Im Ritual des christlichen Gottesdienstes bilden namentlich die paränetischen Texte des biblischen Offenbarungszeugnisses das Medium, in dessen Rezitation und Interpretation sich die Wirksamkeit des Heiligenden Geistes ubi et quando visum est Deo ereignet. Natürlich bedarf die Rezitation und Interpretation dieser Texte der Kompetenz, ihre zeitgemäße Relevanz für das Leben der Christus-Gemeinschaft im Hier und Jetzt ihrer jeweiligen Kultur bzw. ihrer jeweiligen Gesellschaft zu entdecken. Es ist die Sache der Theologischen Ethik, im theologischen Studium und in den Bildungsinstitutionen der kirchlichen Öffentlichkeit zu solcher Kompetenz anzuleiten. Fünftens: Die systematische Besinnung auf den „Gottesdienst der im Namen Jesu versammelten Gemeinde“ (Peter Brunner) hat zu guter Letzt zu achten auf die hochsymbolische Bewandtnis des Kirchenjahrs bzw. des liturgischen Jahrs, in dessen Ordnung wir die Gottesdienste als „Feiern im Rhythmus der Zeit“ (Hansjörg Auf der Maur) begehen. Diese Ordnung ist ein überaus komplexes Gefüge. Sie vermag die kosmische Basis all unserer Erfahrung der Zeit sogar für alle die Mitglieder einer Kultur bzw. einer Gesellschaft zu strukturieren, denen deren hochsymbolische Bewandtnis in der euro-amerikanischen Moderne aus welchen Gründen auch immer dunkel bleibt oder aber dunkel wird.93 Unter der kosmischen Basis aller Erfahrung der Zeit verstehe ich alle diejenigen naturalen Bewegungen in dieser unserer Galaxie, deren rhythmische Wiederkehr das uns Menschen allen gemeinsame Person-Sein – das „Sich-gegenwärtig-Sein“ – auf dieser Erde kraft Gottes schöpferischem Walten ermöglicht und bedingt. Diese 92 In einen derart zähen Kampf haben die Kirchengemeinschaften in jüngster Zeit zu ziehen, um im Rahmen der Gesetzgebung die enorme Marktmacht und die gefährliche Faszination der InternetGiganten auf dem Gebiet der Social Medias rechtlich zu regulieren helfen. Es leidet m. E. keinen Zweifel, dass deren Einfluss auf die „Followers“ in riesigen Zahlen dazu beiträgt, die individuelle Sprach- und Urteilsfähigkeit schwer zu beschädigen, die nach der reformatorischen Einsicht eine notwendige Bedingung der religiösen Kommunikation des Evangeliums ist. Vgl. hierzu soeben: Jürgen Kühling und Rolf Schartmann, Es ist an der Zeit. Die Internetgiganten müssen reguliert werden. Es geht nicht nur um Datenschutz und Märkte. Die demokratische Öffentlichkeit steht auf dem Spiel, in: F.A.Z. Nr. 270, 19. November 2020, 8. 93 Vgl. zum Folgenden bes.: Hansjörg Auf der Maur, Feiern im Rhythmus der Zeit, Bd. 1 (GDK 5), 1983; Klaus-Peter Jörns/Karl-Heinrich Bieritz, Art. Kirchenjahr: TRE 18, 575–599; Gerhard Sauter, Schrittfolgen der Hoffnung. Theologie des Kirchenjahres, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2015. In der „Vorbemerkung“ zu diesem gewichtigen Spätwerk nimmt Sauter Bezug auf einen Tagebucheintrag Jochen Kleppers mit den Worten: „Diesem Verblassen des Kirchenjahres möchte ich die Freude entgegenbringen, das Kirchenjahr zu entdecken als ein Kunstwerk, in dem das Vertrauen darauf, dass ‚alle meine Zeiten in deinen Händen sind‘ (Ps 31,16), an den Stationen der Christusgeschichte Halt gewinnt.“ (9).

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naturalen Bewegungen sind uns vorgegeben im Umlauf der Erde um die Sonne, den wir als Jahr definieren; in den verschiedenen Phasen dieses Umlaufs, die wir als Jahreszeiten definieren; und schließlich in der Rotation der Erde, die wir im Wechsel von Tag und Nacht erleben. Alle diese naturalen Bedingungen, unter denen das uns Menschen allen gemeinsame leibhafte Person-Sein – das „Sich-gegenwärtig-Sein“ – in relativer Dauer auf den Tod in dieser Weltzeit hin prozediert, sind uns mit faktisch eherner Notwendigkeit gewährt. In ihr und unter ihr vollzieht sich unser aller Im-Werden-Sein, von dessen ewigem, eschatischem, absolut-zukünftigem Ziel das Evangelium des Christus-Geschehens spricht. Wir dürfen sie als einen wesentlichen Aspekt des schöpferischen Wortes Gottes verstehen, der in der gottesdienstlichen Feier und damit in der Selbstbeschreibung der feiernden Gemeinde stets vorausgesetzt und mit enthalten ist. Unter den zahlreichen Festkalendern der Religionskulturen zeichnet sich der Festkalender des Kirchenjahrs bzw. des liturgischen Jahrs dadurch aus, dass er von den Ereignissen des Dritten Tages für den berufenen Kreis der Apostel konstituiert ist. Auf diesen Ursprung ihrer selbst bezieht sich die früheste Form des Gottesdienstes am „Tag des HErrn“ (Apk 1,10), zu welchem sich die Christus-Gemeinschaft jeweils am ersten Tag der jüdischen Woche versammelt. An ihm vergegenwärtigt sie sich regelmäßig voller Freude das Passa-Mysterium, aus welcher Regel sich der Sonntag als das wöchentliche sowie das Fest der Ostern als das jährliche Passa-Fest entwickelt. Wie das Passa-Fest der jüdischen JHWH-Gemeinschaft ist es verbunden mit der ersten Vollmondnacht nach dem Frühlings-Äquinoktium. Man begeht es in einem nächtlichen Gottesdienst mit der Feier der Eucharistie – der sog. Vigil –, aus dem sich dann das „Triduum sacrum“ des Karfreitags, des Karsamstags und des Ostersonntags sowie das Abendmahlsgedenken am Gründonnerstag entwickelte. Dieses „Triduum sacrum“ steht in der Mitte zwischen der vorösterlichen Bußbzw. Fastenzeit („Quadragesima“) und der bis zum Fest der Pfingsten reichenden österlichen Freudenzeit (der „Pentekoste“). Sie wurde in der frühen Periode der Christus-Gemeinschaft als ein einziges Herrenfest begangen.94 Auf das jährliche Passa-Fest der Ostern bezieht sich vermutlich erst im 4. Jahrhundert die Feier des Christtags, des Festes der Geburt des Christus Jesus jeweils am 25. Dezember. Im Rom der Ära Konstantins I. konzipiert, erhebt es nicht nur deutlichen Protest gegen das Fest des Imperiums „Natalis Solis Invicti“, das Kaiser Aurelian im Jahre 275 n. Chr. eingeführt hatte; es verkündet und bekräftigt auch und vor allem die Wahrheit des Symbols des Konzils von Nicaea, das den Sohn als „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahren Gott vom wahren Gott“ bekennt, und

94 Vgl. hierzu Edward B. Foley, Art. Pfingsten: RGG4 6, 1242–1243. – Nach Foley ist eine eigenständige Bedeutung des Festes der Pfingsten seit dem Ende des 4. Jahrhunderts zu erkennen, insofern es sich von einem Christus-Fest zu einem Fest des Heiligen Geistes wandelt.

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spricht damit der Wintersonnenwende die hochsymbolische Bewandtnis zu, der geschaffene Tag des Aufgangs des wahren „Lichts aus der Höhe (Lk 1,78) zu sein.95 Im Wesentlichen schließt das Kirchenjahr bzw. das liturgische Jahr mithin den weihnachtlichen und den österlichen Festkreis zusammen und gibt damit den einzelnen gottesdienstlichen Feiern die in sich stimmige und unbeliebige Folgeordnung vor. Dieser Zusammenschluss wird kenntlich an dem Trinitatisfest, das in den orthodoxen Kirchengemeinschaften am Pfingstsonntag, in der lateinischen Christenheit erst seit 1334 am ersten Sonntag nach dem Pfingstfest begangen wird. Indem es die Zahl der festlosen Sonntage bis zum Advent eröffnet, macht es im Rhythmus des Kirchenjahrs bzw. des liturgischen Jahrs das Nahen der jenseitigen, der absolut zukünftigen Vollendung erfahrbar, die der Christus-Gemeinschaft als der Inbegriff der Hoffnung schon jetzt vor Augen steht. In seiner Folgeordnung erinnert das Kirchenjahr bzw. das liturgische Jahr die feiernde Gemeinde stets an die heilsgeschichtliche Bewegung, in die der ewige Ursprung des Christus-Geschehens und dessen ewige Vollendung uns Menschen alle stellt: uns, deren Werden, Wachsen, Reifen und Sterben notwendig bedingt ist durch die Rhythmen und die Zyklen der kosmischen Zeit in ihrer unumkehrbaren Richtung. Die Folgeordnung des Kirchenjahrs bzw. des liturgischen Jahrs und ihr eigentümlicher Festkalender hebt die Bestimmtheit unseres alltäglich-allnächtlichen Lebens durch die Erfahrung kosmischer Zeit nicht auf. Sie ist vielmehr mit ihrem Beginn in der Zeit des Advent, mit der Datierung der Hochfeste Weihnachten, Ostern und Pfingsten und mit ihrem Ende am Ewigkeitssonntag auf das Jahr des julianischen und des gregorianischen Kalenders bzw. auf die Wintersonnenwende und auf das Frühlings-Äquinoktium bezogen und wäre ohne diesen Bezug schlicht zeitlos. Als eine Folgeordnung sui generis macht sie allerdings die ursprüngliche Bewandtnis offenbar, die die erinnernde Vergegenwärtigung des Christus-Geschehens in der Erfahrung kosmischer Zeit entdeckt: Der Christus-Glaube bzw. das christlich-fromme Selbstbewusstsein kann seine „veränderte Lebensform“ (CG2 § 107 L [II, 150 = KGA I.13,2, 168]), die sich Vollendung jenseits des Todes und durch den Tod hindurch ersehnt, nur auf der Basis aller der Rhythmen und der Zyklen der kosmischen Zeit recht verstehen. Die Folgeordnung des Kirchenjahrs bzw. des liturgischen Jahres beruht auf dieser Basis, und sie prägt sie auch. Indem wir uns die Folgeordnung des Kirchenjahrs bzw. des liturgischen Jahrs als die christus-gemäße Prägung unserer Erfahrung kosmischer Zeit plausibel machen, sehen wir sie – die Erfahrung kosmischer Zeit – als die uns Menschen allen schöpferisch gewährte kostbare Gabe an, die in der 95 Vgl. hierzu Andreas Heinz, Art. Weihnachten I. Geschichtlich 1. Entstehung 2. Verbreitung: RGG4  8, 1335–1337. Nach Heinz beging man in den Christus-Gemeinschaften des Ostens seit alters das Geburtsgedächtnis an Epiphanias am jeweiligen 6. Januar und übernahm das römische ChristtagsFest erst seit seiner Einführung durch Gregor von Nazianz.

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

gottesdienstlichen Feier im Kirchenjahr bzw. im liturgischen Jahr sowohl gebraucht als auch heilsam neu bestimmt wird.96 4.2.2

Die Verkündigung97

Die Christus-Gemeinschaft der Kirche aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) ist in ihren mannigfachen Konfessionen und Denominationen ein singulärer Fall religiöser Gemeinschaft. Verwurzelt in der jüdischen JHWH-Gemeinschaft (vgl. Röm 11,17-18), entsteht sie und besteht sie in einer singulären Gewissheit der Wahrheit. Sie wurde und sie wird unter bestimmten Bedingungen jener Wahrheit gewiss, die ursprünglich und endlich die Wahrheit hinsichtlich des wahren Wesens des dreieinen Gottes – des unendlichen Grundes und Ursprungs des gemeinsamen geschaffenen Person-Seins im Raum und in der Zeit dieses unbegrenzten Universums und dessen Richtungssinnes – ist. Der Schlüsselbegriff „Evangelium“ fasst zusammen, dass das Offenbar-Werden dieser Wahrheit jene Freiheit wirkt, deren Sinn und deren Bestimmung uns im Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids verschlossen bzw. nur unvollkommen erkennbar bleibt. Die „religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche“ ist der menschliche Dienst bzw. das vielgestaltige Zeugnis (vgl. 2Kor 5,18), das Gottes Heiligender Geist um willen dieses Offenbar-Werdens frei in Anspruch nimmt. Unter den mannigfachen Formen dieses Dienstes bzw. dieses Zeugnisses hebe ich im Folgenden hervor: die drei Gestalten der Verkündigung (4.2.2.1–4.2.2.4) sowie die Feier der Sakramente der Heiligen Taufe (4.2.3.1) und des Heiligen Abendmahls (4.2.3.2). Im Anschluss an den Sprachgebrauch des Neuen Testaments (vgl. bes. Röm 10,1415) hat namentlich die reformatorische Bewegung den menschlichen Dienst bzw. das menschliche Zeugnis des Evangeliums als den Dienst der Verkündigung – als praedicatio verbi divini – praktiziert und ihn auf die Predigt in der Feier des Gottesdienstes konzentriert. Auf sie beriefen sich die verschiedenen Spielarten einer „Theologie des Wortes Gottes“ in der deutschsprachigen evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts in ihrer Kritik an den verschiedenen Schulen und Richtungen

96 Auf die für das römisch-katholische Verständnis der Liturgie und des liturgischen Jahrs zentrale Lehre von der Weihe, die jedenfalls für den eucharistischen Gottesdienst den Vorsitz des geweihten Priesters begründet, ist einzugehen in den Abschnitten über das Sakrament der Heiligen Taufe (4.2.3.1) und über das Sakrament des Heiligen Abendmahls (4.2.3.2). 97 Vgl. zum Folgenden bes.: Friedrich Schleiermacher, CG2  §§ 133–135 (II, 308–318 = KGA I.13,2, 342–353); Gerhard Ebeling, Theologie und Verkündigung, Tübingen: Mohr Siebeck, 1962 (HUTh; 1); Eberhard Winkler, Kommunikation und Verkündigung, Berlin: Evangelische Verlagsanstalt, 1977; Konrad Stock, Einleitung, 220–224; Ulrich H. J. Körtner, Theologie des Wortes Gottes: Positionen Probleme, Perspektiven, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001.

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des „Neuprotestantismus“ bzw. des „Kulturprotestantismus“. Sie wählten für ihr kirchlich-theologisches Wollen das Syntagma „Wort Gottes“, weil sie mit dessen Hilfe die „Kommunikation des Evangeliums“ in ihrem Charakter als Anrede bzw. als appellativen Ruf in die Entscheidung des Christus-Glaubens kenntlich machen wollten. Mit der Folge, dass das Modell der Predigt – der „Kanzelrede“ – in der Feier des Gottesdienstes auch die Praxis und die Theorie der Seelsorge und des kirchlichen bzw. des schulischen Unterrichts dominierte. Demgegenüber vermeidet die Formel „religiöse Kommunikation des Evangeliums“ diese Engführung. Sie bringt die Besonderheiten des Unterrichts und der Seelsorge in ihrem Verhältnis zur Predigt zur Geltung; und indem sie diese Medien zusammen mit der Feier der Heiligen Taufe und des Heiligen Abendmahls auf den Gottesdienst im Kirchenjahr bezieht, nimmt sie das Syntagma „Wort Gottes“ in erster Linie als den Gegenstand der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche ernst. Ich verstehe den Begriff der Verkündigung in diesem kommunikativen Sinn als den Rahmenbegriff für alle die verschiedenen Sprach- und Zeichenhandlungen, die das Ganze bzw. das Allgemeine des apostolischen Kerygmas in jeweils besonderer bzw. individueller Weise darzulegen und mitzuteilen streben. Es ist ihre Absicht, das Leben in der Gottesgewissheit der Christus-Gemeinschaft für andere zu erschließen; ebenso wie es ihr Auftrag ist, inmitten aller Anfechtungen, Zweifel, Lebenskrisen und Leiden die Klarheit und den Trost des Evangeliums nahe zu bringen. Sie geschehen grundsätzlich und wesentlich in den mannigfachen Formen des Gesprächs: in Frage und Antwort, in Spruch und Widerspruch, in Klage und Ermutigung. Als solche brauchen sie in erster Linie die Atmosphäre des leibhaften Mit-Seins zwischen Anwesenden, in der das wechselseitige Miteinander-Reden und das wechselseitige Aufeinander-Hören stets auf die übersprachliche Präsenz der Sprechenden und Hörenden bezogen ist. Für die Theorie und für die Praxis der Verkündigung ist es von großem Gewicht, die mannigfachen Formen des Gesprächs als Formen religiöser Rede zu bestimmen. Im Anschluss an Schleiermachers Regel gesagt (s. o. S. 577), sind diese mannigfachen Formen des Gesprächs Formen der Selbstdarstellung. Sie unterscheiden sich von den Gesprächen, in denen wir die Arten des organisierenden und des erkennenden Handelns vollziehen, durch ihren einzigartigen Gegenstand sowohl als auch durch ihren einzigartigen Grund. Ihr einzigartiger Gegenstand aber ist: das Struktur-Ganze (Reiner Preul) des Offenbar-Werdens der versöhnenden Gnade Gottes des Schöpfers, welches die Glieder der Christus-Gemeinschaft der Kirche aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) durch ihre irdische bzw. durch ihre diesseitige Lebensgeschichte hindurch in die jenseitige bzw. in die absolut zukünftige Vollendung in ewiger Gottesgemeinschaft führt (s. 4.5). Und ihr einzigartiger Grund besteht darin, dass dieses „Wesentliche am Christentum“ (Wilfried Härle) durch Gottes Heiligenden Geist den Teilnehmern des Gesprächs als wahr gewiss zu werden verheißen sei, um immer wieder neu gewiss zu werden. Wer in den

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verschiedenen Formen des Gesprächs das eigene Verstehen des Wesentlichen am Christentum zur Sprache zu bringen vermag, übt Selbstdarstellung. Das sei im Folgenden für den Unterricht (4.2.2.1), für die Predigt (4.2.2.2) und für die Seelsorge (4.2.2.3) gezeigt. 4.2.2.1

Der Unterricht98

Die religiöse Kommunikation des Evangeliums geschieht zum Ersten in den mannigfachen Lehr- und Lernprozessen des kirchlichen und des schulischen Unterrichts. In ihnen erweist sich die Fähigkeit zu überlegter und besonnener religiöser Kommunikation in der didaktischen Reflexion. Sie wird die beiden Schritte miteinander zu vermitteln haben: nämlich die Sachanalyse des Themas, das der Unterricht zu erschließen hat, und die didaktische Analyse der jeweiligen Unterrichtssituation im Lebenslauf und in der psycho-sexuellen Entwicklung der Schülerinnen und der Schüler. Diese Vermittlung in der didaktischen Reflexion ist möglich und geboten, weil und sofern der Lehrkraft vermöge ihrer theologischen Kompetenz das übergeordnete Ziel der Lehr- und Lernprozesse selbst vor Augen steht. Wie für die anderen Aspekte der religiösen Kommunikation des Evangeliums kommt auch für dieses Ziel der kategoriale Begriff der Bildung in Betracht.99 Mit dessen Hilfe bezieht sich die Religionsdidaktik nicht nur auf die Allgemeine Pädagogik, sondern vor allem auch auf das grundlegende fundamental-ethische Thema der Bestimmung des Mensch-Seins als des geschaffenen Person-Seins, das seinerseits auf die fundamentaltheologische Grundlegung aller systematischen Besinnung verweist (vgl. STh I). In der didaktischen Reflexion in Hinsicht auf den kirchlichen und auf den schulischen Unterricht bezeichnet der Begriff der Bildung jenen Entwicklungsprozess, der die unwillkürlichen Impulse des Kindes- und des Jugendalters orientiert und

98 Vgl. zum Folgenden bes.: Karl Ernst Nipkow, Grundfragen der Religionspädagogik, 3 Bde., Gütersloh: Mohn, 1975–1982; Ders., Bildung als Lebensbegleitung und Erneuerung, Gütersloh: Mohn, 2 1992; Ders., Bildung in einer pluralen Welt, Bd. 2: Religionspädagogik im Pluralismus, Gütersloh: Kaiser, Gütersloher Verl.-Haus, 1998; Friedrich Schweitzer u. a., Entwurf einer pluralitätsfähigen Religionspädagogik, Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verl.-Haus, 2002; Bernd Schröder, Art. Konfirmandenunterricht: RGG4 4, 1555–1558. – Im Folgenden habe ich vor allem den Konfirmandenunterricht sowie den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen bzw. an Schulen in kirchlicher Trägerschaft vor Augen. Wenn ich in der gebotenen Kürze die systematische Besinnung auf das Struktur-Ganze des zu bildenden Christ-Seins als den sachgemäßen Rahmen der didaktischen Reflexion skizziere, so denke ich dabei natürlich auch an die weitverzweigte Arbeit der kirchlichen Erwachsenenbildung. 99 Vgl. hierzu die grundlegenden Studien von Reiner Preul; vgl. bes.: Reiner Preul, Kategoriale Bildung im Religionsunterricht, Heidelberg: Quelle und Meyer, 1973; Ders., Evangelische Bildungstheorie, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2013, 273–287.

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sublimiert. Es ist das lebenslange Ziel dieses Entwicklungsprozesses, diejenige Bestimmtheit des personalen Selbstbewusstseins bzw. des personalen Selbstgefühls zu erlangen, die sich in den Praxis-Situationen des Lebens in den Fähigkeiten konkretisiert, selbstverantwortlich zu denken, zu sprechen, zu entscheiden und zu handeln. Es ist das einheitliche Ziel des kirchlichen Bildungswesens ebenso wie des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen, den Christus-Glauben als das Fundament und als die Quelle einer gebildeten Wahrnehmung der uns Menschen allen gewährten endlichen Freiheit in allen Bereichen des Lebens in der Kultur einer Gesellschaft plausibel zu machen. In den Gesellschaften des modernen Typs ist dieses hehre Ziel des menschlichen Entwicklungsprozesses keineswegs allgemein anerkannt; es ist vielmehr aus mannigfachen systemischen Gründen erheblich erschwert. Es ist deshalb der Kern der didaktischen Kompetenz der Lehrkraft, selbst zu verstehen und im Unterrichtsgespräch mit anderen verständlich zu machen, wie diese Bestimmtheit des personalen Selbstbewusstseins bzw. des personalen Selbstgefühls gemäß den Einsichten der christlichen Lebenslehre zustande kommt. Die systematische Besinnung auf die Wahrheit des Evangeliums will diesen Kern der didaktischen Kompetenz verdeutlichen.100 Zum einen beruht die didaktische Kompetenz der Lehrkraft auf ihrer Einsicht ins Gegeben- bzw. ins Gewährt-Sein des je individuellen, selbstbewusst-freien, leibhaften Person-Seins in diesem ungeheuren Universum und in dessen unausweichlichem Richtungssinn. Auf dies Gegeben- bzw. auf dies Gewährt-Sein antworten in aller Geschichte die religiösen Gemeinschaften im Ritual ihres kultischen Handelns. Im Unterschied zu ihnen erhebt sich die religiöse Gemeinschaft des Christus-Glaubens zu jenem einzig schöpferischen Grund und Ursprung des All des Seienden, auf dessen Wollen und Walten sich das wahrhaft tragende Grundvertrauen der Person beziehen wird; ebenso wie sie sich dazu beauftragt und verpflichtet weiß, dem Wollen und Walten Gottes, des einzig schöpferischen Grundes und Ursprungs des All des Seienden, in selbstbewusst-freier, in selbstverantwortlicher Weise zu dienen. Basis didaktischer Kompetenz ist mithin die Fähigkeit, Sinn und Bedeutung der Eigenart der christlich-religiösen Symbolisierung in Sprache, Bild und Kult überhaupt zu erschließen und sie zum Wissen von der Natur und von der Geschichte, zur Praxis der Kunst und insbesondere zu den Trends der Unterhaltung kritisch in Beziehung zu setzen.101

100 Meine folgende Skizze ist angeregt von Reiner Preul, Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 99), 140–150: „Bildung und das System der christlichen Lehre“. 101 Diese m. E. stets dringend notwendige Kritik, die die didaktische Theorie vorzubereiten und die die didaktische Kompetenz der Lehrkraft zu praktizieren hat, bezieht sich nicht nur auf die wohlverstanden ontologischen Prämissen der schulischen Lehrpläne der staatlichen Bildungspolitik – d. h.: auf ihre Sicht des Seienden als Seienden bzw. auf ihre Sicht des Sinnes von Sein –, sondern

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Zum andern zeigt sich die didaktische Kompetenz der Lehrkraft darin, dass sie in altersgerechter Weise das Gespräch mit den Schülerinnen und den Schülern über die Wahrnehmungen des Leids, des Unglücks, der Gewaltbereitschaft, des Schuldig-Werdens und des Todes zu führen weiß. Es ist das sachgemäße Ziel dieses Gesprächs, zur Unterscheidung zwischen dem Geschick des unverschuldeten Leids und den verschiedenen gewaltsamen Motiven des verschuldeten Leids anzuleiten. An diese Unterscheidung schließt sich sinnvollerweise die Suche nach der Antwort auf die Frage an, ob überhaupt – und wenn ja, in welcher Weise – die tiefsitzenden Motive der aggressiven bzw. der destruktiven Neigung, einander Leid anzutun, zu begrenzen oder gar zu vergeben und zu überwinden sind. Die an der christlichen Lebenslehre orientierte didaktische Kompetenz wird sich darin bewähren, dass der Unterricht die gesuchte Antwort in der Unterscheidung zwischen der Funktion des politisch gesetzten Rechts und der Funktion der religiösen Kommunikation des Evangeliums zu finden weiß; denn während das politisch gesetzte Recht wie unvollkommen auch immer den faktischen Hang zu abstrakter Selbstdurchsetzung einzuhegen sucht durch die Befugnis eines Gewaltmonopols zu zwingen, wendet sich die religiöse Kommunikation des Evangeliums an das Herz, an das Gemüt und damit an die Gesinnung eines Menschen (s. 4.3). Sie will die Bildung jener Tugenden ermöglichen, kraft derer wir aus eigener Einsicht bzw. aus der Freude an dem, was sein soll, in allen Bereichen des Lebens in der Kultur unserer jeweiligen Gesellschaft selbstverantwortlich intendieren, was gerecht und was lebens- und friedensdienlich ist.102 In diesem Rahmen gehört es zur didaktischen Kompetenz zu verstehen und verständlich machen zu können, dass eine religiöse Kommunikation wie die des Evangeliums die Funktion des politisch gesetzten Rechts für den Prozess der Bildung des Herzens, des Gemüts und der Gesinnung niemals überflüssig macht.103

auch auf die ruinösen Folgen der Unterhaltungsindustrie für eine ernsthafte sittliche Selbstbildung der jeweils heranwachsenden Generation. 102 Vgl. hierzu Konrad Stock, Grundlegung, bes. 122–159; Bernd Harbeck-Pingel, Ethische Wahrnehmung. Eine systematisch-theologische Skizze, Aachen: Mainz, 1998, bes. 133–154; sowie Reiner Preul, Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 99), 176–202: Ethische Bildung. 103 Vgl. hierzu 2.4.2.3. Hier habe ich begründet, warum ich Luthers Unterscheidung zwischen Gottes „weltlicher Regierweise“ (als dem „Regiment mit der Linken“) und Gottes „geistlicher Regierweise“ (als dem „Regiment mit der Rechten“) grundsätzlich für richtig halte. Die Kenntnis und die Zustimmung zu dieser Unterscheidung sind insbesondere deshalb wichtig, weil sie es möglich machen, die aktuelle Debatte über den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach in den öffentlichen Schulen einzuordnen. Als ordentliches Lehrfach im Sinne des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (Art. 7,3 GG) ist der Religionsunterricht nämlich nicht als Privileg der christlichen Religionsgemeinschaften zu verstehen; es handelt sich vielmehr um die „Konkretisierung von Religionsfreiheit am Ort der öffentlichen Schule“, die zu garantieren eine zentrale Aufgabe der staatlichen Souveränität in Zeiten des religiösen bzw. des weltanschaulichen Pluralismus ist. Vgl.

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Im Lichte dieser Unterscheidung wird sich dann erweisen, dass die Funktion der religiösen Überzeugung im Allgemeinen und die der christlich-religiösen Überzeugung im Besonderen sich keineswegs der Lektüre dieser oder jener ethischnormativen Lehre verdankt; sie verdankt sich vielmehr der übersprachlichen – also der leibhaften – Begegnung mit Menschen, deren Sich-Verstehen und deren Lebensform das Vorbild oder womöglich das Urbild darstellt, das in der je eigenen Lebensgeschichte als die entscheidende Hilfe für das je eigene Selbstbild wirksam wird. Aus diesem Grunde zeigt sich die didaktische Kompetenz der Lehrkraft zum Dritten in der Art und Weise, wie sie im Unterrichtsgespräch in altersgerechter Form das Christus-Geschehen des Evangeliums – d. h.: die bildende Kraft der übersprachlichen Begegnung mit dem Christus Jesus selbst – entfaltet. Diese in den Gesellschaften des modernen Typs besonders anspruchsvolle Aufgabe kann gelingen, wenn die didaktische Reflexion konsequent die reformatorische Unterscheidung zwischen dem „äußeren Wort“ im ungeheuren Reichtum der Heiligen Schrift, in der Geschichte der Christus-Frömmigkeit bzw. in der ChristusDarstellung in den verschiedenen Gattungen der Kunst, und dem „inneren Wort“ des Heiligenden Geistes geltend macht, das die Gewissheit der Wahrheit aller Überlieferung des Evangeliums schafft. Denn diese Unterscheidung schließt ja ein, dass auch die altersgerechte Erkenntnis der menschlichen Fehlbarkeit und des menschlichen Sich-Verfehlens, wie sie das „äußere Wort“ von der nicht-priesterlichen Erzählung vom sog. Sündenfall an erschütternd präsentiert (Gen 3,1-25), nicht ohne das „innere Wort“ des Heiligenden Geistes als Selbsterkenntnis wirklich wird.104 Der alte Begriff des adiutorium gratiae (verstehe: der Hilfe der Gnade des versöhnenden und des vollendenden Waltens Gottes) ist bildungstheoretisch, pädagogisch und religionsdidaktisch äußerst aktuell; denn er regt dazu an, die Selbstbildung der Person und ihren Weg zu reifer Identität in ihrem Selbstverhältnis und in ihrem Weltverhältnis von jener Hilfe abhängig zu machen, die in der Gewissheit des Versöhnt-Seins mit Gott selbst besteht. Der Lehrkraft ist es in den Situationen des Unterrichts in evangelischen Kirchengemeinschaften sowie des Religionsunter-

hierzu Wilfried Härle, Religionsunterricht unter pluralistischen Bedingungen. Eine kritische Sicht des Hamburger Modells, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2019; Ders., Religionsunterricht unter pluralistischen Voraussetzungen. Grundlagen und Grundfragen: ZThK 117 (2020), 523–543 (Zitat: 530); sowie Martin Heckel, Neue Formen des Religionsunterrichts ?, in: Ders., Gesammelte Schriften. Bd. VI: Staat, Kirche, Recht, Geschichte, Tübingen: Mohr Siebeck, 2013, 379–418. 104 Es sind womöglich Erzählungen wie das sog. Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) und bildliche Darstellungen wie Max Beckmanns Gemälde „Christus und die Sünderin“ (1917), die in altersgerechter Art und Weise Jesu Christi Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha als Inbegriff des Evangeliums von Gottes versöhnendem Walten nahebringen.

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richts an öffentlichen Schulen zuzumuten, im Unterrichtsgespräch den elementaren Sachverhalt des Offenbar-Werdens offenbarer Wahrheit deutlich zu machen.105 Zum Zweiten schließlich erweist sich die didaktische Kompetenz der Lehrkraft im kirchlichen bzw. im schulischen Unterricht darin, dass sie und wie sie in altersgerechter Weise erschließt, worauf der Christus-Glaube seine Hoffnung zu setzen vermag. Die bildende Kraft der Hoffnung des Christus-Glaubens für den Weg der Person zu reifer Identität knüpft sachgemäß an die unbestreitbare Erfahrung eines unumkehrbaren Richtungssinnes an, die alle Schülerinnen und Schüler an ihrem eigenen Wachsen und Erwachsen-Werden im Vorwärtstreiben dieses unbegrenzten Universums machen. Auf dieser Basis wird verständlich werden, dass unser aller Leben seinen je eigenen Richtungssinn gewinnt durch alle die Entscheidungen und Zielsetzungen, die wir in unserer je eigenen Gegenwart in Kommunikation und Interaktion mit anderen zu treffen haben; wie auch durch das Geschick und das Verhängnis, wie es die Katastrophen der Natur und der Geschichte über uns bringen. Es gilt daher begreiflich zu machen, dass der Richtungssinn des Lebens sowohl ins Glück und in den Erfolg des Gelingens als auch in das Versagen, in das Scheitern und schließlich in Krankheit und Tod führt. Weil dem so ist, wird die didaktische Kompetenz der Lehrkraft Mittel und Wege suchen, das Singuläre der Hoffnung des Christus-Glaubens als Hoffnung auf Gottes vollendendes Walten nahezubringen (s. 4.5). Zu diesem Zwecke kommt es darauf an, den gravierenden Unterschied zu erarbeiten zwischen illusionären bzw. verblendeten Erwartungen an die begrenzte Handlungsmacht des Menschen und der Hoffnung des Christus-Glaubens auf Gott. Diese Hoffnung nämlich lebt in und aus der Zuversicht; und zwar deshalb, weil sie auf Gottes andauernde und ausdauernde Treue zu sich selbst und d. h. zu Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen vertraut. Gottes andauernde und ausdauernde Treue aber zu sich selbst und d. h. zu Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen ist für jede von uns bzw. für jeden von uns real erfahrbar, indem wir uns auf uns selbst besinnen als geschaffen, als erhalten, als für unser Tun und Lassen selbst verantwortlich und als durch Gottes Heiligenden Geist des

105 Vgl. hierzu Konrad Stock, Grundlegung, 91–121: § 4 Das innere Bild Jesu Christi; 134–146: § 5 III. Die Vergewisserung des Bildes Christi. – Hier würde sich im Übrigen die Gelegenheit dazu ergeben, im Unterrichtsgespräch die nach wie vor bestehende grundlegende Differenz zwischen dem römisch-katholischen und dem reformatorischen Verstehen des adiutorium gratiae zum Thema zu machen und diese beiden konfessionellen Gestalten christlicher Lebenslehre mit der Lebenslehre des Islam zu vergleichen, nach welcher der Prophet der einzige Empfänger offenbarer Wahrheit ist. Natürlich bietet das Konzept des „Religionsunterrichts unter pluralistischen Voraussetzungen“ (Wilfried Härle) den Raum, die Lebenslehre des Islam von einer ausgebildeten islamischen Lehrkraft darlegen zu lassen.

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Versöhnt-Seins mit dem schöpferischen Grund und Ursprung unserer selbst gewiss gemacht. In dieser Zuversicht ist eingeschlossen, dass Gottes andauernde und ausdauernde Treue zu sich selbst und d. h. zu Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen jede von uns bzw. jeden von uns in der Ganzheit ihrer bzw. seiner Lebensgeschichte richtet und bewahrt. Die jeweils altersgerechte Erschließung der christlich-religiösen Symbolisierung des absolut-zukünftig Ewigen der Seligkeit jenseits des Todes und durch den Tod hindurch ist eine besondere Herausforderung, der sich die didaktische Kompetenz der Lehrkraft nicht mut- und trostlos entziehen darf. Alles in allem wird die didaktische Reflexion darauf bedacht sein, den Schülerinnen und den Schülern in altersgerechter Art und Weise das „Wesentliche am Christentum“ reformatorischer Herkunft für ihr Lebens-Verstehen unter den „pluralistischen Voraussetzungen“ moderner Gesellschaften gewinnend nahezubringen. In dieser Intention ist es natürlich eingeschlossen, den ethischen Sinn der christlichen Gottesgewissheit in der Situation der entstehenden Weltgesellschaft freizulegen: im Anschluss an und in kritischer Fortschreibung von Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1520). 4.2.2.2

Die Predigt106

Die religiöse Kommunikation des Evangeliums geschieht zum Zweiten in der Kanzelrede, welche die Feier des sonntäglichen Gottesdienstes bzw. die Feier der Hohen Feste des Kirchenjahrs sprachlich und gedanklich zu begleiten und auf die alltägliche praxis pietatis der Teilnehmer zu übertragen hat. Eingebettet in die Liturgie des Gottesdienstes107 , wird sie im Allgemeinen einen Text der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments, wie ihn die Perikopen-Ordnung vorsieht, nicht nur zu rezitieren, sondern auch zu interpretieren haben.108 Ohne dass ich

106 Vgl. zum Folgenden bes.: Wilhelm Gräb, Predigt als Mitteilung des Glaubens. Studien zu einer prinzipiellen Homiletik in praktischer Absicht, Gütersloh: Mohn, 1988; Dietrich Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie (wie Anm. 66), 346–406; Reiner Preul, Die Aktualität der Predigt, in: Ders., Die soziale Gestalt des Glaubens (wie Anm. 71), 269–282; Ders., Die Wirkung der Predigt. Bemerkungen zu einem vernachlässigten Aspekt, ebd. 283–287; Ders., Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 99), 306–310; Wilhelm Engemann, Einführung in die Homiletik, Tübingen [u. a.]: Francke, 2002; Martin Nicol, Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002. 107 Zu dieser Einbettung ist nicht nur der Bezug auf die Schriftlesung und auf das von der feiernden Gemeinde gemeinsam gesprochene Glaubensbekenntnis zu rechnen, sondern auch und vor allem der Bezug auf die Feier der Heiligen Taufe und des Heiligen Abendmahls; dazu 4.2.3. 108 Im Besonderen kommen als Predigt-Texte natürlich auch Lieder des Evangelischen Gesangbuchs in Betracht (vgl. Martin Rössler, Die Liedpredigt. Geschichte einer Predigtgattung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1976). – Nicht unerwähnt seien Schleiermachers Augustana-Predigten (KGA III.2).

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hier auf den Stand der Diskussion in der praktisch-theologischen Subdisziplin der Homiletik eingehen könnte, sehe ich es als meine Aufgabe im vorliegenden Kapitel an, die homiletische Reflexion im Licht der systematischen Besinnung auf das Gewiss-Werden der Wahrheit zu erörtern, die in die Freiheit führt. Erstens: Ebenso wie die didaktische Kompetenz beruht auch die homiletische Kompetenz auf derjenigen theologischen Bildung, zu der das Studium der Theologie anzuleiten hat. Im Unterschied jedoch zu den verschiedenen Situationen des Unterrichts und ihrer expliziten Gesprächskultur handelt es sich bei der Predigt um eine öffentliche Rede bzw. um eine öffentliche Ansprache, die mit den Hörerinnen und den Hörern ein implizites Gespräch zu führen hat. Im Licht der systematischen Besinnung erfordert es die homiletische Kompetenz, zuallererst die Frage zu beantworten, was denn die Sache bzw. das Thema oder der Gegenstand des impliziten Gesprächs sei. Als diese Sache bzw. als dieses Thema oder dieser Gegenstand kommt nicht der vorgeschriebene und rezitierte biblische Text bloß als solcher in Betracht. Wie wir gesehen haben, ist der einzelne biblische Text ein Element eines Prismas: nämlich des kanonischen Offenbarungszeugnisses der ganzen Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments, das ich in seinem harten Kern als das Zeugnis des „versöhnenden Wortes des schöpferischen Wortes Gottes“ verstehe (s. 3.6). Der biblische Text kommt daher in Betracht als schriftliches Werk eines Autors bzw. eines Redaktors oder gar einer Schule, das ursprünglich in den Gottesdiensten der formativen Phase der Christus-Gemeinschaft rezitiert und interpretiert wird. Es bringt als solches jene Wahrheitsgewissheit zur Sprache, von der ein Autor bzw. ein Redaktor oder gar eine Schule kraft der „Ausgießung des Heiligenden Geistes“ erfüllt ist. Sie – diese „Ausgießung“ – stiftet ursprünglich jene Gemeinschaft, die sich im Ritual des Gottesdienstes zu dem dreieinen Gott erhebt, der ihr als das „versöhnende Wort des schöpferischen Wortes“ im Heiligenden Geiste offenbar wird. Nun existiert jene früheste Gemeinschaft und jedes ihrer Glieder in einer soziokulturellen Formation, die von der Struktur und der Dynamik der hochentwickelten Gesellschaften der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne tiefgreifend unterschieden ist. Gleichwohl lässt die Geschichte der Komposition des Kanons klar erkennen, dass der einzelne der Predigt zugrundeliegende Text das Gottesverhältnis der Glieder der Christus-Gemeinschaft prinzipiell in seiner Funktion für deren Welt- bzw. für deren Sozialverhältnis thematisiert.109 Er spricht in jener sozio-

109 Zur Diskussion über die Sozialgeschichte des Urchristentums in ihrem Verhältnis zur Sozialgeschichte des Judentums vgl. den Überblick von Martin Leutzsch, Art. Sozialgeschichte III. Sozialgeschichte des Urchristentums: RGG4 7, 1484–1485.

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kulturellen Formation nicht nur von dem unendlichen Wert (Adolf von Harnack), den jedes Glied des Menschengeschlechts im Angesicht des wahren Wesens Gottes genießt (vgl. 1Kor 6,20); er macht auch jeweils die ethische Orientierungskraft kenntlich, die der Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums für den „vernünftigen Gottesdienst“ (Röm 12,2) im Alltag der Kultur einer Gesellschaft innewohnt. Es ist mithin die Sache bzw. das Thema oder der Gegenstand des impliziten Gesprächs im Geschehen der Predigt, darzulegen, in welcher Weise sich dieser Zusammenhang von Gottesverhältnis und Welt- bzw. Sozialverhältnis der Person auf die Lebenssituation der Glieder der feiernden Gemeinde in den hochentwickelten Gesellschaften der euro-amerikanischen Moderne übertragen lässt. Eine solche Darlegung setzt voraus bzw. macht es erforderlich, dass dem Prediger bzw. der Predigerin ein valides und bewährtes Wissen von der Situation der ChristusGemeinschaft der Kirche und der Kirchen im Typ der hochentwickelten Gesellschaften der euro-amerikanischen Moderne zu Gebote steht; von ihr nämlich wird die Lebenssituation der Glieder der feiernden Gemeinde auf jeweils besondere Art und Weise bestimmt sein. Ich hatte mich schon in der „Einführung“ ins Kapitel 4 darum bemüht, die Situation der Kirche in der Gesellschaft des modernen Typs richtig zu charakterisieren. Die Predigt wird daher – grundsätzlich gesprochen – bestrebt sein, die mehr oder weniger erkennbare reale Lebenssituation der individuellen Glieder der feiernden Gemeinde im größeren Kontext jener epochalen Situation zu beachten, wie sie die gegenwärtige Existenz der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen in ihren verschiedenen konfessionellen Gestalten bestimmt. Sie wird das Problem bzw. die Gefahr ansprechen, dass die religiöse Kommunikation des Evangeliums als Privatsache angesehen wird, von der in allen öffentlichen Belangen einer Gesellschaft tunlichst geschwiegen wird; und sie wird – wie klug, wie waghalsig, wie einfühlsam auch immer – zeigen, wie jedes einzelne Glied der feiernden Gemeinde den harten Kern des Evangeliums in seiner jeweils individuellen Lebenssituation sich vergegenwärtigen kann. Die Predigt nimmt die christliche Existenz ernst als öffentliche Existenz, die wegen und aufgrund ihrer immer wieder angefochtenen Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums ethisch zu orientieren vermag. Insofern bringt die Predigt die Funktion des Christus-Glaubens zur Geltung, und zwar in zweifacher Weise: als Funktion für die individuelle Identität der Person und als Funktion für ihre soziale Identität im Ganzen der Kultur der Gesellschaft, in der die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen nun einmal existiert. Zweitens: Die Predigt wird die Funktion des Christus-Glaubens für die individuelle Identität der Person dadurch zur Geltung bringen, dass sie die Glieder der feiernden Gemeinde einlädt, sich solcher früheren Lebenssituationen zu erinnern, in denen das „versöhnende Wort des schöpferischen Wortes Gottes“ zu sehen und zu verstehen war. Sie wird den Teilnehmern eines Gottesdienstes Raum und Zeit

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geben, in die Momente ihrer je eigenen Lebensgeschichte einzukehren, in denen ihnen Aspekte der Wahrheit des Evangeliums von Gottes wahrer Liebe ermutigend, tröstend, erschütternd und befreiend aufgeleuchtet waren. Also: in die Momente einzukehren, in denen sich die Wahrheit des Evangeliums von Gottes wahrer Liebe für sie selbst bewährte. Dies gegenwärtige Erinnern solcher Momente ist deshalb so bedeutsam, weil es sich kontrafaktisch auf das je gegenwärtige Erinnern der Angst, der Sorge, des Schuldbewusstseins, der Trauer oder des Entsetzens bezieht. Es lässt aus diesem Grunde die Verheißung fassen, die sich im Aufleuchten der Wahrheit des Evangeliums von Gottes wahrer Liebe ereignet; und es ist die in früheren Lebenssituationen erlebte Verheißung, die dies Ereignis auch in künftigen Lebenssituationen erbitten und erhoffen lässt. Indem die Predigt zur Besinnung auf die intime Nähe zwischen erinnerter Gewissheit und erhoffter Gewissheit führt, dient sie der Selbstvergegenwärtigung des göttlichen Wesens und seines In-Gemeinschaft-sein-Wollens je mit mir. Der Intention der Predigt, die Funktion des Christus-Glaubens für die individuelle Identität der Person zur Geltung zu bringen, liegt mithin die prinzipielle reformatorische Einsicht zugrunde, dass die religiöse Kommunikation des Evangeliums nicht etwa nur den Gegenstand, sondern zugleich den Grund des ChristusGlaubens zu zeigen habe. Sie stiftet nicht das christliche Sich-aus-Gott-Verstehen und damit das christliche Verstehen von Lebenssinn im Ganzen seiner Sicht des Sinnes von Sein, sondern sie stellt es dar.110 Drittens: Die Predigt wird die Funktion des Christus-Glaubens aber auch dadurch zur Geltung bringen, dass sie zum Nachdenken über die Wohlordnung der Kultur der Gesellschaft anregt, in der die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen nun einmal existiert. Sie wird die Frage aufwerfen, ob die ChristusGemeinschaft der Kirche und der Kirchen einen Auftrag hinsichtlich der Wohlordnung der Kultur ihrer Gesellschaft hat und wie sie diesen Auftrag gegebenenfalls erfüllt. Auch wenn die Predigt diese Frage nur wird anreißen können, darf sie diese Frage doch auf keinen Fall unterlassen; denn die soziale Identität der Kultur der Gesellschaft, wie sie sich in der Öffentlichen Meinung und ihren Meinungsmachern in den Medien der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens präsentiert, wird

110 Vgl. hierzu o. 4.2.1. – Wie ich an dieser Stelle zeigte, meint der Begriff der „Darstellung“ bzw. der „Selbstdarstellung“ keineswegs allein die individuelle Artikulation des christlich-frommen Selbstbewusstseins bloß als solchen; wenn diese individuelle Artikulation das „Ich“ des Sprechers zur Sprache bringt, so ist dies „Ich“ in dem typologischen Sinne gemeint, den Luthers ebenso wie Paul Gerhardts Lieddichtungen erkennen lassen. Just deshalb wurden sie und werden sie bis heute in den Gemeinden rezipiert.

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de facto mitbestimmt und mitgeprägt bzw. auch erduldet und erlitten von allen, die die Funktion des Christus-Glaubens für ihre individuelle Identität erleben. Aus diesem Grund gehört es wesentlich zur religiösen Kommunikation des Evangeliums, auch in der Predigt eine Verständigung darüber anzuregen, was die ChristusGemeinschaft der Kirche und der Kirchen von der Wohlordnung der Kultur ihrer jeweiligen Gesellschaft erwartet und wie sie ihre Stimme im Gewirr der Öffentlichen Meinung deutlich macht.111 4.2.2.3

Die Seelsorge112

Die religiöse Kommunikation des Evangeliums geschieht zum Dritten in den verschiedenen Situationen des seelsorglichen Gesprächs. Indem ich diese ebenso schöne wie anspruchsvolle Aufgabe des pastoralen Berufs bedenke, möchte ich im Kontext meiner systematischen Besinnung zur Diskussion über die poimenische Kompetenz beitragen. Die Anlässe eines seelsorglichen Gesprächs sind in der Praxis des pastoralen Berufs vielfältiger Natur. Häufig werden es die sog. „Amtshandlungen“ der Konfirmation, der Trauung und der Bestattung sein, die die Gelegenheit zum seelsorglichen Gespräch bieten. Darüber hinaus ist es wohl der Besuch anlässlich eines runden Geburtstags bzw. einer Silbernen oder einer Goldenen Hochzeit, bei dem der Rückblick auf die Phase eines Lebenszyklus die Mitte eines seelsorglichen Gesprächs ausmachen mag. Feste Positionen für die Seelsorge im Krankenhaus, im

111 Vgl. hierzu o. 4.2.1 zum Thema der politischen Predigt. – Ich bin mir dessen vollauf bewusst, dass diese meine Aussagen über die Wirkung der Predigt für die individuelle und für die soziale Identität des Christus-Glaubens namentlich im Gespräch mit der Befreiungstheologie gründlich zu erweitern und zu konkretisieren sind. Die Konzeption des vorliegenden dogmatischen Teils II einer Darstellung Systematischer Theologie unter dem Titel Durch Wahrheit zur Freiheit hat zur Folge, dass das Gespräch mit der Befreiungstheologie mit den zentralen Themen einer Fundamentaltheologie einzusetzen hat; vgl. hierzu Vítor Westhelle, Art. Befreiungstheologie II. Systematisch 1. Fundamentaltheologisch: RGG4 1, 1210–1211. 112 Vgl. zum Folgenden bes.: Joachim Scharfenberg, Seelsorge als Gespräch. Zur Theorie und Praxis der seelsorgerlichen Gesprächsführung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 4 1987; Dietrich Stollberg, Wahrnehmen und Annehmen. Seelsorge in Theorie und Praxis, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1978; Eilert Herms, Phantasie und Realität in der seelsorgerlichen Beratung, jetzt in: Ders., Theorie für die Praxis – Beiträge zur Theologie, München: Kaiser, 1982, 313–336; Reiner Preul, Kirchentheorie (wie Anm. 83), 242–267: § 12 Kirche und Lebensgeschichte; Isolde Karle, Seelsorge in der Moderne. Eine Kritik der psychoanalytisch orientierten Seelsorgelehre, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1996; Gerhard Ebeling, Luthers Seelsorge, Tübingen: Mohr Siebeck, 1997; Eberhard Hauschildt, Alltagsseelsorge: Eine sozio-linguistische Analyse des pastoralen Geburtstagsbesuchs, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1996 (APTh; 29); Sibylle Rolf, Vom Sinn zum Trost. Überlegungen zur Seelsorge im Horizont einer relationalen Ontologie, Münster: Lit, 2003.

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Alten- und Pflegeheim, in den Organisationen der Polizei und des Militärs oder in der Justizvollzugsanstalt stellen die Chance dafür bereit, das Gespräch über die ernsten Fragen des eigenen Lebens zu suchen; auch die stets erreichbare Telefonseelsorge ist ein vielgefragter Teil der Seelsorge als Institution. Schließlich ist zu erwähnen, dass es die katastrophalen Ereignisse des Naturgeschehens und die ruchlosen Schandtaten der Amok-Tat und des Terrors sind, die fassungslose und schockierte Menschen dringend nach Hilfe, nach Begleitung und nach Trost verlangen lassen. Im Sinne des Begriffs der cura animarum specialis kommt es zum seelsorglichen Gespräch an den glücklichen Höhepunkten ebenso wie in den schwer erträglichen Krisensituationen der Lebensgeschichte. Für die gegenwärtige Praxis der Seelsorge ist es bemerkenswert, dass sie sich seit den Anfängen der Disziplin der Praktischen Theologie an wissenschaftlichen Entwürfen der Konzeption und der Methodenlehre orientiert. Ihre jetzige theoretische Lage ist bestimmt von einer erheblichen Pluralität der Seelsorgelehre, die sich in der Pluralität der Methoden und der Ausbildungswege niederschlägt.113 Sie intendieren nicht nur die poimenische Kompetenz derer, die einen speziellen seelsorglichen Beruf ausüben, sondern auch die poimenische Kompetenz in der Praxis eines Pfarramts überhaupt. Wie die kurze Erwähnung der verschiedenen Anlässe zu seelsorglichen Gesprächen zeigt, begegnen in der seelsorglichen Situation auch Mitglieder der Gesellschaft bzw. der Kultur, die aus mannigfachen Gründen der religiösen Kommunikation des Evangeliums entfremdet und oder ihr gegenüber geradezu sprachlos sind. Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir diese Gründe in den massiven Trends zur konsequenten Privatisierung der religiösen bzw. der weltanschaulichen Überzeugung in den Gesellschaften des modernen Typs erblicken. Diese Trends erzeugen immer wieder das Verstummen. Das vermutlich von Martin Luther geprägte deutsche Wort Seelsorge weist zurück auf jene philosophische Praxis, die Platon die ἐπιμέλεια τῆς ψυχῆς genannt hatte (vgl. Platon, Phaidon 107c2–4). In und seit der formativen Phase der ChristusGemeinschaft der Kirche und der Kirchen wird diese Praxis dadurch revidiert und transformiert, dass der Christus-Glaube selbst als der lebenslange therapeutische Prozess verstanden wird, der sich im Durchgang durch den Tod in Gottes ewiges Leben vollendet. War die Praxis der Seelsorge und war die Theorie dieser Praxis in der Geschichte der Christus-Gemeinschaft integriert in die verschiedenen Formen der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche, so etablieren die Begründung der verschiedenen tiefenpsychologischen Schulen und deren Praxis für die kirchliche Seelsorge eine breitenwirksame Konkurrenz. Auf sie reagiert

113 Vgl. hierzu den informativen Überblick von Eberhard Hauschildt, Art. Seelsorgelehre: TRE 31, 54–74 (Lit.!); ferner: Jürgen Ziemer, Art. Pastoralpsychologie: RGG4 6, 993–996; Uta Pohl-Patalong, Art. Seelsorge III. Konzeptionen und Methoden: RGG4 7, 1114–1116.

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nicht nur das „homiletische Paradigma“, sondern auch das „therapeutische Paradigma“ der Seelsorgelehre. Dessen kritische Weiterentwicklung „auf dem Weg zu einem Paradigma interaktiver Seelsorge“, die „durch Interpretation geschieht“114 , bietet den willkommenen Anlass dafür, im Rahmen einer Lehre von der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche einige Gesichtspunkte systematischer Art zu entwickeln. Erstens: Gesellschaften bzw. Kulturen des modernen Typs haben eine Vielzahl von Formen der Beratung entwickelt, in denen Menschen in kritischen Lebenssituationen Hilfe suchen und zu finden hoffen. In ihrem weiten Spektrum kommt auch das seelsorgliche Gespräch vor. Wer immer sich dazu bewogen findet, sich in das setting eines seelsorglichen Gesprächs zu begeben, begegnet darin einer Person in der Wahrnehmung eines pastoralen Berufs, von der er sich bzw. von der sie sich die Klärung oder gar die Lösung eines Leidensdrucks erwartet, der das Leben hemmt, gefährdet oder gar unerträglich macht. Im setting eines seelsorglichen Gesprächs kommuniziert jemand, der seine Lebenssituation und damit seine individuelle Identität als beängstigend interpretiert, mit jemandem, dessen individuelle Identität bestimmt wird von poimenischer Identität. Solche poimenische Identität erweist sich darin, dass die Seelsorgerin bzw. dass der Seelsorger sich interpretierend einlässt auf die Interpretation einer Lebenssituation im Gespräch, das nicht etwa nur sprachlich, sondern auch übersprachlich in einem leibhaften Sich-gegenüber-Sein verläuft. Somit ist die Kommunikation des seelsorglichen Gesprächs einerseits symmetrisch, insofern sie auf der Basis vorbehaltloser Annahme und Anerkennung beruht; andererseits aber ist sie notwendigerweise asymmetrisch, insofern der Seelsorger bzw. die Seelsorgerin in der Wahrnehmung eines pastoralen Berufs agiert und deshalb mehr oder weniger geschickt dem Leitbild „eines wirksamen Interpreten der Situation“ wird folgen wollen.115 Das Leitbild „eines wirksamen Interpreten der Situation“ im seelsorglichen Gespräch geht nun davon aus, dass die religiöse Kommunikation des Evangeliums auch und gerade auch in den kritischen Lebenssituationen eines Menschen therapeutische Funktion entfaltet. Das erfordert die Vertrautheit eines Seelsorgers bzw. einer Seelsorgerin mit dem Heilsamen des Christus-Glaubens, der als solcher alle Liebe, alle Hoffnung und alle Selbstverantwortung vor Gott erzeugt; würde er bzw. würde sie dies Heilsame des Christus-Glaubens nicht durch Gottes Heiligenden

114 Vgl. Eberhard Hauschildt, Art. Seelsorgelehre (wie Anm. 113), 69.70. 115 Vgl. hierzu Eilert Herms, Pastorale Beratung als Vollzug theologischer Anthropologie, jetzt in: Ders., Theorie für die Praxis – Beiträge zur Theologie (wie Anm. 112), 295.

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

Geist täglich neu an sich selbst für seine bzw. für ihre individuelle Identität erfahren, wäre es mit seiner bzw. mit ihrer poimenischen Kompetenz nicht weit her. Zweitens: Die Vertrautheit einer Seelsorgerin bzw. eines Seelsorgers mit dem Heilsamen des Christus-Glaubens befruchtet die poimenische Identität – die Wahrnehmung des seelsorglichen Gesprächs als Aufgabe des Berufs –, weil sie die hilfesuchende Person im Licht der biblischen Bestimmung der conditio humana – der uns Menschen allen gemeinsamen Verfassung des geschaffenen, des leibhaften PersonSeins – sehen und verstehen lässt. Die Kenntnis dieser biblischen Erkenntnis gehört im Ganzen einer theologischen Bildung zum Berufswissen der Seelsorgerin bzw. des Seelsorgers. Aus diesem Grunde suche ich zu klären, welches Phänomen wir mit dem Wort „Seele“ meinen (s. 2.4.2.1).116 Nach einer langen komplizierten Wort- und Begriffsgeschichte verweist das Lexem „Seele“ ganz allgemein auf das „Sich-gegenwärtig-Sein“ des leibhaften PersonSeins, das wir als die begriffliche Bedeutung der biblischen Metapher „Bild Gottes“ erkannten. Ich war bestrebt zu zeigen, dass das „Sich-gegenwärtig-Sein“ des leibhaften Person-Seins diejenige uns Menschen allen schöpferisch gewährte Bedingung ist, unter der wir uns in einer naturalen Umwelt bzw. einer sozialen Mitwelt erleben; und zwar in einem Wechselverhältnis mit Anderen unseresgleichen, in welchem wir im Medium einer gesprochenen Sprache sowohl von Anderen bestimmt werden als auch Andere bestimmen. Diese uns Menschen allen schöpferische gewährte Bedingung wird m. E. immer noch am Treffendsten von einer Theorie der Subjektivität erfasst, die auf der Linie Friedrich Schleiermachers das vorreflexive „Gefühl des Selbst-Seins“ (Eilert Herms) in den Blick bekommt. Es ist als solches relational verfasst: Es existiert in der Geschichte der Wechselverhältnisse mit Anderen, die ihrerseits durch das vorreflexive „Gefühl des Selbst-Seins“ ausgezeichnet sind; und es kann ebenso wenig wie die Anderen umhin, sich in dieser Eigenart von einem wie auch immer anzusprechenden Grund und Ursprung seiner selbst als dem Woher allen Geschehens schlechthin zu verstehen. Gewährt uns das „Gefühl des Selbst-Seins“ in der Geschichte der Wechselverhältnisse mit Anderen das relative und begrenzte Frei-Sein, so fragt es sich, ob wir dem ursprünglichen Grund des relativen und begrenzten Frei-Seins die ihm gebührende Achtung, Ehre und Liebe tatsächlich erweisen.

116 Vgl. zum Folgenden bes.: Konrad Stock, Art. Seele VI. Theologisch: TRE 30, 759–773 (Lit.); Jean Zumstein/Johannes Zachhuber/Christian Link/Elisabeth Naurath, Art. Seele III. Christentum: RGG4  7, 1100–1106; Christof Gestrich, Die Seele des Menschen und die Hoffnung der Christen. Evangelische Eschatologie vor der Erneuerung, Frankfurt a.M.: Hansisches Druck- und Verlagshaus, 2009; Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte (wie Anm. 50), 211–232: Von der Seele zum Selbst; Gerhard Sauter, Beseeltes Alter. Über Hoffnung und Zuversicht im Spätherbst des Lebens, Gütersloher Verlagshaus: Gütersloh, 2021, bes. 56-81.

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Wenn wir uns auf dieser Linie über das Phänomen verständigen, welches das altehrwürdige Lexem „Seele“ meint, hat das für die praktisch-theologische Seelsorgelehre und für die Praxis der pastoralen Seelsorge zwei wichtige Konsequenzen: Zum einen: Das vorreflexive „Gefühl des Selbst-Seins“ gibt, wie mir scheint, die angemessene Basis für die tiefenpsychologische Unterscheidung zwischen „Unbewusstem“ und „Bewusstem“ her. Diese Unterscheidung macht faktisch Gebrauch von jenem zeitlichen Verstehen des „Gefühls des Selbst-Seins“ im Sinne des „Sichgegenwärtig-Seins“ der leibhaften Person, die in ihrem jeweiligen Jetzt und Hier Mögliches wirklich werden zu lassen sich entscheidet; und zwar mit Bewusstsein entscheidet. In diesem ihrem Sich-Entscheiden jeweils hier und jetzt sind ihr nun allerdings in der Erinnerung alle die früheren Szenen der Lebensgeschichte präsent, in denen sie durch ihr Entscheiden Mögliches wirklich werden ließ oder aber das Wirklich-Werden des Möglichen gegen ihren Willen und unter Zwang erlitt. Manche dieser selbst gewählten oder selbst erlittenen Entscheidungen sind uns im jeweils gegenwärtigen Moment der Lebensgeschichte mehr oder weniger in der Erinnerung präsent. Manche dieser selbst gewählten oder selbst erlittenen Entscheidungen sind uns hingegen in der Erinnerung nicht präsent und dennoch wirksam. Sie sind uns in der Erinnerung nicht präsent, weil sie womöglich schmerzlich oder beschämend, empörend oder erniedrigend sind. Um es mit Sigmund Freud zu sagen: sie sind verdrängt. Indem die Seelsorgelehre auf dieser Linie zwischen den unbewussten und den bewussten Erinnerungen im jeweils gegenwärtigen Moment der Lebensgeschichte unterscheidet, gewinnt sie – wie mir scheint – die angemessene Anleitung zur Praxis der Seelsorge; jedenfalls für alle die Fälle, die nicht der psychotherapeutischen bzw. der psychiatrischen Behandlung bedürftig sind.117 Zum andern: Im seelsorglichen Gespräch werden emotive Empfindungen und Stimmungen zur Sprache kommen, die eine hilfesuchende Person in ihrer kritischen Lebenssituation bedrängen. Sie werden von der Klage über eine unerwartete Krankheit oder über den frühen Tod eines allernächsten Menschen bis zum Eingestehen der Scham und der Selbstvorwürfe angesichts eigener schwerer Verfehlungen reichen. Im Licht der biblischen Einsicht in die uns Menschen allen gemeinsame Verfassung des geschaffenen Person-Seins wird der Seelsorger bzw. wird die Seelsorgerin darauf bedacht sein zu vermitteln, dass alle diese Varianten einer schweren Lebenshemmung das relative und begrenzte Frei-Sein der Person nicht aufheben; er wird bzw. sie wird im Gespräch bewirken wollen, dass die hilfesuchende Person die Spielräume ihres relativen und begrenzten Frei-Seins entdeckt. Er wird bzw. sie wird

117 Es gehört zur poimenischen Kompetenz, den Zeitpunkt zu erkennen, an dem das seelsorgliche Gespräch in die psychotherapeutische bzw. in die psychiatrische Behandlung übergehen muss; wie z. B. in den Fällen der erkennbaren Neigung zum Suizid, der schweren Depression oder der Schizophrenie.

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

zugleich und darüber hinaus versuchen wollen, der hilfesuchenden Person die unerschütterliche Gegenwart Gottes – des allumfassenden schöpferischen Grundes ihrer selbst und seines In-Gemeinschaft-sein-Wollens – in ihrem selbstbewusst-freien Leben auch in der kritischen Lebenssituation im Hier und Jetzt zu eröffnen. Jeder gelingende Versuch dieser Art zehrt von der Fähigkeit, die Transzendenz des allumfassenden schöpferischen Grundes und seines In Gemeinschaft-sein-Wollens von abstrakten bzw. von in sich widersprüchlichen und deshalb sinnlosen Sichtweisen des Sinnes von Sein abzugrenzen. Drittens: Der Impuls, die Chance eines seelsorglichen Gesprächs wahrzunehmen, zeugt angesichts einer kritischen Lebenssituation vom unausweichlichen Interesse an der Sorge für sich. Nun ist das uns Menschen allen gemeinsame Phänomen, welches das altehrwürdige deutsche Lexem „Seele“ meint, dann und nur dann richtig verstanden, wenn das jeweils individuelle Selbstverhältnis der Person in seinen Relationen zu Anderen in ihrem jeweils individuellen Selbstverhältnis in einer sozialen Formation und zugleich in seinem Sein vom transzendenten Grunde alles Seienden her gesehen wird. Dem unausweichlichen Interesse an der Sorge für sich kann das seelsorgliche Gespräch helfen, indem es die jeweils jetzige kritische Lebenssituation einzuordnen sucht in das Gefüge dieser Relationen. Was sich im Laufe des Gesprächs ereignen kann, ist wohl am besten mit dem deutschen Lexem Trost zu erfassen.118 Nach dem Grimm‘schen Wörterbuch bedeutet „Trost“ ursprünglich soviel wie „Festigkeit“ (des Kernholzes), „Rat“ und „Hilfe“ (DWb 9,1,2, 902). Wer Trost erwartet, erwartet demnach in einer wie auch immer erschütternden Lebenssituation einen Halt: ein Gehalten-Werden und womöglich ein Gehalten-Bleiben. Deshalb ist im Rahmen der Besinnung auf die religiöse Kommunikation des Evangeliums die Frage am Platz, worin im weiten Spektrum der Beratungsformen denn der Halt bestehe, der sich im seelsorglichen Gespräch ereignen kann. Darauf antworte ich: Im seelsorglichen Gespräch kann sich der Halt des Trostes ereignen, wenn der Seelsorger bzw. wenn die Seelsorgerin die Aufmerksamkeit auf die Anderen zu richten versteht, von denen ein hilfesuchender Mensch Beistand erfährt. Auch wenn ein Beistand nicht imstande ist, ein fremdes Leid, eine fremde Trauer, eine fremde Scham oder eine fremde Selbstanklage zu übernehmen, wird er doch in einem gewiss begrenzten Sinne Mit-Leid bzw. Teil-Nahme zum Ausdruck bringen. Er lässt sich von der Sorge für sich berühren; und es sind diese mannigfachen

118 Vgl. zum Folgenden bes.: Robert Leuenberger, Trost im Verständnis des christlichen Glaubens, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft. Teilband 10, Freiburg [u. a.]: Herder, 1980, 127–138; Konrad Stock, Sprechen mit Leidenden: EvErz 36 (1984), 544–554; Günter Stemberger/Eike Kohler, Art. Trost I.–III: TRE 34, 143–153 (Lit.); Reiner Strunk, Wer spricht von Trost. Entdeckungen in Bibel und Literatur, Stuttgart: Evang. Verlag, 2020 (Lit.).

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Zeichen der Berührung, die einer hilfesuchenden Person in ihrer erschütternden Lebenssituation das Gefühl geben, gehalten zu werden und womöglich gehalten zu bleiben. Die Seelsorgerin bzw. der Seelsorger wird darauf bedacht sein, das Trösten-Wollen und das Trösten-Können der Anderen ins Spiel zu bringen.119 Der Halt des Trostes im seelsorglichen Gespräch wird sich zugleich und darüber hinaus ereignen, wenn es gelingt, der individuellen Identität des hilfesuchenden Menschen den Blick für jenen allumfassenden Grund zu öffnen, von dessen Wollen und Walten die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche in allen ihren Medien Zeugnis gibt. Aus dessen schöpferischem Wollen und Walten geht schon das schiere Dasein unseres je individuellen leibhaften Person-Seins in diesem ungeheuren Universum und in dessen unumkehrbarem Richtungssinn hervor; und indem der Seelsorger bzw. die Seelsorgerin ebenso deutlich wie behutsam die Sorge Gottes, des allumfassenden Grundes des Geschehens der Welt und seiner Zielbestimmung, anzusprechen wagt, weist er hin bzw. weist sie hin auf jenen Halt, der letztlich auch und gerade in der Grenzsituation des Sterbens im Medium des mitmenschlichen Trösten-Wollens und Trösten-Könnens Trost gewährt. Die vielgestaltige Zeichensprache des mitmenschlichen Trösten-Wollens und Trösten-Könnens vermag Halt zu geben, weil sie und sofern sie den Grundaffekt des Hoffens evoziert, der erstlich und letztlich vom „lebendigen Gott“ (1Tim 4,10), vom „Gott der Geduld und des Trostes“ (Röm 15,5) im Medium des Heiligenden Geistes selbst gegeben wird (s. 4.3.3).120 Er wird auf fundamentale Weise gegeben im Sakrament der Heiligen Taufe und in dessen lebenslanger Aneignung, in der wir seiner Tragweite eingedenk bleiben. Alles mitmenschliche Trösten-Wollen und Trösten-Können im seelsorglichen Gespräch tut gut daran, an den Empfang dieses Sakraments zu erinnern (s. 4.2.3.1).121 4.2.2.4

Fazit

Wer immer in der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche durch Gottes Heiligenden Geist an der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens Anteil hat, führt das Leben in dem Licht einer ganz bestimmten und besonderen Sicht des Sinnes von Sein. Diese Sicht – so wie sie in den Ereignissen des Dritten Tages endgültig offenbar und daraufhin sprachlich und existentiell bezeugt wurde – lässt alle, denen sie sich als wahr und deshalb als vertrauenswürdig erschließt,

119 Dass und wie uns das Trösten-Wollen und Trösten-Können nicht nur in leibhaften Gesprächssituationen, sondern auch im lesenden Umgang mit trösten-wollenden und trösten-könnenden Texten begegnet, zeigt eindringlich Reiner Strunk, Wer spricht von Trost (wie Anm. 118). 120 Daher sagt Reiner Strunk, Wer spricht von Trost (wie Anm. 118), 177, mit Recht: „ohne Wahrheit gibt es keinen Trost“. 121 Vgl. hierzu die wichtigen Ausführungen von Wolfhart Pannenberg, STh III, 303–306.

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

das Reale ihres eigenen Lebens in einer naturalen Umwelt bzw. in einer sozialen Mitwelt neu verstehen: nämlich als das Leben in der konsequenten lebenslangen Umkehr aus den destruktiven Abhängigkeiten des „In-der-Sünde-Seins“ hin zu der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit dem Wollen und Walten des dreieinen Gottes. Sie ist es, die Gottes Heiligender Geist als Höchstes Gut erleben und erstreben lässt, indem er das mediale Gefüge der religiösen Kommunikation des Evangeliums für unsere Herzen und Gewissen verifiziert: „Eia, so ist es!“ In diesem ganzen Abschnitt: „‚Das Haupt des Leibes’ (Kol 1,18)“ bin ich bestrebt, das mediale Gefüge der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche von diesem Grundverständnis des Christ-Seins aus in reformatorischer Perspektive zu betrachten. Meine Betrachtung geht entschieden aus von der Beschreibung des Gottesdienstes im Kirchenjahr, weil die regelmäßige Feier des Evangeliums in einer versammelten Gemeinde nach dem gemeinsamen Selbstverständnis der Christenheit das Zentrum bildet, in welchem ihre Glieder sich des geschichtlichen Ursprungs ihres Lebens in der Umkehr in den mannigfachen Konstellationen ihrer privaten ebenso wie ihrer öffentlichen Existenz vergewissern. Sowohl die typischen Formen des Unterrichts als auch die gottesdienstliche Predigt als auch die Seelsorge wollen je auf ihre Weise eben dieser Vergewisserung dienen, die in der gottesdienstlichen Feier im Kreislauf eines Kirchenjahrs ihr Zentrum hat. Sie dienen dieser Vergewisserung, indem sie auf die Lebenszeugnisse der frühesten Christus-Gemeinschaften rekurrieren, die uns von ihrem Verstehen des Christus-Geschehens Kunde geben.122 Sie praktizieren deshalb sinnvoller- und notwendigerweise eine hermeneutische Methode, die die ganze Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testaments als die denkwürdige Hinterlassenschaft erklärt, die auf das jeweils jetzige Leben in den Krisen und in den Konflikten der eben jetzt bevorstehenden Epoche einer entstehenden Weltgesellschaft zu übertragen ist. Eine Bibelwissenschaft, die sich begnügen würde mit der Exegese Heiliger Texte bloß als solcher, würde für die jeweils jetzige Feier des Gottesdienstes im Leben der jeweils jetzigen Christus-Gemeinschaft in der ökumenischen Weite der jetzigen Christenheit belanglos bleiben. Nachdem die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Gottesdienst im Kreislauf eines Kirchenjahrs ihr Zentrum hat, vollzieht sie sich nicht etwa nur in sprachlichen Handlungen. Sie geschieht vielmehr auch und zugleich in den übersprachlichen Handlungen, für die wir seit alters den Begriff des Sakraments gebrauchen. Dem Sinn und der Bedeutung der Sakramente der Heiligen Taufe und des Heiligen Abendmahls in ihrem Verhältnis zu den sprachlichen Handlungen der Verkündigung wende ich mich nunmehr zu.

122 Vgl. hierzu Konrad Stock, STh I, 488–566.

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4.2.3

Die Feier der Sakramente123

Von allem Anfang an begeht die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) ihr Gründen in den Ereignissen des Dritten Tages im Zusammenspiel des sprachlich formulierten Eingedenkens und der übersprachlich praktizierten Rituale der Heiligen Taufe und des Heiligen Abendmahls. Das Thema dieses ihres Zusammenspiels ist ein und dasselbe: nämlich die Bildung jener Gottesgewissheit, die in Treue zum Gott-Verstehen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft und zugleich in kritischem Respekt vor philosophischem Gottes-Denken vertraut ist mit dem Wesentlichen des schöpferischen Grundes und Ursprungs unserer selbst in dieser Welt im Werden. Von diesem ihrem Gründen an und wegen dieses ihres Gründens ist es den Gliedern der Christus-Gemeinschaft als wahr gewiss, dass sie das Leben in der Freiheit, die uns Menschen allen gewährt und zugemutet ist, letztlich der Selbsterkenntnis jener befreienden Wahrheit zu danken haben, die in den Ereignissen des Dritten Tages offenbar wird. Sie sind es, die die christliche Sicht des Sinnes von Sein erschließen. Tief in der Religionsgeschichte verankert, sind die Rituale der Heiligen Taufe und des Heiligen Abendmahls unbeliebige Zeichenhandlungen, die nach ihrer jeweiligen Agende der sprachlichen bzw. der gedanklichen Interpretation fähig und bedürftig sind. Ihrem Vollzug in einer gottesdienstlichen Feier eignet der Charakter eines eminenten symbolischen Zeichens, der sich von anderen symbolischen Zeichen – wie z. B. von den Gesten der Begrüßung, von den Ausdrucksformen der erotischen Liebe und von der Gebärdensprache des Hasses und der Wut – nachdrücklich unterscheidet. Ich nenne diese symbolischen Zeichen deshalb eminent, weil sie dem christlich-frommen Selbstbewusstsein der feiernden Gemeinde Gottes versöhnendes Walten leibhaft zu erleben geben. Gottes versöhnendes Walten wird in ihnen gegenwärtig in der Zeichenform der Reinigung des Herzens und des Gewissens, die als solche in die Zeichenform des Friedens der Gemeinschaft des Neuen Bundes (vgl. Jer 31,31; 1Kor 11,25) führt. Thomas von Aquino hat daher mit Recht das Wort „Sakrament“ im Sinne des „Zeichen-Seins eines heiligen Seienden“ verstanden.124 Wenn ich im Folgenden auf die Feier der Sakramente im Sinn der reformatorischen Prägnanz des Christus-Glaubens achte, so bin ich mir dessen bewusst, dass

123 Vgl. Zum Folgenden bes.: CA XIII; ApolCA XIII; Jean Calvin, Inst. IV, 14–19; Gunther Wenz, Einführung in die evangelische Sakramentenlehre, Darmstadt: Wiss. Buchges., 1988; Gunther Wenz/Henning Schröer, Art. Sakramente I.–III.: TRE 29, 663–703 (Lit.); Franz-Josef Nocke, Sakramententheologie, Düsseldorf: Patmos-Verl., 1997; Ulrich Kühn, Sakramente, Gütersloh: Mohn, 2 1990 (HST; 11); Wolfhart Pannenberg, STh III, 369–404; Eilert Herms, STh (Bd. 1), 953–956. 124 Thomas von Aquino, STh III q 60 a 2c.

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

die Kirche unter dem Bischof von Rom ebenso wie die orthodoxen Kirchengemeinschaften ihrer liturgischen Praxis einen weiten Begriff der sakramentalen Feier zugrunde legen. Diese ihr liturgische Praxis beruht letztlich auf der Glaubenstradition, die die Gültigkeit der Feier der Sakramente an das Sakrament der Weihe bindet und auf diese Weise die Vergegenwärtigung des versöhnenden Waltens des Schöpfers für die feiernde Gemeinde exklusiv der gottgeweihten Person des Bischofs bzw. des Priesters zuerkennt. Meine Darstellung will demgegenüber zeigen, dass die reformatorische Form der Feier der Sakramente letztlich auf dem christlich-frommen Selbstbewusstsein beruht, des versöhnenden Waltens Gottes des Schöpfers im Christus Jesus allein durch Gottes Heiligenden Geist gewiss zu werden und gewiss zu bleiben. Sie bedarf aus diesem Grunde nicht des Sakraments der Weihe, sondern nur und exklusiv der Berufung in das Amt der Kirchen- und Gemeindeleitung, die als solche das Privileg des Allgemeinen Priestertums und seiner Verantwortung für die Ordnung einer kirchlich organisierten Christus-Gemeinschaft ist (s. 4.4.1). 4.2.3.1

Die Heilige Taufe125

In der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche werden wir kraft der „Ausgießung des Heiligenden Geistes“ der Gegenwart des Christus Jesus gewiss, die uns in die Gottesgewissheit des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe und damit in die selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit Gott selbst versetzt. In meiner systematischen Besinnung hatte ich bisher gezeigt, wie sich die Gegenwart des Christus Jesus im Geist der Wahrheit im Ritual des Gottesdienstes bzw. in den Formen der Verkündigung – im Unterricht, in der Predigt und in der Seelsorge – konkretisiert. Nun geht es darum zu entfalten, in welcher Weise die symbolischen Handlungen der Taufe und des Abendmahls das ChristusGeschehen als das „versöhnende Wort des schöpferischen Wortes“ inmitten des noch andauernden „In-der-Sünde-Seins“ des personalen Selbstbewusstseins vergegenwärtigen. Wie in der ganzen systematischen Darlegung des Wesentlichen des Christus-Glaubens ist auch hier eine behutsame Kritik an manchen überlieferten Sprach- und Denkgestalten christlicher Frömmigkeit angebracht. Diese Kritik ruft in Erinnerung, dass sich das ganze Kapitel 4 auf den christlichen Glauben an Gott den Vollender bezieht. Es bringt im Rückblick auf die reformato-

125 Vgl. zum Folgenden bes.: Martin Luther, Großer Katechismus, Vierter Teil (BSLK 691–707); CA IX; ApolCA IX; Jean Calvin, Inst. IV, 15; Friedrich Schleiermacher, CG2 §§ 136–138 (II, 318–340 = KGA I.13,2, 353–377); Karl Barth, KD IV/4 Frg.; Carl Heinz Ratschow, Die eine christliche Taufe, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 4 1989; Jürgen Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes (wie Anm. 1), 252–268; Wolfhart Pannenberg, STh III, 268–314; Wilfried Härle, Dogmatik5 , 548–560; Ulrich Kühn, Art. Taufe VII. Dogmatisch und ethisch: TRE 32, 720–734; Eilert Herms, STh (Bd. 1), 946–953.

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rische Reform der Praxis und der Theorie der Gnade Gottes als der gratia creata in der Kirche unter dem Bischof von Rom Gottes Walten als Heiligender Geist zur Sprache. Gottes Walten als Heiligender Geist vergegenwärtigt uns das „versöhnende Wort des schöpferischen Wortes“; und zwar im Medium der primären apostolischen „Lebensgemeinschaft Christi“, die uns in deren rituellen, schriftlichen und künstlerischen Zeugnissen überliefert ist. Ihm geht de facto die Grundsituation des „Nicht-in-der-Wahrheit-Seins“ voraus, die das Evangelium nach Johannes wegen ihrer desaströsen Folgen als Existenz in der „Finsternis“ beschreibt (Joh 1,5; 3,19). Von ihr bezeugt die primäre apostolische „Lebensgemeinschaft Christi“, dass sie für „Juden“ und für „Griechen“ (Röm 1,16) nicht anders endgültig überwunden wird als in der universellen Teilhabe aller an Jesu Christi Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha. Jede kirchliche Gemeinschaft in der Geschichte wird sich daher dann und nur dann recht verstehen, wenn sie sich ihrerseits als „Medium“ des Rufens in die Lebensform des Glaubens, der Hoffnung, der Liebe und alles in allem in die selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit Gott selbst versteht. Ihr ist das Leben im Licht des ewigen Lebens des dreieinen Gottes jenseits des Todes und durch den Tod hindurch verheißen. 4.2.3.1.1 Das Ritual der Taufe

Zahlreiche Religionskulturen praktizieren Rituale, in deren symbolischer Sicht des Lebenssinnes dem Wasser eine besondere reinigende, heilende, belebende und erneuernde Kraft zugesprochen wird. Es gilt als die elementare naturale Basis, mit deren Hilfe eine Kultgemeinschaft sich der Abwaschung von Schuld, der Bewahrung vor dem Bösen, wenn nicht sogar der Geburt zu wahrem Leben vergewissert. In den verschiedenen Ritualen des Waschens bzw. des Unter- und Auftauchens meldet sich die Sorge für sich, wie sie ein mehr oder weniger ausgeprägtes Schuldbewusstsein erzeugt. Ohne den Kontext der in der Religionsgeschichte entwickelten WasserRiten ist die christliche Taufe auf den Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes schwerlich zu erklären. Ebenso wenig wie die Wasser-Riten, von denen uns die Religionsgeschichte Kunde gibt, wird die christliche Taufe stumm und schweigend vollzogen. Sie ist von allem Anfang an ein interpretiertes Ritual, dessen Bewandtnis ein ausführlicher katechetischer Unterricht den Taufbewerbern nahe bringt. Ursprünglich eine Transformation der prophetischen Zeichenhandlung, die Johannes der Täufer hochbedeutsam am östlichen Ufer des Jordans übt (vgl. Mt 3,1-12; Mk 1,4-8; Lk 3,1-18; Joh 1,15.19-28), bildet sie einen Teil des Ritengefüges, das auch den Ritus der Geistbegabung – in Form der Handauflegung und der Salbung – sowie die Taufeucharistie umfasst. Im Ganzen dieses Ritengefüges bezeichnet sie sowohl

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

den Grund als auch die Form des christlichen Lebens.126 Worin genau besteht die Transformation, welche die Zeichenhandlung Johannes’ des Täufers in der christlichen Taufpraxis von allem Anfang an erfuhr? Nun: Johannes tauft im Lichte des monarchischen bzw. des unitarischen GottVerstehens jener jüdischen JHWH-Gemeinschaft, die JHWHs Erscheinen in allernächster irdischer Raum-Zeit als JHWHs gerechtes Gericht über die strikte Treue ihrer Glieder zur gottgeweihten Ordnung des Kults, des Rechts und der Moral erwartet. Der Form des Unter- und Auftauchens im fließenden Wasser des Jordans spricht er die Bewandtnis zu, der sinnfällige Ausdruck der Buße und der Umkehr zu sein, in dem der Täufling JHWHs gerechtem Gericht Recht gibt und nur aus diesem Grunde die Vergebung aller Verfehlungen an JHWHs Ordnungen empfängt. Diese Bewandtnis ist das Thema der prophetischen Verkündigung, die die Bewahrung in JHWHs gerechtem Gericht an die notwendige und frei-willentlich erbrachte Bedingung der ernsten Reue knüpft. Es ist ganz offenkundig, dass die Johannes-Taufe dem apokalyptischen Mythos und seiner dualen Struktur verpflichtet ist.127 Die Anfänge der Taufpraxis in den frühesten Christus-Gemeinschaften scheinen im Dunkeln zu liegen. Soviel ist sicher, dass der Kreis der Apostel im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages damit begonnen hatte, womöglich wiederum in fließendem Wasser eine Taufe in der Form des Unter- und Auftauchens zu vollziehen; und zwar als Taufe „auf den Namen Jesu Christi“ (vgl. 1Kor 6,11; Apg 2,38) bzw. unter Anrufung des Namens Jesu (Apg 22,16). Sie geschieht ursprünglich im Bewusstsein, dass in, mit und unter diesem Ritus der Heiligende Geist empfangen werde, der die Getauften zu einem Leib – zum Leib der Christus-Gemeinschaft ihrer Glieder in allen Räumen, Zeiten und Kulturen – zusammenschließt (vgl. bes. 1Kor 12,13).128 Dem geschichtlichen Ursprung der christlichen Taufe liegt mithin die in den Erschließungssituationen des Dritten Tages gewonnene Gewissheit zugrunde, dass Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tode am Kreuz auf Golgatha die Intention der Zeichenhandlung Johannes’ des Täufers in unerwartet neuer

126 Zum Ritengefüge, in dem die christliche Taufe steht, und zu dessen Geschichte vgl. den informativen Artikel von Reinhard Meßner, Art. Taufe VI. Liturgiegeschichtlich: RGG4 6, 80–85. 127 Die apokalyptische Perspektive, in deren Licht Johannes der Täufer offensichtlich das Erscheinen JHWHs zum gerechten – nämlich: zum vernichtenden! – Gericht erwartet, vollzieht offensichtlich einen Bruch mit der Gewissheit des Gott-Verstehens der jüdischen JHWH-Gemeinschaft, dass JHWHs königliches Richten angesichts erlittener Ungerechtigkeit in JHWHs rettender Gerechtigkeit impliziert sei; vgl. hierzu: Bernd Janowski, JHWH der Richter – ein rettender Gott. Psalm 7 und das Motiv des Gottesgerichts, jetzt in: Ders., Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1999, 92–124. – Vgl. u. 4.5.4.2. 128 Nach Paulus ist der „Leib“ des Christus Jesus als die Gemeinschaft der Versöhnung des Getrennten bzw. des Entgegengesetzten zu verstehen, die „Juden wie Griechen, Sklaven wie Freie“ vereint (1Kor 12,13 [Übersetzung Ulrich Wilckens]). Vgl. auch Gal 3,28!

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„Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin.“ (Röm 8,24)

Weise erfüllt.129 In den Ereignissen des Dritten Tages nämlich wird evident, dass Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tode am Kreuz auf Golgatha in Wahrheit als das Geschehen der Versöhnung zu verstehen ist, in welchem Gottes schöpferisches Wort als Gottes versöhnendes Wort begegnet, das die „Sünde der Welt“ trägt (Joh 1,29 [s. 3.5.3]). Indem die apostolischen Verkündigungsgespräche in ihren verschiedenen Varianten dies Getragen-Werden und Getragen-Sein der „Sünde der Welt“ durch Gottes schöpferisches Wort kommunizieren, stoßen sie die gründliche Transformation der Taufpraxis des Täufers an. Ich möchte diese Transformation wie folgt begreiflich machen: Die Taufpraxis des Täufers bewegt sich ganz und gar im Horizont des GottVerstehens jener jüdischen JHWH-Gemeinschaft, der der frei-willentliche Gehorsam gegenüber dem von JHWH gegebenen Gesetz in seiner Ganzheit als Teilhabe am Höchsten Gut und damit als das Wesentliche ihres Lebenssinnes gilt. Im Lichte dieser Sicht des Höchsten Gutes bzw. des wirklich tragfähigen und gültigen Lebenssinnes verweist diese Taufpraxis am symbolischen Ort am östlichen Ufer des Jordans auf ein Ereignis im Gewissen der Person, dem die Interpreten dieser Praxis die Macht zutrauen, JHWHs gemäß dem apokalyptischen Mythos gerechtes – und d. h.: vernichtendes – Gericht zugunsten des Täuflings neu zu bestimmen bzw. umzustimmen. Wie dies Ereignis im Gewissen der Person realiter zustande kommen soll, sagt uns die spärliche Überlieferung ebenso wenig wie die prophetische Erwartung einer zukünftigen Zeit der Erfüllung der Tora (vgl. bes. Jer 31,31-34). Die Taufpraxis des Johannes beruht mithin auf der Gewissheit, dass JHWHs gemäß dem apokalyptischen Mythos gerechtes – und d. h.: vernichtendes – Gericht in einem distributiven bzw. in einem reaktiven Sinne zu verstehen sei. Mit der christlichen Taufpraxis verhält es sich von allem Anfang an anders. Zwar setzt der in fließendem Wasser vollzogene Ritus des Unter- und Auftauchens für die Interpreten dieser Situation die angstvolle Erfahrung des Gewissens voraus, von der Teilhabe am Höchsten Gut der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott selbst zuinnerst weit entfernt zu sein; aber der Ritus verweist im Kontext der gottesdienstlichen Feier der Taufe nicht etwa nur auf ein Ereignis im Gewissen der Person, sondern vielmehr auf das Geschehen der Versöhnung, welches uns Menschen allen die Teilhabe am Höchsten Gut der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott selbst ganz individuell gewährt. Daher vollziehen die feiernde Gemeinde und der Interpret, der ihre Feier leitet, die Taufe nicht in dem Bewusstsein, das

129 Dieser Sachverhalt kommt angemessen zur Sprache im sog. Tauf- und Verkündigungsauftrag des Auferstandenen, in dem das Evangelium nach Matthäus zu seiner theologischen Pointe kommt (vgl. Mt 28,18-20). Ich kann mich daher nicht der Meinung anschließen, dass es die geschichtliche Tatsache der Taufe Jesu durch Johannes sei, die den „Grund“ der christlichen Taufpraxis bilde; so Wolfhart Pannenberg, STh III, 310–313. Vgl. demgegenüber Carl Heinz Ratschow, Die eine christliche Taufe (wie Anm. 125), 248–253.

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

Wollen und Walten des göttlichen Wesens zu bestimmen; sie vollziehen sie vielmehr in der Gewissheit, Gottes versöhnendes Wollen und Walten in ritueller Form zu empfangen.130 Dass diese Gewissheit allerdings das individuelle Gewissen der Person im Ganzen der religiösen Kommunikation des Evangeliums zu befrieden und zu befreien und deshalb neu zu orientieren vermag: das ist eine radikal vertiefte Erkenntnis, die wir erst der reformatorischen Bewegung verdanken.131 Wenn ich im Folgenden das Ritual der Taufe im Kontext der gottesdienstlichen Feier des Evangeliums betrachte, so gehe ich von der begründeten Vermutung aus, dass sich die religiöse Kommunikation des Evangeliums – analog zu aller mitmenschlichen Kommunikation – nicht etwa nur in sprachlicher Form, sondern zugleich und darüber hinaus in übersprachlicher Form vollzieht. Die systematische Besinnung auf die Sakramente der Taufe und des Abendmahls wird deshalb einzusetzen haben mit einer Interpretation des Zeichens. Sie wird es hoffentlich möglich machen, die hitzigen Auseinandersetzungen über das Wesentliche der sakramentalen Feiern nicht nur zwischen der reformatorischen Bewegung und dem römischen Katholizismus, sondern auch zwischen den reformatorischen Konfessionen zu schlichten.132 4.2.3.1.2 Die Taufe und der Christus-Glaube133

Die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) versteht die Taufe „auf den Namen Jesu Christi“ bzw. auf den Namen „Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ (Mt 28,19) bei allen Unterschieden en détail als eine wirksame und gültige Zeichenhandlung. Im Kontext ihres Ritengefüges und im Zusammenhang der religiösen Kommunikation des Evangeliums begründet der Empfang der Taufe die individuelle Identität des christlichen Person-Seins als eines singulären Sich-in-Gott-Verstehens. Zwar wird die

130 Im Rückblick auf die kirchen- und theologiegeschichtliche Lage, in der sich das reformatorische Verständnis der Buße bildete (s. o. S. 545–551), ist daher zu urteilen, dass die frühe christliche Praxis der Bekehrungstaufe von den enormen seelsorglichen Schwierigkeiten des spätmittelalterlichen Axioms „facere quod in se est“ weit entfernt ist. 131 Vgl. bes. Martin Luther, Ein Sendbrief an den Papst Leo X. Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520), WA 7; 3–38; dazu Konrad Stock, Luther und die Freiheit, jetzt in: Ders., Die Gegenwart des Guten. Schriften zur Theologie, Marburg: N. G. Elwert Verlag, 2006 (MThSt; 96), 109–121. 132 Vgl. hierzu Wilhelm Hüffmeier (Hg.), Zur Lehre und Praxis der Taufe. Zur Lehre und Praxis des Abendmahls (Leuenberger Texte 2), 1995, 15–45. 133 Vgl. zum Folgenden bes.: Thomas von Aquino, STh III q. 66–q. 69; Martin Luther, Großer Katechismus. Vierter Teil (BSLK, bes. 695–697); HK Fr. 74; Jan Rohls, Theologie reformierter Bekenntnisschriften. Von Zürich bis Barmen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1987, 245–260; Carl Heinz Ratschow, Die eine christliche Taufe (wie Anm. 125), 180–220; Gerhard Ludwig Müller, Katholische Dogmatik (wie Anm. 1), 658–671; Wolfhart Pannenberg, STh III, 287–306; Michael Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2011, 129–151.

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Taufe ihrem Wesen nach nur einmal vollzogen; aber sie bildet als solche den Anfang eines Lebensweges der Umkehr in das wahrhaft Höchste Gut der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott selbst bzw. mit Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen. Auf diesem ihrem Lebensweg der Umkehr sind die Getauften miteinander und füreinander Glieder der Christus-Gemeinschaft und deren öffentlichem und privatem Kultus. Um die Funktion dieser Zeichenhandlung für den Lebensweg der Umkehr in das wahrhaft Höchste Gut der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott selbst plausibel zu machen, sind – nicht zuletzt im Blick auf die gegenwärtige Situation der Taufpraxis in den Kirchengemeinschaften unter den Bedingungen der euro-amerikanischen Moderne – drei Schritte zu tun: Erstens ist überhaupt eine Antwort auf die Frage zu suchen, was unter einer Zeichenhandlung zu verstehen sei; zweitens ist darzulegen, wie wir das Verhältnis zwischen der Zeichenhandlung des Unter- und Auftauchens (bzw. des Begießens oder des Besprengens) zu dem bezeichneten Geschehen bestimmen können; und drittens ist zu zeigen, in welcher Weise das Verstehen dieses Verhältnisses zustande kommt und dadurch wirksam wird. Erstens: Wenn wir die Feier der Taufe ebenso wie die Feier des Herrenmahls eine Zeichenhandlung nennen, so machen wir Gebrauch von dem Begriff des Zeichens, der spätestens seit Augustin das Nachdenken über den eigenartigen Status der sakramentalen Feiern bestimmt. Indem ich den Charakter der Sakramente als spezifischer Zeichen zu erhellen suche, leite ich zum Verstehen der Differenz zwischen der lutherischen und der reformierten Kirchenlehre insbesondere in ihrer Konzeption bei Karl Barth an. Wie leicht zu sehen ist, beziehen wir die Bedeutung des Ausdrucks „Zeichen“ auf zwei zu unterscheidende Aspekte.134 Zum einen verwenden wir den Ausdruck „Zeichen“ für das Verhältnis zwischen dem System einer gesprochenen Sprache und den verschiedenen Ebenen des Realen, die wir mittels der Sprachzeichen und deren grammatischer bzw. syntaktischer Ordnung im Gespräch bzw. im Prozess des Schreibens und des Lesens bezeichnen. Stillschweigend oder offenkundig nehmen wir an, dass alle Akte des Bezeichnens Akte des reflektierten Selbstbewusstseins sind, die in den Konstellationen der Verständigung zwischen den Benutzern sprachlicher Zeichen allerdings auch falsch sein oder gar täuschen können. Akte des Sprechens und des Hörens, des Schreibens und des Lesens sind wirklich als Handlungen von Interpreten, die das bezeichnete

134 Vgl. Zum Folgenden Martin Vetter, Zeichen deuten auf Gott. Der zeichentheoretische Beitrag von Charles S. Peirce zur Theologie der Sakramente, Marburg: Elwert, 1999 (MThSt; 52), bes. 257–266.

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

Reale und dessen Sachwahrheit sowohl zu verstehen als auch zu beurteilen vermögen. Eine Theorie des Zeichens hat es daher im Ausgang von dem „semiosischen Selbst“ (Eilert Herms) der Interpreten mit der syntaktischen, mit der semantischen und mit der pragmatischen Relation des Bezeichnens zu tun. Zum andern aber verwenden wir den Ausdruck „Zeichen“ auch für die ganze Bandbreite vor- und übersprachlicher Mit-Teilungen zwischen Wesen und für Wesen von der Seinsart des leibhaften Person-Seins. Schon scheinbar rein sachbezogene Gespräche sind begleitet von gestischen, von mimischen, von affektiven Gebärden, die der Zuneigung oder der Abneigung und damit der Atmosphäre zwischen den Interpreten Ausdruck geben. Darüber hinaus kennen wir solche Zeichen, durch die wir einander unseren Respekt, unsere Achtung, unsere Ehrerbietung – wie z. B. durch das Neigen des Hauptes oder durch das Knieen –, unseren Dank, aber auch deren Gegenteil bezeugen. Insbesondere ist es der Tausch einer Gabe – wie z. B. der Tausch der Ringe, der Kuss, die Umarmung –, der uns eines Gesinnt-Seins gewiss machen will, das zwischen den Gebenden herrscht. Auch wenn selbstredend die ganze Bandbreite der vor- und übersprachlichen Mit-Teilungen stets vermittelt ist mit der Fülle der sprachlichen Handlungen, wirkt sie doch faktisch wie das sinnfällige Siegel, das eine Beziehung des Inneren, des Herzens bzw. des SelbstSeins bekräftigt und insofern zeigt. Ich nenne Mit-Teilungen dieser Art symbolische Zeichen.135 Ich verstehe den Ritus des Unter- und Auftauchens (bzw. des Begießens oder des Besprengens) im Rahmen der Taufliturgie und im Kontext ihres Ritengefüges ebenso wie die Austeilung des Brotes und des Weins im Rahmen der Feier des Herrenmahls in diesem Sinne als eminentes symbolisches Zeichen.136 Es ist insofern ein eminentes symbolisches Zeichen, als es im Zusammenhang des Waltens Gottes

135 Nach Peter Ochs, Art. Zeichen IV. Religionsphilosophisch: RGG4 8, 1798, war es Johannes a Sancto Thoma (1598–1644), der alle möglichen Zeichen „Mediatoren“ nannte, die uns in wirkliche Beziehung zu Realem setzen: „Relationen sind real“. – In lockerem Anschluss an die zeichenbegrifflichen Ideen Charles S. Peirce‘ unterscheide ich hier und im Folgenden den Status symbolischer Zeichen vom Status ikonischer bzw. indexikalischer Zeichen. Zu Paul Tillichs Unterscheidung zwischen dem Begriff des Zeichens und dem Begriff des Symbols vgl. jetzt die Untersuchung von Martin Vetter, Zeichen deuten auf Gott (wie Anm. 134), 177–221. – Zur „Gefühlsqualität“ von Zeichen vgl. Hermann Deuser, Religionsphilosophie, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 2009, 260–291: § 10: Gefühlsqualität. 136 Ich erinnere an die Definition Thomas’ von Aquino: „Et ideo proprie dicitur sacramentum quod est signum alicuius rei sacrae ad homines pertinentis: ut scilicet proprie dicatur sacramentum, secundum quod nunc de sacramentis loquimur, quod est signum rei sacrae inquantum est sanctificans homines“ („Und deshalb wird etwas im eigentlichen Sinne ‚Sakrament‘ genannt, was das Zeichen eines den Menschen zugedachten heiligen Seienden ist: so dass also etwas im eigentlichen Sinne – in dem wir hier über die Sakramente reden – ‚Sakrament‘ genannt wird, was das Zeichen eines heiligen Seienden ist, insofern es Menschen heiligt.“ [STh III q 60 a 2 c] {meine Übersetzung}).

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als Heiligender Geist und damit als eine Form der Mit-Teilung bzw. der Eröffnung des schaffenden Person-Seins und dessen Selbst für das geschaffene Person-Sein steht. Das sei zunächst für die Feier der Taufe gezeigt. Zweitens: Über die Feier der Taufe existiert in der Kirchengemeinschaft der lutherischen Reformation ein von Kirchenrechts wegen geltender Lehrkonsens: „Was ist die Taufe? Antwort. Die Taufe ist nicht allein schlecht Wasser, sondern sie ist das Wasser, in Gottes Gebot gefasset und mit Gottes Wort verbunden. Welches ist denn solch Wort Gottes? Antwort. Da unser Herre Christus spricht Matthäi am letzten: ‚Gehet hin in alle Welt, lehret alle Heiden und täufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geists.‘ Was gibt oder nützet die Taufe? Antwort. Sie wirket Vergebung der Sunden, erlöset vom Tod und Teufel und gibt die ewigen Seligkeit allen, die es gläuben, wie die Wort und Verheißung Gottes lauten…. Wie kann Wasser solche große Ding tun? Antwort. Wasser tut‘s freilich nicht, sondern das Wort Gottes, so mit und bei dem Wasser ist, und der Glaube, so solchem Wort Gottes im Wasser trauet; denn ohn Gottes Wort ist das Wasser schlecht Wasser und keine Taufe, aber mit dem Wort Gottes ist‘s eine Taufe, das ist ein gnadenreich Wasser des Lebens und ein ‚Bad der neuen Geburt im heiligen Geist‘ …“137

Im Kontext des Kleinen wie des Großen Katechismus grenzt Luther die Erklärung des Sakraments der Taufe stillschweigend von der Praxis und der Theorie der geltenden Lehre von Gottes gratia creata in der Kirche unter dem Bischof von Rom ab; gleichzeitig steht im Hintergrund des Textes die intensive Auseinandersetzung mit dem Taufverständnis der täuferischen Bewegungen seit 1523, deren Praxis der Bekenntnis- bzw. der Glaubenstaufe – Gott sei’s geklagt! – seit dem Reichstag zu Speyer mit der Todesstrafe bedroht und geahndet wurde.138 Ihm steht die gottesdienstliche Feier der Taufe – und zwar der Säuglingstaufe – in ihrer liturgischen Ordnung vor Augen. In ihrem Rahmen beruft sich die feiernde Gemeinde vor aller

137 Martin Luther, Kleiner Katechismus: Das Sakrament der heiligen Taufe (BSLK 515,20–517,7); vgl. hierzu bes.: Albrecht Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen. Bd. 4: Die Taufe. Das Abendmahl. Hg. von Gottfried Seebaß, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1993, 71–126. 138 Zu den täuferischen Bewegungen seit 1523 vgl. den informativen Artikel von Hans-Jürgen Goertz, Art. Täufer: RGG4 8, 92–96 (Lit.). Nach Goertz ist die brutale Verfolgung des Täufertums im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation dadurch motiviert, das das „polit.(ische) und soziale Grundgefüge des christl.(ichen) Abendlandes in Frage gestellt“ schien (91).

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

historisch-kritischen Lektüre der Heiligen Schrift auf den Auftrag des Auferstandenen zum Lehren und zum Taufen (Mt 28,19); und sie versteht die Spendeformel als diejenige sprachliche Äußerung, die diesen Auftrag vollzieht und eben so das eminente symbolische Zeichen als „Taufe“ deklariert. Über die Art der Relation des eminenten symbolischen Zeichens der reinigenden und belebenden Kraft des Wassers zu dem bezeichneten Geschehen äußert sich der im Konkordienbuch rezipierte Text des Katechismus nur umgangssprachlich. Wir dürfen uns die Art dieser Relation vom Wesentlichen eines eminenten symbolischen Zeichens her erklären. Es verweist natürlich nicht auf Abwesendes oder auf Vergangenes; es bezeigt und es bezeugt vielmehr das Reale des ChristusGeschehens, das in der Feier der Taufe und in deren Ritusgefüge durch Gottes Heiligenden Geist vergegenwärtigt wird.139 Nun schärft der Text diese Relation genauer als die Relation zwischen dem „Wort und (der) Verheißung“ Gottes, dem Zeichen des Besprengens bzw. des Begießens und dem Christus-Glauben als der Gewissheit der Wahrheit des „Wortes und der Verheißung“ Gottes ein. Vermöge dieser Relation hat die Feier der Taufe – hier: der Säuglingstaufe – darin ihre Wirkung, dass sie „Vergebung der Sünden“, „Erlösung vom Tod und Teufel“ und schließlich die „ewige Seligkeit“ des Getauften in der Kultusgemeinschaft der Getauften wirkt. Sie wirkt die lebenslange Umkehr in das wahrhaft Höchste Gut der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott selbst, weil Gottes Heiligender Geist sie zum „Mediator“ (vgl. Anm. 135) dieser Umkehr erwählt. Diese Aussage-Intention wirft die Frage auf, in welcher Weise diese Wirksamkeit der Taufe denn zustande kommt.140

139 Zu den „äußeren“ – d. h. zu den in unserer Umwelt sinnfällig begegnenden – Aspekten dieser Vergegenwärtigung gehören nicht zuletzt auch die Formen des Taufsteins bzw. des Taufbeckens und die Geschichte der besonderen Taufkapellen und der Baptisterien, wie sie seit dem 4. Jahrhundert mit reichem biblischen Symbolgehalt entwickelt wurden (so wurde die Achteckgestalt des Mailänder Baptisteriums von Bischof Ambrosius bezogen auf den 8. Tag, den Tag der neuen Schöpfung, der im Empfang der Taufe und d. h. in der Eingliederung in die Christus-Gemeinschaft aus „Juden“ und „Griechen“ [Röm 1,16] jeweils jetzt beginnt.). – Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an das Zweite Kapitel „Von der Taufschale und vom Großvater in zwiefacher Gestalt“ in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“. 140 Von dieser Frage ist bewegt die Lehre von der Taufe als „Begründung des christlichen Lebens“ von Karl Barth, KD IV/4 Frg. Ganz abgesehen von ihrer massiven Kritik an der Sitte der Kindstaufe sucht sie nach einer Erklärung des Rituals der Taufe, die zwischen dem entscheidenden Ereignis der „Taufe mit dem Heiligen Geist“ (3–44) und der „Taufe mit Wasser“ (45–234) in einem nicht-sakramentalen Sinne unterscheidet. Von dieser heißt es: „Sie ist keine Gestalt der Gnade“ (37). Denn während die „Taufe mit dem Heiligen Geist“ nach Barth die einem Menschen objektiv widerfahrende „Offenbarung“ der „Geschichte Jesu Christi (verstehe: seines Todes!)“ (34ff.) bedeutet, hat die „Taufe mit Wasser“ den ethischen Sinn der subjektiven „Entscheidung“ zur Treue gegenüber dem Sinn und der Tragweite dieser Offenbarung. Freilich wird der effektive, kausative, kreative, göttlich wirksame Charakter dieser Offenbarung (vgl. 37) mehr behauptet denn als Weise des

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Drittens: Erst der weitere Kontext des Kleinen und des Großen Katechismus lässt erkennen, welch enorme Innovation der Lehrkonsens der lutherischen Reformation der Praxis und der Theorie der römisch-katholischen Lehre von Gottes gratia creata zumutet. Zwar hält der Text den Grundbegriff der franziskanischen Gnadenlehre – Gottes promissio als ewiger Grund des Evangeliums, das uns im Raum der Kirche begegnet – fest; aber er bindet im Gegensatz zu ihr die Wirksamkeit des göttlichen Verheißungsworts, welches das eminent symbolische Zeichen des Wassers in der Feier der Taufe vergegenwärtigt, an das radikale Grundvertrauen des ChristusGlaubens. Denn wirksam in der lebenslangen Umkehr in das wahrhaft Höchste Gut der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott selbst – mit des dreieinen Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen – wird das im eminent symbolischen Zeichen des Wassers begegnende göttliche Verheißungswort dann und nur dann, wenn es als wahr gewiss wird. Aus diesem Grunde ist es Lehrkonsens der lutherischen Kirchengemeinschaft, dass es des „inneren Wortes“ bzw. der „inneren Klarheit“ bedarf, damit die reinigende und belebende Kraft des Wassers als das eminent symbolische Zeichen des göttlichen Verheißungsworts zweifelsfrei verstanden werde. Dies „innere Wort“ bzw. diese „innere Klarheit“ ihres Herzens, ihres Gewissens und also ihres „Sichgegenwärtig-Seins“ verdankt die geschaffene Person dem Heiligenden Geist der Wahrheit selbst.141 Er gewährt die sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingung dafür, dass das „schlecht (verstehe: schlichte) Wasser“ und seine reinigende und belebende Kraft innerhalb des Rituals der feiernden Gemeinde als das „gnadenreich Wasser des Lebens“ in der lebenslangen Umkehr in das Höchste Gut der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott selbst fruchtbar werde. Es wird im Medium der liturgischen bzw. der homiletischen Interpretation fruchtbar als das emotive Zeigen des göttlichen Gesinnt-Seins. Indem der Lehrkonsens der lutherischen Kirchengemeinschaft Gottes Heiligenden Geist als das primäre Subjekt der Heiligung begreift, revidiert er ganz entschieden das Verständnis der Taufgnade in der Kirche unter dem Bischof von Rom, das den heilsamen Empfang des Sakraments an die notwendige Bedingung knüpft, ihm keinen Widerstand entgegenzusetzen. Luthers Weg zur gründlichen

Gewiss-Werdens und des Gewiss-Bleibens aufgezeigt (zu Karl Barths sakramentstheologischer Rezeption des Zeichenbegriffs vgl. die kritische Analyse von Martin Vetter, Zeichen deuten auf Gott [wie Anm. 135], 166–176). Im Übrigen bestätigt auch die Tauflehre das fundamentaltheologische Grundproblem der „Kirchlichen Dogmatik“, das christliche Verstehen des Wollens und Waltens Gottes darzustellen ohne die angemessene Einführung und Bestimmung des Sinnes der Rede von Gott (vgl. Konrad Stock, STh I, 461–471). 141 Vgl. hierzu Konrad Stock, STh I, 638–654: Sich aus Gott verstehen; sowie 4.3.1.

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Reform der Kirche beginnt mit der erschreckenden Entdeckung, dass er dessen nicht gewiss sein könne, diese notwendige Bedingung jederzeit zu erfüllen.142 In einem wesentlichen Punkte liegt der Lehrkonsens der lutherischen Kirchengemeinschaft allerdings auf derselben reduktiven Linie wie die Christologie und wie die Soteriologie der lateinischen Tradition des Christentums überhaupt: Was die Taufe als die eminent symbolische Zeichenhandlung einem Täufling kraft des Heiligenden Geistes mit-teilt, ist ausschließlich Jesu Christi Tod am Kreuz auf Golgatha im Sinn des stellvertretenden Strafleidens für uns (s. 3.5.2.3).143 Der Lehrkonsens beruft sich dafür ausschließlich auf die Tauflehre, so wie sie der Apostel Paulus im Brief an die Gemeinde zu Rom skizziert (vgl. bes. Röm 6,3.4). Ihre schlechthin tragende Basis ist die von der nicht-priesterlichen Schöpfungserzählung inspirierte Meinung, der Tod sei „der Sünde Sold“ (Röm 6,23). Ich sehe keinen plausiblen Grund dafür, an dieser dem apokalyptischen Mythos verpflichteten Meinung im kirchlichen Lehrkonsens und in der Praxis der Frömmigkeit unkritisch festzuhalten. Demgegenüber spielt so gut wie keine Rolle das Offenbarungszeugnis der synoptischen Evangelien sowie des Evangeliums nach Johannes, das ihrem jeweiligen Rezipientenkreis den Tod des Christus Jesus als die Vollendung seiner Lebensgeschichte und seines Lebensgeschicks vor Augen führt (s. 3.6). Es ist daher zu fragen, ob wir den Lehrkonsens der lutherischen Kirchengemeinschaft über die Taufe nicht

142 Vgl. hierzu zuletzt Volker Leppin, Das ganze Leben Buße. Der Protest gegen den Ablass im Rahmen von Luthers früher Bußtheologie (wie Anm. 23). 143 Kurz und bündig heißt es beispielsweise bei Thomas von Aquino, STh III q 60 a 3 c: In dem Geschehen, das ein Sakrament bezeichnet, ist zunächst zu betrachten die „causa sanctificationis nostrae, quae est passio Christi“ („der Grund unserer Heiligung, welcher Christi Passion ist“); woraus Thomas die folgende Definition eines Sakraments ableitet: „Unde sacramentum est et signum rememorativum eius quae praecessit, scilicet passionis Christi …“ („Daher ist ein Sakrament … ein Zeichen des Eingedenkens dessen, was ihm zugrunde liegt, nämlich der Passion Christi …“ [meine Übersetzung]). – Einen sprechenden Beleg für ein Verständnis der Taufe, das der reduktiven „Christologie“ geschuldet ist, bietet Martin Luthers Tauflied: „Das Aug allein das Wasser sieht, / wie Menschen Wasser gießen; / der Glaub im Geist die Kraft versteht / des Blutes Jesu Christi; / und ist vor ihm ein rote Flut, / von Christi Blut gefärbet, / die allen Schaden heilen tut, / von Adam her geerbet, / auch von uns selbst begangen.“ (EG 202,7). – Natürlich ist der Tradition des lateinischen Christentums aufgrund der Lehre des Apostels Paulus stets bewusst, dass die Passion Christi deshalb „Grund unserer Heiligung“ ist, weil sie in dem menschengemäßen Gehorsam gegenüber dem göttlichen Heilswillen erlitten wird (vgl. Röm 5,15-21). Daher versteht sie – der Autorität des Apostels verpflichtet – die Feier der Taufe als „die Taufe in den Tod (verstehe: des Christus Jesus)“ (Röm 6,4). Dass Jesu Tod am Kreuz auf Golgatha nur die Vollendung seines Lebenszeugnisses für das schon jetzt und hier erfahrbare Gegenwärtig-Werden der königlichen Herrschaft JHWHs im Tempel zu Jerusalem und von ihm aus über den Erdkreis sei, bleibt in der „Theologie der Taufe“ im gesamten Zeitraum vor den Anfängen einer historisch-kritischen Bibelwissenschaft meist außer Betracht.

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gründlich revidieren müssen, wenn wir den wirksamen „Grund“ der Heiligung der geschaffenen Person im Person-Sein Jesu Christi und damit in der „Lebensgemeinschaft Christi“ (CG2 § 136 L [II, 318 = KGA I.13,2, 353]) sehen wollen. Dafür bietet Schleiermachers systematische Darstellung des christlichen „Grundbewußtsein(s)“ (CG2 § 91,1 [II, 29 = KGA I.13,2, 35]) eine wichtige Anregung. Dem christlichen Grundbewusstsein bzw. dem christlich-frommen Selbstbewusstsein der Person ist es nämlich als wahr gewiss, dass ihm in der Person des Christus Jesus der Erlöser begegnet. Wenn ihm in der religiösen Kommunikationsgemeinschaft der Kirche im jeweiligen Jetzt und Hier der Erlöser begegnet, begegnet er ihm „in dem Gesamtverlauf seines Lebens“ (CG2 § 93,1 [II, 34 = KGA I.13,2, 42]). Was ihm in diesem „Gesamtverlauf seines Lebens“ bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha begegnet, nennt Schleiermacher das „Urbildliche“, das im Christus Jesus „vollkommen geschichtlich“ werden musste und geworden ist (ebd. § 93 L [II, 34 = KGA I.13,2, 41]): nämlich jene „Kräftigkeit des Gottesbewußtseins“ (ebd. § 93,1 [II, 35 = KGA I.13,2, 42]), welche den Impuls zum stetigen „Wollen des Reiches Gottes in seiner ganzen Ausdehnung“ (CG2 § 121,3 [II, 254 = KGA I.13,2, 283]) bildet. In Schleiermachers Christologie wird die Intention der paulinischen Lehre vom Todes- und vom Auferstehungsgeschick des Christus Jesus nicht übersehen; aber sie wird sinnvollerweise ergänzt um die Christologie der Evangelien, die im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha erzählend vergegenwärtigen. Für das Verständnis des Rituals der Taufe und ihrer liturgischen Ordnung in einer feiernden Gemeinde hat das erhebliche Bedeutung. Das Ritual der Taufe ist im Zusammenhang der religiösen Kommunikation des Evangeliums hervorragend dazu geeignet und dazu bestimmt, der jeweils einzelnen Person die Wahrheit des Evangeliums zu eröffnen. Unter den mannigfachen Rites de passage der Religionsgeschichte vollzieht es jene singuläre Initiation, die die zu taufende Person in die „Lebensgemeinschaft Christi“ (CG2 § 136 L [II, 318 = KGA I.13,2, 353]) führt. Darunter verstehe ich jene Gemeinschaft, die für die geschaffene Person das Höchste Gut der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gottes schöpferischem Person-Sein gewährt, so wie sie in der jüdischen JHWHGemeinschaft vorgezeichnet war. Sie wird als solche von Gottes Heiligendem Geist erschlossen, indem er Sinn und Bedeutung der Lebensgeschichte und des Lebensgeschicks des Freudenboten aus Nazareth dem Herzen und Gewissen nahebringt (vgl. Apg 1,4-5; 1Kor 12,13). Wann immer und wo immer dies geschieht, bildet sich diejenige menschliche Gemeinschaft, die über alle Unterschiede des Geschlechts, des sozialen Status und der Kultur hinaus als vielgestaltiger und vielgliedriger Leib des Christus Jesus existiert (vgl. bes. Röm 12,5; 1Kor 10,16). Das aber heißt nichts anderes als dies: nur in der Bitte um die Taufe mit dem Heiligenden Geist (vgl. Apg 1,5; 11,16) und im lebendigen Zusammenhang der geistgewirkten Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums gliedert das Ritual der Taufe in die ökumenische

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Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) und in deren Sendung in die Welt von heute ein.144 4.2.3.1.3 Kindstaufe und Konfirmation145

Soweit wir wissen, wurde die Taufe von allem Anfang an religionsmündigen, erwachsenen Taufbewerbern gespendet. Die Kirchenordnung der sog. „Apostolischen Tradition“, die man Hippolyt von Rom (gest. nach 235) zuschrieb, enthält ein umfangreiches und jahrelanges Ritual, das von einer einleitenden Prüfung über einen dreijährigen Katechumenat bis hin zur Feier der Taufe reicht, die zu vollziehen noch dem Bischof vorbehalten war. Nun bietet diese Kirchenordnung Hinweise darauf, dass man im Zusammenhang der Feier der Taufe durchaus auch religionsunmündige Kinder taufte. Diese Sitte wurde – womöglich begünstigt von Augustins Fassung der Lehre vom menschlichen „In-der-Sünde-Sein“ und von dem schweren Ernst der Erwartung des eschatischen Gerichts – alsbald dominant. Die „Interrogatio“ Karls des Großen aus dem Jahre 812 setzt sie als allgemeine Praxis voraus, die in den römisch-katholischen, in den orthodoxen und in den reformatorischen Kirchengemeinschaften mehr oder weniger ungebrochen bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts existiert. Im Rahmen seiner monumentalen Lehre von der Versöhnung hat Karl Barth an dieser Praxis scharfe Kritik geübt und ihre kirchlich-theologische Begründung heftig angefochten.146 Seine Kritik wurde einflussreich in einer Phase der Kirchengemeinschaften in der europäisch-amerikanischen Moderne, in der die volkskirchliche Gestalt der Christus-Gemeinschaft aus vielerlei Motiven in eine tiefe Krise geriet. Die deutschsprachige evangelische Praktische Theologie reagiert auf diese Krise, indem sie die mannigfachen Impulse seit den „Berliner Taufthesen“ von 1989 aufnimmt und sie zu einem „Plädoyer für eine integrative Taufpraxis“ verbindet; und zwar mit Rücksicht auf die „Vielfalt der Lebensalter und Lebenssituationen“.147 Die systematische Besinnung auf die guten Gründe für die Sitte der Kindstaufe in ihrem Zusammenhang mit den verschiedenen Formen des Unterrichts und mit der Konfirmation will diesem Plädoyer Sukkurs leisten. In dieser Absicht greife ich

144 Mit dieser These nehme ich die Intention der schon in der Epoche des antiken Christentums praktizierten Riten der Handauflegung und der Salbung auf. 145 Vgl. zum Folgenden bes.: Wolfhart Pannenberg, STh III, 287–306; Wilfried Härle, Dogmatik5 , 553–560. 146 Vgl. Karl Barth, KD IV/4 Frg. – Meine Kritik an Barths Tauflehre bezieht sich kurz und bündig darauf, dass Barth die gottesdienstliche Feier der Taufe in ihrer liturgischen Ordnung nicht als „äußeres Wort“ bzw. als eine „Gestalt der Gnade“ zu würdigen weiß. 147 Vgl. hierzu bes. Peter Cornehl, Art. Taufe VIII. Praktisch-theologisch: TRE 32, 734–741 (mit weiterer Literatur); 738.

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zurück auf meine Interpretation des Lehrkonsenses der lutherischen Kirchengemeinschaft. Sie hebt den wesentlichen Zusammenhang hervor zwischen der Feier der Taufe als einer Form des „äußeren Wortes“ und der je individuellen Gewissheit der Wahrheit dieses „äußeren Wortes“, die Gottes Heiligender Geist der Wahrheit als „inneres Wort“ bewirkt. Erstens: Als eine gottesdienstliche Feier steht auch die Feier einer Kindstaufe nicht isoliert im Raum. Aus welchen höchst persönlichen Motiven auch immer ein Elternpaar bzw. eine Familie die Taufe eines Kindes begehrt: sie gehört auf jeden Fall in das komplexe Gefüge der religiösen Kommunikation des Evangeliums, welches die lebenslange Umkehr der Person in das Höchste Gut der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott selbst – mit Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen – menschlich möglich macht. So wie das eminente symbolische Zeichen des Unterund des Auftauchens bzw. des Besprengens oder des Begießens der Interpretation bedarf, so bedarf das getaufte Kind einer alters- und entwicklungsgerechten Hinführung zum Sinn und zur Bedeutung dieses Rituals. Seit jeher war aus diesem Grund die Sitte der Kindstaufe verbunden mit der Taufverantwortung der feiernden Gemeinde. Ob – und wenn ja, in welcher Weise und unter welchen Umständen – sich dem getauften Kind im Laufe seiner Lebens- und Bildungsgeschichte das „äußere Wort“ der Taufe als „inneres Wort“ erschließt, vermag die feiernde Gemeinde nach reformatorischer Einsicht nicht zu garantieren. Zweitens: Zu den Formen, in denen die feiernde Gemeinde in reformatorischer Tradition ihre Taufverantwortung wahrnimmt, gehört im Zusammenhang des katechetischen und des schulischen Unterrichts die Konfirmation.148 Angeregt von der reformatorischen Kritik am Sakrament der Firmung entwickelte sie sich als eine Feier, die im Beziehungsfeld zur Taufe einerseits, zur Zulassung zum Herrenmahl und zur kirchlichen Rechtsfähigkeit andererseits zu stehen kam. Friedrich Schleiermacher hatte sie damit begründet, „daß wir der Kindertaufe das eigene Glaubensbekenntnis als Zielpunkt vorstellen, welches sie erreichen und woran sie sich bewähren muß.“149

148 Vgl. zum Folgenden bes.: Bernd Schröder, Art. Konfirmandenunterricht: RGG4 4, 1555–1558; Christian Grethlein, Art. Konfirmation I. Geschichtlich und praktisch-theologisch: ebd. 1558–1561 (mit Hinweisen zum Verhältnis zwischen dem Sakrament der Firmung in der Perspektive der römischkatholischen Gnadenlehre und dem kirchlichen Brauch der Konfirmation, der insbesondere von Martin Bucer und von Martin Chemnitz beeinflusst war). Die Konfirmation gehört daher zu den sog. Amtshandlungen; vgl. hierzu allgemein: Reiner Preul, Kirchentheorie (wie Anm. 83), 242–267: § 10: Kirche und Lebensgeschichte; vgl. zum Folgenden auch Ders., Evangelische Bildungstheorie (wie Anm. 99), 298ff. 149 Friedrich Schleiermacher, CG2 § 138,1 (II, 338 = KGA I.13,2, 357).

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Hochbedeutsam ist in Schleiermachers Augen dieses „eigene Glaubensbekenntnis“ der im Kindesalter Getauften, weil es wohlverstanden jenes individuelle christlich-fromme Selbstbewusstsein artikuliert und öffentlich bezeugt, das den individuellen Umschwung von der „Unseligkeit“ des Bewusstseins der Sünde in die „Seligkeit wegen der zum Bewußtsein kommenden Kindschaft Gottes“ (CG2  § 138,1 [II, 337 = KGA I.13,2, 375]) zum Ausdruck bringt. Schleiermacher hatte so auf seine Weise Luthers genuine Intention erfasst, die Feier der Taufe als den Grund und als die Form des Lebens in der Gewissheit des Christus-Glaubens überhaupt zu verstehen und damit die Funktion des Sakraments der Buße im römisch-katholischen Verständnis entscheidend zu vertiefen. Allerdings: Unter den Bedingungen der hochentwickelten Gesellschaften der euro-amerikanischen Moderne erweist es sich als mehr und mehr schwierig, diesen hehren Zielpunkt des eigenen Glaubensbekenntnisses zu erreichen. Nicht nur aus entwicklungspsychologischen Gründen, sondern auch aus Gründen der vielfach festgestellten Unfähigkeit zu religiöser Kommunikation tun sich die Organisationen der erfahrbaren Kirche (s. 4.4) schwer, die Konfirmation in dem erwähnten Beziehungsfeld zur Taufe einerseits, zum Herrenmahl und zur kirchlichen Rechtsfähigkeit andererseits angemessen zu gestalten. Insbesondere scheint das reformatorische Verständnis des Christus-Glaubens als des Lebens in der Buße – d. h.: in der Umkehr als der steten Rückkehr in die Taufe auf den Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes – nicht wenigen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen ein schwer zu lösendes Rätsel zu sein. In dieser Lage darf die systematische Besinnung auf die Wahrheit des Evangeliums daran erinnern, dass die Taufverantwortung der feiernden Gemeinde sich im gesamten Spektrum des kirchlichen Bildungswesens konkretisiert. Das kirchliche Bildungswesen aber ist wohlverstanden orientiert an der ethischen Idee des in Wahrheit guten Lebens; und zwar deshalb, weil das letztgültige Offenbarungszeugnis den Grund und damit auch die Form des in Wahrheit guten Lebens – des Lebens in der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit des dreieinen Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen als des Höchstens Guts des geschaffenen Person-Seins – bezeugt. Wird diese ethische Idee, die ihrerseits natürlich auf die christliche Sicht des Sinnes von Sein verweist, sowohl im Unterricht der jungen Generation speziell als auch im kirchlichen Bildungswesen generell zum integrierenden Thema gewählt, so hat die jeweils feiernde Gemeinde teil an der Taufverantwortung, die der Christus-Gemeinschaft wo auch immer zugemutet ist.

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4.2.3.2

Das Heilige Abendmahl150

In der Besinnung auf die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche tun wir nun einen letzten Schritt: wir suchen eine Antwort auf die Frage, wie wir die Feier des Abendmahls in ihrer Relevanz fürs Leben in der lebenslangen Umkehr in die selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit Gott selbst – mit des dreieinen Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen – und damit für die lebenslange Reifung der Person plausibel machen können. Eine gediegene Beantwortung dieser Frage ist deshalb nötig, weil die Geschichte der kirchlich-theologischen Lehre hinsichtlich dessen, was beim Abendmahl vorgeht, namentlich in den Kirchengemeinschaften der abendländischen bzw. der lateinischen Tradition die lebenspraktische Relevanz des Abendmahls schier verdunkelt hat. Wie in der systematischen Besinnung auf Gottes vollendendes Walten überhaupt verfolge ich auch hier die Grundintuition, der Wirksamkeit der „Ausgießung des Heiligenden Geistes“ als der allein hinreichenden Bedingung des christlichfrommen Selbstbewusstseins der Person nachzudenken. Ihr ordne ich jenes Geschehen zu, für das die Tradition der kirchlich-theologischen Lehre den Begriff der unio sacramentalis prägt. Um in der Richtung dieser Grundintuition eine Lehre vom Abendmahl darzulegen, beginne ich im Folgenden mit wenigen Beobachtungen zum Ritual des Abendmahls (4.2.3.2.1). Ich knüpfe daran eine theologiegeschichtliche Skizze, die den wahrhaft tragischen Charakter des Konflikts der Lehrbildung beleuchten will, der bis in die jüngste Zeit einer Kirchengemeinschaft im Wege stand (4.2.3.2.2). Unter dem Zwischentitel „Die Mahlgemeinschaft der Versöhnung in dem Geist der Wahrheit“ entwerfe ich schließlich – ausgehend von der Glaubenssprache der „Leuenberger Konkordie“ – Grundlinien einer angemessenen theologischen Rede von Jesu Christi Selbstvergegenwärtigung im Heiligenden Geist (4.2.3.2.3).

150 Vgl. zum Folgenden bes.: Martin Luther, Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis (1528), WA 26; 261–509; Großer Katechismus: Von dem Sakrament des Altars (BSLK 707–725); Jean Calvin, Inst. IV, 17; Friedrich Schleiermacher, CG2 §§ 139–142 (II, 340–363 = KGA I.13,2, 378–403); Hans Graß, Art. Abendmahl II. Dogmengeschichtlich: RGG3 I, 21–34; Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik, Band 2 (wie Anm. 46), 678–715; Jürgen Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes (wie Anm. 1), 268–286; Wolfhart Pannenberg, STh III, 314–369; Michael Welker, Was geht vor beim Abendmahl?, Stuttgart: Quell Verl., 1999; Günter Bader, Die Abendmahlsfeier, Tübingen: Mohr Siebeck, 1993; Konrad Stock, Einleitung, 229–240; Wilfried Härle, Dogmatik5 , 558–567; Eilert Herms, STh (Bd. 1), 923–944. Eine Lehre vom Heiligen Abendmahl fehlt erstaunlicherweise bei Paul Tillich, STh! – Wie Wilfried Härle halte ich mit großem Respekt vor den Bezeichnungen „Eucharistie“ bzw. „göttliche Liturgie“ an der Bezeichnung „Abendmahl“ fest.

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4.2.3.2.1 Das Abendmahl als Ritual151

Im Kontext des sonntäglichen bzw. des feiertäglichen Gottesdienstes ist das Abendmahl das zentrale Ritual der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16). In ihm begeht die feiernde Gemeinde in einer eminent symbolischen Zeichenhandlung jenes Mysterium des Heilsratschlusses (Eph 1,9; 3,9; 6,19; Kol 1,26f.; 2,2; 4,3), dessen Offenbar-Werden den Lebenssinn und die Bestimmung aller ihrer Glieder bildet. Wovon die mannigfachen Formen der Verkündigung reden und worauf die Kirchenarchitektur bzw. die christliche Kunstgeschichte und insbesondere die sakrale Musik verweisen, das wird im Abendmahl aufs Einfachste und aufs Dichteste zu erleben gegeben: „Gottes Friede, der weiter reicht als alle Vernunft“ (Phil 2,7 [Übersetzung Ulrich Wilckens]). Die Abendmahlsfeier, wie sie die Kirchengemeinschaften der ökumenischen Christenheit hier und heute halten, folgt in ihrer liturgischen Ordnung allen Unterschieden zum Trotz einer festen, unumkehrbaren Struktur. Gemäß dem detaillierten TRE-Artikel von Georg Kretschmar hat sich diese Struktur im langen Zeitraum bis zu den Anfängen des sog. europäischen Mittelalters aus einer reichen Fülle ritueller Formen gebildet, nachdem die Ereignisse des Dritten Tages offensichtlich dazu inspirierten, der Gegenwart des Christus Jesus in der Weise eines jüdischen Festmahls zu gedenken.152 Von diesem ihrem Vorbild lösen sich die Feiern der entstehenden Christusgemeinschaften, indem sie die jüdische Sitte des Lobspruchs über dem Brot zu Beginn eines Mahls und über dem Wein am Ende eines Mahls in eine besondere Segnung der eucharistischen Gaben transformieren. Diese Segnung hat strukturbildend gewirkt. In seiner schlichten Form beginnt das Abendmahl mit dem sog. Offertorium, dem Herzubringen der Gaben des Brotes und des Weins. Ihm folgt das eucharistische Gebet, welches den Dank für Gottes versöhnendes Walten, die Anamnese des Mahls des Christus Jesus mit den Jüngern am Gründonnerstag und die Epiklese – die Bitte um die Gegenwart des Christus Jesus kraft des Heiligenden Geistes – umfasst. Sind die Gaben des Brotes und des Weins mit diesem eucharistischen Gebet gesegnet, so werden sie der feiernden Gemeinde zur Kommunion gereicht. Wenn nicht alles

151 Vgl. zum Folgenden bes.: Georg Kretschmar/Hans Bernhard Meyer/Alfred Niebergall, Art. Abendmahlsfeier I.–IV.: TRE 1, 229–328 (!!). 152 Seit Georg Kretschmars detailliertem TRE-Artikel haben das Verhältnis des urchristlichen Abendmahls zu den Gemeinschaftsmahlen der griechisch-römischen Antike sowie des hellenistischen Judentums gründlichst untersucht: Hans-Josef Klauck, Herrenmahl und hellenistischer Kult. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zum ersten Korintherbrief, Münster: Aschendorff, 1982 (NTA N.F.; 15); Bernd Kollmann, Ursprung und Gestalten der frühchristlichen Mahlfeier, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1990 (GTA; 43); Matthias Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern, Tübingen und Basel: Francke, 1996 (TANZ; 13).

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täuscht, finden sich in den verschiedenen Varianten des eucharistischen Gebets alsbald die ersten Spuren des christlich-frommen Bewusstseins, dass der Christus Jesus in den sog. Elementen des Brotes und des Weins gegenwärtig sei; deshalb ist die feiernde Gemeinde stets in die liturgische Struktur durch die verschiedenen Akklamationen eingebunden. Ist das Abendmahl das zentrale gottesdienstliche Ritual, in dem die feiernde Gemeinde des Friedens gedenkt, den Gottes versöhnendes Walten in Jesu Christi Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tode am Kreuz auf Golgatha ein für allemal stiftet (Röm 5,1), so ist es als solches jene Form, in der die Glieder der Gemeinde sich gegenseitig annehmen und anerkennen. Nicht nur die dringende Ermahnung des Apostels Paulus an die Gemeinde zu Korinth (1Kor 10,16-17), sondern auch die Brotrede des Evangeliums nach Johannes (Joh 5,35-40; 50-51) zielt auf jene Gemeinschaft in gegenseitiger Liebe, die ihren Grund hat in der Teilhabe aller an jenem „Brot Gottes“ (Joh 5,33), das Jesu Christi Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha durch Gottes Geist gewährt. Umso gravierender ist es für die systematische Besinnung auf die Feier des Abendmahls, dass das Verständnis dieser Feier in der kirchlich-theologischen Lehre jedenfalls der abendländischen bzw. der lateinischen Christentumsgeschichte von tiefen Gegensätzen belastet war, die faktisch kirchentrennende Bedeutung hatten. Um diese Gegensätze zu verstehen, genügt es nicht, sie nur zu referieren; es gilt vielmehr zu zeigen, dass sie im Wesentlichen bedingt sind durch die vorkritische Lektüre der Heiligen Schrift und dass sie sich ergeben aus der Autorität, die das christologische Bekenntnis des Konzils von Chalkedon genießt.153 Sowohl das Lehramt der Kirche unter dem Bischof von Rom als auch das Lehrbekenntnis der lutherischen Kirchengemeinschaft und die ausgereifte Lehre Jean Calvins waren guten Glaubens. Gleichwohl ist es dringend angezeigt, diese Lehrgestalten sorgsam zu revidieren, und zwar im Lichte einer vertieften Besinnung auf die Sicht des Sinnes von Sein, die der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens eigentümlich ist.154

153 Thomas Kaufmann, Art. Abendmahl II. Kirchengeschichtlich 3. Reformation: RGG4 1, 24–28, nennt daher den innerreformatorischen Abendmahlsstreit mit Recht die „Grundlagenkrise der Reformation“ (25). 154 D.h.: auch das Geschehen des Abendmahls verlangt eine phänomenologisch ausgewiesene Lehrgestalt, die die ontologischen Aspekte der Rede von der unio sacramentalis bzw. vom Gegenwärtig-Sein des Christus Jesus expliziert.

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4.2.3.2.2 Die Gegenwart des Christus Jesus – im tragischen Konflikt der Interpretationen155

Es gehört zu den tragischen Erscheinungen der abendländischen bzw. der lateinischen Christentumsgeschichte, dass ausgerechnet die Feier des Abendmahls jedenfalls seit der Verurteilung Berengars von Tours (ca. 1000–1088) in den Jahren 1050, 1051, 1054, 1059 und 1079 kirchlich-theologische Lehrgegensätze provozierte, die eine Kirchengemeinschaft unmöglich machten. Diese Lehrgegensätze beziehen sich zum einen auf die Frage, ob – und wenn ja, in welcher Weise – die eucharistischen Gaben des Brotes und des Weins in der Feier des Abendmahls eine Wandlung erfahren; zum andern auf die Frage, in welchem Verhältnis das Christus-Geschehen, wie es das Evangelium bezeugt, zum Vorsitz in der Feier des Abendmahls und damit zur Konsekration der sog. Elemente des Brotes und des Weins steht. Deshalb ist das Verständnis der Feier des Abendmahls und das Verständnis der Einheit bzw. der Gemeinschaft der Kirche unlösbar miteinander verknüpft. Niemals in Frage gestellt wurde in der Geschichte der Diskussion dieser Lehrgegensätze die basale Überzeugung, dass die Feier des Abendmahls in ihrer historischen „Einsetzung“ als Mahl des Gedenkens an Jesu Christi Selbsthingabe in den Tod „für euch“ begründet sei (vgl. bes. 1Kor 11,23-25); hier öffnet erst die neuere Bibelwissenschaft neue Wege. Zwar dürfen wir mit Dankbarkeit und Freude anerkennen, dass es seit geraumer Zeit intensive Gespräche auf dem Wege zu einer Verständigung hinsichtlich der kirchlich-theologischen Lehre gibt156 ; de facto aber stellt die Kirche unter dem Bischof von Rom nach wie vor Bedingungen für die gemeinsame Feier des Abendmahls und für die Zulassung zur Kommunion, die für die Glieder der reformatorischen Kirchengemeinschaften nicht erfüllbar sind. Wollen wir in dieser Lage im Rahmen der Besinnung auf Gottes vollendendes Walten eine konsensfähige Lehre von der Feier des Abendmahls skizzieren, so müssen wir uns die Gegensätze der kirchlich-theologischen Lehre und ihre Gründe in der gebotenen Kürze vergegenwärtigen.

155 Vgl. Zum Folgenden bes.: Josef Wohlmuth, Realpräsenz und Transsubstantiation im Konzil von Trient, Diss. (masch.), Regensburg 1972; Hans Grass, Die Abendmahlslehre bei Luther und Calvin. Eine kritische Untersuchung, Gütersloh: Bertelsmann, 2 1954 (BFCHTh. M; 47); Ernst Bizer, Studien zur Geschichte des Abendmahlsstreits im 16. Jahrhundert, Darmstadt: Wiss. Buchges., 2 1962; Eckhard Lessing, Abendmahl (Ökumenische Studienhefte; 1 = BensH; 72, 1993 [Lit.]). 156 Vgl. hierzu bes. den ausgezeichneten Artikel von Ulrich Kühn, Abendmahl IV. Das Abendmahlsgespräch in der ökumenischen Theologie der Gegenwart: TRE 1, 145–212. – Zur Kritik der Lehrgespräche und ihrer bisherigen Ergebnisse vgl. bes. Eilert Herms, Überlegungen zum Dokument „Das Herrenmahl“, jetzt in: Ders., Von der Glaubenseinheit zur Kirchengemeinschaft II, Marburg: Elwert, 2003 (MThSt; 68), 35–52.

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Es sei noch vorausgeschickt, dass sich eine konsensfähige Lehre von der Feier des Abendmahls keineswegs auf die Exegese der sog. „Einsetzungsworte“ bloß als solche berufen kann; ebenso wenig kann sie sich unmittelbar auf das christologische Bekenntnis des Konzils von Chalkedon stützen, um aus dessen Zwei-Naturen-Lehre Jesu Christi Machtvollkommenheit als die ihm eigene Machtvollkommenheit des schöpferischen Wortes abzuleiten.157 Sie wird vielmehr ihren Ausgang bei der Erkenntnis nehmen, dass das Neue Testament die Ursprungssituationen der Ereignisse des Dritten Tages auch mit einer Mahlgemeinschaft des in Gottes Ewigkeit Erhöhten mit dem Kreis der Jünger identifiziert (Lk 24,30f.; Apg 1,4), die sich anschließt an Jesu Mahlgemeinschaften in der Zeit seiner irdischen Lebensgeschichte.158 Ich konzentriere mich im Folgenden auf die römisch-katholische Lehre von der Wandlung der eucharistischen Gaben des Brotes und des Weins, auf den Lehrkonsens der lutherischen Kirchengemeinschaft und schließlich auf die Lehre Jean Calvins, bevor ich in Aufnahme der Gedanken Friedrich Schleiermachers die Möglichkeiten eines heutigen Lehrkonsenses erkunde. Erstens: Gegenüber den verschiedenen Gestalten der Abendmahlslehre der reformatorischen Bewegung hatte das Konzil von Trient im „Decretum de ss. Eucharistia“ (DH 1635–1661) bzw. in der „Doctrina de ss. Missae sacrificio“ (DH 1738–1759) die Lehre der römisch-katholischen Kirche verbindlich festgestellt. Obgleich die beiden Texte verschiedene Schwerpunkte setzen, verbindet sie die einheitliche Intention zu lehren und zu bekräftigen, dass das Sakrament der Eucharistie in der Feier der Messe jenes allgenugsame Opfer seiner selbst vergegenwärtige, welches der Christus Jesus im Tod am Kreuz auf Golgatha Gott dem Vater dargebracht hat. Indem sich das Konzil auf die Einsetzungsworte nach Lk 22,19 und 1Kor 11,24f. beruft, versteht es die sakramentale Zeichenhandlung als diejenige Wandlung, die

157 So hat Martin Luther, Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis (1528) (WA 26; 283,32f.), Jesu Christi Einsetzungsworte als „thettelwort“ – als „Tatwort“ seiner schöpferischen Allgegenwart – verstehen wollen; und zwar ohne Rücksicht auf die Differenz, ohne die wir das Verhältnis zwischen Jesu Lebensgeschichte und Geschick bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha und seiner offenbaren Erhöhung in das „Sein zur Rechten Gottes“ nicht angemessen verstehen werden. – In meinem Kapitel 3 hatte ich das Problem des christologischen Symbols des Konzils von Chalkedon und dessen Ausbau in der sog. Zwei-Naturen-Lehre darin gesehen, dass sein Begriff der „hypostatischen Union“ Jesu individuelles Person-Sein, dessen Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha das einheitliche Thema der synoptischen Evangelien ist, nicht angemessen zu erfassen vermag (s. 3.5.2.4). Aus der Kritik dieses Begriffs der „hypostatischen Union“ ergeben sich m. E. wichtige Konsequenzen für das Verständnis der Feier des Abendmahls (s. 4.2.3.2.3). 158 Vgl. Wolfhart Pannenberg, STh III, 336: „Erst die Auferstehung Jesu konnte die Gewißheit begründen, daß Jesus tatsächlich die Macht hat, seinen Jüngern in Gestalt des Brotes, das sie brechen und verzehren, gegenwärtig zu sein.“. – Vgl. auch Oskar Cullmann, Urchristentum und Gottesdienst, Zürich: Zwingli-Verl., ² 1950, 17ff.

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ihren wirklichen und wirksamen Grund in Jesu Christi sakramentaler Gegenwart hat (DH 1636). Um dieses Verständnis genauer zu explizieren, greife ich zurück auf dessen maßgeblich gewordene Darlegung bei Thomas von Aquino. In ihrem Zentrum steht aufgrund des Offenbarungszeugnisses des Neuen Testaments der biblisch begründete Glaubenssatz, dass Jesu Christi Selbstdarbringung an Gott den Vater als das einzigartige Opfer „zur Sühnung der Sünden“ (Hb 10,12 [Übersetzung Ulrich Wilckens]; vgl. Röm 3,25; 5,18ff.; Eph 5,2) schlechthin heilsnotwendig sei. Dieser Glaubenssatz wirft nun die Frage auf, ob und wie denn das geschichtliche Geschehen der Passion des Christus Jesus unter Pontius Pilatus im Vollzug der Messe hier und heute gegenwärtig sein könne. Auf diese Frage antwortet Thomas mit dem Gedanken der Repräsentation.159 Dieser Gedanke gibt eine reale Beziehung zu verstehen zwischen den eucharistischen Gaben des Brotes und des Weins, den Opfergaben des Leibes und des Blutes und dem seinerzeitigen Geschehen der Selbsthingabe Jesu Christi als der einzigartigen Opfergabe an Gott den Vater. Nur kraft dieser realen Beziehung ist es angebracht, in einem abgeleiteten Sinne auch von der Messe als dem Meßopfer zu sprechen. Es vergegenwärtigt jenes seinerzeitige Geschehen, weil und indem dem zelebrierenden geweihten Priester die Vollmacht übertragen ist, die Worte Jesu Christi als des „großen Hohenpriesters“ (vgl. Hb 10,21) darzustellen.160 Es ist ein protestantisches Vorurteil, in der liturgischen Funktion des Vorstehers der Messe, der die Wandlungsworte als Worte Christi spricht, eine eigenständig heilsvermittelnde Funktion zu sehen. Im Unterschied zur tradierten Glaubenslehre der Kirche, welche die Wandlung der eucharistischen Gaben des Brotes und des Weins in die allgenugsame Selbstdar159 Vgl. zum Folgenden bes. Thomas von Aquino, STh III q 75 a 1; q 79 a 7; q 80 a 12 ad 3; q 83 a 1; sowie die Interpretation von Erwin Iserloh, Art. Abendmahl III/2. Mittelalter: TRE 1, 89–106; bes. 95ff. – Eine ausgezeichnete Einordnung der thomanischen Sakramentenlehre in die Komposition der Summa theologiae bietet Otto Hermann Pesch, Art. Thomas von Aquino/Thomismus/Neuthomismus: TRE 33, 433–474. 160 Vgl. bes. Thomas von Aquino, IV Sent. D 8 q 2a 1 sol 4 ad 4: „Hoc sacramentum directe repraesentativum est dominicae passionis, qua Christus ut sacerdos et hostia Deo se obtulit in ara crucis. Hostia autem quam sacerdos offert est una cum illa quam Christus obtulit secundum rem, quia Christus realiter continet. Minister autem offerens non est idem realiter, unde oportet quod sit idem repraesentatione. Sacerdos consecrans prout gerit personam Christi, profert verba consecrationis recitative ex persona Christi, ne hostia alia videatur.“ („Dieses Sakrament stellt direkt das Herrenleiden dar, in dem Christus als Priester und Opfergabe sich Gott darbrachte auf dem Altar des Kreuzes. Die Opfergabe aber, die der Priester darbringt, ist dieselbe, die Christus darbrachte, der [physischen {verstehe: der existenten}] Wirklichkeit nach. Der darbringende Priester ist aber nicht wirklich derselbe. Deshalb muß er derselbe sein durch Darstellung [repraesentatione]. Aus diesem Grund spricht der Priester, der in der Person Christi konsekriert, die Wandlungsworte als Worte Christi.“ [Übersetzung Erwin Iserloh {wie Anm. 159, 96}]).

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bringung des Christus Jesus an Gott den Vater betrifft, handelt es sich bei der Lehre von der Transsubstantiation um eine theologische Theorie; sie sucht die Frage zu beantworten, wie diese Wandlung denn überhaupt möglich sei. Vom IV. Laterankonzil im Jahre 1215 zur kirchlich festgestellten Lehre erhoben161 , wurde sie maßgeblich theoretisch begründet von Thomas von Aquino (STh III q 73–q 83; bes. q 75 a 1–a 8). Sowohl die Lehre des Konzils als auch dessen theoretische Begründung bei Thomas lassen klar erkennen, dass die Eucharistie als diejenige gottesdienstliche Feier gilt, die die Passion des Christus Jesus als den Ursprung der Einheit der Christus-Gemeinschaft der Kirche vergegenwärtigt. Die thomanische Begründung des kirchlich festgestellten Glaubenssatzes bewegt sich ungebrochen im frommen Weltbild des antiken und des mittelalterlichen Christentums, demzufolge der verklärte Christus Jesus sich „zur Rechten Gottes des Vaters“ im Empyreum – im himmlischen Raum über den Sphären der sieben bekannten Planeten – befinde. In diesem kosmologischen Rahmen gebraucht sie die begrifflichen Mittel, die der Rezeption der aristotelischen Kategorienlehre geschuldet sind: insbesondere die Unterscheidung zwischen der Form des Seienden und der Materie des Seienden sowie die Unterscheidung zwischen dem Seienden als dem für sich Bestehenden und den verschiedenen akzidentellen Bestimmtheiten des für sich Bestehenden. Dass die begrifflichen Mittel der Kategorienlehre auf die theoretische Begründung der kirchlichen Lehre anwendbar sein sollen, hat allerdings seinen ontologischen Grund im Verstehen Gottes als des wahrhaft unendlich Wirklichen (STh III q 75 a 4 c) bzw. als des schöpferischen Seins (ebd. ad 3). Dies und nur dies macht die Erkenntnis der Art und Weise möglich, in der der Christus

161 Der entsprechende Passus lautet: „Una vero est fidelium universalis Ecclesia, …, in qua idem ipse sacerdos est sacrifium Iesus Christus, cuius corpus et sanguis in sacramento altaris sub speciebus panis et vini veraciter continentur, transsubstantiatis pane in corpus, et vino in sanguinem potestate divina: ut ad perficiendum mysterium unitatis ipsi de suo, quod accepit ipse de nostro. Et hoc utique sacramentum nemo potest conficere, nisi sacerdos, qui rite fuerit ordinatus, secundum claves Ecclesiae, quas ipse concessit Apostolis eorumque successoribus Iesus Christus.“ („Es gibt aber eine allgemeine Kirche der Gläubigen, …, in der der Priester zugleich das Opfer ist, Jesus Christus, dessen Leib und Blut im Sakrament des Altars unter den Gestalten von Brot und Wein wahrhaft enthalten sind, wenn durch göttliche Macht das Brot in den Leib und der Wein in das Blut wesenhaft verwandelt wird: damit wir selbst zur Vollendung des Geheimnisses der Einheit von dem Seinigen empfangen, was er selbst von dem Unsrigen empfangen hat. Und dieses Sakrament kann freilich nur ein Priester vollziehen, der gültig geweiht wurde entsprechend den Schlüsseln der Kirche, die Jesus Christus selbst den Aposteln und ihren Nachfolgern gewährte.“ [DH 802: Übersetzung Peter Hünermann]). – Das Dekret sucht den Streit zwischen einer „allegorischen“ bzw. einer „figurativen“ und einer „realistischen“ bzw. einer „mystischen“ Deutung der Eucharistie seit Amalar von Metz (gest. ca. 850) zu entscheiden, der insbesondere in der Verurteilung der Lehre Berengars von Tours akut geworden war. Der Text berücksichtigt noch nicht die Lehre von der Konkomitanz, die erst auf dem Konzil von Konstanz (1414–1418) formuliert (vgl. DH 1199) und vom Konzil von Trient bekräftigt wurde (DH 1642).

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

Jesus nicht nur „zur Rechten Gottes des Vaters“ im Empyreum, sondern auch im Sakrament der Eucharistie existiert (STh III q 76 a 1–a 8).162 In der Ordnung des geschaffenen Seienden gibt es Wandlungsprozesse.163 Von ihnen unterscheidet sich die sakramentale Wandlung in der Feier der Eucharistie dadurch, dass sie als „conversio substantialis“ (ebd. a 4 c) zu denken ist. Zusammen mit dem letzten Wort der Konsekration bewirkt Gott als das wahrhaft unendlich Wirkliche bzw. als das schöpferische Sein – und nicht etwa der Priester! –, dass sich das für sich bestehende Seiende – des Brotes und des Weins – in das für sich bestehende Seiende des Christus Jesus – verstehe: des sich für uns Gott dem Vater als Opfer Hingebenden – wandelt. In dieser Wandlung wird das für sich bestehende Seiende des Brotes und des Weins nicht etwa vernichtet; es bleibt vielmehr als „species“ – als das sinnfällig Gegebene – des gegenwärtig für sich bestehenden Seienden des Christus Jesus erhalten: „Et hoc agitur divina virtute in hoc sacramento. Nam tota substantia panis convertitur in totam substantiam corporis Christi, et tota substantia vini in totam substantiam sanguinis Christi. Unde haec conversio non est formalis, sed substantialis. Nec continetur inter species motus naturalis, sed proprio nomine potest dici transsubstantiatio.“ („Und so geschieht es durch göttliche Kraft in diesem Sakrament. Denn die ganze Substanz des Brotes wird gewandelt in die ganze Substanz des Leibes Christi, und die ganze Substanz des Weins in die ganze Substanz des Blutes Christi. Und diese Wandlung ist keine Wandlung der Form, sondern eine Wandlung der Substanz [verstehe: des für sich

162 Das Dekret des Konzils von Trient vom 11. Oktober 1551 ist sich der Aporie vollauf bewusst, wenn es seine Lehre von der Realpräsenz des Christus Jesus im Sakrament der Eucharistie mit folgenden Worten einleitet: „Neque enim haec inter se pugnant, ut ipse Salvator noster semper ad dextram Patris in caelis assideat iuxta modum naturalem, et ut multis nihilominus aliis in locis sacramentaliter praesens sua substantia nobis adsit, ea existendi ratione, quam etsi verbis exprimere vix possumus…“ (DH 1636: „Es widerstreitet sich nämlich nicht, daß eben unser Erlöser entsprechend der natürlichen Daseinsweise immer zur Rechten des Vaters in den Himmeln sitzt, und daß er nichtsdestoweniger an vielen anderen Orten in seiner Substanz sakramental gegenwärtig bei uns ist, in einer Daseinsweise, die wir zwar kaum mit Worten ausdrücken können…“ [Übersetzung Peter Hünermann]). 163 Beispiel: Ein Feuer ist ein für sich bestehendes Seiendes („substantia“), das „akzidentell“ groß oder klein, lang andauernd oder kurzzeitig, im Ofen oder im Scheiterhaufen wirklich und wirksam ist. Als Feuer ist es seine „Form“ bzw. sein „Wesen“ oder seine „Eigenbewandtnis“ („forma“), etwas Brennbares („materia“) zu verbrennen. Bewirkt es an anderem für sich bestehenden Seienden – etwa an einem Buch – eine Wandlung („conversio“), so betrifft diese Wandlung die „Form“ bzw. das „Wesen“ oder die „Eigenbewandtnis“ dieses für sich Bestehenden (es wird zur „Form“ der Asche). Nie und nimmer aber vermag Feuer in der Ordnung des geschaffenen Seienden einen Wandlungsprozess zu bewirken, der wiederum ein für sich bestehendes Seiendes (d. h. eine „substantia“ mit ihren „akzidentellen“ Bestimmtheiten) entstehen lässt. Dies zu bewirken ist die Prärogative Gottes als des wahrhaft Wirklichen bzw. als des schöpferischen Seins.

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Bestehenden]. Insofern fällt sie nicht in die Klasse der natürlichen Bewegungen, sondern kann in ihrer Eigenart nur als Transsubstantiation [verstehe: als übernatürliche Bewegung] bezeichnet werden“ [meine Übersetzung]).164

Die Theologie der Eucharistie, die wir im Plan der Summa theologiae des Thomas von Aquino finden, ist für die Liturgie der Messe und für die Frömmigkeit der Leute im großen Zeitraum des späten europäischen Mittelalters allerdings nicht wirksam geworden. Über die geistliche Kritik am Sakrament der Buße hinaus sah sich die reformatorische Bewegung genötigt, Missstände der eucharistischen Feier und deren kirchlich-theologische Basis anzugreifen.165 Zu diesen Missständen zählt die Elevation der Hostie, die der Vorsteher der Messe nach der Konsekration der Gaben vollzieht; zu ihnen zählt darüber hinaus die Ausgestaltung der Liturgie und des Kirchenraums, die mehr und mehr die feiernde Gemeinde zur Zuschauerin der kultischen Handlung am Altar macht; zu ihnen zählt schließlich die Lehre vom Wert der Messe und von ihren Früchten, die man unter bestimmten, auch unter finanziellen Bedingungen anderen wie z. B. Verstorbenen zuwenden kann. Als schwersten Mangel aber hat es die reformatorische Bewegung empfunden, dass es die kirchlich-theologische Lehre im Unklaren lässt, ob man bzw. inwiefern man Gottes gratia gratum faciens in der Kommunion heilsam empfängt. Im Interesse meines Beitrags zu einer ökumenisch konsensfähigen Lehre vom Abendmahl gilt es deshalb festzuhalten, dass sich die reformatorische Bewegung an den Fehlgestalten des christlich-frommen Selbstbewusstseins in der Heiligen römischen Kirche entzündete, wie sie sich insbesondere in der Praxis der Sakramente manifestierten.

164 Thomas von Aquino, STh III q 4 a 5 c. – Thomas hat die spätere explizite Lehre von der Konkomitanz noch nicht im Blick. – Im Anschluss an das Dokument „Sacrosanctum Concilium“ (SC) des II. Vaticanum hat die neuere römisch-katholische Theologie Konzepte entwickelt, die das Modell der Transsubstantiation im Sinne einer „Transsignifikation“ (Piet Schoonenberg) bzw. einer „Transfinalisation“ (Edward Schillebeeckx) präzisieren; und zwar im Lichte einer Abkehr von der kategorialen Unterscheidung zwischen der Substanz als dem für sich Bestehenden und deren akzidenteller Bestimmtheiten. Ob diese Konzepte die Billigung des kirchlichen Lehramts finden, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall war die infame Polemik, mit der die führenden Sprecher der reformatorischen Bewegung die Feier der Eucharistie und das Modell der Transsubstantiation überschütteten, fehl am Platz. 165 Vgl. zum Folgenden bes.: Peter Browe, Die Verehrung der Eucharistie im Mittelalter, München: Hueber, 1933; Erwin Iserloh, Der Wert der Messe in den Diskussionen der Theologen vom Mittelalter bis zum 16. Jahrhundert: ZKTh 83 (1961), 44–69; Hans Bernhard Meyer, Die Elevation im deutschen Mittelalter und bei Luther: ZKTh 85 (1963), 162–217; Ders., Luther und die Messe. Eine liturgiewissenschaftliche Untersuchung über das Verhältnis Luthers zum spätmittelalterlichen Meßwesen, Paderborn: Verl. Bonifacius-Dr., 1965 (KKTS; 11).

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

Zweitens: Für die von Kirchenrechts wegen geltende Lehre vom Abendmahl in der lutherischen Kirchengemeinschaft ist Luthers überragende geistliche und theologische Autorität maßgeblich geworden. Um ihren Einfluss und um ihre Tragweite klarzustellen, erinnere ich in gedrängter Kürze an das genuin reformatorische Motiv, das Luther seit den 95 Thesen vom 31. Oktober 1517 und in den frühen Publikationen zwischen 1517 und 1520 zur kritischen Neubesinnung auf das Wesentliche des Sakraments getrieben hatte.166 In meiner Einführung ins vorliegende Kapitel hatte ich gezeigt, in welcher Weise Luther für sich selbst und für seine berufliche Funktion als geweihter Priester, als akademischer Lehrer und als Seelsorger von der kirchlichen Praxis des Sakraments der Buße und von der herrschenden Theologie der Buße angefochten war. Diese Anfechtung hatte darin ihren ernsten Grund, dass das Sakrament der Buße in der Reihe aller sakramentalen Vollzüge in der Kirche unter dem Bischof von Rom jenen Anteil am Stand der Gnade des Christus-Geschehens vermitteln sollte, der die Seligkeit des ewigen Lebens in der Schau des göttlichen Wesens erhoffen lässt. Allerdings hatten die kirchliche Praxis und die Theologie der Buße seit Petrus Lombardus (1095/1100 – 1160) das Zentrum des Sakraments – das Absolutionswort des Priesters in der Beichte für die bekannte schwere Sündenschuld – an Bedingungen geknüpft, die die erhoffte Seligkeit des ewigen Lebens höchst ungewiss erscheinen ließen. Aus dieser ihn zutiefst bedrohenden Ungewissheit sah sich Luther für sich selbst befreit, als ihm durch die Lektüre der mystischen Theologie Johannes Taulers und durch die seelsorgliche Begleitung Johannes’ von Staupitz deutlich wurde, dass es allein die Gnade des Christus-Geschehens selbst und als solche sei, welche die Buße (die „contritio“) im Sinne der lebenslangen Umkehr in die selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit Gott im Herzen und Gewissen der Person bewirkt. Diese Einsicht führt nicht nur zur Kritik des Ablass-Wesens, sondern wird auch fruchtbar in Luthers Anleitungen zum heilsamen Gebrauch der Sakramente in den Schriften der Jahre 1517 bis 1520 bis hin zur Schrift „De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium“ (WA 6; 484-573). Diese Anleitungen entwickeln das Wesentliche des Sakraments, indem sie dessen Struktur als den Zusammenhang des eminent symbolischen Zeichens (bzw. der eminent symbolischen Zeichenhandlung), des darin bezeichneten verheißenen Guts und jenes Christus-Glaubens beschreiben, der dieses Gut vertrauensvoll empfängt.

166 Vgl. zum Folgenden bes.: Martin Luther, Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis (1528): WA 26; 201–509; Paul Althaus, Die Theologie Martin Luthers (wie Anm. 15), 318–338; Albrecht Peters, Realpräsenz. Luthers Zeugnis von Christi Gegenwart im Abendmahl, Berlin: Lutherisches VerlagHaus, 1960 (AGTL; 5); Eilert Herms, Sakrament und Wort in der reformatorischen Theologie Luthers, in: Ders., Kirche – Geschöpf und Werkzeug des Evangeliums, Tübingen: Mohr Siebeck, 2010, 113–161; Reinhard Schwarz, Martin Luther – Lehrer der christlichen Religion (wie Anm. 36), 500–516. – Vgl. zum Folgenden bes. Volker Leppin, Das ganze Leben Buße (wie Anm. 23).

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Diese Struktur bestimmt denn auch die praktischen Reformen des Gottesdiensts im Allgemeinen und der Feier des Abendmahls im Besonderen. Sie richten gegenüber den beklagenswerten Missständen des Meßwesens jener Zeit die Ordnung einer Einheit des Predigt- und des Abendmahlsgottesdienstes auf, welche die Einheit des Wortes Gottes – verstehe: die Einheit des versöhnenden Wortes, das uns die Heilige Schrift und deren sachgemäße Auslegung bezeugt – in den Formen des sprachlich vermittelten und des „sichtbaren“ bzw. des „leibhaften“ Wortes als Grund der Gewissheit des Christus-Glaubens praktiziert.167 Im Lichte dieser reformatorischen Grund-Intuition können wir uns Luthers Verständnis des Abendmahls wie folgt vor Augen führen.168 In seinen beiden Katechismen wie in den Schriften seit 1517, die sie vorbereiten, konzentriert sich Luther ganz und gar auf die Einsetzungsworte, die der Christus Jesus gemäß dem Offenbarungszeugnis des Neuen Testaments gesprochen hat. Er versteht sie als verba testamenti: als eine letztwillige Verfügung, die jemand in Ansehung seines Todes für die begünstigten Erben trifft. Stillschweigend nimmt er auf die liturgische Form der reformatorischen Feier des Abendmahls Bezug, in der der Leiter bzw. die Leiterin des Gottesdienstes die Einsetzungsworte in Richtung auf die feiernde Gemeinde spricht, um ihr im Namen Jesu Christi den „Nutzen“ (BSLK 520,22-30) bzw. das „Gut“ oder die „Frucht“ des Testamentes zuzusprechen. Die Definition des „Sakraments des Altars“ (BSLK 519,39–520,2) und der damit gegebene „Nutzen“, „Gut“ oder „Frucht“ bilden in Luthers Augen ebenso wie in der römisch-katholischen Deutung der res sacramenti eine untrennbare Einheit. Allerdings bringt Luther den „Nutzen“, das „Gut“ bzw. die „Frucht“ des „Sakraments des Altars“ so zur Geltung, wie es der Position in der Auseinandersetzung um den Ablass und um das Sakrament der Buße entspricht. Der im Testament des Christus Jesus hier und heute der feiernden Gemeinde zugesprochene „Nutzen“ – „Vergebung der Sunde, Leben und Seligkeit“ (BSLK 520,27f.; 713,31–714,11) – wird nämlich wirksam allein unter der Bedingung des geistgewirkten Christus-Glaubens (BSLK 520,38ff.; 714,17–45). Sie ist als die je individuelle Gewissheit der Wahrheit des im Testament verbürgten „Nutzens“ jenes radikale Empfangen und Gebrauchen, das die Empfänger – zugleich mit dem Empfangenen – mit dem Geber dieser Gabe vereint. Luther hat dies Eins-Sein des Christus-Glaubens der Person mit dem

167 Vgl. hierzu Eilert Herms, Sakrament und Wort in der reformatorischen Theologie Luthers (wie Anm. 166), 132f. 168 Vgl. zum Folgenden bes.: Kleiner Katechismus (BSLK 519,36–521,10); Großer Katechismus (BSLK 707,46–725,21); CA X; Konkordienformel (Epitome VII): Vom heiligen Abendmahl Christi (BSLK 796–803); Solida Declaratio VII (BSLK 970–1016): Vom heiligen Abendmahl.

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

Christus Jesus selbst immer wieder als Tausch, und zwar als den beglückendsten Tausch beschrieben.169 Es ist die seelsorgliche Intention der Abendmahls-Predigten sowie der katechetischen Erklärung der Abendmahlsfeier, das würdige Empfangen der Gaben des Brotes und des Weins als das „Pfand und Zeichen“ des Empfangens der Vergebung verstehen zu lassen, die im Tod des Christus Jesus am Kreuz auf Golgatha ihren realen Grund hat und die im Testament des Mahls ebenso wie in der gesamten Kommunikation des Evangeliums mitgeteilt wird. Analog zum Sakrament der Taufe gilt auch das Sakrament des Altars für Luther als ein eminent symbolisches Zeichen. Wie man die Relation dieses Zeichens zu dem bezeichneten Sachverhalt angemessen zu verstehen habe: die Beantwortung dieser Frage hatte allerdings das Potential, die Einheit und Zusammenarbeit der reformatorischen Bewegung zu sprengen.170 Wegen des zeichenvermittelten Empfangens der Vergebung und damit des Lebens und der Seligkeit in der Gewissheit des Christus-Glauben besteht Luther hartnäckig darauf, dass der reale Grund der zugesprochenen Vergebung – der Tod des Christus Jesus am Kreuz auf Golgatha – kraft des schöpferischen Wortes des Testators für den Empfang des Pfandes und Zeichens hier und jetzt in der Feier des Abendmahls realiter gegenwärtig ist. Schon in der großen Streitschrift „De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium“ aus dem Jahre 1520 hatte er, nachdem er die theologische Theorie der Transsubstantiationslehre strikt zurückgewiesen hatte, die reale Gegenwart des Christus Jesus „unter“ den eminent symbolischen Zeichen des Brotes und des Weins unter Berufung auf den schlichten Sinn der Einsetzungsworte behauptet. Schon hier begründet er diese Behauptung mit der Christologie der Zwei-Naturen-Lehre, wie sie das Konzil von Chalkedon im Jahre 451 festgestellt hatte.171 Diese Begründung hat in der bitteren Auseinandersetzung

169 Vgl. hierzu bes. Reinhard Schwarz, Martin Luther – Lehrer der christlichen Religion (wie Anm. 36), 509 u. ö. 170 Der niederländische Humanist Cornelisz Hendricxz Hoen (gest. 1524) hatte mit einem Brief, der unter dem Titel „Epistola christiana“ vermutlich von Huldrych Zwingli 1525 veröffentlicht wurde, ebenso wie Andreas von Karlstadt (1486–1541) mit seiner Lehre, die aus dem allgenugsamen Grund der Vergebung in Jesu Christi Tod am Kreuz auf Golgatha die reale Präsenz des Auferstandenen in, mit und unter den eminent symbolischen Zeichen des Brotes und des Weins in der Feier des Abendmahl bestritt, die erste Phase des innerreformatorischen Konflikts ausgelöst. Beide vertraten eine signifikative bzw. eine tropologische Deutung des „est“ der Einsetzungsworte, die für Zwinglis Verständnis des Abendmahls wichtig wurde; vgl.: Kommentar Huldrych Zwinglis über die wahre und falsche Religion, deutsch in: Zwingli-Hauptschriften, Bd. 10: Zwingli als Theologe. 2. Teil, übersetzt und hg. von Fritz Blanke, Zürich: Zwingli-Verl., 1963, 58–103. Vgl. Emidio Campi, Art. Zwingli, Ulrich: RGG4 8, 1945–1955. 171 Vgl. Martin Luther, De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium (WA 6; 511, 34ff.): „Sicut ergo in Christo res se habet, ita et in sacramento. Non enim ad corporalem inhabitationem divinitatis

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mit der signifikativen bzw. mit der figurativen oder tropologischen Deutung des Abendmahls bei Andreas von Karlstadt (1486-1541), bei Johannes Oekolampad (1482-1531) und bei Huldrych Zwingli mehr und mehr die Beweislast zu tragen. Allerdings setzt Luthers Begründen ohne weiteres voraus, dass das christologische Bekenntnis von Chalkedon die Proexistenz des Christus Jesus – des „versöhnenden Wortes des schöpferischen Wortes“ (s. 3.5.3) – nur in einer ganz bestimmten Zuspitzung angemessen erfasst: nämlich in jener Zuspitzung, wie sie die spätere Theologie von Johannes Brenz und von Martin Chemnitz ausdrücklich in der Weise eines „neuen Dogmas“ artikuliert.172 Ist sie damit angemessen erfasst, so hat das christologische Bekenntnis Konsequenzen für unser Verstehen der Weise, in der der Christus Jesus in der von Gott geschaffenen Ordnung der Dinge präsent sein kann. Luther widmet diesen Konsequenzen eine theoretische Betrachtung, die den kategorialen Unterschied plausibel machen möchte zwischen dem für uns begreiflichen Im-Raume-Sein des durch Gottes schöpferisches Wort geschaffenen Seienden und den zwei für uns unbegreiflichen Weisen, in denen Gottes schöpferisches Wort als das versöhnende Wort in dem begreiflichen Im-Raume-Sein des geschaffenen Seienden präsent sein kann. An dem für uns begreiflichen Im-Raume-Sein des Seienden hebt Luther die Merkmale des materiellen Körper-Seins und damit des Begrenzt-Seins bzw. des Abgemessen-Seins hervor („circumscriptive“).

necesse est transsubstanciari humanam naturam, ut divinitas sub accidentibus humanae naturae teneatur. Sed integra utraque natura vere dicitur: Hic homo est deus, hic deus est homo. Quod et si philosophia non capit, fides tamen capit.“ („Wie sich also die Sache in Christus verhält, so verhält sie sich auch im Sakrament [verstehe: des Altars]. Denn zur leibhaften Einwohnung der Gottheit ist es keineswegs notwendig, dass die Menschheit transsubstantiiert werde, so dass die Gottheit unter den Akzidentien [verstehe: den „species“] der Menschheit gegenwärtig sei. Vielmehr wird die Integrität der beiden Naturen richtig angesprochen wie folgt: Dieser Mensch ist Gott, dieser Gott ist Mensch. Was, auch wenn Philosophie dies nicht fasst, der Glaube dennoch fasst.“ [meine Übersetzung]). 172 Vgl. hierzu und zum Folgenden Martin Luther, Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis: „Der erst (verstehe: Grund) / ist dieser artickel unseres glaubens / Jhesus Christus ist wesentlich / natürlicher / warhafftiger / völliger Gott und Mensch ynn einer person (verstehe: in der Person des Logos, d. h. in der ‚hypostatischen Union‘) unzertrennet und ungeteilet.“ (WA 26; 394). – Natürlich steht dieser „Artikel des Glaubens“ auch für Andreas von Karlstadt, für Johannes Oekolampad, für Huldrych Zwingli und für Jean Calvin unangezweifelt in Geltung. Erst das „neue Dogma“ – die kirchlichtheologische Lehre von der communicatio idiomatum (verstehe: der wechselseitigen Mitteilung der Eigenschaften der göttlichen Wesenheit der trinitarischen Person des Logos und der menschlichen Wesenheit Jesu Christi) im Sinne einer realen Attribution – bringt Luthers originäre Intention zur Sprache. Vgl. hierzu Theodor Mahlmann, Das neue Dogma der lutherischen Christologie, Gütersloh: Mohn, 1969. – Eine konsensfähige Lehre von der Feier des Abendmahls schließt eine behutsam-kritische Revision des christologischen Bekenntnisses von Chalkedon ein (s. 3.5.2.4).

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

Von ihnen unterscheidet Luther die beiden Weisen des für uns unbegreiflichen Im-Raume-Seins als Weisen des Immateriellen („diffinitive“; „repletive“). Für die erste Weise eines immateriellen Im-Raume-Seins beruft er sich – neben der Seinsweise der Engel und der Teufel – auf die im Offenbarungszeugnis des Neuen Testaments erzählten Erscheinungen des Auferstandenen, die sich anscheinend frei von dem Begrenzt-Sein bzw. von dem Abgemessen-Sein des materiell Seienden ereignen. Für die zweite Weise eines immateriellen Im-Raume-Seins hingegen nimmt er den Glaubenssatz der schöpferischen Allgegenwart des göttlichen Wesens im All des Seienden in Anspruch: ausdrücklich versichernd, diese „übernatürliche“ Weise sei unserer Vernunft „unbegreiflich / und mus allein mit dem glauben ym wort (verstehe: im Wort der Heiligen Schrift, des Zeugnisses des Wortes „im Anfang“ [Joh 1,1.2]) behalten werden“.173 Da nun Jesus Christus gemäß dem christologischen Bekenntnis von Chalkedon schon durch die Empfängnis in Maria als wahrer Gott und wahrer Mensch in ein und derselben Person – verstehe: in der trinitarischen Person des Logos – existiert, so muss nach Luthers messerscharfer Logik folgen: „… das er auch nach der dritten (verstehe: nach der zweiten ‚immateriellen‘) ubernatürlichen weise sey und sein müge allenthalben / wo Gott ist / und alles durch und durch vol Christus sey auch nach seiner menscheit / nicht nach der ersten leiblichen (verstehe: nach der ‚materiellen‘) begreifflichen weise / sondern nach der ubernatürlichen (verstehe: nach der zweiten ‚immateriellen‘) göttlichen weise / Denn hie mustu stehen und sagen / Christus nach der Gottheit wo er ist / da ist er eine natürliche Göttliche person / und ist auch natürlich und persönlich daselbst…“ (WA 26; 397)

Luthers unzweideutige Meinung ist es mithin, dass der Christus Jesus in der Feier des Abendmahls „unter“ den eminent symbolischen Zeichen des Brots und des Weins als der vom Tod am Kreuz auf Golgatha Erstandene wirklich – und d. h.: in leibhaftem Person-Sein (verstehe: in eschatisch-leibhaftem Person-Sein) – gegenwärtig ist, weil es ihm kraft seines Eines-Seins mit dem schöpferischen Worte Gottes 173 WA 26; 395. – Luther verwendet hier ganz offensichtlich den Ausdruck „Glaube“ nicht im Sinne der Relation von „Verheißung“ und „Glaube“ (verstehe: „Glaube“ im Sinne von „Christus-Glaube“ und d. h. von „faith“), sondern im Sinne der gebotenen Anerkennung eines Satzes der kirchlichtheologischen Lehre (verstehe: „Glaube“ im Sinne von „belief “), die das christologische Bekenntnis des neutestamentlichen Offenbarungszeugnisses mehr oder weniger angemessen expliziert. In dem Zeitraum vor den Anfängen eines historisch-kritischen Bibelwissenschaft war es in den innerreformatorischen Auseinandersetzungen Gott sei’s geklagt nicht möglich, die dringend gebotene Verständigung über das Verhältnis zwischen dem Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift, der Tradition der kirchlich-theologischen Lehre und der Praxis des gelebten Christus-Glaubens in der gottesdienstlichen Feier des Abendmahls zu erreichen – mit schwerwiegenden Folgen für die Einheit der reformatorischen Bewegung!

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ontologisch möglich und deshalb faktisch zu verwirklichen ist. Wegen dieser „unio sacramentalis“ des Brotes bzw. des Weins und des Leibes und des Blutes Jesu Christi (verstehe: des eschatisch-leibhaften Person-Seins Jesu Christi) kommen Luther und die ihm folgende Lehre der lutherischen Kirchengemeinschaft nicht umhin zu bekennen, dass die Empfänger des Sakraments Leib und Blut Jesu Christi (verstehe: das eschatisch-leibhafte Person-Sein Jesu Christi) – gewiss auf „übernatürliche, himmlische Weise“ – realiter empfangen.174 Luther und das von ihm maßgeblich geprägte Lehrbekenntnis der lutherischen Kirchengemeinschaft haben das Gegenwärtig-Sein des Christus Jesus in der Feier des Abendmahls „unter“ Brot und Wein offensichtlich nach Analogie der „Fleischwerdung“ des schöpferischen Logos (Joh 1,14) verstanden.175 Eine kritische Fortbildung dieses Lehrbekenntnisses geht daher von jener kritischen Fortbildung des tradierten christologischen Bekenntnisses aus, die das individuelle Person-Sein Jesu von Nazareth in seiner Einheit mit dem dreieinen Person-Sein des göttlichen Wesens selbst ernst zu nehmen intendiert (s. 3.5.2.4). Drittens: Während sich die lutherische Kirchengemeinschaft im Konkordienbuch das von Kirchenrechts wegen geltende Lehrbekenntnis gegeben hatte, brachte die weitverzweigte Familie der reformierten Kirchengemeinschaften eine situative Vielzahl von Bekenntnissen hervor, die stets dem aktuellen Bekennen dienen wollen. Aus diesem Grunde hat man immer wieder betont, dass es in der Tradition der reformierten Reformation keine einheitliche Lehre vom Sakrament des Abendmahls gebe. Deshalb halte ich mich an die ausgereifte Lehrgestalt, wie sie Jean Calvin im Buche IV der Institutio von 1559 vorgetragen hat, zumal er sie im Rückblick

174 Vgl. Konkordienformel, Epitome VII: „Wir glauben, lehren und bekennen, daß der Leib und Blut Christi nicht allein geistlich durch den Glauben, sondern auch mündlich, doch nicht auf kapernaitisch, sunder übernatürliche, himmlische Weise umb der sakramentlichen Voreinigung willen mit dem Brot und Wein empfangen werde, wie solches die Wort Christi klärlich auslegen …“ (BSLK 799, 16–24). Folgerichtig lehrt die Konkordienformel denn auch, dass „auch die Unwirdigen und Ungläubigen empfahen den wahrhaftigen Leib und Blut Christi …“ (ebd. 799, 38–40). 175 Vgl.: Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis: „Eben also ist und kan auch Christus ym brod sein … Denn wie der versiegelt stein und die verschlossen thür unverendert und unverwandelt blieben / und doch sein leib zu gleich war an dem ort / da eitel stein und holtz war / also ist er auch ym sacrament zu gleich / da brod und wein ist / und doch brod und wein fur sich selbs bleiben unverwandelt und unverendert.“ (WA 26; 395). Es ist leicht zu sehen, dass dieser Vergleich in jeder Hinsicht hinkt. – Vgl. hierzu kritisch auch Wolfhart Pannenberg, STh III, 344ff. Auch die an der Umgangssprache orientierte „synekdochische“ Deutung des strittigen Deuteworts „hoc est corpus meum“ kann nicht überzeugen, weil sie von der Bezeichnung eines materiellen bzw. eines physischen Ortsverhältnisses (wie z. B. der auf den Beutel bezogene Satz: „das ist mein Geld“) auf die Bezeichnung eines Verhältnisses zwischen einem materiell bzw. physisch Seienden („Brot“ und „Wein“) und einem immateriell bzw. einem intelligibel Seienden (Jesu Christi eschatisch-leibhaftes Person-Sein) schließt.

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auf die schweren und schmerzlichen Kontroversen seit 1524 formuliert. Wir werden sehen, dass sie für die Suche nach einer konsensfähigen Interpretation der Abendmahlsfeier heute wichtige Impulse bietet.176 Calvin legt seine Lehre „Vom heiligen Mahl Christi: und was es uns bringt“ im 17. Kapitel des Buches IV der Institutio dar, das insgesamt den „äußeren Mitteln“ gewidmet ist, „durch welche Gott uns in die Christus-Gemeinschaft einlädt, und in ihr erhält“.177 Es handelt vom Gefüge der notwendigen institutionellen Bedingungen, unter welchen Gottes Heiligender Geist die Gnade der Gewissheit des Christus-Glaubens und deren heilsame Wirkung für das Selbst des Menschen schafft. In diesem Gefüge kommt Calvin nicht nur auf das Verhältnis der wahren Christus-Gemeinschaft zu ihren individuellen Gliedern und nicht nur auf die Fragen einer Kirchenleitung, sondern auch auf die Sakramente der Taufe und des Abendmahls zu sprechen. Sie haben allesamt den Zweck, das Leben in der Erfahrung der befreienden Wahrheit, wie sie das Evangelium bezeugt, menschlich möglich zu machen. Diesem Zweck dient insbesondere auch das Sakrament des Abendmahls; und zwar insofern als es – dem Sakrament der Taufe, aber auch anderen Symbolen des biblischen Gott-Verstehens analog – mit Augustins Definition als „sichtbares Wort“ zu gelten hat (IV; 14,6 [OS 5; 263,13]). Im Rahmen der Liturgie und ihrer homiletischen Erklärung kommt ihm die Funktion eines Zeichens zu, die Calvin gerne mit der Funktion des Siegels einer Urkunde vergleicht (IV; 14,5 [OS 5; 262,9]). Der Lehre Huldrych Zwinglis widersprechend legt Calvin allen Wert darauf, dass die Gewissheit der Wahrheit des Christus-Glaubens nicht etwa unvermittelt, sondern vielmehr vermittelt durch die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche entstehe und bestehe (IV; 14,8 [OS 5; 266,4]). Im Verhältnis zur gesamten kirchlichen Verkündigung bzw. im Verhältnis zur Feier des Sakraments der Taufe kommt nun der Feier des Sakraments des Abendmahls nach Calvin eine besondere Bewandtnis zu. Calvin sucht sie zu zeigen, indem er das Bewusstsein der Gegenwart des Christus Jesus in der Feier des Sakraments des Abendmahls konsequent an die Gewissheit bindet, die Gottes Heiligender Geist hervorruft. In diesem Junktim liegt der Grund, aus welchem Calvin der Lehre Luthers und dem lutherischen Lehrbekenntnis hartnäckig widerspricht; in ihm wird allerdings auch das Problem unübersehbar deutlich, das den gesamten vorkritischen Schriftgebrauch der reformatorischen Bewegung belastet.

176 Vgl. zum Folgenden bes.: Wilhelm Niesel, Calvins Lehre vom Abendmahl, München: Christian Kaiser, 1935 (FGLP; III/3); Joachim Rogge, Virtus et res. Um die Abendmahlswirklichkeit bei Calvin, Stuttgart: Calwer Verl., 1965 (AzTh; I,18); Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik, Bd. 2 (wie Anm. 46), 687ff.; Eberhard Busch, Art. Reformierte Kirchen: RGG4 7, 165–171. 177 Nachweise aus diesem Werk sind im Folgenden im Text notiert.

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Einerseits: Wie Luther und wie das lutherische Lehrbekenntnis bezieht Calvin die eminent symbolische Zeichenhandlung der Abendmahlsfeier auf die Gemeinschaft mit dem Christus Jesus als auf die „materia“ bzw. auf die „substantia“ des sakramentalen Zeichens.178 Sie – die Gemeinschaft mit dem Menschen, in dessen Tod am Kreuz auf Golgatha der Heilswille des göttlichen Wesens ein für allemal geschieht – ist die Gabe, die die eminent symbolische Zeichenhandlung zu verstehen und zu empfangen gibt. Andererseits: In unüberwindlichem Gegensatz zu Luther und zum lutherischen Lehrbekenntnis ist es Calvins Meinung, dass die Gabe der Gemeinschaft mit dem Christus Jesus ebenso wie ihr glaubendes Verstehen und Empfangen allein durch Gottes Heiligenden Geist gegeben werde (IV; 17,12 [OS 5; 356,7]). Im Hintergrunde dieser Meinung steht ein Argument, das aus der Reflexion auf das Bekenntnis des Konzils von Chalkedon abgeleitet wird. Zwar lehrt dieses Bekenntnis die Proexistenz des Christus Jesus für uns Menschen alle anzusprechen als Existenz in Einheit der göttlichen und der menschlichen Wesenheit, die in der trinitarischen Person des schöpferischen Wortes ruht; aber diese Einheit wäre gründlich missverstanden, wenn man sie im Sinne einer Teilhabe der menschlichen Wesenheit an den Prärogativen der göttlichen Wesenheit zu denken wagen würde (IV; 17,30 [OS 5; 387,1ff.]). Auf diese Weise würde man die kategoriale Differenz zwischen schöpferischem Sein und geschaffenem Seiendem verkennen, die in dem ontologischen Grundverhältnis zwischen schöpferischem Sein und geschaffenem Seiendem zu achten und zu ehren ist. Von einer Allgegenwart der menschlichen Wesenheit Jesu Christi kraft ihrer Teilhabe an der göttlichen Wesenheit kann der Christus-Glaube – das christlich-fromme Selbstbewusstsein – nichts wissen (ebd.; vgl. II; 14,4 [OS 3; 462–464]). Calvin ergänzt dies christologische Argument mit einer Deutung der lukanischen Erzählung von Jesu Christi Aufgenommen-Werden „gen Himmel“ (Apg 1,4-11), die ganz und gar der vorkritischen Lektüre der Heiligen Schrift und deshalb auch dem frommen Weltbild des antiken und des mittelalterlichen Christentums verpflichtet ist. Scheint es ein essential des Christus-Glaubens zu sein, dass Jesu Christi menschliche Wesenheit bis zu ihrer Parusie (vgl. 1Kor 11,26) im Himmel weilt, so kann es ihre Gegenwart auf Erden in allen raumzeitlich verschiedenen Feiern nur geben kraft des Heiligenden Geistes.179 In dieser Form kann Calvins Lehre natürlich

178 Vgl. Inst. IV; 17,11 (OS 5; 354, 11f.): „Significatio in promissionibus est sita, quae quodammodo sunt signo implicitae. Materiam aut substantiam voco Christum cum sua morte et resurrectione.“ („Die Bedeutung liegt in den Verheißungen, die dem Zeichen gewissermaßen inhärent sind. Unter der ‚Materie’ oder der ‚Substanz‘ aber verstehe ich Christus mit seinem Tod und seiner Auferstehung.“ [meine Übersetzung]). Vgl. auch Inst. IV; 17,9 (OS 5; 351,10). 179 Vgl. Inst. IV; 17,18 (OS 5; 364f.,36ff.): „Hoc regnum nec ullis locorum spatiis limitatum, nec ullis dimensionibus circunscriptum, quin Christus virtutem suam, ubicunque placuerit, in caelo et

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keinen Anspruch auf Gültigkeit erheben; nicht etwa nur deshalb nicht, weil sie von der Theorie der Evolution des unbegrenzten Universums und seines definitiven Richtungssinnes überholt ist, sondern auch und vor allem deshalb nicht, weil sie der Erkenntnis des Christus-Glaubens von Gottes schöpferischer Eigenschaft der Allgegenwart widerspricht (s. 2.3.3). Gleichwohl gibt Calvin mit dieser Lehre einen gewichtigen Anstoß zum Konsens, indem sie Jesu Christi Gegenwart in der Feier des Abendmahls als Gegenwart im Heiligenden Geist verstehen lässt. Viertens (Fazit): Die römisch-katholische Lehre von der Feier der Eucharistie in der Messe, die Kirchenlehre der lutherischen Kirchengemeinschaft sowie die Abendmahlslehre der verschiedenen reformierten Bekenntnisse stimmen im Wesentlichen darin überein, dass sie das Sakrament des Altars konsequent auf den Tod des Christus Jesus am Kreuz auf Golgatha für uns beziehen. Ausschließlich dieser Tod gilt als das sacrificium, welches der Christus Jesus Gott dem Vater – verstehe: der trinitarischen Person des Vaters – darbringt. Deshalb wirft das Ritual der Liturgie die Frage auf, inwiefern es Jesu Christi Tod für uns vergegenwärtigt und in welcher Weise bzw. unter welchen Bedingungen die feiernde Gemeinde dessen „Nutzen“ bzw. dessen „Frucht“ oder dessen „Gut“ empfängt. Schwierig wenn nicht gar aussichtslos war eine konsensfähige Beantwortung dieser Frage, weil sie stets eingebunden war in divergierende Überzeugungen hinsichtlich der gratia gratum faciens, kraft derer Gottes Heiligender Geist das Evangelium des Christus-Geschehens als die befreiende Wahrheit erschließt. Womöglich

terra exerat: quin se praesentem potentia et virtute exhibeat: quin suis semper adsit, vitam ipsis suam inspirans, in iis vivat, eos sustineat, confirmet, vegetet, conservet incolumes, non secus acsi corpore adesset: quin denique suo ipsius corpore eos pascat, cuius communionem Spiritus sui virtute in eos transfundit. Secundum hanc rationem corpus et sanguis Christi in sacramento nobis exhibetur.“ („Dieses Herrschen [verstehe: des zur Rechten Gottes des Vaters Erhöhten] ist weder durch irgendwelche räumlichen Abstände begrenzt noch durch irgendwelche Maße umschrieben, da ja Christus seine versöhnende Kraft im Himmel und auf Erden zur Wirkung bringt wo immer es ihm gut dünkt: da er ja sich selbst vergegenwärtigt durch seine Vollmacht und seine versöhnende Kraft: da er ja den Seinen stets beisteht, indem er ihnen sein Leben mit-teilt, in ihnen lebt, sie unterstützt, kräftigt, nährt, unversehrt erhält, nicht anders als er leibhaft gegenwärtig wäre: da er ja schließlich alle diejenigen mit seinem eigenen Leibe weidet, in dessen Gemeinschaft der Geist seiner versöhnenden Kraft sie einschließt. Eben auf diese Weise wird uns der Leib und das Blut Christi im Sakrament [verstehe: des Altars] dargereicht.“ [meine Übersetzung]). – Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik, Bd. 2 (wie Anm. 46), 698, bringt Calvins Lehre daher auf den Begriff der Spiritualpräsenz und macht darauf aufmerksam, dass dieses Verständnis die Grundlage für die Einigung mit Heinrich Bullinger im „Consensus Tigurinus“ von 1549 war. Es ist nur wichtig zu beachten, dass der Begriff der Spiritualpräsenz überhaupt die Weise meint, in der der Christus Jesus jenseits des Todes und durch den Tod hindurch im Medium des Heiligenden Geistes wirklich gegenwärtig ist.

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sind es die geschichtlichen Erschütterungen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts, welche die Bereitschaft und den ernsten Willen motivierten, neue Wege der Beantwortung dieser Frage zu gehen. 4.2.3.2.3 Die Mahlgemeinschaft der Versöhnung in dem Geist der Wahrheit

Die Feier der Eucharistie, der Heiligen Liturgie bzw. des Abendmahls geschieht von allem Anfang an in der ursprünglichen Form einer Mahlgemeinschaft der feiernden Gemeinde, in deren gottesdienstlichem Ritual sie vor sich geht (s. 4.2.3.2.1). Die kirchlich-theologische Lehre, mit deren Hilfe sie den Sinngehalt ihres christlichfrommen Selbstbewusstseins expliziert, hat sich allerdings je länger je mehr von dieser ihrer ursprünglichen Form entfernt. Bedingt durch jene Divergenz, die wir als Divergenz zwischen einer figurativen bzw. signifikativen und einer metabolischen bzw. einer mystischen Deutung charakterisieren dürfen, konzentriert sich die Geschichte dieser Lehre auf die Beantwortung der Frage, in welcher Weise denn die Gaben des Brotes und des Weins im liturgischen Kontext des Gottesdienstes der Messe die eminent symbolischen Zeichen der Gegenwart des Christus Jesus bilden. Aus überaus komplexen Gründen ließ sich jedenfalls in der abendländischen bzw. in der lateinischen Christentumsgeschichte diese Divergenz der Lehre nicht ertragen; sie rief vielmehr erbitterte – und nicht zuletzt mit politisch-militärischen Mitteln ausgefochtene – Konflikte zwischen den christlichen Konfessionsgesellschaften hervor, die erst nach jener schauerlichen „Urkatastrophe“ des Großen Krieges von 1914–1918 zum Thema intensiver konsensorientierter kirchlich-theologischer Gespräche wurden. Für meine folgende systematische Besinnung auf das Geschehen des Abendmahls sind die Gespräche zwischen den reformatorischen Kirchengemeinschaften, die zur sog. Leuenberger Konkordie führten, von besonderem Gewicht. Die „Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa“ vom 16. März 1973 hatte die Kirchengemeinschaft der unterzeichnenden Kirchen begründet, indem sie zwischen der elementaren Sprachform des Christus-Glaubens und den divergierenden Gestalten kirchlich-theologischer Lehre unterschied. Ihre eindrückliche Formulierung der Sprachform des Christus-Glaubens lautet: „Im Abendmahl schenkt sich der auferstandene Jesus Christus in seinem für alle dahingegebenen Leib und Blut durch sein verheißendes Wort mit Brot und Wein. Er gewährt uns dadurch Vergebung der Sünden und befreit uns zu einem neuen Leben aus Glauben. Er läßt uns neu erfahren, daß wir Glieder an seinem Leibe sind. Er stärkt uns zum Dienst an den Menschen. Wenn wir das Abendmahl feiern, verkündigen wir den Tod Christi, durch den Gott die Welt mit sich versöhnt hat. Wir bekennen die Gegenwart des auferstandenen

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Herrn unter uns. In der Freude darüber, daß der Herr zu uns gekommen ist, warten wir auf seine Zukunft in Herrlichkeit.“180

Der Text mahnt zur Zurückhaltung gegenüber dem „Interesse an der Art der Gegenwart Christi im Abendmahl, das von dieser Handlung (verstehe: des Feierns) absieht“, weil dieses Interesse Gefahr laufe, „den Sinn des Abendmahls zu verdunkeln.“181 Diese Mahnung ist gewiss berechtigt. Allerdings legt die Liturgie des Abendmahls ebenso wie die Liturgie der Taufe selbst es nahe zu interpretieren und zu explizieren, was die feiernde Gemeinde mit dem Bekenntnis der „Gegenwart des auferstandenen Herrn unter uns“ denn meint. Nicht nur die katechetische bzw. die religionspädagogische Aufgabe im theologischen Beruf, sondern auch die apologetische Aufgabe der Christus-Gemeinschaft in den Foren der Öffentlichkeit einer Gesellschaft machen eine solche Interpretation und Explikation unvermeidlich. Erstens: Die Feier des Abendmahls ist ein integrierender Teil der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16), die in der Feier des Gottesdienstes im Kirchenjahr ihr Identitätszentrum besitzt (s. 4.2.1). Als deren integrierender Teil ist sie und wird sie stets begründet und erneuert kraft der „Ausgießung des Heiligenden Geistes“, welcher die religiöse Kommunikation des Evangeliums zu dienen bestimmt ist. Diese metaphorische Wendung weist auf jenes Offenbarungsgeschehen hin, das seinen Empfängern den Sinn und das Ziel des göttlichen Wesens und damit den Sinn und das Ziel ihrer selbst – ihres eigenen Lebens in dieser ihrer begrenzten irdischen Lebenszeit – endgültig erschließt. Es ist aus diesem Grunde die Quelle aller heilsamen Neubestimmung unseres Lebens in der Einheit der Erfahrungswelt: des Glaubens, des Hoffens, des Liebens, des Lebens in der Selbstverantwortung vor Gott (s. 4.3). Meine bisherige Besinnung konzentrierte sich auf jene typischen Situationen der Kommunikation, in denen sich die Entwicklungs- bzw. die Bildungsgeschichte eines Menschen zum Guten wendet: zur Umkehr in die selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit Gott selbst als Höchstem Gut. Diese Umkehr ereignet sich im Kontinuum jener medialen Formen, in denen wir dieses Guts als des in Wahrheit Höchsten Guts gewiss werden und selbst in den Ängsten, den Leiden, den Anfechtungen, den Schuldgefühlen unseres Lebens gewiss bleiben. Nach meiner

180 Vgl. Wenzel Lohff (Hg.), Die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa: Leuenberger Konkordie, Frankfurt a.M.: Lembeck, 1985, 16. – Die zitierte These war vorbereitet durch die „Arnoldshainer Abendmahlsthesen“ von 1957, die das Ergebnis eines zehnjährigen Lehrgesprächs einer Kommission von Theologen lutherischen, reformierten und unierten Bekenntnisses innerhalb der EKD festhielten. 181 Ebd. 19.

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christologischen Betrachtung ist diese Umkehr möglich, wenn uns der Heiligende Geist Jesu Christi Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tode am Kreuz auf Golgatha als den geschichtlichen Ursprung einer Existenz in selbstbewusstfreier Willensgemeinschaft mit Gott selbst erschließt (s. 3.6). Es ist die Sache aller medialen Formen der religiösen Kommunikation des Evangeliums, diesen geschichtlichen Ursprung dem Herzen und Gewissen der Person – dem frommen Selbstbewusstsein – verstehbar und bejahbar nahezubringen. Für das Gespräch der konfessionell geprägten Kirchengemeinschaften über das Sakrament des Abendmahls hat diese allgemeine hermeneutische Regel eine außerordentlich wichtige systematisch-praktische Konsequenz. In der Feier des Abendmahls begeht eine feiernde Gemeinde nicht etwa nur das Gedächtnis (Lk 22,19; 1Kor 11,24) des Todes Jesu Christi im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages bloß als solcher; sie begeht vielmehr im Kontext aller typischen Situationen ihrer Kommunikation das Gedächtnis der Lebensgeschichte und des Lebensgeschicks bis hin zum Tode am Kreuz auf Golgatha, in dem sich Jesu Proexistenz vollendet (Joh 19,30). Für eine behutsam-kritische Interpretation der Liturgie des Abendmahls als Ordnung der Feier einer Mahlgemeinschaft sprechen zwei gewichtige bibelwissenschaftliche Gründe: Zum einen ist es gut bezeugt, dass Jesu Botschaft vom unscheinbaren – und d. h.: vom jeweils punktuellen bzw. aktuellen – Im-Kommen-Sein der königlichen, der eschatischen Herrschaft JHWHs in ihm selbst die Mahlgemeinschaft nicht nur mit Jüngerinnen und Jüngern, sondern auch mit „Zöllnern und Sündern“ einschloss. Er praktiziert sie als das eminent symbolische Zeichen, das seinen Gästen JHWHs In-Gemeinschaft-sein-Wollen und damit die Bedeutung seiner Rede sinnfällig zu verstehen gibt.182 Zum andern aber beschert uns die Passionsgeschichte der synoptischen Evangelien, die die Erzählung von einem „Letzten Mahl“ einschließen (Mk 14,12-25; Mt 26,17-30; Lk 22,7-23; vgl. Joh 13,1-30 sowie 1Kor 11,23-25), erhebliche methodische und quellenkritische Probleme. Abgesehen von der Tatsache, dass Jesus auf das Urteil des römischen Präfekten Pontius Pilatus hin gekreuzigt wurde, ist ihr historischer Wert durchaus umstritten. Insbesondere ist es zweifelhaft, ob Jesus selbst in der Erwartung seines gewaltsamen Todes in einem Abschiedsmahl die verba testamenti in welcher Form auch immer gesprochen habe. Mit dem Gelübde, nicht mehr von dem Gewächs des Weinstocks zu trinken (Mk 14,25), scheint Jesus vielmehr die Gewissheit zu bekräftigen, alsbald das allumfassende Erscheinen der

182 Vgl. hierzu Michael Wolter, Jesus von Nazaret, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2019, 139–153. Wolter weist darauf hin, dass das antike Judentum das eschatische „Heil“ JHWHs in Gestalt eines festlichen Mahls erwartet habe (vgl. Jes 25,6; äthHen 62,13-14; slawHen 42,5). Diese Erwartung findet sich auch in Jesu Verkündigung (vgl. Mt 8,11-12; Lk 13,29).

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Herrlichkeit JHWHs im Tempel zu Jerusalem zu erleben, das nicht zuletzt auch seine Botschaft verifizieren wird.183 Zweitens: Nehmen wir diese bibelwissenschaftlichen Gründe ernst, so haben wir eine Antwort auf die Frage zu suchen, wodurch sich denn die gottesdienstlichen Mahle der ersten Christus-Gemeinschaften von Jesu eigenen Festmahlen unterscheiden; denn es ist dieser Unterschied, welcher den Sinn und die Bedeutung der liturgischen Formeln der sog. Einsetzungsworte konstituiert, die die ersten Christus-Gemeinschaften im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages im Namen Jesu Christi sprechen. In diesem Unterschied kündigt sich jener Begriff einer Wandlung (μεταβολή; conversio) an, den die kirchlich-theologische Lehre seit Ignatius von Antiochien, seit Justin dem Märtyrer und seit Irenäus von Lyon hinsichtlich der eucharistischen Gaben des Brotes und des Weins mit wachsender Entschiedenheit vertritt. Im Kontext seines Selbstverstehens, dem allumfassenden Erscheinen der Herrlichkeit JHWHs im Tempel zu Jerusalem in jeweils punktueller bzw. aktueller Weise zu dienen, schreibt Jesus selbst schon den Festmahlen mit Jüngerinnen und Jüngern sowie mit „Zöllnern und Sündern“ die Funktion eines eminenten symbolischen Zeichens zu. Das Festmahl Jesu gibt den Gästen etwas zu verstehen: es lädt sie dazu ein, in, mit und unter der Feier des gemeinsamen Mahls sich selbst neu zu verstehen als solche, denen JHWHs unbedingtes In-Gemeinschaft-sein-Wollen gilt.184 Es symbolisiert das unbedingte Anerkannt-Sein bzw. das unbedingte Geliebt-Sein der Person, das ihr die Feier des gemeinsamen Mahles wirksam zeigt. Mit einem aus den Kontroversen der Abendmahlslehre der Reformationszeit bekannten Terminus zu sprechen: die Feier des gemeinsamen Mahles hat im Kontext von Jesu Selbstverständnis exhibitiven Charakter. Die gottesdienstlichen Mahle der ersten Christus-Gemeinschaften sind von den Festmahlen des irdischen Jesus dadurch unterschieden, dass sie von den Ereignissen des Dritten Tages inspiriert sind, in denen Jesu Tod am Kreuz auf Golgatha in seinem genuinen Sinn als das vollendete Geschehen der Versöhnung offenbar wird

183 Vgl. zuletzt Michael Wolter, Jesus von Nazaret (wie Anm. 182), 260–262; bes. 262: „Die gemeinsamen Mahlzeiten, die bereits in der Urgemeinde gefeiert wurden (Apg 2,42.46) und die dann auch in den paulinischen Gemeinden zum Bestandteil einer jeden gottesdienstlichen Versammlung geworden sind, haben ihre Wurzel darum nicht im letzten Mahl Jesu, sondern mit ihnen werden die Festmahle des irdischen Jesus fortgeführt, mit denen Jesus die durch ihn gegebene Anwesenheit von Gottes eschatologischem (verstehe: eschatischem) Heil unter den Menschen gefeiert hat.“ 184 Im Vorgriff auf die Gnadenlehre im Zeitraum der scholastischen Theologien bis hin zum Ansatz reformatorischer Theologie könnte man sagen: das Festmahl Jesu mit seinen Jüngerinnen und Jüngern bzw. mit „Zöllnern und Sündern“ ist – im Gegensatz zur Botschaft und zum Ritual der Taufe Johannes’ des Täufers – eine Gestalt der gratia gratis data.

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(s. 3.5.2.3). Aus diesem Grunde transformieren sie die Feiern des gemeinsamen Mahls in Jesu Christi irdischer Zeit nach der Art und Weise eines Kultmahls, in welchem der in Gottes allumfassende Ewigkeit Emporgehobene (vgl. Apg 1,9) als gegenwärtig geehrt, gefeiert und empfangen wird.185 Anders als die Feiern des gemeinsamen Mahls in Jesu Christi irdischer Zeit übt diese Form eines Kultmahls jenes Eingedenken, das die Vollendung des versöhnenden Geschehens jederzeit und regelmäßig lebendig erhält. In diesem Eingedenken wurzeln alle die apostolischen Initiativen der Mission bzw. der Verkündigung, die die Vollendung des versöhnenden Geschehens „bis ans Ende der Erde“ (Apg 1,8) propagieren. Es ist zumal das theologische Programm der sog. „Apostelgeschichte“, den Anfang der Vollendung des versöhnenden Geschehens für alle Völker des Menschengeschlechts in seiner universalen Reichweite erzählend festzuhalten. Indem wir die gottesdienstliche Feier des Abendmahls von jener Transformation herleiten, die die gemeinsamen Mahle in Jesu Christi irdischer Zeit im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages erleiden, gewinnen wir das wohlbegründete Verständnis für jene christlich-fromme Erfahrung, auf die sich der so heiß umstrittene Lehrbegriff der Realpräsenz des Christus Jesus bezieht. Mit Friedrich Schleiermacher setze ich voraus, dass dieser Lehrbegriff dann und nur dann befriedigend zu klären ist, wenn er sich an der christlich-frommen Erfahrung einer feiernden Gemeinde orientiert. Auf sie ist in der Darlegung der Trias von Glaube, Hoffnung, Liebe zurückzukommen (s. 4.3).186 Wird der Person in der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche durch Gottes Heiligenden Geist das „Vollbracht-Sein“ des Lebenszeugnisses Jesu von Nazareth (Joh 19,30) offenbar, so weiß sie sich wie angefochten und wie fragmentarisch auch immer in die Lebensform des Glaubens, des Hoffens und des Liebens versetzt. In dieser Lebensform erlebt sie sich in der Gemeinschaft mit dem Christus Jesus selbst, die ihr nicht anders als im Medium der „mitteilende(n) Darstellung des Inneren“ (§ 139,1 [II, 341 = KGA I.13,2, 379]) durch Gottes Geist eröffnet wird (s. 4.1). Gleichwohl wird ihr kraft der Erinnerungsfähigkeit des Gewissens bewusst, in welchem individuellen Maße sie verstrickt ist in das allgemeine menschliche Geschick des „In-der-Sünde-Seins“ und dessen destruktiver Wirkungen und Folgen

185 Friedrich Schleiermacher, CG2 § 139,2 (II, 344 = KGA I.13,2, 382), nennt daher das Abendmahl ehrfurchtsvoll die „durch das Wort Christi gesegnete und geheiligte Handlung.“ 186 Vgl. hierzu und zum Folgenden bes. Wolfhart Pannenberg, STh III, 343ff. Pannenberg sieht den entscheidenden Fortschritt im Verständnis des Abendmahls mit Recht darin, dass der ganze eucharistische Gottesdienst Anamnese und dass diese Anamnese der „Ort“ der Realpräsenz Jesu Christi in der Feier des Herrenmahls ist. – Im Folgenden erinnere ich an Friedrich Schleiermachers Lehre von der „Selbstvergegenwärtigung“ Jesu Christi im Abendmahl; Belege aus der „Glaubenslehre“ sind im Text notiert.

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(s. 3.3). Je achtsamer und je aufmerksamer sie auf sich selber ist, desto mehr erlebt sie sich im Zwiespalt zwischen Unglauben und Glauben, zwischen Zweifeln und Hoffen, zwischen Hassen und Lieben, zwischen Ohnmacht und Macht, zwischen Leiden und Handeln. Es ist – mit Schleiermachers Worten gesagt – dieser Zwiespalt, der das „Bedürfnis“ stimuliert, die „Lebensgemeinschaft Christi“ ebenso wie die „Gemeinschaft der Gläubigen“ miteinander wieder und wieder zu erneuern und zu vertiefen; und es ist dieses „Bedürfnis, dessen Befriedigung die Gläubigen auch in dem Sakrament des Altars suchen“ (ebd.). Was wir hier suchen, ist „eine eigentümliche Stärkung des geistigen Lebens“ (CG2  § 139 L [II, 340 = KGA I.13,2, 378]), das im Gewiss-Sein bzw. im Fühlen des Versöhnt-Seins mit dem göttlichen Wesen seinen jeweils lebensgeschichtlichen Ursprung hat. Nach Schleiermachers Leitsatz gewährt der „Genuß des Abendmahls“ just diese „eigentümliche Stärkung des geistigen Lebens, indem ihnen (verstehe: den Christus-Glaubenden) darin nach der Einsetzung Christi sein Leib und sein Blut dargereicht wird.“ (CG2  § 139 L [II, 340 = KGA I.13,2, 378]). Was heißt das? Um diese Frage zu beantworten, erinnert Schleiermacher zuallererst an den methodischen Grundsatz, dass eine „Glaubenslehre“ nur solche Sätze als „im vollen Sinn dogmatische Sätze“ darzulegen habe, die „Aussagen über unser unmittelbares Selbstbewußtsein (verstehe: über die christlich-fromme Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins) enthalten“ (CG2  § 140,1 [II, 348 = KGA I.13,2, 386]). Nach diesem Grundsatz hat die kirchlich-theologische Lehre das und nur das zu bedenken, was eine gottesdienstliche Gemeinde in der Feier des Abendmahls erfährt bzw. erlebt. Was sie erlebt, ist offensichtlich der „Zusammenhang zwischen dem Brot und Wein und Leib und Blut Christi“ (CG2  § 140 L [II, 347 = KGA I.13,2, 385]). Was es mit diesem Zusammenhange auf sich hat, das wird uns klar, wenn wir die Erzählungen der synoptischen Evangelien bzw. die zugespitzte Deutung des Apostels Paulus mit der sog. Brotrede des Evangeliums nach Johannes (Joh 6,48-51; 52-59) kombinieren. Zwischen diesen beiden Varianten einer „mitteilende(n) Darstellung des Inneren“ (§ 139,1 [II, 341 = KGA I.13,2, 379]) besteht nämlich Identität, sofern sie jeweils das Empfangen des je eigenen „geistigen Lebens aus der Fülle des seinigen (verstehe: des Lebens Christi)“ (CG2 § 139,2 [II, 344 = KGA I.13,2, 381]) artikulieren; andererseits besteht zwischen ihnen jene Differenz, wie sie zwischen der „Stetigkeit“ und der „periodische(n) Erneuerung“ des Lebens in der Lebensgemeinschaft Christi herrscht. Mithin bietet namentlich das Zeugnis des Evangeliums nach Johannes den Schlüssel zum bewussten bzw. zum verstehenden Erleben des Abendmahls; denn es bezieht die verba testamenti der synoptischen bzw. der paulinischen Tradition auf jene ganze „erlösende und gemeinschaftsstiftende Liebe Christi“ (CG2 § 139,2 [II, 343 = KGA I.13,2, 381]), die uns im Ganzen der religiösen Kommunikation des Evangeliums jederzeit realiter gegenwärtig ist.

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„Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin.“ (Röm 8,24)

Schleiermachers Konzentration der kirchlich-theologischen Lehre auf das bewusste und verstehende Erleben des Abendmahls regt jedenfalls dazu an, den Lehrbegriff der Realpräsenz im Sinn der Selbstvergegenwärtigung des Christus Jesus für das Sich-gegenwärtig-Sein der Glieder einer feiernden Gemeinde auszulegen.187 Diese seine Konzentration nimmt nicht nur Rücksicht auf die hermeneutischen und methodischen Ansätze der historisch-kritischen Bibelwissenschaft, die sowohl das römisch-katholische Prinzip des kirchlichen Lehramts als auch das sog. Schriftprinzip der reformatorischen Bewegung gründlichst zu revidieren zwingt; sie stellt auch das dogmatische Verfahren nachhaltig in Frage, das christologische Bekenntnis des Konzils von Chalkedon zum Kriterium einer konsensfähigen Lehre von Jesu Christi Selbstvergegenwärtigung in der Feier des Abendmahls zu machen. Dieses Verfahren scheitert nämlich daran, dass das christologische Bekenntnis des Konzils von Chalkedon Jesu eigenes Person-Sein in seinem eigentümlichen Verhältnis zum Person-Sein Gottes nicht adäquat erfasst; und dass es konsequenter Weise Jesu Christi Selbstvergegenwärtigung in der Feier des Abendmahls beschränkt auf Jesu Christi Tod am Kreuz auf Golgatha, ohne diesen Tod als das „Vollbracht-Sein“ des Lebenszeugnisses Jesu von Nazareth (Joh 19,30) anzusprechen (s. 3.6). Eine solche Auslegung wird allerdings bei Schleiermachers eigener Rede von Jesu Christi Selbstvergegenwärtigung nicht stehen bleiben können; sie wird vielmehr die wichtigen Impulse aufnehmen, die Schleiermacher selbst in seiner kritischen Diskussion der kirchlich-theologischen Lehre von Gottes dreieinem Wesen gegeben hat (s. 1.5.2). Drittens: Im Lichte meiner Interpretation des Lehrstücks „Vom Abendmahl“ in Schleiermachers „Glaubenslehre“ komme ich nun auf die Frage zurück, wie wir das eindrucksvolle Bekenntnis zur „Gegenwart des auferstandenen Herrn“ in der Feier des Abendmahls entfalten können, das für die „Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa“ vom 16. März 1973 als ein basaler Glaubenssatz fungiert.188 Eine solche Entfaltung hat zu erhellen, worauf der temporale Ausdruck „Gegenwart“ denn referiert. Worauf er referiert, das zeigt sich uns in der Besinnung auf

187 Idealtypisch gesprochen wird man sagen dürfen, dass der thomanische Begriff der Repräsentation, der lutherische Begriff des Testaments und der calvinische Begriff der Präsenz des Geistes Jesu Christi in demselben Aussagegegenstand konvergieren! Im Nachhinein geurteilt war es das Verhängnis des seinerzeitigen Konflikts, dass die Konfliktparteien diese Konvergenz nicht sehen und nicht wahrhaben konnten. 188 Das weitergehende ökumenische Gespräch und dessen vorläufiges Ergebnis ist dokumentiert in: Volker Leppin/Dorothea Sattler (Hg.), Gemeinsam am Tisch des Herrn. Ein Votum des ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen, Freiburg i. Br./Göttingen: Herder, 2020.

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

das Zeitbewusstsein, das als je individuelles doch zugleich ein gemeinsames Wesensmerkmal des menschlichen, d. h. des leibhaften Person-Seins ist.189 .190 Prima vista verstehen wir unter dem Ausdruck „Gegenwart“ jenes Kontinuum des Hier und Jetzt, in welchem wir die Phänomene des natürlichen wie des geschichtlichen Geschehens zu bezeichnen und zu erkennen, aber auch praktisch und ästhetisch zu gestalten suchen. Und zwar stets in Kommunikation und Interaktion mit anderen, die ihrerseits im Kontinuum des Hier und Jetzt für die Wahrnehmung der Phänomene offen sind. Nun sind uns alle die Phänomene des natürlichen wie des geschichtlichen Geschehens nur unter der Bedingung gegenwärtig, dass wir uns selbst gegenwärtig sind (s. 2.4.2.1). Wir sind uns selbst insofern gegenwärtig, als wir im Kontinuum des Hier und Jetzt zukünftig Mögliches erfassen und kraft unseres Entscheidens sprachlich und gedanklich ebenso wie praktisch und ästhetisch wirklich werden lassen wollen; und zwar so, dass wir Vergangenes bzw. Geschehenes – nämlich frühere, als solche schon verwirklichte und unverrückbar nachwirkende Möglichkeiten – im Gedächtnis haben oder uns absichtlich in Erinnerung rufen. Mit der Wendung „das Uns-selbst-gegenwärtig-Sein“ meinen wir die Zeitlichkeit des reflektierten Selbstbewusstseins der Person, kraft dessen wir uns in den Grenzen unserer jeweiligen Lage als relativ frei erleben. Allerdings: in der Tiefe des unmittelbaren Selbstbewusstseins sind wir uns dessen bewusst, dass uns dies „Uns-selbst-gegenwärtig-Sein“ gewährt, gegeben und damit auch aufgegeben ist. Es ist gewährt, gegeben und damit auch aufgegeben von jener ursprünglichen Macht, der es als solcher möglich ist, dies unser „Unsselbst-gegenwärtig-Sein“ und damit dessen relatives Frei-Sein im ungeheuren All des Seienden überhaupt wirklich werden und wirklich dauern zu lassen. Verwurzelt in dem Gott-Verstehen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft, widerspricht der Christus-Glaube solchen unfrommen Deutungen jener ursprünglichen Macht –

189 Vgl. zum Folgenden Konrad Stock, Einleitung, 237–239; sowie o. 2.4.2.1. – Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik, Bd. 2 (wie Anm. 46), hat im Anschluss an eine sorgfältige Analyse des Streits um das Verständnis des Abendmahls in der reformatorischen Bewegung die These aufgestellt: „Jede räumliche Interpretation des Mahlgeschehens stellt eine Einseitigkeit dar. Denn primär ist das Problem der Zeit gestellt.“ (708). Er entfaltet diese These, indem er die „Gegenwart Jesu Christi im Mahle“ als die „Gegenwart des Kommenden, der der Herr über die Zeit ist“, plausibel machen möchte: „Das Mahl ist Vorwegnahme des Heilsmahls der Endzeit.“ (ebd.). Allerdings ist es nicht im Geringsten seine Intention, diese These auf dem Wege der Besinnung auf das Phänomen der Zeitlichkeit des Selbstbewusstseins zu begründen. Eben dies ist meine Absicht in dem folgenden Gedankengang. 190 Vgl. zum Folgenden auch: Florian Bruckmann (Hg.), Phänomenologie der Gabe. Neue Zugänge zum Mysterium der Eucharistie, Freiburg/Basel/Wien: Herder, 2015 (QD; 270); darin bes.: René Dausner, Realpräsenz und Diachronie. Die Eucharistielehre in zeittheoretischer Perspektive (219–242); Erwin Dirscherl, Wandlung als Transitus. Präsenz als vor-über-gehende Gegenwart, die bleibt (243–267).

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wie z. B. der deistischen, der naturalistischen oder der dualistischen Deutung –, die das ontologische Grundverhältnis zwischen schöpferischem Sein und geschaffenem Seiendem nicht wahrhaben wollen bzw. (noch) nicht wahrhaben können (s. 3.3.7).191 Es ist fürs angemessene Verstehen von „Gegenwart“ fundamental, weil es das Phänomen des „Uns-gegenwärtig-Seins“ erhellt. Grund: Wenn wir uns unvoreingenommen auf dies Phänomen als das uns gewährte, gegebene und damit aufgegebene Phänomen besinnen, dann kommen wir nicht darum herum, jene ursprüngliche Macht als die Macht des schöpferischen Wortes Gottes anzusprechen (s. 2.3). Vermag sie im Prozess des ungeheuren Geschehens der Welt des Universums das individuelle „Uns-gegenwärtig-Sein“ als die Bedingung unseres relativen Frei-Seins zu gewähren, so ist es offenkundig konvenient, ihr selbst das Wesensmerkmal des Person-Seins zuzuerkennen; und zwar in eminenter, in wahrhaft unendlicher bzw. in absoluter Weise. Ihr eignet jenes ursprüngliche „Sich-gegenwärtig-Sein“, in welchem Gottes schöpferisches Wort die schöpferische Wahl zugunsten seines ontologischen Grundverhältnisses zum Inbegriff des Seienden trifft. Ich nannte dieses göttliche „Sich-gegenwärtig-Sein“ die Ewigkeit des göttlichen Lebens (s. 2.3.4). Sie ist zu denken als der spezifische Grund dafür, dass Gottes schöpferisches Wort der kosmischen Zeit des Weltgeschehens des Universums und innerhalb der Zeit des Weltgeschehens des Universums jedem individuellen menschlichen „Sich-gegenwärtig-Sein“ ewig allgegenwärtig ist: Dem wahrhaft unendlichen, dem absoluten Geist des schöpferischen Wortes ist jedes individuelle menschliche „Sich-gegenwärtig-Sein“ in der Zeit des Weltgeschehens des Universums allgegenwärtig. Nun widerfährt dem menschlichen „Sich-gegenwärtig-Sein“ in und seit den Ursprungssituationen des Christus-Glaubens – in und seit den Ereignissen des Dritten Tages – jene heilsame Neubestimmung, die uns im Ganzen der religiösen Kommunikation des Evangeliums und ihrer Zeichensprache erreicht. Sie widerfährt ihm kraft des Heiligenden Geistes, der das versöhnende Wort des schöpferischen Wortes in Jesu Christi Proexistenz, so wie die religiöse Kommunikation des Evangeliums es bezeugt, als wahr und deshalb als schlechthin vertrauenswert erschließt.

191 Darin, das ontologische Grundverhältnis zwischen schöpferischem Sein und geschaffenem Seienden nicht wahrhaben zu wollen bzw. (noch) nicht wahrhaben zu können, wurzelt jener Realitätsverlust, der nach dem einhelligen Zeugnis des Kanons der Heiligen Schrift das Wesentliche des menschlichen In-der-Sünde-Seins ausmacht. Deshalb dürfen wir den „Nutzen“ des Abendmahls darin sehen, dass die feiernde Gemeinde im Kontinuum der religiösen Kommunikation des Evangeliums durch Gottes Heiligenden Geist Gemeinschaft hat mit jenem Menschen, in dessen „Sich-gegenwärtigSein“ bis hin zum Tode am Kreuz auf Golgatha dieser Realitätsverlust überwunden ist. In diesem einzigartigen „Sich-gegenwärtig-Sein“ ist der Christus Jesus tatsächlich „Sakrament“, und zwar das ursprüngliche Sakrament.

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„Das Haupt des Leibes“ (Kol 1,18)

In der Geschichte der Erschließung dieser Wahrheit vollendet sich das Walten des dreieinen göttlichen Wesens. Es ruft diejenige „Stetigkeit“ des Lebens in der Lebensgemeinschaft Jesu Christi hervor, die Schleiermacher an der Brotrede des Evangeliums nach Johannes deutlich macht. In ihr – in dieser Stetigkeit – wird Jesu Christi eigenes „Sich-gegenwärtig-Sein“ wirksam für unser „Uns-gegenwärtig-Sein“. Sie ist und bleibt Ereignis in Jesu Christi Geistesgegenwart (vgl. Joh 14,16.17; 15,26), die sich nicht anders ereignet als innerhalb des ontologischen Grundverhältnisses, in welchem alle Dinge dem schöpferischen Wort des göttlichen Wesens ewig allgegenwärtig sind (vgl. Joh 1,1-4). Im Ganzen der Geschichte, in der sich das versöhnende Wort des schöpferischen Wortes durch Gottes Heiligenden Geist als wahr und deshalb als schlechthin vertrauenswert erschließt, kommt nun der gottesdienstlichen Feier des Abendmahls eine besondere Bewandtnis zu. Auch sie geschieht, wann immer und wo immer sie geschieht, ebenso wie die Stetigkeit des Lebens in der Lebensgemeinschaft Christi innerhalb des ontologischen Grundverhältnisses, in welchem alle Dinge dem schöpferischen Wort des göttlichen Wesens ewig allgegenwärtig sind; ihre besondere Bewandtnis aber ist darin zu sehen, dass Jesu Christi Geistesgegenwart für unser „Uns-gegenwärtig-Sein“ gebunden ist an den „Zusammenhang zwischen dem Brot und Wein und Leib und Blut Christi“ (s. o. S. 643). Es handelt sich um den Zusammenhang zwischen dem Ritual einer feierlichen Mahlgemeinschaft, dessen liturgische Ordnung dem Eingedenken der Lebensgeschichte und des Lebensgeschicks des Christus Jesus bis hin zu Tod am Kreuz auf Golgatha Sprache gibt, und jener Geistesgegenwart für unser „Uns-gegenwärtig-Sein“, die uns der Wahrheit des versöhnenden Wortes des schöpferischen Wortes vergewissert. Wir können, wie ich überzeugt bin, zu einem Lehrkonsens gelangen, wenn wir die unio sacramentalis im Sinne eines genau bestimmten Begriffs dieses Zusammenhangs präzisieren. Wir dürfen demnach die gottesdienstliche Feier des Abendmahls als diejenige eminent symbolische Zeichenhandlung verstehen und begehen, in, mit und unter der die feiernde Gemeinde die Mahlgemeinschaft mit dem Christus Jesus hält, der ihr im Heiligenden Geiste gegenwärtig ist.192 Das Abendmahl ist das Mahl des Friedens, den das vollendete Geschehen der Versöhnung stiftet (vgl. Röm 5,1). In ihm gedenkt die feiernde Gemeinde der Freude jener Mahlgemeinschaft, die Jesus selbst mit Jüngerinnen und Jüngern, mit „Zöllnern“ und mit „Sündern“ hielt; und sie sieht über jedes irdisch-geschichtliche Hier und Jetzt hinaus hoffnungsvoll jener

192 Wer dieser These zustimmt, kommt wohl nicht umhin, die Lehre Luthers und des lutherischen Lehrbekenntnisses von einer manducatio oralis derer, denen sich Sinn und Bedeutung der Feier des Abendmahls (noch) nicht erschließt, als in sich unschlüssig und deshalb widersprüchlich abzulehnen. Diese Lehre ist deshalb unschlüssig und deshalb widersprüchlich, weil sie dem Grundsatz der reformatorischen Unterscheidung zwischen dem Gefüge des „äußeren Wortes“ und dem „inneren Wort“ untreu wird.

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zukünftig-ewigen Gegenwart entgegen, für die die biblische Sprache die Metapher der Mahlgemeinschaft hat: „Anbetung dir! Einst feiern wir das große Abendmahl mit dir.“193

4.3

Durch Wahrheit zur Freiheit194

In der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) vergegenwärtigt sich der Christus Jesus im Medium des Heiligenden Geistes der individuellen Person „ubi et quando visum est Deo“ (CA V). Sie wird in ihrem Hier und Jetzt, in ihrer Lebensgeschichte bzw. in ihrem Lebensgeschick, im Raum der Kommunikation des Evangeliums in der erfahrbaren Kirche (Eilert Herms) mit dem Wahrheitsanspruch Jesu Christi vertraut; und sie begegnet diesem Wahrheitsanspruch so und nur so, wie er ursprünglich von den apostolischen Zeugen der Erscheinungen des Dritten Tages verstanden, überliefert, verschriftet und mit Blut besiegelt wurde. Es ist der Wahrheitsanspruch jenes Menschen, in dessen selbstbewusst-freier Willensgemeinschaft mit Gott selbst der schöpferische Grund und Ursprung unserer selbst versöhnend und vollendend waltet. Zur Teilhabe an

193 Friedrich Gottlieb Klopstock, EG 220. 194 Vgl. zum Folgenden bes.: Thomas von Aquino, STh II–II q 1–q 16; q 17–22; q 23–q 44; Friedrich Schleiermacher, CG2 §§ 106–112 (dazu: Christiane Braungart, Mitteilung durch Darstellung. Schleiermachers Verständnis der Heilsvermittlung, Marburg: Elwert, 1998 [MThSt; 48], bes. 165–247; 247–282); Karl Barth, KD IV/1, § 63: Der Heilige Geist und der christliche Glaube (826–872): KD IV/2, § 68: Der Heilige Geist und die christliche Liebe (825–953); KD IV/3,2, § 73: Der Heilige Geist und die christliche Hoffnung (1035–1083); Gerhard Ebeling, Dogmatik III, § 34: Die Gerechtigkeit des Glaubens (194–248); Wolfhart Pannenberg, STh III, 155–265: Die fundamentalen Heilswirkungen des Geistes im einzelnen Christen; Konrad Stock, Einleitung, 197–201: Soteriologie. Eine methodische Betrachtung; 201–209: Grundriss der Soteriologie; Wilfried Härle, Dogmatik5 , 512–532; Eilert Herms, STh (Bd. 1), 525–528; 534–543. – Erstaunlicherweise hat die neuere deutschsprachige römisch-katholische Dogmatik gewichtige Beiträge zum Traktat der „Gnadenlehre“ zu bieten, die die Wirksamkeit der gratia creata im Selbst der Person aktuell entfalten, ohne sie auf die Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche zu beziehen; vgl. z. B. Alexandre Ganoczy, Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen. Grundriß der Gnadenlehre, Düsseldorf: Patmos-Verlag, 1989, 307–334 (Der Vollzug der Gnade Gottes im Menschen); 335–351 (Der Vollzug der Gnade Gottes im Gottesvolk); Jürgen Werbick, Soteriologie, Düsseldorf: Patmos-Verl., 1990; Ders., Grundfragen der Ekklesiologie, Freiburg im Breisgau [u. a.]: Herder 2009; Ders., Gnade, Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2013 (UTB; 3842); Thomas Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München: Kösel, 1985; Christiane Schubert, Mere passive? Inszenierung eines Gesprächs über Gnade und Freiheit zwischen Eberhard Jüngel und Thomas Pröpper, Regensburg: Pustet, 2014 (Ratio fidei; 55).

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Durch Wahrheit zur Freiheit

Jesu selbstbewusst-freier Willensgemeinschaft mit Gott selbst als Höchstem Gut für das geschaffene Person-Sein einzuladen, ist das Mandat, das Amt, der Dienst der Kirche in der Kultur ihrer jeweiligen Gesellschaft. Ich hatte meiner dogmatischen Besinnung auf das Wesentliche des Christ-Seins insgesamt den Titel Durch Wahrheit zur Freiheit gegeben. Dieser Titel indiziert im Anschluss an das Denken des Apostels Paulus (Gal 4,22f.31; 5,1; Röm 6,18ff.; 8,2.21; 2Kor 3,17) und des Evangeliums nach Johannes (8,32.36) eine summarische Formel, die das Christ-Sein als das Leben im Heil-Werden charakterisiert (vgl. bes. Ps 50,23; 91,16; 116,13; Jes 56,1; Lk 1,69.77; Apg 4,12; 16,17; Röm 1,16; 10,1; 11,11; 2Kor 6,2; Eph 1,3; Hb 2,10).195 Mit der Erklärung des elementaren Sachverhalts, dass das Leben im Heil-Werden das Leben auf dem Weg der Freiheit durch Wahrheit sei, erreicht die dogmatische Besinnung ihre innergeschichtliche, ihre lebenspraktische Pointe. Als solche hat sie ethische Konsequenz, weil sie den Grund des christlichen Ethos zur Sprache bringt (s. STh III). Das biblische Offenbarungszeugnis kennt für das Leben im Heil-Werden der Person auf dem Weg zur Freiheit durch Wahrheit eine erstaunliche Vielzahl von Begriffen. Wenn ich mich jetzt auf die Begriffe des Glaubens, des Hoffens und des Liebens konzentriere, so interpretiere ich die eindrucksvolle Trias des Apostels Paulus (1 Kor 13,13), die in der Sprache des christlich-frommen Selbstbewusstseins und der kirchlich-theologischen Lehre wohl die intensivste Wirkung zeitigt. In dieser Interpretation sei dargelegt, dass die Begriffe des Glaubens, des Hoffens und des Liebens solche Bestimmtheiten des Frei-Seins der geschaffenen Person bezeichnen, die sich der Wirksamkeit des Geistes Jesu Christi – des Heiligenden Geistes – verdanken. Sie ist nach reformatorischer Lehre der notwendige und zugleich der hinreichende Grund christlicher Gottesgewissheit (s. 4.1) Die Trias des Apostels Paulus entfaltet ihre Beschreibungskraft, wenn wir uns ihre Prämissen in der gebotenen Kürze in Erinnerung rufen. Das ist zum einen deshalb unerlässlich, weil zwischen ihrer römisch-katholischen Sicht und ihrer Sicht in reformatorischer Perspektive nach wie vor erhebliche Differenzen bestehen. Zum andern aber ist es deshalb unvermeidlich, weil es zum Auftrag der Kirche als „öffentlicher Kirche“ gehört, auf alle die Fragen bzw. auf alle die Einwände der religiös-weltanschaulichen Szene unserer Zeit besonnen zu reagieren, die ein HeilWerden des Lebens auf dem Weg der Freiheit durch Wahrheit aggressiv bestreiten, resignativ bezweifeln oder gar hedonistisch verachten.

195 Die dogmatische Fachsprache gebraucht für die lehrmäßige bzw. für die theoretische Erfassung dieses existentiellen Sachverhalts den Terminus „Soteriologie“. Wie eingangs schon erwähnt, ordne ich das Thema einer „Soteriologie“ in den großen Zusammenhang der „Pneumatologie“ ein, die ihrerseits aus gutem Grund die „Ekklesiologie“ und die „Eschatologie“ umfasst. Diese meine Anordnung unterscheidet sich vom Aufbau der „Glaubenslehre“ Schleiermachers; und zwar deshalb, weil sie der tatsächlichen Bildungsgeschichte des Christus-Glaubens in dieser Welt-Zeit folgt.

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Erstens: In der Erfahrung des Lebens als Heil-Werden des Lebens auf dem Weg der Freiheit durch Wahrheit ist zuallererst vorausgesetzt und mit enthalten jenes unmittelbare Gefühl des Frei-Seins, welches die transzendentale Theorie mit Recht als harten Kern des endlichen, des geschaffenen Selbstbewusstseins betrachtet. Ich hatte ausführlich gezeigt, dass jenes unmittelbare Gefühl des Frei-Seins diejenige geschaffene Bedingung ist, unter der wir im Laufe einer Lebens- und Bildungsgeschichte mit anderen unseresgleichen sprachlich, praktisch und ästhetisch zu kommunizieren und zu interagieren vermögen; und zwar in wechselseitiger, und d. h. in mehr oder weniger symmetrischer Bezogenheit. Indem wir diese Bedingung des selbstbewusst-freien Lebens als die uns Menschen allen gewährte Bedingung verstehen, kommen wir nicht umhin, sie als die schöpferische Gabe eines unbedingten Grundes und Ursprungs unserer selbst in einer Welt im Werden und Vergehen zu verstehen, von welchem her wir schlechthin abhängig, schlechthin gewollt und d. h. in asymmetrischer Bezogenheit existieren. Benennt die biblische Sprache diesen transzendentalen Sachverhalt mit der gewichtigen Metapher „Bild Gottes“ (Gen 1,26f.), so artikuliert sie in besonderer Weise jene Erhebung des frommen Selbstbewusstseins, die wir als Wesentliches aller Religionsgeschichte ansprechen dürfen. Mit der uns Menschen allen schöpferisch gewährten Bedingung des selbstbewusstfreien Lebens ist allerdings schon nach der Einsicht des Tanakh der jüdischen JHWH-Gemeinschaft eine Verpflichtung, eine Zumutung, eine Bestimmung gegeben. Sie ist nach ihrem Inhalt in Jesu Christi Selbstverständnis und in der Glaubenslehre der apostolischen Zeugen der Erscheinungen des Dritten Tages festgehalten, und zwar in kritisch zugespitzter Form. Im unmittelbaren Gefühl des Frei-Seins als der Bedingung einer selbstbewusst-freien Lebensführung ist nämlich mitgegeben das Gefühl, in und mit der Lebensführung voreinander und füreinander verantwortlich zu sein. Und in dem Maß, in dem das Eigen-Sein und der Eigen-Sinn des schöpferischen Grundes und Ursprungs unserer selbst im Medium seiner Zeichen und seiner Zeugen hervortritt, wird das Gefühl des Verantwortlich-Seins konkret bestimmt als jene Zumutung, in und mit der Lebensführung verantwortlich zu sein vor Gott und für Gott: nämlich dem Sinn und Ziel des göttlichen Waltens auf individuelle, endliche, begrenzte Weise zu dienen. Es wird konkret bestimmt als das Verantwortlich-Sein aus Liebe. Gemäß dem Zeugnis der synoptischen Evangelien bekräftigt Jesus selbst das sog. Doppelgebot der Liebe unter Berufung auf Dtn 6,5 und Lev 19,18 als das „höchste und größte Gebot“ (Mt 22,37-40; vgl. Mk 12,28-31; Lk 10,25-28; s. 4.3.4). Zweitens: In der Erfahrung des Lebens als Heil-Werden des Lebens auf dem Weg der Freiheit durch Wahrheit ist stets vorausgesetzt und mit enthalten das traumatische Bewusstsein, das ich mit dem Begriff des Syndroms von erlittenem Leid und verschuldetem Leid bezeichnet hatte (s. 3.2). Von diesem Syndrom gibt uns

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Durch Wahrheit zur Freiheit

nicht nur die Vielzahl der mythischen Überlieferungen in den Religionskulturen des Menschengeschlechts Kunde; von ihm handelt auch alle tragische Dichtung seit Aischylos und alle seriöse Geschichtsschreibung seit Thukydides, welche die scheinbar unausweichlichen Konflikte zwischen sozialen bzw. zwischen politischen Subjekten aus den Quellen rekonstruiert. Von ihm ist insbesondere die Funktion des Rechts in aller Geschichte provoziert, soweit sie den Bruch geltender Regeln der sozialen Interaktion unter Strafe stellt. Würde man alle diese Indizien eines traumatischen Bewusstseins leichtsinnig übergehen, so würde man den „Zwiespalt“ (David Bakan) in uns selbst verdrängen, den die verschiedenen Schulen der Tiefenpsychologie und deren therapeutische Praxis zu verstehen suchen.196 Die Redeweise des Apostels Paulus und die des Evangeliums nach Johannes, die je auf ihre Weise das christliche Leben als Heil-Werden des Lebens auf dem Weg der Freiheit durch Wahrheit darstellen, ist auf diesen Zwiespalt in uns selbst bezogen, so wie ihn der Tanakh der jüdischen JHWH-Gemeinschaft als allgemeines menschliches Geschick artikuliert (vgl. bes. Gen 3,1–4,24; 6,1-4; 11,1-8). Beide Gestalten des biblischen Kanons – die der Tora und die des Evangeliums – benennen unser aller Verstrickt-Sein in dieses Geschick auf ergreifende Weise. Beide Gestalten des biblischen Kanons sind dessen gewiss, dass es erstlich und letztlich der ursprüngliche, der unbedingte Heilswille des göttlichen Wesens ist, diesen Zwiespalt auf seine unerforschliche Weise zu überwinden. Beide Gestalten des biblischen Kanons symbolisieren diese ihre Gewissheit in der Erzählung von Abrams mit der Verheißung universalen Segens verbundener Berufung (Gen 12,1-3) bzw. in der typologischen Deutung der Figur Abrahams (Röm 4,1-25; Gal 3,6-14.15-29). Identisch sind die beiden Gestalten des biblischen Kanons in der Gewissheit, dass der ursprüngliche, der unbedingte Heilswille des göttlichen Wesens – sein In-Gemeinschaft-sein-Wollen – den Zwiespalt in uns selbst in aller menschlichen Geschichte zugunsten des Lebens in der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft der Person mit Gott selbst überwindet. Jedenfalls hat die Geschichte der Komposition des Tanakh die erklärte Absicht, die Tora im Sinne eines „Kanons im Kanon“ in ihrer Ganzheit als die am Berge Sinai offenbar gewordene Ordnung einer dem göttlichen Wesen entsprechenden Lebensform festzustellen.197 Ihr tatsächlich zu 196 Aktuell zeigt sich dieser Zwiespalt in der erschütternden Zahl der Fälle häuslicher Gewaltanwendung, die Daniel Deckers’ beklemmender Leitartikel ganz zu Recht als das „alltägliche Böse“ beklagt, das außerhalb aller sozialen Kontrolle zum Vorschein kommt; vgl. Daniel Deckers, Die im Dunkeln: F.A.Z Nr. 120 (25. 05. 2020), S. 1. 197 Vgl. hierzu Eckart Otto, Art. Gesetz II. Altes Testament: RGG4 3, 845–848. Nach Otto ist es die vom Priester Esra repräsentierte und nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil feierlich promulgierte „Diaspora-Theologie“, die diese normative Zentrierung des entstehenden Tanakh vorgenommen hat. Dass diese normative Zentrierung des nachexilischen Gott-Verstehens „die Erwartung einer künftigen eschatologischen Wende nicht ausgeblendet, sondern eher unterstrichen“ habe, schärft nachdrücklich ein Klaus Koch, Art. Esra/Esrabücher I. II: RGG4 2, 1581–1586; 1585.

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entsprechen bzw. ihr gerecht zu werden, gilt der jüdischen JHWH-Gemeinschaft nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil als ihr Höchstes Gut, das freilich eine eschatische Vollendung erhoffen lässt. Sie sieht in der tatsächlichen Entsprechung zu jener offenbar gewordenen Ordnung in ihrer Ganzheit die Verheißung jenes göttlichen Segens in Erfüllung gehen, die ihr in der Erzählung von Abrams Berufung zugesprochen wird (Gen 12,1-3). Drittens: Nun wird das christlich-fromme Selbstbewusstsein der entstehenden ersten Christus-Gemeinschaften sich alsbald auf der Basis dieser Identität über seine tiefe Differenz zum jüdisch-frommen Selbstbewusstsein und zu dessen Lebenspraxis klar. Diese tiefe Differenz wurzelt ursprünglich in den Ereignissen des Dritten Tages, die ihren Empfängern ein neuartiges Gott-Verstehen erschließen: ein Gott-Verstehen, das ihnen Gottes wahres Wesen im Licht der Lebensgeschichte und des Lebensgeschicks Jesu von Nazareth bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha offenbart. Ich hatte dieses Gott-Verstehen als das Verstehen des versöhnenden Waltens angesprochen, das Gottes ursprünglichen, unbedingten Heilswillen just durch das Tragen der Sünde der Welt – was einschließt: durch das Erleiden der Sünde der Welt – (Joh 1,29; vgl. 15,13) zum Ziele kommen sieht. Gottes versöhnendes Walten aber wird zu Recht bedacht als Walten aus Liebe (vgl. Röm 8,35; 1Joh 4,16); und zwar als Walten aus Liebe zu Gottes ursprünglichem, unbedingtem Heilswillen, kraft dessen Gott auch und gerade in der Situation des Syndroms von erlittenem Leid und verschuldetem Leid in dem Gemeinsam-Sein mit Gottes Ebenbilde bleibt. Es war und ist daher in hohem Maße angemessen, dies Gott-Verstehen in der Form des „konkreten Monotheismus“ (Paul Tillich) zu entfalten (s. 1.5.3.3). Und es war und ist diese Form, welche das Gott-Verstehen der jüdischen JHWHGemeinschaft und deren Lebensform als abstrakt erscheinen lässt, weil es in dessen monarchischer bzw. in dessen unitarischer Fassung und damit in der Exklusivität der jüdischen JHWH-Gemeinschaft befangen bleibt. Das Gott-Verstehen der Christus-Gemeinschaft ist der harte Kern der Kommunikation des Evangeliums für „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16; vgl. 10,10.12-13). Es bringt Gottes wahres Wesen so zur Sprache und zum innersten Selbstgefühl, dass es die normative Zentrierung des entstehenden Tanakh auf die Tora als dessen „Kanon

– Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir die Tora als den „Kanon im Kanon“ der Komposition des Tanakh und deren Basis in der Promulgation des Dekalogs am Berge Sinai (Ex 20,1-17) als eine exemplarische Zusammenfassung jener ethischen Pflichten verstehen, die ihren letzten unbedingten Grund im „Privileg“ des göttlichen Wesens haben (Ex 20,1.2), eine Ordnung der solidarischen Beziehungen zu setzen. Allerdings liegt es wohl auf der Hand, dass die gemeinsame Erkenntnis und die gemeinsame Praxis einer solchen Ordnung der solidarischen Beziehungen sich unter den verfassungsrechtlichen Normen hochentwickelter Gesellschaften sehr viel komplizierter gestaltet als in der Welt des Alten Orients!

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Durch Wahrheit zur Freiheit

im Kanon“ und damit dessen fromme Lebenspraxis sprengt.198 Wird jemand dieses wahren Wesens Gottes für sich selbst als wahr gewiss (Röm 10,8-10), so hat dies elementare heilsame und segensreiche Wirkungen für das Leben als Leben in der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott selbst. Die paulinische Trias Glauben, Hoffen, Lieben deutet diese Wirkungen an. Um deren lebenspraktische Bedeutung und deren internes Verhältnis zueinander angemessen zu entfalten, sei in der gebotenen Kürze eine fundamentaltheologische Überlegung vorausgeschickt. Sie will erklären, aus welchem Grunde und in welchem Sinne wir die Trias Glauben, Hoffen, Lieben als die heilsame und segensreiche Folge jener Gewissheit der Wahrheit deutlich machen können, welche dem wahren Wesen Gottes entspricht. Diese Erklärung muss noch einmal – im Anschluss an die „Einführung“ ins vorliegende Kapitel – zurückkehren zu den genauen Gründen des schweren Konflikts zwischen der Kirche unter dem Bischof von Rom und der reformatorischen Bewegung des 16. Jahrhunderts. In diesem schweren Konflikt war nämlich nichts Geringeres kontrovers als das richtige Verhältnis zwischen der christlichen Gottesgewissheit, die sich allein dem Walten des Heiligenden Geistes verdankt, und jenen heilsamen und segensreichen lebenspraktischen Wirkungen, welche die christliche Gottesgewissheit in der Form des Glaubens, des Hoffens und des Liebens zeitigt. 4.3.1

Die christliche Gottesgewissheit

Es war und ist von allem Anfang an gemeinchristliches Bekenntnis, dass in den Ereignissen des Dritten Tages Gottes wahres Wesen endgültig als Gottes Barmherzigkeit (vgl. bes. Eph 2,4) bzw. als Gottes wahre Liebe offenbar wird (vgl. bes. Joh 3,16; 17,26; Röm 5,5; 8,35; 2Kor 13,11): mit dem unwiderruflichen Ziel, das Leben und Handeln der geschaffenen Person in der Ordnung der Liebe schon jetzt in dieser

198 In Aufnahme der Forschungen von Krister Stendahl (Das Vermächtnis des Paulus. Eine neue Sicht auf den Römerbrief, dt. Zürich: Theol. Verl., 2001), J. D. G. Dunn (Jesus, Paul and the Law. Studies in Mark and Galatians, London: SPCK, 1990) und Heikki Räisänen (Jesus, Paul and Torah, Sheffield: JSOT Press, 1992) hat vor allem Michael Wolter gezeigt, dass die paulinische Beschreibung des „Gesetzes“ im Galaterbrief und im Römerbrief bezogen ist auf das Verstehen der „Gerechtigkeit Gottes“, die für „Juden“ und „Griechen“ in Geltung steht und die aus diesem Grunde die „Werke des Gesetzes“ (Röm 3,28) – nämlich jene Gebote der Tora, die Israels exklusive JHWH-Gemeinschaft kennzeichnen – durch das Christus-Geschehen außer Kraft gesetzt hat. Vgl. Michael Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie (wie Anm. 133), bes. § 39–42 (339–366). – Wir dürfen allerdings nicht verkennen, dass des Apostels Paulus Lehre von der „Gerechtigkeit Gottes“ den apokalyptischen Mythos und dessen Gott-Verstehen voraussetzt, demzufolge allein das Christus-Geschehen (s. 3.6) vor „Gottes“ eschatischem Vernichtungsgericht rettet. In meiner Besinnung auf die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens suche ich zu zeigen, in welcher Weise die duale Struktur dieses Mythos zu dekonstruieren sei (s. 4.5.4.2).

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Weltzeit möglich und wirklich werden zu lassen, das Gottes schöpferisches Wollen als Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen unbedingt gebietet. Um dieses Zieles willen entwickeln das griechische wie das lateinische Christentum Formen der Unterweisung, der Lehre und des Gottesdienstes, die der Umkehr der Person aus einer Lebensführung im „amor mundi“ (d. h.: im eigennützigen Streben nach den Gütern „dieser Welt“ [verstehe: im Sinne von Joh 12,31; 1Kor 2,12]) in eine Lebensführung im „amor Dei“ (d. h.: in eine uneigennützige bzw. in eine freie „Bewegung der Seele, sich an Gott um seiner selbst willen zu erfreuen“ [Augustin, De doctrina christiana 3; 10,16]) zu dienen bestimmt ist.199 In welcher Weise diese Lebensführung im „amor Dei“ tatsächlich zustande kommt und wie sie angesichts der unausbleiblichen Rückfälle in die Lebensführung im „amor mundi“ im Sakrament der Buße wiederhergestellt wird: das ist namentlich in der Geschichte des lateinischen Christentums das dominante Thema, auf das sich sowohl die Lehre und die Praxis der Kirche unter dem Bischof von Rom als auch die Lehre und die Praxis der reformatorischen Bewegung bezieht. Ich hatte in der „Einführung“ zum vorliegenden Kapitel gezeigt, dass und wie sich der scharfe Protest Martin Luthers und der reformatorischen Bewegung an den Bedingungen entzündete, welche die Kirche unter dem Bischof von Rom für den heilsamen Empfang der Sakramente im Allgemeinen und für die Absolution im Sakrament der Buße im Besonderen aufgestellt hatte. In diesen Bedingungen kam nach reformatorischer Ansicht das Grundproblem heraus, welches die Lehre von Gottes gratia gratum faciens jedenfalls der späten nominalistischen Schule Gabriel Biels überhaupt aufs Schwerste belastete: nämlich das defizitäre Verständnis des Christus-Glaubens. Defizitär ist das Verständnis des Christus-Glaubens in der Heiligen römischen Kirche nach dem Urteil der reformatorischen Bewegung deshalb, weil es den Christus-Glauben nicht als die durch Gottes Geist im Medium der kirchlichen Kommunikation geweckte, individuelle Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums zu bedenken und zu beschreiben vermag, die als solche heilsam, tröstend und befreiend wirkt. Stattdessen bedenkt und beschreibt diese Kirche den Christus-Glauben als den jeweiligen kognitiven bzw. intellektuellen Akt der Zustimmung zum Ganzen der kirchlichen Lehre, wie sie das Lehramt der Kirche zu glauben – und d. h.: als wahr

199 Diese wichtige Stelle lehrt, dass wahre Liebe gefühlt wird und empfunden wird als wahre Freude, nämlich als Freude an dem, was sein soll (vgl. Dtn 12,18; 16,14f.; 28,47; Mt 13,44; Lk 15,1-7; 8-10; 1132; Joh 3,29; 15,11; Röm 14,7; Phil 1,25; 1Thess 1,6 [s. 4.5.4.3.3]). – Dass der existentielle Gegensatz des Lebens im „amor mundi“ und des Lebens im „amor Dei“ als solcher zugleich „politische“ bzw. „soziale“ Subjekte bestimmt: das ist die grandiose geschichtstheologische Einsicht von Augustins Werk „De civitate Dei“.

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Durch Wahrheit zur Freiheit

zu anerkennen – vorlegt. Und dieser Akt der Zustimmung zum Ganzen der kirchlichen Lehre schließt insbesondere die Zustimmung zur sakramentalen Qualität des Bischofsamtes ein, dem durch die Bischofsweihe die „Fülle des Weihesakraments“ (LG 20–27) übertragen wird. Wirksam und heilsam wird nach dieser Lehre der Empfang der Sakramente im Allgemeinen und der Absolution im Sakrament der Buße im Besonderen dann und nur dann, wenn die Empfänger diese Lehre als wahr anerkennen und wenn sie auf den Empfang der Sakramente mit dem entschlossenen Willen zur Heiligung reagieren. Die reformatorische Bewegung bewertet mit zunehmender Schärfe die sakramentale Grundstruktur der Heiligen römischen Kirche als ein Grundverständnis des wesentlich Christlichen, das die entscheidende christliche Erfahrung der Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums verfehlt.200 Im Blick auf die problemgeladene Geschichte der kirchlich-theologischen Lehre von Gottes gratia gratum faciens bzw. von Gottes gratia applicatrix haben wir es hier mit der genuin reformatorischen Perspektive zu tun, wie sie namentlich von Martin Luther und von Jean Calvin entwickelt wurde. Sie grenzte und sie grenzt sich kritisch ab von jener Lehre, die die Trias Glauben, Hoffen, Lieben im Sinne sog. „theologischer“ bzw. „göttlicher“ Tugenden zu verstehen vorschreibt, die der Person kraft des Empfangs der Sakramente „eingegossen“ werden (vgl. hierzu Röm 5,5).201 Sie sieht in dieser Lehre ein eklatantes Missverständnis der notwendigen und hinreichenden Bedingungen, unter denen Gottes versöhnendes Walten sich in seiner Wahrheit für das Selbstbewusstsein und das Selbstverhältnis der Person erschließt.202 Wir können diese Differenz ermessen, wenn wir die

200 Vgl. hierzu die sorgfältige Analyse von Reinhard Schwarz, Die gemeinsame Grundlage der christlichen Religion und deren strittiges Grundverständnis (wie Anm. 18), 41–78. – Nach meiner Darstellung der „Kommunikation des Evangeliums“ (s. 4.2) versteht es sich von selbst, dass sich das „strittige Grundverständnis“ der „gemeinsamen Grundlage“ der christlichen Religion nicht mit der Alternative von „Wort“ und „Sakrament“ erfassen lässt; vielmehr sehe ich die nach wie vor herrschende Alternative zwischen der Heiligen römischen Kirche und den Kirchen der reformatorischen Bewegung darin, dass sich nach römischer Sicht Gottes Heiligender Geist im Sakrament der Weihe an das Amt des Bischofs und an dessen Dienst der Leitung, der Lehre und der Heiligung bindet, während nach reformatorischer Sicht Gottes Heiligender Geist in, mit und unter der „Kommunikation des Evangeliums“ selbst die Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums stiftet. Aus dieser Grundalternative ergeben sich die jeweiligen Divergenzen in der Ordnung des kirchlichen Lebens und des kirchlichen Rechts (s. 4.4.2; 4.4.4). 201 Zum Begriff der Tugenden s. u. S. Anm. 212. 202 Das Indiz dieses eklatanten Missverstehens ist darin zu erblicken, dass jedenfalls die verschiedenen Schulrichtungen der theologischen Scholastik den Traktat über Gottes gratia gratum faciens und den Traktat über die kirchlich verfasste Christus-Gemeinschaft und deren Medien der Vergegenwärtigung des Christus-Geschehens weit voneinander entfernt behandeln. Dieses Missverstehen konnte auch das Konzil von Trient im „Decretum de iustificatione“ (Sessio VI, 13. Januar 1547 [DH 1520–1583]) noch nicht korrigieren. Im Übrigen hängt dieses Missverstehen überhaupt damit

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Frage zu beantworten suchen, was unter dem Begriff Gewissheit zu verstehen bzw. wodurch Gewissheit denn konstituiert sei.203 Ich verstehe die paulinische Trias Glauben, Hoffen, Lieben als eine exemplarische Bestimmtheit jener attitude menschlicher Lebensgegenwart, die jeder ernst zu nehmenden Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums eignet. Sie setzt als ihre Basis das unmittelbare Gefühl des Frei-Seins bzw. des Selbst-Seins voraus; ich fasse es im Anschluss an Schleiermachers Theorie des Selbstbewusstseins als jene notwendige Bedingung auf, unter der wir von einem frühesten Zeitpunkt unseres Lebens an bis hin zu dessen irdischem Erlöschen die endliche bzw. die relative Freiheit der sprachlichen Kommunikation und der praktischen ebenso wie der ästhetischen Interaktion gebrauchen und gebrauchen müssen (s. 2.4.2.1). Es ist als solches jene „primäre Gewissheit“ (Eilert Herms), deren zeitliche Struktur ich immer wieder mittels der Wendung des „Sich-gegenwärtig-Seins“ bezeichnet hatte. Sie ist als die uns jeweils individuell und gleichwohl allgemein gewährte Bedingung allen besonderen Erlebens und Handelns unbezweifelbar; als solche ist sie auch der Grund dafür, dass uns die Aufgabe bzw. die Zumutung vertraut ist, selbstverantwortlich mit ihr umzugehen.204 Demgegenüber liegt es auf der Hand, dass alle theoretischen Erklärungen und alle praktischen Entscheidungen, deren Richtigkeit wir in dieser oder jener Komzusammen, dass die verschiedenen Schulrichtungen der theologischen Scholastik (womöglich unter Ausnahme der jüngeren franziskanischen Schule von Duns Scotus) keinen zureichenden Begriff des Inneren der Person (des „Herzens“ bzw. des „Geistes“ und damit des Selbstverhältnisses) kennen, sondern auf das Schema der erkennenden und wollenden Vermögen der menschlichen Seele fixiert bleiben. 203 Vgl. zum Folgenden bes.: Karl Heim, Das Gewißheitsproblem in der systematischen Theologie bis zu Schleiermacher, Leipzig: Hinrich, 1911; Ders., Glaubensgewißheit. Eine Untersuchung über die Lebensfrage der Religion, Berlin: Evang. Verl.-Anstalt, 4 1949 (dazu: Elisabeth GräbSchmidt, Erkenntnistheorie und Glaube. Karl Heims Theorie der Glaubensgewißheit vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit dem philosophischen Ansatz Edmund Husserls, Berlin/New York: De Gruyter, 1994); Bengt Hägglund, Art. Heilsgewißheit: TRE 14, 759–763. – Im Folgenden beziehe ich mich auf die grundlegenden Texte von Wolfhart Pannenberg, STh III, 184–196: Die Heilsgewißheit des Glaubens; Eilert Herms, Art. Gewißheit II.–IV.: RGG4 3, 909–914; Ders., Gewißheit in Luthers Schrift „De servo arbitrio“: LuJ 67, 2000, 22–50; Wilfried Härle, Das christliche Verständnis von Wahrheit und Gewissheit, jetzt in: Ders., Spurensuche nach Gott. Studien zur Fundamentaltheologie und Gotteslehre, Berlin/New York: de Gruyter, 2008, 23–53; Ders., Befreiende Gewissheit, ebd. 69–95. – Zu Martin Luthers Verständnis des Christus-Glaubens als Gewissheit vgl. bes. Reinhard Schwarz, Martin Luther – Lehrer der christlichen Religion (wie Anm. 36), 349–361: Die Gewißheit des Glaubens. 204 Sie ohne zureichende Begründung in Abrede zu stellen, wie dies im Programm der „Kirchlichen Dogmatik“ Karl Barths und seiner Schule geschehen ist und noch geschieht, hat die ebenso selbstwidersprüchliche wie traurige Folge, dass die systematische Besinnung auf die Wirklichkeit des Christus-Glaubens in praktischer Absicht den Bezug zu den Phänomenen der Lebenserfahrung verliert. Vgl. Konrad Stock, STh I, 461–471.

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munikation und Interaktion mit Anderen unseresgleichen gewiss geworden waren, sehr wohl bezweifelbar sein mögen. Als „sekundäre Gewissheiten“ (Eilert Herms) bis auf Weiteres unterliegen sie stets der Kritik, deren Prämissen und deren Konsequenzen ihrerseits stets der Kritik bedürftig sind. Dies umso mehr, als sie nicht etwa nur als fehlbar und verbesserbar, sondern auch als manifeste Formen der Lüge, der Gewalt, der Hybris und der Verblendung zu erfahren sind. Ich hatte solche destruktiven Erscheinungen dessen, was sekundär gewiss sein kann, im Rahmen meiner Darstellung des Syndroms von erlittenem Leid und verschuldetem Leid ausführlich analysiert (s. 3.3).205 Das Spektrum dessen, was uns sekundär gewiss sein kann und was uns deshalb mit Vertrauen erfüllt, umfasst nicht nur all das, was wir in der Geschichte unserer gemeinschaftlichen Beziehungen im Ganzen des Geschehens in der Welt bzw. im Ganzen des Geschehens der Welt erfassen und gestalten; es umfasst auch die verschiedenen expliziten Deutungen des absoluten bzw. des transzendenten Grundes jener „primären Gewissheit“, zu dem sich die Kulturen der Religionsgeschichte in ihrem jeweiligen Kult erheben. In der Geschichte dieser Kulte fragt es sich, ob eine explizite Deutung des absoluten bzw. des transzendenten Grundes jener „primären Gewissheit“ dem Eigen-Sein bzw. dem Eigen-Sinn des absoluten bzw. des transzendenten Grundes tatsächlich entspricht oder aber nicht entspricht. Diese Frage stellt sich in verschärfter Weise, wenn eine explizite Deutung des absoluten bzw. des transzendenten Grundes jener „primären Gewissheit“ – wie in der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne gang und gäbe – entweder durch wissenschaftliche Theorie gegeben oder aber überhaupt als sinnlos abgewiesen werden soll. Die angemessene Beantwortung dieser Frage entscheidet sich an dem Kriterium, ob eine explizite Deutung des absoluten bzw. des transzendenten Grundes unserer „primären Gewissheit“ tatsächlich dessen schlechthinnige Vertrauenswürdigkeit erleben und erkennen lässt. Als schlechthin vertrauenswürdig ist der absolute bzw. der transzendente Grund unserer „primären Gewissheit“ zu verstehen, wenn er in seinem unbedingten Willen zur dauernden Gemeinschaft mit uns Menschen allen zu verstehen ist, die wir vor allen anderen geschaffenen Wesen durch das unmittelbare Gefühl des Frei-Seins bzw. des Selbst-Seins ausgezeichnet sind und deshalb auch die Aufgabe bzw. die Zumutung verstehen, mit ihm selbstverantwortlich umzugehen.

205 Als destruktivste Erscheinungen sekundärer Gewissheit erlitten unzählbare Zeitgenossen und Zeitgenossinnen die Gewaltherrschaft der Weltanschauungen des bolschewistischen bzw. des maoistischen Marxismus-Leninismus sowie des deutschen Nationalsozialismus und dessen Organisation der Auslöschung des europäischen Judentums! Sie war und ist in ihrem harten Kern die radikale Leugnung eines schlechthin vertrauenswürdigen Grundes, von welchem her die individuelle Person in der primären Gewissheit ihres Sich-gegenwärtig-Seins existiert.

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Im Kreise der Kulturen der Religionsgeschichte und ihrer Kulte hebt sich die christliche Gewissheit als diejenige explizite Gottesgewissheit hervor, welche die schlechthinnige Vertrauenswürdigkeit des göttlichen Wesens erlebt und erkennt: jene Vertrauenswürdigkeit, die unser Leben selbst in den Grenzsituationen des Leids, des Unglücks, des Schuldig-Werdens und des Sterbens zu tragen, zu bergen und zu retten vermag.206 In meiner ganzen systematischen Besinnung hatte ich nicht nur die verschiedenen Momente des Gegenstandes dieser Gottesgewissheit entfaltet; ich hatte auch die notwendigen und die hinreichenden Bedingungen besprochen, unter denen uns diese Momente offenbar und d. h. evident werden. Wer immer kraft des Heiligenden Geistes der schlechthinnigen Vertrauenswürdigkeit des göttlichen Wesens gewiss wird, erfährt sich hier und jetzt im Prozess des Lebens als des Heil-Werdens auf dem Weg der Freiheit durch Wahrheit (vgl. Röm 8,3839). Diese Erfahrung ist passiv konstituiert, auch wenn sie sich nicht ohne die mannigfachen Formen des menschlichen Offenbarungszeugnisses ereignet.207 Meine fundamentaltheologische Rückblende hat für die folgende Interpretation der paulinischen Trias Glauben, Hoffen, Lieben erhebliches Gewicht. Sie macht es nämlich möglich und notwendig, die passive Konstitution der christlichen Gottesgewissheit als jener kraft des Heiligenden Geistes geschaffenen Gewissheit vom Inbegriff des menschlichen Offenbarungszeugnisses in allen seinen Medien und Methoden konsequent zu unterscheiden. Sie widerspricht zum einen allen Spielarten eines Biblizismus, welcher das Heil der christlichen Gottesgewissheit abhängig macht von der Anerkennung der formalen Autorität der Heiligen Schrift208 ; sie widerspricht zum andern aber auch der Lehre des römisch-katholischen Lehramts, derzufolge der heilsnotwendige Glaube in der freiwillentlichen Zustimmung der Person zum Ganzen der kirchlichen Lehre besteht, zumal die Kirche durch ihre wundersame Existenz die Glaubwürdigkeit des Offenbarungszeugnisses garantiere.209 Natürlich widerspricht sie schließlich – Drittens – all jenen Theorien des

206 Ausdrücklich sei daran erinnert, dass diese explizite christliche Gottesgewissheit in der Gottesgewissheit der jüdischen JHWH-Gemeinschaft ihre „Wurzel“ (Röm 11,17f.) hat; schließlich versteht sich Jesus von Nazareth als den, der JHWHs königliche Herrschaft vom Tempel zu Jerusalem aus über den Erdkreis in seinem Lebenszeugnis jeweils punktuell und aktuell vergegenwärtigt. 207 Die Abschnitte 4.2. und 4.3. des vorliegenden Kapitels sind insgesamt der Darstellung der mannigfachen Medien und Methoden des menschlichen Offenbarungszeugnisses gewidmet! 208 In diesem Selbstmissverständnis ist die fundamentaltheologisch gemeinte Lehre vom Erkenntnisprinzip der Heiligen Schrift für alle Sätze der Glaubenslehre und der Theologie in der Periode der lutherischen wie auch der reformierten Orthodoxie befangen; und natürlich auch die Frömmigkeit der weltweit prosperierenden Fundamentalismen. 209 Vgl. hierzu bes. die Constitutio dogmatica „Dei Filius“ de fide catholica des I. Vatikanischen Konzils (Sessio III, 24. Apr. 1870): „Porro fide divina et catholica ea omnia credenda sunt, quae in verbo Dei scripto vel tradito continentur et ab Ecclesia sive sollemni iudicio sive ordinario et universali magisterio tamquam divinitus revelata credenda proponuntur.“ (DH 3011: „Mit göttlichem und

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Ethischen in der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne, welche den offenbaren Grund eines Lebens in der Erfahrung des Heil-Werdens überhaupt in Zweifel ziehen oder gar grundlos verschweigen. Indem ich die christliche Gottesgewissheit, die sich im Medium der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche durch Gottes Heiligenden Geist erschließt, als Heilsgewissheit definiere, vermag ich die paulinische Trias Glauben, Hoffen, Lieben auf eine realistische Weise zu interpretieren. Sie deutet jene Kräfte, Motive und Impulse an, die wir der uns von dem dreieinen Gott gewährten Heilsgewissheit zu verdanken haben, die unsere Lebensgeschichte in der selbstbewusst-freien Verantwortung vor Gott bestimmt und trägt; sie gibt jedoch auch den Erinnerungen in der Sphäre des Gewissens Raum, die uns das jeweils individuelle Verstrickt-Sein ins Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids indizieren. Nicht zuletzt spendet sie in den katastrophalen Übeln einer Zeit den Trost, der uns der jenseitigen Vollendung des Lebens durch den Tod hindurch vertrauen lässt (s. 4.2.2.3). Ich mache mir damit diejenige Präzisierung zu eigen, in der Eilert Herms und Wilfried Härle die reformatorische Lehre von der Rechtfertigung bzw. von der Heiligung der Person im Status ihres „In-der-Sünde-Seins“ aufgenommen haben210 : Nur die Gewissheit, der die Wahrheit der Gottesgewissheit Jesu von Nazareth in den Ereignissen des Dritten Tages endgültig offenbar wird, ist – als vom dreieinen Gott für das Selbstbewusstsein der Person geschaffene Gewissheit – die Erfahrung des Heil-Werdens im Prozess des Lebens (vgl. bes. 2Kor 4,6), während die Kräfte, Motive und Impulse des Glaubens, des Hoffens und des Liebens stets mehr oder weniger klar und deutlich bzw. mehr oder weniger intensiv und mehr oder weniger angefochten sein werden.211 Nur die Gewissheit, der die Wahrheit der Gottesgewissheit Jesu von Nazareth im Kreise der Gemeinschaft der Kirche einleuchtet, ruft jene Sprach- und Handlungsfähigkeit hervor, die sich in unserer selbstbewusst-freien Realisierung des Guten – der Willensgemeinschaft mit Gott selbst als des Höchsten

katholischem Glauben ist ferner all das zu glauben, was im geschriebenen oder überlieferten Wort Gottes enthalten ist und von der Kirche – sei es in feierlicher Entscheidung oder kraft ihres gewöhnlichen und allgemeinen Lehramtes – als von Gott geoffenbart zu glauben vorgelegt wird.“ [Übersetzung Peter Hünermann]). 210 Vgl. Wilfried Härle, Der Glaube als Gottes- und/oder Menschenwerk in der Theologie Martin Luthers, jetzt in: Ders., Menschsein in Beziehungen (wie Anm. 41), 107–144; Eilert Herms, STh (Bd. 2), 1219–1232. 211 Mit dieser These meine ich, den genuinen Sinn der exklusiven Formel „sola fide“ angemessen zu bestimmen; und zwar nicht nur in ihrem kritischen Verhältnis zur römisch-katholischen Lehre von der gratia creata bzw. von der gratia gratum faciens (vgl. hierzu o. S. 543–545), sondern auch in ihrer Differenz zu solchen expliziten Gewissheiten, die – wie die Gewissheit der Verlässlichkeit des evolutiven Prozesses – bedeutende Teile der Eliten der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne bestimmen.

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Guten – zeigt. Im Lichte meiner Interpretation der christlichen Gottesgewissheit als Heilsgewissheit – d. h. als Lebensgewissheit, die das Leben als das Heil-Werden des Lebens erleben lässt – ist es schließlich auch für eine Theologische Ethik aus reformatorischer Perspektive möglich und geboten, den ethischen Grundbegriff der Tugend fruchtbar zu machen (s. STh III).212 4.3.2

Glauben213

Im Raum der Kommunikation des Evangeliums ereignet sich kraft des Heiligenden Geistes Jesu Christi jene „Umkehr“ bzw. jene „Lebenswende“ hin zur freien Willensgemeinschaft mit Gott selbst, für die bereits das biblische Offenbarungszeugnis den Ausdruck „Glaube“ wählt. Es konstituiert ein semantisches Feld, das überwiegend geprägt ist vom Woran bzw. vom Woraufhin des Glaubens (vgl. bes. Gen 15,6; Mk 1,15; Joh 6,35; Röm 3,22). Als solches bildet es das Signal dafür, dass die Christus-Gemeinschaft die normative Zentrierung der jüdischen JHWHGemeinschaft auf den „Kanon im Kanon“ der Tora sprengt, indem sie die befreiende bzw. die heilende Wahrheit des Evangeliums als universale Wahrheit für „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) proklamiert. Namentlich der Apostel Paulus sucht diese Reformation avant la lettre dadurch plausibel zu machen, dass er den Vorrang des Glaubens vor dem „Kanon im Kanon“ der Tora just an der Figur Abrahams demonstriert (s. o. S. 651). In ihrer Auseinandersetzung mit der Lehre von Gottes gratia creata und mit deren Praxis in der Kirche unter dem Bischof von Rom hatte die reformatorische Bewegung den quellensprachlichen Sinn der biblischen Rede vom Christus-Glauben entscheidend präzisiert. Sie versteht diese Rede nicht im Sinne eines bloßen Kennens bzw. eines zustimmenden Anerkennens der gesamten kirchlich festgestellten

212 Vgl. hierzu Konrad Stock, Grundlegung; Ders., Art. Tugenden: RGG4 8, 650–654; Ders., Einleitung, 346–359: Die handlungsfähige Person. Theologische Ethik als Tugendlehre. 213 Vgl. zum Folgenden bes.: Karl Barth, KD IV/1, 826–872: Der Heilige Geist und der christliche Glaube; Paul Tillich, STh III, 155–160: Die Gegenwart des göttlichen Geistes als Glaube; Gerhard Ebeling, Das Wesen des christlichen Glaubens, Tübingen: Mohr Siebeck, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1959; Ders., Dogmatik I, 79–157: Glaube; Dogmatik III, 191–248: Die Gerechtigkeit des Glaubens; Wolfhart Pannenberg, STh III, 156–196: Der Glaube; Wilfried Härle und Reiner Preul (Hg.), Glaube, Marburg: Elwert, 1992 (MJTh IV [mit Beiträgen von Konrad Stock, Dieter Lührmann, Wilfried Härle, Eilert Herms und Ingolf U. Dalferth]); Martin Seils, Glaube, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1996 (HST; 13); Andreas Grünschloß/Heiko Schulz/Otto Kaiser/Morna D. Hooker/Eberhard Jüngel/Reiner Preul/Günter Stemberger/Tilman Nagel, Art. Glaube I.–VII.: RGG4 3, 940–983; Heiko Schulz, Theorie des Glaubens, Tübingen: Mohr Siebeck, 2001; Ders., Art. Unglaube: RGG4 8, 741–744; Wilfried Härle, Dogmatik5 , 47–76: Die Frage nach dem Wesen des christlichen Glaubens; Eilert Herms, STh (Bd. 1), 75–561: II. Das christliche Leben. Sein Grundakt: Glaube. Dessen Grund und Gegenstand: Offenbarung.

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Durch Wahrheit zur Freiheit

Glaubenslehre, das der Ergänzung und Vollendung durch die Kraft des Liebens bedarf; indem sie vielmehr im semantischen Feld des Glaubens das Moment der expliziten Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums betont, vermag sie sachgemäß zu unterscheiden zwischen dem, was Gottes Heiligender Geist im „Herzen“, im „Gewissen“, im Selbst-Sein der Person bewirkt, und all den existentiellen Haltungen, die solche explizite Gewissheit ihrerseits erwidern, mitteilen und bezeugen.214 Um diese existentiellen Haltungen en détail zu beschreiben, gehe ich auf das Phänomen des „Sich-gegenwärtig-Seins“ zurück, kraft dessen wir in unserem jeweiligen Jetzt und Hier auf zukünftig Mögliches aus sein müssen (s. 2.4.2.1). In dem alltäglichen Aus-sein-müssen auf zukünftig Mögliches jedoch wird uns nicht nur bewusst, dass unsere Entscheidungen ein Wagnis oder gar ein Risiko eingehen215 ; es wird uns auch mit Scham und Schmerz bewusst, dass unsere willentlichen Entscheidungen immer wieder in Gefahr sind, auf unbegründetem bzw. auf verkehrtem Vertrauen zu beruhen. Angesichts dessen zeigt sich die Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums in der Lebens- und Bildungsgeschichte der Person zuallererst in der Weise des begründeten und deshalb des wahren Vertrauens.216 Mit Knud Eiler Løgstrup möchte ich den Aspekt des „Sich-gegenwärtig-Seins“, den die deutsche Alltagssprache mit dem substantivierten Verb Vertrauen bezeichnet, als eine „spontane Daseinsäußerung“ verstehen. Er wird uns deutlich, wenn 214 Für Luthers Erkenntnis, dass der Christus-Glaube der Person in der Christus-Gemeinschaft der Kirche als explizite Gewissheit zu verstehen sei, gibt es zahllose Belege; vgl. z. B.: „spiritus sanctus debet in corde meo (clamare) et sit gemitus ille inenarrabilis in corde meo ut non dubitem, quod Evangelium iubet spectare promittentem … hic non est locus dubitandi, sed firmissima promissio.“ („Der Heiligende Geist muss in meinem Herzen (rufen); ja er sei jenes unaussprechliche Seufzen in meinem Herzen, so dass ich nicht daran zweifle, dass das Evangelium zumutet, auf den verheißenden (Gott) zu schauen … Hier gibt es nichts zu zweifeln, sondern (nur) die festeste Verheißung.“ [Galaterbrief-Vorlesung 1531, zu Gal 4,6: WA 40 I; 589,2ff.] {meine Übersetzung}). Entgegen manchen Fehl-Interpretationen gilt es festzuhalten, dass die durch Jesu Christi Heiligenden Geist im Raume der Verkündigung, der Feier der Sakramente (!!), der Lehre, des Unterrichts und der Seelsorge gewirkte explizite Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums natürlich je meine Gewissheit ist. 215 Vgl. hierzu: Jochen Ringel, Art. Risiko, Risikogesellschaft: ESL (NA 2001), 1346–1351; Elisabeth Gräb-Schmidt, Art. Risiko: RGG4 6, 526–528. 216 Vgl. zum Folgenden bes.: Wilhelm Herrmann, Ethik, Tübingen: Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 3 1904; Knud Eiler Løgstrup, Art. Vertrauen: RGG3 VI, 1386–1388; Ders., Die ethische Forderung, dt. Tübingen: Laupp, 1959, 7ff.155ff.240ff.; Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1983, 68ff. u. ö.; Eilert Herms, Vertrauen, in: Ders., Zusammenleben im Widerstreit der Weltanschauungen. Beiträge zur Sozialethik, Tübingen: Mohr Siebeck, 2007, 155–168; Elisabeth Gräb-Schmidt, Art. Vertrauen I.–III.: RGG4 8,1077–1080; Reiner Strunk, Vertrauen. Grundzüge einer Theologie des Gemeindeaufbaus, Stuttgart: Quell Verlag, 1985 (bes. 11–62); Ders., Art. Vertrauen I.–II.: TRE 35, 71–76 (Lit.). – Dankenswerter Weise hat mir André Munzinger Einblick in sein aktuelles Projekt „Vertrauen. Eine systematisch-theologische Untersuchung in kritischer Absicht“ gewährt.

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wir die verschiedenen Dimensionen ins Auge fassen, in denen wir vertrauen bzw. in denen wir uns eines wechselseitigen Vertrauens erfreuen. Sie sind darin identisch, dass wir diejenige Verlässlichkeit erleben und erhoffen, die wir als ephemere Wesen nötig haben wie die Luft zum Atmen.217 Zum einen entdecken wir die spontane Daseinsäußerung des Vertrauens im Grundvertrauen des neugeborenen und des heranwachsenden Kindes, das sich ganz unwillkürlich auf die fürsorglich bergende und schützende Nähe zuerst der Mutter und sodann des Vaters verlässt. Es bildet offensichtlich die lebenswichtige Basis, kraft derer es uns möglich ist, die Krisen und die Sprünge der psycho-sexuellen bzw. der psycho-sozialen Entwicklung zu bestehen und schließlich ein relativ gefestigtes Selbstvertrauen zu gewinnen. Zum andern bemerken wir die spontane Daseinsäußerung des Vertrauens im Nahbereich der verschiedenen privaten Beziehungen der Familie, der Liebe, der Ehe und der Freundschaft. In ihnen suchen wir und – falls es gut geht – finden wir in relativer Dauer wechselseitige Verlässlichkeit. Sie wird konkret in dem Vertrauen auf die Wahrhaftigkeit des Miteinander-Redens und auf die Solidarität des wechselseitigen Füreinander-Daseins; sie zeigt sich insbesondere im wechselseitigen Sich-Verlassen auf das Versprechen und auf das gegebene Wort.218 Zum Dritten kommt es zu den spontanen Daseinsäußerungen des Vertrauens in allen öffentlichen Bereichen der Kultur einer Gesellschaft. Hier ist nicht nur an diejenige Form des Vertrauens zu erinnern, in der wir uns auf die berufliche bzw. auf die fachliche Kompetenz eines Menschen verlassen, den wir als Ärztin oder als Anwalt, als Lehrerin oder als Seelsorger konsultieren; hier ist auch aufmerksam zu machen auf die Erwartungen, mit denen wir die mannigfachen Dienste des öffentlichen Lebens vom Fahrplan der Verkehrssysteme über die pünktliche Zahlung der Rente bis hin zur Müllabfuhr in Anspruch nehmen. Einen ausschließenden Gegensatz zwischen meiner Beschreibung des Vertrauens und dem systemtheoretischen Konzept der „Erwartungssicherheit“ sehe ich hier nicht.219 Zum Vierten jedoch ist festzuhalten, dass alle bisher angeführten Dimensionen des Vertrauens der Integration in eine Ordnung der Kultur einer Gesellschaft durch

217 Mit dem Ausdruck „ephemer“ sei erinnert an alle die möglichen und tatsächlichen Bedrohungen, denen wir als leibhaft existierende Person ausgesetzt sind: nicht nur an Hunger und Durst, Einsamkeit und Krankheit, sondern auch an das Erleiden von Trauer, von Verachtung und von Unterdrückung welcher Art auch immer. Die Bibel hat dafür die überzeugende Metapher „Staub“ (vgl. Gen 3,19; Ps 104,29). 218 Bemerkenswerter Weise kennt die deutsche Sprache für die zivile Eheschließung wie für die kirchliche Amtshandlung das Wort „Trauung“, so wie sie auch für deren Vollzug das Wort „trauen“ kennt. 219 Vgl. Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart: Enke, 3 1989.

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das Recht bedürfen (s. 3.4.2.2). Ich verstehe unter dem Begriff des Rechts das Ganze der sozialen Regeln der Interaktion, die eine Gesellschaft in der Epoche der euro-amerikanischen Moderne sich auf dem Boden ihrer Verfassung durch ihre souveräne Legislative gibt. Das Recht der Gesellschaft verdient und fordert das Vertrauen aller, die ihm unterworfen sind, insofern es den Verfahren der öffentlichen Lebensverhältnisse Bestandskraft gibt; es verdient und fordert dies Vertrauen aber auch, insofern es in der Funktion des Sorge- und des Strafrechts den Schutz der Bürgerinnen und der Bürger vor allen Anmaßungen der Willkür und der aggressiven Gewalt garantieren soll. In dieser Hinsicht zeigt es sich, dass die verschiedenen Dimensionen des Vertrauens nicht ohne das Gefühl der Sicherheit im Innenverhältnis der Gesellschaft ebenso wie in den Außenverhältnissen der Gesellschaft bestehen können.220 Alle bisher erwähnten Dimensionen des Vertrauens bauen – fünftens – darauf auf, dass wir uns meistens achtungslos und selbstverständlich auf die Verlässlichkeit des Naturgeschehens verlassen. Zwar treiben uns gewaltige Katastrophen wie z. B. der Ausbruch des Vesuv im Jahre 79, das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755, die Tsunami-Katastrophe am 26. Dezember 2004 oder die langfristige Erhitzung des Klimas dieser Erde in Furcht und Schrecken; aber wir können doch erkennen, dass selbst zerstörerische Katastrophen der Natur der Erde denselben Regeln und Gesetzen folgen, nach denen sich die Prozesse der Evolution des Kosmos bis hin zur Erscheinung der Gattung homo sapiens auf dieser Erde richten. Ohne deren Verlässlichkeit hätten weder Naturwissenschaft noch deren Nutzung in der Technik ihren Sinn. Schließlich und endlich fragt es sich, ob alle die spontanen Daseinsäußerungen des Vertrauens erstlich und letztlich in der schlechthinnigen Vertrauenswürdigkeit des Grundes gründen, der allumfassend den erwähnten Dimensionen des Vertrauens überhaupt ihren zweifelsfreien Sinn gewährt. Zwar sind wir uns im Licht der transzendentalen Deutung unseres „Uns-gegenwärtig-Seins“ des Faktums eines ursprünglichen Grundes unserer selbst im ungeheuren Zeit-Raum des Universums und dessen Richtungssinnes implizit gewiss (s. 4.3.1); aber die Geschichte der expliziten Bestimmungen eines solchen ursprünglichen Grundes – vom Glauben

220 In der Theologischen Ethik (Durch Recht zum Frieden [STh III]) wird ausführlich zu zeigen sein, anhand welcher Kriterien die Glieder der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen das geltende Recht der Gesellschaft evaluieren und gegebenenfalls reformieren werden wollen. Meine wenigen Bemerkungen machen darauf aufmerksam, dass die „spontane Daseinsäußerung“ Vertrauen notwendigerweise angewiesen ist auf einen „innenpolitischen“ Rahmen. Dass dies in entsprechender Weise auch für die „außenpolitischen“ Verhältnisse zwischen souveränen Staaten gilt, deutet Hannah Arendt an in ihrem Abschnitt über die „Unabsehbarkeit der Taten und die Macht des Versprechens“; vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, dt. München: Piper, 11 1999 (Serie Piper; 217), 311–317.

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an die unabänderliche Vorherbestimmung im Rat der Götter über die Projektion der Gewalt eines blinden Schicksals bis hin zum wissenschaftlichen Konzept der Notwendigkeit der kontingenten Evolution – beweist, dass sich die schlechthinnige Vertrauenswürdigkeit des ursprünglichen Grundes für uns keineswegs von selbst versteht. Es hat vielmehr den Anschein, als dementiere das alltäglich Böse und erst recht das Katastrophale bzw. das Chaotische des Naturgeschehens und der entsetzlichen geschichtlichen Konflikte die schlechthinnige Vertrauenswürdigkeit des ursprünglichen Grundes, die uns schlechthin verborgen zu bleiben scheint. Ist dieser Anschein überhaupt zu überwinden? Schließt die christliche Gottesgewissheit etwa ein, dass Gottes schöpferisches Walten auch das Katastrophale bzw. das Chaotische des Naturgeschehens und das alltäglich Böse geschehen lässt; d. h.: es innerhalb der ontologischen Relation des Seins und des Seienden ermöglicht? Auf diese zutiefst bedrängende Frage reagiert seit alters nicht nur die stoische Idee der göttlichen Vorsehung 221 , sondern auch das biblische Zeugnis des Vertrauens auf Gottes schöpferisch vorausschauende Fürsorge (vgl. bes. Gen 45,1-8; Lk 12,22-30). Beide Formen eines frommen Selbstbewusstseins kommen darin überein, dass sie je auf ihre Weise der Zielbestimmung eines göttlichen Waltens glauben, das selbst das scheinbar Zufällige, das Unausweichliche und das unerklärlich Destruktive des Weltgeschehens integriert. Ob – und wenn ja, in welcher Weise – das fromme Selbstbewusstsein der Person sogar die leidvolle und bestürzende Erfahrung des scheinbar Zufälligen, des Unausweichlichen und des unerklärlich Destruktiven Gott anheim zu stellen vermöchte: das ist seit dem Buche Hiob das enorme Thema einer kirchlich-theologischen Lehre von der Vorsehung. Sie ist seit der Theorie der Theodizee von Gottfried Wilhelm Leibniz aus verschiedenen ernst zu nehmenden Gründen in eine tiefe Krise geraten.222 Gleichwohl ist nicht erfolgreich zu bestreiten, dass die Dimensionen des Vertrauens wirklich und nicht etwa pure Illusionen sind. Sie beruhen sämtlich darauf, dass das Leben des leibhaften Person-Seins in seinen verschiedenen Beziehungen als hohes Gut empfunden wird, das wir genießen, erhalten, verteidigen und vervollkommnen wollen. Mithin hoffen und vertrauen wir auf dessen Dauer, die uns der ursprüngliche Grund – das Sein-Selbst – in allerdings begrenzter und vielfach angefochtener Weise gewährt; und wir verstehen unsere Sorge für dessen Heilung, Schutz und Sicherheit als Sache einer selbstbewusst-freien Verantwortung, die der Zielbestimmung des göttlichen Waltens im Kontinuum des Seienden dient.

221 Vgl. die Darstellung in: M. Tulli Ciceronis De Divinatione, hg. von A. S. Pease, 1920–1923. 222 Vgl. zum enormen Thema der Lehre von der Vorsehung bes. den exzellenten Artikel von Hermann Deuser, Art. Vorsehung I. Systematisch-theologisch: TRE 35, 302–323 (Lit.); Michael Plathow, Ich will mit dir sein, Berlin: Köster, 1995; Arnulf von Scheliha, Der Glaube an die göttliche Vorsehung, Stuttgart [u. a.]: Kohlhammer, 1999; Martin Laube, Freiheitsgewinn. Dogmatische Überlegungen zur Vorsehungslehre: ZThK 117 (2020), 196–217.

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Letzten Endes wird der resignative bzw. der verzweifelte Eindruck, dass die schlechthinnige Vertrauenswürdigkeit des göttlichen Wesens – des ursprünglichen Grundes unserer selbst im Kontinuum und im Richtungssinn des Seienden – zutiefst und unaufhebbar verborgen sei, dann und nur dann zu überwinden sein, wenn sich der ursprüngliche Grund in seiner radikalen Gnade und in seiner wahren Liebe endgültig für uns von ihm selbst her erschließt. Und dies geschieht gemäß den Zeugnissen der explizit christlichen Gottesgewissheit der Person in den Ereignissen des Dritten Tages; denn sie verifizieren ihren Empfängern jene ureigene Gewissheit, in der der Christus Jesus selbst sich schlechthin auf die im Kommen seiende Vollendung des schöpferischen Waltens Gottes verlässt (s. 3.5.2.2). In der vom Christus Jesus selbst erhofften Vollendung des schöpferischen Waltens Gottes wird nach dem prophetischen Zeugnis des Buches der Offenbarung des Johannes gelten: „Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ (Apk Joh 21,4; vgl. Jes 25,8; 35,10).

Es ist die besondere Aufgabe der Seelsorge in den katastrophalen Situationen des Lebens, die Betroffenen in der „Annahme des Unfassbaren“ zu begleiten und sie zur Teilnahme an „Schicksalsgemeinschaften“ zu ermutigen.223 Solche Begleitung und solche Ermutigung in all den Situationen, in denen es nichts mehr zu interpretieren gibt, macht implizit und explizit Gebrauch von jener Sicht des Sinnes von Sein, die in der Gewissheit der schlechthinnigen Vertrauenswürdigkeit des göttlichen Wesens steckt. Ich fasse das Gesagte nun mit einigen Beobachtungen zu Martin Luthers Auslegung des 1. Gebots zusammen. Martin Luther hat den sachlogischen Zusammenhang zwischen dem Woran bzw. dem Woraufhin des Glaubens und dem Glauben als der Lebensform des angemessenen Gott-Vertrauens lapidar benannt: „Denn die zwei gehören zuhaufe, Glaube und Gott.“224

223 Vgl. hierzu Uwe Rieske, Von der Annahme des Unfassbaren. Seelsorgerliche Erfahrungen im Projekt „hoffen bis zuletzt“ nach dem Tsunami 2004, in: Wolfram Kinzig/Thomas Reindorf (Hg.), Katastrophen – und die Antworten der Religionen, Würzburg: Ergon-Verlag, 2011, 157–172. 224 Martin Luther, Großer Katechismus: Auslegung des 1. Gebots (BSLK 560,21f.). Luther fasst hier das zusammen, was er zuvor über die richtige Bedeutung des Wortes „Gott“ ausgeführt hatte: „Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten. Also daß ein Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und gläuben…“ (ebd. 560,10–16). – Nach Luthers Sicht „erfüllt“ der Christus-Glaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der

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An diesem lapidaren Satz ist es bemerkenswert, dass er im Kontext der Interpretation des 1. Gebotes steht. Er benennt das Grundverhältnis zwischen Gottes göttlichem Person-Sein und dem Glauben im Sinne des „von Herzen Trauens“ als das dem göttlichen Person-Sein allein angemessene Verhältnis: allein angemessen, weil es Gottes Eigen-Sein und Eigen-Sinn in tiefer Ehrfurcht ehrt und namentlich in „allen Nöten“ des Leibes, der Seele und des Geistes stets in Anspruch nimmt. Nach der Struktur des Katechismus entfaltet das 1. Gebot im Ganzen des Dekalogs jene normative Zumutung an die Lebensführung der geschaffenen Person, welche in Gottes schöpferischem Walten gründet, das unser aller geschaffenes Person-Sein für und für gewährt. Für diese normative Zumutung beruft sich Luther auf das implizite Gefühl des von Natur aus Rechten, dessen explizite Begründung erst das Apostolicum zur Sprache bringt. Freilich bringt das Apostolicum den Grund jener normativen Zumutung dergestalt zur Sprache, dass es sich auf das faktisch unüberwindliche Grund-Misstrauen bezieht, in dem nach Luthers Lehre das Wesentliche des „In-der-Sünde-Seins“ als eines abgrundtiefen Missverhältnisses besteht, das die geschaffene Person vom schöpferischen Person-Sein Gottes radikal entfremdet. Erst die Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums, wie sie der 2. und der 3. Artikel des Apostolicum in ihrem inneren Zusammenhang verkünden, wird jener normativen Zumutung gerecht, auch wenn sie jenes faktisch unüberwindliche Grund-Misstrauen zwar zu beherrschen, aber nicht zu überwinden vermag. Meine Interpretation des Glaubens als eines synonymen Begriffs für die verschiedenen Dimensionen des Vertrauens unterscheidet klarer und deutlicher, als Luther selbst es möglich war, zwischen der expliziten Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums und den verschiedenen „spontanen Daseinsäußerungen“ des Vertrauens – auch des Vertrauens auf Gottes absolute Vertrauenswürdigkeit. Denn: Nach meiner Analyse bildet sich der Christus-Glaube als die Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums im Zusammenspiel der Kommunikation des Evangeliums – als der notwendigen Bedingung – und des Ereignisses der Evidenz durch Gottes Heiligenden Geist – als der notwendigen und zugleich allein hinreichenden Bedingung – (s. 4.1). Als die spezifisch christliche Gottesgewissheit manifestiert sie sich und bewährt sie sich in jenem Gottvertrauen, das sich sehr wohl von dem Vertrauen auf der Basis anderweitiger Grundgewissheiten – wie z. B. derjenigen, die der Praxis des Yoga zugrunde liegt – klar und deutlich unterscheidet. Da dem so ist, wird auch der sog. Unglaube keineswegs als eine „frei vollzogene“ – und deshalb schuldhafte „Ablehnung des Glaubens (verstehe: des ChristusGlaubens bzw. dessen kirchlich zu glauben vorgelegter Sprachgestalt)“ gelten könKirchen mithin – wenn auch in vielfach angefochtener Weise – die Zumutung des 1. Gebots, auf die dem göttlichen Person-Sein eigene ewige Treue zu vertrauen. – Vgl. hierzu Gerhard Ebeling, „Was heißt ein Gott haben oder was ist Gott?“ Bemerkungen zu Luthers Auslegung des ersten Gebots im Großen Katechismus, in: WG II, 287–304.

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nen; vielmehr ist dem sog. Unglauben in seinen mannigfachen Formen die Wahrheit des Evangeliums und damit die darin bezeugte christliche Gottesgewissheit noch nicht bzw. nicht mehr als wahr erweislich und deshalb auch noch nicht oder nicht mehr zugänglich.225 Die Kommunikation des Evangeliums im Raum der ChristusGemeinschaft der Kirche und der Kirchen wird ihm nur dadurch begegnen können, dass sie ihr Zeugnis auf die elementare Frage bezieht, ob es überhaupt Wahrheit gebe, die zur Freiheit des Gewissens im präzisen Sinne des Begriffes führt. Diese Frage in der kulturellen Situation des religiös-weltanschaulichen Pluralismus öffentlich zu artikulieren, ist die apologetische Pointe jeder sachgemäßen Rede von Gott. 4.3.3

Hoffen226

Die Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums – und nur sie – versetzt die Person ineins mit dem Vertrauen auf Gottes schlechthinnige Vertrauenswürdigkeit in jene Hoffnung, die „nicht zuschanden werden“ lässt (Röm 5,5 als Zitat von Ps 22,6 [vgl. Ps 25,3.20]). Es nimmt daher nicht wunder, dass das Offenbarungszeugnis des Neuen Testaments im konsequenten Rückgriff auf das Gott-Verstehen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft den inneren Zusammenhang des Glaubens und des Hoffens nachhaltig betont. Dass Gott der „Gott der Hoffnung“ (Röm 15,13) sei: dieses Bekenntnis des Apostels Paulus nennt den wirksamen Grund eines Lebens „überreich an Hoffnung“ (ebd. [Übersetzung Ulrich Wilckens]), das nach der prophetischen Verheißung des Jesaja-Buchs allen Völkern des Menschengeschlechts

225 Vgl. Karl Rahner, Art. Unglaube, in: Karl Rahner u. a. (Hg.), Sacramentum Mundi, Bd. 4, Freiburg [u. a.]: Herder, 1969,1062–1068; 1062; dazu: Heiko Schulz, Art. Unglaube: RGG4 8, 741–744. – Rahners Position setzt stillschweigend die Theorie der römisch-katholischen Fundamentaltheologie hinsichtlich der Glaub- bzw. der Vertrauenswürdigkeit der kirchlichen Bezeugungsinstanzen sowie das Dogma des I. Vatikanum hinsichtlich der Unfehlbarkeit des päpstlichen Lehramts in Sachen der Glaubens- und der Sittenlehre (Dogmatische Konstitution „Pastor Aeternus“ [DH 3074]; vgl. CIC 1983, c. 750) voraus. 226 Vgl. zum Folgenden bes.: Thomas von Aquino, STh I–II q 40 a 1–6 (Thomas erörtert hier das Wesen der Hoffnung wie auch der Verzweiflung im Allgemeinen im Anschluss an die Anthropologie der Schöpfung [STh I q 75–q 102] unter dem Gesichtspunkt der „muthaften Affekte“ [verstehe: der „kämpfenden Affekte“] der Seele.). Thomas versteht die Hoffnung als „passio“, d. h. als „Erleidung“ der Seele, und zwar als Erleidung ihrer „vis appetitiva“, ihrer strebenden Kraft. Als solche ist sie bezogen auf real Mögliches in der „natürlichen“ Erfahrungswelt; STh II–II q 17–22 (hier erörtert Thomas das Wesentliche der christlichen Hoffnung als einer „göttlichen“ bzw. einer „theologischen“ Tugend im Kontext seiner Interpretation der gratia gratum faciens, die die Person gemäß dem Axiom „gratia non tollit naturam“ zur Anteilhabe an Gottes übernatürlicher Seinsweise erhebt.) Er tut dies erstaunlicherweise, bevor er in STh III seine Christologie und seine Lehre von der Wirksamkeit der Sakramente vorträgt. Auf dieses Missverhältnis zwischen der scholastischen Lehre von der gratia gratum faciens (der „Soteriologie“ im engeren Sinne) und der scholastischen Christologie und Sakramentenlehre hat insbesondere Erwin Iserloh aufmerksam gemacht.

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zugutekommen wird (Röm 15,12 als Zitat von Jes 11,1.10!).227 Dem christlichfrommen Selbstbewusstsein ist wegen dieses wirksamen Grundes eine spezifische Weise des Hoffens gegeben. Sie sei im Folgenden interpretiert.228 Erstens: Mit dem Phänomen des Hoffens sind wir in unserer alltäglichen Lebensgegenwart wohl vertraut. Wir können dieses Phänomen bestimmen, wenn wir uns auf die Grundform des leibhaften Person-Seins besinnen, für die ich immer wieder den Begriff des „Sich-gegenwärtig-Seins“ verwendet hatte. Er bildet das Kriterium, mit dessen Hilfe und in dessen Licht wir philosophische wie theologische Beiträge zum Verständnis des Hoffens kritisch prüfen können. In ihrem wachen Sich-gegenwärtig-Sein ist die Person sich ihrer selbst zweifelsfrei gewiss bzw. ist sie zweifelsfrei mit sich vertraut. Sie lebt, indem sie im jeweiligen Hier und Jetzt sich selbst empfindet, wie sie Geschehnisse der natürlichen Umwelt ebenso wie der sozialen Mitwelt perzipiert und wie sie diese Geschehnisse bzw. diese Prozesse, Situationen und Konstellationen sprachlich benennt, evaluativ bewertet und expressiv gestaltet. Sie existiert in ihrem jeweiligen Hier und Jetzt, indem ihr frühere, gewesene Situationen und Konstellationen in der Erinnerung präsent sind und indem sie im Lichte des Erinnerten Entscheidungen für spätere, zukünftige Situationen und Konstellationen trifft. Sie ist in diesem ihrem Bewusstseinsstrom (Henri Bergson) aus auf Gutes, welches das hohe Gut ihres ihr zweifelsfrei gewissen Sich-gegenwärtig-Seins in ihrem jeweiligen Hier und Jetzt erhält, verteidigt und zu vervollkommnen verspricht; um dessentwillen wehrt sie sich gegen Übles und Schlechtes, das dieses hohe Gut gefährdet oder zu zerstören droht: gegen Hunger, Durst, Schmerz, Krankheit, Missachtung, Missbrauch und Gewalt. In ihrem wachen Sich-gegenwärtig-Sein ist die Person gleichursprünglich auch der anderen Person in deren Sich-gegenwärtig-Sein gewiss. Wir sind also gemeinsam dessen gewiss, dass wir das hohe Gut des jeweils individuellen Person-Seins erhalten, vervollkommnen und verteidigen wollen in den verschiedenen Regelformen der sprachlichen Kommunikation, der praktischen Interaktion und der ästhetischen Expression. Wir existieren somit je in unserer Gegenwart in jener 227 Zur „Theologie der Hoffnung“ im Kerygma des Apostels Paulus vgl. jetzt bes. Michael Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie (wie Anm. 133), 182–226. 228 Im Unterschied zu Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, München: Chr. Kaiser Verlag, 9 1973, ordnet meine folgende Darstellung die spezifische Hoffnung des Christus-Glaubens in den Rahmen der Lehre von der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche ein. Sie geht aus diesem Grunde hermeneutisch nicht einfach von dem biblischen Zeugnis der „Verheißung“ aus, sondern von der möglichst genauen Analyse der Erfahrung des Hoffens; und sie setzt fundamentaltheologisch voraus, dass sich die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche auf die elementare Frage beziehe, ob es Wahrheit gebe, die zur Freiheit des Gewissens im präzisen Sinne des Begriffes führt.

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Grundsituation, wechselseitig im Verhältnis zueinander um des hohen Gutes des gemeinsamen Person-Seins willen über uns selbst zu bestimmen und bestimmen zu müssen. Und wir nehmen diese Grundsituation in Anspruch als eine solche, die uns de facto als wirklich vorgegeben ist. In unserem wachen Uns-gegenwärtig-Sein sind wir uns schließlich dessen zweifelsfrei gewiss, dass wir dies Wirkliche – nämlich: wechselseitig um des hohen Gutes des gemeinsamen Person-Seins willen über uns selbst zu bestimmen und bestimmen zu müssen – nicht unsererseits gewählt, gewollt bzw. ermöglicht hatten. Darin ist offensichtlich eingeschlossen, dass wir dies Wirkliche nicht als schlechthin, sondern nur als faktisch Notwendiges verstehen. Als des nur faktisch Notwendigen sind wir uns des Wirklichen bzw. des Kontinuums und der raumzeitlichen Richtung des Wirklichen zweifelsfrei gewiss als des Bedingten und nicht etwa als des Unbedingten. Insofern sind wir uns in unserem Uns-gegenwärtig-Sein eines ursprünglichen Grundes gewiss. Ob diesem ursprünglichen Grunde tatsächlich Unbedingtheit und damit unbedingte Vertrauenswürdigkeit eigne und wie sein Eigen-Sein und Eigen-Sinn zu denken, zu achten und zu ehren sei: das freilich ist uns ungewiss, solange und sofern sich dieser ursprüngliche Grund nicht von sich selbst her in seinem wahren Wesen endgültig für uns erschließt. Für eine Phänomenologie des Hoffens hat meine transzendentale Besinnung auf das „Sich-gegenwärtig-Sein“ der leibhaften Person eine erhebliche Bedeutung. Sie reicht uns den hermeneutischen Schlüssel, der uns den Sinn der Sprache der Hoffnung im Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift bzw. in dessen Wirkungsund Rezeptionsgeschichte im Gebet, im Gottesdienst im Kirchenjahr sowie im Kirchenlied eröffnen wird. Diese transzendentale Besinnung bestätigt nämlich bzw. konkretisiert die antike Lehre von der Seinsweise der Affekte, die die verschiedenen „passiones animae“ auf das jeweils erstrebte bzw. gewollte Gut oder aber auf das jeweils abgelehnte bzw. befürchtete Übel bezieht. Als eine affektive Bestimmtheit des Selbstbewusstseins der Person ist Hoffnung mithin stets bedingt von einer Sicht des Spektrums der formalen und der materialen Güter. Und diese jeweilige Sicht des Spektrums der formalen und der materialen Güter wird ihrerseits bedingt sein von einer Sicht des Gutes, welches mit Rücksicht auf die conditio humana überhaupt als Höchstes Gut und deshalb als das Woraufhin bzw. als das Worumwillen des Mensch-Seins in Betracht kommt.229

229 Um diesen Sachverhalt an einem extremen Fall zu verdeutlichen: Die Verschwörer gegen Hitlers verbrecherische Alleinherrschaft hofften auf das Gelingen des Attentats vom 20. Juli 1944, weil es ihnen das einzig mögliche Mittel zu deren Beendigung und damit zur Wiederherstellung des gerechten Rechts zu sein schien. Weil der moralische Grund ihres Handelns das hohe Gut des gerechten Rechts war, hofften sie auf das Gelingen des Attentats; ihr Hoffen war weder der moralische Grund noch das Motiv ihres Handelns. Ihr Ziel, das hohe Gut des gerechten Rechts

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In ihrer Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte bezeugt die biblische Sprache der Hoffnung die Gewissheit, dass jener ursprüngliche Grund, dem wir das hohe Gut des gemeinsamen Person-Seins in einer Welt im Werden und Vergehen verdanken, sich von sich selbst her in seinem wahren Wesen für uns endgültig erschlossen hat und für und für erschließt. Kraft der Ereignisse des Dritten Tages wird dem christlichfrommen Selbstbewusstsein evident, worin das Höchste Gut bestehe, an welchem Anteil zu gewinnen das Ziel und die Bestimmung des gemeinsamen Person-Seins in dieser Welt im Werden und Vergehen sei: das Leben in der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott selbst, wie sie in Jesu Christi Lebensgeschichte und Lebensgeschick erfahrbar und erkennbar ist (s. 3.5.2.2). Es ist die in der christlichen Gottesgewissheit implizierte Sicht des Höchsten Gutes, die das menschliche Hoffen neu qualifiziert und neu orientiert. Zweitens: In dieser Sicht des Höchsten Gutes für das geschaffene, das leibhafte Person-Sein ist vorausgesetzt und mit enthalten das kritisch-selbstkritische Urteil über die Fehlformen des Hoffens, die als solche das Wesentliche des Hoffens verzerren; sie gibt uns auch das Kriterium an die Hand, mit dessen Hilfe und in dessen Licht wir uns mit problematischen Theorien des Affekts der Hoffnung auseinandersetzen können.230 wiederherzustellen, war kein „Hoffnungsbild“. Ebensowenig war das Scheitern des Attentats für sie ein „Verzweiflungsbild“; Furcht, Trauer und Verzweiflung sind vielmehr Affekte, die das Selbstgefühl der Person niederdrücken, und d. h. auf negative Weise bestimmen. Vgl. hierzu nach wie vor: Konrad Stock, Grundlegung, 31–57: § 2: Erinnern – Empfinden – Lieben. Eine Theorie der affektiven Erfahrung; Ders., Art. Emotionen III. Ethisch: RGG4 2, 1260. 230 Insbesondere mit Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. In fünf Teilen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1959 (GA; Bd. 5). – Dieses in seiner Weise glanzvolle Werk fängt an mit dem Bericht „Kleine Tagträume“ und entwickelt den „Erwartungsaffekt“ der Hoffnung aus der Analyse des „Selbstinteresses“ des Triebwesens Mensch, das sich in Träumen, in Wunschbildern, in Utopien bis hin zu den „Wunschbildern des erfüllten Augenblicks“ (Fünfter Teil) manifestiert. Verstehen wir das „Selbstinteresse“ des Triebwesens Mensch als Blochs Fassung von „Intentionalität“, so können wir den Reichtum aller dieser Träume, Wunschbilder und Utopien als den Reichtum aller „Intentionen“ ansehen, die Bloch tatsächlich im Begriff des „höchsten Guts“ im Sinne eines „intendierten Endziels“ zusammenführt (Kapitel 54 [1551–1602]). Dieses „intendierten Endziel“ nennt der marxistische Philosoph das „noch nicht gebildete, in der Tendenz des Prozesses letzthin realmögliche Ziel.“ (1566), das nicht nur „Zweckideal der menschlichen Geschichte“, „sondern auch das metaphysische Latenzproblem der Natur“ sei (ebd.). – Wie es – modaltheoretisch gesprochen – realiter bzw. objektiv möglich sein soll, dass der als unbedingt notwendig gedachte apersonale Prozess der „Materie“ (1577) Wesen von der Seinsart des leibhaften Person-Seins verwirklicht, für die das „Grenzideal“ des Besten im „Augenblick“ bzw. im „Tag des Nunc“ erscheint (ebd.): diese Grundfigur des „Prinzips Hoffnung“ erschließt sich allerdings der begriffenen Erfahrung nicht. Zur Kritik ist besonders zu vergleichen: Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M.: Insel Verlag, 1979 (bes.: Sechstes Kapitel: Kritik der Utopie und die Ethik der Verantwortung [316–393]).

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Durch Wahrheit zur Freiheit

Hoffen ist wie gesagt jener Affekt des Selbstbewusstseins der Person, der dem Erstreben, dem Wollen bzw. dem tatkräftigen Realisieren eines Guts im Spektrum der formalen und der materialen Güter entspringt. Indem er sich auf noch nicht gegenwärtig Gutes bezieht, bezieht er sich auf objektiv Mögliches in seinem Gegensatz zu objektiv Unmöglichem.231 Für unser „Uns-gegenwärtig-Sein“ sind solche lebensdienlichen Güter objektiv möglich und nicht objektiv unmöglich, die wir aus eigener Kraft oder aus gemeinsamer Anstrengung erreichen und verwirklichen können. Allerdings sind der eigenen Kraft und erst recht der gemeinsamen Anstrengung objektiv wirksame Grenzen gesetzt: Grenzen, die mit der leibhaften Verfassung der geschaffenen Person gesetzt sind; und Grenzen, die bedingt sind durch die Gegensätze und durch den Widerstreit der Meinungen, der Überzeugungen, der Interessen und der Gesinnungen hinsichtlich einer Ordnung der lebensdienlichen Güter. Sobald wir diese Grenzen der eigenen Kraft bzw. der gemeinsamen Anstrengung nicht wahrhaben wollen, verkehrt sich das Hoffen in individuelle bzw. in kollektive Selbsttäuschung und Illusion, die sich in politischer Hinsicht sehr wohl in hemmungsloser Gewaltbereitschaft niederschlägt. Womöglich erst im Laufe überlanger Zeiträume! Es war und ist ein wesentliches Merkmal der Prophetie der jüdischen JHWHGemeinschaft, die langzeitige Wirkung der Selbsttäuschungen und der Illusionen in der Periode der politischen JHWH-Religion anzuklagen (vgl. z. B. Jes 7,1-9;10-17). Sie schärft der systematischen Besinnung auf die Wahrheit des Christus-Glaubens den Blick dafür, dass wir es hier mit Erscheinungen des Unglaubens zu tun haben, die sich im Noch nicht des endgültigen Offenbar-Werdens der wahren Liebe Gottes ereignen. Als solche sind die Fehlformen des Hoffens Merkmal einer „Flucht vor dem Leben“, die sich nicht zur Endlichkeit und d. h. zu dem uns Menschen allen gewährten „Uns-gegenwärtig-Sein“ entschließen kann.232 Johann Wolfgang von Goethe hat in „Urworte. Orphisch“ diese Fehlform einer Hoffnung, die sich nach und jenseits der Grenzen der „Nötigung“ erhebt, in die unsterblichen Worte gefasst: „Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt: Aus Wolkendecke, Regen, Nebelschauer Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt; Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt durch alle Zonen;

231 Objektiv möglich und nicht objektiv unmöglich war z. B. die Landung von Neil Armstrong auf dem Mond am 21. Juli 1969; dagegen ist die Landung eines Menschen auf der Sonne jetzt und in aller Zukunft objektiv unmöglich und deshalb nur ein Thema für subjektive science fiction. 232 Vgl. den Gedankengang von Jörg Splett, Der Mensch in seiner Freiheit, Mainz: Matthias-GrünewaldVerlag, 1967 (Unser Glaube. Christliches Selbstverständnis heute; Bd. 1), 65.

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Ein Flügelschlag – und hinter uns Äonen.“233

Drittens: Wir sind nunmehr imstande, im Rekurs auf die prägnanten Einsichten des Apostels Paulus234 die Eigenart des Hoffens zu bestimmen, wie es die christliche Gottesgewissheit evoziert.235 Die Eigenart dieses Hoffens zeigt sich darin, dass ihm schon jetzt – in diesem unserem jeweils jetzigen „Uns-gegenwärtig-Sein“ und in dessen Dauer – die Gewissheit des „Friedens mit Gott“ (Röm 5,1; vgl. Gal 4,4-7; 6,15) und eben damit das Heil-Werden des Lebens in der Umkehr zu dem in Wahrheit Guten zugrunde liegt. Insofern ist ihr jene „eschatische Wirklichkeit“ (Michael Wolter; vgl. Gal 1,4; 2,19-20; 6,15; 1Kor,18-25; 2Kor 14-17) präsent, welche inmitten des Syndroms des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids emergiert. In seiner Korrespondenz mit der Gemeinde zu Korinth kann der Apostel Paulus daher geradezu euphorisch rufen: „Siehe, jetzt ist ‚die hochangenehme Zeit‘. Siehe, jetzt ist ‚der Tag des Heils‘“ (2Kor 6,2 in Aufnahme von Jes 49,8 [Übersetzung Michael Wolter]).

„Jetzt“ bedeutet demnach soviel wie: dasjenige „Sich-gegenwärtig-Sein“ der Glieder der Christus-Gemeinschaft, das erfüllt ist von der Wahrheit des Evangeliums; als solches ist es auch datierbar auf die kosmische Raum-Zeit, unter deren zuverlässiger Dauer die Ereignisse des Dritten Tages Jesu Christi eigene Wahrheitsgewissheit für ihre Empfänger verifizierten.236 Das „Jetzt“ bezeichnet mithin jene epochale Wende

233 Johann Wolfgang von Goethe, URWORTE. ORPHISCH, in: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 1 (Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz), 359–360; 360. 234 Wenn auch in entschiedener Kritik an ihrer verfehlten Rezeption der nicht-priesterschriftlichen Erzählung Gen 2,4b–3,25 im Bann des apokalyptischen Mythos! 235 Vgl. zum Folgenden bes.: Thomas von Aquino, STh II–II q 17–q 22; Karl Barth, KD IV/3,2, 1035–1083: § 73: Der Heilige Geist und die christliche Hoffnung; Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung (wie Anm. 228); Ferdinand Kerstiens, Die Hoffnungsstruktur des Glaubens, Mainz: Matthias-Grünewald-Verl., 1969; Gerhard Sauter, Art. Hoffnung III. Dogmatisch-ethisch: TRE 15, 491–498 (Lit.); Brian Hebblethwaite, The Christian Hope, London: 1984; Wolfhart Pannenberg, STh III, 196–206; Gerhard Ebeling, Dogmatik III, 428–436; 444–452; 503–506; Otto Hermann Pesch, Frei sein aus Gnade. Theologische Anthropologie (wie Anm. 16), 403–415; Ulrich Berner/Otto Kaiser/André du Toit/Friedrich Beißer/Michael Moxter, Art. Hoffnung I.–V.: RGG4 3, 1822–1828. 236 Dieser Aspekt ist deshalb zu betonen, weil der Apostel Paulus dieses Datum ernst nimmt im Hinblick auf die noch zu seinen Lebzeiten zu erwartende Parusie des Christus Jesus (vgl. bes. 1Thess 4,13-18; 1Kor 15,1f.). Auch wenn sich diese Erwartung alsbald als Enttäuschung erwies, darf das von der Wahrheit des Evangeliums erfüllte Zeitbewusstsein der christlichen Gottesgewissheit nicht auf seine existentiale Zeitlichkeit reduziert werden. So Rudolf Bultmann, Die christliche Hoffnung und das Problem der Entymthologisierung, jetzt in: Ders., GuV III, 81–90; 90: „Der durch die Entmythologisierung freigelegte Sinn der mythologischen Hoffnungsbilder aber ist der, daß sie von der Zukunft Gottes reden als von der Erfüllung des menschlichen Lebens.“ Allerdings:

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des frommen Selbstbewusstseins der Person, der Gottes versöhnendes Walten offenbar wird ubi et quando visum est Deo (CA V). In diesem „Jetzt“, in dem das göttliche Wesen als „Gott für uns“ (Röm 8,31) endgültig offenbar wird, wird auch das Hoffen neu qualifiziert und neu orientiert. Auch das Hoffen in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen richtet sich auf das Erhoffte, das in dem jeweiligen „Jetzt“ der „hochangenehmen Zeit“ noch nicht als das in Wahrheit Höchste Gut des leibhaften Person-Seins erlebbar ist. Dieses erhoffte wahrhaft Höchste Gut ist deshalb jetzt noch nicht erlebbar, weil es noch nicht das jeweilige „Jetzt“ vollkommen durchdringt. Insofern scheint es ebenso auszustehen wie andere zukünftig mögliche und vorzugswürdige Güter, die wir schmerzlich entbehren: es scheint uns angesichts der „Leiden der gegenwärtigen Zeit“ (Röm 8,18 [Übersetzung Ulrich Wilckens]) und angesichts des unausweichlichen Todesgeschicks etwas so Unerreichbares zu sein wie Immanuel Kants großartiges Postulat eines Reiches Gottes auf Erden.237 Und dennoch ist die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen mit dem Apostel Paulus dessen gewiss: „Denn auf Hoffnung hin sind wir errettet. Wo das Erhoffte zu sehen ist, da bedarf es keiner Hoffnung; denn warum sollte jemand auf etwas hoffen, was er sieht (verstehe: was schon gegenwärtig ist)? Doch wenn wir erhoffen, was wir nicht sehen, müssen wir in Geduld darauf warten (Röm 8,24-25 [Übersetzung Ulrich Wilckens]).

Nach diesem überaus klarsichtigen Text ist es die Eigenart des christlichen Hoffens, dass es sich fern aller Selbsttäuschungen und fern aller Illusionen letzten Endes auf Jenseitiges, auf Himmlisches bzw. auf Ewiges richtet. Unter den Prädikaten des Jenseitigen, des Himmlischen bzw. des Ewigen dürfen wir solche Bezeichnungen verstehen, die ein kritisch-überbietendes Verhältnis zum Inbegriff des Diesseitigen, des Irdischen bzw. des Raum-Zeitlichen signalisieren.238

Auch wenn Bultmann die Bedeutung des Syntagmas „Zukunft Gottes“ als der „Erfüllung des menschlichen Lebens“ nicht weiter entfaltet, bestreitet er natürlich nicht im Geringsten, dass diese „Erfüllung des menschlichen Lebens“ erst jenseits des Todes und durch den Tod hindurch vollkommen wird. Das hat die Bultmann-Kritik von Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung (wie Anm. 228), 51–60, – wie mir scheint – übersehen. 237 Vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Drittes Stück, 1. Abteilung: Philosophische Vorstellung des Sieges des guten Prinzips unter Gründung eines Reichs Gottes auf Erden (W IV, 753–788). 238 Vgl. zum Folgenden: Konrad Stock, „Irdisch noch schon himmlisch sein“. Das Logo christlicher Soteriologie, in: Elisabeth Gräb-Schmidt/Matthias Heesch/Friedrich Lohmann/Dorothee Schlenke/ Christoph Seibert (Hg.), Leibhaftes Personsein. Theologische und interdisziplinäre Perspektiven (FS. Eilert Herms), Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2015 (MThSt; 123), 183–196.

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Zum Inbegriff des Diesseitigen, des Irdischen bzw. des Raum-Zeitlichen zählen wir aus gutem Grund alle Wesen von der Seinsart des leibhaften Person-Seins, deren „Sich-gegenwärtig-Sein“ und deren Lebensführung notwendigerweise aus ist auf das gesamte Spektrum der formalen und der materialen Güter. Wegen dieser faktischen Notwendigkeit existieren Wesen dieser Seinsart in der heilsgeschichtlichen Alternative, das Ziel bzw. das Woraufhin des Lebens entweder im Besitz bzw. im Genuss diesseitiger, irdischer bzw. raum-zeitlicher Güter zu erstreben oder aber dieses Ziel bzw. dieses Woraufhin im Höchsten Gut ihrer selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott selbst – mit Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen – zu erblicken. Im Brief an die Gemeinde zu Philippi spitzt der Apostel Paulus diese heilsgeschichtliche Alternative zu auf den polemischen Gegensatz zwischen dem „irdischen Gesinnt-Sein“ und der Gewissheit eines πολίτευμα – eines „Staates“ bzw. eines „Gemeinwesens“ – „im Himmel“ (Phil 3,19f.), die sich dem „Ergriffen-Sein“ von Jesus Christus selbst – verstehe: im Medium des Heiligenden Geistes – verdankt (Phil 3,12).239 Mit der überraschenden Metapher eines πολίτευμα „im Himmel“ verweist uns der Apostel Paulus auf jeden Fall auf die eschatische Konstellation jenseits des Todes und durch den Tod hindurch, wie sie die christliche Gottesgewissheit zuversichtlich erhofft (vgl. bes. 1Kor 15,1-58 [s. 4.5]). In ihrem nicht-metaphorischen Kern meint der Apostel Paulus offensichtlich ein Vollendet-Werden bzw. ein VollkommenWerden des unter den diesseitigen, den irdischen, den raum-zeitlichen Bedingungen gelebten Lebens, wie es sich hier und jetzt noch jeglicher Erfahrung entzieht. Jedenfalls ist es denkbar als das jenseitige, das himmlische, das ewige „Ziel“, der „Siegespreis“ (Phil 3,14), das endgültige Erreichen jener Bestimmung, die uns mit unserer Seinsart des leibhaften Person-Seins gegeben und aufgegeben ist.240 Wenn nun die christliche Gottesgewissheit dieses Ziel zuversichtlich erhofft, sieht sie es wie gesagt in einem kritisch-überbietenden Verhältnis zur Lebensgeschichte der Person unter den Bedingungen des Diesseitigen, des Irdischen bzw. des Raum-Zeitlichen. Zwischen dem Schon jetzt und dem Noch nicht der Lebensgeschichte eines christlich-frommen Selbstbewusstseins besteht nämlich auf jeden 239 Im Unterschied zu dem polemischen Gegensatz, wie ihn der Apostel Paulus an dieser Stelle aufreißt, darf die besonnene Rechenschaft über die Hoffnung, die der christlichen Gottesgewissheit entspringt, das „irdische Gesinnt-Sein“ keineswegs in toto diffamieren. Allerdings eignet dem Begriff des „irdischen Gesinnt-Seins“ diagnostische Kraft hinsichtlich aller Lebenssinn-Deutungen, die sich – unbesorgt um die „Leiden der gegenwärtigen Zeit“ und um die Pflicht des solidarischen Handelns – mit einem hedonistischen Lebenszweck zufriedengeben, wie ihn die Operette „Der Zigeunerbaron“ artikuliert: „Mein idealer Lebenszweck / ist Borstenvieh und Schweinespeck“. 240 Damit ist das überaus heikle und strittige Thema berührt, auf das sich die Praxis „verdienstlicher“ Werke und die kirchlich-theologische Lehre vom „Verdienst“ in der Kirche unter dem Bischof von Rom bezieht; vgl. hierzu Otto Hermann Pesch, Frei sein aus Gnade (wie Anm. 16), 389–403. – S. 4.5.4.3.

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Fall Identität; sonst wäre das eschatische Ziel nicht als das Vollendet-Werden bzw. als das Vollkommen-Werden jener Gesinnung (Phil 2,5) zu denken, die in der „Gemeinschaft des Geistes“ (Phil 2,1) herrscht. Zwischen dem Schon jetzt und dem Noch nicht besteht allerdings auch Differenz; sonst wäre das eschatische Ziel nicht als das Ende alles Verfehlten, alles Problematischen und alles Fragmentarischen der Lebensgeschichte zu denken, wie es der Christus-Glaube nur bereuen kann (vgl. bes. 1Kor 13,8-11). Die christliche Gottesgewissheit provoziert mithin jene neue Bestimmtheit des Hoffens, die sich mit der schwerlich ganz auszudeutenden Metapher des hellsichtigen Sehens „von Angesicht zu Angesicht“ (1Kor 13,12) auf den Punkt bringen lässt. Im Unterschied zu all jenen Hoffnungen, die die erhofften formalen und materialen Güter vom Handeln endlicher und d. h. fehlbarer Instanzen erhoffen, richtet sie sich auf jene absolute bzw. auf jene allumfassende Zukunft, die der dreieine Gott jenseits des Todes und durch den Tod hindurch sein und werden lässt.241 Mit dem Apostel Paulus dürfen wir diese neue Bestimmtheit des Hoffens insofern als ein „Warten … in Geduld“ auf Gott (Röm 8,25) bezeichnen. Doch das ist nicht alles. Die Gottesgewissheit des Christus-Glaubens, die das Hoffen der Person im jeweiligen „Jetzt“ des Tags des Heils (2Kor 6,2) neu qualifiziert und neu orientiert, hebt selbstredend das Wesen des gemeinsamen leibhaften Person-Seins und damit dessen Handeln-Können und Handeln-Müssen in allen sozio-kulturellen Situationen nicht auf. In welcher Weise die Glieder der ChristusGemeinschaft die Selbstverantwortung vor Gott für eine lebensdienliche Gestaltung aller notwendigen und vorzugswürdigen Güter bis hin zu einer internationalen Friedensordnung wahrnehmen werden: das wird das große Thema der Theologischen Ethik sein. Sie wird zu zeigen haben, dass und wie das „Warten … in Geduld“ auf Gottes absolute bzw. allumfassende Zukunft Einfluss nimmt auf die „Hoffnung besserer Zeiten“ (Philipp Jakob Spener). Sie reagiert damit auf die überaus wichtigen und vollauf berechtigten Anliegen der Befreiungstheologie aller Spielarten, sofern sie nach Jahrhunderten der Ausbeutung, der Unterdrückung, der Versklavung für die Gerechtigkeit der Rechtsordnungen des Sozialen kämpft. An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass das Hoffen, das der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens entspringt, die religiöse Kommunikation des Evangeliums in der Kirche im Rahmen einer Ordnung des Rechts zur notwendigen Bedingung hat (s. 4.2). In den verschiedenen Medien dieser Kommunikation wird es stets darum gehen, die jeweilige Gesellschaft und ihre Kultur als jenen Inbegriff der Lebensbereiche vorzustellen, in denen alle Glieder der Christus-Gemeinschaft simultan existieren. Sie werden die Qualität der sozio-kulturellen Institutionen

241 Die genauere Entfaltung des Gedankens der absoluten bzw. der allumfassenden Zukunft Gottes werde ich vorlegen im Abschnitt 4.5 des vorliegenden Kapitels.

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danach bewerten und beurteilen, ob sie die Bildung eines Lebens in der Selbstverantwortung vor Gott verhindern oder aber begünstigen; und sie werden je an ihrem lebensgeschichtlichen Ort die Qualität der sozio-kulturellen Institutionen zu ihrer engagierten Sache machen. Indem die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche die Qualität der sozio-kulturellen Institutionen diskutiert, hält sie nicht nur in ihren Gliedern, sondern auch in der Öffentlichkeit ihrer jeweiligen Gesellschaft die „Hoffnung besserer Zeiten“ wach.242 4.3.4

Lieben243

Die Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums versetzt die Person zusammen mit dem Grundvertrauen und mit dem Hoffen in die Erfahrung jenes Liebens, das nach der erstaunlichen Einsicht des Apostels Paulus „niemals aufhört“ (1Kor 13,8). Das semantische Feld der „Liebe“ benennt aus gutem Grund – zusammen mit dem der „Verantwortung“ – das Integrierende der Ethosgestalt, die in der christlichen Gottesgewissheit gründet. Das neutestamentliche Offenbarungszeugnis zeichnet diese Ethosgestalt daher zu Recht als das „Band der Vollkommenheit“ (Kol 3,14) aus, das es in allen seinen verschiedenen Texten seinen Empfängern nachhaltig ans Herz legt. Um diese integrierende Funktion des Liebens in der bestimmten Gottesgewissheit des Christus-Glaubens zu verstehen und verständlich zu machen, beginne ich auch hier mit einer Analyse des Phänomens des Liebens. Sie baut auf meinen Analysen der Phänomene des Vertrauens und des Hoffens auf. Erstens: Mit dem semantischen Feld des Liebens berühren wir das Phänomen des menschlichen, des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins, mit dessen Kraft und dessen Dynamik wir alle wohl vertraut sind. Sie ist uns deshalb wohl vertraut, weil wir in unserem „Uns-gegenwärtig-Sein“ ein Angezogen-Werden bzw. ein passives, ein passionales Bestimmt-Werden von Gutem und von Gütern erleben, die

242 Vgl. hierzu vorläufig: Konrad Stock, Einleitung. Teil III: Grundriss der Theologischen Ethik. 243 Ich beziehe mich im Folgenden auf meine Darstellung in: Konrad Stock, Gottes wahre Liebe. Theologische Phänomenologie der Liebe, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000; ferner auf: Konrad Stock, Art. Liebe III. Dogmatisch: RGG4 5, 338–342; V. Religionsphilosophisch: ebd. 343–345; Ders., Art. Liebe Gottes und Liebe zu Gott III. Christentum: ebd. 353–356; Ders., Art. Selbstliebe: RGG4 7, 1168–1169; Art. Selbstliebe (Gottes): ebd., 1169–1170. – Vgl. ferner: Thomas von Aquino, STh II–II q 23–q 44; Karl Barth, KD IV/2, § 68: Der Heilige Geist und die christliche Liebe (825–853); Wolfhart Pannenberg, STh III, 206–237; Eilert Herms, Art. Liebe V. Ethisch: RGG4 5, 345–347; Ders., Art. Nächstenliebe V. Ethisch: RGG4 6, 17–18; Ders., STh (Bd. 1), 534–546; (Bd. 2), 1303–1349; 1350–1374; Hans-Peter Mathys, Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Untersuchungen zum alttestamentlichen Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18), Freiburg, Schweiz: Univ.-Verl. [u. a.], 2 1990 (OBO; 71); Jürgen Mohn/Eckart Otto/Gerd Theißen/Ulrich H. J. Körtner, Art. Feind/Feindesliebe: RGG4 3, 57–60; Wilfried Härle, Dogmatik5 , passim.

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für das unmittelbar empfundene hohe Gut des leibhaften Person-Seins bedeutsam, wichtig und entscheidend sind. Prima vista verstehen wir daher unter den Termini des Liebens, der Liebe, des Liebenswerten und des Liebenswürdigen ein Aus-Sein-auf bzw. ein Sehnen, ein Begehren, ein Streben, das auf die tatsächlich erlebte Anziehungskraft des Guten und der Güter aktiv reagiert. Es richtet sich auf ein In-Gemeinschaft-Sein, in dem wir zu verweilen und zu bleiben hoffen, weil wir uns davon die Erfüllung bzw. die Vervollkommnung des eigenen Person-Seins versprechen. Erfüllte und erfüllende Liebe erweckt in uns stets das Gefühl der Freude. Namentlich das Gefühl der Freude zeigt uns an, dass unser selbstbewusst-freies Agieren stets fundiert ist durch das passiv bzw. passional bestimmte Inne-Werden des für uns Erfüllenden.244 Zum Lieben vermag sich niemand zu entschließen. Nun hat der transzendentale bzw. der anthropologische Grundbegriff des „Sichgegenwärtig-Seins“ der leibhaften Person zur Folge, dass uns ein ontologischer Gegensatz zwischen Sinnlichem und Vernünftigem im Sinne Platons als abstrakt erscheint. Stattdessen unterscheiden wir verschiedene Dimensionen des ZusammenLebens in der gemeinsamen Erfahrungswelt, deren Zusammenhang und deren Ordnung für das Verstehen der Liebe des Christus-Glaubens höchst bedeutsam ist. In dem Zusammenhang und in der Ordnung dieser verschiedenen Dimensionen des Zusammen-Lebens zeigen sich nämlich die „Möglichkeiten des wahren (verstehe: des seiner Bestimmung entsprechenden) Lebens“ (Eilert Herms), die wir Menschen erreichen oder auch verfehlen, ja sogar zerstören können. Wann immer wir die „Möglichkeiten des wahren Lebens“ tatsächlich erreichen, sind wir in unserem „Herzen“ – d. h.: in der Tiefe unseres je individuellen Selbstgefühls – von wahrer „Lust und Liebe“ erfüllt. Indem ich die verschiedenen Dimensionen des erfreulichen, des Freude erregenden In-Gemeinschaft-Seins skizziere, spiele ich an auf Augustins Schlüsselbegriff der fruitio (des Genießens), mit dessen Hilfe ich den wohlverstanden erotischen Charakter der ἀγάπη – des Lebens in der Ordnung der Liebe – kenntlich machen möchte.245 Mit den verschiedenen Termini im semantischen Feld des Liebens assoziieren wir zuallererst die Anziehungskraft des In-Gemeinschafts-Seins mit unserer Mutter und mit unserem Vater im Nahbereich der Familie. Das Leben im Prozess dieser

244 Vgl. hierzu Konrad Stock, Grundlegung, 146–159: IV. Freude an dem, was sein soll. – Das Phänomen der Freude ist theoretisch erstmals beschrieben worden von Platon im Dialog „Philebos“ (50c–52d), allerdings auf der Basis eines ontologischen Gegensatzes zwischen Sinnlichem und Vernünftigem, und d. h. zwischen „vermeintlicher, scheinbarer Lust“ (51a) und „echter Lust“ (51b), der „keine notwendige Unlust beigemischt ist“ (51e). Nach Platon zeichnet sich die „echte Lust“ der Freude dadurch aus, dass sie geweckt wird durch das, was „an und für sich“ schön ist (51d) und deshalb durch sich selbst Fülle und Gegenwart empfinden lässt. – Vgl. hierzu Hans-Georg Gadamer, Platons dialektische Ethik, Hamburg: Meiner, 1983 (= 1 1931), 151–159. S. 4.5.4.3.3. 245 Vgl. hierzu Konrad Stock, Art. Eros III. Eros und Agape (caritas): RGG4 2, 1467–1468.

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primären Sozialisation erweitert und vertieft sich mit der Zeit in der Begegnung mit den Freunden und den Freundinnen in der Form der manchmal lebenslangen Freundschaft. Alsbald verspüren wir die Anziehungskraft des weiblichen bzw. des männlichen Geschlechts und finden uns – mitunter auf den ersten Blick – ergriffen von der Sehnsucht nach dem Anderen, der Anderen, die die erotische bzw. die sexuelle Intimität und deren wechselseitige Befriedigung umfasst. Das hohe Gut, das wir in allen diesen Formen des privaten In-GemeinschaftsSeins zu erreichen suchen, ist wiederum eingebettet und ist angewiesen auf alle jene Güter, die wir im Raum der öffentlichen bzw. der übertragbaren Beziehungen der Kultur einer Gesellschaft produzieren. Unter ihnen sind in dieser Skizze hervorzuheben die Güter des gerechten Rechts und der sozialen Sicherheit: sollen sie doch den lebensnotwendigen Schutz für unsere Bildungs- und Entwicklungsgeschichten bieten, in denen uns nicht allein das unermessliche Geschehen der Natur dieser Erde im unbegrenzten Universum, sondern auch der überwältigende Reichtum der Kunstpraxis aller Zeiten fasziniert. Dieses lebensnotwendigen Schutzes durch gerechtes Recht und durch soziale Sicherheit bedarf last but not least des Mit-einander-Seins in der weltanschaulichen bzw. in der religiösen Kommunikation, in der sich eine wie auch immer konstituierte Gemeinschaft im Gebet, im Kult, im Fest und in der Feier zur frommen Anrufung des weltjenseitigen, des ewigen, des allumfassenden Grundes erhebt. Im Medium dieses Mit-einander-Seins sucht sie sich der Gesinnung jenes Grundes zu vergewissern, der ihr als radikaler Vertrauensgrund gegenwärtig ist. Im kritischen Verhältnis zu anderweitigen Deutungen dieses Grundes bezeugt die religiöse Kommunikation des Evangeliums die Liebe des göttlichen Wesens, die in den Ereignissen des Dritten Tages – in der jeweiligen „Ausgießung“ des Heiligenden Geistes – endgültig offenbar geworden ist und immer wieder neu offenbar wird (vgl. bes. Joh 3,16.19: 1Joh 4,9f.16).246 Ihrer gewiss zu werden und zumal in den Anfechtungen und in den Leiden des Lebens und in der Not des Sterbens gewiss zu bleiben, bildet schon jetzt die Basis einer selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott selbst – mit Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen – als dem Höchsten Gut (s. 1.5.4). So strukturiert und orientiert das Gewiss-Sein dieses Höchsten Gutes die Art und Weise, in der die Glieder der Gemeinschaft in der Kommunikation des Evangeliums mit dem Zusammenhang und mit der Ordnung aller Güter liebend umzugehen trachten.

246 Vgl. Hermann Spieckermann, Gottes Liebe zu Israel. Studien zur Theologie des Alten Testaments, Tübingen: Mohr Siebeck, 2001; Konrad Stock, Art. Liebe Gottes und Liebe zu Gott III. Christentum: RGG4 5, 353–356; Markus Mühling-Schlapkohl, Gott ist Liebe. Studien zum Verständnis der Liebe als Modell des trinitarischen Redens von Gott, Marburg: Elwert, 2000 (MThSt; 58).

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Zweitens: In der Besinnung auf die Wahrheit des Christus-Glaubens sind wir uns allerdings auch dessen bewusst, dass die Kraft und die Dynamik des Liebens in aller Geschichte gehemmt, gefährdet und zerstörbar ist von den Kräften und Dynamiken der Konflikte, der Widersprüche, der brutalen Gewalt und der subtilen Verachtung. Ich hatte unter dem Zwischentitel des Syndroms des „erlittenen Leids und des verschuldeten Leids“ jenes Destruktive analysiert, in das wir Menschen alle faktisch bis auf diesen Tag verstrickt sind (s. 3.2). Möglich sind alle die Erscheinungen des Destruktiven, weil sich und solange sich die „Möglichkeiten des wahren (verstehe: des seiner Bestimmung entsprechenden) Lebens“ (Eilert Herms) dem Streben bzw. dem Begehren der individuellen bzw. der sozialen Subjekte noch nicht in ihrer Prägnanz und ihrer Anziehungskraft erweisen und bewähren. Wann immer und solange dies der Fall ist, wird entweder nur ein einzelnes Gut – wie z. B. der Besitz kaufbarer Objekte oder das Erleben bloßer sexueller Lust – als anziehend und als befriedigend empfunden; oder aber das individuelle Subjekt bzw. das soziale Subjekt sucht seine Interessen auf abstrakte, auf gewaltsame, auf verbrecherische Weise gegen andere individuelle bzw. soziale Subjekte durchzusetzen: Kriminologische und tiefenpsychologische Erfahrung spricht dafür, dass es perverse Motive gibt, die ein handelndes Subjekt das Leid, die Qual, die Ohnmacht, den Schmerz seines Opfers genießen lassen247 ; und die historische Erfahrung der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne macht allen Menschen guten Willens beschämend und erschütternd bewusst, mit welchen fehlgeleiteten Energien die großen und die mittleren Mächte im jahrhundertelangen Zeitraum des Kolonialismus Ausbeutung und Versklavung bis hin zum Genozid über die einheimischen Völker Afrikas, Asiens und Amerikas brachten oder duldeten.248 Die Besinnung auf die Wahrheit des Christus-Glaubens setzt den fundamentalanthropologischen Sachverhalt voraus, dass das geschaffene, das leibhafte Person-Sein des Menschen offensichtlich auch der Anziehungskraft des Bösen ausgeliefert ist.249 Hier trifft weiß Gott die Anklage des Propheten Micha zu: „Aber ihr hasset das Gute und liebt das Arge“ (Mi 3,2).

247 Aus aktuellstem Anlass erinnere ich an den Kommentar von Daniel Deckers, Monströs (F. A. Z. Nr. 149 [30. Juni 2020], S. 1). Er bezieht sich auf die Headline dieser Ausgabe mit der Nachricht: „30 000 Tatverdächtige im Missbrauchsfall Bergisch Gladbach“. 248 Vgl. hierzu Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, München: C. H. Beck, 4 2018. 249 Auf der Einsicht in den fundamentalanthropologischen Sachverhalt des „servum arbitrium“ beruht bekanntlich Martin Luthers große Streitschrift gegen Erasmus von Rotterdam „De servo arbitrio“ (1525), der diese Einsicht nicht wahrhaben wollte.

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Wenn dies seit eh und je der Fall ist: dürfen wir hoffen, dass die Anziehungskraft des Guten (der „Möglichkeiten des wahren [verstehe: des seiner Bestimmung entsprechenden] Lebens“) die Anziehungskraft des Bösen überwindet? Kraft der Ereignisse des Dritten Tages ist es dem Christus-Glauben als wahr gewiss, dass Gottes schöpferisches Wort in der Gestalt des versöhnenden Wortes (s. 3.6) im Begriffe ist, die Anziehungskraft des Bösen wirksam zu überwinden. Meine ganze Darstellung zeichnet die Art und Weise nach, in welcher Gottes vollendendes Walten im Heiligenden Geist das Sehnen, das Bestreben, das Verlangen nach dem Inbegriff des Guten evoziert: nämlich indem es die gesamte religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche zum Medium seines Wirkens macht. Es zielt auf eine Lebensform, die sich – wie fragmentarisch und wie problematisch auch immer – als Leben in der Ordnung der Liebe charakterisieren lässt. Wenn ich recht sehe, ist die biblische Beschreibung dieser Lebensform noch nicht in der Darstellung der Lebensgeschichte und des Lebensgeschicks Jesu von Nazareth in den synoptischen Evangelien zu finden; sie findet sich vielmehr erst in der „Theologie“ des Apostels Paulus und der johanneischen Schriften. Indem diese Texte Gottes versöhnendes Walten als den Erweis des göttlichen Liebens zu verstehen geben (vgl. bes. Röm 5,1-11; 8,31-39; Joh 3,16), bezeichnen sie die Liebeskraft und Liebesfähigkeit des Christus-Glaubens als das beherrschende Motiv des Lebens in der Selbstverantwortung vor Gott füreinander (vgl. bes. Röm 13,8-10; Joh 13,34-35). Sie deuten mithin ein Befähigt-Werden bzw. ein Befähigt-Sein zur sprachlichen, zur praktischen und zur ästhetischen Praxis des menschlichen Liebens an, das seinen Grund in der Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums hat; also im Walten des Heiligenden Geistes.250 Im Vorblick auf die Theorie des christlichen Ethos dürfen wir dies besondere Befähigt-Werden und Befähigt-Sein mittels des Begriffs der Tugend im Sinne der reformatorischen Bewegung charakterisieren: d. h. als diejenige ethische Tüchtigkeit, die wir der Gewissheit der wahren Liebe Gottes zu verdanken haben (s. STh III).251 Bevor ich nun das Leben in der Ordnung der Liebe en détail skizziere, ist eine sorgfältige Besinnung auf den Begriff des göttlichen Liebens angebracht. Sie geht sachgemäßer Weise von den verschiedenen Dimensionen des Liebens aus, in denen die geschaffene, die leibhafte Person die Anziehungskraft verschiedener Formen des In-Gemeinschaft-Seins erlebt, um sie auf der Basis dieses Affekts von sich aus zu wollen und zu realisieren. Ein Begriff des göttlichen Liebens wäre sinnund bedeutungslos, wenn er nicht seinerseits ein spezifisches In-Gemeinschaftsein-Wollen bezeichnen würde. Die nicht geringe Zahl der biblischen Belege für

250 Vgl. hierzu bes. Oda Wischmeyer, Art. Liebe IV. Neues Testament: TRE 21, 138–146 (Lit.). 251 Vgl. hierzu auch: Eilert Herms, STh (Bd. 2), IV.3: Die Theorie des christlichen Ethos als Tugendlehre (1303–1374).

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das Gewiss-Sein der „Liebe JHWHs / der Liebe Gottes“ lässt sich von diesem Verständnis her korrekt interpretieren.252 Allerdings: Wir interpretieren dieses Verständnis dann und nur dann korrekt, wenn wir das ontologische Grundverhältnis zwischen Gottes In-Gemeinschaft-SeinWollen und unserem Begehren und Erstreben des Guten des In-GemeinschaftSeins ernst nehmen. Denn während unser Begehren und Erstreben des Guten des In-Gemeinschaft-Seins innerhalb des faktischen und d. h. des kontingenten, des geschaffenen Seienden durchaus dem Eros des platonischen Dialogs „Symposion“ entspricht, ist Gottes In-Gemeinschaft-Sein-Wollen keine Form der begehrenden Liebe, sondern die Form der gebenden, der schöpferischen bzw. der mitteilenden Liebe. Als solche eignet sie dem schöpferischen Person-Sein des göttlichen Wesens, das ich im Kapitel über den „christlichen Glauben an Gott“ zu bedenken suchte, soweit es sich im point of view der christlichen Gottesgewissheit erschließen lässt (s. 1.5).253 Im point of view der christlichen Gottesgewissheit sind wir nämlich dessen inne, dass Gottes ewige bzw. allumfassende Wahl der Gnade kraft der Ereignisse des dritten Tages im Raum der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen je und je endgültig offenbar wird. Indem sie je und je endgültig offenbar wird, wagen wir es zu sagen, dass Gottes ewige bzw. allumfassende Wahl der Gnade das ursprüngliche Ziel bzw. den ursprünglichen Heilssinn hat, uns – das geschaffene, das leibhafte Person-Sein – durch die Geschichte unseres Werdens bis zum Tod und durch den Tod hindurch endgültig in die Teilhabe an Gottes Liebe – d. h.: in die Lebensform des Liebens im Sinn des göttlichen In-Gemeinschaft-sein-Wollens – zu erheben.254 Die biblischen Belege für das Gewiss-Sein der „Liebe JHWHs / der Liebe Gottes“ beziehen sich insofern sachgemäß auf das Kontinuum des schöpferischen, des versöhnenden und des vollendenden Waltens, das miteinander jenes ursprüngliche

252 Vgl. hierzu bes. Horst Seebaß, Art. Liebe II. Altes Testament: TRE 21, 128–133; bes. 131f. (zu Hos 11,1; 9,15; 11,4.5; Jer 31,3; Ps 87,2); Oda Wischmeyer, Art. Liebe IV. Neues Testament: ebd. 138–146 (bes. zu Röm 5,1–11). – Offensichtlich sind im Corpus Paulinum die Termini „Gnade“, „Gerechtigkeit“, „Liebe“ als Begriffe für das göttliche Walten in christologischer bzw. in soteriologischer Hinsicht isotop. Im Gegensatz zu ihrem Vorkommen im Tanakh der jüdischen JHWHGemeinschaft sind sie hier allerdings eingezeichnet in die duale Struktur des apokalyptischen Mythos, der einer gründlichen Dekonstruktion bedürftig ist (s. 4.5.4.2). 253 Vgl. Zum Folgenden Friedrich Schleiermacher, CG2 §§ 166–167: Erstes Lehrstück: Von der göttlichen Liebe (II, 446–451 = KGA I.13,2, 500–506). 254 Thomas von Aquino hat daher das Verhältnis der Liebe Gottes zu unserer Liebe zu Gott als „communicatio“ verstanden (STh II – II q 23 a 1 ad3) und sich dafür von der aristotelischen Theorie der Freundschaft anregen lassen (STh II – II q 23 a 1).

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Ziel bzw. jenen ursprünglichen Heilssinn der Wahl der Gnade für uns als Höchstes Gut realisiert.255 Drittens: Das Leben in der Ordnung der Liebe.256 Unter dem „Leben in der Ordnung der Liebe“ verstehe ich jene Lebensform, die in der Gewissheit gründet, von Gottes schöpferischem Wort in Gestalt des versöhnenden Wortes radikal geliebt zu sein (s. o. S. 680f.; vgl. bes. Röm 5,8; 8,35; Eph 5,2; 2Thess 3,5). Diese Gewissheit, die sich im Medium der religiösen Kommunikation des Evangeliums kraft des Heiligenden Geistes bildet und erhält, erweckt in uns die wohlwollende, die liebevolle Aufmerksamkeit für das hohe Gut, das wir in den verschiedenen Dimensionen unserer Lebensgeschichte zu finden bestimmt sind: nämlich im Verhältnis zu uns selbst, im Verhältnis zum Andern unserer selbst und im Verhältnis zu dem allumfassenden ursprünglichen Grund unserer selbst in diesem ungeheuren Universum. Dementsprechend wird die Gewissheit, radikal geliebt zu sein, konkret als Gottesliebe, als Liebe zum Andern und als Selbstliebe. Weil uns jedoch die nach wie vor wirksame Anziehungskraft des Bösen bedrückend gegenwärtig ist, umfasst das Leben in der Ordnung der Liebe natürlich auch die Liebe zum gerechten Recht: sowohl im Innenverhältnis der Kultur unserer jeweiligen Gesellschaft als auch in den konfliktbeladenen Beziehungen zwischen politischen Souveränen. Recht verstanden sind die verschiedenen Aspekte des Lebens in der Ordnung der Liebe, die ich im Folgenden skizziere, wechselseitig aufeinander bezogen.

255 Das Syntagma „Liebe Gottes“ fungiert also als Brückenbegriff. Es hat sowohl eine ontologische Bedeutung im Blick auf das kategoriale Verhältnis zwischen Gottes schöpferischem Sein und dem Inbegriff des Alls des Seienden (wie es insbesondere in der Metaphysik der Evolution von Charles S. Peirce bedacht wird; vgl. hierzu Hermann Deuser, Gott: Geist und Natur. Theologische Konsequenzen aus Charles S. Peirce‘ Religionsphilosophie, Berlin: Walter de Gruyter, 1993 [TBT; 56], 53–80) als auch eine christologische und eine soteriologische Bedeutung. – Sehe ich recht, so ist eben diese Funktion des Syntagmas „Liebe Gottes“ erstmals bedacht worden in der jüngeren franziskanischen Schule bei Johannes Duns Scotus (vgl. Opus Paris. III, dist. 7, n. 5). – Indem ich im Folgenden die Lebensform der Liebe des Christus-Glaubens als die durch Gottes Heiligenden Geist hervorgerufene Entsprechung zu Gottes ursprünglichem In-Gemeinschaft-SeinWollen verständlich mache, übe ich stillschweigend entschiedene Kritik an der Geschichte des kirchlich-theologischen Verstehens, soweit sie das Phänomen der Liebe im abstrakten Gegensatz des selbstsüchtigen Liebens (des amor mundi) und der Gottesliebe als der Liebe zu Gott um seiner selbst willen (des amor Dei) erfassen mochte. Die Wahrnehmung des Phänomens der Liebe im Lichte dieses abstrakten Gegensatzes lässt außer Acht, dass der univoke Kern des Phänomens der Liebe das In-Gemeinschaft-Sein-Wollen ist. 256 Ich stütze mich im Folgenden auf meine Darstellung in: Konrad Stock, Gottes wahre Liebe (wie Anm. 243): Kap. VI: Die Ordnung der Liebe (195–278); Kap. VII: Die Innigkeit der Liebe und die Leidenschaft (279–313). – Unter den interessanten Beiträgen zum Thema hebe ich vor allem hervor: Wilhelm Meng, Narzißmus und christliche Religion. Selbstliebe – Nächstenliebe – Gottesliebe, Zürich: Theol. Verl., 1997.

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Indem ich das Leben in der Ordnung der Liebe zusammen mit dem Grundvertrauen und dem Hoffen als die „Frucht des Geistes“ bzw. als das „Leben im Geist“ (Gal 5,22.25) – d. h.: in der Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums – interpretiere, konkretisiere ich die reformatorische Sicht, die aus polemischen Motiven auf das angemessene Verhältnis zwischen Glauben und Lieben geachtet hatte. Darüber hinaus sei ausdrücklich vorausgeschickt, dass der Aspekt der Selbstliebe in der christlichen Sicht des Phänomens der Liebe gleiches Gewicht bekommen muss. Mit Fug und Recht gilt Martin Luthers Schrift „Von den guten Werken“ (1520) als die erste und als die programmatische Darlegung der Ethosgestalt des ChristusGlaubens in reformatorischer Perspektive.257 Sie übt nicht etwa nur begründete Kritik am Erfordernis der ernsten Reue (der contritio) bzw. an der satisfaktorischen Kraft der frommen Bußleistungen im Sakrament der Buße gemäß dem Ideal der Heiligkeit im Selbstverständnis der Heiligen römischen Kirche; vielmehr entwickelt sie auch und vor allem die entscheidende reformatorische Alternative zu deren Lehre von der fides c(h)aritate formata (des durch die Liebe zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst ‚geformten‘ Glaubens). Denn nach den Einsichten der reformatorischen Bewegung markiert just diese Lehre die wesentliche Differenz zwischen dem römischen Verstehen der göttlichen gratia gratum faciens kraft der Wirksamkeit der gültig vollzogenen und empfangenen Sakramente und dem vom Apostel Paulus dargelegten Verstehen der Gerechtigkeit des Glaubens (vgl. bes. Röm 3,21-28; 4,1-5; 8,1-4). Das römische Verstehen meint nämlich mit dem Aspekt des noch nicht ‚geformten‘ Glaubens jenes frei-willentliche Anerkennen und Für-wahr-Halten der gesamten kirchlich vorgelegten Glaubenslehre, ohne das die in den Sakramenten dargereichte gratia gratum faciens nicht zu empfangen wäre. Es lässt es durchaus im Unklaren, in welcher Weise denn die gerecht und heilig machende Liebe – die in der Passion bzw. im Selbstopfer des Christus Jesus erscheinende Liebe Gottes (gen. subiectivus) – im Empfang der Sakramente und zuhöchst im Sakrament der Eucharistie nach Röm 5,5 tatsächlich von der Seele der Person gültig und wirksam empfangen wird. Die typische Formel fides c(h)aritate formata schließt ausdrücklich je mein GewissWerden bzw. je mein Gewiss-Bleiben der mir geltenden Wahrheit des Evangeliums aus. Daher hat die reformatorische Bewegung dieser Lehre leidenschaftlich widersprochen, weil sie in ihr eine Verkennung des Waltens des Geistes der Wahrheit erblickte; denn das Wesentliche des Waltens des Heiligenden Geistes besteht eben darin, dass es für unser „Uns-gegenwärtig-Sein“ Gewissheit stiftet.258

257 Vgl. Martin Luther, Von den guten Werken (1520): WA 6; 202–276; hierzu bes.: Michael Kuch, Herzenssache und Gottesmut. Martin Luther und das Lebensgefühl des Glaubens (wie Anm. 38), 78–112: „Aus Lust und Liebe“ – die Freude am Guten. 258 Insofern sieht die reformatorische Bewegung in der Frömmigkeitspraxis ihrer Zeit – insbesondere in der monastischen Lebensform – den zum Scheitern verurteilten Versuch, diese letzte

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Auf der Basis dieses leidenschaftlichen Widerspruchs hat die reformatorische Bewegung nun allerdings mit gleicher Intensität den inneren, den sachlogischen Zusammenhang zwischen der Wahrheitsgewissheit des Christus-Glaubens und der Lebenspraxis des Liebens eingeschärft.259 Sie anerkennt selbstredend die bleibende, die unbedingte Geltung des Doppelgebots der Liebe, wie es die synoptischen Evangelien formulieren; und sie beherzigt stets die tiefe Einsicht des Apostels Paulus, dass der Christus-Glaube „durch die Liebe tätig“ sei (Gal 5,6). Offensichtlich verwendet namentlich Luther das semantische Feld der Liebe, um die vita activa einer christlichen Lebensführung in den „Verantwortungsfeldern menschlichen Lebens“ insgesamt zu konkretisieren.260 Sie äußert sich in der unübersehbaren Vielfalt einzelner Handlungsweisen als konstanter und konsequenter „Gemeinschaftswille“ bzw. als je und je situativ richtige „gunstige wolthat“. Von ihr gilt nach Luther: „Also bleybt der glaub der thetter und die liebe bleybt die that.“261

Ungewissheit zu kompensieren. Vgl. zum Problem bes. Martin Luther, WA 39 I; 318,9–17; 39 II; 207,38–208,3; 213,24–214,17. – Freilich gilt es für die aktuelle Situation der systematischen Besinnung den Hinweis von Eberhard Jüngel, Art. Glaube IV. Systematisch-theologisch: RGG4  3, 953–974; 961, zu beachten, dass „reformatorische Polemik mögliche – in differenten Terminologien und Denkformen verborgene – Gemeinsamkeiten mitunter vollends unsichtbar macht.“. – Wilfried Härle, Glaube und Liebe bei Martin Luther, jetzt in: Ders., Menschsein in Beziehungen (wie Anm. 41), 145–168, hat die reformatorische Kritik am Verständnis des Christus-Glaubens in der Lehre und der Praxis der Kirche unter dem Bischof von Rom richtig auf den Punkt gebracht: „Die Lehre von der fides charitate formata leidet daran, dass sie die für das Heil des Menschen hinreichende und für die Liebe des Menschen notwendige Bedeutung des Glaubens verkennt, indem sie die Liebe zur notwendigen Bedingung des rechtfertigenden Glaubens und damit des Heils macht.“ Und er erinnert an Luthers „pointierteste Gegenthese“: „Nos autem loco charitatis istius ponimus fidem“ („Wir aber setzen an die Stelle dieser (verstehe: dieser rechtfertigenden) Liebe den Glauben [WA 40/I; 228,27f.] {meine Übersetzung}) (165). 259 Vgl. zum Folgenden bes.: Martin Luther, Ein Sendbrief an den Papst Leo X. Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520) (WA 7, 3–38); Ders., Von den guten Werken (1520) (WA 6; 202–276); Wilfried Härle, Glaube und Liebe bei Martin Luther (wie Anm. 258); Reinhard Schwarz, Martin Luther – Lehrer der christlichen Religion (wie Anm. 36), Kap. 8: Die christliche Ethik der Nächstenliebe (391–442). 260 Ich zitiere Reinhard Schwarz, Martin Luther – Lehrer der christlichen Religion (wie Anm. 36), der detailliert Luthers Verständnis der Nächstenliebe als die Kraft des „Gemeinschaftswillens“ auf den Feldern der Ehe bzw. der Familie, der kirchlichen Gemeinschaft und der weltlichen Rechtsgemeinschaft nachzeichnet. – Natürlich gilt es heute, Luthers Entwurf einer „Ethik der Nächstenliebe“ auf eine den hochentwickelten Gesellschaften der Moderne angemessene Theorie der Subsysteme bzw. der Lebensbereiche zu übertragen. 261 Martin Luther, Fastenpostille (1525) (WA 17 II; 98,25f.). – Vgl. auch: Ders., Von der Freiheit eines Christenmenschen: „alle werck sollen gericht seyn, dem nechsten zu gutt, Die weil ein yglicher fur sich selbs gnug hatt an seynem glauben, und alle andere werck und leben yhm ubrig seyn, seynem nechsten damit auß freyer lieb zu dienen“ (WA 7; 35,10–12).

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In dieser lapidaren Formel ist die These eingeschlossen, dass die Tugend der Liebe als die Quelle alles wahrhaft sittlich guten Tuns ihrerseits aus der – stets angefochtenen – Gewissheit des Christus-Glaubens quillt, die die Person im Medium der Kommunikation des Evangeliums in die Erfahrung der objektiv wahren Liebe des dreieinen Gottes versetzt; denn alles wahrhaft sittlich gute Tun und Lassen ist Tun und Lassen einer Person, deren Herz, deren Gesinnt-Sein, deren individuelles Selbstbewusstsein kraft der Erfahrung der objektiv wahren Liebe des dreieinen Gottes „der Lieb Inbrunst“ empfindet (EG 124,3).262 Die reformatorische Lehre vom Verhältnis, das zwischen der Gewissheit des Christus-Glaubens und der Tugend der Liebe besteht, beschreibt mithin die Art und Weise, in der das „innere Prinzip der Sittlichkeit“ gebildet wird. Dies „innere Prinzip der Sittlichkeit“ setzt seinerseits voraus das „äußere Prinzip der Sittlichkeit“, d. h. den Inbegriff des Gesollten, des Gebotenen bzw. des unbedingt Verpflichtenden.263 Wenn Luther dieses „äußere Prinzip der Sittlichkeit“ mit dem Dekalog sowohl als auch mit dem „natürlichen Gesetz“ – mit dem „von Natur aus Rechten“ – identifiziert, so gibt er einen Fingerzeig dafür, wie wir den Geltungsgrund des „äußeren Prinzips der Sittlichkeit“ am besten formulieren. Dieser Geltungsgrund ist nicht zu finden in normativen bzw. in präskriptiven Sätzen bloß als solchen; er ist vielmehr zu finden im hohen Gut der conditio humana des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins selbst: in dessen Gottesverhältnis, Weltverhältnis und Selbstverhältnis. Ist uns dies hohe Gut gegeben durch Gottes schöpferisches Walten, so ist es uns gegeben zur „ethischen“, zur selbstverantwortlich-freien „Wahrnehmung“ (Bernd Harbeck-Pingel), kraft derer wir es zu erhalten, zu fördern, zu schützen und zu vervollkommnen haben. Es ist uns mithin gegeben zur wohlverstanden sittlichen Autonomie, die im Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids (s. 3.2) unter dem „Hange zum Bösen in der menschlichen Natur“ immer wieder preisgegeben wird.264 Klarer und genauer als Kants philosophische Religionslehre

262 Obwohl Luther wie die reformatorische Bewegung ebenso wie die scholastischen Schulen der Heiligen römischen Kirche dem Kerygma des Apostels Paulus von der „Gerechtigkeit Gottes“ (Röm 3,21) verpflichtet sind, verstehen sie offensichtlich wie der Apostel Paulus „Gerechtigkeit Gottes“ und „Liebe Gottes“ als isotope Termini. Vgl. hierzu bes. Luthers Erklärung des 3. Artikels im „Großen Katechismus“ (BSLK 660,28–32: „Denn da [verstehe: im Offenbar-Werden des Sinnes des „Wortes vom Kreuz“] hat er selbs offenbaret und aufgetan den tiefsten Abgrund seines väterlichen Herzens und eitel unaussprechlicher Liebe in allen dreien Artikeln“). – Aus diesem Grunde kann Tuomo Mannermaa behaupten: „Seine (verstehe: Luthers) gesamte Theologie kann als eine folgerichtige Theologie der Liebe verstanden werden.“ Vgl. Tuomo Mannermaa, Art. Liebe VI. Reformation und Orthodoxie: TRE 21, 152–156; 152. 263 Thomas von Aquino skizziert das „äußere Prinzip der Sittlichkeit“ in: STh I–II q 90 introductio. 264 Ich erinnere hiermit an Immanuel Kants philosophische Religionslehre, die in ihrem ersten Stück „Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten: oder Über das radikale Böse in der

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sieht die reformatorische Theologie und ihre ethische Theorie, dass die Überwindung des Hanges zum Bösen in der menschlichen Natur nicht etwa der Achtung vor dem moralischen Gesetz der praktischen Vernunft als solcher zu danken ist, sondern eben der Erfahrung der objektiv wahren Liebe des dreieinen Gottes; ihr aber ist sie zu danken: „Denn durch diese Erkenntnis (verstehe: diese durch Gottes Heiligenden Geist erschlossene Erkenntnis des Christus-Geschehens) kriegen wir Lust und Liebe zu allen Gepoten Gottes, weil wir hie sehen, wie Gott sich ganz und gar mit allem, was er hat und vermag, uns gibt zu Hülfe und Steuer, die zehen Gebot zu halten: der Vater alle Kreaturn, Christus alle seine Werk, der heilige Geist alle seine Gaben.“ (BSLK 661,35-40).265

In dieser Bestimmung des Verhältnisses von Christus-Glaube und Liebe scheint nun die Dimension der Gottesliebe (Gen. obiectivus) ebenso wie die der Selbstliebe allerdings nahezu verschwunden zu sein. In der Tat hat Luther aus dem Logion von Mt 22,39 den Schluss gezogen, dass der Christus Jesus die Gottesliebe in die Nächstenliebe „herunterziehe“, zumal Gott selbst ja keiner Wohltaten bedürftig sei. Gleichwohl ist es nicht zu übersehen, dass sich nach Luther die Wahrheitsgewissheit des Christus-Glaubens durchaus auch in der Form wirklich empfundener, affektiver bzw. emotiver Resonanzen äußert, die ein Mensch je für sich selbst ebenso wie in der Gemeinschaft des Christus-Glaubens dem versöhnenden Wort des schöpferischen Wortes (s. 3.6) unwillkürlich entgegenbringt. Unter diesen Resonanzen ragt in Luthers Schriften insbesondere das Gefühl der Freude hervor, das im Gotteslob des Singens und des Spielens hervorbricht.266 An diese wohlverstanden ästhetische menschlichen Natur“ handelt; vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793.1794), (W IV, 665–705; 675). 265 Es wird die Aufgabe der Theologischen Ethik – der Theorie der Ethosgestalt bzw. der konkreten Sittlichkeit auf der Basis der christlichen Gottesgewissheit – sein, im Anschluss an diese elementare Einsicht des Großen Katechismus als eines Grundlagentextes des Lehrbekenntnisses der lutherischen Kirchengemeinschaft das sachgemäße Verhältnis zwischen einer Pflichtenlehre, einer Tugendlehre und einer Güterlehre unter den sozio-politischen und sozio-kulturellen Bedingungen einer hochentwickelten Gesellschaft der Moderne zu entfalten; vgl. hierzu bereits Konrad Stock, Einleitung, Teil III: Grundriss der Theologischen Ethik; sowie demnächst STh III. 266 Vgl. bes.: Martin Luther, „Nun freut euch, lieben Christen g‘mein“ (EG 341. – Allerdings ist nicht zu übersehen, dass der Dichter die Freude über Gottes „süße Wundertat“ „mit Lust und Liebe singen“ lässt, weil sie im Banne der dualen Struktur des apokalyptischen Mythos aus der Verzweiflung errettet: „die Angst mich zu verzweifeln trieb, / daß nichts denn Sterben bei mir blieb, / zur Höllen mußt ich sinken“ [EG 341,3]); Ders., Magnificat verdeutscht ([1521] WA 7; 544-604), bes. 548,111.29ff.; dazu: Birgit Stolt, „Laßt uns fröhlich springen!“. Gefühlswelt und Gefühlsnavigierung in Luthers Reformationsarbeit, Berlin: Weidler Buchverlag, 2012; Günther Metzger, Gelebter Glaube. Die Formierung reformatorischen Denkens in Luthers erster Psalmenvorlesung dargestellt am Begriff des Affekts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1964 (FKDG; 14).

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Ausdrucksgestalt der christlichen Gottesgewissheit knüpfe ich an. Des Weiteren sehe ich es als außerordentlich wichtig an, im Rahmen der Besinnung auf die Ethosgestalt der Liebe auch das Moment des Sich-selbst-Liebens gebührend ernst zu nehmen. Ad 1: Die Liebe zu Gott 267 .– Gemäß dem Evangelium nach Markus antwortet Jesus von Nazareth auf die Frage eines Schriftgelehrten nach dem „höchsten Gebot von allen“, indem er das ‫( שםע ישראל‬Dtn 6,4) mit dem Gebot der Liebe zu JHWH mit dem Gebot der Nächstenliebe von Lev 19,18 verknüpft: „Das höchste Gebot ist das: ‚Höre, Israel, der HErr, unser Gott, ist der HErr allein, und du sollst den HErrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft.‘ Das andre ist dies: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘ Es ist kein anderes Gebot größer als diese.“ (Mk 12,29-31; vgl. Mt 22,35-40; Lk 10,25-28).

Gemäß der steilen These des Apostels Paulus geht dieses höchste Gebot in der Lebensform des Christus-Glaubens in Erfüllung (vgl. bes. Röm 13,8-10; Gal 5,6). Dass auch und in welchem Sinne auch die Liebe zu Gott ein wesentliches Moment der Lebensform des Christus-Glaubens sei, muss allerdings ausdrücklich erläutert werden; denn Luthers Unterscheidung zwischen dem Gottesverhältnis des Christus-Glaubens und dem Weltverhältnis der Liebe zum Nächsten hat jedenfalls den Mainstream der evangelischen Theologie des 19. und des 20. Jahrhunderts so nachhaltig bestimmt, dass er mit der Liebe zu Gott als essential christlichen Lebens wenig anzufangen wusste.268 Eine solche Erläuterung ist möglich, wenn wir uns an Schleiermachers Unterscheidung von „wirksamem Handeln“ und „darstellendem Handeln“ im Rahmen seiner „Sittenlehre“ orientieren.269 Im Lichte dieser Unterscheidung können wir im Ganzen des christlichen Lebens in der Einheit der Erfahrungswelt den besonderen 267 Vgl. zum Folgenden bes.: Wolfhart Pannenberg, STh III, 206–222; Konrad Stock, Gottes wahre Liebe (wie Anm. 243): Die Gottesliebe (255–278); Ki-Seong Lee, Die menschliche Liebe zu Gott als Thema der evangelischen Theologie, Aachen: Mainz, 2002; Franz-Josef Nocke, Art. Gottesliebe II. Systematisch-theologisch: LThK3 4, 928–929. 268 Der Rückgriff auf Luther ist faktisch geprägt von einem Grundgedanken der Theorie der Moralität auf der Basis des transzendentalen Kritizismus Immanuel Kants, die das Gottesverhältnis der Person aus dem Kreis der sittlichen Pflichten ausdrücklich ausschließt; vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (W IV, 303–634). Vgl. meine Nachweise in: Konrad Stock, Gottes wahre Liebe (wie Anm. 243), 260–264. 269 Die Unterscheidung von „wirksamem Handeln“ und „darstellendem Handeln“ findet sich vor allem in den nachgelassenen Vorlesungen über „Die christliche Sitte nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt“, die Ludwig Jonas herausgegeben hat: Friedrich

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Aspekt hervorheben, den ich die ästhetische Erfahrung des christlich-frommen Selbstbewusstseins nenne. Auf der Basis seiner transzendentalen Theorie des Selbstbewusstseins bzw. des „Sich-gegenwärtig-Seins“ der Person bezeichnet der Begriff des „wirksamen Handelns“ in Schleiermachers „Sittenlehre“ das ganze Gefüge solcher Handlungsweisen und Handlungsziele, die für die Erbauung, für die Reinigung bzw. für die Verbreitung des christlichen Gesinnt-Seins (verstehe: des „Wollens des Reiches Gottes“270 ) in einer sozio-kulturellen Mitwelt wichtig und notwendig sind. Demgegenüber bezeichnet der Begriff des „darstellenden Handelns“ das ganze Gefüge solcher Handlungsweisen und Handlungsziele, die „der relativen inneren Seeligkeit des Menschen“ (503) Ausdruck geben. Während „wirksames Handeln“ in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen das stets angefochtene gemeinsame „Wollen des Reiches Gottes“ zu seinem Zweck und Ziele hat, vergegenwärtigt „darstellendes Handeln“ in der ChristusGemeinschaft der Kirche und der Kirchen das, was ihr gegeben ist und wovon sie lebt: nämlich die „Erscheinung des Erlösers in der Geschichte“.271 Deshalb entwickelt Schleiermachers Sittenlehre den konkreten Begriff des „darstellenden Handelns“ am „Gottesdienst im engeren Sinne“ (537–599 [s. 4.2.1]). In ihm ereignet sich die ästhetische Erfahrung, die sich dem christlich-frommen Selbstbewusstsein verdankt und in deren Medium sich das christlich-fromme Selbstbewusstsein mitteilt. Das sei in der gebotenen Kürze angedeutet.272 Von allem Anfang an begeht die feiernde Gemeinde in ihrem Gottesdienst das endgültige Offenbar-Werden der radikalen Liebe Gottes (gen. subiectivus) in ästhetischen bzw. in künstlerischen Formen. Sie nimmt die effectus musicae, den gemeinsamen Gesang und die Ausdruckskraft der menschlichen Stimme in Gebrauch, um die Wortsprache zu ergänzen und zu intensivieren zum Lobe Gottes und zur Erhebung des Herzens (vgl. Kol 3,17; Eph 5,16).273 Sie liest, sie meditiert

270 271 272

273

Schleiermacher‘s sämmtliche Werke. 1. Abth.: Zur Theologie, Bd. 12, Berlin 1843. – Belege aus diesem Werk sind im Text notiert. Friedrich Schleiermacher, CG2 § 121,3 (II, 254 = KGA I.13,2, 283) u. ö. Friedrich Schleiermacher, CG2 § 13 L (I, 86 = KGA I.13,1, 106). Vgl. zum Folgenden bes. Bernd Harbeck-Pingel, Ethische Wahrnehmung. Eine systematischtheologische Skizze, Aachen: Mainz, 1998, bes. 147–154: Die ästhetische Gegenwart der neuen Welt Gottes. Vgl. hierzu Johannes Quasten, Musik und Gesang in den Kulten der heidnischen Antike und der christlichen Frühzeit, Münster i. W.: Aschendorff, 1930; Werner Beierwaltes, Corde cantare. Gedanken des hl. Augustinus über das Singen (MusAl 7, 1954, 81–83); Reinhold Hammerstein, Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters, Bern: Francke, 2 1990; Winfried Kurzschenkel, Die theologische Bestimmung der Musik, Trier: Paulinus-Verl., 1971; Jürgen Henkys, Singender und gesungener Glaube, in: Lothar Steiger (Hg.), Lobet Gott (FS. Rudolf Bohren), München: Kaiser, 1990, 124–134).

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und rezitiert das Buch des Psalters, das nicht nur eine liturgische Hymnodik im Anschluss an die jüdische Psalmodie inspiriert, sondern auch eine unerschöpfliche Quelle poetischer Bildsprachen darstellt. Sie entwickelt etwa seit dem Ende des 3. Jahrhunderts für die Feier des Gottesdienstes erste einfache archtitektonische Formen des Kirchenbaus, dessen Geschichte bis auf den heutigen Tag eine unübersehbare Fülle von Stilen hervorgebracht hat. Das Kirchengebäude ist denn auch der angemessene Raum, in dem die großen Werke der christlich-religiösen Musik – die Kantaten, Oratorien, Messen – zur Aufführung gelangen. In seinem Zentrum finden sich die Werke der christlich-religiösen Malerei, die dazu bestimmt sind, der feiernden Gemeinde jeweils einzelne Aspekte des Heils- und Offenbarungsgeschehens im Bild und als Bild zu vergegenwärtigen und sie zum dankbaren und fröhlichen Gedenken einzuladen.274 Alle diese sei es einfachen sei es hochkomplexen Formen christlicher Kunstpraxis sind dazu da, Ausdrucksmedien für das liebende Zugewandt-Sein der Person zu Gottes endgültigem Offenbar-Werden zu sein. In ihren ästhetischen Codes dürfen wir die mannigfache Zeichensprache der Liebe finden, in der wir die uns offenbare radikale Liebe Gottes erwidern. Die Liebe, wie sie der christlichen Gottesgewissheit eignet, gilt dem Gott, dessen Wesen als Geist sich uns in Gottes schöpferischem, Gottes versöhnendem und Gottes vollendendem Walten erschließt (s. 1.5.4). Sie strebt danach, das In-Gemeinschaft-Sein mit Gottes Wesen als Geist zu genießen; und wann immer sie im Medium der „ästhetischen Vergegenwärtigung“ (Bernd Harbeck-Pingel) des göttlichen Waltens zur Gewissheit der radikalen Liebe Gottes erhoben wird, wird sie dies In-Gemeinschaft-Sein schon jetzt genießen. Insofern erfüllt die Agape des Christus-Glaubens genau das, was den wohlverstandenen Eros im Sinne des platonischen Philosophierens ausmacht. Ad 2: Die Liebe zum Nächsten275 . – Im Brief an die Gemeinde zu Rom stellt der Apostel Paulus kurz und bündig fest: „Wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt“ (Röm 13,8), um sogleich unter auffälligem Verzicht auf das Moment der Liebe zu Gott unter Berufung auf Lev 19,18 zu definieren: „So ist nun die Liebe (verstehe:

274 Vgl. hierzu zuletzt Volker Leppin, Theologia crucis im Bild. Aspekte einer „anderen Ästhetik“ in spätmittelalterlichen und reformatorischen Darstellungen von Leiden und Tod Jesu Christi (im Druck). 275 Vgl. zum Folgenden meine Darstellung in: Konrad Stock, Gottes wahre Liebe (wie Anm. 243), 220–232. Ich darf daran erinnern, dass dieser Darstellung eine Analyse des Begriffs des Anderen vorausgeht (214–220) und dass ihr meine Interpretation des Gebots der Feindesliebe (232–240) sowie eine Skizze des Zusammenhangs von Liebe und Recht (241–250) folgt, die in der Theologischen Ethik (STh III) aufzugreifen ist. – Vgl. ferner: Theodor Strohm, Art. Liebestätigkeit II. Christliche Liebestätigkeit: RGG4 5, 364–366; Ders. (Hg.), Diakonie an der Schwelle zum neuen Jahrtausend, Heidelberg: Winter, 2000.

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zum Andern!) des Gesetzes Erfüllung“ (Röm 13,10). Nachdem ich nachgezeichnet hatte, wie das Wortbekenntnis der Christus-Gemeinschaft die Konstitution dieses Liebens ineins mit der Konstitution des Vertrauens und des Hoffens zu verstehen lehrt, sei im Folgenden dargelegt, wie die Christus-Gemeinschaft diese Liebe zum Andern unter den Bedingungen der Moderne realisieren und praktizieren wird. Wie immer es mit der Entstehung und Begründung des Gebots der Nächstenliebe im Kanon der Tora bestellt sein mag276 : das neutestamentliche Offenbarungszeugnis hat die Reichweite des Gebots, den Nächsten „wie sich selbst“ zu lieben, aus seiner ethnischen Fixierung gelöst und konsequent entschränkt. Es folgt dem Ethos des Kanons der Tora insofern, als es das Lieben insbesondere – wie es exemplarisch die Erzählung vom „barmherzigen Samariter“ (Lk 10,25-37) zeigt – als helfendes Handeln in einer Situation akuter Lebensgefahr versteht277 ; es entschränkt dieses Ethos insofern, als es grundsätzlich jedes Glied der Christus-Gemeinschaft als Subjekt des Liebens in Anspruch nimmt und dass es grundsätzlich jeden Mitmenschen zum Empfänger des Liebens und damit zum geliebten Mitmenschen erklärt. Das neutestamentliche Offenbarungszeugnis entschränkt jedoch nicht nur die Reichweite des Gebots der Nächstenliebe im Kanon der Tora; es gibt ihm auch darüber hinaus eine Begründung und eine Zielrichtung, die dem Wesentlichen der christlichen Gottesgewissheit entspricht. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich anknüpfen an den sozialwissenschaftlichen Begriff der Inklusion.278

276 Vgl. bes. Eckart Otto, Art. Geschwisterethik: RGG4 3, 822–823. – Nach Otto hat das Geschwisterethos seinen Ursprung im Deuteronomium, das sich seinerseits auf die Gebote solidarischen Handelns im Verhältnis zum Sklaven bzw. zur Sklavin, zum Schuldner, zum Armen und zum Feind im „Bundesbuch“ stützt. Im „Heiligkeitsgesetz“ der Priesterschrift aufgenommen, gebietet es innerhalb der jüdischen JHWH-Gemeinschaft eine „Brudersolidarität“, die sich insbesondere im helfenden Handeln in ökonomischen Not- und Elendssituationen konkretisiert (Lev 25,13-24; 25-55). 277 Vgl. zum Begriff der Barmherzigkeit bzw. des Erbarmens: Ruth Scoralick/Friedrich Avemarie/ HansWeder/Oswald Bayer/Tilman Nagel: Art. Barmherzigkeit I.–V.: RGG4 1, 1116–1150. – Die Erzählungen der synoptischen Evangelien von Jesu heilenden Machttaten zeigen, wie Jesus selbst in seinem Lebenszeugnis von der verborgenen Gegenwart der königlichen Herrschaft JHWHs in ihm selbst sich ganz im Sinne von Lk 10,25-37 als der Nächste versteht, der sich eines leidenden Menschen in akuter Lebensgefahr erbarmt. Jesu Selbstverständnis zeigt sich offensichtlich in der Praxis des Helfens aus Liebe, die zumal der Psalter des Tanakh von JHWH in den sog. Klage-Psalmen erbittet und für die er in den sog. Dank-Psalmen dankt. 278 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Religion und Modernität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven, Tübingen: Mohr Siebeck, 1989, 89–119: Christentum und Wohlfahrtsstaat. Kaufmann arbeitet hier im Blick auf die Geschichte der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne die christlichen Einflüsse auf das politische Grundprinzip heraus, demzufolge es zu den Staatszielen gehört, seinen Bürgerinnen und Bürgern die lebensnotwendigen Partizipationschancen zu garantieren.

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Ich verstehe unter dem Begriff der Inklusion (im Anschluss an Talcott Parsons und an Niklas Luhmann) das Prinzip menschlicher Gemeinschaften, auch ihre „schwachen“, ihre hilfsbedürftigen Glieder in ihrem sozialen Verband integriert zu halten. Dieses Prinzip scheint in den frühen religionskulturellen Gemeinschaften dadurch begrenzt zu sein, dass das helfende Handeln von Fall zu Fall und ohne feste organisatorische Formen als jeweils individuelle Hilfeleistung stattfindet. Ob es Hilfe zur Selbsthilfe im subsidiären Sinne intendiert und praktiziert, dürfte fraglich sein. Demgegenüber ist es für die Gesellschaften des modernen Typs ganz wesentlich, dass sie Grundsätze des Sozialstaats in ihren Verfassungen verankern. Zu ihrer Vorgeschichte zählt auf jeden Fall die kirchliche Liebestätigkeit, deren Pflege und deren Organisation alsbald zu den zentralen Aufgaben des bischöflichen Amtes zählt. Theodor Strohm hat ihre weiträumige Geschichte bis hin zu dem dualen System der staatlichen Sozialpolitik und der diakonischen Einrichtungen der Caritas und des Diakonischen Werks mit den wichtigsten Stichworten gekonnt skizziert. Zur Vorgeschichte sozialstaatlicher Politik gehören auch die freien bürgerlichen Assoziationen, die sich in der Periode der ungezügelten Industrialisierung der Bekämpfung massenhafter Armut und der Wohltätigkeit widmen. Freilich haben weder die Organisationen der kirchlichen Liebestätigkeit noch die Organisationen der Freien Wohlfahrt es vermocht, die schweren sozio-ökonomischen Konflikte zu befrieden, welche die Industrialisierung der modernen Wirtschaft nach sich zog und zieht. Deshalb ist es wohl verständlich, dass soziale Sicherheit im weitesten Sinne des Begriffs zum Staatsziel der modernen Verfassungsstaaten wurde, auch wenn die Realisierung dieses Ziels politisch vielfach heiß umstritten ist. Wer immer Anspruch auf die Leistungen sozialer Sicherheit hat, hat einen notfalls einklagbaren Titel von subjektiv öffentlicher Rechtsnatur.279 Und wer im staatlichen System sozialer Sicherheit bzw. in der Sozialgerichtsbarkeit eine besoldete Funktion ausübt, erfüllt die Aufgaben und die Vorschriften eines Berufs. Für die Glieder der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen wirft das staatliche System sozialer Sicherheit die Frage auf, worin denn noch das Proprium der Liebestätigkeit zu finden sei, die nach dem Urteil des Apostels Paulus „des Gesetzes Erfüllung“ (Röm 13,10) ist. Im Zuge meiner Interpretation der paulinischen Trias 1Kor 13,13 entwickle ich auf diese Frage im Folgenden eine dreifache Antwort:

279 Auf diese rechtsgeschichtliche Innovation weist hin Jan Schapp, Freiheit, Moral und Recht. Grundzüge einer Philosophie des Rechts, Tübingen: Mohr Siebeck, 1994, 239ff.; 250ff. Mit Rücksicht darauf versteht Schapp deshalb den Begriff des öffentlich-rechtlichen Gesetzes als einen moralischen Begriff. Wir sind uns dessen wohlbewusst, dass dieses subjektiv öffentliche Recht in zahlreichen Gesellschaften der Moderne leider Gottes überhaupt nicht bzw. nur mangelhaft gewährleistet ist.

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Zum einen: Weder die Fähigkeit des solidarischen Handelns im Allgemeinen noch die Tugend des Liebens im besonderen biblischen Sinne bildet sich in der Lebensgeschichte der Person auf naturwüchsige Weise. Wie die Erzählung vom „barmherzigen Samariter“ (Lk 10,25-37) eindringlich lehrt, sind die „Taten der Liebe“ (Søren Kierkegaard) stets die Taten der individuellen Person, die sich jeweils als „die Nächste“ einer Nächsten versteht. Indem sie in den Medien der religiösen Kommunikation des Evangeliums durch Gottes Heiligenden Geist der wahren Liebe Gottes gewiss wird, erfährt sie sich selbst in ihrer jeweils eigenen radikalen Hilfsbedürftigkeit auf schlechthin passionale Weise als schlechthin geliebt. Von Gottes wahrer Liebe tief berührt, wird sie die Aufgabe und die Bestimmung ihrer irdischen Lebenszeit – paradox gesagt – darin sehen, aus Liebe – d. h. aus der Gewissheit der Liebe des dreieinen Gottes – zu lieben.280 Wie alles wahre Lieben richtet sich dies „Lieben aus Liebe“ auf das In-Gemeinschaft-Sein mit allen Anderen, die ihrerseits in ihrer jeweils radikalen Hilfsbedürftigkeit des „auxilium gratiae“ bedürfen. Es manifestiert sich deshalb letzten Endes in der Absicht, das Heilsame und Heilende der wahren Liebe Gottes sprachlich, praktisch und ästhetisch zu bezeugen und sichtbar zu machen (vgl. Gal 5,6). Wer sich in der erzählten Figur des „barmherzigen Samariters“ wiederfindet, hat teil am Auftrag jeder kirchlichen Gemeinschaft, durch ihre öffentliche Verkündigung der wohlverstandenen sittlichen Autonomie der Nächsten und so der Bildung ihrer Fähigkeit des Liebens zu dienen. Zum andern: Unter den sozio-kulturellen Bedingungen der Gesellschaften des modernen Typs manifestiert sich das Lieben, das der Gottesgewissheit des ChristusGlaubens zu danken ist, in den komplexen Strukturen, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland die Diakonie sowohl in der römisch-katholischen „Caritas“ als auch im „Diakonischen Werk der EKD e. V.“ gefunden hat. Gemäß der Grundordnung der EKD vom 13. 07. 1948 sind „die diakonisch-missionarischen Werke Wesensund Lebensäußerungen der Kirche“ (Art. 15). Sie widmen sich als solche jener Praxis, die wir ganz allgemein mit dem unscharfen Begriff des „sozialen Handelns“ meinen. Nach Michael Schibilskys hilfreicher Gliederung umfasst soziales Handeln in der Diakonie die Praxis, die das Leben der Familie zu begleiten, zu ergänzen oder gar zu ersetzen hat; sodann die Praxis, die sich der Hilfeleistung in den kaum zu überschauenden Notlagen physischer, psychischer und ökonomischer Art zu widmen hat; und schließlich die Praxis, innerhalb der Gesellschaft und in weltum-

280 Ich präzisiere hier den Grundgedanken des Verständnisses der Liebe im reifen Spätwerk Augustins; vgl. dazu: John Burnaby, Amor Dei. A Study of St. Augustin‘s Teaching of the Love of God as a Motive of the Christian Life, London: Hodder & Stoughton, 3 1963. – Der Schlüsselsatz dieses Verständnisses lautet: „Dilige et, quod vis, fac!“ („Liebe, und tu, was du willst!“ [Tr. in ep. Ioh. 7,8]).

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spannender Reichweite die notwendigen Ordnungen des öffentlichen Lebens sei es zu verbessern, sei es von Grund auf neu zu gestalten.281 Im Lichte dieser Gliederung lässt sich wohl sagen, dass Diakonie als Lebensäußerung der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen auf individuelle bzw. auf private Notlagen stößt, die samt und sonders bedingt bzw. mitbedingt sind durch das jeweils geltende Recht, wie es das jeweilige politische System einer Gesellschaft setzt. Es gehört daher zu ihrer Praxis, auf die politische Willensbildung im Volk der Gesellschaft einzuwirken, in der die Gerechtigkeit des jeweils geltenden Rechts durchaus umstritten ist. Auf jeden Fall besitzt das diakonische Ethos des helfenden Handelns eine politische Intention, die ihrerseits im Rahmen der Theologischen Ethik des Politischen zu begründen und zu entfalten ist (s. dazu STh III). Und schließlich: Gegenüber dem Trend großer diakonischer Einrichtungen, das Motiv des individuellen Engagements im helfenden Handeln von dem der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens abzulösen, finden sich erfreulicherweise zahlreiche neue Formen diakonischer Gemeinschaft.282 Sie suchen bewusst die notwendige fachliche Kompetenz mit der Einübung in die Wahrheit des Evangeliums zu verbinden und so die Institution des Diakonats in einer Zeit der Krise der Schwesternschaften und der Bruderschaften neu zu pflegen und zu beleben. Sie orientieren sich de facto am theologischen Begriff der Inklusion; denn sie verstehen ihre Praxis als jene Sorge, die der Subsistenz bzw. die den Partizipationschancen hilfebedürftiger Mitmenschen gilt, damit sie ihrerseits den Weg zur Wahrheit des Evangeliums und damit zur sittlichen Autonomie der Person gehen können. Dietrich Bonhoeffer hat diese Praxis als die „Aufgabe der Wegbereitung“ charakterisiert und in ihr zu Recht einen „Auftrag von unermeßlicher Verantwortung“ für die Christus-Gemeinschaft überhaupt erblickt.283 Ad 3: Selbstliebe.284 – Es ist gewiss kein Zufall, dass das Heiligkeitsgesetz der Priesterschrift das Gebot, den „Nächsten“ bzw. den „Fremden“ zu lieben, nur gänzlich unbetont erläutert durch die Bestimmung „wie dich selbst“ (Lev 19,18.34). Auch das Zitat dieses Gebots, das die synoptische Überlieferung Jesus im Gespräch mit einem

281 Vgl. Michael Schibilsky, Art. Diakonie VI. Praktisch-theologisch: RGG4 2, 798–801. – Eine überaus gründliche praxisorientierte Darstellung einer allgemeinen Theorie sozialen Handelns hat jüngst vorgelegt Joachim Weber, Freiheit und soziale Arbeit, Weinheim/Basel: Beltz Juventa, 2021. 282 Vgl. hierzu Reinhard Turre, Diakonik. Grundlegung und Gestaltung der Diakonie, NeukirchenVluyn: Neukirchener, 1991; Ders., Art. Diakon/Diakonisse/Diakonat IV. Praktisch-theologisch: RGG4 2, 787–788. 283 Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Ethik (DBW 6), 153ff. 284 Vgl. zum Folgenden Konrad Stock, Gottes wahre Liebe (wie Anm. 243), 203–211; Ders., Art. Selbstliebe: RGG4 7, 1168–1169.

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Schriftgelehrten in den Mund legt (Mk 12,28-31; Mt 22,34-40; Lk 10,25-28), lässt nicht erkennen, was diese Erläuterung besagen soll. Das biblische Offenbarungszeugnis zeigt in seiner Pluralität kein deutliches Interesse daran, das individuelle Selbst-Sein bzw. das Für-sich-Sein der geschaffenen, der leibhaften Person besonders zu beachten und dessen liebende Selbstwahrnehmung zuzumuten. Neben anderen religionskulturellen Umständen scheint dieser biblische Befund dazu geführt zu haben, dass Selbstliebe im Sinne liebender Selbstwahrnehmung in der Geschichte des Christentums schwer zu greifen ist. Namentlich die mystischen Trends in der Frömmigkeit einer theologia crucis des 14. und des 15. Jahrhunderts und in der quietistischen Mystik à la Miguel de Molinos, Jeanne Marie Guyon und François de Salignac de la Mothe Fénelon bezeugen wirkungsvoll die reine Gottesliebe (amour pur), die sich in den Formen der Versenkung in Gott, der Gelassenheit und der Selbstverleugnung manifestiert. Auch Luthers Definitionen des In-der-Sünde-Seins als „Suchen des Seinen“ (WA 6; 244,10; 7; 212,4) bzw. als „incurvatio in se ipsum“ (als „Verkrümmt-Sein in sich selbst“ [vgl. WA 56; 356,4.27; 357,2]) schließen den Aspekt der liebenden Selbstwahrnehmung aus der Darlegung der Liebe im Licht der christlichen Gottesgewissheit faktisch aus. Das Ideal selbstloser Hingabe bis hin zum Syndrom sich aufopfernden Helfens galt und gilt vielfach ganz selbstverständlich als der Ausweis christlicher Existenz. Es sind Impulse einer Psychologie des Selbst, die uns das Problematische dieses Ideals vor Augen bringen. Erich Fromm hat seine klinischen Erfahrungen mit Menschen, die ein Ethos strikter Selbstvergessenheit verinnerlichten, zur Basis einer sog. „humanistischen Ethik“ der Selbstannahme gemacht285 ; und Heinz Kohut hat auf den Untersuchungen zum Phänomen der narzisstischen Störung eine Theorie des Selbst errichtet, die in der liebenden Selbstannahme geradezu die lebensgeschichtliche Wurzel aller Liebesfähigkeit entdeckt.286 Kohuts Untersuchungen regten dazu an, im Phänomen der narzisstischen Störung eben nicht verwerfliche Selbstsucht, sondern vielmehr beklagenswerte Selbstverachtung zu entdecken.287 Nehmen wir diese Impulse kritisch ernst, so fragt es sich natürlich, unter welchen Bedingungen überhaupt liebende Selbstannahme möglich sei und wirklich werde.288

285 Vgl. Erich Fromm, Psychoanalyse und Ethik. Bausteine zu einer humanistischen Charakterologie, München: Dt. Taschenbuch-Verl., 5 1995. – Auf diese Konzeption bezieht sich mit respektvoller Kritik der Entwurf einer christlichen Ethik als einer „indikativischen Ethik“ von Paul L. Lehmann, Ethik als Antwort. Methodik einer Koinonia-Ethik (1963), dt. München: Chr. Kaiser, 1966. 286 Vgl. bes. Heinz Kohut, Die Heilung des Selbst (1979), dt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 3 1996. 287 Vgl. bes. Raymond Battegay, Narzißmus und Objektbeziehungen. Über das Selbst zum Objekt, Bern/Stuttgart/Toronto: Huber, 3 1991. 288 Vgl. hierzu Christiane Tietz, Freiheit zu sich selbst. Entfaltung eines christlichen Begriffs von Selbstannahme, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005.

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Nach meinen Beobachtungen zum semantischen Feld des Intendierens, des Strebens, des Begehrens und Verlangens ist auch das Moment der Selbstliebe keineswegs von allem Anfang an naturwüchsig gegeben. Es unterscheidet sich von allen Formen des puren Selbstinteresses bzw. der nackten Selbsterhaltung oder gar der individuellen und der kollektiven Selbstsucht (des sacro egoismo), sofern es sich im jeweiligen „Sich-gegenwärtig-Sein“ der Person auf eine noch zukünftige liebende Weise des Selbstverhältnisses bezieht.289 Wir können diese liebende Weise des Selbstverhältnisses im Anschluss an Paul Tillich als „ein reifes Verhältnis des Subjekts zu sich selbst“ charakterisieren.290 „Reif “ nennen wir das Selbstverhältnis der Person, die sich des Liebenswerten und des Liebenswürdigen ihrer individuellen Identität im Medium ihrer leibhaften Erscheinung freut. Es gibt dies Wohlgefallen an sich selbst gewiss nicht ohne Selbstkritik und Selbstkorrektur; denn in der aufrichtigen Erfahrung des Gewissens ist die Person mit sich durchaus in ihren zwiespältigen bzw. in ihren aggressiven oder depressiven Eigenheiten vertraut. Das reife Selbstverhältnis der Person bildet sich insofern nicht naturwüchsig; es bildet sich unter der Bedingung, dass wir uns auf ein Selbstbild bzw. auf ein Selbstobjekt hin entwerfen, von dem wir angezogen sind. Das Selbstbild bzw. das Selbstobjekt, das uns in der Geschichte des jeweils individuellen Christus-Glaubens anzieht, hat seinen Grund in der Gewissheit, von Gott – von Gottes dreieinem Person-Sein – radikal geliebt und somit zur Gemeinschaft mit Gottes dreieinem Person-Sein bzw. mit dessen In-Gemeinschaft-sein-Wollen berufen und bestimmt zu sein. Diese Gewissheit wird sich bilden und sie bildet sich, sofern die ganze religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche durch Gottes Heiligenden Geist uns diese individuelle Zuspitzung des Höchsten Gutes des geschaffenen Person-Seins angemessen nahebringt.291 Ergreift sie uns in dieser passionalen Weise, so wird sie ihre befreienden und heilsamen Folgen zeitigen: In dieser Gewissheit nämlich klärt sich – zum einen – die wahrhaft liebende Weise des Selbstverhältnisses der Person. Sie erlebt sich just in der empirischen Besonderheit ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe bzw. ihrer sozialen und ihrer ökonomischen Lage in ihrem schieren Dasein als die von Gottes schöpferischem Wort geschaffene

289 Die Selbstliebe in der Ordnung der Liebe des Christus-Glaubens unterscheidet sich insofern auch von dem Begriff des freundschaftlichen Wohlwollens von Aristoteles, NE 9 (1168a, 5-6), der es fundiert sein lässt in der Selbstliebe (φιλαυτία) als einem ontologischen Prinzip, demzufolge Seiendes sich in seinem Sein bejaht. 290 Vgl. Paul Tillich, STh III, 270. 291 Eine anrührende Verdeutlichung dieses elementaren Sachverhalts findet sich im Evangelium nach Lukas in der Erzählung vom kleinwüchsigen Zöllner Zachäus, in dessen Haus Jesus einkehren „muß“ und dessen Umkehr Jesus anerkennt mit den Worten: „Heute ist diesem Hause Heil widerfahren“ (Lk 19,1-9; 9).

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Person angezogen von jenem wahrhaft Guten, das ihre geschaffenen Möglichkeiten – ihre Gaben und Talente – sich entfalten lässt. Indem sie sich in ihren Grenzen zu bejahen lernt, übt sie sich ohne Neid in realistischer Selbstbejahung. In der Gewissheit, von dem dreieinen Gott radikal geliebt zu sein, klärt sich – zum andern – das Verhältnis der Person zu ihren zwiespältigen, zu ihren aggressiven oder depressiven Eigenheiten. Sie ist durch Gottes Heiligenden Geist, der die gesamte religiöse Kommunikation des Evangeliums verifiziert ubi et quando visum est Deo (CA V), der radikalen Liebe Gottes als der die Welt mit sich versöhnenden Liebe gewiss. Sie wird das eigene Verstrickt-Sein ins Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids – wie minimal es auch sein mag – nicht verdrängen. Sie wird sich deshalb dem allgemeinen Zwang der Selbsttäuschung und der Selbstrechtfertigung entziehen wollen; und sie wird Wege suchen, althergebrachte, festgefahrene Feindschaften zu überwinden. In der Gewissheit, von dem dreieinen Gott radikal geliebt zu sein, wird die Person sich – schließlich – selbst annehmen können in den Grenzen ihres irdischen Lebens mit seinen Krankheiten, seinen Behinderungen und seinem Sein zum Tode. Sie wird die Not der letzten Angst des Sterbens schon jetzt in ihrer jeweiligen Gegenwart ertragen; ist es doch – wie ihr kraft der Ereignisse des Dritten Tages gewiss sein wird – just diese Not, durch die hindurch sie anzukommen hofft in jener anfechtungsfreien, unverborgenen, unvergänglichen und deshalb seligen Anteilhabe am Höchsten Gut des ewigen In-Gemeinschaft-Seins mit Gott selbst (vgl. EG 150,6.7; s. 4.5.4). Als Element der Ordnung der Liebe, die Gottes Heiligender Geist im Medium der religiösen Kommunikation des Evangeliums ineins mit dem Vertrauen und mit dem Hoffen bildet, ist Selbstliebe ein wesentliches Merkmal christlicher Existenz.292 4.3.5

Fazit293

Meine systematische Besinnung auf die Wahrheit des Christus-Glaubens hat im vorliegenden Kapitel 4 ein wichtiges Zwischenziel erreicht. Sie leitet dazu an, „jedermann Rede und Antwort zu stehen, der wegen der Hoffnung, die euch beseelt, Rechenschaft von euch fordert“ (1Pt 3,15 [Übersetzung Ulrich Wilckens]). Sie legt das reformatorische Grundverständnis der christlichen Glaubenslehre für die Öffentlichkeit der Kirche und der Kirchen dergestalt dar, dass es jederzeit mit guten

292 Vgl. hierzu Friedrich Schleiermacher, Ethik (1812/13), 147 (Randschrift 1827a): „Die Selbstliebe ist nur insofern sittlich, als sie alle andere Liebe in sich schließt; und alle andre ist nur wahr, als sie die Selbstliebe aufnimmt.“ 293 Vgl. zum Folgenden bes.: Konrad Stock, Befreiende Wahrheit. Gedanken zur Vergebung der Sünden, jetzt in: Ders., Die Gegenwart des Guten (wie Anm. 131), 122–130.

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Durch Wahrheit zur Freiheit

Gründen im Forum der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zu vertreten ist.294 Sie pflegt ein hermeneutisches Verfahren, welches die religiösen Denk- und Sprachgestalten des biblischen Offenbarungszeugnisses und seiner rezeptions- bzw. seiner wirkungsgeschichtlichen Ausstrahlung begrifflich zu explizieren und zu interpretieren strebt. Es ist meine Grundintuition zu zeigen, dass und in welcher Weise das endgültige Offenbar-Werden der wahren Liebe des dreieinen Gottes unser Leben in der Einheit der Erfahrungswelt kraft des Heiligenden Geistes heilsam neu bestimmt. Dies heilsame Neu-bestimmt-Werden unseres Lebens in der Einheit der Erfahrungswelt wird nach der Einsicht des Apostels Paulus manifest in den Kräften des Vertrauens, des Hoffens und des Liebens. Sie sind die Früchte jener Gottesgewissheit, die dem Walten Gottes des Heiligenden Geistes im Medium der religiösen Kommunikation des Evangeliums zu verdanken ist (vgl. Gal 5,22). Indem uns diese Gottesgewissheit auf schlechthin passionale Weise in unserem individuellen Selbstgefühl ergreift, befähigt sie uns zur Freiheit des Gewissens, zur sittlichen Autonomie des Lebens in den Lebensbereichen der Kultur einer Gesellschaft. Zum einen: In der „Gemeinschaft des Heiligenden Geistes“ (2Kor 13,13) wird die Bestimmung des geschaffenen Person-Seins zum In-Gemeinschaft-Sein mit dem dreieinen Gott im ungeheuren All des Universums endgültig offenbar und damit endgültig real. Zwar sind wir Menschen alle im unmittelbaren Gefühl des individuellen Frei-Seins mit Gottes schöpferischem Gewähren unserer selbst implizit vertraut; aber so wenig uns das Eigen-Sein bzw. der Eigen-Sinn des ursprünglichen Grundes unserer selbst naturwüchsig vertraut ist, so wenig ist uns auch das diesem schöpferischen Gewähren entsprechende Lebensziel des geschaffenen Person-Seins naturwüchsig bewusst.295 Dass das geschaffene Person-Sein das hohe Gut ist, das unser Leben in relativer, selbstbewusst-freier Verantwortung vor Gott sowohl ermöglicht als auch fordert: das wird dem menschlichen Geschlecht erst Schritt für Schritt erschlossen im Kontinuum des göttlichen Sich-Offenbarens. Die variety of religious experience (William James) in der Geschichte der Religionskulturen ist – ebenso wie die Geschichte der philosophischen Erhellung unseres Daseins seit Sokrates – des Zeuge. Zum andern: In der „Gemeinschaft des Heiligenden Geistes“ (2Kor 13,13) verschärft sich das Bewusstsein des Syndroms des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids in aller Geschichte (s. 3.2). Die christliche Gottesgewissheit der Person

294 Ich hatte meine Sicht des reformatorischen Grundverständnisses der christlichen Glaubenslehre skizziert in der „Einführung“ zum vorliegenden Teil II (s. o. S. 19–39) sowie in der „Einführung“ zum vorliegenden Kapitel 4 (s. o. S. 522–551). 295 Vgl. zum überaus gewichtigen Thema „Lebensziel“ die Untersuchung der „Münchener“ Phänomenologie: Alexander Pfänder, Philosophie der Lebensziele. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Wolfgang Trillhaas, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1948.

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schließt nicht nur tiefe Erschütterung über die Katastrophen des Naturgeschehens und über die Unglücksfälle der modernen Technik ein; sie lässt uns auch Entsetzen empfinden über das faktische Böse-Sein-Können und das faktische Böse-Sein der individuellen und erst recht der kollektiven Subjekte, welches das von Gottes schöpferischem Wort bestimmte Lebensziel des geschaffenen Person-Seins rücksichtslos zerstört oder jedenfalls zu zerstören droht (vgl. Gen 3,1-24; 6,5; Röm 1,18-23). Dass auch die christliche Gottesgewissheit der Person in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen ins Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids zutiefst verstrickt ist: diesen beschämenden Sachverhalt zu rekonstruieren, ist die Sache einer aufgeklärten Kirchengeschichtsschreibung. Sie zwingt uns, der brutalen Wahrheit ins Auge zu sehen, die Martin Luther in die Formel fasste, die Glaubenden seien simul justi simul peccatores.296 Besser gesagt: sie urteilt theologisch, indem sie die Großmacht-Politik der Staaten der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne, deren Völker mehrheitlich der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen angehören, im Verlust der christlichen Gottesgewissheit begründet sieht.297 Zum Dritten: Meine Erklärung der paulinischen Trias 1Kor 13,13 geht davon aus, dass es die christliche Gottesgewissheit ist, die in der Lebensgeschichte der Person die Kräfte des Vertrauens, des Hoffens und des Liebens weckt und sie womöglich selbst durch innere und äußere Krisen hindurch erhält, bestärkt und reifen lässt. Sie ist dessen mächtig; denn sie ergreift die individuelle Person in ihrem Innersten, in ihrer „emotiven Intentionalität“, in ihrem Aus-Sein auf Erfüllendes. Sie flößt ihr, die sich in der Tiefe ihres Gewissens sehr wohl des „Zwiespalts“ (David Bakan) in ihr selbst bewusst ist, das radikale Grundvertrauen auf Gottes wahre Liebe ein; sie gibt ihr auch und gerade da, wo alle realistische Hoffnung zu schwinden scheint – in scheinbar unheilbaren Konflikten; in scheinbar aussichtslosen Kämpfen um die nackte Subsistenz all derer, die dem Hunger, der Armut und der Rechtlosigkeit ausgeliefert sind; und schließlich in den schweren „Krankheiten zum Tode“ (Søren

296 Diese Formel, welche Luthers Verständnis der Lehre von der Rechtfertigung prägnant, wenn auch überaus erklärungsbedürftig zusammenfasst, findet sich seit der Vorlesung über den Römerbrief von 1515/1516 in mannigfachen Varianten; vgl. z. B.: „simul justus et simul peccator, peccator scilicet re vera, sed justus ex fide promissionis et spe impletionis“ (der/die Glaubende ist „zugleich gerecht und zugleich sündhaft; sündhaft nämlich tatsächlich, aber gerecht kraft des Glaubens an Gottes Verheißung und kraft der Hoffnung auf deren Erfüllung“: WA 56; 165,12 [meine Übersetzung]); „In Christo justificati non sunt peccatores et tamen sunt peccatores“ („In Christus gerechtfertigt sind sie [verstehe: die Glaubenden] keine Sünder und sind dennoch Sünder [Vorlesung über den Galaterbrief von 1519: WA 2; 496,39 – meine Übersetzung]). – Diese und ähnliche Formeln entbehren allerdings sämtlich der Rücksicht auf das „Gesetz des Geistes“ nach Röm 8,2! 297 Vgl. hierzu aus aktuellem Anlass: Philip Gorski, Am Scheideweg. Amerikas Christen und die Demokratie vor und nach Trump, dt. München: Herder, 2020.

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Kirche: die soziale Gestalt der Christus-Gemeinschaft

Kierkegaard) –, die Hoffnung ein, dass diesem radikalen Grundvertrauen auf Gottes wahre Liebe Dauer, Glück und Freude beschieden sei (vgl. Röm 4,18-22). Und sie entzündet zu guter Letzt jenes Lieben in der Ordnung der Liebe, das sich simultan in der ästhetischen Freude an des dreieinen Gottes Wollen und Walten, in der sorgsamen Verantwortung für eines jeden Menschen sittliche Autonomie und darin in der liebevollen Wahrnehmung des eigenen Daseins konkretisiert.

4.4

Kirche: die soziale Gestalt der Christus-Gemeinschaft298

Meine summarische Formel Durch Wahrheit zur Freiheit hatte bisher den Weg beschrieben, der die individuelle Person in die Christus-Gemeinschaft führt. Dieser Weg hat seinen innergeschichtlichen Ursprung im Christus-Geschehen selbst, das ich in den Ereignissen des Dritten Tages erkannte (3.5.2.1). In den Ereignissen des Dritten Tages nämlich wird ihren Empfängern evident, dass sie zu Zeugen jener Wahrheit berufen sind, welche dem Lebenszeugnis, der Lebensgeschichte und dem Lebensgeschick Jesu von Nazareth eignet. Im Medium der „Ausgießung des Heiligenden Geistes“ wird ihnen offenbar, dass Jesu Lebenszeugnis, Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick dasjenige Geschehen sei, in welchem Gottes schöpferisches Wort selbst versöhnend gegenwärtig ist (vgl. 2Kor 5,18-20): nicht etwa nur zugunsten der jüdischen JHWH-Gemeinschaft, sondern auch zugunsten der „Welt“ (Joh 1,9.29; 2Kor 5,19) des Menschengeschlechts aller Kulturen der Erde.

298 In diesem Abschnitt habe ich vor allem die geschichtliche Realität der Evangelischen Kirche in Deutschland vor Augen, wie sie geordnet ist in der „Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland“ (in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Januar 2020, berichtigt am 31. Januar 2020). – Vgl. zum Folgenden bes.: Reiner Preul, Kirchentheorie (wie Anm. 83); Ders., Die soziale Gestalt des Glaubens (wie Anm. 71); Wilfried Härle, Dogmatik5 , 580–602; Konrad Stock, Einleitung, 240–255; Eilert Herms, Erfahrbare Kirche. Beiträge zur Ekklesiologie, Tübingen: Mohr, 1990; Ders., STh (Bd. 1), 894–997: § 46 Das Regiment und Reich zur Rechten: Die Glaubensgemeinschaft (Kirche) als Geschöpf und Werkzeug von Gottes Versöhnungshandeln. – Preuls Schriften sind innerhalb der deutschsprachigen evangelischen Praktischen Theologie deshalb besonders wichtig, weil sie sich nicht auf den je individuell verstandenen Lebenssinn des Christus-Glaubens beschränken, sondern ihn in die Beschreibung der faktisch notwendigen Organisation eines Kirchenwesens einzeichnen. – Vgl. demgegenüber Dietrich Korsch, Einführung in die evangelische Dogmatik. Im Anschluss an Martin Luthers Kleinen Katechismus, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2016. Diese „Einführung“ lässt – womöglich typisch für eine „liberale“ Variante deutschsprachiger Systematischer Theologie im Hier und Jetzt der Bundesrepublik Deutschland – das essentiell wichtige Thema der sozialen Gestalt des Glaubens außer Betracht, wie denn auch eine Besinnung auf die zentrale Funktion des Gottesdienstes fehlt. Insofern versäumt es diese „Einführung“, die nach wie vor bestehende Differenz zwischen der römisch-katholischen (bzw. auch der orthodoxen) und der reformatorischen Sicht des Evangelischen im Interesse künftiger Verständigung offenzulegen.

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Im Lebenszeugnis dieser primären Offenbarungszeugen wird in mancherlei Varianten bezeugt, dass das Gewiss-Sein dieser Wahrheit in die Freiheit des Gewissens führt: in die Lebensform des Vertrauens, des Hoffens, des Liebens und damit in die Selbstverantwortung – in die wahrhaft sittliche Autonomie – vor Gott. Ich hatte ausführlich gezeigt, dass diese Lebensform das zentrale Thema der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche ist. Sie – diese religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche – ist diejenige notwendige Institution, welche das Lebenszeugnis der primären Offenbarungszeugen für alle „Welt“ tradiert und interpretiert. Allerdings hatte erst die reformatorische Bewegung des 16. Jahrhunderts mit früher unbekannter Deutlichkeit und Schärfe gesehen, dass diese notwendige Institution nicht schon als solche jenen heilsamen und heilenden Weg der Wahrheit zur Freiheit garantiert; ihr wird vielmehr bewusst, dass dieser Weg der Wahrheit zur Freiheit wie eh und je der zugleich notwendigen und hinreichenden Bedingung bedarf, auf welche die Metapher der „Ausgießung des Heiligenden Geistes“ verweist. Die „Augsburgische Konfession“ von 1530 hat diese Erkenntnis in ihrem Artikel V formuliert: „Solchen Glauben zu erlangen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, Evangelium und Sakrament geben, dadurch er, als durch Mittel, den heiligen Geist gibt, welcher den Glauben, wo und wann er will, in denen, so das Evangelium hören, wirket…“ (BSLK 57,2-7).299

In meiner bisherigen Darstellung hatte ich die wesentlichen Vollzüge jener religiösen Kommunikation des Evangeliums beschrieben, in, mit und unter der sich das vollendende Walten Gottes des Heiligenden Geistes und darin der Lebensweg Durch Wahrheit zur Freiheit ereignet. Wenn ich für das Ensemble dieser wesentlichen Vollzüge den Begriff der Institution verwende, so mache ich von einem grundlegenden sozialtheoretischen Begriff Gebrauch.300 Er meint auf jeden Fall ein In-Gemeinschaft-Sein individueller leibhafter Personen, die dieses In-GemeinschaftSein im Blick auf einen jeweils gemeinsamen Zweck durch Regeln ihres kommunikativen bzw. ihres interaktiven Handelns befördern, entwickeln und genießen. Insofern dient der Begriff der Institution dazu, das Einheitliche der verschiedenen

299 Man beachte, dass der Ausdruck „Predigtamt“ (lateinisch: „ministerium ecclesiasticum“) vom Ausdruck „Kirchenregiment“ (lateinisch: „ordo ecclesiasticus“) in Art. XIV deutlich unterschieden ist. Während Art. XIV die Berufung in die Funktion der Leitung des Gottesdienstes regelt, meint Art. V die gesamte Kommunikation des Evangeliums im Sinn der notwendigen Bedingung, unter der sich die Gottesgewissheit des Christus-Glaubens bildet. 300 Vgl. zum Folgenden bes. Reiner Preul, Kirchentheorie (wie Anm. 83), 129–152 (in Aufnahme der Beiträge von Talcott Parsons, Helmut Schelsky, Arnold Gehlen und Eilert Herms).

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Kirche: die soziale Gestalt der Christus-Gemeinschaft

Bereiche zu benennen, die jede menschliche Gesellschaft um willen der Bedürfnisse des Lebens und des Überlebens kommunikativ und interaktiv gestaltet. Wenn ich die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Anschluss an CA V mit dem Begriff der Institution charakterisiere, so zeichne ich sie ins Ensemble der sozialen Institutionen des gemeinsamen geschaffenen Person-Seins ein. Unter dem Schutz des Menschen- und des Grundrechts der Religions- bzw. der Weltanschauungsfreiheit gleicht sie insoweit der enormen Anzahl religiös-weltanschaulicher Vereine und Verbände auch und gerade auch in der Moderne, die ihre jeweilige Sicht tragfähigen Lebenssinnes in ihrem Kultus pflegen.301 Sie unterscheidet sich von ihnen jedoch darin, dass sie sich selbst als Medium des vollendenden Waltens Gottes des Heiligenden Geistes versteht: und zwar als jenes Medium menschlicher Verantwortung und menschlicher Kompetenz, das seinerseits durch Gottes Heiligenden Geist gestiftet wird. Indem sie sich als „creatura verbi“ weiß, ehrt und befolgt sie die durch Gottes Heiligenden Geist gegebene Regel, die übrigens genau der asymmetrischen Ordnung des Verhältnisses zwischen Gottes schöpferischem Person-Sein und dem geschaffenen Person-Sein, zwischen Sein und Seiendem entspricht.302 Auch und gerade in den Gesellschaften der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne existiert die Christus-Gemeinschaft innerhalb des Lebensbereichs bzw. der Institution Religion. Innerhalb ihrer existiert die Christus-Gemeinschaft als diejenige menschliche Gemeinschaft, der sich durch Gottes Heiligenden Geist Sinn und Ziel des göttlichen Wesens mit jedem ihrer Glieder und mit jedem Glied der Gemeinschaft des geschaffenen Person-Seins überhaupt erschloss und jeden Morgen neu erschließt. Als solche kommen ihr mit Recht die Prädikate der Einen, der Heiligen, der Katholischen und der Apostolischen Gemeinschaft mit dem Christus Jesus selbst zu (vgl. 1Kor 1,9), wie sie das Nicaenische Symbol von 325 formuliert.303 Das Leben in der Einen, der Heiligen, der Katholischen und Apostolischen Gemeinschaft mit dem Christus Jesus selbst ist als solches ein verborgenes Leben.304 Denn es verdankt sich jener Gottesgewissheit, deren Wahrheit nicht etwa felsenfest zu beweisen, wohl aber zu bekennen und zu bezeugen und deshalb auch zu

301 Vgl. hierzu Hans Michael Heinig, Art. Weltanschauungsgemeinschaft (Juristisch): EStL (NA 2006), 2683–2685; Reinhard Hempelmann, Art. Weltanschauungsgemeinschaft (Theologisch): ebd. 2685–2692. 302 Vgl. hierzu Wilfried Härle, Creatura Evangelii. Die Konstitution der Kirche durch Gottes Offenbarung nach lutherischer Lehre, in: Ders., Christlicher Glaube in unserer Lebenswelt. Studien zur Ekklesiologie und Ethik, Leipzig: 2007, 79–98. 303 Vgl. hierzu bes. Peter Steinacker, Die Kennzeichen der Kirche. Eine Studie zu ihrer Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität, Berlin/New York: de Gruyter, 1982 (TBT; 38), Reprint 2019. 304 Vgl. hierzu Gerhard Sauter, Das verborgene Leben. Eine theologische Anthropologie, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2011.

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hinterfragen, zu bezweifeln, zu verspotten und subtil bzw. brutal zu unterdrücken ist. Allerdings: Bildet sich dies verborgene Leben im Medium der religiösen Kommunikation des Evangeliums durch Gottes Heiligenden Geist, so braucht es dafür notwendigerweise eine soziale Gestalt bzw. eine Ordnung, die ich im Folgenden das Ganze einer Kirchenordnung nenne. Es ist deren Sinn und Zweck, die Praxis der religiösen Kommunikation des Evangeliums – des Christus-Geschehens – und damit deren „Dienst der Versöhnung“ (2Kor 5,19) in allen ihren öffentlichen Szenen sachgemäß und d. h. ursprungsgemäß zu organisieren. Eine ausführliche Darstellung des Ganzen einer Kirchenordnung gehört im Licht der Grundeinsichten der reformatorischen Bewegung in eine Kirchentheorie, die systematische, praktisch-theologische und kirchenrechtliche Aspekte miteinander verknüpft.305 Aus ihrem umfangreichen Gegenstandsbereich hebe ich im Folgenden die für die systematische Besinnung wichtigsten hervor. Sie betreffen erstens die Frage, wer nach den Grundeinsichten der reformatorischen Bewegung das verantwortliche Subjekt der kirchlichen Selbstordnung und Selbstgestaltung sei; sie betreffen zweitens die Frage, wie im Interesse der Praxis der religiösen Kommunikation des Evangeliums die Funktion des kirchlichen Lehr- und Leitungsamtes auszuüben sei; und sie betreffen drittens die Frage, wie die Organisation der Kirche als „juristische Person“ – d. h. als eigene Rechtspersönlichkeit – in ihrem sachgemäßen Verhältnis zur souveränen Hoheit eines Staatswesens zu bestimmen sei. Ich beantworte diese Fragen, indem ich jeweils von der reformatorischen Grundeinsicht ins Allgemeine Priestertum ausgehe, die nach wie vor die Differenz zum Selbstverständnis der Heiligen römischen Kirche markiert. 4.4.1

Das Allgemeine Priestertum306

In meiner Interpretation der paulinischen Trias 1Kor 13,13 hatte ich das Wesentliche des Christ-Seins – des christlich-frommen Selbstbewusstseins der Person – darin erblickt, dass es kraft der Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums zur Lebensform des Grundvertrauens, des Hoffens und des Liebens und damit in die Lebensform der Selbstverantwortung vor Gott versetzt ist. Es findet im System der Kommunikation des Evangeliums eine tragfähige Antwort auf die uns Menschen

305 Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf Reiner Preul, Kirchentheorie (wie Anm. 83). 306 Vgl. zum Folgenden bes.: Karl Holl, Die Entstehung von Luthers Kirchenbegriff, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte I. Luther, Tübingen: Mohr Siebeck, 2.3 1923, 288–325; Wilfried Härle, Allgemeines Priestertum und Kirchenleitung nach evangelischem Verständnis, jetzt in: Ders., Christlicher Glaube in unserer Lebenswelt (wie Anm. 302), 106–126; Ders., Dogmatik5 , 586–593; Wolfhart Pannenberg, STh III, 404–469: Das Leitungsamt als Zeichen und Werkzeug der Einheit der Kirche.

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Kirche: die soziale Gestalt der Christus-Gemeinschaft

allen unausweichliche Frage, ob unserem ephemeren Dasein in diesem ungeheuren unbegrenzten Universum überhaupt ein objektiver Sinn zukomme; und ob bzw. wie denn solcher objektive Sinn sich dem Gefühl des schlechthin abhängigen, schlechthin gewollten und damit schlechthin verantwortlichen Frei-Seins auch erschließe. Indem das Christ-Sein sich auf diese ontologische Frage bezieht, befindet es sich in kritischer Solidarität mit allen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, die kraft der sie bestimmenden expliziten Gewissheit diese ontologische Frage anders beantworten oder gar verdrängen und verschweigen. Damit sich jener objektive Sinn, wie ihn das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments ursprünglich bezeugt, auch für uns hier und heute als Basis und als Horizont des christlich-frommen Selbstbewusstseins erschließe, bedarf es jenes Systems der Kommunikation, das dieses Offenbarungszeugnis von Generation zu Generation tradiert, interpretiert und für die jeweilige Lebenswelt aktualisiert. Wer kommt als das verantwortliche Subjekt in Betracht, das dies System der Kommunikation zu tragen hat? Die reformatorische Bewegung hat diese Frage alsbald mit dem Konzept des Allgemeinen Priestertums beantwortet. Diese Konzeption stellt eine grundlegende Alternative zum römischen Verständnis des Bischofsamts als gottgewollter vollmächtiger Repräsentation des Christus-Geschehens dar. Sie ergibt sich aus der reformatorischen Einsicht in die Konstitution der christlichen Gottesgewissheit; und sie hat als solche normative Bedeutung für die Kirchenverfassung, für die kirchenleitende Funktion der Synode sowie für die Funktion des ordinierten Amts.307 Die Konzeption des Allgemeinen Priestertums ist angeregt von solchen Aussagen des Neuen Testaments, die das Christ-Sein in einem metaphorischen Sinne als ein „Priester-Sein“ bezeichnen (1Petr 2,5.9; Apk 1,6; 5,10; 20,6). Sie stehen offensichtlich im Zusammenhang mit dem erstaunlichen Befund, dass das Neue Testament an keiner Stelle die Aufgabe, den Gottesdienst einer Christus-Gemeinschaft zu leiten, mit dem semantischen Feld des Priesterbegriffs im Sinn der jüdischen JHWHGemeinschaft charakterisiert. Macht Martin Luther schon in seinen wirkungsvollen Schriften des Jahres 1520 von diesem metaphorischen Sinn Gebrauch, so begründet er darin das Priester-Sein als wesentliches Merkmal einer Lebensform, die sich der Konstitution der christlichen Gottesgewissheit verdankt. Weil christliche Gottesgewissheit sich im System der Kommunikation des Evangeliums und nur in ihm ereignet, steht das Konzept des Allgemeinen Priestertums keineswegs – wie seinerzeit von Andreas von Karlstadt, vom Täufertum und von dem Spiritualismus des 16. und des 17. Jahrhunderts behauptet – im Gegensatz zu den Befugnissen der Synode bzw. des ordinierten Amts und dessen theologischer Kompetenz.

307 Vgl. hierzu bes. Harald Goertz, Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei Luther, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 1997 (MThSt; 46).

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Vielmehr macht das Konzept des Allgemeinen Priestertums darauf aufmerksam, dass just die christliche Gottesgewissheit der gemeinsamen Verantwortung aller Glieder der Christus-Gemeinschaft für die Kommunikation des Evangeliums zugrunde liegt. Sie verleiht jedem ihrer Glieder die spezifisch geistliche Würde, insofern sie die Gewissheit ist, von dem dreieinen Gott der Lebensform des Vertrauens, des Hoffens und des Liebens und damit der Selbstverantwortung vor Gott gewürdigt zu sein; und sie gewährt die spezifisch geistliche Vollmacht, in selbstbefugter und urteilsberechtigter Weise für alle Belange der Christus-Gemeinschaft zuständig zu sein. Mit dem Konzept des Allgemeinen Priestertums erklärt die reformatorische Bewegung den Wesensunterschied zwischen einem „Priestertum des hierarchischen Dienstes“ und einem „allgemeinen Priestertum aller Gläubigen“, wie ihn zuletzt das 2. Vatikanische Konzil behauptete, für unwirksam; sie etabliert stattdessen einen neuartigen Typus kirchlicher Öffentlichkeit, in welcher alle ihre Glieder eben als Laien Geistliche und als Geistliche Laien sind. Für alles aktuelle Nachdenken über die „Kirche in der Kultur der Gesellschaft“ hat diese Pointe des Allgemeinen Priestertums besonderes Gewicht (s. 4.4.5). Im Folgenden hebe ich die wesentlichen Merkmale einer Kirchenordnung hervor, welche die Grundeinsicht der reformatorischen Bewegung in die Konstitution der christlichen Gottesgewissheit zur Geltung bringen. Sie haben samt und sonders den Charakter menschlichen und d. h. kirchlichen Rechts, das sich in seiner Eigenart erst entfalten kann, wenn es im Rahmen staatlichen, politisch gesetzten Rechts sich rechtlicher Autonomie erfreut. Allerdings steht kirchliches Recht im Sinne der reformatorischen Bewegung nach wie vor im Gegensatz zum Rechtsverständnis der Heiligen römischen Kirche, das sich auf Grundsätze göttlichen Rechts beruft. Bevor ich nun die wesentlichen Merkmale der Kirchenordnung auf der Linie der reformatorischen Grundeinsicht bespreche, sei dieser Gegensatz in der gebotenen Kürze aufgezeigt. Dem Selbstverständnis der Heiligen römischen Kirche entspricht die grundlegende rechtliche und pastorale Bedeutung des Bischofsamtes, das sich kirchengeschichtlich freilich erst seit dem Ende des 2. Jahrhunderts bzw. seit den Anfängen des 3. Jahrhunderts nachweisen lässt. Sie stützt sich auf die fromme Überzeugung, in der Wahrnehmung seines Hirtendienstes befinde sich der Bischof in der apostolischen Sukzession, die ihrerseits in Jesu Christi Einsetzung ihren legitimen Grund und Ursprung habe.308 Dem jeweiligen Inhaber eines Bischofsamtes wird durch

308 Wir finden diese fromme Überzeugung immerhin schon im Hauptwerk des Bischofs Irenaeus von Lyon (um 135–um 200) „Adversus haereses“, der in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Schulen der Gnosis die theologischen Prinzipien des christlichen Kanons, der Glaubensregel des Symbolum Apostolicum und eben die Amtssukzession des Bischofs zur Geltung bringt. Im Lichte dieser Prinzipien legt der hochgebildete Bischof in diesem grundlegenden Werk sein Verständnis

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Kirche: die soziale Gestalt der Christus-Gemeinschaft

die Weihehandlung die Fülle des Weihesakraments übertragen, die ihn dazu bestimmt und kraft der Gnade des Heiligenden Geistes auch dazu befähigt, in seiner jeweiligen Diözese den „Dienst der Heiligung“ zu versehen und in hierarchischer Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom und den Gliedern des Bischofskollegiums die Dienste des Lehrens und des Leitens zu leisten.309 Nachdem das Amt des Bischofs gemäß den Bestimmungen des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 jedenfalls im „Alten Reich“ von jeglichen politischen Funktionen entbunden worden war, verfügt es kraft der Weihehandlung unter der unumschränkten Kirchengewalt des Papstes über die volle geistliche und rechtliche Autorität. Auch die gültige Feier der Sakramente und die Wahrnehmung der Glaubens- und der Sittenlehre im Amte des geweihten Priesters geht letztlich auf die Vollmacht des Bischofamts zurück. Als Zentrum dieser Vollmacht versteht die Kirche unter dem Bischof von Rom das Amt der Heiligung, das sich vollzieht in der jedesmaligen Feier der Eucharistie. Indem der Bischof bzw. der ihn vertretende geweihte Priester sie in persona Christi zelebriert, vergegenwärtigt er der feiernden Gemeinde das, was offenbart ist: nämlich den Tod des Christus Jesus am Kreuz auf Golgatha als jenes allgenugsame Opfer, in dem die „innigste Vereinigung mit Gott“ stellvertretend schon für uns geschehen ist (LG 1; 9,3). So wie sich die soziale Gestalt bzw. die Verfassung der Heiligen römischen Kirche im langen Zeitraum ihrer bisherigen Geschichte entwickelte, ist sie vom eucharistischen Geschehen geprägt, in dem der jedesmalige Vorsteher der Messe in persona Christi das, was offenbart ist, sakramental vergegenwärtigt.

des göttlichen Waltens in einer zielgerichteten Heilsordnung dar, in welcher dem Bischofsamt die Repräsentation des Christus Jesus zugesprochen wird. 309 Vgl. bes. LG Art. 20–27 (und dazu CIC/1983 c. 375 § 1; c. 383); sowie bes. LG 28,1 Satz 1: „Christus, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat (Joh 10,36), hat dadurch seine Apostel und deren Nachfolger, die Bischöfe, seiner eigenen Weihe und Sendung teilhaftig gemacht.“ Aufgrund dieser Aussage gilt daher: „In den Bischöfen, denen die Priester zur Seite stehen, ist … inmitten der Gläubigen der Herr Jesus Christus, der Hohepriester, anwesend.“ (LG 21,1 Satz 1 [Übersetzung Peter Hünermann]).

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4.4.2

Das kirchliche Leitungsamt310

Die religiöse Kommunikation des Evangeliums ist – wie ich kontinuierlich zeige – die Institution, in deren Medien bzw. in deren regelmäßigen Vollzügen sich diejenige Lebensweise bildet, die die summarische Formel Durch Wahrheit zur Freiheit meint. Sie bildet sich kraft der Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums, die gemäß reformatorischer Erkenntnis dem Heiligenden Geiste Gottes zu verdanken ist. Sie prägt als solche das Herz und das Gewissen – das Selbstbewusstsein – der Person und verleiht ihr ihren ethischen Charakter, ohne doch ihren Zwiespalt, ihr SchuldigWerden, ihr Verstrickt-Sein ins „In-der-Sünde-Sein“ in dieser Weltzeit aufzuheben. Zu diesem ethischen Charakter gehört ihre jeweils individuelle Verantwortung für die kirchliche Ordnung der religiösen Kommunikation des Evangeliums: sie ist nach reformatorischer Erkenntnis ein wesentliches Merkmal des Allgemeinen Priestertums. Die geistgewirkte Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums stiftet von allem Anfang an diejenige religiöse Gemeinschaft, die ich die Christus-Gemeinschaft nenne. Als eine Gemeinschaft leibhaft existierender Glieder hat sie von allem Anfang an eine sichtbare soziale Gestalt, die für sie selbst und ebenso für ihre jeweilige sozio-kulturelle Mitwelt – wie z. B. im Festkalender des Kirchenjahrs oder in der Geschichte des Kirchenbaus - erfahrbar ist. Insofern existiert sie von allem Anfang an in einer Geschichte des Agierens und des Reagierens, in der sie über ihre innere Ordnung sowohl als auch über die sachgemäße Wahrnehmung ihres „Dienstes der Versöhnung“ im Wandel ihrer sozio-kulturellen Mitwelt Entscheidungen zu treffen hat. Die Frage, wie diese Entscheidungen sachgemäß zu treffen sind und welchen Kriterien sachgemäße Entscheidungen unterliegen, ist daher identisch mit der Frage, wie das sachgemäße Verfahren eines kirchlichen Leitungsamts zu bestimmen sei. Nach ihrem Selbstverständnis antwortet die Heilige römische Kirche auf diese Frage, indem sie auf die fromme Überzeugung rekurriert, der Christus Jesus selbst

310 Vgl. zum Folgenden bes.: Reiner Preul, Kirchentheorie (wie Anm. 83), 212–224: Die Leitung der Kirche; Wilfried Härle, Art. Kirche VII. Dogmatisch: TRE 18, 277–317 (zum Thema „Ämter in der Kirche“: 297–302); Eilert Herms, Was heißt „Leitung in der Kirche“?, in: Ders., Erfahrbare Kirche (wie Anm. 298), 80–101). – Erinnert sei daran, dass Friedrich Schleiermacher das Thema „Kirchenleitung“ gliederte in den Aspekt des „Kirchendienstes“ (im Sinne der presbyterialen Leitungsfunktion in einer einzelnen Kirchengemeinde) und den Aspekt des „Kirchenregiments“ (im Sinne der Leitungsfunktion in einer Gemeinschaft der einzelnen Kirchengemeinden, die auf der gesetzgebenden Funktion der Synode beruht); vgl. Friedrich Schleiermacher, KD2 §§ 309ff. – Nach dem kanonischen Recht der Heiligen römischen Kirche kommt die Leitungsgewalt („potestas regiminis“ bzw. „iurisdictio“) natürlich nur solchen zu, denen kraft ihrer Weihe die Weihegewalt (potestas ordinis) zur Spendung der Sakramente übertragen ist (vgl. c. 129 § 1 CIC/1983; cc. 135.391 CIC/1983).

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Kirche: die soziale Gestalt der Christus-Gemeinschaft

habe kraft seiner göttlichen Gewalt das apostolische Amt als Keim und Urbild eines bischöflichen Amtes eingesetzt (s. 4.4.1). Im Lichte dieser frommen Überzeugung war es ihr gelungen, das kirchliche Leitungsamt auf das bischöfliche Amt bzw. auf die bischöflichen Versammlungen der Synoden und der Konzilien zu konzentrieren. In ihrer jetzigen Verfassung ist es das Amt des Bischofs von Rom, dem jedenfalls nach den dogmatischen Entscheidungen des 1. Vatikanischen Konzils kraft göttlichen Rechts die oberste ordentliche und unmittelbare Lehr- und Jurisdiktionsgewalt über die universale Kirche zusteht.311 Dieses Verständnis des päpstlichen Primats wurde namentlich unter Papst Pius X. durch die Reform der Kurie im Jahre 1908, durch die straffe Ordnung der Nuntiaturen und schließlich durch die Aufsicht über die Besetzung der Bischofsstühle in den Ortskirchen konsequent im Sinne einer zentralistischen Organisation der Heiligen römischen Kirche durchgesetzt. Ich übersehe nicht, dass das von Papst Johannes XXIII. ins Leben gerufene 2. Vatikanische Konzil (1962–1965) in seiner Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ (DH 4101–4179) das Bischofskollegium als „Träger der höchsten und vollen Gewalt über die ganze Kirche“ definierte und damit das Verhältnis zwischen dem Primat des Papstes und der Kompetenz des Bischofskollegiums neu zu strukturieren suchte. Ebenso wenig übersehe ich, dass die Päpste Paul VI., Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franciscus eine mehr oder weniger weltweit gehörte moralische Autorität genießen, wie sie den Leitungsämtern der übrigen Kirchengemeinschaften bei weitem fehlt. Und schließlich ist zu würdigen, dass Papst Johannes Paul II. in der Enzyklika „Ut unum sint“ vom 25. Mai 1995 (DH 5000–5012) die herzliche und dringende Bitte formulierte, im ökumenischen Dialog zu einer Form des päpstlichen Primats zu finden, die konsequent dem „Petrusdienst“ an einer sichtbaren und erfahrbaren Einheit der weltweiten Christenheit entsprechen könnte. Ob und in welcher Weise die weltweite Christenheit in der riskanten Lage der Globalisierung der Lebensverhältnisse zu einem gemeinschaftlichen Typ der Leitung kommen könnte, steht derzeit doch wohl noch in den Sternen. In dieser außerordentlichen kirchengeschichtlichen Situation der Moderne besinnen wir uns auf die Form des kirchenleitenden Amts, welche der Grundeinsicht der reformatorischen Bewegung in die Konstitution der christlichen Gottesgewissheit verpflichtet ist. Ihr entspricht grundsätzlich das Allgemeine Priestertum, das nicht zuletzt auch für die Ordnung der religiösen Kommunikation des Evangeliums in allen öffentlichen Szenen Verantwortung trägt (s. 4.4.4). Allerdings war dieser Grundsatz in der schwierigen Geschichte der reformatorischen Kirchengemeinschaften aus mancherlei politischen und religionspolitischen Gründen nicht 311 Vgl. die Constitutio dogmatica I „Pastor aeternus“ de Ecclesia Christi vom 18. Juli 1870 (DH 3050–3075). – Vgl. hierzu und zum Folgenden bes. den exzellenten Artikel von Hanns Christof Brennecke/Harald Zimmermann/Tobias Mörschel/Günther Wassilowsky, Papsttum I.–III: RGG4 6, 866–897.

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oder nur bruchstückhaft zu realisieren. Was jedenfalls die Staaten und Gebiete des Deutschen Bundes (1815–1866) und des Deutschen Reichs seit 1871 betrifft, so gab erst die Weimarer Reichsverfassung von 1919 nach dem revolutionären Sturz der monarchischen Herrschaftsform den evangelischen Landeskirchen die Freiheit, die Form des kirchlichen Leitungsamts ebenso wie die Ordnung der kirchlichen Organisation selbst zu gestalten.312 Natürlich kommt der Selbstordnung bzw. der Selbstgestaltung einer Kirchengemeinschaft keine schlechthin unabhängige und originäre verfassungsgebende Rolle zu. Sie findet vielmehr ihr Prinzip und damit ihr Kriterium im Christus-Geschehen selber vor. Exemplarisch sei für die zu anerkennende Voraussetzung einer jeden Kirchenordnung der „Vorspruch“ der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland zitiert: „Grundlage der Evangelischen Kirche in Deutschland ist das Evangelium von Jesus Christus, wie es uns in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments gegeben ist. Indem sie diese Grundlage anerkennt, bekennt sich die Evangelische Kirche in Deutschland zu dem Einen Herrn der einen heiligen allgemeinen und apostolischen Kirche. Gemeinsam mit der alten Kirche steht die Evangelische Kirche in Deutschland auf dem Boden der altkirchlichen Bekenntnisse.

312 Bekanntlich stellte sich im Zeitalter der Reformation die Aufgabe einer Ordnung des „evangelischen“ Kirchenwesens neu, nachdem sich die Bischöfe der Heiligen römischen Kirche im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation der reformatorischen Bewegung zumeist verschlossen hatten. Deshalb übernahmen die Fürsten der evangelischen Territorien bzw. die Magistrate der Freien Reichsstädte die kirchenleitenden Befugnisse als „praecipuum membrum ecclesiae“ (als „vornehmstes Glied der Kirche“). Dieses sog. „landesherrliche Kirchenregiment“ sollte zwar beschränkt bleiben auf den Funktionsbereich der „äußeren“ Kirchenleitung; aber sowohl die rechtliche Ordnung des evangelischen Kirchenwesens als auch die „geistliche“ Kirchenleitung durch die Konsistorien waren in Gefahr, in die Abhängigkeit von der Souveränität des Landesherrn bzw. des Magistrats zu geraten. Erst nachdem die rheinisch-westfälische Kichenordnung von 1835 die presbyterial-synodale Tradition der reformierten Reformation aufgenommen hatte, kam es in den sog. „Landeskirchen“ zur Bildung von Synoden als kirchlicher Gesetzgebungsorgane. Auf diesen „Kern eigener kirchl.(icher) Verfassungsstrukturen“ konnten die Landeskirchen des Deutschen Reichs anknüpfen, als mit dem revolutionären Sturz der Monarchien das landesherrliche Kirchenregiment erlosch; vgl. hierzu Heinrich de Wall, Art. Kirchenregiment: RGG4 4, 1292–1294; Martin Heckel, Die Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert, in: GS Bd. 3, 1997, 441–470; Christoph Link, Staat und Kirche in der neueren deutschen Geschichte, Frankfurt a.M. [u. a.]: Lang, 2000.

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Für das Verständnis der Heiligen Schrift wie auch der altkirchlichen Bekenntnisse sind in den lutherischen, reformierten und unierten Gliedkirchen und Gemeinden die für sich geltenden Bekenntnisse der Reformation maßgebend.“313

In Kraft der Anerkennung des uns gegebenen Christus-Geschehens steht der Synode der wählbaren Glieder der Christus-Gemeinschaft das Recht der kirchlichen Rechtssetzung zu. Sie ist insofern das grundlegend wichtige der verschiedenen kirchenleitenden Organe.314 In ihr sind insbesondere die sog. Laien maßgeblich und entscheidungsbefugt an der Leitung einer Kirchengemeinschaft beteiligt. Ihre Entscheidungen haben kirchenrechtlichen Charakter (s. 4.4.4): sie bestimmt nicht nur in der Form der Wahl die Inhaber des Amtes eines Bischofs, eines Kirchenpräsidenten bzw. eines Präses; sie verabschiedet auch die Kirchengesetze und beschließt nicht zuletzt auch den Haushalt und den Stellenplan. Gemäß dem Grundsatz des Allgemeinen Priestertums gliedert sich das kirchenleitende Amt in zwei zu unterscheidende Funktionsbereiche, deren Unterscheidung auf der Grundeinsicht der reformatorischen Bewegung in die Konstitution der christlichen Gottesgewissheit beruht. Bildet sich die christliche Gottesgewissheit durch Gottes Heiligenden Geist in der religiösen Kommunikation des Evangeliums, so bedarf es um des sachgemäßen „Dienstes der Versöhnung“ willen in den öffentlichen Szenen einer kompetenten Leitung, die dem jeweiligen ministerium ecclesiasticum (CA XIV) übertragen wird, sofern es seine theologische Qualifikation nachgewiesen hat. Unter dem Begriff der kompetenten Leitung verstehe ich die Fähigkeit, die in der jeweiligen Kirchen-

313 Quelle: Abl. EKD 1948 S. 233 in der Bekanntmachung der Neufassung vom 1. Januar 2020 (Abl. EKD S. 2, Berichtigung S. 25). 314 Zur Vorgeschichte des synodalen Prinzips in der antiken bzw. in der mittelalterlichen Christenheit vgl. bes. Ferdinand Reinhard Gahbauer, Art. Synode I. II.: TRE 32, 559–571 (Lit.); zur Entwicklung der synodalen Kirchenstruktur in und seit der reformatorischen Bewegung vgl. bes. Christoph Dinkel/Reiner Preul/Günther Gaßmann, Art. Synode III/1.–3.: ebd. 571–584. – Es sei in Erinnerung gerufen, dass die synodale Struktur der Kirchenverfassung nach dem Vorbild von Jean Calvins Genfer Kirchenordnung von 1561 maßgeblich von der Nationalsynode der reformierten Kirchengemeinschaft Frankreichs in Paris 1559 entwickelt wurde. An sie knüpfte Friedrich Schleiermacher an in seinem „Vorschlag zu einer neuen Verfassung der protestantischen Kirche im preussischen Staate“ von 1808 (jetzt in: Ders., Kleine Schriften und Predigten, hg. von Hayo Gerdes und Emanuel Hirsch, Berlin: de Gruyter, 1969, Bd. II, 117–136). Vgl. hierzu bes. Christoph Dinkel, Kirche gestalten. Schleiermachers Theorie des Kirchenregiments, Berlin/New York: de Gruyter, 1996 (SchlAr; 17); Albrecht Geck, Schleiermacher als Kirchenpolitiker. Die Auseinandersetzungen um die Reform der Kirchenverfassung in Preussen (1799–1823), Bielefeld: Luther-Verl., 1997 (UnCo; 20); Eilert Herms, Schleiermachers Lehre vom Kirchenregiment, jetzt in: Ders., Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen: Mohr Siebeck, 2003, 320–398.

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gemeinschaft geltende Lehre situationsgerecht auszulegen und eigenverantwortlich zu übertragen. Diese Fähigkeit hat darin ihren jeweils individuellen Grund, dass mir die Lehre, die in Geltung steht, hinsichtlich ihres Gegenstandsbezugs – des Christus-Geschehens – als sachgemäße Beschreibung der Konstitution der christlichen Gottesgewissheit selbst einleuchtet. Auf diesen jeweils individuellen Grund bezieht sich das Versprechen und die Selbstverpflichtung, auf die die Kirchengemeinschaft in der feierlichen Handlung der Ordination vertraut. Für eine kompetente Leitung der religiösen Kommunikation des Evangeliums kommt es vor allem auf die Einsicht ins Verhältnis zwischen dem Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift, den Bekenntnisschriften der lutherischen, der reformierten und der unierten Tradition sowie den Ordnungen der gottesdienstlichen Feier und des christlichen Lebens im Alltag einer Gesellschaft an. Für diese Einsicht ist es wichtig zu begreifen, dass die Grundordnung einer Kirchengemeinschaft dieses Verhältnis als Verhältnis zwischen Konsensen definiert.315 Wie immer solche Konsense historisch zustande gekommen sein mögen: sie haben den begründeten Anspruch darauf, in einer jeweils jetzigen kirchengeschichtlichen Situation als Dokumente einer Verständigung respektiert zu werden, welche die reformatorische Sicht des christlich-frommen Selbstbewusstseins artikuliert. Die kompetente Leitung der religiösen Kommunikation des Evangeliums hat daher das Ziel, in einer jeweils jetzigen kirchengeschichtlichen Situation wiederum Konsense über die schon existierenden Konsense zu ermöglichen. Sie trägt damit der tatsächlichen Vielfalt der frommen Überzeugungen und Sitten Rechnung, die der Geschichte der verschiedenen reformatorisch geprägten Kirchengemeinschaften zu verdanken ist. Solche Konsense über Konsense sind m. E. insbesondere im Blick auf die Rolle der Kirche in der Kultur der Gesellschaft bitter nötig (s. 4.4.5).

315 Nach dem Selbstverständnis der Kirche unter dem Bischof von Rom ist Konsens ein Wesensmerkmal der Katholizität der Kirche; er herrscht nach diesem Selbstverständnis im „übereinstimmenden Glaubenssinn“ des Volkes Gottes, der in Einheit mit dem Glaubenssinn der Väter und mit dem Glaubenssinn der Theologen die Glaubenswahrheit der Heiligen Schrift frei-willentlich anerkennt und darin nicht irren kann (vgl. LG 12). Auch die Kirchengemeinschaften, die aus der reformatorischen Bewegung hervorgegangen sind, formulieren in ihren Grundlagen die für sie verbindlichen Konsense (vgl. z. B. CA I; CA VII; Barmer Theologische Erklärung); aber ihr Verständnis des Konsenses bezieht sich nicht etwa auf eine zu fordernde Übereinstimmung der öffentlichen Verkündigung mit den verbindlichen Konsensen bloß als solcher, sondern vielmehr auf das Christus-Geschehen als deren Grund und Gegenstand. Daher ist in ihrer jeweiligen Öffentlichkeit der Konsens der Lehre stets durch Dialog und Diskussion zu suchen, was auch eine legitime Verschiedenheit bzw. eine begrenzte Dissonanz einschließt. Namentlich die Frömmigkeits- bzw. die Theologiegeschichte ist des Zeuge. – Vgl. hierzu Eckhard Lessing, Konsensus in der Kirche, München: Kaiser, 1973; Christoph Schwöbel, Art. Konsens I.–III.: RGG4 4,1610–1613.

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4.4.3

Das kirchliche Lehramt316

Die christliche Gottesgewissheit – das jeweils individuelle christlich-fromme Selbstbewusstsein der Person als Glied der Christus-Gemeinschaft – bildet sich kraft des Heiligenden Geistes nicht anders als in jener Institution, die ich die religiöse Kommunikation des Evangeliums nenne. In deren Medien ereignet sich das Offenbar-Werden jener Wahrheit, die jeden Menschen zur Freiheit führen und jedes Menschen Gegenwart heilsam neu bestimmen will. Auch wenn die religiöse Kommunikation des Evangeliums die Medien der Gesten und der Riten, der Bilder und der Praxis christlicher Kunst einschließt, dominiert in ihr aus gutem Grund das sprachliche Handeln. Weil die Gewissheit, die das christlich-fromme Selbstbewusstsein trägt, sich mitteilt in erzählenden, in beschreibenden bzw. in bekennenden Aussagen, hat sie semantische Qualität. Nur wegen ihrer semantischen Qualität vermag sie die Person in ihrem Selbstbewusstsein und für ihre Lebensführung heilsam neu zu bestimmen. Für die semantische Qualität des sprachlichen Handelns in der religiösen Kommunikation des Evangeliums verwende ich im Anschluss an den Sprachgebrauch der Bibel den Begriff der Lehre (vgl. bes. 1Sam 12,23; Ps 25,9; 71,17; 90,12; 143,10; Jes 40,14; Mt 4,23; 26,55; Mk 1,22; ; Joh 8,28; 1Thess 4,9; Hb 5,12). Er meint diejenige Lebenslehre, welche im Gegenstand der christlichen Gottesgewissheit wurzelt und die uns deshalb orientiert und motiviert; als solcher übergreift er und umfasst er die verschiedenen Situationen, in denen die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen bzw. ihre jeweils berufenen Lehrer den Gegenstand sowohl als auch den Grund der christlichen Gottesgewissheit artikulieren. Sie nehmen so den „Dienst der Versöhnung“ (2Kor 5,18) wahr, der sachgemäß sein Zentrum in der Feier der Liturgie des Gottesdienstes hat.317 Es ist daher ein wesentliches Element des Allgemeinen Priestertums im Sinn der reformatorischen Bewegung, für die sachgemäße – nämlich: für die unverkürzte, für die nicht-beliebige bzw. für die orthodoxe – Wahrnehmung des „Dienstes

316 Vgl. zum Folgenden bes.: Gerhard Ebeling, Lehre und Leben in Luthers Theologie, Tübingen: Mohr, 1984; Eilert Herms, Die Lehre im Leben der Kirche, in: Ders., Erfahrbare Kirche (wie Anm. 298), 119–156; Ders., Art. Lehre II. Systematisch-theologisch: RGG4 5, 201–205. – Erstaunlicherweise kommt Gerhard Ebeling, Dogmatik III, auf die wichtigen Themen des kirchlichen Leitungs- und Lehramts und damit auf den nach wie vor bestehenden Gegensatz zwischen der Ordnung der Heiligen römischen Kirche und den kirchlichen Ordnungen der reformatorischen Bewegung so gut wie gar nicht zu sprechen! 317 Auf die gottesdienstliche Versammlung der Christus-Gemeinschaft bezieht sich die Augsburgische Konfession in ihrem Artikel VII, der das Wesentliche der Kirche definiert: „Es wird auch gelehret, daß alle Zeit musse eine heilige christliche kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Glaubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht werden…“ (BSLK 59,16–50,4).

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der Versöhnung“ Sorge zu tragen.318 Eine dogmatische Besinnung auf das kirchliche Lehramt setzt deshalb mit der Antwort auf die Frage ein, was unter einer sachgemäßen Wahrnehmung des „Dienstes der Versöhnung“ zu verstehen sei.319 Sachgemäß ist eine Wahrnehmung des „Dienstes der Versöhnung“ dann und nur dann, wenn sie sich an der Art und Weise orientiert, in der die christliche Gottesgewissheit uns gegeben und erschlossen wird. Christentumsgeschichtlich wie lebensgeschichtlich wird sie gegeben durch das Christus-Geschehen: sie wird gegeben durch das apostolische Zeugnis für die Wahrheit des Selbstzeugnisses Jesu von Nazareth, das den Ereignissen des Dritten Tages zu danken ist, wie es uns in der gottesdienstlichen Feier des Evangeliums im Licht des Kanons der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments dargeboten wird (s. 4.2.1). Erschlossen aber wird uns dessen befreiende Wahrheit unter der zweifachen Bedingung, dass Gottes Heiligender Geist die jeweils sach- und situationsgerechte Interpretation des Christus-Geschehens verifiziert und unseren Herzen und Gewissen als wahr erweist. Die Basis jeder sachgemäßen Wahrnehmung des „Dienstes der Versöhnung“ besteht demnach in der Erkenntnis, dass uns das Christus-Geschehen nicht anders als im Medium des apostolischen Zeugnisses für unser Verstehen vorgegeben ist. Es nach dem Maß der eigenen Einsicht zu bezeugen und verständlich zu machen, ist prinzipiell ein Element des Auftrags, der alle Glieder der Christus-Gemeinschaft verpflichtet. Nun schließt es dieser Auftrag ein, dass eine Ordnung für die sachgemäße Wahrnehmung des „Dienstes der Versöhnung“ gebildet wird, die insbesondere für alle öffentlichen Situationen im Leben der Christus-Gemeinschaft gilt.320 Diese Ordnung ist als Ordnung eines kirchlichen Lehramts im engeren Sinne des Begriffs zu verstehen. Zwar ist Art. XIV der Augsburgischen Konfession erkennbar auf die Aufgabe der Leitung der gottesdienstlichen Feier – und damit implizit auf die Aufgabe eines Pfarramts – bezogen; aber die Reichweite des Begriffs des kirchlichen Lehramts im engeren Sinn schließt darüber hinaus auch alle die Funktionen ein, die jemand in den Bereichen des schulischen Unterrichts, der Erwachsenenbildung, der speziellen Seelsorge und nicht zuletzt der theologischen Forschung und Lehre an den Hohen Schulen auszuüben hat. Schleiermacher zählte zu der öffent-

318 Das hat jedenfalls kurz und bündig festgestellt Martin Luther, Das eyn Christliche versamlung odder gemeyne recht und macht habe, alle leere tzu urteylen und lerer tzu beruffen, eyn und abtzusetzen, Grund und ursach aus der schrifft (1523): WA 11; 408–416. 319 Die zu suchende Antwort auf diese Frage hat fundamentaltheologischen Charakter (vgl. hierzu Konrad Stock, STh I, 151–171; 415–423; 472–487). 320 Die Augsburgische Konfession lehrt dazu in Art. XIV „Vom Kirchenregiment“ (bzw. „De ordine ecclesiastico“): „Vom Kirchenregiment wird gelehrt, daß niemand in der Kirchen offentlich predigen oder Sakrament reichen soll ohn ordentlichen Beruf.“ (BSLK 66,10–14).

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lichen Wahrnehmung eines kirchlichen Lehramts auch die Beiträge der „freie(n) geistige(n) Macht“ hinzu!321 Für alle diese Funktionen eines kirchlichen Lehramts im engeren Sinne des Begriffs gilt das Gebot, die sachliche Übereinstimmung mit dem apostolischen Zeugnis für die Wahrheit zu suchen, die dem Christus-Geschehen eignet; und zwar mit Rücksicht auf die jeweils lebensgeschichtliche Situation, die ihrerseits in die kultur- und weltgeschichtliche Situation eingebettet ist. Aus diesem Gebot leite ich Erwartungen an eine theologische Kompetenz ab, die ausführlich in einer enzyklopädischen Orientierung zu erläutern sind.322 Zum einen wird die sachgemäße Wahrnehmung des „Dienstes der Versöhnung“ in den verschiedenen Positionen eines theologischen Berufs stets deutlich machen, dass das apostolische Zeugnis des Christus-Geschehens im Kontext der ganzen Heiligen Schrift als religiöse Rede zu verstehen ist. Es setzt voraus die Eigenart der religiösen Rede überhaupt, das Weltverhältnis des göttlichen Wesens bezeichnen zu wollen; und zwar als grundsätzlich asymmetrisches Verhältnis zwischen dem schöpferischen Grund und dem All des geschaffenen Seienden, zwischen dem Walten des schöpferischen Grundes und dem Geschehen des Geschaffenen. Wir werden unseren „Dienst der Versöhnung“ dann und nur dann sachgemäß wahrnehmen können, wenn wir im Zuge einer fundamentaltheologischen Reflexion die religiöse Rede des apostolischen Zeugnisses als Mit-Teilung einer besonderen bzw. einer einzigartigen Gewissheit interpretieren, welche das Weltverhältnis und d. h. das Walten des göttlichen Wesens bzw. dessen In-Gemeinschaft-sein-Wollen bezeugt. Die fundamentaltheologische Reflexion macht es in allen Szenen öffentlicher Lehre möglich, den kategorialen Sinn der religiösen Rede der Heiligen Schrift zu entdecken und zu erklären. Sie zielt damit auf die verschiedenen Formen der Anrede Gottes im Gebet: im Dank und in der Klage, in der Bitte und in der Fürbitte und nicht zuletzt im hymnischen Lobgesang.323 Zum andern vollzieht sich die sachgemäße Wahrnehmung des „Dienstes der Versöhnung“ in der sorgfältigen Auslegung und Übertragung des apostolischen Zeugnisses des Christus-Geschehens. Sie sucht mittels der bibelwissenschaftlichen Philologie Sinn und Bedeutung des verbum externum bzw. der claritas externa im Kontext der ganzen Heiligen Schrift eigenverantwortlich zu erfassen, was angesichts der unüberschaubaren Lage in den Bibelwissenschaften alles andere als einfach ist

321 Vgl. Friedrich Schleiermacher, KD2 § 313. – Solche Beiträge „freie(r) geistige(r) Macht“ in der Geschichte der reformatorischen Kirchengemeinschaften Deutschlands verdanken wir im 20. Jahrhundert beispielsweise Rudolf Alexander Schröder, Heinz Zahrnt und Carl Friedrich von Weizsäcker. 322 Ich darf dafür verweisen auf: Konrad Stock, Theorie. 323 Vgl. hierzu bes. Gerhard Ebeling, Dogmatik I, 192–210; Michael Meyer-Blanck, Das Gebet, Tübingen: Mohr Siebeck, 2019.

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(vgl. hierzu STh I, 488–566). Die Aufgabe der sorgfältigen Auslegung und Übertragung des apostolischen Zeugnisses des Christus-Geschehens schließt natürlich die Vertrautheit mit den maßgeblichen Bekenntnissen und Lehrentscheidungen der Christentumsgeschichte ein; sie kodifizieren nämlich frühere Gestalten des kirchlichen Lehramts im engeren Sinn, die in den verschiedenen Kirchengemeinschaften von Kirchenrechts wegen in Geltung stehen. Weil sie frühere Konsense hinsichtlich der Auslegung und der Übertragung des apostolischen Zeugnisses markieren, haben sie auf jeden Fall Anspruch auf unser aufmerksames Interesse und auf unsere liebevolle Achtung, selbst wenn es gute Gründe geben sollte, an ihren Sprach- und Denkformen en détail Kritik zu üben.324 Zum Dritten braucht es für die sachgemäße Wahrnehmung des „Dienstes der Versöhnung“ in den Szenen öffentlicher Lehre die Fähigkeit, den inneren Zusammenhang bzw. die innere Struktur der Grundworte des apostolischen Offenbarungszeugnisses zu sehen und auf das Leben unter den Bedingungen einer posttraditionalen bzw. einer hochentwickelten, einer offenen Gesellschaft zu übertragen. Diese im Studium Systematischer Theologie zu erwerbende Fähigkeit wird sich darin beweisen und bewähren, dass wir die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) als Teil der sozialen Institution bzw. als Teil des sozialen Lebensbereichs Religion verständlich machen können, die im Ensemble der sozialen Institutionen die Bildung christlich-religiöser Frömmigkeit menschlich möglich macht. Als solche dient sie jener Selbstverantwortung der Person vor Gott, die sich auf allen Handlungsfeldern des privaten wie des öffentlichen Lebens konkretisiert.325 Meine Darstellung des kirchlichen Lehramts im weiten Sinn des Allgemeinen Priestertums sowie im engeren Sinn des ministerium verbi kann nicht schließen, ohne in der gebotenen Kürze die nach wie vor bestehende Differenz zum Selbstverständnis des kirchlichen Lehramts in der Heiligen römischen Kirche zu beleuchten.326

324 Man beachte, dass das reformatorische Prinzip sola scriptura keineswegs das Interesse und die Achtung vor den Traditionen des kirchlichen Lehramts im engeren Sinne – wie z. B. die der ökumenischen Konzilien – ausschließt; es fungiert allerdings als kritisches Prinzip, welches die Traditionen des kirchlichen Lehramts ihrerseits am Kriterium der sachlichen Übereinstimmung mit dem apostolischen Zeugnis des Christus-Geschehens prüft (vielfach durchaus mit negativem Ergebnis, etwa was die Konzentration des kirchlichen Lehramts auf das sei es orthodoxe sei es römisch-katholisch praktizierte Bischofsamt betrifft). Vgl. hierzu Konrad Stock, STh I, 567–612. 325 Vgl. hierzu Konrad Stock, STh I, 363–400: Kriterien wahrer Religion. – Die ausführliche Beschreibung des individuellen Christ-Seins und der Organisation der Kirche in den sozialen Institutionen des privaten und des öffentlichen Lebens wird die Aufgabe der Güterlehre der Theologischen Ethik sein (STh III). 326 Seit der Entstehung des Monepiskopats sowie des monarchischen Episkopats in der Frühgeschichte des Christentums hat das Selbstverständnis des kirchlichen Lehramts in der Heiligen römischen

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Ihm liegt eine spezifische Ordnung zwischen dem Aspekt der norma suprema, dem Aspekt der norma normata primaria und dem Aspekt der norma normata secundaria zugrunde. Während der Aspekt der norma suprema identisch ist mit dem Christus-Geschehen – der Inkarnation des ewigen Wortes Gottes im Christus Jesus –, sind die Aspekte der norma normata primaria – des Inbegriffs des apostolischen Kerygmas im Kanon der Heiligen Schrift – sowie der norma normata secundaria – der frommen Überzeugungen der Tradition sowie der Autorität des bischöflichen und des päpstlichen Amtes – konsequent bezogen auf die ursprüngliche Autorität der göttlichen Wahrheit selbst, welche im Christus-Geschehen ein für alle Mal offenbar geworden ist. Da nun Gottes göttliche Wahrheit offenbar geworden ist in sprachlichpropositionaler Form (wie z. B. in der Form der Überlieferung in 1Kor 15,1-11), entfaltet sie ihre heilsam-heilende Wirkung im Herzen und Gewissen der Person nur unter der Bedingung, dass sie als solche Anerkennung und Gehorsam findet (vgl. Röm 1,6; 15,18; 2Kor 9,13; 10,5). In der Nachfolge der apostolischen Verkündiger der offenbar gewordenen göttlichen Wahrheit und aus Treue zu ihrer Sprach- und Denkgestalt ist es daher der Auftrag des kirchlichen Lehramts der Bischöfe und des Papstes, um der heilsamheilenden Wirkung der Lehre willen über die Rechtheit der Lehre zu wachen bzw. sie der Kirchengemeinschaft authentisch vorzulegen. Weil dieser Auftrag durch das Sakrament der Weihe übertragen wird, gilt die Befähigung und die Befugnis zu dessen Wahrnehmung als die Gnadengabe des Geistes Jesu Christi. Sie verleiht der Kirche als dem „mystischen Leib Christi“ insgesamt die sakramentale Grundstruktur mit ihrer wesentlichen Unterscheidung zwischen dem Status der geweihten und dem Status der nichtgeweihten Personen. Jedoch: In welcher Weise der Geist Jesu Christi – die „Seele der Kirche“ – den Seelen der Glieder des mystischen Leibes Jesu Christi einzuwohnen vermag, bleibt nach wie vor die offene, die entscheidende Frage an das Selbstverständnis der Kirche unter dem Bischof von Rom und an deren Theologie.327 Demgegenüber geht die reformatorische Beschreibung des kirchlichen Lehramts von der fundamentalen Einsicht aus, dass der Christus-Glaube der Person in seinem

Kirche eine überaus komplexe Geschichte durchlaufen, die ich hier unmöglich nachzeichnen kann. Stattdessen halte ich mich an die Bestimmungen über den Träger, über den Gegenstand und über die Qualität der lehramtlichen Aussagen, die sich aus den Entscheidungen des 2. Vatikanischen Konzils ergeben. – Vgl. zum Folgenden bes.: LG 12; 25; Karl Rahner/Joseph Ratzinger, Episkopat und Primat, Freiburg [u. a.]: Herder, 1961; Walter Kern, Die Theologie und das Lehramt, Freiburg [u. a.]: Herder, 1982; Peter Neuner, Art. Lehramt IV. Katholisch: RGG4 5, 188–190. 327 Vgl. bes. die Enzyklika „Mystici corporis“ Papst Pius’ XII. vom 29. Juni 1943 (DH 3800–3822; bes. 3814–3815: De inhabitatione Spiritus Sancti in animis [Über die Einwohnung des Heiligen Geistes in den Seelen]).

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harten Kern Gewissheit der Wahrheit des Christus-Geschehens sei, die sich nicht anders bildet als in der religiösen Kommunikation des Evangeliums (s. 4.2). Aus diesem Grund bedarf sie jedenfalls in allen öffentlichen Szenen dieser Kommunikation der kompetenten Leitung, die dafür Sorge trägt, dass sich die Glieder der Christus-Gemeinschaft regelmäßig und immer wieder neu der Wahrheit des Christus-Geschehens vergewissern können. Es ist daher ihr Amt, in allen diesen öffentlichen Szenen das ursprüngliche apostolische Zeugnis des Christus-Geschehens, wie es zur Sprache kommt in der claritas externa der Heiligen Schrift, für eine jeweils gegenwärtige Lebens- und Weltlage verstehbar zu vergegenwärtigen. Ihr Dienst an jener claritas externa ist jedoch darauf angewiesen, vom Medium des Heiligenden Geistes Gottes selbst im Herzen und Gewissen der Person – in ihrem Selbstbewusstsein – verifiziert zu werden. Entsprechend den Ereignissen des Dritten Tages ist es allein dem Walten dieses Geistes der Wahrheit zu danken, dass sich in, mit und unter der religiösen Kommunikation des Evangeliums die Gewissheit dieser Wahrheit bildet. Ihr eignet daher die Unfehlbarkeit, die keine kirchliche Lehre bloß als solche und nicht einmal die Sprach- und Denkgestalt des apostolischen Kerygmas im Kanon der Heiligen Schrift für sich in Anspruch nehmen kann.328

328 Dass nicht einmal die Sprach- und Denkgestalt des apostolischen Kerygmas im Kanon der ganzen Heiligen Schrift Unfehlbarkeit in Anspruch nehmen kann, ist eine fundamentaltheologisch wichtige Erkenntnis der historisch-kritischen Methode der Bibelwissenschaften. Diese Erkenntnis berechtigt dazu, das Prinzip sola scriptura auch auf die claritas externa der Heiligen Schrift selbst anzuwenden. Von diesem selbstkritisch verstandenen Prinzip sola scriptura mache ich Gebrauch, wenn ich den apokalyptischen Mythos wegen seiner dualen Struktur dekonstruiere (s. 4.5.4.2).

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4.4.4

Das kirchliche Recht329

Gemäß dem reformatorischen Verständnis des Allgemeinen Priestertums nimmt die Synode, die die Ordnungen des kirchlichen Leitungsamtes und des kirchlichen Lehramts beschließt, ein Recht der Rechtssetzung in Anspruch. Sie konkretisiert dieses Recht, indem sie Kirchengesetze berät und verabschiedet, welche sich nicht zuletzt auch auf die Ökonomie der Organisation der Kirchen und auf die Rechtsverhältnisse der Pfarrerinnen und der Pfarrer bzw. der Mitarbeiter in den Kirchenverwaltungen und in den Gemeinden erstrecken. Sie ratifiziert darüber hinaus die Staatskirchenverträge bzw. die Konkordate, die eine Kirche mit den Ländern der Bundesrepublik Deutschland schließt: Verträge, die ihrerseits rechtliche Bindungswirkung entfalten. Ausdrücklich hat die Weimarer Reichsverfassung von 1919 den Kirchen bzw. den Religionsgesellschaften dieses Recht der Rechtssetzung zugestanden, wenn sie die Kirchen bzw. die Religionsgesellschaften als „Körperschaften des öffentlichen Rechts“ anerkennt, die ihre „Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechts“ erworben haben. Art. 137 Abs. 3 WRV (= Art. 140 GG; vgl. Art. 137 Abs. 7 WRV) legt fest: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“

Die systematische Besinnung auf die soziale Gestalt der Christus-Gemeinschaft hat daher zu guter Letzt zu klären, welcher Art das kirchliche Recht der Rechtssetzung sei und wie es sich zum Recht eines Staates verhalte. Sie berührt sich darin mit

329 Zur Entstehung und ersten Entfaltung des kirchlichen Rechts vgl. Jean Gaudemet, Art. Kirchenrecht I. Alte Kirche: TRE 18, 713–724; zur Geschichte und zur Systematik des evangelischen Kirchenrechts vgl. Martin Honecker, Art. Kirchenrecht II. Evangelische Kirchen: ebd. 724–749 (Lit.!); Eilert Herms, Das Kirchenrecht als Thema der theologischen Ethik: ZevKR 28 (1983), 199–277; Axel Freiherr von Campenhausen, Kirchenrecht – Religionswissenschaft, Stuttgart: Kohlhammer, 1994 (Grundkurs Theologie; 10,1); Reiner Preul, Kirchentheorie (wie Anm. 83); Konrad Stock, Theorie, 112–116; 303–308; Martin Honecker, Recht in der Kirche des Evangeliums, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008 (Jus Ecclesiasticum; 85). – Zum anders gearteten Rechtsverständnis der Heiligen römischen Kirche vgl. Richard Puza, Recht, Kanonisches I. Römisch-katholische Kirche: TRE 28, 256–277 (Lit.!); Ders., Katholisches Kirchenrecht, Stuttgart: UTB, 2 1993. – Zur Geschichte der Kirchenrechtsquellen vgl. Georg May, Art. Kirchenrechtsquellen I. Katholische: TRE 19, 1–44 (hier bes. 36–43 zum Codex Iuris Canonici [1917] sowie zum Codex Iuris Canonici [1983]); Klaus Schlaich, Art. Kirchenrechtsquellen II. Evangelische: ebd. 45–51; Eilert Herms, Die staatskirchenrechtliche Stellung der Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts aus theologischer Perspektive, jetzt in: Ders., Kirche in der Gesellschaft, Tübingen: Mohr Siebeck, 2011, 221–252.- Die „Rechtsfähigkeit“ anderer Gliedkirchen des Ökumenischen Rats der Kirchen muss hier natürlich außer Betracht bleiben.

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der Kirchenrechtswissenschaft sei es der römisch-katholischen sei es der reformatorischen Tradition, die im Ganzen der theologischen Fächer jeweils ein eigenes Fachgebiet des Lebens der erfahrbaren Kirche vertritt. Das kirchliche Recht sowohl der römisch-katholischen als auch der reformatorischen Tradition des Christus-Glaubens hat – jedenfalls was die jetzige Bundesrepublik Deutschland betrifft – durch die Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung von 1919 eine grundlegende Innovation erfahren. Sie beruhen auf der grundund menschenrechtlichen Garantie der Religionsfreiheit im Sinne der Glaubensund Bekenntnisfreiheit bzw. im Sinne des Rechts auf ungestörte Religionsausübung (Art. 4 Abs. 1; Abs. 2 GG; vgl. Art. 140 GG i. V. mit Art. 136 Abs. 1 WRV). Aus dieser Garantie folgt die verfassungsrechtliche Grundentscheidung einer organisatorischen Trennung der Kompetenz des Staates und der Kompetenz der Religionsgesellschaften, bündig erklärt in dem normativen Satz: „Es besteht keine Staatskirche“ (Art. 140 GG i. V. mit Art. 137 Abs. 1 WRV). Dieser normative Satz beendet die verschiedenen geschichtlich wirkungsvollen Varianten einer Staatsreligion (bzw. einer politisch durchgesetzten staatstragenden Weltanschauung bzw. einer Ideologie) ebenso wie die Formen eines landesherrlichen Kirchenregiments, die die Lebensäußerungen einer Kirchengemeinschaft einer mehr oder weniger rigiden staatlichen Aufsicht unterwarfen. Die Grundentscheidung einer organisatorischen Trennung der Kompetenz des Staates und der Kompetenz der Religionsgesellschaften war und ist fürwahr befreiend, weil sie den wesentlichen Unterschied beachtet zwischen der Genese der Gewissheit des Herzens und Gewissens und der Rechtsund Gesetzestreue, zu der wir uns frei-willentlich entschließen. Mit Rücksicht auf die Garantie des Grund- und Menschenrechts der Religionsfreiheit verleiht der Staat den Kirchen bzw. den Religionsgesellschaften den Status der „Körperschaft des öffentlichen Rechts“, die sich ordnet und verwaltet „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“. Mit dieser offenkundigen Bedingung spielt die Verfassung stillschweigend an auf den liberalen Begriff des Staates als „Sicherheitszustand von Gemeinwesen“.330 Wie immer dieser liberale Begriff um weitere Bestimmungen der vorzugswürdigen Staatsziele auch erweitert und ergänzt werden mag: die Garantie des Sicherheitszustands aller Mitglieder der Gesellschaft ist die raison d‘être des liberalen Staats, die nicht zuletzt auch die Schranken für die religiöse Kommunikation der Religionsgesellschaften errichtet. Gleichwohl entsteht an der Figur der organisatorischen Trennung des Politischen und des Religiösen die Frage, ob es mit rechten Dingen zugehe, wenn auch die Religionsgesellschaft

330 Vgl. Eilert Herms, Art. Staat I.–IV.: RGG4 7, 1632–1641; 1635. – Jedes sei es einfache sei es komplexe Rechtsgeschäft beruht stillschweigend oder ausdrücklich beurkundet auf der gemeinsamen Annahme der Vertragspartner, dass es der Sicherheit bedarf, die die Judikative des Souveräns kraft des Öffentlichen Rechts gewährt.

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Kirche: die soziale Gestalt der Christus-Gemeinschaft

allgemein und wenn die Kirche als soziale Gestalt des Christus-Glaubens im Besonderen ihre „Angelegenheiten“ in der Form der Rechtssetzung ordne und verwalte. Diese Frage findet ihre sachgemäße Antwort, indem wir uns auf die Natur bzw. auf das Wesentliche des Rechts besinnen. Ich verstehe unter dem Begriffswort Recht den Inbegriff der normativen Regeln der Verhaltenswahl, die in einem politisch verfassten Gemeinwesen in Geltung stehen. Es ist der primäre Zweck solcher Regeln, den Frieden innerhalb einer Gesellschaft leibhaft existierender Freiheitswesen aufrecht zu erhalten, mögliche oder tatsächliche Konflikte zu schlichten, die Chancen der Partizipation zu fördern und insbesondere die soziale Sicherheit aller zu gewährleisten. Unter der verfassungsrechtlichen Garantie der Grund- und Menschenrechte ist der Erlass solcher Regeln das Privileg eines hoheitlichen Gesetzgebers, der den gemeinsamen Rechtswillen einer Mehrheit auf Zeit formuliert und kodifiziert. Dieses Privileg schließt ein, Sanktionen anzudrohen und auch anzuwenden, falls jemand solche Regeln des privaten oder des öffentlichen Rechts brechen sollte. Auch die demokratische bzw. die republikanische Idee der Organisation des Gemeinwesens kommt nicht darum herum, der Hoheit des Gesetzgebers die Befugnis zwingender und strafender Gewalt zuzuerkennen; auch ihr liegt das vielfach verschwiegene Bewusstsein der „Bösartigkeit der menschlichen Natur“ zugrunde.331 Wenn die Natur bzw. das Wesentliche des Rechts nötigenfalls die Befugnis zwingender und strafender Gewalt einschließt, scheint die berühmte These Rudolph Sohms triftig zu sein: „Das Kirchenrecht steht mit dem Wesen der Kirche im Widerspruch“332 ; die Glieder der Christus-Gemeinschaft würden nämlich einer geistgewirkten Lebensordnung folgen, die nicht vereinbar sei mit einem eigenständigen Recht der Kirche. Doch wird mit dieser These die Natur bzw. das Wesentliche eines kirchlichen Rechts im Sinn der reformatorischen Bewegung verkannt. Das eigenständige kirchliche Recht, zu dem der Verfassungsgeber im Bereich des Deutschen Reiches von 1919 bzw. der Bundesrepublik Deutschland die Kirchengemeinschaft ermächtigt, hat im Sinn der reformatorischen Bewegung durchweg den Charakter menschlichen Rechts und nicht etwa – wie es die Heilige römische Kirche sieht – den Charakter göttlichen Rechts. Als menschlichem Recht eignet ihm ein spezifischer Rechtszweck, der es vom Recht der Rechtssetzung anderer juristischer Personen erkennbar unterscheidet. Dieser Rechtszweck geht mit aller Klarheit aus dem „Vorspruch“ der Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland hervor, der die unantastbare „Grundlage“ aller kirchlichen Rechtssetzung formuliert. Es braucht wohl nicht erwähnt zu werden, dass diese „Grundlage“ als gegebene

331 Vgl. Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795.1796): W VI, 191–251; 210. 332 Rudolph Sohm, Kirchenrecht. Bd. 1, Leipzig: Duncker & Humblot, 1892, 700.

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Voraussetzung kirchlichen Rechts nicht Gegenstand der kirchlichen Gesetzgebung ist. Indem der „Vorspruch“ diese „Grundlage“ im „Evangelium von Jesus Christus (verstehe: im Christus-Geschehen)“ anerkennt, sieht er den ursprünglichen Auftrag einer jeden kirchlichen Gemeinschaft darin, das Christus-Geschehen als den „Dienst der Versöhnung“ (2Kor 5,19) in ihren Innenverhältnissen zu feiern und es in ihren Außenverhältnissen zu bezeugen. Kirchliches Recht hat deshalb seinen Zweck darin, die Erfüllung dieses Auftrags zu ermöglichen. Seine typischen Materien sind deshalb die organisatorische Struktur der Kirchengemeinschaft, das Dienstrecht für die Amtsträger und für alle sonstigen Mitarbeiter (inclusive des Versorgungsrechts), das Recht der Kirchenmitgliedschaft und schließlich das Finanzrecht (inclusive der Verwaltung des Vermögens). Alle die rechtlichen Regelungen dieser Materien koordinieren sicher erwartbar die äußeren Bedingungen, unter denen wir als leibhaft existierende Person teilhaben an der religiösen Kommunikation des Evangeliums. Sie – diese rechtlichen Regelungen – sind last but not least auch deshalb unvermeidbar, weil das Böse-Sein-Können des geschaffenen Person-Seins auch im Geschehen der Versöhnung keineswegs schon überwunden ist. Indem das kirchliche Recht im Sinne der reformatorischen Bewegung (ebenso wie das Recht der Kirche unter dem Bischof von Rom) dem Christus-Geschehen im Medium des Heiligenden Geistes zu dienen bestimmt ist, bewegt es sich im Kontext einer theologischen Erklärung der Funktion des Rechts, das zu erlassen jedenfalls von Verfassungs wegen das Privileg des frei und geheim gewählten Gesetzgebers ist. Zwar ist es die zu Tage liegende Funktion dieses Rechts, in immer neuen Reformen das soziale Handeln innerhalb einer Gesellschaft sicher erwartbar zu koordinieren; aber die unvermeidliche Befugnis des frei und geheim gewählten Gesetzgebers, den Rechtsgehorsam und die Rechtstreue notfalls mit legitimer und verhältnismäßiger Gewalt zu erzwingen, weist die Christus-Gemeinschaft auf die tiefe Wunde des allgemein menschlichen Böse-Sein-Könnens hin. Es ist daher ganz sachgemäß, dass die Verfassung die Selbstordnung und die Selbstverwaltung einer Religionsgesellschaft – und damit auch das kirchliche Recht – in die Schranken der für alle gültigen Gesetzgebung verweist; denn die für alle gültige Gesetzgebung macht mit der Befugnis, notfalls zu zwingen und zu strafen, das Problem des allgemein menschlichen Böse-Sein-Könnens erschütternd offenbar. Insofern konvergieren der Rechtsbegriff des neuzeitlichen bzw. des modernen Verfassungsstaats und der Rechtsbegriff des kirchlichen Rechts.333 333 Mit dem Begriff der Konvergenz meine ich den rechtstheoretischen Sachverhalt, dass das Rechtsverständnis der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen die Rechtsgeschichte als eine Geschichte der „weltlichen Regierweise“ Gottes – als die Geschichte eines „Reiches Gottes zur Linken“ – verstehen wird, die selbstverständlich für die Selbstordnung und für die Selbstverwaltung

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Kirche: die soziale Gestalt der Christus-Gemeinschaft

4.4.5

Die Kirche in der Kultur der Gesellschaft334

Ich eile zum Abschluss meiner umfangreichen Darstellung der Art und Weise, wie sich die Christus-Gemeinschaft im Medium des Heiligenden Geistes des versöhnenden Waltens Gottes des Schöpfers im Christus Jesus unserem HErrn bewusst wird, das sie wie alle Welt durch Wahrheit zur Freiheit führen will. Ich hatte gezeigt, dass diese Art und Weise – die religiöse Kommunikation des Evangeliums – notwendig der sozialen Gestalt bedarf, die ich in ihrer reformatorischen Form in ihrer Differenz zum römisch-katholischen Selbstverständnis die Form der Kirche nenne. Sie ist von ihrem Ursprung her dazu bestimmt, dem vollendenden Walten Gottes des Heiligenden Geistes in der Geschichte dieser Welt-Raum-Zeit zu dienen: jenem göttlichen Walten, das nach der festen Hoffnung des Christus-Glaubens jenseits des Endes aller Dinge (Immanuel Kant) in Gottes ewig-reichem Leben zur Erfüllung kommt. Mein Zwischentitel signalisiert ein überaus komplexes Thema, das ich im Folgenden nur in den gröbsten Strichen zu umreißen vermag. Gleichwohl erscheint es mir als unumgänglich, weil es im Vorblick auf die Theologische Ethik (STh III) die mögliche bzw. die tatsächliche Rolle der Kirche als der sozialen Gestalt der ChristusGemeinschaft in der Öffentlichkeit ihres jeweiligen Gemeinwesens unter die Lupe nimmt. Natürlich konzentriere ich mich hier auf jene Sicht, die den Impuls der reformatorischen Bewegung in den Lebensverhältnissen der euro-amerikanischen Moderne aufzunehmen sucht. Um diese Sicht begrifflich zu entfalten, setze ich mit der Klärung des Terms Gesellschaft ein.

der Kirche gültig ist. Im Rahmen dieser Rechtsgeschichte der „weltlichen Regierweise“ Gottes ist es dann auch kirchenrechtlich legitim, eklatante Verstöße gegen die „Grundordnung“ eines reformatorisch geprägten Kirchenwesens in einem „Lehrbeanstandungsverfahren“ zu untersuchen und gegebenenfalls mit einer Amtsenthebung zu ahnden. Vgl. hierzu Eilert Herms/René Pahud de Mortanges/Michael Germann, Art. Lehrbeanstandungs-/ Lehrzuchtverfahren: RGG4 5, 195–200; Michael Germann, Art. Lehrverpflichtung/Lehrfreiheit: ebd. 215. 334 Vgl. zum Folgenden bes.: Paul Tillich, STh III, 282–305; Reiner Preul, Kirchentheorie (wie Anm. 83), 268–392; Ders., Die soziale Gestalt des Glaubens (wie Anm. 71), 65–202: Die Kirche als Kommunikationssystem und Bildungsinstitution in der Öffentlichkeit; Peter Haigis, Im Horizont der Zeit. Paul Tillichs Projekt einer Theologie der Kultur, Marburg: Elwert, 1998; Christoph Schwöbel, Glaube und Kultur: NZSTh 38 (1996), 137–154; Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, München: Beck, 1998; Eilert Herms, Kirche in der Gesellschaft (wie Anm. 329; darin bes.: Die Bedeutung der Kirchen für die Ausbildung sozialer Identität in multikulturellen Gesellschaften. Eine systematisch-theologische Betrachtung [253–284]); Konrad Stock, Theorie, 99–125; Martin Honecker, Sozialethische Aspekte des Kirchenverständnisses, jetzt in: Recht in der Kirche des Evangeliums (wie Anm. 329), 299–325; Ders., Grundriß der Sozialethik, Berlin/New York: de Gruyter, 1995, Kap. VII (523–626): Kultur.

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Erstens: Prima vista wäre es verkehrt, unter dem Term Gesellschaft ein soziales bzw. ein kollektives handlungs- und entscheidungsfähiges Subjekt zu verstehen. Vielmehr können wir uns die Bedeutung des Terms Gesellschaft dann und nur dann erschließen, wenn wir von dem Begriff des menschlichen, des leibhaften, des – biblisch gesprochen – geschaffenen Person-Seins ausgehen, wie wir es ursprünglich an uns selbst erleben und erkennen. In der Geschlechtsgemeinschaft unserer Eltern empfangen und gezeugt, sind wir ab ovo als je individuelle Lebewesen bezogen auf und angewiesen auf je andere individuelle Lebewesen der Gattung homo sapiens, mit denen wir im Laufe unserer Lebens- und Entwicklungsgeschichte sprachlich kommunizieren, praktisch kooperieren bzw. interagieren und expressiv demonstrieren können und müssen. Und zwar auf Grund und unter der Bedingung des unmittelbaren Uns-gegenwärtig-Seins, kraft dessen wir von einem frühen Zeitpunkt unseres Lebens an in personaler, selbstbewusster Freiheit – biblisch gesprochen: im Status des Bild-Gottes-Seins – zu existieren haben (s. 2.4.2.1). Um nun das hohe Gut des individuellen Person-Seins in seinen wechselseitigen Beziehungen zu anderem individuellen Person-Sein zu erhalten, zu verteidigen und zu vervollkommnen, hat jede menschliche Gemeinschaft Grundaufgaben zu erfüllen, ohne die ihr Leben und ihr Überleben in ihrer jeweiligen natürlichen Umwelt dieser Erde gar nicht möglich wäre. In freiem Anschluss an die Theorie der „vollkommenen ethischen Formen“ Friedrich Schleiermachers, wie Eilert Herms sie weiterführt, sehe ich diese Grundaufgaben in der wirtschaftlichen Produktion der Lebensmittel im weitesten Sinne des Begriffs; in der politischen Ordnung bzw. in der politischen Sicherung der rechtlichen Regeln der Interaktion; in der Tradierung bzw. in der Erweiterung des Wissens zugunsten der jeweils nächsten Generation; und schließlich in der ethischen Kommunikation, die eine explizite Gewissheit und damit eine Lehre hinsichtlich der Anschauung des endlichen, des ephemeren Lebens in dieser ungeheuren Welt im Werden und Vergehen intendiert und praktiziert. Just diese ethische Kommunikation spielt sich historisch gesehen nicht nur in den mannigfachen Kulten der Religionsgeschichte, sondern auch in den philosophischen Schulen seit Platons Akademie ab.335 Sie ist bestimmt von einer sei es abstrakten sei es konkreten Sicht des unbedingten Ursprungs des menschlichen – biblisch gesprochen: des geschaffenen – Person-Seins, vor dem sich eine menschliche Gemeinschaft schlechthin verantwortlich weiß. Ich verstehe unter dem Term Gesellschaft mithin die unbegrenzt variable Art und Weise, in der eine wie auch immer entstandene und wie auch immer sich

335 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Ethik, 80–131; Eilert Herms, Grundzüge eines theologischen Begriffs sozialer Ordnung, jetzt in: Ders., Gesellschaft gestalten. Beiträge zur evangelischen Sozialethik, Tübingen: Mohr, 1991, 56–94. – Ich darf an dieser Stelle darauf verzichten, diesen Grundaufgaben die Lebensbereiche der Kunst, des Sports bzw. der Unterhaltung sowie die wichtigen Themen des Tierschutzes und des Umweltschutzes zuzuordnen.

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Kirche: die soziale Gestalt der Christus-Gemeinschaft

behauptende menschliche Gemeinschaft diese Grundaufgaben im Medium ihrer Sprache und ihrer geschichtlichen Erinnerung erfüllt. Insofern berührt sich die Bedeutung des Terms Gesellschaft mit der Bedeutung des Terms Kultur.336 Zweitens: Natürlich wirft die desolate Begriffs- und Theoriegeschichte des Terms Kultur die Frage auf, ob nicht der Term Kultur denselben Gegenstandsbereich bezeichne wie der Term Gesellschaft. Diese Frage ist – so scheint mir – zu verneinen. Zwar werden wir den Term Kultur dann und nur dann sachgemäß gebrauchen, wenn wir ihn auf die Lösung jener Grundaufgaben beziehen, die für eine menschliche Gemeinschaft typisch ist, anstatt ihn auf die Sphären der Kunst, der Unterhaltung, des Kampfes und des Spiels zu beschränken; aber die Fächer der Kulturforschung und der Kulturgeschichte machen eine unübersehbare Vielfalt der sozialen Lebensformen oder Lebensstile bewusst, die wir als kulturell geprägt verstehen müssen.337 Diese unübersehbare Vielfalt zeigt sich in der Verschiedenheit der Dialekte und der Sprachen, der Sitten und Gebräuche, der Techniken und handwerklichen Fähigkeiten, der Leistungen des Gedächtnisses sowie der mündlichen bzw. der schriftlichen Medien der privaten und der öffentlichen Kommunikation. Um eine Kultur in ihrer jeweiligen Eigenart zu beschreiben, empfiehlt es sich, sie als ein überindividuelles historisches Individuum zu begreifen, das sich in seiner jeweiligen Natur behaupten muss und das die Mentalität seiner Glieder von Kindesbeinen an beeinflusst. Es prägt die soziale Identität der individuellen Person als kulturelle Identität – es sei denn, die Person setze ihr ethisch motivierten Widerstand entgegen und stoße in einer Bewegung Gleichgesinnter Reform- und Wandlungsprozesse in den bestehenden Kulturen an.338 Entsprechend der Bedeutung des Terms Gesellschaft schließt die Bedeutung des Terms Kultur natürlich auch die unübersehbare Vielfalt religiös-weltanschaulicher Praxis ein, die ihren Mittelpunkt im Kult der jeweiligen Kultur besitzt (s. 4.2.1).

336 Vgl. zum Folgenden: Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1983, bes. 385–471: 8. Kapitel: Der kulturelle Sinngehalt der gesellschaftlichen Institutionen; Frithjof Rodi, Art. Kultur I. Philosophisch: TRE 20, 177–187; Friedrich Wilhelm Graf/Klaus Tanner, Art. Kultur II. Theologiegeschichtlich: ebd. 187–209 (Lit.!); Trutz Rendtorff, Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, 3., durchgesehene Auflage, Tübingen: Mohr Siebeck, 2011, passim; Ders., Vielspältiges. Protestantische Beiträge zur ethischen Kultur, Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer, 1991; Christian Danz, Die Deutung der Religion in der Kultur. Aufgaben und Probleme der Theologie im Zeitalter des religiösen Pluralismus, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2008; Michael Moxter, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 2000. 337 Exemplarisch sei hervorgehoben das Hauptwerk von Jacob Burckhardt, Cultur der Renaissance in Italien, Basel: Schweighauser, 1860. 338 Beispiel: die weltweite feministische Bewegung und ihr Kampf gegen den Sexismus und gegen die Rollen und die Mentalitäten des „Patriarchats“.

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Im Kult – in seinen Zeiten, seinen Räumen, seinen Ritualen – erzählt, begeht und feiert eine menschliche Gemeinschaft diejenige explizite Gewissheit hinsichtlich der Ursprungsmacht, der sie ihr ephemeres Dasein, ihren Schutz und ihr Gedeihen zu verdanken glaubt. Weil und sofern sie solche explizite Gewissheit stillschweigend oder offenkundig miteinander teilt, gründen in ihrem Kult das Ethos und der „Interaktionsstil“ (Eilert Herms) ihres alltäglichen Lebens. Das ist vor allem dann der Fall, wenn die religiös-weltanschauliche Praxis einer Kultur eine Kommunikation erzeugt, welche das Herz, das Gewissen, das fromme Selbstbewusstsein der Person zu prägen sucht. Um nun im Vorblick auf die Theologische Ethik (STh III) die Rolle der Kirche als der sozialen Gestalt der Christus-Gemeinschaft in der Kultur der Gesellschaft hier und heute zu begreifen, gehe ich exemplarisch der Frage nach, in welcher Weise ihre Glieder auf die Öffentlichkeit ihres Gemeinwesens Einfluss nehmen können. Drittens: Kulturtheoretisch gesprochen war die soziale Gestalt der ChristusGemeinschaft in der Kultur des Imperium Romanum der Kult bzw. der Gottesdienst (vgl. Röm 12,2) einer verschwindend kleinen religiösen Minderheit. Sie hat in ihrer nun zweitausendjährigen Geschichte in nahezu allen Kulturen des Erdkreises Fuß gefasst; ja in manchen Kulturen war sie der einzig legitime, der einzig herrschende Kult. Diese Epoche des Christentums ist in den Gesellschaften der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne im Begriff, zu Ende zu gehen. Unter der schwer errungenen verfassungsrechtlichen Garantie des Menschen- und des Grundrechts der Religions- bzw. der Weltanschauungsfreiheit finden sich die konfessionell geprägten Kirchenwesen der Christus-Gemeinschaft nunmehr in Gesellschaften vor, in denen sie mit anderen Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften faktisch koexistieren.339 Nicht nur das: sie finden sich auch konfrontiert mit solchen Trends der öffentlichen bzw. der veröffentlichten Meinung, die aus verschiedenen Gründen und Motiven der religiös-weltanschaulichen Überzeugung allenfalls eine private, keinesfalls jedoch eine sozio-kulturelle Funktion einräumen.340 Wer solche Gründe und Motive geltend macht, ist offenbar der Ansicht, dass die Mitglieder einer kulturell 339 Man halte sich jedoch vor Augen, dass sich die Lage der verschiedenen Kirchengemeinschaften in der nördlichen Hemisphäre signifikant unterscheidet von der Lage der verschiedenen Kirchengemeinschaften in der südlichen Hemisphäre dieser Erde. Vgl. hierzu die Hinweise von Klaus Koschorke, Art. Christentum II. Kirchengeschichtlich 6. Das Christentum außerhalb Europas: RGG4 2, 209–210. 340 Gegen solche Trends in der Religionssoziologie wendet sich das große Werk von Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte der Entzauberung (wie Anm. 74). Dieses Werk findet jetzt seine Fortsetzung in: Hans Joas, Im Bannkreis der Freiheit. Religionstheorie nach Hegel und Nietzsche, Berlin: Suhrkamp, 2020. Es zielt auf die Idee einer „globalgeschichtlichen Genealogie des moralischen Universalismus“ (606). Die Entwicklung dieser Idee ist allerdings nicht

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Kirche: die soziale Gestalt der Christus-Gemeinschaft

geprägten Gesellschaft – das „Volk“ – tatsächlich dazu fähig seien, gemeinsame Entscheidungen über die innere Wohlordnung ihres Gemeinwesens bzw. über dessen Rolle in den internationalen Beziehungen auf eine rein technische bzw. auf eine rein ökonomische Weise zu treffen. Nach dieser Meinung hätte der Bereich der ethischen Kommunikation in ihrer jeweiligen kulturellen Spielart für die Wahl der Ziele und der Zwecke des Gemeinwesens keinen Wert; es sei denn man schöpfe diesen Wert aus dem Repertoire einer allgemein-menschlichen praktischen Vernunft, die bekanntlich zweifelhaft ist. Indem wir uns auf die Funktion der Kirche in der Kultur ihrer jeweiligen Gesellschaft besinnen, bestreiten wir den Wahrheitswert, den diese Trends für sich in Anspruch nehmen. Das sei in der gebotenen Kürze dargelegt. Zum einen: Unter dem Schutz des Menschen- und des Grundrechts der Religionsbzw. der Weltanschauungsfreiheit ist die soziale Institution der ethischen Kommunikation plural verfasst.341 In ihr koexistieren nicht allein die „großen“ Kirchengemeinschaften bzw. die Freikirchen der christlichen Tradition; in ihr koexistieren auch die verschiedenen Strömungen des gegenwärtigen Judentums sowie die Gemeinschaften der Muslime; in ihr koexistieren schließlich die zahlreichen Weltanschauungsgemeinschaften von der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ bis hin zur strikt religionskritischen „Humanistischen Union“. Es ist nicht vorstellbar, dass deren Mitglieder hinsichtlich der großen Lebens- und Überlebensprobleme der Kulturen dieser Erde – also: hinsichtlich der inneren und der äußeren Sicherheit, hinsichtlich der Erhitzung des Klimas dieser Erde, hinsichtlich des Mangels an Nahrung und an ärztlicher Versorgung und schließlich hinsichtlich der Gentechnik – ethisch neutral und isoliert oder gar desinteressiert sein wollen können. Aus diesem Grund gebietet es der Pluralismus der religiös-weltanschaulichen Überzeugungen, Foren des Gesprächs zu bilden, in denen sich die Mitglieder dieser Gemeinschaften über die vorzugswürdigen Ziele ihres jeweiligen Gemeinwesens und über die Wege verständigen können, die zu ihnen führen. Zum andern: Das generelle Thema solcher Gespräche wird die Frage sein, welche Sicht der intrakulturellen und der interkulturellen Wohlordnung des Gemeinwesens dem jeweiligen Bekenntnis der Gesprächsteilnehmer entspricht. Es ist nämlich zu erwarten, dass eine Sicht der Wohlordnung des Gemeinwesens in jener expliziten Gewissheit wurzelt, die eine religiös-weltanschauliche Gemeinschaft konstituiert

vermittelt mit der Beantwortung der Frage, welche Basis bzw. welche reale ethische Kommunikation dafür in Betracht komme. 341 Zur pluralen Verfassung der ethischen Kommunikation als einer sozialen Institution in der Moderne vgl. bes. die Studien von Christoph Schwöbel, Christlicher Glaube im Pluralismus. Studien zu einer Theologie der Kultur, Tübingen: Mohr Siebeck, 2003; Ders., Gott im Gespräch. Theologische Studien zur Gegenwartsdeutung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2011.

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und steuert. Aus diesem Grunde würde es ergiebig sein, wenn die Gesprächsteilnehmer die Gewissheit, die sie trägt und die sie bestimmt, füreinander interpretieren und den genuinen Zusammenhang zwischen ihrem jeweiligen Bekenntnis und ihrer Sicht der Wohlordnung des Gemeinwesens konkretisieren würden. Die Kirche – also: die konfessionell geprägten Sozialgestalten des Christus-Glaubens – wird in solchen Gesprächen für andere verstehbar machen wollen, welche essentials ihrer expliziten Gottesgewissheit ihre Sicht der Wohlordnung des Gemeinwesens sowie das praktische Engagement ihrer Glieder für diese Wohlordnung begründen. In ihren drei Teilen ist es eine der Grundintuitionen der vorliegenden Systematischen Theologie, die Kirche zu dieser dialogischen Funktion in der Kultur ihrer jeweiligen Gesellschaft anzuleiten.342 Zum Dritten: Im Lichte des Begriffs der dialogischen Funktion ist schließlich einzugehen auf die Frage, in welchem Sinn die Kirche als Sozialgestalt des ChristusGlaubens einen Öffentlichkeitsauftrag hat und wie sie ihn gegebenenfalls sachgemäß erfüllt.343 Um eine valide Antwort auf diese Frage zu finden, erinnere ich erneut an die reformatorische Grundeinsicht ins Allgemeine Priestertum. Sie besitzt in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Kultur der Gesellschaft eine erhebliche Bedeutung, wie sie in früheren geschichtlichen Ordnungen der Gemeinwesen noch kaum denkbar und kaum realisierbar war. Um sie zu sehen, achten wir darauf, dass die Glieder der Christus-Gemeinschaft gar nicht anders existieren können als im Ensemble der sozialen Institutionen innerhalb der Normgebung der Verfassung. Diese ihre wohlverstanden weltliche Existenz344 spielt sich unter dem Schutz des jeweils geltenden Rechts in den ver-

342 Sowohl die Fundamentaltheologie des Teils I („Erfahrung und Offenbarung“) als auch die Dogmatik des vorliegenden Teils II („Durch Wahrheit zur Freiheit“) als auch die Theologische Ethik des Teils III („Durch Recht zum Frieden“) sind dieser Aufgabe gewidmet. – Vgl. Eilert Herms, Die Bedeutung der Kirchen für die Ausbildung sozialer Identität in multikulturellen Gesellschaften (wie Anm. 334), 253–284. 343 Vgl. zum Begriff und zum Thema eines „Öffentlichkeitsauftrags“ der Kirche: Wolfgang Huber, Kirche und Öffentlichkeit, München: Kaiser, 2 1991; Martin Honecker, Grundriß der Sozialethik (wie Anm. 334), 627–707: VIII. Kirche in der Gesellschaft; Ders., Art. Öffentlichkeit: TRE 25, 18–26; Reiner Preul, Art. Öffentlichkeit I. II.: RGG4 6, 489–491; Ders., Kirchentheorie (wie Anm. 83), 268–392; Hans-Richard Reuter, Art. Öffentliche Meinung: RGG4 6, 487–489; Ders., Art. Öffentlichkeitsauftrag der Evangelischen Kirche: RGG4 6, 491–493. 344 Ich spiele mit dieser Wendung absichtlich an auf die Grundunterscheidung von Gottes „weltlicher“ Regierweise und Gottes „geistlicher“ Regierweise, wie sie entwickelt wurde von Martin Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523): WA 11; 245–280; vgl. dazu Wilfried Härle, Luthers Zwei-Regimenten-Lehre als Lehre vom Wirken Gottes, jetzt in: Ders., Spurensuche nach Gott (wie Anm. 107), 257–285. Diese auch für das Leben in einer freiheitlichdemokratischen Grundordnung triftige Grundunterscheidung wird m. E. verkannt, wenn man den Christus-Glauben als „Entweltlichung“ charakterisiert, wie Rudolf Bultmann, Theologie des

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Kirche: die soziale Gestalt der Christus-Gemeinschaft

schiedenen Funktionspositionen ab, die in den Organisationen jener sozialen Institutionen zu erreichen sind. Für zahlreiche einfache Positionen mögen einfache Qualifikationen genügen; für höhere und höchste Positionen dagegen – etwa für führende und leitende Positionen in Unternehmen und in Parlamenten, in Universitäten und in Kliniken, in Ministerien, in Gerichten und in Verwaltungen – sind die entsprechend hohen Kompetenzen nachzuweisen. In jedem Falle aber werden die Glieder der ChristusGemeinschaft der Kirche und der Kirchen ihre wohlverstanden weltliche Existenz in den verschiedenen Funktionspositionen im Lichte jenes Ethos leben wollen, das in der tragenden und heilsamen Gottesgewissheit des Christus-Glaubens wurzelt. Ich hatte dieses Ethos in meiner Interpretation der paulinischen Trias in 1Kor 13,13 als das Ethos einer Freiheit durch Wahrheit skizziert (s. 4.3).345 Die freiheitlichdemokratische Grundordnung des Gemeinwesens gewährt allen Gliedern der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen die Chance und das Recht, das Ethos der Freiheit durch Wahrheit in welchen Funktionspositionen auch immer zu praktizieren und zu reflektieren. Gleichwohl liegt in den hochentwickelten Gesellschaften der Moderne die ethisch begründete und ethisch berechtigte Lösung und Entscheidung der gemeinsamen Lebens- und Überlebensprobleme aus vielerlei Gründen keineswegs auf der Hand. Aus diesem Grunde haben die Organisationen der Kirchen der reformatorischen Tradition in Deutschland – die wichtigen Impulse der „Barmer Theologischen Erklärung“ beherzigend – das Instrument der Denkschrift entwickelt. Mit dessen Hilfe wendet sich die Kirchengemeinschaft – geleitet und vertreten von ihrer Repräsentation346 – an die Öffentlichkeit ihres Gemeinwesens. Sie spricht darin nicht etwa als ein Verband, der wie der Deutsche Gewerkschaftsbund bzw. wie der ADAC die Interessen seiner Mitglieder mehr oder weniger lautstark artikuliert; sie

Neuen Testaments, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 4 1961, 427ff., es zur Interpretation der Theologie des Evangeliums nach Johannes tut. 345 Mit der summarischen Formel Freiheit durch Wahrheit beziehe ich mich auch auf Hans Joas, Im Bannkreis der Freiheit (wie Anm. 340), bes. Teil III: Die Suche nach der anderen Freiheit (273–400); im Unterschied zur Begriffsbildung dieses Autors verstehe ich jedoch wie Wolfgang Huber unter dem Begriffswort „Freiheit“ weniger einen „Wert“ als vielmehr jene schöpferische Gabe des geschaffenen Freiheitsgefühls, das zu seiner Bestimmung nicht anders als auf den Wegen bzw. als in den Medien der Erschließung von Wahrheit findet. Dass die dialogische Funktion der Kirche in der Öffentlichkeit ihrer jeweiligen Kultur ein Medium der Erschließung von Wahrheit sein kann bzw. zu sein hat, lässt Joas gänzlich außer Betracht. 346 Vgl. hierzu den interessanten Abschnitt „Die Repräsentation der Kirche“ in: Reiner Preul, Kirchentheorie (wie Anm. 83), 235–241.

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diskutiert darin vielmehr die zur Entscheidung anstehenden Grundprobleme des Gemeinwesens in einem deliberativen Stil, der durchaus auf Diskurse zielt.347 Dieser ihr deliberativer Stil wird sich beweisen müssen in einer genauen Analyse des zu entscheidenden Problems sowie in einer sorgfältigen Darlegung der ethischen Prinzipien, in deren Licht eine Entscheidung wünschenswert und vorzugswürdig ist. Im klaren Unterschied zu einer rein formalen Ethik des Diskurses wird eine kirchliche Denkschrift allerdings unmissverständlich offenlegen, aus welcher inhaltlich bestimmten Anschauung des Lebens leibhaft existierender, endlicher und d. h. geschaffener Freiheitswesen ihre ethischen Prinzipien zu gewinnen sind. Auf diese Weise übt sie ein methodisches Verfahren ein, das nicht zuletzt dem Pluralismus der Lebensstile und der Lebensziele innerhalb der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) Rechnung trägt. 4.4.6

Fazit

Nach reformatorischem Selbstverständnis ist es Gottes Heiligender Geist, der die Christus-Gemeinschaft aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) im Medium der religiösen Kommunikation des Evangeliums konstituiert. Als solche existiert sie allerdings nicht anders denn als eine „Religionsgesellschaft“ (Art. 137 Abs. 3 WRV = Art. 140 GG) individueller, selbstbewusst-freier, leibhafter Personen, die als solche füreinander erfahrbar sind. Während ihre explizite Gottesgewissheit ihr individuelles Selbst, ihr „Herz“, ihr Gewissen, ihre Gesinnung innerlich bestimmt, bedarf das Medium der religiösen Kommunikation des Evangeliums aus guten Gründen einer Ordnung solcher Regeln, unter denen diese explizite Gottesgewissheit menschlich möglich und ermöglicht wird. Ich nenne das Gefüge dieser Regeln im Anschluss an Reiner Preul die „soziale Gestalt der Christus-Gemeinschaft“. Sie wird durch die Beachtung dieser Regeln als geistgewirkte Gemeinschaft organisiert. Was das Verhältnis zwischen dem vollendenden Walten des Heiligenden Geistes und dem Medium der religiösen Kommunikation des Evangeliums in dessen Ordnung durch Organisation betrifft, so haben wir es nach wie vor mit einer tiefen 347 Eine kritische Analyse der Denkschriften der EKD findet sich bei Martin Honecker, Grundriß der Sozialethik (wie Anm. 334), 649–661; vgl. ferner Christian Albrecht, Art. Denkschriften: RGG4 2, 664–666. – Es ist nicht hoch genug zu schätzen, dass ein „Öffentlichkeitsauftrag“ der Kirche, wie er mittels der Denkschriften wahrgenommen wird, de facto nur auf dem Boden einer freiheitlichdemokratischen Grundordnung einer Gesellschaft möglich ist. In Gesellschaften, die wegen ihrer Verfassung bzw. wegen ihrer Mentalität eine autokratische oder gar eine diktatorische Ausübung politischer Herrschaft erleben, ist ein „Öffentlichkeitsauftrag“ der Kirche unvorstellbar. Dass ein „Kirchenkampf “ auch einen „Kampf “ der kirchlich verfassten Christus-Gemeinschaft für die Stabilität einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung einschließt, ist eine bittere Lehre, die das Scheitern der „Weimarer Republik“ des Deutschen Reiches allen Kirchengemeinschaften erteilt.

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Kirche: die soziale Gestalt der Christus-Gemeinschaft

Differenz zwischen der römisch-katholischen und der reformatorischen Sicht der sozialen Gestalt der Christus-Gemeinschaft zu tun: Nach römisch-katholischer Sicht beruhen die Prinzipien der Ordnung der Kommunikation des Evangeliums auf göttlichem Recht; und zwar deshalb, weil das Amt des Bischofs kraft des Sakraments der Weihe das Christus-Geschehen in der jeweiligen Teilkirche repräsentiert. Auch wenn sich die Erkenntnis, die Sprachgestalt sowie die Durchsetzung dieser Prinzipien erst in der jahrhundertelangen Arbeit am kanonischen Recht realisierte, kodifiziert das kanonische Recht eben die sakramentale Grundstruktur der römischen Form der Christus-Gemeinschaft. Das bischöfliche Amt vereint in sich als Amt des Hirten die Vollmacht des Leitens, des Lehrens und des Richtens, auch wenn es sich in allen Angelegenheiten einer Diözesanverwaltung der Mitarbeit kompetenter Laien bedient. Wegen dieser sakramentalen Grundstruktur sagt die römische Form der Christus-Gemeinschaft nach der wichtigen Erklärung der dogmatischen Konstitution „Lumen Gentium“ von sich, dass allein in ihr die eine heilige katholische und apostolische Kirche verwirklicht sei (LG 8,2). Im Gegensatz zu diesem Selbstverständnis sehen die Kirchengemeinschaften, die aus der reformatorischen Bewegung hervorgegangen sind, nur in der religiösen Kommunikation des Evangeliums ein Privileg göttlichen Rechts (vgl. Mt 28,1820). Als solches meint es originär den Auftrag, der mit der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens empfangen wird und den die Sprecher der reformatorischen Bewegung mit der dichten Metapher des Allgemeinen Priestertums bezeichnet hatten. Um dieses Auftrags willen eignet dem kirchlichen Leitungsamt bzw. dem kirchlichen Lehramt allerdings eine unverzichtbare funktionale Bedeutung, die in den unterschiedlichen Formen einer Kirchenordnung nach kirchlichem Recht als menschlichem Recht sorgfältig zu regeln ist. Über dem erwähnten Gegensatz sei gleichwohl nicht vergessen, dass sowohl die römisch-katholische als auch die reformatorische Organisationsform der ChristusGemeinschaft letztlich der „Kirche in der Kultur der Gesellschaft“ zu dienen bestimmt ist. Wer immer kraft der besonderen Mitgliedschaftsregel durch Taufe und Glaube Glied der Christus-Gemeinschaft ist, existiert nämlich alltäglich simultan in den verschiedenen Lebensbereichen, die in den Kulturen der hochentwickelten Gesellschaften der Moderne ihrerseits durch Organisationen strukturiert sind. Im Alltag das je eigenen Leben in der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens selbstverantwortlich zu führen und zu gestalten, ist unser aller „vernünftiger Gottesdienst“ (Röm 12,2). Zu ihm wird eine Theologische Ethik anleiten wollen.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17). Die Hoffnung auf Vollendung in Gottes Ewigkeit348

In der Gemeinschaft aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16), die in der religiösen Kommunikation des Evangeliums in deren kirchlicher Gestalt durch Gottes Heiligenden Geist gestiftet wird, ist die Person in die Gemeinschaft mit dem Christus Jesus selbst aufgenommen. Hier kehrt sie regelmäßig in die Ursprungssituation christlicher Gottesgewissheit ein; hier wird sie ihr radikales Grundvertrauen darauf setzen, dass Gottes Heiligender Geist ihr immer wieder neu die Wahrheit, die zur Freiheit führt, erschließe und sie aus der Verstrickung ins Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids erlöse (Mt 6,13); hier nimmt sie in dem Maße ihrer Gaben und ihrer Fähigkeiten an den wesentlichen Lebensäußerungen ihrer Kirche teil; hier wird sie ihr je individuelles Gesamtleben in der jeweiligen Kultur ihrer Gesellschaft wahrzunehmen suchen in der Selbstverantwortung vor Gott. Ich hatte gezeigt, dass die paulinische Trias 1Kor 13,13 eine treffliche summarische Formel für das Leben in der Freiheit bietet, die durch Wahrheit gebildet wird (s. 4.3). Allerdings: wer der Gnade teilhaftig ist, im Medium der Organisation der Kirche in die Christus-Gemeinschaft aufgenommen zu sein (vgl. 2Kor 6,1.2), ist nach wie vor mit harten und mit härtesten Anfechtungen konfrontiert: Die aufrichtige Erfahrung des Gewissens macht bewusst, wie jemand im Syndrom des „In-derSünde-Seins“ gefangen ist; im Erleben des Leids der ökonomischen Ausbeutung und der sozio-politischen Unterdrückung droht Gottes unbedingter Heils-Sinn mit uns Menschen allen verdunkelt und verdüstert zu werden; in der wahrhaftigen Erinnerung der Wege der Christenheit muss auch die Schuldgeschichte zumal der europäischen Christentümer festgehalten werden, wie sie die langzeitige Epoche des Antijudaismus, des Kolonialismus und des Imperialismus demonstriert; und schließlich ist es die Erfahrung des Sterbens und der Todesangst, die auch die Glie-

348 Vgl. zum Folgenden bes.: Friedrich Schleiermacher, CG2 , §§ 157–163 (II, 408–440 [KGA I.13,2, 456–493]); Paul Althaus, Die letzten Dinge. Lehrbuch der Eschatologie, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 8 1961; Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik. 2. Band (wie Anm. 46), XI. Abschnitt: Das Reich Gottes als die Zukunft der Welt (718–759); Paul Tillich, STh III, Fünfter Teil: Die Geschichte und das Reich Gottes (339–477); Karl Barth, KD IV/3,2, 1035–1083; Gerhard Ebeling, Dogmatik III, Kapitel 11: Die Überwindung und Vollendung der Welt (385–471); Wolfhart Pannenberg, STh III, 15. Kapitel: Die Vollendung der Schöpfung im Reiche Gottes (569–694); Konrad Stock (Hg.), Die Zukunft der Erlösung. Zur neueren Diskussion um die Eschatologie, Gütersloh: Kaiser, Gütersloher Verlagshaus, 1994 (VWGTh; 7); Ders., Einleitung, 257–285; Jürgen Moltmann, Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, 1995; Eilert Herms, STh (Bd. 1), 1059–1168; Gerhard Sauter, Einführung in die Eschatologie, Darmstadt: WBG, 1995; Wilfried Härle, Dogmatik5 , 603–649.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

der der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen schaudernd Ausschau halten lässt nach glaubwürdigem Trost. In dem je eigenen Schuldig-Werden, in dem Bewusstsein des unsagbaren Leids der ökonomischen Ausbeutung und der sozio-politischen Unterdrückung und in den Krankheiten des Leibes und der Seele zum Tod ereignet sich die Anfechtung, die die Gottesgewissheit des Christus-Glaubens wie ein Schatten begleitet. Sie treibt die quälende Frage hervor, ob denn die eigene Lebensgeschichte im Ganzen des Geschehens dieser Welt trotz mancher Erlebnisse der Liebe, der Freude, des Rechten und des Guten nicht objektiv sinnlos sei (Theodor Lessing). Kein anderer Autor der Moderne hat so scharf wie Samuel Beckett auf diese Frage in seinem Werk mit dem Entwurf einer ebenso trostlosen wie gottverlassenen Welt reagiert. Dieser Entwurf bringt ein Verstummen zur Sprache. Indem wir die Erfahrungen des Schuldig-Werdens, des Unrechts, der Krankheit und des Sterben-Müssens als Anfechtung verstehen, nehmen wir sie als Erfahrungen innerhalb bzw. im Lichte der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens ernst. Anstatt zu verstummen, suchen wir nach jener Hoffnung, die uns diese Erfahrungen in Geduld erleiden lässt (vgl. Röm 8,18ff). Worin hat diese Hoffnung ihren Grund? Was genau erhofft sie, wenn wir sie als Hoffnung auf Vollendung unserer Lebensgeschichte hegen; und zwar auf die Vollendung jenseits des Todes und durch den Tod hindurch? Und wie ist diese Hoffnung denen, „die keine Hoffnung haben“ (1Thess 4,13), verstehbar nahezubringen? Mit diesen Fragen mache ich aufmerksam auf das Gewicht der systematischen Betrachtung, welche die eschatologische Perspektive der christlichen Gottesgewissheit zu erschließen hat.349 Ich setze sachgemäßer Weise damit ein, die Frage nach dem Grund jener Hoffnungsgewissheit aufzuwerfen, die sich auf ein eschatisches Geschehen jenseits des Todes und durch den Tod hindurch bzw. jenseits des Endes dieses Universums erstreckt. Ich werde diese Frage im Rückblick auf meine Darstellung der „Ausgießung des Heiligenden Geistes“ (s. 4.1) damit beantworten, dass ich an das Entstehen und Bestehen der singulären Gottesgewissheit des Christus-Glaubens erinnere (4.5.1). In einem zweiten Schritt entwickle ich sodann die Intention der christlichen Hoffnungssprache, mit Hilfe der verschiedenen eschatologischen Metaphern, Bilder und Symbole Gottes zukünftige Ewigkeit zu bezeichnen. Mit dem Gedanken der zukünftigen Ewigkeit des göttlichen Wesens antwortet christliche Gotteserkenntnis auf die naheliegende Frage, ob eschatisches Geschehen überhaupt realiter möglich und deshalb wirklich sein könne. Sie knüpft dafür ans Offenbar-Werden der ursprünglichen Wahl der Gnade an, das Gottes schöpferisches Walten und Gottes

349 Ich unterscheide hier und im Folgenden zwischen den eschatologischen Bildern, Aussagen bzw. Lehrbildungen als solchen und deren Referenz, für die ich den Ausdruck eschatisch verwende.

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versöhnendes Walten zusammenschließt (s. o. S. 161–178). Sie – die christliche Gotteserkenntnis – wird daher die Idee des Höchsten Gutes zum sachgemäßen Verstehen der eschatologischen Sprache ihrer biblischen Quellen und ihrer Wirkungsgeschichte nutzen. Sie bezeichnet jene Brücke, welche das jenseitige bzw. das eschatische Verwirklicht-Sein mit den stets fehlbaren und fragmentarischen diesseitigen bzw. innergeschichtlichen Anfängen der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott selbst verbindet (4.5.2).350 In einem dritten Schritt wende ich mich dem Phänomen des Todes zu. Wenn ich vom Phänomen des Todes spreche, so mache ich auch hier Gebrauch von jenem Grundverständnis von „Phänomenologie“, das ich als eine inhaltlich bestimmte Sicht des Sinnes von Sein auffasse. Verwurzelt im Verstehen des Todes in der jüdischen JHWH-Gemeinschaft (vgl. Röm 11,17f.), betrachtet auch die ChristusGemeinschaft der Kirche den Tod als Übergang in Gottes zukünftige Ewigkeit, welche das einheitliche Woraufhin alles diesseitigen bzw. alles irdischen Geschehens ist (5.4.3). Schließlich werde ich unter dem Zwischentitel „Die Parusie des Christus Jesus in Herrlichkeit“ die verschiedenen Aspekte des eschatischen Geschehens der Welt zu erschließen suchen, die das Bekenntnis des christlich-frommen Selbstbewusstseins formuliert. Sie gehen von der Einsicht aus, dass das Höchste Gut des diesseitigen, des irdischen, des innergeschichtlichen Lebens in selbstbewusst-freier Willensgemeinschaft mit Gott selbst in Gottes zukünftiger Ewigkeit verwirklicht, bewahrt, gerettet und verwandelt werde. Diese Einsicht setzt die notwendige Kritik an den Tendenzen eschatologischer Erwartungen in der Geschichte des Christentums voraus, die das eschatische Geschehen mit einer sei es nahen sei es fernen Endgeschichte vermischen und verwechseln, anstatt es ebenso nüchtern wie radikal als das Geschehen jenseits des Todes bzw. jenseits des Endes dieses Universums zu begreifen. Ausdrücklich sei vorweggesagt, dass diese notwendige Kritik sich gegen alle Formen der frühchristlichen Erwartung einer „Wiederkunft“ des Christus Jesus richtet. Sie wurde aus gutem Grund enttäuscht. Es gibt den ewigen „Tag des HErrn“ (vgl. Mi 4,1; Röm 13,12) nicht anders als in Gottes zukünftiger Ewigkeit (4.5.4).351 350 Vgl. hierzu bes. Eilert Herms, Reich Gottes und menschliches Handeln, jetzt in: Ders., Menschsein im Werden. Studien zu Schleiermacher, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 2003, 101–124; Ders., Das Wirklich-Werden des Guten. Das Kommen des Reiches Gottes. Zum Verhältnis von Güterlehre und ontologischem Fundament der Ethik, in: Wilfried Härle und Reiner Preul (Hg.), Reich Gottes, Marburg: Elwert, 1999 (MJTh; XI), 85–102. 351 Vgl. hierzu Paul Althaus, Die letzten Dinge (wie Anm. 348), bes. 250–255; 256–318. – Die Darstellung von Althaus ist nach wie vor bedeutsam, weil sie das Thema einer Eschatologie des ChristusGlaubens konsequent als das „von Gott her zu erwartende Telos“ (1) bestimmt und von diesem Grundgedanken aus das Missverständnis der Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens in den verschiedenen Varianten des Chiliasmus bzw. des Biblizismus einer durchschlagenden Kritik unterzieht. Letztlich liegt diesem Missverständnis das hermeneutische Unvermögen zugrunde, die

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

4.5.1

Das Christus-Geschehen als Grund der Hoffnung des Christus-Glaubens352

Die christliche Gottesgewissheit – der Christus-Glaube bzw. das christlich–fromme Selbstbewusstsein – schließt als das individuelle Inne-Sein der Wahrheit, die zur Freiheit führt, die Hoffnung auf diejenige Vollendung bzw. auf diejenige Ganzheit des Lebens ein, die jenseits des Todes und durch den Tod hindurch verwirklicht werden wird. Sie wird schon in den Offenbarungszeugnissen der Heiligen Schrift in Sprach- und Denkformen ausgedrückt, die sich nur mühsam decodieren bzw. interpretieren lassen. Um deren unverwechselbare Eigenart zu sehen, empfiehlt es sich, sie als besonderen Fall im unüberschaubaren Spektrum „jenseitiger“ Überzeugungen in der Geschichte der Religionskulturen zu beschreiben. In ihren Kulten, die das jeweilige Gründungsgeschehen einer Kultur als die Erscheinung eines Numens bzw. eines gottheitlichen Wesens feiern, wird ein als real gedachter „Existenzbereich“ (Manfred Hutter) vorgestellt, der als der jenseitige Raum der Toten in dauernder Beziehung zur jeweiligen diesseitigen Lebenswelt der Lebenden steht. Je mehr in den sog. „theistischen“ Religionen das erscheinende Numen bzw. das erscheinende gottheitliche Wesen kraft seines Namens personale Qualitäten trägt, wird der jenseitige Raum der Toten als ein Forum der Prüfung und des Gerichts angeschaut, vor dem die Lebensgeschichte der Toten zu verantworten ist. Beide hier exemplarisch erwähnten Typen „jenseitiger“ Überzeugungen lassen uns erkennen, dass und in welcher Weise der jenseitige Existenzbereich in das je gegenwärtige Kontinuum des Seienden gehört. Eine erlösende, erfüllende, vollendende Bewandtnis scheint ihm nicht zugesprochen zu werden.353 Anders verhält es sich mit den Überzeugungen, die sich in der Religionskultur des antiken Judentums – in der jüdischen JHWH-Gemeinschaft namentlich seit dem Ende des Exils etwa um 520 v. Chr. – gebildet hatten. In ihnen kommt ein GottVerstehen zur Sprache, welches die „jenseitigen“ Erwartungen der Religionskulturen des Alten Orients in mehrfacher Hinsicht konkretisiert. Zum einen deshalb, weil sich in der Prophetie „Deuterojesajas“ das Wesen JHWHs als des einzigen schöpferischen Grundes und Ursprungs offenbart: nicht etwa nur

eschatologische Perspektive des biblischen Offenbarungszeugnisses sachkritisch freizulegen. – Vgl. hierzu auch Christopher Rowland/Hartmut Rosenau, Art. Parusie II. III.: RGG4 6, 962–966. 352 Vgl. hierzu o. 4.3.3. 353 Vgl. hierzu bes. Hans-Joachim Klimkeit (Hg.), Tod und Jenseits im Glauben der Völker, Wiesbaden: Harrassowitz, 1978; Karl Hoheisel, Art. Jenseits (HRWG 3, 1993, 318–326); Jan Assmann, Tod und Jenseits im alten Ägypten, München: Beck, 2001; Manfred Hutter/Bernd Janowski/Gerold Necker/Mareile Haase/Hartmut Rosenau/Ulrich Rudolph/Christoph Kleine/Ulrich Kuder, Art. Jenseitsvorstellungen: RGG4 4, 404–413.

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der jüdischen JHWH-Gemeinschaft, sondern auch der Gemeinschaft der Völker und d. h. der Welt des Menschen. Zum andern deshalb, weil dies Gott-Verstehen den jenseitigen Existenzbereich im Sinne eines Dauerns des schöpferischen Gottesverhältnisses erfassen lässt (vgl. Ps 16,10f.; 49,13-16; 73, 23-26; Hi 19,25f.). Zum Dritten deshalb, weil dies Gott-Verstehen die eschatologische Hoffnung auf das Verwirklicht-Sein des schlechthin Guten, Heilen und Gerechten evoziert, wie das semantische Feld des König-Seins des göttlichen Wesens dies intendiert (vgl. bes. Ex 15,18; Ps 10,16; 29,10; 47,8; Sach 14,9; 1Tim 1,17; 6,15). Es schärft die ethische Funktion des religiösen Bewusstseins ein, die in der sittlichen Ambivalenz des Guten und des Bösen zu Tage tritt und die aus diesem Grunde nach der Überwindung dieser Ambivalenz Ausschau hält. Namentlich dieser dritte Aspekt markiert das religionsgeschichtliche Novum des jüdischen JHWH-Verstehens. Es macht ein Hoffen-Können möglich, das einem für das gegenwärtige Leben noch ausstehenden, noch kommenden und d. h. noch zukünftigen göttlichen Walten entgegenwartet: Ein Hoffen-Können, das sich auf den Zeitraum „ewiger Gnade“ (Jes 54,8) bzw. auf den „Bund meines Friedens“ (Jes 54,10) richtet. Mit diesen Bestimmungen meint die Prophetie „Deuterojesajas“ offensichtlich die durchaus diesseitige Geschichts-Raumzeit, welcher die Überwindung des Syndroms von erlittenem Leid und verschuldetem Leid von Generation zu Generation zu verdanken ist. Ob – und wenn ja, in welcher Weise – das göttliche Wesen diese diesseitige Geschichts-Raumzeit endgültigen Gut-, Heil- und Gerecht-Seins der Person konstituieren und verwirklichen wird: das bleibt im Pluralismus der jüdischen JHWH-Gemeinschaft offen. Das Offenbarungszeugnis des Neuen Testaments, das die Verkündigungsgespräche der primären Offenbarungszeugen schriftlich überliefert, bewegt sich im Horizont dieses Gott-Verstehens und der in ihm begründeten Hoffnungsgewissheit. Es lässt gleichwohl eine kritische Differenz erkennen, die über kurz oder lang die schwierigen und schmerzlichen Trennungsprozesse zwischen den pluralen Trends der jüdischen JHWH-Gemeinschaft und den entstehenden ChristusGemeinschaften des 1. und des 2. Jahrhunderts hervorgerufen hat. Diese Differenz entzündete sich am Christus-Geschehen (s. 3.6). Unter dem Term Christus-Geschehen verstehe ich die Ereignisse des Dritten Tages, die ihren Empfängern Sinn und Bedeutung des Lebenszeugnisses Jesu von Nazareth bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha durch Gottes Heiligenden Geist evident werden lassen. Wenn die Empfänger der Ereignisse des Dritten Tages in ihrer jeweiligen Mission das Christus-Geschehen kerygmatisch und didaktisch bezeugen und in der Liturgie der Gottesdienste feiern, so sehen sie in ihm das Erfüllt-Werden jener Hoffnungsgewissheit, die im Gott-Verstehen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft wurzelt:

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

„Denn der Sohn Gottes, Jesus Christus, der durch mich bei euch verkündigt worden ist – durch mich, Silvanus und Timotheus –, er hat sich nicht als Ja und Nein zugleich erwiesen, sondern das Ja ist in ihm Wirklichkeit geworden. Denn sämtliche Verheißungen Gottes sind in ihm zum Ja geworden. Deshalb erhält durch ihn auch das Amen seine Kraft, das wir Gott zum Preise sprechen.“ (2Kor 1,19-20 [Übersetzung Ulrich Wilckens]).

„Sämtliche Verheißungen Gottes“, wie sie ganz exemplarisch in der Prophetie „Deuterojesajas“ als die Verheißungen des schöpferischen Grundes und Ursprungs leibhaften Person-Seins in diesem ungeheuren Universum für uns als Glied der Welt des Menschen offenbar geworden sind, sind nach der tiefen Einsicht des Apostels Paulus im Christus-Geschehen – und nur im Christus-Geschehen – „schon jetzt“ erfüllt und d. h. „Wirklichkeit geworden“. Sie sind im Christus-Geschehen „schon jetzt“ erfüllt und d. h. „Wirklichkeit geworden“, weil es in seinem harten Kern Jesu selbstbewusst-freie Hingabe an Gottes des Schöpfers Versöhnungs-Wollen und -Walten ist. Mit Friedrich Schleiermacher gesprochen: sie sind „Wirklichkeit geworden“, insofern „das Sein Gottes in dem Erlöser … als seine innerste Grundkraft gesetzt (ist) …“.354 Darum: In Gottes des Schöpfers Versöhnungswollen und -Walten, dem Jesu selbstbewusst-freie Hingabe dient, wird nichts Geringeres wirklich als die Bestimmung, die dem geschaffenen, dem leibhaften Person-Sein der Gattung homo sapiens gewährt ist. Wird diese Bestimmung im Christus-Geschehen wirklich, so eignet dem Christus-Geschehen und nur ihm jene urbildliche Bewandtnis, welche die eschatologischen Hoffnungen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft noch nicht zu sehen und zu verstehen vermochten (vgl. 2Kor 3,12-16).355 Will man für diesen Sachverhalt den Ausdruck „eschatologisches Ereignis“ verwenden, so muss man ihn beziehen auf das Wirklich-Sein und Wirklich-Werden der Bestimmung des

354 Friedrich Schleiermacher, CG2 § 96,3 (II, 57 [KGA I.13,2, 69]). 355 Will sagen: Auch wenn die nachexilische Prophetie des Tanakh der jüdischen JHWH-Gemeinschaft die neue Bestimmtheit des personalen Selbstbewusstseins als die notwendige und zugleich hinreichende Bedingung eines Lebens in der Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wesen als ein eschatisches Geschehen in der durchaus diesseitigen Geschichts-Raumzeit erwartet (Jer 31,31-34; Ez 39,26-27; Ps 51,12-14), vermag sie doch nicht vorherzusehen, in welcher Weise diese Bedingung wirklich und wirksam wird. Deshalb hält die christliche Gottesgewissheit kraft ihrer Konstitution durch Gottes Heiligenden Geist an ihr fest als an ihrem Verheißen-Sein. – Als das Symptom dieses Noch-nicht-verstehen-Könnens wird christliche Eschatologie die „messianischen Ideen“ im antiken Judentum unter der unerträglichen Fremdherrschaft des römischen Imperiums werten, die immer wieder zu desaströsen militärischen Erhebungen – zuletzt zur Erhebung des Simon BarKochba 132–135 – motivierten. Vgl. hierzu Benjamin Uffenheimer, Art. Eschatologie III. Judentum: TRE 10, 264–27; 269: „Es geht im Judentum nicht um ein imaginäres, abstraktes, nur himmlisches oder nur universales Endgeschehen, sondern um die Erfüllung der biblischen (verstehe: der innergeschichtlichen) Verheißungen an Israel und die Völker.“

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„Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin.“ (Röm 8,24)

Menschen, das eben nur im Christus-Geschehen urbildlich wirksam ist.356 Es bildet die Gemeinschaft des „In Christus-Seins“ in dieser diesseitigen bzw. in dieser irdischen Geschichtsraumzeit. Wie in der „Einführung“ zum Kapitel 4 gezeigt, beschreibt das reformatorische Grundverständnis das Christ-Sein konsequent als das „Durch-Gottes-Geistin-Christus-Sein“ (s. o. S. 527–531). Es geht von der Gewissheit aus, dass die Bestimmung des geschaffenen Person-Seins zur selbstbewusst-freien Hingabe an Gottes des Schöpfers Versöhnungs-Wollen und -Walten im Christus-Geschehen wirklich ist und wirksam ist; wird sie in anderen – d. h. in uns – wirklich und wirksam, so wird sie kraft des Christus-Geschehens in der religiösen Kommunikation des Evangeliums durch Gottes Heiligenden Geist gegeben und empfangen. Diesen Sachverhalt sucht Martin Luther mit der Figur des Extra se plausibel zu machen.357 Da dem gemäß der christlichen Gottesgewissheit so ist: wie ist es zu erklären, dass die Gottesgewissheit des Christus-Glaubens in der Christus-Gemeinschaft der Kirche aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) ganz wesentlich ein Hoffen einschließt? Und da die christliche Gottesgewissheit – das „Durch-Gottes-Geistin-Christus-Sein“ der Person – zuallererst im radikalen Grundvertrauen auf des dreieinen Gottes Heils-Sinn rettend und befreiend wirksam wird (vgl. Röm 5,9; 10,9; 1Kor 1,18; 15,2): wieso hat sie – die christliche Gottesgewissheit – noch etwas zu erwarten, zu erhoffen, zu ersehnen, zu erseufzen (vgl. Röm 8,19.23ff.), was das im gegenwärtigen Hier und Jetzt des Lebens schon wirksame Bewusstsein des „Friedens mit Gott“ (Röm 5,1) zu überbieten scheint? Auf diese Fragen hält die Gottesgewissheit des Christus-Glaubens wegen ihres Gegenstandes nicht etwa nur eine negative, sondern vor allem auch eine positive Antwort bereit (s. 4.3.3).

356 Vgl. Andreas Lindemann, Art. Eschatologie III. Neues Testament: RGG4 2, 1553–1560; 1555. – Das problematische Fachwort „präsentische Eschatologie“ bezieht sich recht verstanden ausdrücklich auf diesen Sachverhalt. – Zu Rudolf Bultmanns „existentialer Interpretation“ der Eschatologie des neutestamentlichen Offenbarungszeugnisses s. u. S. 740 Anm. 364. 357 Vgl. Karl-Heinz zur Mühlen, Nos extra nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik, Tübingen: Mohr Siebeck, 1972 (BHTh; 46). – Man beachte: Mit der sprachlichen und gedanklichen Figur des Extra se wird nicht behauptet, dass das Gerecht-Sein bzw. das Heilig-Sein der Person in ihrer diesseitigen bzw. in ihrer irdischen Lebensgeschichte nur äußerlich angerechnet bzw. nur äußerlich zugesprochen bleibt (wie ein sog. „forensisches“ Missverständnis der reformatorischen Lehre von der Gerechtigkeit bzw. von der Heiligkeit des Christus-Glaubens unterstellt [so das Konzil von Trient; vgl. DH 1561]); vielmehr ist es die wohlverstandene Intention dieser Figur, das Gerecht-Sein bzw. das Heilig-Sein der Person – das sich als Leben in der selbstbewusst-freien Hingabe an Gottes des Schöpfers Bestimmung des geschaffenen Person-Seins konkretisiert – als Leben im Empfangen der geistgewirkten Teilhabe am Christus-Geschehen einzuschärfen (also im Sinne des korrekten Verständnisses der reformatorischen Beschreibung der Gerechtigkeit bzw. der Heiligkeit des Christus-Glaubens als effektiv). – S. 4.3.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

Zum einen: Der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens ist es sehr wohl bewusst, dass das Leben im Empfangen des Christus-Geschehens keineswegs immun ist gegenüber den Übeln vielerlei Gefahren, Leiden, Verfehlungen und Verhängnissen. Solche Übel widerfahren uns nicht etwa nur in den jeweils individuellen Versuchungen und Entscheidungen des Schuldig-Werdens; sie widerfahren uns nicht etwa nur in den je individuellen Krankheitsgeschichten. Sie widerfahren uns vielmehr auch in der Gewaltbereitschaft und in der Gewaltgeschichte der kollektiven Subjekte mit ihren langzeitig ruinösen Folgen für die Ordnung der entstehenden Weltgesellschaft; und schließlich widerfahren sie uns, indem uns die nichtenden und die vernichtenden Potenzen des evolutiven Prozesses des ungeheuren Universums überwältigen, der durch Vergehen, Sterben und Verwesen hindurch dem sog. Wärmetod entgegentreibt. Der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens ist ihr Gegenstand – das Christus-Geschehen als das Urbild eines der schöpferischen Bestimmung des Ebenbildes Gottes entsprechenden Lebens – nur in angefochtener Weise und d. h. nur in „Furcht und Zittern“ (Phil 2,12; vgl. Eph 6,5) gegenwärtig.358 Im zentralen christlichen Gebet des Vaterunser hat die Bitte: „Erlöse uns von dem Bösen“ (Mt 6,13) ihren genuinen Platz.359 Zum andern aber: In dieser vielfach angefochtenen Weise ist der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens wegen ihres Inhalts bzw. wegen ihres Woran allerdings auch der hohe Auftrag erschlossen, der ihr in dieser diesseitigen bzw. in dieser irdischen Geschichts-Raumzeit gegeben ist. Er ist im Kreise der Apostel als der primären Empfänger des endgültigen Offenbar-Werdens des göttlichen Versöhnungs-Wollens und -Waltens exemplarisch übernommen worden. Ihr „Dienst der Versöhnung“ (2Kor 5,18) – in der ergreifenden Schluss-Szene des Evangeliums nach Matthäus feierlich angeordnet (Mt 28,18-20) – ist dazu bestimmt, die notwendigen Bedingungen beizutragen, unter denen Gottes Heiligender Geist von Generation zu Generation und von Kultur zu Kultur ausgegossen und empfangen wird (s. 4.1). Zwischen den Ereignissen des Dritten Tages und jenem unvorstellbar eschatischen Geschehen jenseits des Todes und durch den Tod hindurch ist es die faktisch notwendige Sendung der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16), das Versöhnungs-Wollen und -Walten zu bezeugen, kraft dessen Gott der schöpferische Grund und Ursprung des All des Seienden die Vollendung des geschaffenen Person-Seins wirklich werden lässt. Wenn das Evangelium

358 Vgl. Søren Kierkegaard, Furcht und Zittern, in: Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode u. a. Unter Mitwirkung von Niels Thulstrup und der Kopenhagener Kierkegaard-Gesellschaft hg. von Hermann Diem und Walter Rest, Köln und Olten: Bei Jakob Hegner, 2 1968, 179–326. 359 Indem eine christliche Gemeinde in ihrem Gottesdienst das Vaterunser als das Gebet des HErrn betet, spricht sie wie die jüdische JHWH-Gemeinschaft in den verheerenden und verhängnisvollen Leiden dieser Zeit die tiefe Sehnsucht nach der Überwindung des Nichtigen und des Vernichtenden aus.

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nach Johannes den Christus Jesus die Schar der Seinen „in die Welt“ senden lässt, so sieht es diese Sendung als die notwendige Folge der Sendung des Gesandten an (vgl. Joh 3,17; 4,34; 5,24; 13,16; 17,18; 20,21). Die Art und Weise, in der die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen in ihren jeweiligen Sozialgestalten seit den Missionen des Kreises der Apostel den „Dienst der Versöhnung“ (2Kor 5,18) „bis ans Ende der Erde“ (Apg 1,8) praktizierte und praktiziert, hat in der Kirchengeschichtsschreibung, in der Missionstheologie und in der Missionswissenschaft seit der Weltmissionskonferenz zu Edinburgh 1910 berechtigte und drastische Kritik gefunden.360 Es ist gleichwohl eine bemerkenswerte Tatsache, dass der notwendige Verzicht auf den Enthusiasmus der frühesten Naherwartung (vgl. 1Thess 4,13-18) enorme Energien entbunden hat und noch entbindet, die Institution Religion in den Kulturen der Gesellschaft mit der Verkündigung des Evangeliums zu prägen. Weil das, was Gegenstand und Grund der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens ist, in aller Geschichte Einfluss nimmt auf die Institution Religion, entfaltet das System der religiösen Kommunikation des Evangeliums seine ebenso geschichtswirksame wie kritische Kraft. Zwar gehen die realen Kirchengemeinschaften recht verschiedene – um nicht zu sagen: gegensätzliche – Wege der Evangelisation und der Mission; doch ihre einheitliche Aufgabe besteht – jedenfalls in reformatorischer Perspektive gesehen – darin, das apostolische Zeugnis für die Wahrheit des Versöhnungs-Wollens und -Waltens Gottes des Schöpfers im vernünftigen Gespräch mit Menschen fremder Religionskulturen hier und heute klar und unverkürzt darzulegen. Nämlich im hoffenden Vertrauen auf die Kraft des Heiligenden Geistes, welche das Herz, das Gewissen, das Innerste des Selbstbewusstseins der Person „in alle Wahrheit leiten“ wird (Joh 16,13). Nun ist es in der christlichen Gottesgewissheit zu erleben, dass die Bewährung, die der Heiligende Geist der Auslegung bzw. der Übertragung des apostolischen Zeugnisses hier und heute im Innersten des personalen Selbstbewusstseins schenkt, die Freiheit des Gewissens der Person hervorruft. Deshalb kommt der Auslegung bzw. der Übertragung des apostolischen Zeugnisses hier und heute unter den Bedingungen der entstehenden Weltgesellschaft wegen dessen befreienden Charakters, der der Kraft des Heiligenden Geistes zu verdanken ist, eine menschheitsgeschichtliche Bedeutung zu.361

360 Vgl. hierzu Georg F. Vicedom, Missio Dei. Einführung in eine Theologie der Mission, München: Chr. Kaiser Verlag, 1958; Hans Joachim Margull (Hg.), Mission als Strukturprinzip, Genf: Ökumenischer Rat der Kirchen, 3 1968; Werner Ustorf/Teotonio R. de Souza/Ogbu Kalu, Art. Missionsgeschichte/ Missionsgeschichtsschreibung I.–III.: RGG4 5, 1304–1310. 361 Vgl. hierzu Eilert Herms, Einheit der Christen in der Gemeinschaft der Kirchen. Die ökumenische Bewegung der römischen Kirche im Lichte der reformatorischen Theologie. Antwort auf den

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

Diese ihre Bedeutung sehe ich darin, dass das je gegenwärtige Ereignis des Offenbar-Werdens der göttlichen Wahrheit die Kulturen der jeweiligen Gesellschaft dazu fähig macht und dazu motiviert, die nach wie vor herrschenden „Prozessmuster der Gewalt“ (Ernst-Otto Czempiel) als eine entsetzliche Erscheinung des „In-der-Sünde-Seins“ zu begrenzen und hoffentlich in the long run durch Institutionen des Völkerrechts zu überwinden.362 In ihrer Ausrichtung auf dieses Ziel in der diesseitigen bzw. in der irdischen Geschichts-Raumzeit ist es die Sache der realen Kirchengemeinschaften in ihrer jeweiligen Sozialgestalt, sich selbst als Glied des ethischen Volkes Gottes – d. h. genau: als Glied all derer, die in selbstbewusstfreier Weise dem In-Gemeinschaft-sein-Wollen Gottes zu entsprechen suchen – zu verstehen.363 Aus alledem folgt: Das Thema einer systematischen Eschatologie im Ganzen der dogmatischen ebenso wie der ethischen Besinnung ist die Wahrheitsgewissheit des Christus-Glaubens, die als solche stets Hoffnungsgewissheit ist. Indem sich die dogmatische ebenso wie die ethische Besinnung auf die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens in der jeweils jetzigen Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) bezieht, vermag sie die religiöse Kommunikation des Evangeliums in folgender Weise zu orientieren: Erstens: Als Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens hat die christliche Hoffnung ihren Grund im Walten des Heiligenden Geistes (s. 4.1). Indem Gottes Hei-

Rahner-Plan, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1984 (KK; 24), 125ff.: Die menschheitsgeschichtliche Funktion der Kirche; Wolfhart Pannenberg, STh III, 523–538. 362 Eine der interessantesten Anregungen hierzu bietet Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795), jetzt in: W VI, 191–251. Kant hat in diesem Essay allerdings noch nicht die Notwendigkeit eines international anerkannten Gerichtshofs für die souveränen Subjekte des Völkerrechts gesehen. 363 Mit dem Term „ethisches Volk Gottes“ greife ich natürlich das Selbstverständnis der jüdischen JHWH-Gemeinschaft auf, als das Volk JHWHs auf die von JHWH gegebene Ordnung der Tora verpflichtet und deshalb zum Heiligen Volk berufen zu sein (vgl. Ex 19,4-6; Dtn 7; Lev 17–26), welches Selbstverständnis auch die Unterscheidung zwischen dem sozialen Verband „Israel“ und der Bestimmung eines Volkes JHWHs einschließt (vgl. Ps 1,6; Sach 13,1-7). Im Anschluss an die prophetische Erwartung der endzeitlichen Restitution des Volkes JHWHs (Ez 37; Sach 2,15; Ps 22,28; Jes 19,25) rechnet der Apostel Paulus die sog. „Völker“ dem Volk JHWHs zu (2Kor 6,14ff.), ohne damit die Berufung „Israels“ zum Volk JHWHs in Frage zu stellen (Röm 9–11). Der von Immanuel Kant geprägte Term „ethisches Volk Gottes“ bzw. Volk Gottes „unter ethischen Gesetzen“ (Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [W IV, 645–879], 757ff.) ist hochbedeutsam, weil er der Nationalisierung bzw. der Indigenisierung der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen in einer „Völkischen Theologie“ bzw. in einem konfessionellen „EthnoChristentum“ einen Riegel vorschiebt. Vgl. hierzu Friedrich Wilhelm Graf, Art. Volk/Volkstum IV. Dogmatisch, ethisch: RGG4 8, 1149–1150; Jan Christian Gertz, Art. Volk Gottes: ebd. 1152–1153. – Vgl. hierzu Konrad Stock, STh III.

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ligender Geist den „Dienst der Versöhnung“ (2Kor 5,18) in jeder sachgemäßen bzw. in jeder unverkürzten religiösen Kommunikation des Evangeliums dem Herzen und Gewissen der Person als wahr erschließt, wirkt er die Freude und den Frieden der Gewissheit des Mit-Gott-Versöhnt-Seins, die die prophetischen Verheißungen eines ethischen Volkes Gottes auf unerwartet schockierende Weise in Erfüllung gehen spürt. In dieser Gewissheit wurzelt das eigenartige Hoffen des Christus-Glaubens, das sich selbst in den Anfechtungen dieser diesseitigen bzw. dieser irdischen Geschichts-Raumzeit auf das Bleiben in der erlebten Liebe Gottes (vgl. Joh 15,9) ausstreckt.364 Zweitens: Als Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens hat die christliche Hoffnung zutiefst Anteil an „dieser Zeit Leiden“ (Röm 8,18). Wie schon erwähnt, bezieht sich dieser Term nicht etwa nur auf die Geschichte der Verfolgungen, die der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen allerdings zumal in den Erscheinungen des Antichristus in der Moderne widerfahren ist; er bezieht sich auch auf die Geschichte der Gewalt, wie sie zumal die Kirche unter dem Bischof von Rom im langen Zeitraum des frühen, des hohen und des späten Mittelalters gegenüber den häretischen und den schismatischen Bewegungen geübt hat; er bezieht sich darüber hinaus auch auf die langzeitige Epoche der „Unterwerfung der Welt“ (Wolfgang Reinhard), wie sie die europäischen Mächte trotz ihrer christlichen Religionskultur erfolgreich praktizierten; er bezieht sich auf das himmelschreiende Verbrechen der „Auslöschung des Judentums in Europa“ (Hans Mommsen); und er bezieht sich schließlich auf die herrschenden „Prozessmuster der Gewalt“ (Ernst-Otto Czempiel), die nach wie vor die kollektiven Subjekte zahlreicher Staaten prägen. „Dieser Zeit Leiden“ rufen nach wie vor den tiefen Zweifel daran auf, ob denn das göttliche Wesen überhaupt dem unbezweifelbaren Faktum menschlicher Bosheit

364 Es ist das Wahrheitsmoment in Rudolf Bultmanns existentialer Interpretation der von ihm sog. mythologischen Denk- und Sprachform des Neuen Testaments, die eigenartige Hoffnung des Christus-Glaubens in dem je gegenwärtigen „eschatologischen Augenblick“ des Glaubens verwurzelt zu sehen (vgl. Rudolf Bultmann, Geschichte und Eschatologie, Tübingen: Mohr Siebeck, 1958 [deutsche Übersetzung aus dem Englischen von Eva Kraft], bes. 180–184). Der Christus-Glaube ist daher nach Bultmann für Wesen, deren Sein grundsätzlich „Sein aus der Zukunft“ (181) ist, ganz wesentlich das Leben „aus Gottes Zukunft“ und deshalb zuletzt Offenheit für jene Zukunft, „die Gott im Tode schenkt“ (Rudolf Bultmann, Die christliche Hoffnung und das Problem der Entmythologisierung, jetzt in: GuV [3. Bd.], 81–90; 88). Allerdings: Über die genauere Bedeutung der Rede von der „Zukunft des kommenden Gottes“ (ebd. 90) schweigt Bultmann sich ebenso aus wie über die menschheitsgeschichtliche Bedeutung der Hoffnung des Christus-Glaubens. Nachdem bereits Paul Althaus seit der 3. Auflage seines „Lehrbuchs der Eschatologie“ vom „Kommen des Letzten“ im Verhältnis zum „Bleiben des Letzten“ gesprochen hatte, nahmen Jürgen Moltmann, Wolfhart Pannenberg und Gerhard Sauter Bultmanns Schweigen zum Anlass, auf verschiedenen Wegen die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens nachdrücklich zu entfalten.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

und katastrophaler Übel – wie z. B. der derzeit grassierenden Corona-Pandemie oder wie dem mit infamen und mit zynischen Lügen begründeten Überfall der Russischen Föderation unter Wladimir Putin auf die Ukraine am heutigen 24. 02. 2022 – jemals gewachsen sei. Die Erfahrung des Syndroms von erlittenem Leid und verschuldetem Leid provoziert daher durchaus mit Recht die theoretischen Versuche in der Theodizee seit Platon einerseits, seit Augustin andererseits. Kein theoretischer Versuch in der Theodizee bringt menschliche Sensibilität für das Faktum des Syndroms von erlittenem Leid und verschuldetem Leid jemals zum Schweigen. Sie fordert nicht Erklärung, sondern Trost.365 Die Hoffnung des Christus-Glaubens richtet sich daher aus gutem Grund auf das eschatische Geschehen jenseits des Todes und durch den Tod hindurch, das nach der Prophetie der Offenbarung des Johannes in seinem harten Kern die „Wohnung Gottes bei den Menschen“ – und d. h. Gottes ewiges Mit-Sein mit uns Menschen allen – sein wird (Apk 21,3). Die verschiedenen Aspekte des eschatischen Geschehens schließen den absolut jenseitig-zukünftigen Trost ein, den als eine illusionäre Vertröstung zu diffamieren Ausdruck eines bodenlosen objektiven Zynismus ist. Drittens: Doch ist der Trost, den wir in der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens von dem eschatischen Geschehen des Mit-Seins Gottes mit uns Menschen allen erhoffen (Apk 21,3), nicht alles. Ich hatte ja gezeigt, dass die Gottesgewissheit nicht etwa nur das radikale Grundvertrauen und nicht etwa nur das radikale Hoffen, sondern auch das radikale Lieben hervorzurufen vermag, das sich in dem Gefüge der Gottesliebe, der Liebe zum Andern und der Selbstliebe konkretisiert (s. 4.3.4). Ihm ist als der besonderen Tüchtigkeit der Christus-Gemeinschaft nach des Apostels Paulus Einsicht das Bleiben verheißen (1Kor 13,13). Nun äußert sich das radikale Lieben – so gewiss es als eine ausgezeichnete Bestimmtheit unseres Lebens- bzw. unseres Selbstgefühls zu verstehen ist – darin, dass es in selbstbewusst-freier Weise Gutes will und wirkt. Das Gute aber, das es will und wirkt, wird in allen seinen einzelnen Ideen, Initiativen, Engagements und Kämpfen das Gute sein, das wir nach unserer durchaus fehlbaren und begrenzten sittlichen Erkenntnis als das von dem dreieinen Gott gewollte Gute – das Höchste Gut des göttlichen „In-Gemeinschaft-sein-Wollens“ – zu konkretisieren suchen. Es wird die Sache der Grundlegung der Theologischen Ethik sein, den ethischen Begriff des vom dreieinen Gott gewollten Guten einzuführen und zu definieren (vgl. STh III). In der Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens wird mithin das endgültige Bleiben der „Taten der Liebe“ (Søren Kierkegaard) erhofft, die wir in unserer je

365 Vgl. hierzu jetzt Reiner Strunk, Wer spricht von Trost. Entdeckungen in Literatur und Bibel (wie Anm. 118).

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individuellen Lebensgeschichte in ihrer Gemeinschaft mit anderen je individuellen Lebensgeschichten tun. Weil sich die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens auf das Bleiben der „Taten der Liebe“ richtet, meint das begriffene Bild des vollendeten Reiches Gottes jenes eschatische Geschehen, in welchem das Gute unserer je individuellen Lebensgeschichten gemeinsam bewahrt, gerettet und vollendet werden wird. 4.5.2

Möglichkeit und Wirklichkeit eschatischen Geschehens366

In der Hoffnungsgewissheit, die dem Christus-Glauben in der ChristusGemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) kraft des Heiligenden Geistes eigentümlich ist, wird die Vollendung des Lebens in Gottes Ewigkeit so zuversichtlich wie geduldig erwartet (vgl. Röm 5,2-5). Sie ist das hier und jetzt verheißene Erhoffte, dessen einzelne Aspekte ich im Folgenden betrachten werde. Damit wir diese einzelnen Aspekte des eschatischen Geschehens verstehbar explizieren können, beginne ich mit einer grundsätzlichen Überlegung: sie betrifft die erhoffte Realität des eschatischen Geschehens, die jedenfalls für uns in dieser

366 Vgl. zum Folgenden bes.: Wilfried Härle/Eilert Herms, Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1979, 198–221: VI. Die Rechtfertigungslehre als Eschatologie; Eilert Herms, STh (Bd. 1), 1059–1085. – Wolfhart Pannenberg, STh III, 574–588, hat in dem Abschnitt „b) Der Weg zur Begründung eschatologischer Aussagen“ verschiedene Begründungsmodelle vornehmlich der deutschsprachigen evangelischen Theologie nach Immanuel Kant eingehend diskutiert. Seine eigene systematische Darstellung zeichnet sich dadurch aus, dass sie die christliche Hoffnungsgewissheit begründet sieht in der „Bewegung aus der Zukunft Gottes auf den Menschen hin“ in Jesus Christus (bes. 587). Meine eigene Darstellung konvergiert mit Pannenbergs Darstellung insofern, als sie den Grund der christlichen Hoffnungsgewissheit nicht im Konzept einer biblischen Verheißungsgeschichte bloß als solcher, sondern – wie im Folgenden entwickelt – im Verstehen des ontologischen Grundverhältnisses von Sein und Seiendem, von schöpferischem Person-Sein und dem All des Geschaffenen verankert sieht. – Zum Folgenden vgl. auch bes. Heinrich Barth, Das Sein in der Zeit, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1933 (Philosophie und Geschichte; 42). Dieser Vortrag aus dem Jahre 1932 entwickelt im kritischen Gespräch mit Augustin, mit Immanuel Kant und mit Martin Heidegger die notwendige Unterscheidung von „Zeit“ im Sinne des Ursprungs der Zeitlichkeit und der „Zeitlichkeit“ des verantwortlichen Existierens; mit dem Ergebnis: „‚Ewigkeit‘ ist uns nicht zeitlos, sondern Zeit, gedacht als transzendentale Bedingung der Zeitlichkeit.“ (29). Woraus folgt: „Zeit transzendiert die Zeitlichkeiten und weist zurück auf ihren Anfang. Aber in dieser Verweisung bewahrt sie das zeitliche Sein.“ (ebd.). In kritischer Wiederholung von Augustins Zeit-Meditation fasst Barth zusammen: „Ewige Zeit ist die Bedingung, daß an der Zukunft gelegen ist. Sie erheischt, daß wir uns ausrichten auf die Ferne.“ (31). Der philosophische Bruder Karl Barths unterlässt es allerdings, eine Antwort auf die Frage zu suchen, wie ewige Zeit beschaffen sein müsste, um zeitliches Seiend-Sein bewahren zu können. Eben die Antwort der Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens hat den Anspruch, über diese Unterlassung hinauszukommen.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

unserer diesseitigen bzw. irdischen Geschichts-Raumzeit noch zukünftig – und zwar absolut bzw. jenseitig zukünftig – ist. Ich suche deshalb eine Antwort auf die beiden zusammengehörigen Fragen: inwiefern wir überhaupt eine sprachlich bezeichenbare Kenntnis eschatischen Geschehens haben können und welche Art von Geschehen es als eschatisches Geschehen überhaupt geben kann. Die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens und ihre ethisch orientierende Funktion hier und jetzt bedarf mithin einer Interpretation, die den ontologischen Gehalt der biblischen bzw. der kirchlich-theologischen Hoffnungssprache deutlich macht. Die hermeneutische Aufgabe der systematischen Besinnung erschöpft sich nämlich keineswegs darin, die Genese dieser Hoffnungssprache aus dem Zusammenhang der Prophetie des Alten und des Neuen Testaments zu erweisen; sie hat vielmehr ein lebhaftes Interesse daran zu erkunden, wie jenes in der Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens erhoffte Reale überhaupt realiter möglich und deshalb wirklich sein kann. Um nun den ontologischen Gehalt der biblischen bzw. der kirchlichtheologischen Hoffnungssprache zu entfalten, gehe ich – wie schon in der Interpretation des christlichen Glaubens an Gott den Schöpfer und Versöhner – auf meine Bestimmungen des Grundverhältnisses zwischen Gottes schöpferischem Person-Sein und dem All des Seienden zurück (s. 2.3). Indem ich die Bestimmungen dieses Grundverhältnisses in Erinnerung rufe, rege ich im Sinn der fides quaerens intellectum an zur reflektierten Rechenschaft „über die Hoffnung, die in euch ist“ (1Pt 3,15). Solche reflektierte Rechenschaft will nicht nur dazu dienen, das merkliche Verstummen zahlreicher Zeitgenossinnen und Zeitgenossen der euro-amerikanischen Moderne in den Situationen der Einsamkeit des Sterbens, des Abschied-Nehmens und des Trauerns aufzulösen; sie will auch dazu beitragen, die oft absurden Missverständnisse des eschatischen Geschehens in manchen Trends der Christentumsgeschichte auszuräumen. In dieser Absicht nimmt der folgende Gedankengang die Erkenntnisse auf, die die Gottesgewissheit des Christus-Glaubens über den Grund des Möglich-Seins bzw. des Wirklich-Seins des uns hier und jetzt gegenwärtigen Weltgeschehens erreicht. Diese Erkenntnisse führen uns zu Aussagen über das Geschehen der Welt, so wie es in der jetzigen, der diesseitigen bzw. der irdischen Grundsituation des menschlichen Sich-gegenwärtig-Seins erfahrbar ist. Ich beginne im Folgenden mit einer modaltheoretischen Skizze, die in gebotener Kürze auf die eigentümliche Seinsweise des uns Menschen allen gemeinsamen Person-Seins als des geschaffenen Person-Seins aufmerksam macht; denn die Antwort der christlichen Gottesgewissheit auf die Frage, ob – und wenn ja, in welcher Weise – eschatisches Geschehen wirklich sei, setzt die Verständigung über die Seinsweise des Wirklichen in ihrem Verhältnis zu den Seinsweisen des Möglichen und des Notwendigen voraus.

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Erstens: Die Terme „Möglich-Sein“ und „Wirklich-Sein“ sind wie die Terme „Notwendig-Sein“ und „Unmöglich-Sein“ modale Begriffe.367 In den verschiedenen Sprachen des Menschengeschlechts bezeichnen sie die Seinsweisen dessen, womit wir in der Einheit der Erfahrungswelt theoretisch, praktisch und ästhetisch umgehen. Zu ihr rechnen wir auch die verschiedenen Übergänge, die Sprünge, die Entwicklungen ebenso wie die dramatischen bzw. die katastrophalen Krisen der Evolution des Universums und der Natur der Erde sowie die blutigen geschichtlichen Konflikte, die wir in unserer jeweiligen Gegenwart in dieser diesseitigen bzw. irdischen Geschichts-Raumzeit erkunden. Ich sehe die Bedingung der Möglichkeit, Seinsweisen des Seienden zu bezeichnen, in dem uns Menschen allen gemeinsamen „Uns-gegenwärtig-Sein“, kraft dessen wir das Seiende als solches zu erfassen suchen. In dem gemeinsamen „Uns-gegenwärtig-Sein“ kommen wir nicht umhin, uns selbst als kontingent zu verstehen. Mit Hilfe dieses Terms bezeichnen wir diejenige Seinsweise, die in besonderer, in ausgezeichneter Weise wirklich ist. Als solche ist sie weder schlechthin unmöglich noch schlechthin notwendig, wohl aber faktisch notwendig; und zwar deshalb, weil wir sie von jenem Grund und Ursprung her verstehen, der sie aus dem Bereich des für ihn Möglichen gewählt, gewollt und verwirklicht hat. In dem gemeinsamen „Uns-gegenwärtig-Sein“ erleben wir uns selbst in unserer jeweiligen gemeinsamen Mit-Welt als wirklich in dem relativen Dauern zwischen dem Geboren-Werden und dem Prozess des Sterbens und Verwesens, der unser diesseitiges bzw. unser irdisches Wirklich-Sein begrenzt. Dies unser diesseitiges bzw. unser irdisches, innergeschichtliches Wirklich-Sein wird konkret in den verschiedenen Formen unseres Wirkens: in den verschiedenen Modi des sprachlichen Handelns bloß als solchen ebenso wie in den verschiedenen Modi des Miteinander-Arbeitens, des politischen Beratens und Entscheidens, des künstlerischen Darstellens, des Sich-Unterhaltens im Sport, im Film, im Fernsehen und auf Reisen und schließlich in der gottesdienstlichen Feier des Evangeliums und ihrer lebensgestaltenden Kraft.368

367 Vgl. hierzu Wilfried Härle, Art. Modalitäten: RGG4 5, 1371–1373. Zum Problemaspekt der „Beziehung zwischen dem Wirken Gottes und der Geltung der M.(odalitäten)“ kommt Härle richtig zum Ergebnis: „Die tragfähigste Antwortmöglichkeit besteht darin, die M.(odalitäten) als Gottes eigene Gedanken und Setzungen zu begreifen, die als solche für Gott weder ohne Geltung noch von übergeordneter Geltung sind. Von daher ergibt sich, daß die M.(odalitäten) als durch das schöpferische Wollen Gottes begründet und begrenzt zu denken sind.“ (1372). 368 Auf den verschiedenen Formen unseres Wirkens in der Geschichts-Raumzeit dieser Welt beruht die Lehre von den Gütern, welche das hohe Gut des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins konkretisiert (s. Konrad Stock, Einleitung, 314–323: „Das Gute – die Güter – das Höchste Gut“). Auf dieses unser kontingentes und als solches faktisch notwendiges Wirken in dieser diesseitigen bzw. dieser irdischen Geschichts-Raumzeit bezieht sich die Erwartung eines jenseitigen bzw. eines absolut zukünftigen „Gerichts der Werke“, die in die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens eingeschlossen ist (s. 4.5.4.2).

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

Gemeinsam ist es diesen exemplarisch erwähnten Formen unseres Wirkens, dass sie in unserer jeweiligen Gegenwart ausgerichtet sind auf eine zukünftige Gegenwart, der in dem jeweiligen Hier und Jetzt die Seinsweise des Möglichen, des Noch-nicht-Wirklichen und gegebenenfalls des Nicht-Erreichten oder gar des Verfehlten zukommt. Gleichzeitig sind wir uns in unserer jeweiligen Gegenwart dessen bewusst, dass dieses unser gegenwärtiges Wirklich-Sein das spätere, das intendierte Ziel unseres Wirkens in einem früheren Hier und Jetzt ist, in welchem es die Seinsweise des Möglichen bzw. des Noch-nicht-Wirklichen besaß. All unser diesseitiges bzw. unser irdisches, innergeschichtliches Wirken sucht im ZusammenWirken des je individuellen Person-Seins mit anderem je individuellen PersonSein Wirkliches im umgreifenden Horizont des entweder früher oder aber später Möglichen zu realisieren. In diesem ontologischen Sachverhalt dürfen wir die diesseitige bzw. die irdische, die innergeschichtliche Zeitlichkeit erkennen, in der geschaffenes, leibhaftes Person-Sein existiert. Sie ist der wirkliche Grund dafür, dass wir in unserem diesseitigen bzw. irdischen, innergeschichtlich gemeinsamen „Unsgegenwärtig-Sein“ erinnernd auf gewesenes bzw. vergangenes „Uns-gegenwärtigSein“ und erwartend auf zukünftiges bzw. kommendes „Uns-gegenwärtig-Sein“ bezogen sind. Kein Versuch, den ontologischen Sachverhalt der kontingenten bzw. der faktisch notwendigen Zeitlichkeit des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins zu beschreiben, wird übersehen, dass unser selbstbewusst-freies „Uns-gegenwärtig-Sein“ eingebettet ist in den Organismus einer menschlichen Gestalt und ihres aufrechten Gangs; und dass der Organismus einer menschlichen Gestalt und seine physische Entwicklung nur wirklich ist im Ganzen der Entstehungsgeschichte des Lebens in der Natur dieser Erde. Sie wiederum vermögen wir nicht anders zu erklären als aus dem Zusammenspiel des faktisch Notwendigen und des faktisch Zufälligen im evolutiven Prozesse dieses Universums.369 Wie unser selbstbewusst-freies „Unsgegenwärtig-Sein“ eingebettet ist in die Entstehungsgeschichte des Lebens, so ist es eingebettet in das, was wir als die besondere, die kosmische Zeitlichkeit dieses Universums zu verstehen meinen. Zwar werden wir die ungeheuren Zeiträume, in denen sich die Evolution dieses Universums vollzieht, keinem apersonalen „Sich-gegenwärtig-Sein“ zuschreiben wollen; wir nehmen aber wohl nicht grundlos an, dass sich die Evolution dieses Universums in einem irreversiblen Richtungssinn bewegt: von einem wie auch immer zu bestimmenden Anfang in einem Punkte 0 bis hin zu einem Ende in einem Wärmetod. Ohne Rücksicht auf die allgemeinen kosmologischen Bedingungen, die für die diesseitige bzw. für die irdische, innergeschichtliche Zeitlichkeit des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins gelten, lässt sich eben dieser ontologische

369 Vgl. hierzu Konrad Stock, STh I, 264–278.

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Sachverhalt nicht befriedigend erhellen. Wie unser jeweils individuelles geschaffenes, leibhaftes Person-Sein auf alles jeweils individuelle geschaffene, leibhafte Person-Sein des Menschengeschlechts in seinen Geschichten bezogen ist, so ist es auch bezogen auf die allgemeinen Bedingungen, unter denen das Geschehen der Welt des Kosmos geschieht. Zweitens: Im Unterschied zu weltanschaulichen Gewissheiten – wie z. B. denen des Szientismus, des Naturalismus oder des Materialismus – ist es dem ChristusGlauben in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) als wahr gewiss, dass menschliches, leibhaftes Person-Sein in seiner jeweils relativen Dauer aus des dreieinen Gottes schöpferischem Walten existiert. Das Wahr-Sein dieser Gewissheit und damit deren sinnhafte und orientierende Kraft lässt sich entfalten, wenn wir die Seinsweise des Grundes und Ursprungs unseres kontingenten „Uns-gegenwärtig-Seins“ und seiner Geschichte in einem kontingenten Geschehen dieses Kosmos zu denken suchen, den wir Gott nennen. Nun wird ein Grund und Ursprung unseres kontingenten „Uns-gegenwärtigSeins“ weder als schlechthin unmöglich noch als selbst kontingent seiend zu denken sein. Wir können dessen Seinsweise vielmehr dann und nur dann angemessen ansprechen, wenn wir sie als schlechthin notwendiges bzw. als schlechthin vollkommenes Sein erfassen.370 Mit Anselm von Canterbury halte ich daher den ontologischen Begriff des göttlichen Wesens für wahr, ohne damit den Anspruch eines BeweisenWollens zu verbinden (s. 1.4). Wie die platonische Idee des Guten und wie der aristotelische Begriff des „Sich-Denken des Denkens“ gibt die Bestimmung des schlechthin notwendigen bzw. des schlechthin vollkommenen Seins die ontologische Differenz zwischen dem Sein selbst und dem All des Seienden an, ohne damit die ontologische Relation zwischen dem Sein selbst und dem All des Seienden in Frage zu stellen. Sie ist die Relation bzw. das Ursprungsverhältnis des Grundes und des All des Begründeten. Nur innerhalb und kraft des Ursprungsverhältnisses verstehen wir die kontingente Seinsweise des All des Seienden als wirklich und als faktisch notwendig.371 370 Nach Wilfried Härle, Art. Modalitäten (wie Anm. 367), 1372f., gilt: „Die Anwendung der M.(odalitäten) auf Aussagen über das Sein Gottes erlaubt zu differenzieren zwischen dem, was Menschen von Gott gewiß ist, und dem, was sich ihrem Wissen ganz oder teilweise entzieht. Im Blick auf das Sein Gottes … gilt, daß Gott der Grund seiner eigenen Möglichkeit ist …“. 371 Wegen des Verstehens des Seienden als solchen aus bzw. in der Relation bzw. in dem Ursprungsverhältnis des Grundes und des All des Begründeten nannte Martin Heidegger das metaphysische Denken ein Denken der „Onto-Theo-Logik“. Entgegen den Versuchen Heideggers, dieses metaphysische Denken kritisch zu verwinden, hält vorliegende Darstellung Systematischer Theologie an dieser „onto-theo-logischen“ Figur fest; und zwar deshalb, weil sie offen ist für die kosmologische Theorie der Evolution dieses Universums und weil sie darüber hinaus erkenntnistheoretisch zu

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

Im Licht des ontologischen Begriffs des schlechthin notwendigen bzw. des schlechthin vollkommenen Seins wird allerdings die Eigenart der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens klar, die sich sowohl vom Pantheon mythischer Göttergestalten als auch von den abstrakten Weisen der philosophischen Monotheismen und erst recht von den erwähnten Weltanschauungen erheblich unterscheidet. Ihre Eigenart entspringt – wie wir gesehen haben – den Ereignissen des Dritten Tages, die ihren Empfängern das Wesen des schlechthin notwendigen bzw. des schlechthin vollkommenen Seins endgültig offenbaren. In diesen Ereignissen wird nämlich als wahr gewiss, dass Gottes schlechthin notwendiges bzw. schlechthin vollkommenes Sein die Wahl der Gnade einschließt, die wir als Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen präzisieren dürfen (s. o. S. 161–178). Ich hatte mit dem Begriff der Wahl der Gnade darauf aufmerksam gemacht, dass des dreieinen Gottes schöpferisches Walten dem menschlichen, dem geschaffenen Person-Sein im Ganzen des Geschehens dieses Universums – dem „Bild Gottes“ (Gen 1,26f.) – das Bestimmt-Sein zum „ethischen Volk Gottes“ und d. h. zum Wirken in der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wesen auferlegt (s. 2.4.2.3): jenes Bestimmt-Sein, das über die jüdische JHWHGemeinschaft hinaus jedwedes menschliche, geschaffene, leibhafte Person-Sein in dessen diesseitiger bzw. irdischer, innergeschichtlicher Zeitlichkeit umfasst. In der Gewissheit, mit Gott versöhnt bzw. mit Gott im Frieden zu sein (Röm 5,1), wird die ursprüngliche Bestimmtheit zur selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wesen als erfüllt bzw. als vollendet erlebt: freilich noch nicht in uns und allen unseresgleichen, sondern schon jetzt im Christus Jesus und allein aus diesem Grunde in der durch Gottes Heiligenden Geist gestifteten Gemeinschaft mit ihm (s. 4.3.5). Im Nachdenken über die Ereignisse des Dritten Tages und über ihre befreiende Wirkung im Herzen, im Gewissen, im Selbstbewusstsein der geschaffenen, der leibhaften Person (vgl. 2Kor 4,6) sucht die entstehende christliche Theologie seit Justin dem Märtyrer eine Antwort auf die Frage, wie denn das ungeschaffene Person-Sein des göttlichen Wesens in sich selbst zu denken sei, wenn es sich im Erfüllt- bzw. im Vollendet-Werden jener ursprünglichen Bestimmtheit endgültig offenbare. Ihre Antwort lautet, dass der ontologische Begriff des notwendigen bzw. des vollkommenen Seins dann und erst dann vollständig und konkret zu denken sei, wenn er das Moment des ursprünglichen und d. h. des absoluten Frei-Seins bzw. des absoluten Sich-selbst-Bestimmens einschließe (vgl. bereits Röm 8,29; 1Kor 2,7; Eph 1,5.11). Ich nannte und ich nenne dies Moment immer wieder Gottes Sich-

begründen und zu rechtfertigen ist im phänomenologischen Grundgedanken der Sicht des Sinnes von Sein.

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selbst-Bestimmen im ursprünglichen Verhältnis zum Andern seiner selbst; d. h. zu Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen.372 Nun impliziert dieses Moment den notwendigen Gedanken des Mediums, in welchem Gottes ursprüngliches und d. h. absolutes Frei-Sein bzw. absolutes SichBestimmen sich vollzieht. Ich hatte den notwendigen Gedanken dieses Mediums mit dem Term Geist bezeichnen wollen (s. 1.5.3.3.1), der seinerseits eine zeitliche Struktur im eminenten Sinn erkennen lässt. Sie ist die ontologische Basis, die es uns möglich macht, die Seinsweise des eschatischen Geschehens zu betrachten, dem die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens mit Furcht und Zittern und doch erhobenen Hauptes entgegensieht. Drittens: Wenn wir dem Wesen Gottes als Geist zeitliche Struktur im eminenten Sinn zusprechen, so sprechen wir ihm das ursprüngliche „Sich-gegenwärtig-Sein“ zu. Es ist dies ursprüngliche „Sich-gegenwärtig-Sein“, in welchem Gott sich selbst zur Relation, und war zur faktisch unaufhebbaren Relation zum kontingenten All des Seienden und darin eingeschlossen zum kontingenten menschlichen Person-Sein – dem Bild-Gottes-Sein – bestimmt. In diesem ursprünglichen „Sich-gegenwärtigSein“ hat Gottes schöpferisches, Gottes versöhnendes und Gottes vollendendes Walten seinen einheitlichen Grund. Wenn dem gemäß der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens so ist: in welcher eminent zeitlichen Weise ist Gottes ursprüngliches „Sich-gegenwärtig-Sein“ für uns verstehbar? Nun: Gottes ursprüngliches „Sich-gegenwärtig-Sein“ ist für uns – erstens – verstehbar als der Grund des schöpferischen Waltens, welches dem All des Seienden und innerhalb seiner dem geschaffenen, dem leibhaften Person-Sein des Menschen nicht nur die dauernden Bedingungen des Entstehens und des Werdens, sondern auch seinen irreversiblen Richtungssinn gewährt. Wir dürfen daher Gottes ursprüngliches „Sich-gegenwärtig-Sein“ keineswegs als den Grund eines unendlichen Seiend-Seins des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins des Menschen in diesem diesseitigen bzw. in diesem diesseitigen, innergeschichtlichen Geschehen der Evolution des Universums verstehen; wir müssen Gottes ursprüngliches „Sich-gegenwärtig-Sein“ vielmehr verstehen als den Grund eines endlichen und d. h. eines unbegrenzt-begrenzten Seiend-Seins, das nur durch seinen Tod hindurch in seine himmlische, in seine jenseitig-zukünftige Gestalt gelangt. Es ist insofern angemessen, in Gottes ursprünglichem „Sich-gegenwärtig-Sein“ ein Wozu bzw. ein Woraufhin zu denken: eine für uns noch ausstehende bzw. noch zukünftige

372 Auf diesen ursprünglichen Sachverhalt bezieht sich der Terminus der promissio (des VerheißenSeins), so wie ihn die Schule von Johannes Duns Scotus expliziert; vgl. hierzu Berndt Hamm, Promissio – Pactum – Ordinatio (wie Anm. 24).

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

Bestimmtheit, die für uns in dieser unserer diesseitigen bzw. in dieser irdischen, innergeschichtlichen Welt erst jenseits des Todes und durch den Tod hindurch wirklich und d. h. faktisch notwendig werden wird.373 Gottes ursprüngliches „Sich-gegenwärtig-Sein“ ist für uns – zweitens – allerdings auch verstehbar als der Grund des versöhnenden Waltens, kraft dessen Gottes göttliches Wesen „Fleisch wird“ (Joh 1,14) in der Seinsweise einer diesseitigen bzw. einer irdischen, einer innergeschichtlichen und als solcher gewollten und gewirkten menschlichen Person und ihres Wirkens (s. 3.5.2.4). Dürfen wir in Gottes ursprünglichem „Sich-gegenwärtig-Sein“ ein Wozu bzw. ein Woraufhin des schöpferischen Waltens denken, so wird es diese für uns noch ausstehende bzw. noch jenseitig-zukünftige Bestimmtheit wohl nur geben im Sinne des Wozu bzw. des Woraufhin des versöhnenden Waltens. Genauer gesagt: es wird das Wozu bzw. das Woraufhin des schöpferischen Waltens nur geben in der Weise des Getragen- und des Überwunden-Seins des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids, welches in aller diesseitigen bzw. in aller irdischen Geschichte unausweichlich zu sein scheint (Joh 1,29). Nur im Zusammenhang bzw. nur im Kontinuum dieser beiden Momente werden wir – drittens – dem ursprünglichen „Sich-gegenwärtig-Sein“ des göttlichen Wesens schließlich das Moment des Grundes des vollendenden Waltens zusprechen. Wenn nämlich das Wozu bzw. das Woraufhin des schöpferischen Waltens nicht anders wirklich werden wird als durch die überzeugende und überführende Macht des Heiligenden Geistes, welche die Umkehr in die selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wesen schon jetzt in dieser diesseitigen bzw. in dieser irdischen Geschichts-Raumzeit wirkt, wird es das himmlische bzw. das jenseitig-zukünftige, das eschatische Geschehen nur geben als das Geschehen der Vollendung dessen, was in der diesseitig bzw. in der irdisch gelebten selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott selbst in aller Unvollkommenheit schon angefangen ist. Wenn wir in der Gewissheit des Christus-Glaubens eschatisches Geschehen mit Furcht und Zittern und doch erhobenen Hauptes erwarten und erhoffen, so erwarten und erhoffen wir das Vollkommen-Werden bzw. das Vollkommen-Sein der Lebensgeschichte, der sich schon hier und jetzt Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen als Höchstes Gut erschließt. Aus alledem folgt: Auch eschatisches Geschehen ist – wie wir in der Gewissheit des Christus-Glaubens sagen dürfen – von dem dreieinen Gott geschaffenes Geschehen. Es wird es für uns im Zusammenhang des Seiend-Seins des Universums und in Gemeinschaft mit dem Menschengeschlecht als einem und als ganzem

373 Vgl. hierzu Eilert Herms, STh (Bd.1), 1063. – Zum Verstehen des Todes in der christlichen Sicht des Sinnes von Sein s. 4.5.3.

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geben, weil und sofern es ein Geschehen in und aus der ontologischen Relation des schöpferischen Seins und des geschaffenen Alls des Seienden sein wird. Als solches wird es sich von allem unterscheiden, was in der Sphäre des diesseitig bzw. des irdisch Wirklichen und faktisch Notwendigen geschieht, weil es das unvermeidliche Zu-Ende-Gehen des diesseitig bzw. des irdisch Wirklichen und faktisch Notwendigen voraussetzt. Es wird gleichwohl alles diesseitig bzw. alles irdisch, innergeschichtlich Wirkliche und faktisch Notwendige erhalten, bewahren und umfassen, weil und sofern es dessen jenseitig-zukünftige bzw. dessen himmlische Zielgestalt sein wird. Die Zielgestalt des All des Seienden ist – wie wir nicht grundlos sagen dürfen – realiter möglich und nicht unmöglich, weil und sofern der Übergang aus dem Zu-Ende-Gehen des diesseitig bzw. des irdisch, des innergeschichtlich Wirklichen und faktisch Notwendigen in das jenseitig-zukünftige bzw. in das himmlisch Wirkliche und faktisch Notwendige als Übergang im göttlichen Erinnern – und d. h.: im göttlichen „Sich-gegenwärtig-Sein“ – anzusprechen ist, welches das Nicht-mehr-Seiende „ruft … , dass es sei“ (Röm 4,17).374 Im Folgenden wird darzustellen sein, wie wir im Lichte dieser ontologischen Betrachtung die verschiedenen Aspekte des eschatischen Geschehens zu verstehen haben, die das Wortbekenntnis des Christus-Glaubens mit Rücksicht auf die

374 Ob – und wenn ja, in welcher Weise – das eschatische Geschehen auch die apersonalen und die präpersonalen Prozesse und Gestalten der Evolution des Lebens im Ganzen der Evolution des Universums – also die atomaren, chemischen und biotischen Stufen des Wirklichen und faktisch Notwendigen – umfasst, ist eine komplizierte Frage. Die lutherische Barock-Dogmatik hat seit Johann Gerhard eine solche Möglichkeit aus kontroverstheologischen und aus ontologischen Gründen verneint; vgl. hierzu meine Dissertationsschrift: Konrad Stock, Annihilatio mundi. Johann Gerhards Eschatologie der Welt, München: Chr. Kaiser Verlag, 1971 (FGLP X; XLII). Im Hintergrunde diese Debatte steht womöglich die ältere Kontroverse über die „Ewigkeit der Welt“; vgl. hierzu Ernst Behler, Die Ewigkeit der Welt. Problemgeschichtliche Untersuchungen zu den Kontroversen um Weltanfang und Weltunendlichkeit in der arabischen und jüdischen Philosophie des Mittelalters, München: Schöningh, 1965. – Paul Althaus, Die letzten Dinge (wie Anm. 348), 340–365, hat gegenüber der lutherischen Barock-Dogmatik energisch die These vertreten und begründet, dass das „Reich“ nicht nur als „ewiges Leben“, sondern zugleich auch als „neue Welt“ zu erhoffen sei; und zwar deshalb, weil die „Wirklichkeit der Natur und Geschichte“ (344) ihren „Eigen-Sinn“ bzw. ihre „Selbstzwecklichkeit“ (345) habe. Seine Begründung intendiert eine „Besinnung auf den Schöpfungs-Sinn der Welt“ (349) der Natur und der Geschichte, die allerdings „nur theologisch, nicht metaphysisch von Kontinuität“ kraft des „göttlichen Schöpferwillens“ (352) sprechen kann. Dieser Gegensatz erscheint mir allerdings als abstrakt, zumal Althaus keine Theorie der Einheit der Erfahrungswelt erkennen lässt. – Sofern die Hoffnungsgewissheit des ChristusGlaubens mit Blick auf Jes 65,17; Apk 21,7 „einen neuen Himmel und eine neue Erde“ erhofft, lässt sich dies Erhoffte wohl nur unter der Bedingung denken, dass Gottes absolute Unendlichkeit es realiter möglich und deshalb wirklich und faktisch notwendig macht, im Sinne von Georg Wilhelm Friedrich Hegels Begriff des wahrhaft Unendlichen das Endliche als Endliches – nämlich als das Andere seiner selbst – zu begreifen und zu bewahren. Vgl. Wolfhart Pannenberg, Art. Unendlichkeit: HWP 11, 140–146.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

biblische Hoffnungssprache meint. Sie – diese Hoffnungssprache – weist zurück auf jene ontologisch grundlegende Relation zwischen Gottes schöpferischem Sein und dem All des Seienden; und sie lässt uns mit Furcht und Zittern und dennoch erhobenen Hauptes darauf vertrauen, dass schon dies diesseitige bzw. dies irdische, dies innergeschichtliche Seiend-Sein ein Seiend-Sein in der Verheißung ist, die ihrer Erfüllung entgegengeht. 4.5.3

Der Tod als Übergang375

In der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens stehen die Glieder der ChristusGemeinschaft im Raum der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) wie wir Menschen alle vor dem unausweichlichen Faktum des Todes. Wir erleben bzw. wir kennen die manchmal momentanen, vielfach aber langwierigen und schmerzensreichen Sterbeprozesse Anderer: nicht etwa nur in schwerer unheilbarer Krankheit, sondern auch in den Katastrophen des Naturgeschehens, in den Hungersnöten und in den Pandemien und insbesondere in den Kriegen und in den massenhaften Morden in aller bisherigen Geschichte. Wir empfinden in lebensgefährlichen Situationen unwillkürlich das Schaudern vor dem Sterben und die Todesangst um Andere oder um uns selbst. Und wir erhoffen und erbitten im Bewusstsein unseres je eigenen Todes schon jetzt den wahren „Trost in meinem Tod“ (EG 85,10), der uns im schweren Ernst des Sterbeprozesses erreichen möge: „Wenn ich einmal soll scheiden, / so scheide nicht von mir, / wenn ich den Tod soll leiden, / so tritt du dann herfür; / wenn mir am allerbängsten / wird um das Herze sein, / so reiß mich aus den Ängsten / kraft deiner Angst und Pein.“ (Paul Gerhardt [EG 85,9])

375 Vgl. Zum Folgenden bes.: Karl Barth, KD III/2, 714–780: Die endende Zeit; Karl Rahner, Zur Theologie des Todes, Freiburg: Herder, 1958; Ladislaus Boros, Mysterium Mortis. Der Mensch in der letzten Entscheidung, Freiburg im Breisgau: Walter, 1962; Eberhard Jüngel, Tod, Stuttgart/ Berlin: Kreuz-Verlag, 1971 (ThTh; 8); Ders., Art. Tod VI. Religionsphilosophisch; VII. Dogmengeschichtlich und dogmatisch: RGG4 8, 437–441; Helmut Thielicke, Tod und Leben. Studien zur christlichen Anthropologie, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 2 1946; Ders., Der evangelische Glaube. Grundzüge der Dogmatik, III. Bd., Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1978, 512–529; Wolfhart Pannenberg, STh III, 599–607; Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 9 1960, 235–267: Das mögliche Ganzsein des Daseins und das Sein zum Tode; Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (1943), dt. in: Ders., Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Philosophische Schriften Bd. 3, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1993 (rororo 13316), 914–950; Jürgen Moltmann, Das Kommen Gottes (wie Anm. 348), 65–149; Hans-Peter Hasenfratz/Walter Dietrich/Samuel Vollenweider/Günter Stemberger/Klaus Fit-

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Die Strophe aus Paul Gerhardts Passionslied kann uns zeigen, in welcher Weise die Gottesgewissheit des Christus-Glaubens den Tod des Menschen als Phänomen wahrnimmt. Das sei im Folgenden dargelegt. Wie alle Phänomene des Lebens in der Einheit unserer Erfahrungswelt nehmen wir auch den Tod des Menschen nicht unvermittelt wahr; wir nehmen ihn nur wahr im Lichte einer so oder so gearteten Bestimmtheit unseres „Uns-gegenwärtig-Seins“ bzw. unseres „Uns-in-unserer-Gegenwart-Verstehens“. Zwar sind wir in empirischer Hinsicht scheinbar mit nichts anderem konfrontiert als mit dem Leichnam der Person, der in die Totenstarre übergeht und offensichtlich jede Möglichkeit des Blicks, des Antwortens und des Sich-selbst-Bestimmens verloren hat; aber wir sehen die uns zugekehrte Seite des Todes – den Leichnam der Person am Ende ihres Sterbeprozesses, über den wir nun verfügen können und verfügen müssen, als wäre er ein Stein – nicht anders als im Lichte eines Sinnes von Sein, so wie er sich für uns in unserer jeweiligen Bildungs- und Entwicklungsgeschichte erschlossen hat. Sehen wir den Tod des Menschen im Lichte jenes Sinnes von Sein, den uns die Gottesgewissheit des Christus-Glaubens erschließt, so sehen wir ihn als Übergang ins ewige Leben in der Vollendungsgestalt des Reiches Gottes: Er führt als der je individuelle Tod in das eschatische Geschehen der vollendeten Gemeinschaft des dreieinen Gottes mit uns Menschen aller Geschichts-Raumzeiten dieser Welt.376 Der phänomenologische Grundgedanke macht es uns möglich, das besondere Verstehen des Todes des Menschen im Licht der Gottesgewissheit des ChristusGlaubens zu vergleichen mit der Wahrnehmung des Todes in der Geschichte der Religionskulturen und der Weltanschauungen.377 Dieser Vergleich würde wohl zeigen, dass die Eigenart der christlichen Wahrnehmung des Todes – vorbereitet in der jüdischen JHWH-Gemeinschaft – letztlich gründet in ihrer Sicht des göttlichen, des schaffenden Person-Seins. Indem der Christus-Gemeinschaft in den Ereignissen des Dritten Tages das wahre Wesen des göttlichen, des schaffenden Person-Seins endgültig offenbar geworden ist, nimmt sie den Tod des Menschen – seinem Schrecken zum Trotz – nicht anders wahr als in der Hoffnung auf die jenseitig-zukünftige Vollendung des gelebten Lebens jenseits des Todes und durch den Tod hindurch. Das sei unter drei Gesichtspunkten gezeigt.

schen/Eberhard Stock/John Heywood Thomas/Michael Schibilsky/Georg Scherer/Konrad Hoffmann, Art. Tod I.–IX.: TRE 33, 579–638 (mit Tafeln 12–15). 376 Zum phänomenologischen Grundgedanken einer inhaltlich bestimmten Sicht des Sinnes von Sein vgl. Konrad Stock, Art. Phänomenologie III. Fundamentaltheologisch: RGG4 6, 1257–1259. 377 Vgl. hierzu bes.: Maria Susana Cipolletti, Langsamer Abschied. Tod und Jenseits im Kulturvergleich, Frankfurt a.M.: Museum für Völkerkunde, 1989 (Lit.); Josef Franz Thiel (Hg.), Der Tod. Ende oder Tor zum Leben? Vortragszyklus 1988/89 zu der Ausstellung „Langsamer Abschied“, Frankfurt a.M.: Museum für Völkerkunde, 1990.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

Erstens: Nehmen wir – konfrontiert mit dem Leichnam der Person bzw. in den seelsorglichen Situationen der Sterbebegleitung, der Bestattung und des Gesprächs mit Trauernden – das Faktum des Todes des Menschen im Licht der christlichen Sicht des Sinnes von Sein wahr, so fragen wir uns zuallererst, in welcher „Existenzform“ die verstorbene Person jetzt existiere.378 Diese Frage setzt stillschweigend oder aber ausdrücklich voraus, dass wir uns verständigen über das Phänomen des Lebens des Menschen. Denn dann und nur dann, wenn wir uns über das Phänomen des Lebens des Menschen verständigen, werden wir uns über das innige Verhältnis des Lebens des Leibes und des Lebens der Seele verständigen, um daraufhin zu erkunden, was dem Leben des Menschen im innigen Verhältnis des Leibes und der Seele im Tod des Menschen widerfährt.379 Nun können wir uns über das Leben des Menschen verständigen, weil wir selbst an ihm teilhaben. Wir haben an ihm teil, weil wir und soferne wir es selbst führen; und zwar als Leben, das je ich lebe, indem ich mich sprachlich, praktisch und ästhetisch beziehe auf je andere, die sich ihrerseits sprachlich, praktisch und ästhetisch auf je mich beziehen. Möglich ist das Leben des Menschen als die Geschichte dieses wechselseitigen „Sich-auf-einander-Beziehens“, weil es selbstbewusst-freies Leben ist, dessen produktive und rezeptive Aktionen jeweils durch uns selbst – und d. h.: kraft des unmittelbaren Selbstbewusstseins in dessen zeitlicher Struktur als das „Sich-gegenwärtig-Sein“ – geschehen. Indem wir selbst am Leben des Menschen teilhaben, indem wir also kraft des unmittelbaren Selbstbewusstseins alle diese produktiven und rezeptiven Aktionen selbst vollziehen, finden wir uns in einer ursprünglichen Einheit des physischen Lebens bzw. des Lebens eines individuellen Organismus und des psychischen Lebens bzw. des Lebens eines individuellen Selbst. Nur in dieser unserer jeweils individuellen ursprünglichen Einheit sind wir und werden wir vom frühesten

378 Vgl. hierzu Jürgen Moltmann, Das Kommen Gottes (wie Anm. 348), 115–140: Wo sind die Toten? 379 In der Fachsprache gesprochen: um den Tod des Menschen im Sinne der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens zu verstehen, greifen wir zurück auf Einsichten der theologischen Anthropologie und auf ihre Beschreibung des menschlichen Person-Seins. Indem die theologische Anthropologie das menschliche Person-Sein als geschaffenes Person-Sein zu verstehen lehrt, ist sie nicht nur offen für die Forschungen auf dem Gebiet einer biologischen Anthropologie, sondern auch offen für die Forschungen auf dem Gebiet einer psychologischen Anthropologie. – Im Folgenden greife ich zurück auf den Abschnitt 2.4.2 (Mensch-Sein als geschaffenes Person-Sein) sowie auf die Interpretation der „Psychologie“ Friedrich Schleiermachers bei Eilert Herms, Leibhafter Geist – Beseelte Organisation. – Schleiermachers Psychologie als Anthropologie. Ihre Stellung in seinem theologisch-philosophischen System und ihre Gegenwartsbedeutung, in: Arnulf von Scheliha/ Jörg Dierken (Hg.), Der Mensch und seine Seele. Bildung – Frömmigkeit – Ästhetik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Münster, September 2015, Berlin/ Boston: de Gruyter, 2017 (SchlA: 26), 217–243.

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„Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin.“ (Röm 8,24)

Zeitpunkt der Verschmelzung der Gameten an das Wesen, dessen individuelle Identität in seiner Lebensgeschichte unser Name bezeugt. Nun wird niemand mit Erfolg bestreiten können, dass wir uns zur Lebensform des menschlichen Person-Seins im Lichte einer Sicht des Sinnes von Sein ursprünglich bestimmt finden (2.4.2.3). Im Unterschied bzw. im Gegensatz zu anderweitigen Gewissheiten dieses unseres ursprünglichen Bestimmt-Seins380 finden wir uns in der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens dazu bestimmt, das Leben in der ursprünglichen Einheit des physischen Lebens und des psychischen Lebens in der Selbstverantwortung vor Gott für alle und in allen mitmenschlichen Gemeinschaften zu führen, in denen unsere Lebensgeschichte sich bildet und bewegt. Im Kontext dieser Sicht ist zu verstehen, was genau die Rede von einer jeweils individuellen ursprünglichen Einheit der Seele und des Leibes meint, die in Gottes schöpferischem Walten gründet (s. 2.4.2.1). Ad 1: In der Bildung und Entwicklung unserer je individuellen Identität erleben wir uns stets in selbstbewusst-freien Kommunikationen und Interaktionen mit anderen, die ihrerseits in der Bildung und Entwicklung ihrer je individuellen Identität begriffen sind. Möglich ist dies Erleben offenbar deshalb, weil wir uns auf jeweils andere denkend, wollend und empfindend beziehen. Allerdings nicht unvermittelt! Vielmehr sind wir offenbar damit vertraut, dass alle unsere Aktionen und Perzeptionen vermittelt sind durch die sinnlichen Wahrnehmungen des Sehens und des Hörens, des Riechens, des Schmeckens und des Tastens, die samt und sonders eingebunden sind in den chemischen, den vegetativen, den muskulären Organismus unseres männlichen oder weiblichen Körpers. Besinnen wir uns auf die Aktionen und Perzeptionen des Denkens, des Wollens und Empfindens, so wird uns klar, dass unser je individueller Organismus unser gemeinsames selbstbewusst-freies Leben in der Einheit dieser unserer Erfahrungswelt faktisch notwendig bedingt. Die rasante Entwicklung der modernen Hirnforschung macht es möglich, das menschliche

380 Wie z. B. denjenigen des französischen Materialismus (J. O. de La Mettrie, P. H. D. von Holbach) oder Friedrich Nietzsches. – Eine extreme Gegenposition zu der im Text skizzierten „Gewissheit unseres ursprünglichen Bestimmt-Seins“ vertrat Jean-Paul Sartre im „Freiheits-Kapitel“ von „Das Sein und das Nichts“: „Sein und Handeln: Die Freiheit“ (wie Anm. 376), 833–955. Die vortheoretische Basis seiner Darlegung des Phänomens der Freiheit findet sich in dem nicht weiter begründeten Satz: „Tatsächlich sind wir eine Freiheit, die wählt, aber wir wählen nicht, frei zu sein: wir sind zur Freiheit verurteilt …, in die Freiheit geworfen oder, wie Heidegger sagt, ihr ‚überantwortet‘.“ (838). Sartre unterlässt es wohlweislich, den folgenden Schlüsselsatz: „Das ist die Faktizität der Freiheit (verstehe: der menschlichen Freiheit)“ (ebd.) in ein diskursives Verhältnis zu anderweitigen Klarstellungen der Faktizität der menschlichen Freiheit zu setzen wie z. B. zu der ihm doch wohlbekannten christlich-religiösen; darin sehe ich den Grundmangel seines „Versuchs einer phänomenologischen Ontologie“.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

Großhirn als das Organ zu verstehen, in dem diese faktisch notwendige Bedingung kontinuierlich geschieht.381 Ad 2: Die Bedeutung der Rede von der jeweils individuellen ursprünglichen Einheit des physischen und des psychischen Lebens reicht jedoch noch weiter. In welchen Konstellationen auch immer begegnen wir einander in der Gestalt des Menschen bzw. von Angesicht zu Angesicht. Die Gestalt des Menschen – des weiblichen wie des männlichen – gebietet uns die Achtung, die der Würde gilt, die eines jeden Menschen Dasein gegenüber allem anderen Seienden auszeichnet. Obgleich die Würde eines jeden Menschen sich nicht in sinnfälliger Weise zeigt, ist es doch wohl der wechselseitige Augenblick, der uns das Unantastbare eines jeden Menschen präsentiert. Wir gehen gewiss nicht fehl, wenn wir das Unantastbare eines jeden Menschen im Licht der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens als das Zeichen seiner Bestimmung nehmen, in seiner Lebensgeschichte dem Wollen und Walten des dreieinen Gottes selbstbewusst-frei zu dienen. Es ist das symbolische Zeichen, das wir als Zeichen seiner Bestimmung anerkennen.382 Ad 3: Ich hatte behauptet, dass wir das Phänomen des Todes des Menschen zu verstehen wagen können, indem wir uns über das Phänomen des Lebens des Menschen zu verständigen suchen. Nun hatte ich gezeigt, dass sich das Leben des Menschen dann und nur dann als Phänomen verstehen lässt, wenn wir es in der Perspektive bzw. im Lichte der Sicht eines Sinnes von Sein verstehen. Eine Dogmatik in ethischer Zielsetzung wird daher das Leben des Menschen konsequent im Lichte jener expliziten Gewissheit zu beschreiben suchen, die das faktische Wirklich-Sein des Seienden vom Wollen und Walten seines allumfassenden Grundes und Ursprungs her – also: vom Wollen und Walten des dreieinen Gottes her – versteht. Im Unterschied bzw. im Gegensatz zu manchen Meinungen philosophischer Autoren nimmt diese explizite Gewissheit Adäquatheit in Anspruch, weil sie ohne Umschweife und ohne faule Ausreden die Kontingenz des faktisch Wirklichen ernst nimmt.383 Im Licht der expliziten Gewissheit des Christus-Glaubens zeigt es sich, dass es das Leben des Menschen im Ganzen der Geschichts-Raumzeit in diesem unbegrenzten Universum – und zwar eines jeden Menschen – nicht anders als in einem asymmetrischen In-Gemeinschaft-Sein mit Gottes göttlichem Wollen und Walten gibt. Es ist in dieser expliziten Gewissheit eingeschlossen, dass Gottes göttliches Wollen und Walten stets bezogen ist und stets vermittelt ist mit allen jenen Lebensgeschichten, die wir Menschen alle in der Geschichts-Raumzeit des ungeheuren Universums und seines Richtungssinnes praktisch zu gestalten haben und gestalten. Im Ganzen 381 Vgl. hierzu kurz und bündig: Reinhard Horowski, Art. Hirnforschung: RGG4 3, 1785–1786. 382 Vgl. hierzu Wilfried Härle, Würde. Groß vom Menschen denken, München: Diederichs, 2010. 383 Vgl. dazu und demgegenüber die Hinweise bei Michael Großheim, Art. Tod V. Philosophisch: RGG4  8, 434–437.

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dieses Richtungssinnes ist mithin eines jeden Menschen Lebensgeschichte dazu da und dazu bestimmt, dem göttlichen Wollen und Walten und dessen Woraufhin in selbstbewusst-freier Weise zu dienen. Im Lichte dieser Sicht des Sinnes von Sein versteht der Christus-Glaube die „Stellung des Menschen im Kosmos“ (Max Scheler) in dieser ursprünglichen Einheit der Seele und des Leibes.384 Zweitens: Ich habe in gebotener Kürze drei Aspekte des Phänomens des Lebens des Menschen betrachtet, so wie sie sich der christlichen Sicht des Sinnes von Sein zeigen. Sie lassen uns verstehen, dass das vom Tod begrenzte irdische Leben bzw. dass die vom Tod begrenzte irdische Lebensgeschichte der Person dem göttlichen Wollen und Walten und dessen Woraufhin in selbstbewusst-freier Weise zu dienen bestimmt ist. Im radikalen Grundvertrauen auf des dreieinen Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen mit uns wie auch mit allen unseresgleichen ist es uns möglich und zugemutet, „das Vergängliche“ (1Kor 15,50) bzw. das „Irdische“ (1Kor 15,48) des selbstbewusstfreien Lebens der Person als das Unausweichliche geduldig zu ertragen.385 Allerdings: um den Tod des Menschen im Licht des christlichen Sinnes von Sein als Übergang zu verstehen, müssen wir uns kritisch auf jene Deutung einlassen, die der Apostel Paulus mit unermesslicher Wirkung für die Geschichte der Religion des Christentums entwickelte: auf die Deutung des Todes als „der Sünde Sold“ (Röm 6,23).386 In seinem Brief an die Gemeinde zu Rom legt Paulus dar, dass das ChristusGeschehen seiner Einsicht nach universale bzw. menschheitliche Reichweite und Gültigkeit besitzt, weil es in seinem harten Kern „das versöhnende Wort des schöpferischen Wortes“ ist (s. 3.6). Als solches überwindet es den Gegensatz zwischen der jüdischen JHWH-Verehrung und den Kulten der nicht-jüdischen Religionskulturen und stiftet durch den Geist der Wahrheit die Gemeinschaft des ethischen Volkes Gottes der „Juden“ und der „Griechen“ (Röm 1,16; vgl. 3,40; 11,17-24). Um nun die universale bzw. die menschheitliche Reichweite und Gültigkeit des Christus-Geschehens plausibel zu machen, beruft sich der Apostel auf unser

384 Man beachte, dass der Apostel Paulus für diesen Sachverhalt die Wendung „beseelter Leib“ (1Kor 15,44f.) gebraucht. – Vgl. hierzu nach wie vor Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1983, 25–39: Die Sonderstellung des Menschen; 40–76: Weltoffenheit und Gottebenbildlichkeit. 385 Im Kontext meiner Darstellung hebe ich hier lediglich das Unausweichliche des Todesgeschicks hervor; ich und die Meinen wissen sehr wohl um das Grausame und um das Erschütternde, das uns das Todesgeschick allernächster Menschen ebenso wie das Todesgeschick der unfassbaren Zahl der „Todesopfer“ in aller Geschichte bereitet. 386 Ich orientiere mich im Folgenden am Kommentar von Michael Wolter, Der Brief an die Römer (Teilband 1: Röm 1-8) (wie Anm. 52), zu Röm 5,12-21 bzw. zu Röm 6,23. – Vgl. zum Folgenden auch Jürgen Moltmann, Das Kommen Gottes (wie Anm. 348), 96–115.

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aller Todesbewusstsein; freilich so, wie es die Lektüre der Schöpfungserzählungen in den apokalyptischen Trends im Pluralismus der antiken jüdischen JHWHGemeinschaft deutet. Diese Deutung sieht in der Figur „Adams“ das allgemeine menschliche Geschick des Sterben-Müssens vorgezeichnet, das „Adams“ Ungehorsam gegenüber dem göttlichen Gebot verschuldet habe.387 Paulus meint, für diese Deutung die Zustimmung der Leser zu finden, weil er zugleich das sittliche Bewusstsein in Anspruch nimmt, dass jedes Tun des Bösen seine Strafe – bzw. seinen Zorn – verwirkt (vgl. Röm 2,1-16). In dieser sittlichen Deutung fungiert der apokalyptische Mythos im Denken des Apostels geradezu als das hermeneutisch notwendige Vorverständnis, ohne welches das Kerygma von der Gerechtigkeit, die der Tod des Christus Jesus am Kreuz auf Golgatha erwirkt, sich nicht als wahr erschließt (vgl. bes. Röm 5,12-21). Im Rahmen der sog. Adam-Christus-Typologie gilt das allgemein-menschliche Todesgeschick als souveränes Verhängnis eines Gerichts, das ausschließlich durch die Auferweckung des Gekreuzigten zu überwinden ist.388 Die paulinische Verkündigung ist grundsätzlich geprägt von der Sicht des Sinnes von Sein des apokalyptischen Mythos und damit von der dualen Struktur der Eschatologie. In diesem Rahmen hat das semantische Feld „Tod“ die übertragene Bedeutung des endgültigen Zugrundegehens bzw. des endgültigen Vernichtet-Werdens aller, denen sich die versöhnende und befreiende Kraft des Christus-Geschehens diesseits des Todes der Person warum auch immer nicht erschließt. Noch die Apokalypse des Johannes verwendet diese Bedeutung im Sinne eines „zweiten Todes“ (Apk 2,11; 20,6.14; 21,8). Sie meint damit anscheinend, dass das eschatische

387 Michael Wolter (wie Anm. 52) verweist auf 4Esr 3,21; 7,118; syrBar 54,15; 56,5; äthHen 81,3. Diese Texte imaginieren „Adam“ als den Prototyp der Menschheit, dessen „Fall“ die Seinsweise des Menschen unter der Herrschaft der Sünde verursacht habe. Vgl. hierzu jetzt: Jan Dochhorn, Der Adammythos bei Paulus und im hellenistischen Judentum Jerusalems. Eine theologische und religionsgeschichtliche Studie zu Röm 7,7-25, Tübingen: Mohr, 2021 (WUNT; 469). 388 Mit Hilfe des semantischen Feldes des Gerichts hat Karl Barth, KD III/2, bes. 722–745, die christliche Sicht des Phänomens des Todes wegen der allgemein-menschlichen Schuldverfallenheit entfaltet (vgl. bes. 725: „Der Tod, wie er uns Menschen faktisch begegnet, ist das Zeichen des Gerichtes Gottes über uns.“). Der Tod gilt ihm als „Zeichen“, weil die „Drohung ewigen Verderbens“ dadurch aufgehoben sei, dass der Christus Jesus in seinem „Sterben“ (sic!) „das ewige Verderben“ erlitt (733 mit Hinweis auf Gal 3,13). Von Jesu „Sein im Tode“ sagt Barth: „Eben das war ja der einzigartige Kelch, vor dem Jesus zurückschreckte, die einzigartige Taufe, vor der ihm bangte: er unterstellte sich damit … dem Gericht Gottes.“ (ebd. [Unterstreichungen im Original gesperrt]). Mit Hilfe des semantischen Feldes des Richtens entwickelt Barth im 1. Teil der Lehre von der Versöhnung die „Heilsbedeutung“ des Todes Jesu Christi am Kreuz auf Golgatha (KD IV/1 § 59,2: Der Richter als der an unserer Stelle Gerichtete). Vgl. ferner: KD IV/1 § 61,2: Gottes Gericht. – Im Widerspruch zu dieser „kompensatorischen“ Deutung des neutestamentlichen Offenbarungszeugnisses verstehe ich im Anschluss an Joh 1,29 den Tod Jesu Christi am Kreuz auf Golgatha als die Vollendung seines Lebenszeugnisses für Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen (s. 3.5.2.3).

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Geschehen womöglich auch die Aufhebung der Dauer des schöpferischen Verhältnisses Gottes zum geschaffenen Person-Sein umfasst. Die systematische Besinnung auf die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens wird sich von diesem Ungedanken einer jenseitig-zukünftigen Vernichtung gründlich emanzipieren müssen (s. 4.5.4.2). Die duale Struktur des apokalyptischen Mythos verhindert es zu verstehen, dass es nach unserer Erfahrung das Leben des Menschen in der ursprünglichen Einheit der Seele und des Leibes de facto nur unter dem Unausweichlichen der Sterblichkeit des Menschen gibt. Die Rechenschaft über die Wahrheit der christlichen Gottesgewissheit und damit über die christliche Hoffnungsgewissheit hat keinen vernünftigen Grund, an dieser Deutung der antiken jüdischen JHWH-Gemeinschaft festzuhalten.389 Zwar ist es überhaupt nicht zu bestreiten, dass und wie entsetzlich das „In-derSünde-Sein“ wie in aller Geschichte so auch hier und heute durch das Töten-Können und das Töten-Wollen herrscht; aber der apokalyptische Mythos der Erwartung eines „zweiten (verstehe: eines endgültigen) Todes“ widerspricht unserer Erfahrung, die ich in die Formel des Syndroms von erlittenem Leid und verschuldetem Leid gefasst hatte (s. 3.2). Mit dieser Formel nehme ich nicht zuletzt auch alle die Leidensgeschichten in den Blick, die wie alle schweren Krankheiten des Leibes und der Seele – wie insbesondere die Krankheiten des depressiven bzw. des schizophrenen Formenkreises oder die Krankheit der Demenz – das selbstbewusst-freie Leben des Menschen zutiefst behindern wenn nicht gar zerstören. Nehmen wir diese Erfahrung ernst, so müssen wir uns vom apokalyptischen Mythos und seiner dualen Struktur emanzipieren, der die paulinische Darlegung des Evangeliums überschattet. Ich bin bestrebt, zur Überwindung dieses ebenso wirkungsvollen wie traumatisierenden Vorverständnisses beizutragen (s. 4.5.4.2).390 Drittens: Wollen wir den Tod des Menschen im Licht der christlichen Sicht des Sinnes von Sein adäquat als Übergang verstehen, so werden wir ihn sinnvollerund notwendigerweise aus dem ontologischen Grundverhältnis von Sein und Seiendem, von des dreieinen Gottes Wollen und Walten und dem Werden des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins in dieser Welt verstehen. Im Lichte dieser Sicht können wir mit guten Gründen zwei Aussagen über die Existenzform des „ImTode-Seins“ machen. Beide Aussagen haben daran ihre Stütze, dass sie gewonnen

389 Ich widerspreche damit dem Argument von Wolfhart Pannenberg, STh III, 599–607, dass man zwischen „Endlichkeit“ und „Sterblichkeit“ zu unterscheiden habe und dass uns die geschaffene Endlichkeit des Lebens des Menschen wegen des „In-der-Sünde-Seins“ unseres „Ich“ zum Tode werde (606). 390 Vgl. hierzu bereits Konrad Stock, Gott der Richter. Der Gerichtsgedanke als Horizont der Rechtfertigungslehre, in: EvTh 40 (1980), 240–256.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

sind aus der Gewissheit des Kontinuums des göttlichen Wollens und Waltens, wie es uns endgültig durch Gottes Heiligenden Geist in den Medien der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche erschlossen wird (s. 4.2). Ad 1: Im ontologischen Grundverhältnis von Sein und Seiendem, von Gottes Wollen und Walten und dem Werden des geschaffenen Person-Seins als des Bildes Gottes, ist der Tod der individuellen Person der Übergang ins göttliche Gedenken (s. 3.5.2.3; vgl. Ps 8,5; 105,8). Gottes Gedenken ist nämlich möglich, wirklich und notwendig, weil und sofern die Gottesgewissheit des Christus-Glaubens um des dreieinen Gottes ursprüngliches „Sich-gegenwärtig-Sein“ weiß. Kraft dieses ursprünglichen „Sich-gegenwärtig-Seins“ dürfen wir denken, dass dem göttlichen Wesen jenes ursprüngliche Ziel bzw. jenes ursprüngliche Woraufhin gegenwärtig ist, das ich als Gottes erfülltes bzw. als Gottes vollendetes In-Gemeinschaft-Sein mit Gottes Ebenbild bezeichnet hatte (s. 2.3.4). In Gottes ursprünglichem „Sichgegenwärtig-Sein“ ist das eschatische Geschehen der Erfüllung bzw. der Vollendung dieses Ziels bzw. dieses Woraufhin insofern als noch nicht Wirkliches präsent. Es ist für Gott – wenn wir so sagen dürfen – erst als zukünftiges real. Ad 2: Verstehen wir den Tod der individuellen Person als jeweils individuellen Übergang ins göttliche Gedenken, so können wir den tatsächlichen Zusammenhang bzw. das tatsächliche gemeinsame Geschick des Menschengeschlechts erahnen. Das göttliche Gedenken bewahrt nicht nur die Existenzform des je individuellen „Im-Tode-Seins“ vor jedem möglichen Nicht-mehr-Sein; es bewahrt in gleicher Weise die Existenzform eines jeglichen je individuellen „Im-Tode-Seins“ vor jedem möglichen Nicht-mehr-Sein. Das göttliche Gedenken ist daher der sachgemäße Ausdruck für das Zwischen zwischen dem Tod der individuellen Person und dem eschatischen Geschehen als ganzem, dem wir in unserer Konfrontation mit einem Leichnam, in unserer Trauer und in unserer eigenen Todesangst, dennoch hoffnungsgewiss entgegenwarten (vgl. Ps 73,26).391 Nun ist es doch wohl angemessen, das Zwischen zwischen jedem individuellen „Im-Tode-Sein“ und dem eschatischen Geschehen als einem und als ganzem um einen wichtigen Aspekt zu ergänzen. Dem göttlichen Gedenken ist ja jedes individuelle „Im-Tode-Sein“ der geschaffenen, der leibhaften Person nicht anders gegenwärtig als in deren jeweiliger Lebensgeschichte, die der Prozess des Sterbens unausweichlich an ihr irdisches bzw. an ihr diesseitiges Ende bringt. In dieser ihrer

391 Ich verstehe das Zwischen also anders als dies die namentlich in der lateinischen Christentumsgeschichte tradierte Vorstellung eines Fegfeuers (eines Purgatoriums) tat, die in der kirchlichtheologischen Lehre vom Sakrament der Buße ihre Wurzel hat. Gegen diese Vorstellung wendet die reformatorische Bewegung mit gutem Recht ein, dass sie nicht allein den Zuspruch der Vergebung unterminiere, sondern dass sie auch die ursprüngliche Einheit des leibhaften Person-Seins verkenne. Vgl. hierzu bes. Herbert Vorgrimler, Das Fegfeuer, in: MySal 4/2, 453–457 (Lit.); Ders., Art. Purgatorium: RGG4 6, 1828–1831.

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jeweiligen Lebensgeschichte war die geschaffene, die leibhafte Person von ihrem irdischen bzw. von ihrem diesseitigen, innergeschichtlichen Anfang im Gezeugt-, Empfangen- und Geboren-Werden an unlösbar verflochten und verstrickt in die Geschichten ihrer näheren und ihrer ferneren Mitwelt: in die Kultur ihrer Familie, die wiederum nicht anders existiert denn als ein Element der Kultur ihrer Gesellschaft im Ganzen dieser Weltgesellschaft. In dieser universalen Vernetzung bleibt die Lebensgeschichte einer jeden individuellen Person – wenn wir so sagen dürfen – niemals ohne Wirkung und niemals ohne Folgen bzw. ohne Spuren. Ihre Wirkung, ihre Folgen, ihre Spuren mögen so minimal sein wie die eines Kindes, das im Geboren-Werden stirbt; und sie mögen im Guten wie im Bösen so maximal sein wie die Lebensgeschichte des Apostels Paulus bzw. wie die Lebensgeschichte eines der verbrecherischen Diktatoren der euro-amerikanischen Moderne. Ist daher dem göttlichen Gedenken als dem Zwischen zwischen dem je individuellen „Im-Tode-Sein“ und dem eschatischen Geschehen als einem und als ganzem das jeweils individuell gelebte Leben gegenwärtig, so ist ihm auch die jeweils individuelle Lebensgeschichte in dieser ihrer universalen Vernetzung gegenwärtig. Würden wir das göttliche Gedenken nicht in dieser Weise als das Zwischen zwischen dem irdisch bzw. dem diesseitig, dem innergeschichtlich Wirklichen und dem jenseitig-zukünftigen eschatischen Geschehen denken können, so müssten wir uns begnügen mit der diffusen Metapher „Nacht der Bildlosigkeit“ (Emanuel Hirsch).392

392 Mit der Rede vom „Gedenken Gottes“ nimmt das christlich-fromme Selbstbewusstsein das Anliegen des Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele (verstehe: der individuellen Geistseele) auf, den Platon im Dialog „Phaidon“ entwickelt und begründet hat. Platons Theorie stieß wegen ihres ontologischen bzw. wegen ihres anthropologischen Dualismus bereits auf die Kritik von Aristoteles (De anima B1), die allerdings nur dem intellectus agens (dem Allgemeinen bzw. dem Überindividuellen des Denkens) Unsterblichkeit zuspricht. Die biblischen Zeugnisse von der Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens bringen ohne ontologische bzw. ohne erkenntnistheoretische Erklärung die individuelle Identität der geschaffenen Person im eschatischen Geschehen zur Sprache und beantworten auf diese Weise die religionsgeschichtlich dokumentierte Sehnsucht nach Unsterblichkeit mit der Erwartung ewiger Freiheit (Dietrich Bonhoeffer). Die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens intendiert also keineswegs etwas grundsätzlich anderes als die platonische Lehre von der Unsterblichkeit als der Teilhabe der individuellen Geistseele an der Schau des wahrhaft Guten; sie spricht vielmehr – wie der Apostel Paulus zeigt (1Kor 15,53.54) – in anderer Weise von des Heiligenden Geistes verwandelnder Kraft, die „dem Sterblichen“ „Unsterblichkeit“ gewährt! – Vgl. zum Thema bes.: Josef Pieper, Tod und Unsterblichkeit, München: Kösel, 1968; W. A. de Pater, Immortality. Its History in the West, Leuven: Uitg. Acco, 1984; Matthias Heesch, Art. Unsterblichkeit: TRE 34, 386–392; Richard Friedli/Johannes Zachhuber/Roman Heiligenthal/Hartmut Rosenau/ Werner Thiede/Livia Kohn, Art. Unsterblichkeit I.–IV.: RGG4 8, 795–801; Wolfhart Pannenberg, STh III, 614–618.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

Ad 3: Aus alledem ergibt sich – wie mir scheint – eine plausible Antwort auf die Frage, ob – und wenn ja, in welchem Sinne – das eschatische Geschehen als das Ende der Geschichte anzusprechen sei.393 Diese Frage kann überhaupt nur entstehen, wenn und solange wir die Bedeutung des Syntagmas „Ende der Geschichte“ im Unklaren belassen. Wir dürfen jedenfalls den Term „Geschichte“ als einen kategorialen Rahmenbegriff verwenden, der das Erzählen, das Erinnern, das Darstellen unzählbarer einzelner Fälle innergeschichtlichen Geschehens leitet. Sie alle bieten sei es einfache sei es hochkomplexe Konstellationen einer „Geschichte von…“. Alle diese Konstellationen lassen sich verknüpfen und vergleichen unter dem Gesichtspunkt, dass es jedenfalls Wesen von der Seinsart des geschaffenen Person-Seins sind, die eine „Geschichte von…“ sei es machtvoll gestalten sei es schmerzlich erleiden; und zwar unter den naturalen Bedingungen des Lebens dieser Erde in diesem Sonnensystem in dieser Galaxie. Das Syntagma „Ende der Geschichte“ könnte also bedeuten, dass die geschichtliche Existenz der Menschengattung ebenso wie das diesseitige, das irdische bzw. das innergeschichtliche Leben der individuellen Person unausweichlich zu Ende geht: spätestens mit dem Erlöschen der naturalen Bedingungen des Lebens dieser Erde. Ein „Ende der Geschichte“ im Sinne eines „Endes der Geschichten von…“ wäre dann gleichbedeutend mit dem innergeschichtlichen bzw. mit dem innerweltlichen „Ende“ der Geschichte der entsetzlichsten Konflikte, aber auch der Geschichte des bisherigen Wirklich-Werdens des Guten (s. 4.5.4.3). Es wäre gleichbedeutend mit dem „Ende“ der irdischen, der diesseitigen Geschichte der Christus-Gemeinschaft, in der wir in, mit und unter aller Anfechtung kraft des Heiligenden Geistes Anfänge des Glaubens, des Hoffens und des Liebens erleben. Es wäre mithin gleichbedeutend mit dem Ende „der Ordnung moralischer Zwecke göttlicher Weisheit“, zu der ich anders als Kant und über Kant hinaus auch die Erlösung von dem Bösen (Mt 6,13) zähle.394 Anders liegen die Dinge, wenn wir das „Ende der Geschichten von…“ verstehen im Sinn des Endzwecks der geschichtlichen Existenz des Menschengeschlechts unter den naturalen Bedingungen des Lebens dieser Erde in diesem Sonnensystem in 393 Vgl. hierzu bes. Immanuel Kant, Das Ende aller Dinge (1794): W VI, 173–190; Paul Althaus, Die letzten Dinge (wie Anm. 348), 256–318; Paul Tillich, STh III, 446–477; Wolfhart Pannenberg, STh III, 632–641; 632: „Die Existenz des Menschen als geschichtliches Wesen hat nur dann einen Zweck und ein Ziel, wenn solche Vollendung seiner Geschichte selber geschichtliches Ereignis und als solches das Ende der Geschichte sein wird.“; Rudolf Bultmann, Geschichte und Eschatologie (wie Anm. 364). 394 Vgl. Immanuel Kant, Das Ende aller Dinge (wie Anm. 393), 182. – Kants eschatologischer Essay übt einerseits Kritik an eschatologischen Vorstellungen, die er anhand des Maßstabs der theoretischen Vernunft für unbegreiflich erklärt; andererseits hebt er deren vernünftigen Sinn hervor, den er anhand des Maßstabs der praktischen Vernunft „in der moralischen Ordnung der Zwecke“ (175) entdeckt, die der Person in der Erfahrung des Gewissens erschlossen ist.

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dieser Galaxie. Mit dem Term Endzweck assoziieren wir Termini wie „Woraufhin“, „Worumwillen“, „Sinn“ und „Ziel“ der geschichtlichen Existenz des Menschengeschlechts, die in der christlichen Sicht des Sinnes von Sein auf das Jenseits des „Endes aller Dinge“ verweisen. Im Lichte dieser Sicht erhofft der Christus-Glaube das Jenseits des „Endes aller Dinge“ deshalb und nur deshalb, weil ihm der Endzweck des dreieinen Gottes erschlossen ist, in dessen ontologischer Relation das Menschengeschlecht als eines und als ganzes existiert. Wir dürfen daher nicht allein den Tod der jeweils individuellen Person, sondern auch das Ende ihrer diesseitigen, ihrer irdischen, ihrer innergeschichtlichen Wirksamkeit als jenen Übergang betrachten, der ins eschatische Geschehen führt. Ihm wende ich mich nunmehr zu. 4.5.4

Die Parusie des Christus Jesus im Geist der Wahrheit395

In der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) bildet sich kraft des Heiligenden Geistes jene heilsame, jene lebenstragende Gewissheit, die inmitten der Erfahrungen des Leids, der Bosheit und der Todesnot der jenseitig-zukünftigen Vollendung unseres diesseitigen bzw. unseres irdischen, innergeschichtlichen Lebens entgegenhofft. Sie ist in ihrem harten Kern Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums; und d. h.: sie ist je individuelles In-Gemeinschaft-Sein mit Jesu von Nazareth Lebenszeugnis, mit Jesu Lebensgeschichte und Geschick bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha. Insofern hat die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens ursprünglich ihren Grund in den Ereignissen des Dritten Tages, die ihren Empfängern Jesu

395 Die „Parusie“ bzw. die „Wiederkunft“ des Christus Jesus „zu richten die Lebenden und die Toten“ ist das Thema des christlichen Wortbekenntnisses, wie es die regula fidei des Symbolum Apostolicum sowie des Symbols von Nicaea und Konstantinopel von 381 formuliert. Ich betrachte im Folgenden dieses Thema nicht im Sinne eines Teilthemas der Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens, sondern vielmehr als die Überschrift über deren verschiedene Aspekte. Die mythische „Naherwartung“ der Figur des „Messias“ bzw. des „Menschensohns“, die noch das Kerygma des Apostels Paulus prägt (vgl. 1Kor 15,51f.), ist alsbald aus gutem Grunde preisgegeben worden. Ich widerspreche damit ausdrücklich der These von Gregor Etzelmüller, der im Anschluss an das sorgfältige Referat der Lehre Karl Barths eine „Rekonstruktion der Rede vom Jüngsten Gericht“ vorträgt, die das „eschatologische Kommen Christi zum Gericht“ (258) zum Thema macht. Zwar halte ich es für richtig, die Erwartung des eschatischen Richtens als „Erwartung des Gerichts im Heiligen Geist“ (288–320) zu entfalten; aber das Verfahren einer angeblichen „Biblischen Theologie“ – eine Synthese aller möglichen eschatologischen Vorstellungen des biblischen Offenbarungszeugnisses – versagt vor der Aufgabe anzusprechen, als was das eschatische Geschehen zu denken sei; vgl. Gregor Etzelmüller, … zu richten die Lebendigen und die Toten. Zur Rede vom Jüngsten Gericht im Anschluß an Karl Barth, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2001. – Vgl. zum Folgenden bes.: Wolfhart Pannenberg, STh III, 673–677: Friedrich Beißer, Hoffnung und Vollendung, Gütersloh: Mohn, 1993 (HST; 15).

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

Christi Erhebung und Erhöhung in den Status seines Seins zur Rechten des dreieinen Gottes jenseits des Todes und durch den Tod hindurch eröffnen (s. 3.5.2.1).396 Der Apostel Paulus hat daher korrekt die Hoffnungsgewissheit des ChristusGlaubens im steten Geben und Gewähren des Heiligenden Geistes verankert (vgl. bes. Röm 8,10-11; s. 4.3.3). Sie hat zum Inhalt die jenseitig-zukünftige individuelle Identität der geschaffenen Person im Status ihrer Verwandlung (1Kor 15,51) bzw. ihrer Verklärung (vgl. Mt 17,2; Lk 9,32). Ihr „Im-Tode-Sein“ bzw. ihr Ruhen im göttlichen Gedenken ist zu diesem Status der unausweichliche Übergang. Wie können wir den Inhalt dieser Hoffnungsgewissheit als möglich und als wirklich explizieren? Zuallererst ist festzuhalten, dass jenes Übergehen aus dem „Im-Tode-Sein“ der geschaffenen Person in ihrer jeweiligen individuellen Identität in den Status ihrer Verwandlung bzw. ihrer Verklärung nicht anders denn als Privileg des schöpferischen Waltens Gottes angesehen werden kann. Wie oben schon gezeigt, ist jenes in der Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens erhoffte eschatische Geschehen wirklich unter der Bedingung, dass dessen Autor es kraft seines „ontologischen Status“ (Eilert Herms) tatsächlich zu wollen, zu ermöglichen und daher zu verwirklichen vermag (s. 4.5.2).397 Die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens schließt insofern ein Verstehen des Realen überhaupt als des von dem dreieinen Gott gewollten und auf des dreieinen Gottes Ziel bzw. auf des dreieinen Gottes Endzweck hin ausgerichteten Realen ein. Es ist als solches dem ursprünglichen, dem ewigen „Sich-gegenwärtig-Sein“ des göttlichen Wesens präsent; und eben dies Präsent-Sein des Realen für dessen schöpferischen Grund und Ursprung ist in der Sicht der christlichen Gottesgewissheit – wie schon in der Sicht der jüdischen JHWH-Gemeinschaft – ein Definiens des Realen.398 Just wegen dieser ihr eigentümlichen Realitätsgewissheit dürfen wir die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens freimütig und erhobenen Hauptes

396 Im Vorblick auf den folgenden Gedankengang dürfen wir wohl sagen, dass die Ereignisse des Dritten Tages ihren Empfängern – in Analogie zur Prophetie des Apostels Paulus gesprochen (1Kor 15,51-53) – Jesu „Verwandlung“ bzw. Jesu Erhebung in die „Unverweslichkeit“ bzw. in die „Unsterblichkeit“ offenbaren. 397 Vgl. das Wort Jesu im Disput mit Sadduzäern: „Dass aber die Toten auferstehen, darauf hat auch Mose hingedeutet beim Dornbusch, wo er den HErrn nennt Gott Abrahams und Gott Isaaks und Gott Jakobs. Gott aber ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden; denn ihm leben sie alle.“ (Lk 20,37f. Parr.). 398 Dass es Reales als Reales für das ursprüngliche bzw. für das ewige „Sich-gegenwärtig-Sein“ des göttlichen Wesens und damit für dessen Sinn und Ziel gibt, ist mithin diejenige Sicht des Sinnes von Sein, durch die sich die christliche wie schon die jüdische Sicht von anderweitigen Sichtweisen signifikant unterscheidet. Sie ist schlechthin die Basis, auf deren Grund die reflektierte Explikation des Christus-Glaubens in einer Glaubenslehre phänomenologisch verfährt; vgl. hierzu Konrad Stock, Art. Phänomenologie III. Fundamentaltheologisch: RGG4 6, 1257–1259.

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als realistisch bezeugen und entfalten: im Gegensatz zu allen möglichen JenseitsFantasien und Jenseits-Illusionen, im Gegensatz aber auch zu allen diesseitigen Utopien und Dystopien. Im Lichte dieser Sicht des Realen – des Seienden als Seienden bzw. des Sinnes von Sein – ist es angemessen, den Übergang aus dem „Im-Tode-Sein“ der geschaffenen Person in das eschatische Ziel des göttlichen Wesens generell als die Erhebung in das Leben in Gottes Ewigkeit anzusprechen. Wie im Kapitel 2 ausführlich dargestellt (s. 2.3.4), verstehe ich unter dem Term „Ewigkeit“ die Eigenschaft des dreieinen Gottes, vermöge derer Gottes Sein als Sein in ursprünglichem „Sich-gegenwärtig-Sein“ zu denken ist. Mit der Eigenschaft der Ewigkeit Gottes ist daher nicht etwa nur die Zeit-Transzendenz des göttlichen Wesens bzw. dessen unendliche Erhabenheit über das unbegrenzt-begrenzte RaumZeit-Kontinuum des Universums und über das minimale „Sich-gegenwärtig-Sein“ der geschaffenen Person im Sinne Augustins gemeint399 ; mit ihr ist vielmehr auch und insbesondere jene ursprüngliche Zeit des Wesens Gottes als Geist gemeint, in welcher Gott auf die vollendete bzw. auf die unvergängliche Gemeinschaft mit dem geschaffenen Person-Sein aus ist. Sehen wir die eschatologischen Bilder und Begriffe des biblischen Offenbarungszeugnisses generell als Bilder und Begriffe für die Erhebung in das Leben in Gottes Ewigkeit an, so deuten wir sie als Bilder und Begriffe für die unvorstellbare und unaussprechliche Seinsweise „von Angesicht zu Angesicht“ (1Kor 13,12). Sie ist als diejenige Seinsweise zu erhoffen, die in nunmehr faktisch unbegrenzter Dauer Anteil empfängt am „ganzen und vollkommenen Innehaben unbegrenzbaren Leben“, die nach Boethius das Wesen der Ewigkeit des dreieinen Gottes ist.400 Das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift und dessen Auslegung in der Geschichte der kirchlich-theologischen Lehre hat das erhoffte Leben in Gottes Ewigkeit jenseits des Todes und durch den Tod hindurch mittels verschiedener Modelle erfasst. Namentlich die lutherische sowie die reformierte Barock-Dogmatik hat dafür gesorgt, diese verschiedenen Modelle in eine sachlogische Ordnung zu bringen. Diese Ordnung ist jedoch nur Schein, weil sie die Verschiedenheit der 399 Vgl. o. 2.3.4.1. 400 Vgl. Boethius, De consolatione philosophiae, V,6,4: „aeternitas … est interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio.“. – Bezeichnen wir mit dem Term „Ewigkeit“ das Ziel, den Endzweck, das Woraufhin des göttlichen In-Gemeinschaft-sein-Wollens – also das endgültig offenbare göttliche In-Gemeinschaft-Sein – so hebt das „ewige“ bzw. das „unbegrenzbare Leben“ des geschaffenen Person-Seins die ontologische Differenz zwischen Gottes Ewigkeit als Eigenschaft des schlechthin notwendigen und schlechthin vollkommenen Wesens Gottes – Gottes Unendlichkeit – natürlich nicht auf. Ob die Lehre der orthodoxen Kirchengemeinschaften, das von Gott bestimmte Ziel des menschlichen Lebens sei als „Vergöttlichung“ anzusprechen, haltbar ist, lasse ich hier dahingestellt. Vgl. Karl Christian Felmy, Art. Vergöttlichung: RGG4 8, 1008 (mit Hinweisen auf Johannes von Damaskus, Athanasius, Gregor von Nazianz und Gregorius Palamas).

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

eschatologischen Bilder, Metaphern und Vorstellungen innerhalb des Offenbarungszeugnisses der Heiligen Schrift zu einem einsichtigen Ausgleich bringen möchte. Meine folgende Darstellung ist demgegenüber bestrebt, diese verschiedenen Modelle im Sinne eines Prismas aufzugreifen, das uns die Seinsweise des Lebens in Gottes Ewigkeit in dessen verschiedenen Aspekten erahnen lässt. 4.5.4.1

Leben in Gottes belebender Ewigkeit

Die Schriften des neutestamentlichen Offenbarungszeugnisses haben das göttliche Walten, das das „Im-Tode-Sein“ der individuellen Person in ihren jenseitigzukünftigen Status verwandelt bzw. verklärt, im Horizont der apokalyptischen Trends der jüdischen JHWH-Gemeinschaft als Auferweckung bzw. als Auferstehung angesprochen.401 Die hermeneutische Erhellung dieser Schriften ist vor allem deshalb schwierig, weil sie pragmatisch – tröstend, warnend, ermahnend – auf verschiedene lebensweltliche Kontexte bezogen sind, ohne ein einheitliches Bild des eschatischen Geschehens zu entwerfen. Eine dogmatische Besinnung in ethischer Absicht wird daher versuchen, die wesentlichen Aspekte des eschatischen Geschehens zu skizzieren; und zwar unter dem Gesichtspunkt des Sinnes bzw. des Ziels oder des Endzwecks, den des dreieinen Gottes In-Gemeinschaft-Sein-Wollen mit Gottes Ebenbild verfolgt.402 401 Nach Ernst-Joachim Waschke, Art. Auferstehung I. Auferstehung der Toten 2. Altes Testament: RGG4 1, 915–916, bezeugt der Tanakh der jüdischen JHWH-Gemeinschaft die Hoffnung auf JHWHs „Vernichtung des Todes“ mit Sicherheit erstmals in redaktionellen Zusätzen zur sog. Jesaja-Apokalypse (Jes 24–27; 25,6-8; 26,19). Sie wird explizit in Dan 12,1-4, und zwar als Hoffnung auf JHWHs Gerechtigkeit angesichts der Erfahrungen des Leids und des Martyriums der „Frommen“: „Da das Problem der Theodizee den eigentlichen Hintergrund bildet, ist der A.(uferstehungs-)glaube hier noch ausschließlich auf Israel selbst beschränkt.“ (916). – Dem neutestamentlichen Offenbarungszeugnis liegen die Ereignisse des Dritten Tages zugrunde, die ihre Empfänger sowohl als „Auferweckung“ als auch als „Auferstehung“, als „Entrückung“ oder als „Erhöhung“ des Gekreuzigten versprachlichen. Damit meinen sie unisono den „österlichen Status“, nämlich dass Jesu im Tod am Kreuz auf Golgatha vollendetes Lebenszeugnis „an der göttlichen Wirklichkeit selbst Anteil hat“ (Jürgen Becker, Art. Auferstehung II. Auferstehung Jesu Christi 1. Neues Testament, ebd. 922–924; 924). Namentlich das Kerygma des Apostels Paulus und das Kerygma des Evangeliums nach Johannes intensivieren die apokalyptische Sicht, weil sie den Übergang aus dem „Im-Tode-Sein“ in die Teilhabe an Gottes ewigem Leben als das Ziel bzw. als den Endzweck der Wahl der Gnade Gottes des Schöpfers und daher im universalen menschheitlichen Sinn verstehen. 402 Vgl. zum Folgenden bes.: Friedrich Schleiermacher, CG2 § 161: Zweites prophetisches Lehrstück: Von der Auferstehung des Fleisches (II, 423–429 = KGA I.13,2, 474–480); Elisabeth Gräb-Schmidt und Reiner Preul (Hg.), Auferstehung, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2012 (MJTh XXIV), mit Beiträgen von Dietrich Korsch, Michael Wolter, Michael Beintker, Michael Welker und Andreas Feldtkeller; Christian Herrmann, Unsterblichkeit durch Auferstehung. Studien zu den anthropologischen Implikationen der Eschatologie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001 (FSÖTh; 83). – Auf dem Hintergrund der kritischen Analyse des vom ihm sog. „mythologischen Weltbilds“

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Erstens: Alle Aspekte des eschatischen Geschehens, die die dogmatische Besinnung im Licht des lumen gratiae zu benennen wagt, verstehe ich als Aspekte des vollendenden Waltens Gottes des Heiligenden Geistes. Was Gottes Heiligender Geist vollendet, ist jene innergeschichtliche Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16), die das notwendige Medium jener Wahrheit ist, die in die Freiheit führt. Ich hatte diese Formel durchgehend verwendet, um den je individuellen Lebensweg der Person in der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wesen zu charakterisieren. Dieser je individuelle Lebensweg bedarf der Vollendung, die mit dem Tode der Person bzw. mit dem „Ende aller Dinge“ beileibe noch nicht erreichbar ist. Zwar ist der jeweils individuelle Lebensweg in der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wesen erkennbar und erfahrbar an jener Gottesgewissheit, die in der Gemeinschaft einer Kirche das Glauben, das Hoffen, das Lieben, das Leben in der Selbstverantwortung vor Gott entstehen und bestehen lässt; aber er ist und bleibt verstrickt in die langzeitigen Geschicke einer Familie bzw. einer Ordnung der Gesellschaft, die nicht etwa nur segensreiche Fortschritte, sondern auch furchtbare Übel erzeugte und noch stets erzeugt.403 Insofern ist und bleibt die Wahrheit, die in die Freiheit führt, in dieser diesseitigen, in dieser irdischen Geschichts-Raumzeit stets angefochten: von den Versuchungen und von den Selbsttäuschungen, die uns als jeweils einzelnen vom Ungeist einer trügerischen Macht der technischen, der ökonomischen und der politischen Verblendung drohen. Dass dem so ist, das bringt die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen in den verschiedenen Ritualen der Buße und der Beichte zu Bewusstsein, die samt und sonders eine wiederholte Rückkehr in die Feier der Heiligen Taufe praktizieren. Sie dient der ehrlichen Erforschung des Gewissens um willen einer ernstgemeinten Reue. In ihr wird uns die existentielle Differenz zwischen Jesu Christi vollendeter Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wesen und unserem je individuellen Lebensweg schmerzlich klar (s. 4.2.3.1). Zweitens: Die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens richtet sich auf das eschatische Geschehen, das den je individuellen Lebensweg in einer drastisch

hat Rudolf Bultmann allen Vorstellungen einer „kosmischen Eschatologie“ als eines notwendigen Vorverständnisses des „eschatologischen Ereignisses“ Jesu Christi entschieden widersprochen; vgl. bes. Rudolf Bultmann, Jesus Christus und die Mythologie, jetzt in: GuV Bd. 4, 140–189. Sein Widerspruch beruht allerdings auf einer existentialen Ontologie des menschlichen Person-Seins, die eine Phänomenologie des Sinnes von Sein zu Unrecht als objektivierende (Natur)-Wissenschaft ausblendet. 403 Vgl. hierzu meine ausführliche Analyse des „Syndroms des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids“ (s. 3.2.; 3.3).

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

unvollendeten und unvollkommenen Willensgemeinschaft mit Gott selbst durch Gottes Heiligenden Geist vollendet. Aus diesem Grunde ist es konvenient, mit Hilfe des semantischen Feldes der „Auferweckung“ und der „Auferstehung“ die jeweils individuelle Identität der Person jenseits des Todes und des „Im-Tode-Seins“ in Gottes Gedenken zu verstehen. Dieses semantische Feld bezeichnet mithin die schöpferische Erhebung in jene Seinsweise, die durch reales „Sich-gegenwärtigSein“ der individuellen geschaffenen Person ausgezeichnet ist. Es verneint damit die Möglichkeit eines abstrakten, eines leiblosen bzw. eines namenlosen „Sichgegenwärtig-Seins“ der individuellen geschaffenen Person, das keinerlei Kontinuum mit ihrem diesseitigen, mit ihrem irdischen, mit ihrem innergeschichtlichen „Sich-gegenwärtig-Sein“ aufweisen würde. Die Hoffnungsgewissheit des ChristusGlaubens schließt diese Möglichkeit entschieden aus; denn sie erwartet eben das Geschehen, das unsere jeweilige Lebensgeschichte in ihrer jeweiligen existentiellen Differenz zum Leben Jesu Christi vollendet. Wenn sie sich auf die Seinsweise eines leibhaften bzw. eines namentlichen „Sich-gegenwärtig-Seins“ der individuellen Identität richtet, so hat sie damit das soziale bzw. das kommunikative Wesen des geschaffenen Person-Seins im Blick. Lässt sich dies Hoffnungsbild, das in der geistgewirkten Gewissheit des schöpferischen und des versöhnenden Waltens Gottes gründet, noch etwas deutlicher bestimmen? In seiner Korrespondenz mit der Gemeinde zu Korinth hat der Apostel Paulus mit dem Mute der Verzweiflung den Versuch gemacht, die jenseitige, die himmlische bzw. die eschatische Seinsweise als die des „geistlichen Leibes“ (σϖμα πνευματικόν) im Unterschied zur diesseitigen, zur irdischen bzw. zur innergeschichtlichen Existenzform des „natürlichen Leibes“ (σϖμα ψυχικόν) der geschaffenen Person anzusprechen (1Kor 15,44). Nach 1Kor 15,49 versteht er sie als diejenige absolutzukünftige Seinsweise, die dem schon jetzt erscheinenden „Bild des himmlischen (verstehe: des himmlischen Menschen bzw. des Menschen ‚vom Himmel‘)“ entsprechen wird. Ich präzisiere diese Ausdrucksweise, indem ich sie umforme in den Begriff des „Sich-im-geistlichen-Leibe-gegenwärtig-Seins“ in Gottes Ewigkeit. Von der absolut-zukünftigen Seinsweise der geschaffenen Person im Sinne ihres „Sich-im-geistlichen-Leibe-gegenwärtig-Seins“ in Gottes Ewigkeit dürfen wir auf der Linie des Apostels Paulus sprechen, weil der Leib – wie wir gesehen haben (s. 2.4.2.1) – das Medium ist, in welchem wir einander sehend, redend, hörend, fühlend, sorgend und liebend begegnen. Als Basis ebenso wie als Ausdrucksgestalt der Seele – des jeweils individuellen Selbst-Seins bzw. des jeweils individuellen „Sich-gegenwärtig-Seins“ – ist er die faktisch notwendige Bedingung unseres wechselseitigen Seins-für-Andere und Seins-mit-Anderen. Er ist sowohl die Basis als auch die Ausdrucksgestalt der gewollten, der bedingten bzw. der abhängigen Freiheit des geschaffenen Person-Seins; und er ist insofern einbezogen in deren sei es bestimmungswidrigen sei es bestimmungsgemäßen Gebrauch. Nur im Medium

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des geschlechtlich differenzierten Leibes vermögen wir zu leiden; nur im Medium des geschlechtlich differenzierten Leibes vermögen wir zu wollen, zu handeln, zu lieben und zu genießen; nur im Medium des geschlechtlich differenzierten Leibes begegnen wir einander in unserer je unverwechselbaren Gestalt.404 Unter dem „Sich-in-einem-geistlichen-Leibe-gegenwärtig-Sein“ verstehe ich deshalb diejenige absolut-zukünftige Seinsweise der geschaffenen Person in Gottes Ewigkeit, die kraft des Heiligenden Geistes der Befreiung von der „Niedrigkeit“ bzw. von der „Schwachheit“ (1Kor 15,43) dieser diesseitigen, dieser irdischen, dieser innergeschichtlichen Lebensform und Lebensgeschichte teilhaftig wird. Ist nämlich Gottes Heiligender Geist diejenige Weise des göttlichen Waltens, kraft derer uns das Christus-Geschehen – das Geschehen der Versöhnung, das Geschehen des „Friedens mit Gott“ (Röm 5,1) – im Hier und Jetzt unserer Lebensgeschichte anfänglich und verheißungsvoll erschlossen wird (vgl. Röm 8,11; 1Kor 14,25), so ist er eo ipso diejenige Weise des göttlichen Waltens, welche die hier und jetzt so fragmentarische, so problematische, so angefochtene Umkehr in die selbstbewusstfreie Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wesen vollenden wird. Was heißt das? In seinem Brief an die Gemeinde zu Philippi bringt der Apostel Paulus eingangs seine „gute Zuversicht“ zum Ausdruck: „dass der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird’s auch vollenden bis an den Tag Christi Jesu.“ (Phil 1,6)

Der Apostel formuliert in diesem Nebensatz ganz offensichtlich eine Gottesprädikation, die das „gute Werk“ des christlich-frommen Selbstbewusstseins und seines Lebenszeugnisses im Raum der Kirche ganz und gar dem „ontologischen Status“ (Eilert Herms) des göttlichen Wesens zuschreibt. Ich hatte dieses „gute Werk“ in meiner ganzen systematischen Besinnung stets mit der Formel Durch Wahrheit zur Freiheit charakterisiert, die sowohl den Grund als auch die Wirkungsweise der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens namhaft macht. Zwar gründet diese Gottesgewissheit als ein ausgezeichneter Fall einer Sicht des Sinnes von Sein von ihrem Anfang in der Lebensgeschichte an im Offenbar-Werden ihrer Wahrheit; aber sie unterliegt in dieser irdischen Geschichts-Raumzeit immer noch den mannigfachen Ängsten, Zweifeln und Versuchungen, von denen jede aufrichtige history des Christ-Seins wird erzählen müssen. Das „gute Werk“ des christlich-frommen 404 Darin sehe ich die fundamental-anthropologische Basis der jüdisch-christlichen Erwartung einer „Auferweckung“ bzw. einer „Auferstehung“, die sich insofern erheblich unterscheidet von der Idee der „Unsterblichkeit“ im Sinne des antiken Philosophierens sowohl in seiner platonischen als auch in seiner aristotelischen als auch in seiner stoischen Form, die das Wesen des leibhaften Person-Seins verfehlt.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

Selbstbewusstseins und seines Lebenszeugnisses im Raum der Kirche bedarf der qualitativen Vollendung. Unter der qualitativen Vollendung des in dieser irdischen Geschichts-Raumzeit werdenden christlich-frommen Selbstbewusstseins und seines Lebenszeugnisses in selbstbewusst-freier Willensgemeinschaft mit Gott verstehe ich daher die Aufhebung des Gegensatzes bzw. die Aufhebung der Ambivalenz zwischen dem Wollen und dem Vollbringen des Guten (vgl. Röm 7,18), die wir hienieden spüren in der aufrichtigen Erfahrung des Gewissens. In dieser Form erstrebt die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens mit Hilfe des semantischen Feldes der „Auferweckung“ bzw. der „Auferstehung“ nicht etwa nur so etwas wie ein Mittel zum Zweck; sie erstrebt vielmehr das reine WirklichWerden und Wirklich-geworden-Sein des Guten, das wir in dieser unserer irdischen Geschichts-Raumzeit zu bewirken suchten. Und sie erwartet so die konkrete „Kontinuität der Persönlichkeit“ (CG2 § 161,2 [II, 428 = KGA I.13,2, 479]) in der Einheit ihres Selbst-Seins und ihres Mit-und-für-Andere-Seins.405 4.5.4.2

Leben in Gottes richtender Ewigkeit406

Die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) schließt je-

405 Im Unterschied zu Friedrich Schleiermachers Interpretation des „prophetischen Lehrstücks“ Von der Auferstehung des Fleisches (CG2 § 161 [II, 423–429 = KGA I.13,2, 474–480]) schreibe ich diese Erwartung der „Kontinuität der Persönlichkeit“ nicht der „göttlichen Kraft Christi“ (ebd. 429 = KGA I.13,2, 348) im engsten christologischen Sinne zu, sondern der offenbarenden Kraft des Heiligenden Geistes, der als solcher der Geist des Christus Jesus ist. 406 Vgl. Zum Folgenden bes.: Friedrich Schleiermacher, CG2 § 162 (II, 429–433 = KGA I.13,2, 481–486) i. V. m. § 163 Anhang: „Von der ewigen Verdammnis“ (II, 437–439 = KGA I.13,2, 490–493); Walter Kreck, Die Zukunft des Gekommenen. Grundprobleme der Eschatologie, München: Chr. Kaiser, 1961, 121–148; Klaus Seybold/Roger David Aus/Egon Brandenburger/Helmut Merkel/Eberhard Amelung, Art. Gericht Gottes: TRE 12, 459–497; Sigurd Hjelde/Bernd Janowski/Gerold Necker/ Werner Zager/Konrad Stock, Art. Gericht Gottes: RGG4 3, 731–738; Bernd Janowski, JHWH der Richter – ein rettender Gott, jetzt in: Ders., Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1999, 92–114; Jan Assmann/Bernd Janowski/Michael Welker, Richten und Retten. Zur Aktualität der altorientalischen und biblischen Gerechtigkeitskonzeption, ebd. 220–246; Wolfhart Pannenberg, STh III, 654–677: Das Gericht und die Wiederkunft Christi; Jürgen Moltmann, Das Kommen Gottes (wie Anm. 348), 264–284; Walter Dietrich/Christian Link, Die dunklen Seiten Gottes. Bd. 2: Allmacht und Ohnmacht, NeukirchenVluyn: Neukirchener Verlag, 2000, 315–359: Der richtende Gott; Gregor Etzelmüller, „… zu richten die Lebendigen und die Toten“. Zur Rede vom Jüngsten Gericht im Anschluß an Karl Barth (wie Anm. 395); Eberhard Jüngel, Das jüngste Gericht als Akt der Gnade, jetzt in: Ders., Anfänger. Herkunft und Zukunft christlicher Existenz, Stuttgart: Radius-Verlag, 2003, 37–73; Eilert Herms, STh (Bd. 1), 1109–1113.

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nen Aspekt des eschatischen Geschehens der Vollendung ein, den das biblische Offenbarungszeugnis mittels des semantischen Feldes eines gerechten Richtens zur Sprache bringt (vgl. Röm 1,32; 2,2.16; 5,16). Dieses semantische Feld intendiert ganz allgemein im Rückgriff auf die „soziomorphe“ Metaphorik des Königs das SichVerantworten der geschaffenen, der selbstbewusst-freien Person vor des dreieinen Gottes Person-Sein. Kein Moment des christlich-frommen Selbstbewusstseins bedarf einer gründlicheren kritischen Revision als das überlieferte Wortbekenntnis zur Parusie des Christus Jesus „zu richten die Lebenden und die Toten“; denn dies Moment des Wortbekenntnisses erzeugt von Anfang an die Aporie, dass das eschatische Geschehen nicht etwa nur als das Geschehen der seligmachenden Vollendung sehnlichst erhofft, sondern auch als das Geschehen definitiver Unseligkeit zutiefst gefürchtet wird. Seit den Wandmalereien von St. Johann in Müstair (Schweiz) um 800 dominiert im abendländischen Weltgerichtsbild der in der Mandorla thronende richtende Christus, der gemäß der Rede des Evangeliums nach Matthäus über die Endzeit die „Gerechten“ ins ewige Leben erhebt, die „Verfluchten“ dagegen ins ewige Feuer verdammt (Mt 25,31-46). Es identifiziert die mythische Figur eines kommenden Menschensohns umstandslos mit der richtenden Ewigkeit des göttlichen Wesens, ohne der Frage stattzugeben, ob diese Identifikation nicht einer selbstwidersprüchlichen Weise des christlich-frommen Selbstbewusstseins Vorschub leiste.407 Ist diese Aporie, die – wie ich aus Gesprächen weiß – massive neurotische Ängste erzeugte und erzeugt, zu überwinden? Nun: Diese Aporie ist nur zu überwinden, wenn wir uns entschieden auf das Wesentliche des christlich-frommen Selbstbewusstseins und auf dessen Selbstanschauung bzw. auf dessen Sicht des Sinnes von Sein besinnen. Das sei im Folgenden gezeigt.408

407 Vgl. bes. Peter K. Klein, Art. Jüngstes Gericht III. Kunstgeschichtlich: RGG4 4, 712–714 (Lit.). In der Bildgeschichte des lateinischen Christentums ragen hervor: Michelangelos monumentales Fresko in der Sixtinischen Kapelle (vollendet 1541) sowie die beiden Gemälde von Peter Paul Rubens (Alte Pinakothek München, 1615/16 und 1618/20). Soweit ich sehe, ist dieser Bildtypus, der vor allem auch die westlichen Eingangsportale der großen Dome und Kathedralen des lateinischen Christentums dominiert, in der Bildsprache und in der Kirchenarchitektur der orthodoxen Kirchengemeinschaften unbekannt. – Zur hier anschließenden Thematik der Hölle vgl.: Christoph Auffarth/Cornelis Houtman/Hubert Frankemölle/Bernhard Lang/Walter Sparn/Gerold Necker/ Ulrich Rudolph/Christoph Kleine/Ulrich Kuder, Art. Hölle: RGG4 3, 1844–1855; Herbert Vorgrimler, Geschichte der Hölle, München: Fink, 1993. 408 Für die theologiegeschichtliche Begründung meiner folgenden Darstellung verweise ich insbesondere auf die Analyse der „klassischen Erwählungslehre“ Augustins und ihrer Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte in der Kirche unter dem Bischof vom Rom bei Wolfhart Pannenberg, STh III, 477–485.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

Erstens: Dem Christus-Glauben wird durch Gottes Heiligenden Geist im Raum der religiösen Kommunikation des Evangeliums als wahr gewiss, dass ihm der unbedingte Heilssinn des dreieinen Gottes – des schöpferischen Grundes und Ursprungs des All des Seienden – erschlossen ist. Ihm ist der unbedingte Heilssinn des dreieinen Gottes erschlossen als die singuläre Antwort auf die fundamentale Frage, die in der schieren Faktizität des leibhaften, des selbstbewusst-freien Person-Seins in diesem ungeheuren Universum steckt: es ist die Frage, woraufhin und worumwillen ich im Hier und Jetzt der Menschheit mein Leben von begrenzter irdischer bzw. diesseitiger Dauer zu führen und zu verantworten habe. Jede vernünftige Besinnung auf den Aspekt des eschatischen Geschehens, den das semantische Feld des gerechten Richtens meint, wird daher zuallererst an die Bestimmung erinnern, welche der Christus-Glaube an der schieren Faktizität des leibhaften, des selbstbewusstfreien Person-Seins in diesem ungeheuren Universum wahrnimmt. Ohne dieser Bestimmung eingedenk zu sein, wird man den Sachverhalt, den das semantische Feld des gerechten Richtens im Ganzen des eschatischen Geschehens intendiert, als Nonsense bzw. als Ausdruck des puren „Willens-Wahnsinns“ diskreditieren.409 Wie immer wieder gezeigt, verstehe ich unter dieser Bestimmung die Lebensform und Lebensführung der leibhaft existierenden Person in selbstbewusst-freier Willensgemeinschaft mit Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen (s. 2.4.2.3). Sie ist als solche das Höchste Gut des „Bildes Gottes“ – des leibhaft existierenden Person-Seins –, in dem wir die Erfüllung aller Möglichkeiten finden, die unserem ephemeren Dasein in einer Familie, in der Kultur einer Gesellschaft, in einer Religionsgemeinschaft gegeben sind. Mit dieser Bestimmung ist das Sittlich-Gute gemeint, dem wegen seines Grundes in des dreieinen Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen der Charakter des Unbedingten eignet. Im Gegensatz zur Ansicht der mythischen Erzählung der „Urgeschichte“ (Gen 1,1–3,25; vgl. Röm 5,12) bzw. im Gegensatz zur Konzeption des von Natur aus Rechten ist diese Bestimmung des unbedingt Sittlich-Guten keineswegs von jeher und unvermittelt erkennbar und erkannt. Sie wird vielmehr erschlossen in einer „Offenbarungsgeschichte“ (s. 3.4.2). In dieser Offenbarungsgeschichte ereignet sich ein Gott-Verstehen, das mehr und mehr die Eigenart des schöpferischen Grundes und Ursprungs des All des Seienden zu erkennen sucht. Es findet zum Begriff des göttlichen In-Gemeinschaftsein-Wollens, der als solcher das Woraufhin und Worumwillen Gottes impliziert, welches im ursprünglichen Akt des göttlichen Sich-selbst-Bestimmens wurzelt.

409 So Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. 2. Abhandlung: „Schuld“, „Schlechtes Gewissen“ und Verwandtes, in: Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta, Zweiter Band, München: Carl Hanser Verlag, 8 1977, 833: das „Richtertum Gottes“ als „eine Art Willens-Wahnsinn in der seelischen Grausamkeit“.

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„Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin.“ (Röm 8,24)

Dieser Begriff definiert den formalen Grund der Geltung und der bindenden Kraft des unbedingt Sittlich-Guten, so wie ihn schon die jüdische JHWHGemeinschaft sieht. Im Lichte dieser Sicht des formalen Geltungsgrundes entwickelt sie in ihrer Geschichte das materiale Modell alltäglicher konkreter Sittlichkeit, das ich mit Eckart Otto als das Ergebnis einer konsequenten „Theologisierung“ des Gesetzes bzw. des Rechten auffasse.410 Sie ist die Quelle der Erkenntnis, dass dem göttlichen Wollen als dem Grund des unbedingt Sittlich-Guten auch die königliche Kompetenz des Richtens zuzuschreiben ist. Innovative Beiträge der alttestamentlichen Bibelwissenschaft machen darauf aufmerksam, dass dieses materiale Modell konkreter Sittlichkeit ganz wesentlich die Pflichten der Solidarität im Verhältnis zu den armen, den unterdrückten, den unschuldig leidenden Gliedern der jüdischen JHWH-Gemeinschaft umfasst. Insofern schließt die Prädikation des königlichen Richtens sowohl die unerbittliche Ahndung des Unrechten als auch die „barmherzige“ Kompensation für das erlittene Leid bzw. die Erlösung und Befreiung aus erlittenem Leid zusammen.411 Die traumatische Erfahrung des Exils hat die jüdische JHWH-Gemeinschaft dazu gebracht, in der Form einer grandiosen Buße das Scheitern Israels an Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen zutiefst zu bereuen und die Erfüllung dieses Wollens überhaupt „auf die Erwartung einer messianischen Zukunft“ auszurichten.412 Darüber hinaus ist es das Leid des menschlichen Todesgeschicks sowie das Leid der Unterdrückung, die die apokalyptische Literatur dazu bewegt, die Hoffnungsgewissheit der jüdischen JHWH-Gemeinschaft auf das eschatische Richten Gottes zu entwickeln. Sie schreibt die duale Struktur der Vorstellung eines endgültigen Gerichts vor, das innergeschichtliches Unrecht vernichtend ahndet und innergeschichtliches Leiden heilt bzw. innergeschichtliche Erfüllung des göttlichen In-Gemeinschaft-sein-Wollens anerkennt. Dass diese duale

410 Vgl. Eckart Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart: Kohlhammer, 1994, 81–116. 411 Vgl. hierzu bes. die Beiträge von Bernd Janowski, Die rettende Gerechtigkeit, Tübingen: Mohr Siebeck, 1999; Ders., Art. Gericht Gottes II. Altes Testament; RGG4 3, 733–734. – Dem Ethos der Solidarität in der jüdischen JHWH-Gemeinschaft hat vor allem Eckart Otto wichtige Untersuchungen gewidmet; vgl. Eckart Otto, Art. Ethik III. Biblisch 1. Altes Testament: RGG4 2, 1603–1606. 412 Vgl. Eckart Otto, Art. Gesetz II. Altes Testament: RGG4 3, 845–848; 847f. – Otto folgt hier seiner Rekonstruktion der Komposition des Tanakh, die die „Vorderen Propheten“ (Jos–2Kön) als die Verknüpfung von Tora und corpus propheticum betrachtet und damit das Verständnis der Geschichte als der Geschichte des „Scheiterns“ am Gesetz in die Hoffnung auf die – innergeschichtlich gedeutete – messianische Zukunft aufhebt. In welcher Weise die Schriften des corpus propheticum sich den „neuen Bund“ des Lebens in der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gott vorstellen (vgl. bes. Jer 31,31-34), lassen sie ebenso ungesagt wie die Bedingung, unter der sich die Gotteserkenntnis ereignen wird, die Gottes „Gesetz“ im Selbstbewusstsein der Person dauerhaft verankert. Erst die Ereignisse des Dritten Tages begründen die religiöse Kommunikation, die dieses Dunkel lichtet (vgl. Lk 2,32; Joh 3,19; 8,12).

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

Struktur sich grundsätzlich von dem bewegenden Motiv der Reue JHWHs entfernt (vgl. bes. Gen 8,21f.; Hos 11,8-11), liegt wohl auf der Hand.413 Zweitens: Dem Gott-Verstehen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft entsprechend hält der Christus-Glaube daran fest, dass das semantische Feld des gerechten Richtens auf die Erkenntnis des unbedingt Sittlich-Guten zurückverweist. Er sieht die Quelle dieser Erkenntnis nicht in der gesetzgebenden Kraft der reinen praktischen Vernunft im Sinn Immanuel Kants 414 , sondern im endgültigen Offenbar-Werden jener Bestimmung, die Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen mit „Gottes Bild“ – mit dem leibhaften Person-Sein eines jeden Menschen – begründet. Dies OffenbarWerden gilt ihm als die normative ethische Instanz, vor der sich die Person als ethisches Subjekt in ihrem Gewissen letztlich verantwortlich weiß bzw. wissen muss.415 Aus diesem Grunde hält das Wortbekenntnis des Christus-Glaubens an der Erwartung eines gerecht richtenden Waltens des göttlichen Wesens fest. Es spricht auf diese Weise die Erfahrung des Gewissens aus, dass das leibhafte Person-Sein eines jeden Menschen in das Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids verstrickt ist (vgl. bes. Röm 1,18-3,20). Allerdings vertieft es die Erkenntnis Gottes als der normativen ethischen Instanz, weil es bzw. indem es die Gewissheit des versöhnenden Waltens Gottes des Schöpfers im Christus Jesus artikuliert (s. 3.6). Diese durch Gottes Heiligenden Geist hervorgerufene Gewissheit ist es, die die Erwartung eines gerecht richtenden Waltens als eines wesentlichen Aspekts des eschatischen Geschehens radikal verändert. Ich sehe diese radikale Veränderung darin, dass die Erwartung eines gerecht richtenden Waltens in die Hoffnung des Christus-Glaubens auf die jenseitig-zukünftige Vollendung der diesseitig gelebten Lebensgeschichte einbezogen wird. Die in der Gottesgewissheit des Christus-Glaubens erhoffte jenseitig-zukünftige Vollendung der diesseitig gelebten Lebensgeschichte schließt nämlich die Erfahrung der Freiheit des Gewissens ein (s. 4.3.5). Ich formuliere damit eine Regel, mit deren Hilfe und in deren Licht der apokalyptische Rahmen, den manche neutestamentlichen Zeugnisse des unbedingten

413 Vgl. hierzu bes. Jörg Jeremias, Die Reue Gottes. Aspekte alttestamentlicher Gottesvorstellungen, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2 1997 (BthSt; 31). – Ganz abgesehen davon scheint es in der alttestamentlichen Bibelwissenschaft unklar zu sein, in welcher Weise sich die jüdische JHWHGemeinschaft die innergeschichtliche Wirksamkeit gedacht hat, die sie mit dem semantischen Feld des königlichen Richtens JHWHS bezeichnen wollte. Hier scheint es mir an einer Vermittlung von „Theologie“ und „Sozialgeschichte“ zu mangeln. 414 Vgl. Immanuel Kant, KpV (W IV, 103–302), 142: „Reine Vernunft ist für sich allein praktisch, und gibt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen.“ (Unterstreichung im Original gesperrt). 415 Vgl. hierzu Wilfried Härle, Ethik, Berlin/New York: De Gruyter, 2011, 92–129.

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Heilssinns des dreieinen Gottes und insbesondere die Zeugnisse des Apostels Paulus gebrauchen, von Grund auf zu kritisieren ist.416 Diese Regel stellt die duale Struktur der apokalyptischenVorstellung eines universalen Weltgerichts und deren Entfaltung in der kirchlich-theologischen Eschatologie vehement in Frage; sie kommt statt dessen auf den genuinen Sinn der Komposition des Tanakh der jüdischen JHWH-Gemeinschaft mit ihrer „Erwartung einer messianischen Zukunft“ (s. o. Anm. 412) zurück. Wegweisend dafür ist die ergreifende Prophetie des Jeremia-Buchs: „… das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein. Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: ‚Erkenne den HERRN‘, denn sie sollen mich erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der HERR; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.“ (Jer 31,33-34).

Das sei im Folgenden gezeigt. Ad 1: Im Raum und in den Medien der religiösen Kommunikation des Evangeliums wird der Person durch Gottes Heiligenden Geist das Christus-Geschehen erschlossen, von dem das Evangelium nach Johannes sagt: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“ (Joh 1,29).

Die Gottesgewissheit des Christus-Glaubens ist daher in ihrem harten Kern die jeweils individuelle Gewissheit, mit Gott versöhnt zu sein (Röm 5,1; 2Kor 5,19). In ihr ist freilich stets vorausgesetzt und mit enthalten die Erfahrung des Gewissens, in jeweils individueller Weise an der allgemein-menschlichen Verstrickung ins Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids teilzuhaben; in ihr

416 Entscheidend wichtige Anstöße zu solcher Kritik sind zu verdanken J. Christine Janowski, Allerlösung. Annäherungen an eine entdualisierte Eschatologie, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2000 (Neukirchener Beiträge zur systematischen Theologie; 23/1.2). – Diese Kritik setzt dann allerdings die Kritik am Grundgedanken der Versöhnungslehre voraus, die Karl Barth entwickelte (vgl. bes. KD IV/1, 231–311). Nach Barth ist der Tod des Christus Jesus am Kreuz auf Golgatha zu verstehen als der Vollzug des gerechten Urteils Gottes des Vaters, das der Christus Jesus als der gehorsame Sohn des Vaters für uns erleidet; und zwar „in seiner völligen Bejahung … jenes Vollzugs des Gerichts (verstehe: des eschatischen Gerichts) im Gerichtetwerden des Richters.“ (KD IV/1, 284 [Hervorhebung im Original gesperrt]). In der nicht mehr ausgeführten „Lehre von der Erlösung“ würde Barth infolgedessen Christus als das Subjekt des eschatischen Richtens dargelegt haben. Vgl. demgegenüber 4.5.4.2.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

ist also stets vorausgesetzt und mit enthalten das Bewusstsein, an des dreieinen Gottes unbedingtem In-Gemeinschaft-sein-Wollen und damit am ontologischen Grundverhältnis zur normativen ethischen Instanz des göttlichen Wesens schuldig zu werden und schuldig geworden zu sein. In der Erfahrung des Gewissens geht die Person mit sich selbst „ins Gericht“ (vgl. Ps 143,2) bzw. geht sie „in sich“ (Lk 15,17) in der Form der Reue. Die Gottesgewissheit des Christus-Glaubens schließt daher ganz wesentlich die Erfahrung der Freiheit des Gewissens ein, die namentlich im Ritual der Buße und des Schuldbekenntnisses der Beichte entstehen und bestehen wird. Sie – diese Erfahrung – wird als wahr und als vertrauenswürdig erlebt, weil sie der unbedingten Treue des göttlichen Wesens zu seinem unbedingten Heilssinn inne ist und inne bleibt. Es ist daher das Wichtigste in der extremen Situation des Sterbens und in der einfühlsamen Sterbebegleitung, den Tod annehmen zu können kraft der Erfahrung der Freiheit des Gewissens, die aus der Gewissheit der unbedingten Treue des göttlichen Wesens erwächst.417 Mit der Vorstellung eines universalen Weltgerichts und mit dem semantischen Feld des gerechten Richtens bezeichnet das Wortbekenntnis des Christus-Glaubens mithin jenen Aspekt des eschatischen Geschehens, der die Erfahrung der Freiheit des Gewissens, die sich in dieser unserer diesseitigen, irdischen Lebensgeschichte ereignet, für das jenseitig-zukünftige Geschehen in der „Zeit der Ewigkeit“ erhofft. Wenn die Gewissheit des Christus-Glaubens hier und jetzt die Vorstellung eines universalen Weltgerichts und eines jenseitig-zukünftigen Richtens gebraucht, so gibt sie dem Bewusstsein Raum, dass das Leben in der Erfahrung der Freiheit des Gewissens hienieden nicht allein unvollkommen und unvollendet, sondern stets auch schuldbeladen bleibt. Gleichzeitig aber gewährt sie die Freude, die „Häupter zu erheben, weil sich eure Erlösung naht“ (Lk 21,26): jene Erlösung nämlich, die dem Heiligenden Geist der Verzeihung zu danken ist (s. u. S. 778ff.). Ad 2: Die duale Struktur des apokalyptischen Mythos, die de facto den Rahmen mancher neutestamentlicher Offenbarungszeugnisse bildet, hat die religiöse Mentalität zumal der abendländischen Christentumsgeschichte nachhaltig und verhängnisvoll geprägt. Wollen wir ihre Aporie überwinden, so müssen wir das Wortbekenntnis des Christus-Glaubens zu des dreieinen Gottes unbedingtem Heilssinn ernst nehmen, das uns das trinitarische Verstehen des göttlichen Wesens nahelegt. Wie Gottes schöpferisches Walten und Gottes versöhnendes Walten ist Gottes vollendendes Walten zu guter Letzt das Walten jenes unbedingten In-Gemeinschaft-

417 Nicht zuletzt deshalb, weil das Morden die Freiheit versperrt, in der Situation des Sterbens den Tod annehmen zu können, ist es ethisch und rechtlich unbedingt verwerflich.

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sein-Wollens, welches im Sich-selbst-Bestimmen des Seins Gottes als Geist gründet (s. 1.5.3.3.1). Was heißt das?418 Drittens: Um diese Frage vernünftig zu beantworten, gehe ich vom Bekenntnis des Christus-Glaubens zu Gottes Heiligendem Geiste aus. Im Anschluss an Martin Luthers Auslegung des 3. Artikels des Apostolicum habe ich gezeigt, dass Gottes Walten kraft des Heiligenden Geistes der jeweilige Grund und Ursprung eines Lebens im Gewiss-Werden der befreienden Wahrheit ist (Joh 8,32); denn ihm verdanken wir im Raum der religiösen Kommunikation des Evangeliums diejenige Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins, die uns des Friedens mit Gott (vgl. Röm 5,1) gewiss sein und gewiss bleiben lässt. Ihm eignet offenbarende Kraft, die sich in unserer täglichen Umkehr in die selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit Gott selbst bewährt. Erhoffen wir das eschatische Geschehen insgesamt als jenseitig-zukünftige Vollendung unserer diesseitigen bzw. unserer irdischen Lebensgeschichte, so ist es höchst angemessen, sie jenem ewigen Walten des Heiligenden Geistes zuzuschreiben, das uns in unserer diesseitigen bzw. in unserer irdischen Lebensgeschichte unvollkommene und unvollendete Anfänge des Glaubens, des Hoffens, des Liebens und der Selbstverantwortung vor Gott erschloss (vgl. bes. Phil 1,6; s. 4.3.5). Das jenseitige bzw. das absolut zukünftige Walten des Heiligenden Geistes besteht gemäß der Regel der analogia fidei bzw. der analogia spei mithin darin, die innergeschichtlich unvollkommene und unvollendete Gewissheit des Wahr-Seins des versöhnenden Wortes des schöpferischen Wortes (s. 4.3.1) zu vollenden. Es macht uns – und wie noch zu zeigen ist: den Menschen aller Geschichts-Raumzeiten – den Heilssinn und die Tragweite des Lebenszeugnisses und des Geschicks des Christus Jesus bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha schlechthin unverborgen offenbar. In dieser Weise und letztendlich nur in dieser Weise erfüllt Jesu Christi Heiligender Geist, was in der ergreifenden Prophetie des Jeremia-Buchs geschrieben steht. Im endgültigen Offenbar-Werden dieses Heilssinnes bzw. dieser Tragweite der Existenz des Christus Jesus wird allerdings eodem actu alles offenbar, was uns hienieden ins Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids verstrickte und verstrickt. Es wird uns schlechterdings unverdrängt und unverborgen gegenwärtig sein; und zwar als die je individuelle Verfehlung an des dreieinen Gottes

418 Vgl. zum Folgenden bes.: Wolfhart Pannenberg, STh III, 668–672: Das Werk des Geistes in Gericht und Verklärung. – Es ist erstaunlich, aber doch nicht überraschend, dass Pannenbergs Darstellung eine verschiedene Bibelstellen verknüpfende Betrachtung bietet, die ersichtlich von dem monarchischen bzw. von dem unitarischen Kern seiner Fassung der Trinitätslehre bestimmt ist (vgl. bes. 672: „Es ist derselbe Geist, der den Glaubenden schon durch ihre Taufe verliehen ist und der sie befähigt, in Teilnahme am Sohnesverhältnis Jesu Christi zum Vater Gott als ihren Vater (sic!) anzurufen …“).

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

In-Gemeinschaft-sein-Wollen. Indem uns Gottes Heiligender Geist den Heilssinn bzw. die Tragweite der Existenz des Christus Jesus schlechthin unverborgen offenbart, lässt er die jeweils individuelle Verantwortung vor jener normativen ethischen Instanz erkennen und anerkennen, die das göttliche Wesen kraft des ontologischen Grundverhältnisses von Sein und Seiendem ist.419 Entsprechend dem Aspekt der „Auferweckung“ bzw. der „Auferstehung“ ist es der Heiligende Geist des Christus Jesus, der die leibhafte Person als Glied des Menschengeschlechts aus ihrem „Im-Tode-Sein“ in das eschatische Geschehen des gerechten Richtens erhebt. In dem eschatischen Geschehen des gerechten Richtens und erst in ihm wird die prophetische Verheißung einer „messianischen Zukunft“ (s. o. Anm. 412) erfüllt, in der die „Wahl der Gnade“ zu ihrem Ziele kommt. Sie kommt zu ihrem Ziel, indem der Heiligende Geist des Christus Jesus die immer wieder fragmentarische und immer wieder angefochtene Erfahrung der Freiheit des Gewissens endgültig bekräftigt; und zwar nicht ohne das je besondere bzw. das je individuelle „In-der-Sünde-Sein“ der Person schmerzhaft bewusst zu machen.420 Ist das alles? In der Grundsituation des Christus-Glaubens – in der immer wieder angefochtenen Erfahrung der Freiheit des Gewissens – ist die Wahrnehmung des erlittenen Leids, das auch ich selbst verschuldete und verschulde, in diachroner und in synchroner Weise stets präsent. In ihr ist eine Asymmetrie präsent zwischen mir, der ich als Glied der Kultur einer Gesellschaft in das Verschulden des ökonomischen, des politischen, des ethischen Elends verstrickt bin, und all denen, die dieses Elend in mannigfachen Konstellationen der Ausbeutung und der Unterdrückung erlitten haben und erleiden. Es ist daher eine nicht nur berechtigte, sondern auch unausweichliche Frage, ob – und wenn ja, in welcher Weise – die Hoffnung des Christus-Glaubens auf das eschatische Geschehen eines gerechten Richtens eine wie auch immer vorzustellende Wiedergutmachung bzw. einen befreienden Trost für alle die einschließt, die solches Elend zu erleiden hatten. Schließlich prägt dies innergeschichtlich erlittene Leid unwiderruflich die individuelle soziale Identität.421

419 In diesem Moment des Waltens des Heiligenden Geistes sehe ich den Sachgehalt der metaphorischen Ausdrucksweise, die das gerechte Gericht im Anschluss an 1Kor 3,12ff. als „Läuterungsfeuer“ bzw. als „eschatologisches Feuer“ verstehen möchte; vgl. Wolfhart Pannenberg, STh III, 663–667. Pannenberg bezieht sich im Wesentlichen zustimmend auf Joseph Ratzinger, Eschatologie – Tod und ewiges Leben, Regensburg: Pustet, 6 1990, 186ff., der darin die tradierte römisch-katholische Lehre vom Fegfeuer (vgl. DH 856; 1580; 1820) interpretieren möchte. 420 Vgl. hierzu Eilert Herms, STh (Bd. 1), 1108: „Alle (sic!) sollen und werden im Genuß des Vergebenseins ihrer Schuld selig sein …, und somit wird dieser Genuß ein durchgehend individueller sein.“ 421 Es ist das Verdienst von Gregor Etzelmüller, sich dieser in der dogmatischen „Eschatologie“ – ebenso wie in der durchschnittlichen Kommunikation im Raum der Kirche - weithin übergangenen Frage im Anschluss an Karl Barth sowie im Anschluss an die bibelwissenschaftlichen Forschungen von

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„Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin.“ (Röm 8,24)

Wollen wir auf die gestellte Frage nicht überhaupt mit dumpfem Schweigen reagieren, so legt sich auf dem Weg der analogia spei die folgende Erwägung nahe. Sie macht Gebrauch von meinem Grundgedanken, dass das im Hier und Jetzt erhoffte eschatische Geschehen den Heiligenden Geist des Christus Jesus zum ontologischen Autor hat. Als dieser ontologische Autor hat Jesu Christi Heiligender Geist die Energie zu vollenden, was sich schon jetzt in dieser irdischen, in dieser diesseitigen Geschichts-Raumzeit als Phänomen Verzeihung ereignet.422 Innergeschichtlich ist Verzeihung realiter möglich und wird Verzeihung wirklich, indem die Asymmetrie durchbrochen wird, die das Verhältnis zwischen dem erlittenen Leid eines individuellen bzw. eines kollektiven „Opfers“ und dem verschuldeten Leid eines individuellen bzw. eines kollektiven „Täters“ beherrscht. Diese Asymmetrie zwischen erlittenem Leid und verschuldetem Leid bleibt herrschend, weil und solange ein geschehenes Leid in der Erinnerung präsent bleibt und als erinnertes Leid „unwiderruflich“ ist.423 Und zwar in gegensätzlicher Weise! Im erinnerten Leid eines „Opfers“ ist nämlich ineins mit dem erinnerten Schmerz bzw. ineins mit dem erinnerten Unrecht das Bewusstsein dominant, als individuelle selbstbewusst-freie Person missachtet und nicht anerkannt gewesen zu sein; hingegen wird in der Erinnerung eines „Täters“ das verschuldete Leid womöglich schamhaft verdrängt oder gar mit eitlem Stolz als Sieg gefeiert werden fernab von jedem ernsten Schuldbewusstsein. Die Asymmetrie zwischen dem erlittenen Leid eines „Opfers“ und dem verschuldeten Leid eines „Täters“ ist – so wie die Dinge liegen – deshalb dann und nur dann zu durchbrechen, wenn es eine Sphäre der Kommunikation gibt, in der die Wahrheit hinsichtlich des unwiderruflich Geschehenen gesucht wird. In der Sphäre solcher Kommunikation kommt es darauf an, dass der erlittene Schmerz, das erlittene Unrecht bzw. die erlittene Missachtung eines Selbst-Seins ausgesprochen und

Hermann Spieckermann, Eckart Otto, Bernd Janowski und Friedhelm Hartenstein in einem eigenen systematischen Entwurf gestellt zu haben. Geprägt von der angeblich „realistischen“ Biblischen Theologie Michael Welkers, versagt die Sprach- und Denkform dieses Entwurfs allerdings vor der im Vorwort zitierten Frage Carl Friedrich von Weizsäckers: „Weiß man als moderner Mensch überhaupt, was man damit meint?“. Eine Erklärung für die behauptete „Realistik“ dieses Entwurfs habe jedenfalls ich nicht finden können, weil der Autor keinerlei Besinnung auf das Reale des eschatischen Geschehens und auf dessen Erkennbarkeit zu bieten hat. Vgl. Gregor Etzelmüller, … zu richten die Lebendigen und die Toten (wie Anm. 395), VII. 422 Ich setze im Folgenden voraus, dass sich Verzeihung innergeschichtlich nicht nur zwischen individuellen Personen ereignen kann, sondern auch zwischen Gruppen bzw. zwischen „Kollektivpersonen“ (Dietrich Bonhoeffer) wie z. B. zwischen Kirchengemeinschaften, zwischen Nationen oder zwischen sozio-kulturellen Feinden. S. u. Anm. 424 der Hinweis auf die wichtigen Ansätze Klaus-Michael Kodalles. 423 Vgl. hierzu Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München / Zürich: Piper, 11 1999 (Serie Piper; 217), 300–317: Die Unwiderruflichkeit des Getanen und die Macht zu verzeihen.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

öffentlich anerkannt wird. Solch öffentliches Aussprechen und Anerkennen des Bösen des verschuldeten Leids rechtfertigt nicht allein die Würde, die dem „Täter“ seiner Schuld zum Trotz als personalem Selbst unauslöschlich bzw. „unantastbar“ gegeben ist; es gibt dem „Opfer“ auch die Möglichkeit, das unwiderruflich geschehene Leid existentiell zu vergessen.424 In den gemeinsamen Erinnerungsprozessen in einer je besonderen Sphäre der Kommunikation vermag schon hier und jetzt der Geist des Verzeihens walten, der das Böse des Geschehenen als existentiell Vergessenes ungeschehen macht. Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir behaupten, dass eine solche Sphäre der Kommunikation dem Heiligenden Geiste Jesu Christi schon im Hier und Jetzt zu danken ist.425 Im Lichte einer Theorie des Verzeihens gewinnt die systematische Besinnung auf das jenseitig-zukünftige Leben in Gottes richtender Ewigkeit ihre besondere Prägnanz. Sie gibt nämlich dem semantischen Feld des gerechten Richtens eine konkrete Struktur, wie sie das Offenbarungszeugnis des Tanakh der jüdischen JHWH-Gemeinschaft und wie sie der apokalyptische Mythos noch keineswegs erkennen lässt. Sie sieht, dass das eschatische Geschehen des gerechten Richtens als Raum der Kommunikation zu denken ist, in dem die innergeschichtlichen Asymmetrien zwischen erlittenem Leid und verschuldetem Leid zur Sprache kommen. Sie werden weder vergleichgültigt noch abstrakt verewigt werden. Sie können vielmehr

424 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Annäherungen an eine Theorie des Verzeihens, Mainz/Stuttgart: Akademie der Wissenschaften und der Literatur/Franz Steiner Verlag, 2006 (Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse; 8), 49: „Erst wenn das im Innern bewahrte – auf diese Weise er-innerte- Leiden sich Ausdruck verschaffen durfte und das Unrecht als Unrecht öffentlich anerkannt ist, kann es existentiell vergessen werden.“ (kursiv im Original). Vgl. auch Ders., Der „Geist der Verzeihung“. Zu den Voraussetzungen von Moralität und Recht, in: Joachim Mehlhausen (Hg.), Recht – Macht – Gerechtigkeit, Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, 1998 (VWGTh; 14), 606–624. 425 Vgl. hierzu bes. Paul Ricœur, Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, Göttingen: Wallstein-Verl., 1988 (Essener kulturgeschichtliche Vorträge, Bd. II), bes. 131–156. – Eine solche Sphäre der Kommunikation zu stiften war das Ziel Nelson Mandelas, als er im Jahre 1996 die „Truth and Reconciliation Commission“ unter dem Vorsitz von Erzbischof Desmond Tutu berief, die die Verbrechen in der Zeit des Kampfes gegen das Regime der Apartheid in Südafrika aufklären sollte. Dieses Ziel wurde nicht erreicht. Zwar kamen „Täter“ dieses Kampfes im Gegenzug zu ihren Geständnissen in den Genuss einer Amnestie; aber das erlittene Leid der „Opfer“ fand nicht das Gehör der „Täter“. Dieses historische Beispiel lehrt, dass die Sphäre der Kommunikation, in der Verzeihung möglich und wirklich wird, notwendigerweise dem Leid der „Opfer“ Raum zu geben hat. Dem Leid der „Opfer“ gibt in der jetzigen Bundesrepublik Deutschland Raum das jährliche Gedenken an die Befreiung der Konzentrationslager Auschwitz und Birkenau am 27. Januar 1945. – Die Übertragung des erwähnten historischen Beispiels auf die beschämend langwierigen Verfahren, die sexuellen Missbrauch und sexuelle Gewalt in der Geschichte und in der Gegenwart der Kirchen „aufarbeiten“ sollen, lehrt allerdings: unter dem Prinzip des Rechtsstaats kann eine „Truth and Reconciliation Commission“ das Strafrecht nicht ersetzen!

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und sie werden gebrochen werden, weil die Verzeihung des Unverzeihlichen die Sache derer sein wird, „die da Leid tragen“ (Matth 5,4). Ich habe von der Aporie gesprochen, welche das christliche Wortbekenntnis zur Parusie des Christus Jesus „zu richten die Lebenden und die Toten“ erzeugt, wie dies die Geschichte der Frömmigkeit bzw. der kirchlich-theologischen Lehre jedenfalls in der lateinischen Christentumsgeschichte erschreckend demonstriert. Diese Aporie ist zu verwinden, indem wir die duale Struktur des apokalyptischen Mythos entschieden dekonstruieren. Dessen duale Struktur wird keineswegs schon wirksam dekonstruiert, wenn man den Christus Jesus zum Subjekt des gerechten Richtens erhebt.426 Sie wird vielmehr dann und nur dann wirksam dekonstruiert, wenn man das christliche Wortbekenntnis zum Wesen des dreieinen und dreifaltigen Gottes konsequent ernst nimmt. In dessen Kontext spreche ich es dem Walten des Heiligenden Geistes Jesu Christi zu, alle die zutiefst schmerzlichen und erschütternden innergeschichtlichen Anfänge der Verzeihung des Unverzeihlichen zu vollenden und eben so die innergeschichtlichen Asymmetrien zwischen erlittenem Leid und verschuldetem Leid ungeschehen zu machen.427 Diese Erkenntnis gilt es zu bewähren, wenn wir uns nun dem dunkelsten und schwierigsten Moment der christlich-religiösen Frömmigkeits- und Lehrgeschichte jedenfalls in ihrer abendländischen Form zuwenden: der drohenden Realität ewiger Verdammnis.428

426 So jedoch Jürgen Moltmann, Das Kommen Gottes (wie Anm. 348), 262–284; 278: „Im Gekreuzigten erkennen wir den Richter im Endgericht, der selbst für die Angeklagten, an ihrer Stelle und zu ihren Gunsten, zum Gerichteten geworden ist.“ Weiter heißt es: „Die christliche Lehre … geht davon aus, daß Christus in seinem Leiden und Sterben die wirkliche und ganze Hölle der Gottverlassenheit für die Versöhnung der Welt erlitten und die wirkliche und ganze Verdammnis der Sünde für uns erfahren hat.“ (279). S. gegenüber dieser kompensatorischen Deutung des Todes Jesu Christi am Kreuz auf Golgatha als des allgenugsamen Strafleidens o. 3.5.3.2!! 427 Cum grano salis nehme ich auf diese Weise eine existentiale Interpretation des apokalyptischen Mythos vor. Sie betrifft natürlich auch die Art und Weise, in der der Apostel Paulus mit der prophetischen Perspektive Röm 11,25-32 das fraglos übernommene Schema des apokalyptischen Mythos glücklicherweise wenigstens punktuell in Frage stellt, von dem er bis in den Abschnitt Röm 9–11 hinein nicht lassen kann, wenn er die sehnlichst erhoffte Rettung Israels als Rettung vor Gottes eschatischem „Vernichtungsgericht“ versteht (vgl. 11,14.21.26f.). Unnachsichtig muss jedoch festgehalten werden, dass der Apostel diese prophetische Perspektive ausschließlich auf die Rettung Israels bezieht! 428 Vgl. J. Christine Janowski, Eschatologischer Dualismus? Erwägungen zum „doppelten Ausgang“ des Jüngsten Gerichts: JBTh 9 (1994), 175–218.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

„Anhang: Von der ewigen Verdammnis“429

Friedrich Schleiermacher hat im „Anhang“ zum § 163 der „Glaubenslehre“ die Frage diskutiert, ob es mit dem Erkenntnisgrund eschatologischer Aussagen vereinbar sei, analog zur Hoffnung ewiger Seligkeit als des „endlichen Erfolgs der Erlösung“ auch eine ewige Unseligkeit anzunehmen, in der „der größte Teil des menschlichen Geschlechts … verlorenginge.“ (CG2 § 163 [Anhang] [II, 439 = KGA I.13,2, 492]). Dieser Annahme stehen s. E. solche Stellen der Heiligen Schrift entgegen, die es durchaus denkbar machen, „daß noch vor der allgemeinen Auferstehung das Böse gänzlich wird aufgehoben werden“ (ebd. [II, 437 = KGA I.13,2, 490] mit Hinweis auf 1Kor 15,25.26). Ist es in der Sicht des Sinnes von Sein – wie sie die Gottesgewissheit des Christus-Glaubens hat – für des dreieinen Gottes unbedingten Heilssinn real möglich und in Gottes absolut zukünftiger Ewigkeit realisiert, das Böse und damit die Verdammnis als notwendiges Moment des eschatischen Geschehens gänzlich aufzuheben? Seit Schleiermacher jener „milderen Ansicht“ der Heiligen Schrift ein Recht zugestehen wollte, „daß nämlich durch die Kraft der Erlösung dereinst eine allgemeine Wiederherstellung aller menschlichen Seelen erfolgen werde“ (ebd. [II, 439 = KGA I.13,2, 492] unter Berufung auf 1Kor 15,26.55), ist die Erfahrung des Bösen in aller Geschichte ins Ungeheuerliche gewachsen. Um von den furchtbaren Verwüstungen des sog. Dreißigjährigen Krieges einmal zu schweigen, sind uns nicht nur die verheerenden modernen Kriege, sondern auch und vor allem die entsetzlichen Verbrechen des Terrors unter Stalins bolschewistischer Diktatur des Proletariats und der Shoa – der „Auslöschung des Judentums in Europa“ (Hans Mommsen) – im Namen der nationalsozialistischen Alleinherrschaft Hitlers in der Erinnerung präsent. Zwar haben die wenigen Strafverfahren vor den irdischen Gerichten in dieser irdischen Geschichts-Raumzeit einige wenige gerechte Urteile erbracht; aber all die unfassbaren Unmenschlichkeiten sind durch diese Urteile kaum gesühnt, zumal sie die zerstörten Lebensgeschichten der Millionen Opfer nicht mehr wiederbrin-

429 Vgl. zum Folgenden bes.: CA XVII; HK Frage 52; Johann Gerhard, Loci theologici IX, 205–287: Tractatus quintus: De inferno seu morte aeterna; Friedrich Schleiermacher, CG2 § 163 (II, 437–439 = KGA I.13,2, 490–493); Friedhelm Groth, Die „Wiederbringung aller Dinge“ im württembergischen Pietismus. Theologiegeschichtliche Studien zum eschatologischen Heilsuniversalismus württembergischer Pietisten des 18. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1984; Hartmut Rosenau, Allversöhnung. Ein transzendentaltheologischer Grundlegungsversuch, Berlin/New York: de Gruyter, 1993 (TBT; 57); Wolfhart Pannenberg, STh III, 677–694: Die Rechtfertigung Gottes durch den Geist; Klaus Hock/Marcel Sarot/Hartmut Rosenau, Art. Verdammnis I.–III.: RGG4 8, 942–945; Jürgen Moltmann, Das Kommen Gottes (wie Anm. 348), 262–284; J. Christine Janowski, Allerlösung. Annäherungen an eine entdualisierte Eschatologie (wie Anm. 416).

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gen können.430 Ist es angesichts all der Gräuel, die zum Himmel schreien (vgl. Gen 4,10), überhaupt denkbar und überhaupt wünschenswert, dass „das Böse“ im eschatischen Geschehen „ … gänzlich aufgehoben werden“ wird? Kann „der Geist … das Geschehene ungeschehen machen“?431 Alle diese Fragen weisen hin auf jenes abgründige Problem, das sich in der Rede vom „mysterium iniquitatis“ verbirgt. Wenn wir eine Antwort zu suchen wagen, um nicht ins dumpfe Schweigen zu fliehen, können wir sie nur im Licht des Sinnes von Sein suchen, das die Gottesgewissheit des Christus-Glaubens wirft. Erstens: Im Lichte dieses Sinnes von Sein bedarf der Ausdruck „das Böse“ zuallererst einer ontologischen Klärung. Diese ontologische Klärung geht hervor aus jener Selbstanschauung, in der das christlich-fromme Selbstbewusstsein einer besonderen Bestimmtheit des unmittelbaren Selbstbewusstseins bzw. des „Gefühls des Selbst-Seins“ (s. 2.4.2) inne ist. Wegen dieser besonderen Bestimmtheit weiß sich das christlich-fromme Selbstbewusstsein nicht etwa nur „schlechthin abhängig“ bzw. schlechthin gewollt von jenem Grund und Ursprung des All des Seienden, den wir Gott bzw. Sein-Selbst nennen; es weiß sich vielmehr auch dazu erwählt, kraft seines „Gefühls des Selbst-Seins“ in der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft

430 Hannah Arendt hat wohl nicht zu Unrecht die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie sie in Auschwitz und Birkenau begangen wurden, als „unbestrafbar“ bezeichnet. – Für die justitielle Ahndung der Verbrechen in der Zeit der nationalsozialistischen Alleinherrschaft Hitlers war bahnbrechend die Einrichtung des „International Military Tribunal“ in Nürnberg auf der Grundlage des Londoner Viermächte-Abkommens über die „Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der Eur. Achse“ vom 8. August 1945. Dieses Abkommen hatte weitreichende wichtige Folgen für die Entwicklung der Völkerrechtslehre und nicht zuletzt für die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag; vgl. Norbert Frei, Art. Nürnberger Prozesse: RGG4 6, 436–438. – Eine den Nürnberger Prozessen vergleichbare Ahndung der Verbrechen während der Herrschaft des Generalsekretärs Stalin ist m. W. nicht erfolgt! 431 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion (wie Kap. 3 Anm. 105), III. Teil, 206f. (vgl. Ders., Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 3. Neu herausgegeben von Walter Jaeschke, Hamburg: Meiner, 1995 [PhB; 461], 248: „In dem Felde der Endlichkeit ist die Bestimmung, daß jeder bleibt, was er ist; hat er Böses getan, so ist er böse: Das Böse ist in ihm als seine Qualität. Aber schon in der Moralität, noch mehr in der Sphäre der Religion wird der Geist als frei gewußt, als affirmativ in sich selbst, so daß diese Schranke an ihm, die bis zum Bösen fortgeht, für die Unendlichkeit des Geistes ein Nichtiges ist: Der Geist kann das Geschehene ungeschehen machen; die Handlung bleibt wohl in der Erinnerung, aber der Geist streift sie ab.“ [Ich verdanke den Nachweis dieser Stelle meiner lieben Freundin Renate Stauf]). Vgl. schon Ders., Phänomenologie des Geistes (wie Kap. 3 Anm. 52), 470: „Die Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben bleiben; die Tat ist nicht das Unvergängliche, sondern wird von dem Geiste in sich zurückgenommen, und die Seite der Einzelheit, die an ihr, es sei als Absicht oder als daseiende Negativität und Schranke derselben vorhanden ist, ist das unmittelbar Verschwindende.“. Für den Hegel der „Phänomenologie“ ist das Geschehen der Verzeihung daher „der erscheinende Gott mitten unter ihnen, die sich als das reine Wissen wissen.“ (472).

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mit Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen zu existieren. Ist dies „Gefühl des SelbstSeins“ – anders gesagt: dies leibhafte Person-Sein bzw. dies „Sich-gegenwärtig-Sein“ – ein hohes Gut, so wird „das Böse“ prinzipiell ein Widerspruch zum hohen Gut des leibhaften Person-Seins sein. Es kommt innerhalb der ontologischen Relation des schöpferischen Seins und des geschaffenen Seienden nur als dieser Widerspruch vor, der von dem hohen Gut des leibhaften Person-Seins und dessen Bestimmung zehrt.432 „Böse“ ist mithin ein evaluatives Prädikat bzw. ein Unwerturteil, das wir für kommunikative bzw. für interaktive Handlungsweisen, Handlungsketten und Prozessmuster verwenden, welche das hohe Gut des leibhaften Person-Seins und dessen notwendige und wünschenswerte Güter gefährden oder gar zerstören, anstatt es zu bewahren, zu verteidigen und zu vervollkommnen. Realiter möglich sind alle derartigen Handlungsweisen, Handlungsketten und Prozessmuster unter der Bedingung, dass eine handelnde Person bzw. eine handelnde Gemeinschaft sie willentlich verwirklicht. „Böse“ ist daher nicht etwa nur ein evaluatives Prädikat bzw. ein Unwerturteil für destruktive Handlungsweisen, Handlungsketten und Prozessmuster; „böse“ ist vielmehr auch ein evaluatives Prädikat bzw. ein Unwerturteil für das EntschlossenSein der handelnden Person bzw. der handelnden Gemeinschaft zu destruktivem Handeln. Auch dies Entschlossen-Sein – dies Böse-Sein – besitzt natürlich keinen Selbststand; es kann es nur geben kraft des Selbstbewusstseins bzw. kraft des „Sichgegenwärtig-Seins“ der handelnden Person bzw. der handelnden Gemeinschaft, in ihrer jeweiligen Gegenwart Mögliches verwirklichen zu können und damit im Erinnern vergangener Gegenwart zukünftige Gegenwart zu setzen. Aus alledem folgt: Im Licht der christlichen Sicht des Sinnes von Sein ist „Böses“ realiter nur möglich innerhalb der ontologischen Relation des schöpferischen Seins 432 Aus diesem Grunde nennt Karl Barth im Rahmen seiner Lehre von der Vorsehung das Böse das „Nichtige“, dessen Seinsweise bzw. dessen „Wirklichkeit“ dadurch konstituiert sei, dass Gott es nicht will: „Das Nichtige ist das, was Gott nicht will. Aber eben davon lebt es: weil und indem nicht nur Gottes Wollen, sondern auch Gottes Nichtwollen kräftig ist und also nicht ohne reale Entsprechung sein kann. Die reale Entsprechung des göttlichen Nichtwollens ist das Nichtige.“ (Karl Barth, KD III/3, 406 [Unterstreichung im Original gesperrt]). Im ganzen § 50 gebraucht Barth den dergestalt semantisch bestimmten Ausdruck „das Nichtige“ syntaktisch als Satzsubjekt bzw. als Satzobjekt, so als käme ihm sowohl im Verhältnis zu „Gott“ als auch im Verhältnis zum „Geschöpf “ so etwas wie ein Selbststand zu; von ihm soll gleichwohl gelten, dass es kraft der Auferweckung des Gekreuzigten „nicht mehr ist“: „wo aber Gott nicht mehr Nein sagt, da ist auch das Verneinte nicht mehr.“ (ebd. 419). – Gegen diese Bestimmung der „Wirklichkeit“ des Bösen spricht, dass sie das Unwerturteil über eine individuelle bzw. über eine kollektive Denk-, Sprach- und Handlungsweise außer Acht lässt, deren destruktive Wirkung – wie z. B. ein versuchter oder aber ein vollendeter Mord bzw. ein vollendeter Genozid – als „Tatbestand“ einem selbstverantwortlichen Subjekt zuzurechnen ist. Vgl. hierzu Wolf Krötke, Sünde und Nichtiges bei Karl Barth, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2 1983 (NBST; 3). – Die persuasive Sprachgestalt der ganzen „Kirchlichen Dogmatik“ bedarf einer eingehenden sprachkritischen Analyse.

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und des geschaffenen Seienden und deren ihm gewährter Dauer.433 Was immer wir als „böse“ verstehen, geschieht realiter nur unter der Bedingung, dass es durch Willensentschlüsse endlicher Freiheitswesen gewählt und verwirklicht wird. „Böse“ Handlungen, Handlungsketten und Prozessmuster legen wir der handelnden Person bzw. der handelnden Gemeinschaft deshalb und nur deshalb zur Last, weil ihre Willensentschlüsse und ihre Zielsetzungen als „böse“ zu qualifizieren sind. Zweitens: Nun ereignen sich „böse“ Willensentschlüsse bzw. „böse“ Zielsetzungen nicht zufällig oder von ungefähr. Sie sind vielmehr ihrerseits notwendig bedingt durch die Gewissheit einer vorzugswürdigen und deshalb zu erstrebenden bzw. einer abzulehnenden und deshalb zu bekämpfenden Konstellation des Lebens, die affektive Kraft besitzt. Diese Gewissheit wird nicht frei gewählt; sie drängt sich auf, sie legt sich unwiderstehlich nahe, sie ist als solche das vorreflexive Motiv bzw. die Grundentschlossenheit, die unsere Willensentschlüsse und unsere Zielsetzungen und deshalb unsere Handlungsweisen generiert. Wie dies die reformatorische Theologie Martin Luthers und Jean Calvins richtig beschrieb, ist die Fähigkeit des leibhaften Person-Seins, etwas willentlich zu verwirklichen, ihrerseits abhängig von dem Woraufhin und von dem Worumwillen dieser Grundentschlossenheit. Sie bildet sich unwillkürlich in der Geschichte der Entwicklung, der Bildung, des Geschickes eines Menschen, in der ihm „Böses“ unter dem Schein des Guten bzw. unter dem Schein des Wahren als erstrebenswert und vorzugswürdig erscheint.434 Für unser Suchen nach einer Antwort auf die Frage, ob „das Böse“ dereinst „gänzlich aufgehoben werden“ könne, ist noch das Folgende zu bedenken:

433 D.h.: Im Licht des Sinnes von Sein, der das christlich-fromme Selbstbewusstsein in seinen verschiedenen kirchlichen Gemeinschaftsformen leitet, ist ein grundsätzlicher metaphysischer Dualismus à la Markion – die Annahme eines Widerstreits zwischen einem göttlichen Gut-Sein und einem göttlichen Böse-Sein – ausgeschlossen. Und zwar nicht nur deshalb, weil es eine selbstwidersprüchliche Annahme ist, Gottes Sein als Geist als Sein der Bosheit zu denken, sondern auch deshalb, weil die Annahme eines solchen Widerstreits den ethischen Gegensatz des Guten und des Bösen bzw. der Wahrheit und der Lüge gleichgültig macht. – Vgl. hierzu Guy G. Stroumsa/Giovanni Casadio/ Georg Zenkert/Jörg Dierken, Art. Dualismus I.–IV.: RGG4 2, 1004–1009; sowie Rolf Schönberger, Die Existenz des Nichtigen. Zur Geschichte der Privationstheorie, in: Friedrich Hermanni/Peter Koslowski (Hg.), Die Wirklichkeit des Bösen. Systematisch-theologische und philosophische Annäherungen, München: Fink, 1998, 15–47; Friedrich Hermanni, Die Positivität des Malum. Die Privationstheorie und ihre Kritik in der neuzeitlichen Philosophie, ebd. 49–72. Vgl. zum Ganzen bes. Ingolf U. Dalferth, Malum. Theologische Hermeneutik des Bösen, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008. 434 Wir können uns diesen fundamentalethischen Sachverhalt an dem extremen Beispiel der Entwicklungs- bzw. der Bildungsgeschichte Adolf Hitlers und seiner Komplicen deutlich machen, wohingegen die Entwicklungs- bzw. die Bildungsgeschichte Albert Schweitzers die datierbare „Grundentschlossenheit“ zu einem „unmittelbar menschlichen Dienen“ zeigt.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

Das „Böse“ aller Willensentschlüsse und aller Zielsetzungen, das in dem „Bösen“ einer Handlungsweise bzw. eines Prozessmusters real wird, erzeugt in jeder Hinsicht Leid. Ich habe an die entsetzenerregenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Periode der euro-amerikanischen Neuzeit und Moderne erinnert, an alle diese Gräuel, die zum Himmel schreien. Die Frage, ob „das Böse“ dereinst „gänzlich aufgehoben werden“ könne, ist daher identisch mit der Frage, ob das Leid der Zerstörung aller dieser Lebensgeschichten dereinst im eschatischen Geschehen könne „ungeschehen“ sein werden. Nur im Zusammenhange dieser beiden Fragen können wir es wagen, im Licht der christlichen Sicht des Sinnes von Sein etwas über die Bedeutung einer „ewigen Verdammnis“ zu sagen. Wie bei den anderen Aspekten des eschatischen Geschehens folge ich auch hier der hermeneutischen Regel, dass eschatologische Aussagen des christlichen Wortbekenntnisses das vollendende Walten des Heiligenden Geistes des dreieinen Gottes zu erfassen suchen.435 Drittens: Wie immer das Offenbarungszeugnis der Heiligen Schrift und die Geschichte der kirchlich-theologischen Lehre den möglichen eschatischen Aspekt einer „ewigen Verdammnis“ thematisiert haben mögen436 : diese könnte nur seiend sein innerhalb der ontologischen Relation des schöpferischen Person-Seins Gottes und des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins des „Bildes Gottes“ (Gen 1,26f.) im Ganzen seiner Welt. Sie wäre also eine jeweils individuelle Existenzform, die durch „unmittelbares Selbstbewusstsein“ bzw. durch „unmittelbares Sich-gegenwärtig-Sein“ ausgezeichnet ist und bleibt. Vermöge dieses „unmittelbaren Selbstbewusstseins“ bzw. dieses „unmittelbaren Sich-gegenwärtig-Seins“ würde auch diese individuelle Existenzform bestimmt werden durch das jenseitigzukünftige, das ewige Offenbar-Werden des göttlichen Wesenswillens (Eilert Herms), das des dreieinen Gottes Heiligender Geist zu verstehen gibt. In dem Ereignis dieses ewigen Offenbar-Werdens des göttlichen Wesenswillens müsste dann allerdings eine entscheidende Differenz angenommen werden:

435 Sehe ich recht, so bringt die Eschatologie der lateinischen Christentumsgeschichte zwar ausgiebig und vielfach geradezu sadistisch die ewigen Strafen der Verdammten, aber nicht das innergeschichtliche Leid ihrer „Opfer“ zur Sprache. 436 Vgl. hierzu Tarald Rasmussen, Art. Hölle II. Kirchengeschichtlich: TRE 15, 449–455 (Lit.). – Nach Walter Sparn, Art. Hölle V. Dogmatisch: RGG4 3, 1850–1852, ist es Meinung der gegenwärtigen deutschsprachigen römisch-katholischen Dogmatik, dass man „im Glauben zwar mit der realen Möglichkeit der H.(ölle) v. a. für einen selbst rechnen“ müsse, dass man aber „ebenso, mit-leidend für alle, die vor oder nach ihrem Tod die H.(ölle) erleiden, auf das ‚noch mächtiger‘ der Gnade (Röm 5,20) hoffen“ dürfe und müsse (1851). Sparn erkennt in dieser Meinung eine bemerkenswerte Konvergenz mit einer reformatorischen Theologie, welche die „Angst vor der H.(ölle)“ als ein „christl.(iches) Thema“ ernst nimmt: nämlich „als in der Zuflucht zu Jesus Christus zu entmächtigende“ (1852).

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Wenn des dreieinen Gottes Heiligender Geist Gottes schöpferisches und Gottes versöhnendes Walten vollendet, so vollendet er – wie wir gesehen haben – alle die problematischen, alle die angefochtenen Anfänge des Glaubens, des Hoffens, des Liebens bzw. des Lebens in selbstbewusst-freier Verantwortung vor Gott. Ich werde dies Vollendet-Werden und Vollendet-Sein zusammenfassen in den Hoffnungsgehalt der Seligkeit des ewigen Lebens (s. 4.5.4.3). Demgegenüber wäre die individuelle Existenzform „ewiger Verdammnis“ die individuelle Existenzform, der im Ereignis des ewigen Offenbar-Werdens des göttlichen Wesenswillens das ganze Ausmaß ihres Versagens, ihres Scheiterns, ihrer Lebenslüge, ihrer Unmenschlichkeit erscheinen müsste. Ihr müsste insbesondere erscheinen der unverhüllte, der unleugbare, der unbezweifelbare Anblick all derer, die in dieser diesseitigen, in dieser irdischen Geschichts-Raumzeit das Opfer ihrer Bosheit wurden.437 Der Ausdruck „ewige Verdammnis“ müsste mithin die individuelle Existenzform des Selbstbewusstseins der geschaffenen, leibhaften Person bedeuten, der im Licht des ewigen Offenbar-Werdens des göttlichen Wesenswillens dennoch die Umkehr, die Reue, die Versöhnung und Verzeihung verschlossen und versagt bleibt. Er müsste die individuelle Existenzform in Verzweiflung, und zwar in Verzweiflung von unbegrenzbarer Dauer meinen. Kann im eschatischen Geschehen des vollendenden Waltens des Heiligenden Geistes die Möglichkeit unbegrenzbarer Verzweiflung der geschaffenen, der leibhaften Person möglich, wirklich und d. h. verwirklicht werden? Die kirchlich-theologische Lehrbildung in der lateinischen Christentumsgeschichte hat insbesondere im konsequenten Anschluss an Augustins Lehre von der Prädestination diese Frage bejaht. Sie hat – modaltheoretisch gesprochen – die Möglichkeit ewiger Verdammnis als reale Möglichkeit gedacht, deren tatsächliche Verwirklichung sich widerspruchsfrei behaupten lässt.438 Zwar hat sie damit an der Unbedingtheit der normativen ethischen Instanz Gottes festgehalten; doch war sie offensichtlich blind für das „Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten

437 Um dies zu veranschaulichen, vergegenwärtige man sich eine fiktive eschatische Szene, in der den Urhebern und den Organisatoren der Shoa das KZ Auschwitz-Birkenau im Gewissen unverhüllt präsent wird. 438 Vgl. hierzu Wilfried Härle, Art. Möglichkeit: RGG4 5,1392–1395. Nach Härle ist es richtig, die modale Kategorie des Möglichen nach ontologischer Hinsicht und nach logischer Hinsicht zu unterscheiden. Aussagen über das für Gott Mögliche – also: Aussagen über das, was sich durch die Geschichte der Selbsterschließungen Gottes für uns als Sinn des Seins zeigt – machen Gebrauch von einem konkreten und damit eingeschränkten Verstehen der modalen Kategorie des Möglichen: „nämlich als der Inbegriff der Möglichkeiten, die mit dem Wesen Gottes und der Welt vereinbar sind.“ (1393). Im Sinne dieser Klärung ist es jedenfalls nicht widersprüchlich, wenn die tradierte kirchlich-theologische Lehre von der Möglichkeit ewiger Verdammnis als realer Möglichkeit spricht.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

Leids“ (s. 3.2; 3.3) und damit für das ungelöste Problem der Asymmetrie des Verhältnisses von „Täter“ und „Opfer“. Müsste nicht die dogmatische Besinnung auf die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens eine Lösung dieses Problems als eine reale Möglichkeit entwerfen? Müsste die Lösung dieses Problems nicht damit anfangen, dass als der ontologische Autor des eschatischen Geschehens eben Jesu Christi Heiligender Geist in Betracht kommt? In der Tat! Wir dürfen eine ewige Verdammnis als einen wirklichen Aspekt des eschatischen Geschehens dekonstruieren, indem wir uns an der Theorie der Verzeihung orientieren, wie sie Klaus-Michael Kodalle in stillschweigend kritischem Anschluss an Georg Wilhelm Friedrich Hegels Begriff der Versöhnung entwickelte (s. o. S. 779; vgl. 3.5.2.3): Mit dem deutschen Begriffswort „Verzeihung“ meinen wir das komplexe Geschehen, welches die Asymmetrie des Verhältnisses zwischen „Opfer“ und „Täter“ durchbricht. Solches Durchbrechen ist realiter möglich in einer Sphäre der Kommunikation, d. h. in einem gemeinsamen Erinnerungsprozess. In ihm ist es realiter möglich, dass „Opfer“ ihr erlittenes Leid zur Sprache bringen; in ihm ist es realiter möglich, dass „Täter“ ihr je individuelles Verstrickt-Sein in das verschuldete Leid gestehen und bereuen. Könnten „Täter“ das verschuldete Leid nicht gestehen und nicht bereuen, so könnten „Opfer“ ihr erlittenes Leid nicht existentiell vergessen (s. o. S. 779). Das unwiderruflich Böse des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids wäre nicht und niemals ungeschehen gemacht. Dies wäre der verstehbare Sachgehalt der Rede von „ewiger“ und d. h. von „unbegrenzbarer Verdammnis“. Dieser realiter mögliche Sachgehalt wird jedoch nicht faktisch notwendigerweise wirklich. Er wird jedenfalls nicht wirklich unter der notwendigen und hinreichenden Bedingung, dass Jesu Christi Heiligender Geist jene Sphäre der Kommunikation entstehen und bestehen lässt, in der sich der gemeinsame Erinnerungsprozess zwischen „Opfern“ und „Tätern“ ereignet. Wenn „Täter“ in diesem gemeinsamen Erinnerungsprozess das verschuldete Leid gestehen und bereuen, und wenn „Opfer“ in ihm ihr erlittenes Leid anerkannt finden, so dürfen wir dies – entsprechend seinem innergeschichtlichen Walten – der erleuchtenden Macht des Heiligenden Geistes zuschreiben, die in der absoluten Zukunft jenseits des Todes und durch den Tod hindurch das Evangelium des Christus-Geschehens im Selbstbewusstsein der Person wahr werden lässt. Wir dürfen annehmen, dass das eschatische Geschehen im Sinne eines unbegrenzten bzw. eines unbegrenzbaren Kommunikations-Zeitraums zu denken ist, in welchem jene Asymmetrie des Verhältnisses von „Täter“ und „Opfer“ durchbrochen werden wird. Sie wird durchbrochen werden können kraft des Heiligenden Geistes, der als Geist der Wahrheit just der Geist der Verzeihung ist. Mit Klaus-Michael Kodalle zu sprechen:

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„Versöhnung macht es möglich, mit der Schuld trotz der Schuld zu leben. Verzeihung meint die Gewißheit, Schuld sei ‚aufgehoben‘… Der Geist der Verzeihung … ist nur authentisch, wenn ihm in gleicher Intensität die festgehaltene Erinnerung an die Leiden der Opfer entspricht.“439 4.5.4.3

Leben in Gottes beseligender Ewigkeit440

Ich wende mich dem letzten Aspekt des eschatischen Geschehens zu, dem die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) entgegenstrebt: der Seligkeit des ewigen Lebens. Dieser Aspekt verdient im Ganzen der dogmatischen Besinnung auf Gottes vollendendes Walten im Geist der Wahrheit besondere Aufmerksamkeit; hebt sie doch hervor, dass Gottes vollendendes Walten dem individuellen Selbst der Person das Inne-Sein ewiger Freude gewährt. Mit dieser Sicht des Sinnes von Sein befindet sich die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens nicht nur im Unterschied zu Theorien der εὐδαιμονία – des Glücks des guten Lebens – im älteren und jüngeren philosophischen Denken; sie steht natürlich auch im Gegensatz zu den bornierten Spaß-Kulturen, die kundige Sozialwissenschaftler in den Erlebnisgesellschaften der Moderne untersuchen. 439 Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung nach Wendezeiten? Über Unnachsichtigkeit und misslingende Selbstentschuldigung, Erlangen und Jena: Verlag Palm & Enke, 1994 (Jenaer philosophische Vorträge und Studien; 12), 57 (Kursivierung im Original). – Am Ende dieser seiner Jenaer Antrittsvorlesung erinnert Kodalle an die Erzählung, mit der Platon im Dialog Phaidon den Mythos der griechischen Religionskultur vom Totengericht interpretiert (113d–114a). In dieser seiner Erzählung entdeckt Platon den notwendigen Zusammenhang von Amnestie (Amnemosyne) und Anamnesis: „Platon kennt also Taten, die schlechthin unverzeihlich sind und die eine ewige Verdammnis zur Folge haben … die aber doch für heilbar durch Verzeihung gelten mögen …“ (59–60 mit Anm. 64). Diese Verzeihung gewähren die Opfer, sofern sie dem hilfesuchenden Flehen der Täter Gehör schenken können. „Offenbar aber ist auch hier, daß eine lösende und verwandelnde Wirkung der Verzeihung unvorstellbar ist ohne ein rücksichtsloses Eingeständnis der eigenen Schuld vor sich selbst.“ (ebd. Anm. 64). 440 Vgl. Zum Folgenden bes.: Thomas von Aquino, STh I–II q 1–5; Martin Luther, Disputatio de homine 1536 (WA 39 I; 175–177); Johann Gerhard, Loci Theologici IX, Tractatus sextus: De vita aeterna; Friedrich Schleiermacher, CG2 § 163 (II, 433–437 = KGA I.13,2, 486–489); Paul Althaus, Die letzten Dinge (wie Anm. 348), 319–340; Ders., Art. Seligkeit: RGG3 5, 1686–1688; Medard Kehl, Art. Anschauung Gottes: LThK3 1, 706–710; Wolfgang Beinert/Leo Scheffczyk/Josef Sudbrack, Art. Seligkeit I.–VII.: LThK3 9, 437–443; Gisbert Greshake, Art. Visio beatifica: LThK3 10, 810; Konrad Stock, Grundlegung, 146–159; Ders., Art. Seligkeit III. Dogmengeschichtlich und dogmatisch: RGG4 7, 1180–1183; Art. Seligkeit IV. Ethisch: ebd. 1183–1184; Ders., Glück und Gnade, jetzt in: Ders., Die Gegenwart des Guten (wie Anm. 131), 263–269; Thomas Podella, Das Lichtkleid JHWHs, Tübingen: Mohr Siebeck, 1996 (FAT; 15); Friedhelm Hartenstein, Das Angesicht JHWHs. Studien zu seinem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32–34, Tübingen: Mohr Siebeck, 2008 (FAT; 55).

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

Ebenso wie die bisher betrachteten Aspekte des eschatischen Geschehens ist auch der Aspekt der Seligkeit des ewigen Lebens ein Aspekt der Art und Weise, in welcher Gottes Heiligender Geist die diesseitige bzw. die irdische Geschichte eines Lebens im christlich-frommen Selbstbewusstsein vollendet. Anders als diese bisher betrachteten Aspekte enthält der Aspekt der Seligkeit des ewigen Lebens allerdings die uns gewährte Teilhabe an des dreieinen Gottes eigener Seligkeit bzw. an der Freude, in der sich des dreieinen Gottes göttliches Wesen der Vollendung seines unbedingten Heilswillens erfreut. Dass die Redeweise von Gottes eigener Seligkeit bzw. von der Gott eigenen Freude berechtigt ist441 , sei im Lichte einer Überlegung zum Verstehen des Begriffs des Höchsten Guts begründet. Die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens auf die Freude ewiger Seligkeit ist nicht leicht zu erschließen. Sind doch ihre biblischen Bezeugungen fest verwurzelt in den kultischen Bedeutungshintergründen altorientalischer Religionskulturen, auch wenn sie diese in die wachsende Gewissheit der Einzigkeit des göttlichen Wesens kritisch integrieren. Aus diesem Grunde ist es sachgemäß, in einem ersten Schritt zu fragen, woran bzw. worüber sich die Freude ewiger Seligkeit entzündet; und dann in einem zweiten Schritt zu fragen, in welcher Weise sich die Freude ewiger Seligkeit darstellt. Beide Fragen finden ihre sachgemäße Antwort, wenn wir uns auf die eigenartige Intentionalität besinnen, die das geschaffene, das leibhafte, das selbstbewusst-freie Person-Sein auszeichnet. Im Lichte dieser Reflexion wird deutlich werden, dass das Woran bzw. das Worüber ewiger Freude nichts anderes sein kann als des dreieinen Gottes Herrlichkeit; und dass die Weisen, der Herrlichkeit des dreieinen Gottes inne zu sein, dem vollendenden Walten des Heiligenden Geistes zu danken sind.

441 Das biblische Offenbarungszeugnis des Tanakh lässt ein Zögern erkennen, von JHWHs „Freude“ zu sprechen; vgl. immerhin Dtn 30,9; Jes 62,5; 65,19; Zeph 3,17. Von besonderem Gewicht sind demgegenüber solche Stellen des neutestamentlichen Offenbarungszeugnisses, die ausdrücklich in der Form der Parabel auf Gottes „Freude“ verweisen: vgl. Mt 18,13; 25,21; Lk 15,6.7.10. Insbesondere ist es das sog. „Gleichnis vom verlorenen Sohn“ (Lk 15,8-32), welches im Kerygma des Evangeliums nach Lukas für eine hellenistisch gebildete Leserschaft die Freude Gottes über die Umkehr des jüngeren Sohnes ergreifend zur Darstellung bringt. – Es ist zutiefst zu bedauern, dass dieses Kerygma in der Geschichte des christlich-frommen Selbstbewusstseins – seiner Rituale und seiner Theologie – so wenig Spuren hinterlassen hat.

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4.5.4.3.1 Das Aus-Sein auf Erfüllendes442

Indem wir aufmerksam auf das im Hier und Jetzt gelebte Leben des geschaffenen, des leibhaften, des selbstbewusst-freien Person-Seins achten, heben wir den Grundzug der Intentionalität bzw. der Intention hervor.443 Unter dem Begriff der Intentionalität verstehe ich ganz allgemein das vorreflexive Aus-Sein auf Befriedigendes bzw. auf Erfüllendes, das sich implizit auf das Ganz-Sein bzw. auf das relative Dauern unseres Person-Seins bezieht; unter dem Begriff der Intention verstehe ich hingegen den Umfang all der selbstgewählten bzw. all der selbstverantwortlichen Zielsetzungen und Entscheidungen, durch die wir jenes implizite Ziel tatsächlich zu erreichen hoffen. Solche Entscheidungen treffen wir im jeweils gegenwärtigen Moment unseres Person-Seins, durch die wir in die jeweils zukünftige Gegenwart unseres Person-Seins übergehen wollen. Was wir von allen diesen Entscheidungen erwarten und erhoffen, ist die Erhaltung, die Verteidigung bzw. die Vervollkommnung des hohen Guts, das uns in der Gemeinschaft mit den jeweils Andern durch Gottes schöpferisches Walten in dieser diesseitigen bzw. in dieser irdischen Geschichts-Raumzeit gewährt ist. Dies hohe Gut des gemeinsamen je individuellen Person-Seins suchen wir zu erhalten, zu verteidigen bzw. zu vervollkommnen, indem wir geregelte Ordnungen der Güter entwerfen. In sprachlicher Kommunikation, in praktischer Interaktion und in ästhetischer Expression kommen wir auf jeweils frühere sozio-kulturelle Ordnungen der Güter zurück, um sie – sei es reformierend, sei es revolutionär – dem jeweils erkannten und anerkannten Maß des Lebensdienlichen, des Gerechten und des Gleichen entsprechend zu gestalten. Ob es in der Geschichte der geregelten Ordnungen der Güter eines gebe, das als das Höchste Gut in Betracht komme, ist nicht nur seit dem Philosophieren Platons, sondern auch seit der Komposition des Psalters der jüdischen JHWH-Gemeinschaft eine Frage von metaphysischem Interesse. Sie findet jeweils ihre Antwort im Lichte einer Sicht des Sinnes von Sein. Diese jeweilige Antwort prägt allerdings das jeweils implizite Verstehen dessen, was als das Ganz-Sein bzw. als das relative Dauern unseres Person-Seins wirklich in Betracht kommt; infolgedessen prägt sie auch die

442 Vgl. Ps 42,2f.: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, / so schreit meine Seele, Gott, zu dir. / Meine Seele dürstet nach Gott, / nach dem lebendigen Gott. / Wann werde ich dahin kommen, / dass ich Gottes Angesicht schaue?“ 443 Vgl. zum Folgenden ausführlich 2.4.2.1; vgl. auch G. E. M. Anscombe, Intention, Oxford: Blackwell, 1957; Eilert Herms, Art. Intention/Intentionalität II. Ethisch: RGG4 4, 188–189. – Die Intentionalität des geschaffenen Person-Seins ist wohl zum ersten Mal erfasst worden in Platons Lehre vom Eros als der „ekstatischen“ Lebensform des menschlichen Daseins im Dialog „Symposion“ (Gastmahl), bes. 201d–212a.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

Art und Weise, in der wir innerhalb einer wie auch immer geregelten Ordnung der Güter Intentionen zu realisieren suchen.444 Kritisch gegenüber anderweitigen Deutungen des wahrhaft Befriedigenden bzw. des wahrhaft Erfüllenden, ist es dem Christus-Glauben, der im Gott-Verstehen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft seine „Wurzel“ (Röm 11,18) hat, als wahr gewiss, dass für das geschaffene, das leibhafte, das selbstbewusst-freie Person-Sein letztlich nur die Teilhabe an Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen als Höchstes Gut in Betracht kommt (s. 2.4.2.3). Diese Bestimmtheit des Höchsten Guts gründet in der Gewissheit jener ontologischen Grundrelation zwischen Gottes göttlichem Wesen und dem All des Seienden, dem Gottes Wollen und Walten sein Dasein, seine Dauer, seine Richtung und sein Ziel gewährt. Im Unterschied zum Inbegriff all jener Güter, den wir gemeinschaftlich mit Anderen frei-willentlich zu definieren und zu realisieren trachten, ist allerdings das Höchste Gut der Teilhabe an Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen wegen seiner kategorialen Eigenart nicht in der derselben Form zu intendieren. Es wird als Intention des individuellen gemeinsamen Person-Seins vielmehr passiv konstituiert.445 Es wird in einer Geschichte offenbar, in der sich Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen je und je von sich selber her im Medium bzw. im Zeichenprozess einer Religionskultur erschließt. Wird es uns – wie dies im Medium der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche der Fall ist – offenbar, so wird es uns als die befreiende Wahrheit offenbar, die die Kraft besitzt, uns in das Leben in der Umkehr in die selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wollen und Walten als das wahrhaft Befriedigende bzw. als das wahrhaft Erfüllende zu führen (vgl. Joh 8,32). Es wird das beherrschende Thema der Ethik sein zu erkunden, wie sich das Leben des Christus-Glaubens, das in der Umkehr in die selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wollen und Walten begriffen ist, in der alltäglichen Sorge für die lebensnotwendigen und lebensdienlichen Güter in der Kultur einer Gesellschaft konkretisiert.446

444 Eine aus der Perspektive des im Gott-Verstehen der jüdischen JHWH-Gemeinschaft verwurzelten Christus-Glaubens unwahre und deshalb destruktive Sicht des Höchsten Guts ist die der „klassenlosen Gesellschaft“ eines zukünftigen Kommunismus, wie sie Karl Marx entworfen hatte und wie sie der radikale Bolschewismus Wladimir Iljitsch Lenins und Josef Stalins mit revolutionärer bzw. mit militärischer Gewalt weltweit realisieren wollte. Der unerschütterliche Glaube an diese Sicht des Höchsten Guts war und ist seinen Bekennern jedes Opfers wert, auch des Opfers des eigenen Lebens. 445 Der Begriff der passiven Konstitution der Intentionalität und deshalb der Intentionen des individuellen Person-Seins als Aus-Sein auf das wahrhaft Befriedigende bzw. auf das wahrhaft Erfüllende ist daher die fundamentalanthropologische Basis meiner dogmatischen Besinnung auf die Wahrheitsgewissheit des Christus-Glaubens in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16), des zentralen Themas des ganzen vorliegenden Kapitels 4. 446 Vgl. hierzu Konrad Stock, Einleitung. Teil III (287–473): Grundriss der Theologischen Ethik.

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4.5.4.3.2 Die Wahrnehmung des Höchsten Guts

„Ubi et quando visum est Deo“ (CA V) ereignet sich die Umkehr eines Lebens in die selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wollen und Walten in der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche. Diese ist das vielgestaltige Medium, in welchem sich das wahrhaft Höchste Gut des geschaffenen, des leibhaften Person-Seins schon jetzt innergeschichtlich zeigt. Wenn dieses vielgestaltige Medium ein Zentrum hat, so hat es dieses Zentrum im Ensemble der gottesdienstlichen Feiern im Rahmen des Kirchenjahrs (s. 4.2.1). Denn in dem sei es öffentlichen sei es privaten Kult der gottesdienstlichen Feier versteht sich eine feiernde Gemeinde ausdrücklich coram Deo, so wie es in der Eröffnung „Im Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ und wie es in der Segnung mit der Bitte um das Leuchten des göttlichen Angesichts und um die Erhebung des göttlichen Angesichts proklamiert wird. Das „darstellende Handeln“ einer gottesdienstlichen Feier, das sich vom Inbegriff des „wirksamen Handelns“ in den alltäglichen Szenen der sprachlichen Kommunikation bzw. der praktischen Interaktion deutlich unterscheidet, ist mithin eingebunden und umrahmt von solchen Zeichen, die uns auf Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen im jeweiligen Hier und Jetzt verweisen. Es wird durch Jesu Christi Heiligenden Geist als bleibend gültige Verheißung des wahrhaft befriedigenden bzw. des wahrhaft erfüllenden Lebensziels erlebt. Der Wortlaut des „aaronitischen Segens“ (Num 6,25) bündelt die verschiedenen Versuche des Offenbarungszeugnisses der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments, das unendliche bzw. das schaffende Person-Sein des göttlichen Wesens zu imaginieren. Sehe ich recht, so stehen sie im Kontext jener altorientalischen Religionskulturen, die das Wollen und Walten des göttlichen Wesens mit Hilfe einer „soziomorphen“ Semantik, nämlich der königlichen, zu bezeichnen wagen. Zum einen schöpfen sie das Potential des Glanzes bzw. der erhabenen Ausstrahlung aus447 ; zum andern aber lassen sie die Vorstellung einer Audienz aufleben, in der die Sphäre des göttlichen Wesens für eine Gemeinschaft gegenwärtig erfahrbar wird.448 Beide Varianten assoziieren eine Gestalt, in der das unendliche bzw. das schaffende Person-Sein des göttlichen Wesens unter den Bedingungen der irdischen bzw. der diesseitigen Geschichts-Raumzeit erscheint. Diese im Hier und Jetzt erscheinende Gestalt im frommen Selbstbewusstsein wahrzunehmen, heißt: sie zu sehen bzw. sie zu schauen (vgl. bes. Ex 24,11; Ps 17,15; 27,4; Jes 53,11; Mi 7,9; Mt 5,8).

447 Vgl. Thomas Podella, Das Lichtkleid JHWHs (wie Anm. 440); Ders., Art. Herrlichkeit Gottes I. Alter Orient und Altes Testament: RGG4 3, 1681–1682 (mit Hinweis auf Ex 15,18; 16,7.10; Lev 9,6.23; Num 14,10; Jes 6,3; Ez 1,28; Ps 93,1; 104,1). Podellas Artikel schließt mit der These, „daß gerade im doxologisch-hymnischen Sprachgeschehen die H.(errlichkeit) G.(ottes) sag- und erfahrbar wird.“ (1682). 448 Vgl. Friedhelm Hartenstein, Das Angesicht JHWHs (wie Anm. 440).

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Wie es sich in den leidvollen, den tragischen Trennungsprozessen des pluralen Judentums und des entstehenden Christentums zeigt, macht der ChristusGlaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) eine kritische Revision des Bildes der erscheinenden Gestalt des göttlichen Wesens unvermeidlich. Ihm wird in den Ereignissen des Dritten Tages als wahr gewiss, dass des dreieinen Gottes göttliches Wesen – Gottes „ewige Kraft und Gottheit“ (Röm 1,20) – im Hier und Jetzt der irdischen, der diesseitigen Geschichts-Raumzeit – als der Geist Jesu Christi, als versöhnender Geist erscheint (vgl. 2Kor 5,18-20). Das göttliche Wesen im Medium bzw. in den Zeichenprozessen der religiösen Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche als den Geist Jesu Christi, als den versöhnenden Geist wahrzunehmen, stiftet jenes Grundgefühl der Freude, dem das biblische Offenbarungszeugnis herzlich Ausdruck gibt. Im Grundgefühl der Freude erlebt die feiernde Gemeinde das Leuchten bzw. die Erhebung des göttlichen Angesichts. 4.5.4.3.3 Das Gefühl der Freude449

Mit dem deutschen Begriffswort „Freude“ und mit dessen semantischem Feld assoziieren wir ein affektives bzw. ein emotives Empfinden, das wir ungeachtet mancher religionskultureller Unterschiede als allgemein menschliches Empfinden einschätzen dürfen. Sich zu freuen bzw. jemanden zu erfreuen oder jemandem eine Freude zu machen meint soviel wie: dem unmittelbaren „Sich-gegenwärtig-Sein“ der Person etwas zu geben und zu gewähren, was ihr als Gutes und d. h. als Gut erscheint. Wir können das Gefühl der Freude dann und nur dann verstehen, wenn wir es – sei es als episodischer Moment, sei es als dauerhafte Stimmung – als ein InneSein des Erfreuenden verstehen. Die Tatsache, dass ein episodischer Moment bzw. dass die dauerhafte Stimmung der Freude umschlägt in den episodischen Moment bzw. in die dauerhafte Stimmung der Trauer, des Schmerzes, der Melancholie oder gar der Misanthropie, macht unübersehbar deutlich, dass das Gefühl bzw. die Stimmung der Freude nicht anders zu erklären ist als aus ihrem Worüber, ihrem Woran und ihrem Worauf. Eine Phänomenologie der Freude würde zeigen, dass das gesellige In-Gemeinschaft-Sein der Freundschaft und der erotischen Liebe die 449 Vgl. zum Folgenden bes.: Johann Gerhard, Loci Theologici IX, Tractatus sextus: De vita aeterna (bes. c. V: De materia et forma vitae aeternae); Karl Barth, KD III/4, 426–439; Eckart Otto/Tim Schramm, Fest und Freude, Stuttgart: Kohlhammer, 1977 (ThTh); Hermann Schmitz, System der Philosophie III/2: Der Gefühlsraum, Bonn: Bouvier, 1969, 114ff.; Konrad Stock, Grundlegung, 146–159: Freude an dem, was sein soll; Andries Bernhardus du Toit/Lothar Steiger/Henning Schröer, Art. Freude I.–II.: TRE 11, 586–590 (Schröer merkt zu Recht kritisch an: „Für die pastorale Praxis der Kirche ist es nicht günstig, daß das Thema ‚Freude‘ in zahlreichen neueren protestantischen Darstellungen der Ethik als Stichwort nicht vorkommt …“ [589]); Ingvild Sælid Gilhus/Georg Braulik/Tim Schramm/Brian Horne/Klaus Hermann, Art. Freude I.–V.: RGG4 3, 346–350. – Meine o. g. „Grundlegung“ empfehle ich erneut der Aufmerksamkeit meiner Leserinnen und Leser.

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vorpolitische Basis dessen ist, was wir in einer kulturell geprägten Gesellschaft an Gütern produzieren. Die Freude, die wir einander machen, sind auf dieser elementaren Basis jeweils wir selbst in unserer leibhaften Gestalt.450 Für die Besinnung auf die erhoffte Seligkeit des ewigen Lebens als ewige Freude ist eine kritische relecture der Art und Weise unerlässlich, in der Platon im Dialog „Philebos“ das Phänomen der Freude mittels der Leitdifferenz von „Schmerz“ (λύπη) und „Lust“ (ἡδονή) erhellt. Mit ihr nimmt Platon den erlebbaren Gegensatz von „Leere“ und „Fülle“ in den Blick. Allerdings erläutert Platon diesen Gegensatz im Licht der ontologischen Grundeinsicht in den Gegensatz des Sinnlichen und des Vernünftigen. In ihrem Licht scheint ihm das Phänomen der Freude entweder bloß vermeintliche bzw. scheinbare „Lust“ (51a) oder aber „echte Lust“ zu sein. Denn während die vermeintliche bzw. die scheinbare Lust in der Sphäre des Sinnlichen stets mit „Unlust“ (ἡδονἡ δοκοῦσα) gemischt ist, weil sie die Leere bzw. den Mangel des Sinnlichen niemals zum Verschwinden bringt, gewährt die „echte Lust“ als „Lust“ in der Sphäre des Vernünftigen und nur sie „merkliche und angenehme Befriedigung“ (51b). Sie nämlich erhebt sich zu dem wahrhaft Seienden, das „Fülle“ und „Gegenwart“ empfinden lässt. Insofern ist nach Platon das Gefühl bzw. die Stimmung der Freude als Inne-Sein des Bleibenden zu denken.451 Dies Bleibende ist die Idee des Guten, die wegen ihrer kategorialen Einzigkeit der individuellen Vernunft der Person in der theoretischen Betrachtung Freude gewährt. Von Platons Beschreibung des Phänomens der Freude angeregt, können wir angemessen interpretieren, wie das biblische Offenbarungszeugnis das Gefühl bzw. die Stimmung der Freude zur Sprache bringt. Den Schlüssel dieser Interpretation sehe ich darin, dass sowohl der Apostel Paulus als auch das Evangelium nach Johannes das Gefühl bzw. die Stimmung der Freude als der echten Lust auf diejenige Fülle beziehen, die sich der Christus-Gemeinschaft im Lichte der Ereignisse des Dritten Tages erschließt.452 Sie erschließt sich als das In-Gemeinschaft-sein-Wollen

450 Vgl. hierzu bes. Konrad Stock, Gottes wahre Liebe (wie Anm. 243), 15–74: High-Lights der Theoriegeschichte. 451 Vgl. hierzu Hans-Georg Gadamer, Platons dialektische Ethik, Hamburg: Meiner, 1983 (= 1 1931), 151–159; 154: Platon unterscheidet „scheinbare“ und „echte Lust“, weil er „das Seiende ontologisch als Anwesendes“ versteht. – Im Dialog „Symposion“ („Gastmahl“) hat Platon den „Aufstieg“ (210a–d) der individuellen Vernunft zur theoretischen Betrachtung als die „Vollendung in der Liebeskunst“ (210e) beschrieben und ihn von der Anziehungskraft des Schönen als des Guten her verstehen wollen. Diese Darlegung ist zum Verständnis der „echten Lust“ im Dialog „Philebos“ unerlässlich. 452 Vgl. bes. Joh 3,29f.; 15,11; 16,24; Röm 14,11; 15,10.13; 1Kor 13,6; Phil 4,4; 1Thess 2,19. – Das Offenbarungszeugnis des Evangeliums nach Johannes und des Apostels Paulus setzt hier nicht nur die Prophetie des Jesaja-Buchs (vgl. bes. 9,2; 35,10; 55,12; 61,7; 65,18.19; 66,10), sondern auch die Gebetssprache des Psalters (16,11; 31,8; 32,11; 34,6; 35,9; 43,4; 51,10; 63,6; 73,28; 100,2; 104,34; 105,3; 107,22; 118,15.24; 126,5; 149,2) voraus. Es bringt auf seine Weise zur Sprache, dass

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

des göttlichen Wesens mit uns Menschen allen, das in Jesu Lebensgeschichte und Lebensgeschick bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha das wahre Lebensziel bzw. den wahren Lebenssinn des menschlichen, des geschaffenen Person-Seins endgültig und in universaler Weite kenntlich macht. Indem der Geist der Wahrheit – der Geist des Christus Jesus, der Heiligende Geist – die selbstbewusst-freie Hingabe an Gottes In-Gemeinschaft-Sein-Wollen stiftet, ruft er das episodische Gefühl ebenso wie die dauerhafte Stimmung der Freude hervor; der Geist der Wahrheit ist es nämlich, der das Interesse an den „Taten der Liebe“ (Søren Kierkegaard) bzw. an den „Werken der Barmherzigkeit“ (vgl. bes. Lk 10,37), am Engagement für den Frieden, am Kampf für das gerechte Recht ebenso wie die schöpferische Kreativität in den verschiedenen Gattungen der Kunst erweckt.453 Insofern ist die „echte Lust“ der Freude dessen „Frucht“ (Gal 5,25). Ich habe damit darauf angespielt, dass eine systematisch-ethische Besinnung auf die „Objektbeziehung“ (Brian Horne) der „echten Lust“ der Freude am wahrhaft Höchsten Gut sich keineswegs auf die befriedigende und erfüllende Gewissheit konzentrieren wird, dass nur Gott und Gott allein das höchste, das ewige Gut sei.454 Vielmehr ermöglicht und verlangt es eine aufmerksame Theorie des Sozialen ernst zu nehmen, dass eine religiöse Kommunikation wie die des Evangeliums im Raum der Kirche notwendigerweise auf das Spektrum der Güter bezogen ist, die eine kulturell geprägte Gesellschaft selbstbewusst-freier Subjekte produziert. Wie schon in früheren Zusammenhängen erwähnt, ist es die Güterlehre der „Ethik“ Friedrich Schleiermachers in ihrer späten Fassung, die eine Vermittlung zwischen dem Ethos der Glieder der Christus-Gemeinschaft in den „Taten der Liebe“, der Barmherzigkeit, der Diakonie und ihrem Ethos in den Lebensbereichen der Ehe Jesus selbst sein Lebenszeugnis als Freudenbotschaft verstand, wie dies die Geburtslegende des Evangeliums nach Lukas programmatisch aufnimmt (Lk 2,10). – Eine biblisch-theologische – und d. h.: eine hermeneutisch geklärte – Darstellung der Freude in der Einheit und der Differenz des Tanakh und des Neuen Testaments ist ein dringendes Desiderat! 453 Im unermesslichen Gebiet der schöpferischen Kreativität in den verschiedenen Gattungen der Kunst sei hier nur pars pro toto erinnert an die Geschichte der christlichen Kunstpraxis im Kirchengesang, in der Kirchenmusik, in der bildenden Kunst, in der Literatur und last but not least in der Kirchenarchitektur. Im Blick darauf habe ich seinerzeit für eine theologische Ästhetik plädiert: Konrad Stock, Über die Idee einer theologischen Ästhetik, in: Elisabeth Gräb-Schmidt und Reiner Preul, Ästhetik, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2010 (MJTh; XXII), 79–105. 454 So definiert Thomas von Aquino, STh I q 6 a2c: „Sic ergo oportet quod, cum bonum sit in Deo sicut in prima causa omnium non univoca, quod sit in eo excellentissimo modo. Et propter hoc dicitur summum bonum.“ („So ist es angemessen zu sagen, dass – da das Gute in Gott sei im Sinne der ersten, und zwar nicht univoken Ursache alles Guten – das Gute in Gott in höchster Seinsweise sei. Und deshalb wird Gott das höchste Gut genannt.“ [meine Übersetzung]). – In der monastischen und in der mystischen Frömmigkeitssprache wird Gott und Gott allein durchweg als das „ewge wahre Gut“ (Paul Gerhardt [EG 250,3]) bzw. als der „schönste Schatz“ (Paul Gerhardt [EG 197,2]) gepriesen und besungen!

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und Familie, der Wirtschaft, der Herrschaft des Rechts, der Bildung und der Kunst entwirft. Wegen dieses Entwurfs enthält Schleiermachers „Ethik“ in ihrer späten Fassung noch immer ein unausgeschöpftes Potential für die Rechenschaft über die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens. Sie schärft den Blick dafür, das eschatische Geschehen als die Vollendung auch der soziokulturellen Rollen und Funktionen zu erhoffen, in denen die soziale Identität des irdischen, des diesseitigen christlichen Lebens sich entwickelt.455 Das Leben in der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit dem göttlichen Wollen und Walten wird nämlich nicht nur in den „Taten der Liebe“ und in den „Werken der Barmherzigkeit“ konkret; es wird eo ipso auch konkret in der verantwortlichen Teilnahme an allen notwendigen Lebensbereichen einer kulturell geprägten Gesellschaft. Es zeigt sich in dem Kampf und Streit um ein „Leitbild der erstrebenswerten Ordnung der Gesellschaft in der Sicht des christlichen Glaubens“456 ; und es beweist sich und bewährt sich in der konfliktgeladenen geopolitischen Konstellation einer entstehenden Weltgesellschaft in all den schwierigen Engagements für dauerhaften Frieden durch Recht, für nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung und nicht zuletzt für unbedingte Achtung der Menschen- und der Grundrechte. Im Teil III der vorliegenden Systematischen Theologie werde ich begründen, dass die erhofften Erfolge dieser hehren Intentionen nicht ohne die religiösen Bildungsprozesse realistisch sind, in denen sich den jeweils jungen Generationen die selbstbewusst-freie Willensgemeinschaft mit des dreieinen Gottes Wollen und Walten als das Höchste Gut erschließt. 4.5.4.3.4 Leben in Gottes beseligender Ewigkeit

In der jetzigen deutschen Umgangssprache selten geworden, bezeichnet das Begriffswort Seligkeit jenes Selbsterleben der geschaffenen Person als Glied der Christus-Gemeinschaft, das dem endgültigen bzw. dem vollendeten Offenbar-Sein des göttlichen Wollens und Waltens – seines Sinnes und Zieles, seines Woraufhin und Worumwillen – zu danken ist. Als endgültig bzw. als vollendet offenbar dürfen wir den Sinn, das Ziel, das Woraufhin und Worumwillen des göttlichen Wollens und Waltens verstehen aus zwei Gründen. Zum einen deshalb, weil es das Wahr-sein-Wollen der irdischen bzw. der diesseitigen Gotteserkenntnis und das Gut-sein-Wollen der irdischen bzw.

455 Vgl. hierzu Eilert Herms, Reich Gottes und menschliches Handeln, jetzt in: Ders., Menschsein im Werden (wie Anm. 350), 101–124. – Schleiermacher kann daher die christliche Sittlichkeit im Ganzen der Kultur einer Gesellschaft die zielstrebige Wirklichkeit des „Reiches Gottes auf Erden“ nennen: „Das Reich Gottes auf Erden … ist nichts anderes, als die Art und Weise des Christen zu sein, die sich immer durch Handeln muß zu erkennen geben.“ (CS, 13). 456 Vgl. Konrad Stock, Einleitung, 385–388.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

der diesseitigen Gottesliebe aus deren Grenzen und Fragmenten in die Klarheit führt; zum andern deshalb, weil es das Überwunden-Sein des Leids der Endlichkeit besiegelt: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ (Apk 21,4).

„Selig“ nennen wir ganz angemessen jenes im Christus-Glauben erhoffte „Sichgegenwärtig-Sein“ der geschaffenen Person, der ihre selbstbewusst-freie Teilhabe am Wollen und Walten des göttlichen Wesens – des dreieinen Gottes – unverborgen gegenwärtig ist. Eben in dieser Weise erhofft der Christus-Glaube jene „höchste Vollkommenheit des Daseins“ (CG2 § 163,1 [II, 434 = KGA I.13,2, 487]), die das eschatische Geschehen insgesamt und als Ganzes erzeugt. Unverborgen ist die selbstbewusst-freie Teilhabe der geschaffenen Person am Wollen und Walten des dreieinen Gottes zum einen deshalb, weil und sofern die Gottesgewissheit im Hier und Jetzt der irdischen, der diesseitigen Geschichts-Raumzeit von ihren Hemmungen erlöst sein wird. Gehemmt ist diese Gottesgewissheit nicht nur insofern, als die schöpferische Gegenwart des Grundes und Ursprungs aller Dinge im Medium des Geschehens der Welt und dessen ungeheurem Richtungssinn verborgen ist457 ; gehemmt ist diese Gottesgewissheit auch und vor allem insofern, als das Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids den Sinn, das Ziel, das Woraufhin, das Worumwillen und damit das Gesinnt-Sinn Gottes nach wie vor zutiefst in Zweifel zieht. Unverborgen nenne ich die selbstbewusst-freie Teilhabe der geschaffenen Person am Wollen und Walten des dreieinen Gottes zum andern aber auch insofern, als ihre innergeschichtlichen Werke – die Aktionen des „Tatbekenntnisses“ (Eilert Herms) des Christus-Glaubens – in der Selbstpräsenz des göttlichen Wesens ewig gegenwärtig sind. Zu den Aktionen dieses Tatbekenntnisses rechne ich nicht etwa nur alle die individuellen und alle die strukturellen Initiativen, durch die die Glieder der Christus-Gemeinschaft hienieden dem „Wirklich-Werden des Guten“ in den Geschichten ihrer jeweils kulturell geprägten Gesellschaften und in deren „weltlicher“ Praxis zugunsten des bonum commune zu dienen suchen458 ; zu den Ak-

457 Gottes Verborgenheit im Medium des Geschehens der Welt lässt uns schaudern angesichts der chaotischen, der katastrophalen und der destruktiven Aspekte der Evolution des Universums bis hin zur Erscheinung des Lebens auf dem Planeten Erde in diesem Sonnensystem in dieser Galaxie ebenso wie angesichts des berechenbaren Erlöschens dieses Lebens, wenn dieses Sonnensystem verglühen wird. 458 Vgl. meinen Entwurf in: Konrad Stock, Einleitung. Teil III, § 5: Das Wirklich-Werden des Guten. Theologische Ethik als Güterlehre (360–473).

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tionen dieses Tatbekenntnisses rechne ich auch die unübersehbare Menge der freien humanitären Initiativen, die sich dem helfenden Handeln bzw. dem heilenden Handeln im weitesten Sinne widmen.459 Schließlich sei hervorgehoben die christliche Missionsgeschichte, die – vielfach getragen von den Organisationen der Orden, der Missionsgesellschaften und der Erweckungsbewegungen – neben ihren dunklen Seiten intensivste Anstrengungen in den Gründungen eines Bildungswesens um der Ausbreitung des Evangeliums willen aufzuweisen hat.460 Führen wir uns die unübersehbare Quantität des theoretischen, des praktischen und des ästhetischen Gott-Verstehen-Wollens in dieser irdischen bzw. in dieser diesseitigen Geschichts-Raumzeit vor Augen, so dürfte Schleiermachers Unterscheidung zwischen der „werdenden Seligkeit“ des innergeschichtlichen und der „ungetrübten Seligkeit“ des eschatischen Gottesbewusstseins unzureichend sein (vgl. CG2 § 87 L [II, 15 = KGA I.13,2, 18]; § 101 L [II, 101 = KGA I.13,2, 116–117]; § 113,3 [II, 209 = KGA I.13,2, 232]; § 163, 1–2 [II, 433–437 = KGA I.13,2, 486–489]). Diese Unterscheidung übersieht nämlich, dass das Gottesbewusstsein des ChristusGlaubens – trotz aller Verstrickung in das noch unerlöste Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids – schon jetzt in dieser irdischen bzw. in dieser diesseitigen Geschichts-Raumzeit die Freude an der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen entzündet. Deshalb richtet sich die Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens auf jene absolut zukünftige Ewigkeit des ewigen Lebens, in der sich diese Freude im Selbsterleben der geschaffenen Person vollkommen und vollendet zeigt. Meine Interpretation der Rede von der Seligkeit des ewigen Lebens leitet an zur Antwort auf die Frage, ob die erhoffte Vollendung und Vollkommenheit des irdischen bzw. des diesseitigen Lebens in der selbstbewusst-freien Willensgemeinschaft mit Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen auch in der biblischen Metaphorik des Lohns oder der Vergeltung bzw. in der Ausdrucksform der römisch-katholischen Lehre vom Verdienst angemessen zur Sprache kommen könne.461 Eine solide Beantwortung dieser Frage hat mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Zum einen deshalb, weil sowohl die biblische Metaphorik des Lohns oder der Vergeltung (vgl. bes. Mt 19,27-29) als auch die Lehre vom Verdienst geprägt sind von

459 Exemplarisch sei genannt: Die „Internationale Bewegung vom Roten Kreuz und vom Roten Halbmond“, deren segensreiches Wirken sich insbesondere den Initiativen von Florence Nightingale (1820–1910) und von Henri Dunant (1828–1910) verdankt. – Die Bewegung ist als völkerrechtliches Subjekt anerkannt und deshalb Mitglied der Vereinten Nationen! 460 Vgl. Hubert Frankemölle/Andreas Feldtkeller/Giancarlo Collet/Martin George/Dieter Becker/Gary McGee/Wilhelm Rees/Hans-Peter Hübner, Art. Mission II. Christentum: RGG4 5, 1273–1293. 461 Vgl. zum Folgenden bes.: Martin Winter, Art. Lohn: TRE 21, 447–449; Oliver Freiberger/Catherine Hezser/Eckart Reinmuth/Christian Peters/Friederike Nüssel, Art. Werke, Gute: TRE 35, 623–648.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

der dualen Struktur des apokalyptischen Mythos, der das eschatische Geschehen eines Weltgerichts als endgültiges Urteil über das Gute oder aber das Böse eines jeden Menschenlebens und damit über „ewiges Leben“ oder aber „ewige Strafe“ (Mt 25,46) proklamiert; wegen dieser dualen Struktur stellt der apokalyptische Mythos den Richter des Weltgerichts – den „Menschensohn“ – geradezu als den Garanten bzw. als den Vollstecker eines unabdingbaren Tun-Ergehen-Zusammenhangs vor. Ich habe diese Vorstellung, die letzten Endes einem monarchischen bzw. einem unitarischen Gott-Verstehen geschuldet ist, dekonstruiert, und zwar mit Rücksicht auf die Wahrnehmung des Heiligenden Geistes, der der versöhnende Geist des Christus Jesus ist (s. 4.5.4.2). Zum andern deshalb, weil die Lehre vom Verdienst mit ihrem Sitz im Leben im Sakrament der Buße zum Missverständnis und zum Missbrauch Anlass gab und gibt. Ihr Missverständnis und ihr Missbrauch zeigt sich jedenfalls dann, wenn sie das Christus-Geschehen als das allgenugsame Versöhnungsgeschehen durch die gewissenhafte Übung pflichtgemäßer bzw. „überpflichtgemäßer“ Werke zu ergänzen fordert.462 Sehe ich recht, so wird aus beiden Gründen das sachgemäße Verhältnis zwischen der Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens und der „Totalität der sittlichen Aufgaben“ (Friedrich Schleiermacher) einer Lebensführung bzw. einer Lebensgeschichte verfehlt. Dieses Verhältnis in sachgemäßer Weise zu entfalten wird das Thema der Theologischen Ethik (STh III) sein. Sie wird auch darzulegen haben, dass das „Tatbekenntnis“ des Christus-Glaubens im Hier und Heute, das den tatsächlichen bzw. den identischen Gegenstand der römisch-katholischen Lehre vom Verdienst sowie der reformatorischen Lehre von den Guten Werken bildet, nicht anders zu erkunden ist als im Gefüge einer Lehre von den Pflichten, von den Tugenden und von den Gütern.463

462 Vgl. hierzu meine theologiegeschichtliche Analyse o. S. 522–551. – Zur Kritik der scholastischen (und damit auch der tridentinischen) Lehre vom Verhältnis des Christus-Glaubens und der verdienstlichen „Werke der Barmherzigkeit“ vgl. auch Wilfried Härle, Glaube und Liebe bei Martin Luther, jetzt in: Ders., Menschsein in Beziehungen (wie Anm. 41), 145–168. – Es ist bemerkenswert, dass die orthodoxen Kirchengemeinschaften eine Lehre von der heiligmachenden Gnade, die der römisch-katholischen Lehre vom Verdienst vergleichbar wäre, auf der Basis ihrer Kritik bei Origenes und bei Gregor von Nazianz gerade nicht entwickelt haben! 463 Vgl. hierzu Konrad Stock, Einleitung. Teil III: Grundriss der Theologischen Ethik. – Das Schleiermacher-Zitat findet sich in: Friedrich Schleiermacher, CS, 81. – Dass die reformatorische Lehre von den guten Werken mit Rücksicht auf das lebhafte Interesse der evangelischen Theologie deutscher Zunge seit Schleiermacher am Verhältnis von Religion und Moralität mit Hilfe des Gefüges einer Lehre von den Pflichten, von den Tugenden und von den Gütern zu rekonstruieren bzw. von Grund auf umzugestalten sei, sieht auch Friederike Nüssel, Art. Werke, Gute V. Systematisch-theologisch (wie Anm. 461), 647.

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Sachgemäß ist infolgedessen eine Besinnung auf die erhoffte Seligkeit des ewigen Lebens, die sich von der dualen Struktur des apokalyptischen Mythos ebenso wie von der Aporie der Lehre vom Verdienst entschlossen emanzipiert. Die Seligkeit des ewigen Lebens ist die „echte Lust“ der Freude, die in der innergeschichtlichen bzw. in der innerweltlichen „Lust und Liebe zu allen Gepoten Gottes“464 ihren individuellen ebenso wie ihren gemeinschaftlichen Anfang hat. Zwar wird die aufrichtige Selbsterforschung im Gewissen durchweg schmerzhaft demonstrieren, wie sehr uns solche „Lust und Liebe“ im Banne des Syndroms des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids vergehen kann; dennoch ist es die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche, in deren Medium Jesu Christi Heiligender Geist die „Lust und Liebe“ zum „Wirklich-Werden des Guten“ immer wieder neu erweckt. Sie ist das diesseitige bzw. das irdische „Gefühl der Integrität“465 im Verhältnis der geschaffenen Person zu Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen, das schon jetzt die „merkliche und angenehme Befriedigung“ im Sinne Platons gewährt. Wir dürfen deshalb ein eschatisches Geschehen erhoffen, in welchem dieses diesseitige bzw. dieses irdische Gefühl der echten Lust der Freude vollkommen und vollendet werden wird. Es wird vollkommen und es wird vollendet werden kraft des Heiligenden Geistes Jesu Christi, der als solcher auch die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der diesseitigen bzw. der irdischen Kirche – der „ecclesia viatorum“ bzw. der „ecclesia militans“ – vollendet. Es wäre nämlich irrig anzunehmen, Gottes vollendendes Walten im Medium der Offenbarungszeugnisse in dieser diesseitigen bzw. in dieser irdischen GeschichtsRaumzeit höre im eschatischen Geschehen einfach auf. Nein – es ist vielmehr angemessen zu denken, dass das jenseitige bzw. das absolut zukünftige Ziel des vollendenden Waltens des göttlichen Wesens in der ewigen Vergegenwärtigung des Evangeliums – und d. h.: „des versöhnenden Wortes des schöpferischen Wortes“ (s. 3.6) besteht.466 Indem der Heiligende Geist des Christus Jesus die Wahrheit dieser großen Freude (vgl. Lk 2,10) dem „Sich-gegenwärtig-Sein“ der geschaffenen Person ewig erschließt, gewährt er die Vollendung jener echten Lust der Freude,

464 Martin Luther, Großer Katechismus (BSLK 661,36f.); vgl. hierzu Michael Kuch, Aus Lust und Liebe. Luthers Verständnis der Gebote, in: Michael Roth/Kai Horstmann (Hg.), Glauben – Lieben – Hoffen. Theologische Einsichten und Aufgaben (Festgabe für Konrad Stock), Münster: LIT, 2001, 62–75; Ders., Herzenssache und Gottesmut. Martin Luther und das Lebensgefühl des Glaubens (wie Anm. 38), 178–191: Zur Freiheit befreit – die „Freiheit eines Christenmenschen“. 465 Eilert Herms, Begeisternde Erinnerung, in: Ders., Theorie für die Praxis – zur Theologie (wie Anm. 112), 365–375; 373. 466 Das ist insbesondere auch deshalb angemessen zu denken, weil die unübersehbare Fülle der menschlichen Bezeugungen des offenbarenden Geschehens in dieser diesseitigen bzw. in dieser irdischen Geschichts-Raumzeit durchweg von ihrer Fehlbarkeit und Strittigkeit gezeichnet sind; was nicht zuletzt auch für die Bezeugungen des offenbarenden Geschehens in der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments zu gelten hat.

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

die uns im Hier und Jetzt der irdischen bzw. der diesseitigen Lebensgeschichte nur durch Leid und Schuld getrübt, nur angefochten, fragmentarisch und zerbrechlich erfüllt.467 4.5.4.4

Gottes ewige Freude468

Meine Betrachtung der Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens kommt ans Ziel, indem ich eine Antwort suche auf eine letzte Frage: Schließt die Hoffnung auf die Seligkeit des ewigen Lebens es ein zu denken und zu sagen, dass auch Gott – Gottes dreieines und dreifaltiges Wesen – am eschatischen Geschehen seiner absoluten Zukunft ewige Freude hat? Diese Frage ist nicht willkürlich ersonnen. Zwar enthält das biblische Offenbarungszeugnis einige wenige gewichtige Stellen, an denen von der Freude Gottes die Rede ist469 ; aber diese Stellen brauchen eine sorgfältige Exegese, die die kategoriale bzw. die ontologische Differenz zwischen dem Gefühl bzw. der Stimmung der Freude des geschaffenen Person-Seins und der Freude des schaffenden Person-Seins Gottes konsequent beachtet. Schließlich habe ich gezeigt, dass die Freude des geschaffenen Person-Seins letzten Endes aus der ungetrübten Teilhabe am Höchsten Gut von Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen entspringt; diese Freude aber erfüllt und befriedigt jenes Aus-Sein, jenes Begehren, jene Sehnsucht, die dem ephemeren Dasein eines jeden Menschenlebens eingeschrieben ist.470 Vom ephemeren Dasein des dreieinen und dreifaltigen Gottes – des Seins-Selbst als Grund und Ursprung des All des Seienden – kann seriös natürlich keine Rede sein. Eine seriöse Beantwortung der erwähnten Frage setzt voraus, dass wir uns über den metaphorischen Charakter all unserer Bezeugungen des Offenbarungsgesche467 Mit diesem Gedanken korrigiere ich die These von Paul Tillich, STh III, 456–459: Die ewige Seligkeit als die ewige Überwindung des Negativen. Diese These ergibt sich aus der vorhergehenden These, das „Ende der Geschichte“ sei „das Ende der Religion“: „Im Ewigen Leben gibt es keine Religion.“ (STh III, 456). 468 Vgl. zum Folgenden bes.: Isaak August Dorner, Die Unveränderlichkeit Gottes, Leipzig 1883; Jürgen Moltmann, Trinität und Reich Gottes. Zur Gotteslehre, München: Kaiser, 1980, 142–143: Trinitarische Verherrlichung; Stephen E. Holmes, Art. Selbstgenügsamkeit (Gottes): RGG4 7, 1165 1167; Konrad Stock, Art. Selbstliebe (Gottes): RGG4 7, 1169–1170; Ders., Gottes wahre Liebe (wie Anm. 243), 274–276: Die Freude Gottes; sowie die „Schlußbetrachtung: Gott ist Liebe“ (314–328); Eilert Herms, STh (Bd. 1), 1160–1168. 469 Vgl. bes. Ps 96,11; 104,31; Mt 18,13; 25,21; Lk 15,7; vgl. Anm. 441. 470 Vgl. hierzu meine Interpretation der sorgfältigen sprachlichen Unterscheidungen Augustins zwischen „amor“, „dilectio“ und „caritas“: Konrad Stock, Gottes wahre Liebe (wie Anm. 243), 24–34. Augustins gesamte Theologie lässt sich zusammenfassen in der These, dass die „dilectio“ bzw. die „caritas“ des Christus-Glaubens in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und nur sie jene fruitio Dei (jenes „Genießen Gottes“[Gen. obiectivus]) erleben lasse, zu der die ephemere Existenz des geschaffenen Person-Seins („amor“) ursprünglich bestimmt ist.

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hens im Klaren sind. Um die in ihm erschlossene Sicht des Sinnes von Sein zu benennen, nehmen wir bestimmte bildspendende Sprach- und Denkformen unserer Erfahrungswelt in Gebrauch; umgekehrt jedoch kommen zu diesem Zweck nur solche bildspendenden Sprach- und Denkformen in Betracht, die sich als bildempfangend beweisen und bewähren. Erhoffen wir in unserer Sicht des Sinnes von Sein im Zentrum des eschatischen Geschehens Gottes Freude, so artikulieren wir ganz offensichtlich einen univoken Kern bzw. ein univok Gemeinsames zwischen der Freude des geschaffenen Person-Seins und der Freude des schaffenden Person-Seins. Lässt sich dieser univoke Kern bzw. dies univok Gemeinsame umschreiben? Ich sehe diesen univoken Kern bzw. dies univok Gemeinsame darin, dass wir das geschaffene, das leibhafte, das selbstbewusst-freie Person-Sein als das Bild (Gen 1,26f.) des schaffenden Person-Seins Gottes anzusprechen haben (s. 2.4.2.1). Als Bild des schaffenden Person-Seins Gottes ist dem geschaffenen Person-Sein unvermeidlich jenes Aus-Sein auf Erfüllendes und auf Befriedigendes auferlegt, das ich als den Begriffsinhalt von geschaffener Intentionalität bezeichnet habe (s. 4.5.4.3.1). Dem schaffenden Person-Sein Gottes eignet diese Form von Intentionalität natürlich nicht. Ihm eignet allerdings jene ursprüngliche Intention, die ich mit Hilfe des semantischen Felds der „Wahl der Gnade“ kenntlich mache (s. o. S. 161–178). Im Lichte dieser ursprünglichen Intention ist es höchst angemessen, auch dem dreieinen und dreifaltigen Wesen Gottes ein Aus-Sein auf Erfüllendes und auf Befriedigendes zuzuschreiben; nämlich auf das Erfüllende und Befriedigende jener absolut zukünftigen Ewigkeit, die das in unserer eschatologischen Zeichensprache Bezeichnete ist. Und zwar deshalb, weil sich in ihr die ursprüngliche Intention des göttlichen In-Gemeinschaft-sein-Wollens mit Gottes Bild – dem Anderen seiner selbst – vollendet. Im Blick auf die eschatische Vollendung des göttlichen In-Gemeinschaftsein-Wollens mit Gottes Bild versteht daher die Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) den grandiosen Satz der priesterlichen Schöpfungserzählung: „Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“ (Gen 1,31).

Gottes ewige Freude gleicht deshalb der ewigen Freude des geschaffenen PersonSeins und ihrer „echten Lust“ insofern, als auch sie als Inne-Sein der Gegenwart des Höchsten Guten anzusprechen ist. Im Verhältnis zur ewigen Freude des geschaffenen Person-Seins und ihrer „echten Lust“ ist es jedoch die kategoriale Eigenart der ewigen Freude Gottes, das Inne-Sein der Gegenwart des Höchsten Guten zu sein, das der dreieine und dreifaltige Gott auf dem Weg und im Zusammenhange

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„Eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit“ (2Kor 4,17)

seines Waltens selbst gewährt.471 Dürfen wir das eschatische Geschehen der absolut zukünftigen Ewigkeit als das ursprünglich intendierte Woraufhin und Worumwillen des göttlichen Wesens verstehen, so dürfen wir die hier und jetzt noch ausstehende Ankunft im Status des vollendeten In-Gemeinschaft-Seins als das Woran der ewigen Freude Gottes denken. Nun habe ich mich dafür ausgesprochen, das eschatische Geschehen insgesamt als das Geschehen zu erhoffen, das Jesu Christi Heiligender Geist vollendet. In ihm ereignet sich Vollendung, indem des Christus Jesus Heiligender Geist „das versöhnende Wort des schöpferischen Wortes“ (s. 3.6), wie es die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Raum der Kirche zu bezeugen hat, endgültig unverborgen, unangefochten und über allen Zweifel erhaben zur Gewissheit bringt. Er lässt als Geist der Wahrheit das lumen gloriae leuchten, in dem die christliche Sicht des Sinnes von Sein strahlt. Es scheint mir deshalb konvenient zu denken und zu sagen, dass des dreieinen und dreifaltigen Gottes ewige Freude das Inne-Sein der ewigen Freude ist, die Jesu Christi Heiligender Geist dem geschaffenen Person-Sein erschließt. Dies und nichts anderes ist gemeint, wenn christlich-fromme Poesie die ewige Freude vorzustellen wagt im Bild des Jauchzens und des Singens im „Freudensaal“ einer universalen Tischgemeinschaft: „Gloria sei dir gesungen / mit Menschen- und mit Engelzungen, / mit Harfen und mit Zimbeln schön. / Von zwölf Perlen sind die Tore / an deiner Stadt; wir stehn im Chore / der Engel hoch um deinen Thron. / Kein Aug hat je gespürt, / kein Ohr hat mehr gehört / Solche Freude. / Des jauchzen wir und singen dir / das Halleluja für und für.“472

471 Ich verwende hier mit Bedacht das Wort „gewähren“ und nicht das Wort „schenken“; denn wer schenkt, übereignet dem Beschenkten etwas zum Geschenk, das ihm gehört. Wenn Friedrich Nietzsche die „schenkende Tugend“ als die „höchste Tugend“ bzw. als das „Verschenken-Wollen“ hochleben lässt, meint er die „neue Tugend“, die ein „herrschender Gedanke“ ist, jedoch keine Gemeinschaft stiftet. Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: Werke in Drei Bänden. Zweiter Band, hg. von Karl Schlechta, München: Carl Hanser Verlag, 8 1977, 275–561; 336–340: Von der schenkenden Tugend. 472 Philipp Nicolai, EG 147,3. – Diese Strophe sang die Gemeinde zum Schluss des Gottesdienstes anlässlich der Bestattung meines Großvaters Kirchenrat Lic. theol. Friedrich Loy am 26. Oktober 1959 in der St. Matthäus-Kirche zu München.

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Schlussbetrachtung

Unter dem Titel Durch Wahrheit zur Freiheit habe ich im Rahmen meines Entwurfs Systematischer Theologie eine dogmatische Besinnung auf die Wahrheit des Christus-Geschehens vorgelegt. Sie bildet die Brücke zwischen der Fundamentaltheologie des Teils I – Erfahrung und Offenbarung – und der geplanten Theologischen Ethik des Teils III – Durch Recht zum Frieden –. Während die geplante Theologische Ethik die verschiedenen Prinzipien und Maximen zur Darstellung bringen wird, in deren Licht die Glieder der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Griechen“ (Röm 1,16) ihr diesseitiges, ihr innergeschichtliches Leben werden führen und gestalten wollen, hat sich die dogmatische Besinnung darauf konzentriert zu beschreiben, was ihnen als der objektive Sinn dieses ihres diesseitigen, innergeschichtlichen Lebens schon gegeben und erschlossen ist. Gegeben und erschlossen ist ihnen gemäß dem dichten Jesus-Christus-Wort des Evangeliums nach Johannes die befreiende Wahrheit (Joh 8,32), die als solche in die praktische Freiheit des Glaubens, des Hoffens, des Liebens und alles in allem der Selbstverantwortung vor Gott versetzt. Meine dogmatische Besinnung setzte sich zum Ziel, alle die mannigfachen Themen und Probleme, mit denen die Geschichte des Nachdenkens über die Wahrheit des Christus-Geschehens gerungen hatte und noch immer ringt, zuzuspitzen auf die elementare Frage: Wie entsteht und wie besteht diejenige praktische Freiheit, die als solche die Bestimmung der uns Menschen allen gewährten Seinsweise des Frei-Seins und damit der uns Menschen allen gewährten Würde ist? Ich antwortete auf diese Frage, indem ich an die notwendigen sowohl als auch an die hinreichenden Bedingungen erinnerte, ohne die es das Leben in praktischer Freiheit schwerlich geben würde. In diesen sowohl notwendigen als auch hinreichenden Bedingungen ist vorausgesetzt, dass wir uns der Seinsweise des Frei-Seins unmittelbar gewiss sind als gewährt vom Grund und Ursprung alles Seienden, dessen objektiver Eigen-Sinn für uns im Christus-Geschehen je und je endgültig offenbar wird. Mit dessen objektivem Eigen-Sinn für uns ist schon die Singularität gegeben, die die moderne Astrophysik dem unbegrenzten Universum zuspricht, das sich von einem Punkte 0 aus – genannt „Urknall“ – mit Lichtgeschwindigkeit ausdehnt (Robert Penrose; Stephen Hawkings). Unter den notwendigen Bedingungen, unter denen das Leben in praktischer Freiheit entstehen und bestehen wird, verstehe ich die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Rahmen einer politisch gesetzten Ordnung des Rechts, welche

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Schlussbetrachtung

die individuellen Bildungswege zum Leben in praktischer Freiheit zu schützen und zu sichern hat. Dass diese beiden notwendigen Bedingungen miteinander verbunden sind, verweist uns auf das faktische Risiko, das als solches mit der Würde der menschlichen Seinsweise des Frei-Seins – nämlich des gewollten, des bedingten, des unfreien Freiseins – gegeben ist. Es zeigt sich uns in aller Geschichte in dem erschütternden „Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids“, für das die biblische Sprache und nicht nur sie den Begriff des „In-der-Sünde-Seins“ prägt. Sie greift damit den intensiven Untersuchungen philosophischer, historischer, psychologischer, soziologischer und kriminologischer Forschung vor, die es je aus ihrer Perspektive mit dem faktischen Böse-sein-Können des Menschengeschlechts und mit dessen furchtbaren Folgen zu tun haben. Aus diesem Grunde gibt es in aller Geschichte das Bewusstsein für die unvermeidliche Funktion einer Rechtsordnung des Zusammenlebens, die – wie die Dinge liegen – niemals ohne die generelle und spezielle Prävention des Strafens auskommt. Innerhalb der ihrerseits problemgeladenen Geschichte der Rechtsordnungen spielt sich – verwurzelt in dem Kult der jüdischen JHWH-Gemeinschaft – die religiöse Kommunikation des Evangeliums ab. In wohltuendem Gegensatz zu älteren Rechtsordnungen findet sie in der Epoche der euro-amerikanischen Moderne auf der Basis des Menschen- und des Grundrechts der Freiheit des religiösen bzw. des weltanschaulichen Bekenntnisses statt. Wenn die Verfassungsurkunden dieses Menschen- und Grundrecht garantieren, so pflegen sie die Ansätze eines Religionsverfassungsrechts, welches die Eigenart des religiösen bzw. des weltanschaulichen Bekenntnisses anerkennt: nämlich eine Sicht des Lebenssinnes zu kommunizieren, die das Selbstverhältnis, das Gemüt bzw. das Lebensgefühl der Person zu prägen und zu bilden vermag. Weil eine Sicht des Lebenssinnes den Horizont des erstrebenswerten Guten bzw. des zu bekämpfenden Unguten aufspannt, hatte ich bereits im „Vorwort“ die Seinsweise des menschlichen Frei-Seins mit der scheinbar paradoxen Formel des unfreien Frei-Seins charakterisiert (s. o. S. 12f.). Wegen der vorpolitischen bzw. der vorwissenschaftlichen Funktion, wie sie der Kommunikation einer Sicht des Lebenssinnes eigentümlich ist, räumt der liberale Typ der Staatsgewalt den religiösen bzw. den weltanschaulichen Gemeinschaften das Recht ein, sich selbst zu ordnen und zu verwalten. Es ist das öffentliche Recht eines Freiraums im Verhältnis zu den Lebensbereichen einer Gesellschaft, in denen allerdings die Glieder einer jeden religiösen bzw. einer jeden weltanschaulichen Gemeinschaft simultan existieren. Vom öffentlichen Recht eines solchen Freiraums macht auch die ChristusGemeinschaft in ihren verschiedenen kirchlichen Organisationsformen Gebrauch. Unter dessen Schutz vergegenwärtigt sie in ihren Medien, in ihren Ritualen, in ihrer diakonischen Praxis und nicht zuletzt in ihrer Kunst und ihrer Kirchenarchitektur

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Schlussbetrachtung

das Christus-Geschehen, das uns ursprünglich in der Existenz der frühesten Christus-Gemeinschaften und in ihren biblischen Zeugnissen überliefert ist. Was sie vergegenwärtigt, ist befreiende Wahrheit. Ihr harter Kern, ihr Gegenstand bzw. ihre Sache ist Jesu von Nazareth Lebenszeugnis für das Im-Kommen-Sein der königlichen Herrschaft JHWHs, das sich im Tod am Kreuz auf Golgatha vollendet (Joh 19,30). Sie – dessen Wahrheit – wirkt befreiend, weil sie Gottes des Schöpfers versöhnendes Walten nicht etwa nur mit der jüdischen JHWH-Gemeinschaft, sondern auch und zugleich mit jedem menschlichen, mit jedem leibhaften PersonSein bezeugt (Röm 3,29). Im Zentrum meiner dogmatischen Besinnung steht die Erkenntnis, dass Gottes des Schöpfers versöhnendes Walten sich keineswegs im Tod des Christus Jesus am Kreuz auf Golgatha in einem kompensatorischen Sinne zeigt; es zeigt sich vielmehr in Jesu Lebenszeugnis bis hin zum Tod am Kreuz auf Golgatha in dessen Ganzheit, in welchem Gott der Schöpfer selbst das Böse-sein-Können des Menschengeschlechts auf sich nimmt und tragend überwindet (Joh 1,29). Das „Wort“ von Gottes versöhnendem Walten (2Kor 5,19) vermag deshalb befreiend zu wirken, weil es jedem menschlichen, jedem leibhaften Person-Sein den Blick zu öffnen vermag für das in Wahrheit Höchste Gut: nämlich für das Leben in selbstbewusst-freier Willensgemeinschaft mit des dreieinen Gottes In-Gemeinschaftsein-Wollen. Es ist der vornehmste Auftrag der Christus-Gemeinschaft in welcher organisatorischen Gestalt auch immer, diese befreiende Wahrheit altersgerecht, situationsgerecht, zeitgerecht und deshalb hermeneutisch und apologetisch reflektiert in jeder sozio-kulturellen Öffentlichkeit zu vertreten. Sie praktiziert damit, was Martin Luther das äußere Wort Gottes im Sinne des Inbegriffs aller menschlichen Bezeugungen des Evangeliums nannte. Sie wird das umso besser tun, je deutlicher sie unbeirrt die universale bzw. die kategoriale Reichweite des „Wortes“ von Gottes versöhnendem Walten zur Geltung bringt, die in der Würde des je individuellen Frei-Seins der Person und deren Bestimmung gründet. Ich habe diesen universalen bzw. diesen kategorialen Sachverhalt, ohne den die menschlichen Bezeugungen des Evangeliums in der Luft hingen, ausführlich dargestellt. Jedoch: die religiöse Kommunikation des Evangeliums im Rahmen einer politisch gesetzten Ordnung des Rechts bildet nach aller Selbsterfahrung nur die zweite notwendige Bedingung dafür, dass das „Wort“ von Gottes versöhnendem Walten sein befreiendes Wirken im Selbstverhältnis, im Gemüt, im Lebensgefühl der Person entfalte. Es würde schon die frühesten Christus-Gemeinschaften und ihre Zeugnisse nicht gegeben haben, wenn es nicht die Ereignisse des Dritten Tages (vgl. 1Kor 15,4) gegeben haben würde, die ihren Empfängern die Wahrheit des im Tod am Kreuz auf Golgatha vollendeten Lebenszeugnisses Jesu von Nazareth blitzartig und intuitiv erschlossen (vgl. Joh 14,26). In diesen Erschließungs-Ereignissen kam es ursprünglich an den Tag, dass das befreiende Wirken des „Wortes“ von Gottes versöhnendem Walten im Selbstver-

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Schlussbetrachtung

hältnis, im Gemüt, im Lebensgefühl der Person einer zugleich notwendigen und hinreichenden Bedingung bedarf. Im Rückblick auf das Offenbarungszeugnis des Tanakh der jüdischen JHWH-Gemeinschaft nannte Martin Luther diese hinreichende Bedingung das innere Wort Gottes (vgl. bes. Ez 36,26f.), das als solches identisch ist mit Gottes vollendendem Walten als Heiligender Geist. Inmitten aller nach wie vor noch herrschenden Verhältnisse der ziellosen Zerstreuung, der nackten justiziellen und militärischen Gewalt, der strukturellen Unterdrückung, des extensiven Raubbaus und der schieren Lebensangst ist es Gottes inneres Wort, welches das Leben in selbstbewusst-freier Willensgemeinschaft mit Gottes In-Gemeinschaft-sein-Wollen als das in Wahrheit Gute, als Höchstes Gut und deshalb als anziehend, als erfüllend, als befriedigend und als erfreuend erleben lässt. Ich hatte dieses Leben in selbstbewusst-freier Willensgemeinschaft mit Gottes InGemeinschaft-sein-Wollen im Anschluss an die Trias des Apostels Paulus als Leben des Glaubens, des Hoffens, des Liebens und alles in allem der Selbstverantwortung vor Gott skizziert (1Kor 13,13; s. 4.3). Aus diesem einfachen Grundgedanken lassen sich die individualethischen und die sozialethischen Prinzipien und Maximen ableiten, in deren Licht die geplante Theologische Ethik des Teils III das Ethos der Christus-Gemeinschaft in der riskanten Situation der entstehenden Gemeinschaft der Völker und der Staaten als sittlichen Kampf um das bonum commune der Wohlordnung (um die „wohlgeordnete Freiheit“ [Wolfgang Kersting]) innerhalb einer Gesellschaft und zwischen den Gesellschaften dieser Erde darstellen wird. Der sittliche Kampf um solche Wohlordnung bzw. um solche „wohlgeordnete Freiheit“ ist deshalb nicht unmöglich und deshalb unvermeidlich, weil alle Glieder der Christus-Gemeinschaft simultan in den verschiedenen Lebensbereichen der Kultur einer Gesellschaft existieren und darin mit allen Mitgliedern ihres Gemeinwesens koexistieren. Er wird sich orientieren an dem Kriterium, das mit der christlichen Sicht des Sinnes von Sein gegeben ist: Ist es nämlich wahr, dass die Gewissheit der befreienden Wahrheit des Evangeliums im Selbstverhältnis, im Gemüt, im Lebensgefühl eines Menschen nicht anders entsteht und besteht als im Zusammenspiel des äußeren Wortes Gottes und des inneren Wortes Gottes, so ist es das Kriterium einer Wohlordnung des Zusammenlebens bzw. einer wohlgeordneten „äußeren“ Freiheit, dass sie die Bildung der Person zur „inneren“ Freiheit der sittlichen Autonomie „äußerlich“ ermöglicht. Indem die Kultur einer Gesellschaft auf der Basis ihrer Verfassung den Freiraum garantiert, in welchem jene „innere“ Freiheit sittlicher Autonomie sich bildet, macht sie es auf „äußerliche“ Weise möglich, dass jene „innere Freiheit“ sittlicher Autonomie konkret wird in der öffentlich wirksamen Evaluation und in der mutigen Reform der Ziele und der Wege in allen Lebensbereichen des Gemeinwesens. Sie ist uns möglich und geboten in allen Rollen und Niveaus sozialer Positionen. Lässt sich das Kriterium einer Wohlordnung des Zusammenlebens bzw. einer wohlgeordneten „äußeren“ Freiheit auch auf die riskante Situation der entstehen-

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Schlussbetrachtung

den Gemeinschaft der Völker und der Staaten bzw. auf die aktuelle geopolitische Lage anwenden? Das scheint mehr als zweifelhaft zu sein. Vor allem deshalb, weil zahlreiche politisch verfasste und damit souveräne Gesellschaften in ihrem Innenverhältnis aus mannigfachen Gründen den Prinzipien der Menschen- und der Grundrechte ihrer Glieder Hohn sprechen und jene republikanische Form gewaltsam unterdrücken, die Immanuel Kant in seinem philosophischen Entwurf von 1795 zur Bedingung eines „ewigen Friedens“ erklärte.1 Sie bilden eine latente und oft genug eine akute Gefahr für eine dauerhafte internationale Wohlordnung, zumal sie sich den Normen des Völkerrechts und insbesondere den Normen des Völkerstrafrechts jederzeit nach ihrem Belieben entziehen können. Ein „Völkerbund“ im Sinne eines „Föderalism freier Staaten (verstehe: Staaten mit republikanischer Verfassung)“2 , wie ihn Kant erhoffte, ist noch keineswegs in Sicht. Kants Hoffnung war und ist insofern trügerisch, als sie auf der Erwartung ruhte, dass der Entschluss zur republikanischen Verfassung als Akt der praktischen Vernunft einer Zivilgesellschaft seine Anziehungskraft auf andere bzw. auf alle anderen Zivilgesellschaften entfalten werde. Diese Erwartung übersah und übersieht jedoch die Bedingungen, unter denen sich eine republikanisch gesinnte Zivilgesellschaft in souveränen Staaten vom Typ der traditionalen, der autokratischen bzw. der despotischen Staatsgewalt allererst bilden könne. Keinesfalls sind diese Bedingungen nur rein technischer oder nur rein ökonomischer Natur. Genau an diesem Punkte sehe ich die Chance, welche die weltweite Christenheit in den Kulturen ihrer jeweiligen Gemeinwesen wahrzunehmen und zu ergreifen hat. Sie wird für das öffentliche Recht jenes Freiraums werben, in welchem sich die sittliche Autonomie „innerer Freiheit“ bildet; und sie wird um dieses Zieles willen das Gespräch mit den Gemeinschaften des religiösen bzw. des weltanschaulichen Bekenntnisses suchen, die ihrerseits ihr Interesse am öffentlichen Recht der Kommunikation tragfähigen Lebenssinnes haben werden. Sie wird in ihrer je besonderen Situation für konsequente Dialoge des Friedens zwischen den Religionsund Weltanschauungsgemeinschaften eintreten, ohne die es das Interesse der souveränen Staaten an einem „Völkerbund“ im Sinn Immanuel Kants schwerlich geben wird. Die Zeit ist da. Schließlich bleibt es heutzutage niemandem verborgen, dass die Natur dieser Erde in diesem Sonnensystem in dieser Galaxie durch den dramatischen Wandel des Klimas, durch die rücksichtslose Ausbeutung der Ressourcen und durch die Arsenale hochwirksamer Waffensysteme aufs Schwerste gefährdet

1 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, bes. 204–208; 208–213 (W VI, 191–251). 2 Ebd. 208.

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Schlussbetrachtung

ist. Die weltweite Christenheit suche „Wege in der Gefahr“ (Carl Friedrich von Weizsäcker) zugunsten aller unserer nachkommenden Kinder und Enkelkinder! Jedoch wohin die „Wege in der Gefahr“ auch immer führen mögen: sie werden „Wege in der Gefahr“ des diesseitigen, des innergeschichtlichen Zusammenlebens sein, wie unser aller sei es verdrängtes, sei es verschwiegenes, sei es hellwaches Todesbewusstsein bezeugt. Sie werden Wege sein hin zur Grenze des Todes, die uns im Tod eines geliebten Menschen, im Schmerz der Trauer um ihn im Innersten erschüttert, so wie sie uns in dem je eigenen „Sein zum Tode“ (Martin Heidegger) ängstigt. Theoretikern der eurozentrischen Moderne bleibt es vorbehalten, die Grenze des Todes als absolutes bzw. als unwiderrufliches Ende des menschlichen, des unfreien Frei-Seins zu deuten und damit einem objektiven Zynismus zu frönen. Verwurzelt in der Hoffnung der jüdischen JHWH-Gemeinschaft sieht der Christus-Glaube in der Christus-Gemeinschaft der Kirche und der Kirchen aus „Juden“ und „Christen“ (Röm 1,16) in dieser Deutung nichts als pure Seinsvergessenheit. Ihr gegenüber versteht er den Tod als den „Ernstfall der Hoffnung“ (Bernhard Welte). Ihm ist es als wahr gewiss, dass die „Wege in der Gefahr“, die er gemeinschaftlich zu finden und zu gehen sucht, Wege des „Wandern(s) zur großen Ewigkeit“ (Gerhard Tersteegen [EG 481,5]) sind. In ihr, der absolut zukünftigen Ewigkeit des dreieinen göttlichen Wesens – des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes –, dessen In-Gemeinschaft-sein-Wollen wir im ungeheuren Ganzen dieses Universums unser je individuelles selbstbewusst-freies Person-Sein danken, wartet jene „vollkommene Freude“ (1Joh 1,4), in der das diesseitige, das innergeschichtliche Leben im „Syndrom des erlittenen Leids und des verschuldeten Leids“ endgültig versöhnt, erlöst und vollendet sein wird. Ihr wenden wir uns „aus der Tiefe“ (Ps 130,1) zu mit den Worten des „Gebets des Mose, des Mannes Gottes“: „HErr, du bist unsere Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ (Ps 90,1f.).

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Abkürzungsverzeichnis

AAS ApolCA BSLK

Acta Apostolica Sedis. Commentarium officiale, Rom 1909ff. Apologie der Confessio Augustana Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Hg. vom Deutschen Evang. Kirchenausschuss, Göttingen, 12 1998 CA Confessio Augustana CG2 Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt von Friedrich Schleiermacher, 1./2. Bd. Hg. von Martin Redeker, Berlin: Walter de Gruyter & Co., 7 1960 (zitiert nach § [ggf. Leitsatz = L], Band und Seitenzahl) CIC/1983 Codex Iuris Canonici/1983, Rom 1983 (= AAS 75,2) CS Friedrich Schleiermacher, Die christliche Sitte nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Hg. von Ludwig Jonas (SW I/12), Berlin 1843 DBW Dietrich Bonhoeffer Werke. Hg. von Eberhard Bethge/Ernst Feil/Christian Gremmels, Bd. 1–16, München/Gütersloh 1986–1998 DH Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping hg. von Peter Hünermann, Freiburg i. Br.: Herder, 45 2017 ESL (NA 2001) Evang. Soziallexikon. Neuausgabe. Hg. von Martin Honecker u. a., Stuttgart: Kohlhammer, 2001 Ethik Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre. Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun hg. und eingeleitet von Hans-Joachim Birkner, Hamburg: Meiner, 1981 (PhB; 335) FC Konkordienformel HK Heidelberger Katechismus. Revidierte Ausgabe 1997. Hg. von der Evang.reformierten Kirche, von der Lippischen Landeskirche und vom Reformierten Bund, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft, 7 2015 2 KD Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Zweite umgearbeitete Ausgabe (1830): KGA I.6, 317–446 KpV Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft KrV Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft

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Abkürzungsverzeichnis

LDStA

LG MySal W WA

Martin Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe. Hg. von Wilfried Härle/Johannes Schilling/Günther Wartenberg unter Mitarbeit von Michael Beyer, Bd. I–III, Leipzig: Evang. Verlagsanstalt, 2006–007 Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ vom 21. November 1964 (DH 4101–4179) Mysterium Salutis. Grundriss heilsgeschichtlicher Dogmatik. Hg. von Johannes Feiner u. a., Einsiedeln: Benzinger, 1965ff. Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt: WBG, 1956–1964 Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe („Weimarer Ausgabe“), Weimar 1983ff.

Karl Barth, KD

Karl Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I/1–IV/4, Zürich: TVZ-Verlag, 1932–1967 Rudolf Bultmann, GuV Rudolf Bultmann, Glauben und Verstehen. Ges. Aufsätze, Bd. 1–4, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1933–1965 Jean Calvin, Inst. Joannis Calvini Opera Selecta (OS). Edd. Petrus Barth/ Guilelmus Niesel, Vol. III – V: Institutio Christianae religionis (1559), München: Chr. Kaiser, 2 1957 Gerhard Ebeling, Dogmatik Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. I–III, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1979 Gerhard Ebeling, WG I Gerhard Ebeling, Wort und Glaube, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 2 1962 Gerhard Ebeling, WG II Gerhard Ebeling, Wort und Glaube. Zweiter Band: Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Lehre von Gott, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1969 Wilfried Härle, Dogmatik5 Wilfried Härle, Dogmatik. 5. Auflage, Berlin/Boston: De Gruyter, 2018 Eilert Herms, STh Eilert Herms, Systematische Theologie. Das Wesen des Christentums: In Wahrheit und aus Gnade leben, Bd. 1–3, Tübingen: Mohr Siebeck, 2017 Philipp Melanchthon, StA Melanchthons Werke in Auswahl. Hg. von Robert Stupperich, 7 Bde., Gütersloh: C. Bertelsmann Verlag, 1951–1975 Wolfhart Pannenberg, STh Systematische Theologie. Gesamtausgabe. Neu hg. von Gunther Wenz, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015 Otto Hermann Pesch, KD Otto Hermann Pesch, Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung, Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag, 2008ff.

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Abkürzungsverzeichnis

Karl Rahner, Sämtliche Werke. Hg. von der Karl-RahnerStiftung unter Leitung von Karl Lehmann, Freiburg/Basel/ Wien: Herder, 2014ff. Friedrich Daniel Ernst Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische GesamtSchleiermacher KGA ausgabe. Hg. von Hans-Joachim Birkner/Gerhard Ebeling/ Hermann Fischer/Heinz Kimmerle/Kurt-Victor Selge, Berlin/ New York: De Gruyter, 1980ff. Konrad Stock, Einleitung Konrad Stock, Einleitung in die Systematische Theologie, Berlin/New York: De Gruyter, 2011 Konrad Stock, Grundlegung Konrad Stock, Grundlegung der protestantischen Tugendlehre, Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, 1995 Konrad Stock, STh I Konrad Stock, Sytematische Theologie. Teil I: Erfahrung und Offenbarung, Göttingen/Bristol, CT: Vandenhoeck & Ruprecht, 2017 Konrad Stock, Theorie Konrad Stock, Die Theorie der christlichen Gewißheit. Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen: Mohr Siebeck, 2015 Helmut Thielicke, ThE Helmut Thielicke, Theologische Ethik, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1951ff. Paul Tillich, STh Paul Tillich, Systematische Theologie. Bd. I–III, dt. Stuttgart: Evang. Verlagswerk, 1955–1966 Thomas von Aquino, STh Thomas von Aquino, Summa Theologiae (zitiert nach pars, quaestio und articulus) Ulrich Wilckens Das Neue Testament. Übersetzt und kommentiert von Ulrich Wilckens, Zürich/Einsiedeln/Köln: Benzinger Verlag und Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, 7 1983 Karl Rahner, SW

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Begriffsregister

Abendmahl/Abendmahlslehre 620–648 – Abendmahl als Ritual 621–622 – Einsetzungsworte 624–631, 641 – „Gegenwart Jesu Christi“ 623–638 – „Leuenberger Konkordie“ 638–648 – Transsubstantiationslehre 626–631 – Wandlung 623–627, 641 Absolute, das 77, 148–149 Allgemeines Priestertum 702–705 Ambivalenz 356–357 Amt 301–302, 596, 706–716 Anfechtung 521, 580, 730–731 Angst 366–370 Anthropologie 258–268 Apokalyptik 436 – „Duale Struktur“ der Eschatologie 772 – Dekonstruktion der „dualen Struktur“ 758, 769–788 Apostel/Apostolat 559–564 – apostolische Sukzession 704 Auferstehung / Auferweckung / Erhöhung 432–439, 765–769 „Äußeres Wort“ – „inneres Wort“ 156, 258, 342–343, 431, 521, 590, 614 – Reformatorische Erkenntnis 343, 590 – Medien des „äußeren Worts“ 320, 431, 441, 462 – „Äußeres Wort“ und Zeichen 112, 618 – „Äußeres Wort“ der christlichen Kunstpraxis 320, 689 Autonomie 194, 289–294, 336, 692–700, 808

Barmherzigkeit 486, 653, 795 Bildung 410–411 Bischof, bischöfliches Amt 702–710 – Bischof von Rom/ Papst/ Papsttum 705–710 Böse, das 341–401, 779–787 – Böse-sein-Können 475, 516, 528–529, 698, 720 Buße 533–546 Christologie 422–430 – „Eines-Sein“ Gottes und Jesu individueller Lebensgeschichte 494–513 – Konzil von Chalkedon 451, 505–509, 631–633 – Leben-Jesu-Forschung 426 – Schleiermachers Kritik 506 – Willens- und Handlungseinheit 458–459 – „Zwei-Naturen-Christologie“ 425, 499–500 – „hypostatische Union“ 497, 624 Christus-Gemeinschaft 430–519, 699–729 – Christus-Glaube 609–617, 733–742 – Passive Konstitution der ChristusGemeinschaft 437, 658 Dauer 108–111 – allumfassende Dauer Gottes 207, 531, 675 – relative Dauer 156, 212, 312, 509, 554, 744, 790 Dekalog 547, 666, 685 Diakonie/diakonisches Handeln 260, 320, 689–693  

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Begriffsregister

Eine, das 101–111 – Denken des Einen 96–97, 127–128, 153, 278, 501 Erfahrung 229–241, 411–413 – Einheit der Erfahrungswelt 59, 190, 212, 257, 268, 280, 325, 514, 687, 744 – Erfahrung des Christus-Glaubens 86, 99, 171, 255, 305, 468, 559 Eschatisches Geschehen / Eschatologie 730–803 – Duale Struktur der apokalyptischen Eschatologie 487, 757, 772–774 – Grund der Hoffnungsgewissheit des Christus-Glaubens 733–742 – Heiligender Geist als „ontologischer Autor“ 778, 787 – Modale Klärung des eschatischen Geschehens 743 – Möglichkeit und Wirklichkeit des eschatischen Geschehens 742–751 – Tod als „Übergang“ 751–762 – Zukünftige Ewigkeit als Vollendung 730–803 „Ethisches Volk“ 739 Ethos / Ethik 36–37, 197, 301–305, 378, 405–406, 411, 444, 523–526, 580, 680, 690, 694, 721–728, 795–796 Euro-amerikanische Neuzeit und Moderne 166, 263, 425 Fideismus (der „Kirchlichen Dogmatik“ Karl Barths) 67, 176, 280 Freiheit 288–309, 648–699 – Freiheit des Gewissens 112, 260, 483, 667, 697, 700, 738, 773–777 – Freiheit des religiösen / weltanschaulichen Bekenntnisses / Religionsfreiheit 308, 356–359, 718 – unmittelbares Gefühl des „FreiSeins“ / „Selbst-Seins“ 206–214, 650, 656–657, 697

– Handlungsfreiheit 290, 296–299, 548–549 – Ordnung der geschaffenen Freiheit 297–309 – freiheitlich-demokratische Verfassung 21, 32, 726 Friede 13, 146, 442–443, 454–456 – Frieden mit Gott 404–419 Freude / ewige Freude 145–159, 793–796, 801–803 Fromm-Sein / Frömmigkeit 185–190 Gemeinwohl 302, 379, 383, 387, 391 Gewalt 386–395 – kriminelle Gewalt 390–391 – militärische Gewalt 392–394 – religiöse / weltanschauliche Gewalt 394–395 – strukturelle Gewalt 391–392 Gewissheit 653–699 – geistgewirkte Gewissheit 616, 706, 767 – primäre / implizite Gewissheit 23–24, 256, 269–280, 290, 294, 656–657 – Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums 341–348, 521–529, 648–699 – Gewissheit und Hoffnung 667–676 – Gewissheit und Glaube / Grundvertrauen 660–667 – Gewissheit und Liebe 676–696 Gewissen 112, 260, 483, 667, 697, 700, 738, 773–777 Glaube / Glauben 183–205 Gleichheit 94–98, 281–283, 298–299, 306, 383, 429, 580 – Ursprüngliche Gleichheit des männlichen und des weiblichen MenschSeins 283, 335    

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Begriffsregister

Gnade / Gnadenlehre 161–178 – Gnadenlehre der scholastischen Schulen 309, 379, 470, 536–548, 641 – Gnade und Satisfaktion (Ablass) 465–467, 472–475, 528, 534–538, 629–630, 683 – Gnade und Sakrament der Buße 533–546, 628–630, 654–655, 683, 799 – Gnade in der Sicht der reformatorischen Bewegung 165–166 – „gratia gratum faciens“ / „gratia operans“: „cooperans” 470, 536, 539–540, 543–544, 560, 628, 637, 654–655, 659, 667, 683 – „lumen gratiae“ 165–166, 170–171, 174–178 – Wahl der Gnade 161–178 Gott – Gottes Einzigkeit 101–111 – Gott als Geist 118–130 – Gottesbegriff: ontologischer 81 – Gottesbeweis? 79–82, 142 – Gottes Sein: Sein-Selbst 66–83, 316–317, 323, 325, 369, 435, 500, 782 – Gottes „In-Gemeinschaft-sein-Wollen“ 267–268, 305, 558, 568, 573, 578, 610–620, 674, 678, 771, 798, 808 Gottes schöpferische Eigenschaften 206–226 – Gottes Allgegenwart 219–227 – Gottes Allmacht 208–214 – Gottes Allwissenheit 215–218 – Gottes Ewigkeit 227–255 Gottes Freude 801–803 Gottes Person-Sein 83–159 – Gottes dreieines Person-Sein 99–145 – Gott als „Vater“ 65, 95, 127, 151, 424, 474, 483, 505, 626–627 – Gott als „Sohn“ / als „Wort“ 124, 419–422, 474, 505

– Gott als „Heiliger Geist“ 115, 124, 129, 521–568 Gottes Gut-Sein 138–145 Gottes Wahr-Sein 130–138 Gottes Walten 55–65 – Gottes schöpferisches Walten 171–178, 198–207 – Gottes versöhnendes Walten 488–491 – Gottes vollendendes Walten 176–178, 401–407, 413–418, 522–526, 788–789 Gut/Güter 295, 669–678, 790–793 – Anziehungskraft des Guten 142, 677–679 – Gut / Böse 146, 349, 362, 370, 783–784 – Güterlehre 139, 292, 578, 686, 795 Handeln / Handelnsarten 577–578 Hass 388–389 Heiligender Geist 552–568 – Heiligender Geist als „inneres Wort“ 483, 618, 808 – Heiligender Geist der Wahrheit / „Wahrheitsgeist“ 56, 255, 431 Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments 593, 603 – Heilige Schrift: Schriftprinzip 644 Herz 271, 315, 333 – Intentionalität / Intention 272, 315, 373, 790, 802 Hiob: Buch „Hiob“ 202, 417 Höchstes Gut 792–793 Hoffnung 730–742 Institution / Institutionen 404–419 – Religion als Institution 701, 738 JHWH-Gemeinschaft, jüdische – „Erwählung Israels zum Volk JHWHs“ 413–418

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Begriffsregister

– Gott-Verstehen der jüdischen JHWHGemeinschaft 48, 414, 446–447, 501, 558–561, 604, 645, 667, 734, 773, 791 – „Noah-Bund“ / „Abrahams-Bund“ 414–415 – Tora als normativer Kern des Tanakh 652 – Vollendung des Tora-Gehorsams, innergeschichtliche 401 – „Wurzel“ (Röm 11,16–18) der Christus-Gemeinschaft 413–419 Jesus Christus – Jesus von Nazareth 419–520 – Lebenszeugnis für das „ImKommen-Sein“ der königlichen Herrschaft JHWHs 440–460 – Tod am Kreuz auf Golgatha: Vollendung des Lebenszeugnisses (Joh 19,30) 460–494 – Tod am Kreuz auf Golgatha als „Übergang“ 432–439 – „Erscheinungen des Dritten Tages“: Ereignisse der Wahrheit 432–439 – Selbstvergegenwärtigung im Heiligenden Geist 638–648 – Selbstvergegenwärtigung in der Kommunikation des Evangeliums 568–648 – Selbstvergegenwärtigung in der Feier des Heiligen Abendmahls 623–638 – „Zur Rechten Gottes“ 420, 513, 626–627 Kirche, Kirchengemeinschaft 699–729 – kirchliches Lehramt 711–716 – kirchliches Leitungsamt 706–710 – Kirchenordnung 702–729 – Kirchenrecht 717–720 – Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts 717–718

– Kirche in der Kultur der Gesellschaft 721–728 – „Heilige römische Kirche“: sakramentale Struktur 521, 533, 536, 655, 715, 729 – Soziale Gestalt des Christus-Glaubens 699–729 Kirchenjahr 571–585 Kommunikation des Evangeliums 568–648 Krieg 392–394 Kunst 411–413 – Christliche Kunstpraxis 320, 689 Lehre 711–716 – Lehrbekenntnis 363, 622, 634–636 Leib/Leibhaftigkeit 270–280 – leibhaftes Person-Sein 272–274 – Leib/Seele 275–277 – Dualismus von Leib und Seele 273 – Einheit von Leib und Seele 275 – Sexualität des Leibes 281–288, 370–371 Leib / Seele / Geist 277–280 Leid / Erlittenes Leid - verschuldetes Leid 351–357 Laster 377–386 Leben – Lebenssinn / Sinn des Lebens 11, 20–32, 130, 144, 168, 289, 306, 379, 387, 389, 591, 595, 606, 608, 621, 701, 795, 806, 809 Liebe 676–696 – Geschlecht und Liebe 281–288 – Gottes Liebe (gen. subiectivus) 683, 688 – Liebe als Begehren / als Eros 273, 284, 287, 313, 335, 372–377 – Liebe zum Andern / zum „Nächsten“ 689–693 – Liebe zu Gott 687–689

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Begriffsregister

– Liebe als Selbstliebe 693–696 – Liebe: Ordnung der Liebe 682–687 Macht 446, 449, 454 Materie 173, 197, 216, 223, 226, 234, 291, 327–328, 351, 539, 626 Metaphysik 75, 110 Natur – Natur der Erde 119, 155, 168, 175, 215, 273, 291–292, 317, 330, 663, 744 – Natur des Mensch-Seins 300, 363, 373, 397, 540

Pentateuch 48 Person-Sein 83–159, 255–320 – geschaffenes Person-Sein 268–320 – Bild-Gottes-Sein (Gen 1,26f.) 255–320 – geschaffenes Person-Sein als relationales Sein 268–320 Phänomen / Phänomenologie 732 Predigt 592–596 – Politische Predigt? 577 Prophetie 735 Raum 219–227 Recht / Rechtsordnung 408–409 Reformation / reformatorische Bewegung 521–551 Relation / Relationalität 86, 107 Religion 701, 738 – Religionsgeschichte 442, 514, 604, 606 – Religionsrecht 29

Offenbarung 513–519 – als Erschließungsereignis 55, 165, 431, 437, 459, 481, 516, 556, 563, 807 – Offenbarungszeugnis 34–36 Ontologie 106 – „Existenzbegründungsrelation“ 246 – kategoriale / universale Bestimmungen 106, 153, 168, 259–260, 330–331 – Ontologie der Substanz / Ontologie Scham 370–372 der Relation 107, 153, 221 Schuld 396–401 – ontologische Differenz 115, Seelsorge 596–602 127–128, 137, 149 Selbstbewusstsein 270–280 s. a. „Sich– ontologische Relation 436, 746, 750, gegenwärtig-Sein“ 783, 785 – frommes Selbstbewusstsein: Be– ontologische Kategorie des Prozesses stimmtheit 48, 94, 146, 202, 107 280–281, 309–320, 338, 483 – „Rahmen“ der Rechtfertigungslehre / – vermitteltes Selbstbewusstsein 188 der Soteriologie 164, 184, 254 – unmittelbares Selbstbewusstsein 105, – Sicht des Sinnes von „Sein“ 54, 380, 186–187 516, 604, 619, 753, 756, 758, 762, 783, „Sich-gegenwärtig-Sein“ 270–280 785, 803, 808 – Gottes „Sich gegenwärtig-Sein“ 554 – „Sein“ als „Im-Werden-Sein“ 182, – geschaffenes „Sich gegenwärtig-Sein“ 583 244 – „Sich-Verstehen“ als Basis ontologiSterben / Sterbeprozess 751–762 scher Aussagen 252, 258, 276, 469, Strafe / Strafrecht 663, 769–788 489, 533–534

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Begriffsregister

Subjekt / Subjektivität 119–120, 153–154, 476–478, 502 – Theorie der Subjektivität 50, 599 Sünde / „In-der-Sünde-Sein“ 358–401 – „Erbsünde“ 361–365 Synode 703–709 Taufe 605–619 – Taufe des Johannes des Täufers 533, 606–607 – Taufe und Christus-Glaube 609–617 – Taufe als Kindstaufe 617–619 – Taufe und Konfirmation 617–619 – Taufe als Ritual 606–609 – Taufe als Sakrament 604–605 – Taufverantwortung 618–619 Theologie 34 – Dogmatik 11–39 – Dogmatik und Ethik 11, 43 – Fundamentaltheologie 11, 19–20, 32, 165 – Theologie der Befreiung 523 Tod / Sein zum Tode 252, 369, 479, 696, 751–762, 810 Transzendental / transzendentaler Grund 187–188, 242, 252, 352, 507 – Theorie des Transzendentalen 250–253 Transzendenz 42, 601, 764 Trauer 378, 793 Trinität / Trinitätslehre 99–145 – „asymmetrische“ / „symmetrische“ Form der Trinitätslehre 150 – „immanente Trinität“ 86, 94–95, 154, 500 – „ökonomische“ Trinität 55, 63, 93, 148, 155 – „innere Struktur“ des göttlichen Wesens 113, 126, 454 – Schleiermachers Kritik 93–99

– Trinitätslehre als „konkreter Monotheismus“ 100, 485–488, 573 Trost 346, 443 Tugend / Tugendlehre 378, 589, 655, 680, 685–686 Unio personalis 473, 497–498, 509–511, 518 Universum 194–197 – astrophysikalische Theoriebildung 210, 226 – Evolution des Universums 274, 744, 748 – Raum-Zeit-Kontinuum des Universums 248, 298, 333, 764 – Richtungssinn des Universums 347–348 Verantwortung / Verantwortlich-Sein 90, 100, 305, 355, 358, 416, 486–487 – Selbstverantwortung 112, 165–166, 311, 463, 535, 550, 581, 675, 680, 714, 730, 776 Verdammnis 781–788 Verkündigung 585–603 – Predigt 592–596 – Politische Predigt? 577 – Seelsorge 596–602 – Unterricht 587–592 Versöhnung 460–494, 638–648 Vergebung / Verzeihung 778 Verstrickt-Sein 352 Vertrauen 657–667 – Gott als ewiger Vertrauensgrund 127, 316, 324 Welt / In-der-Welt-Sein 369 Wille / Wollen 191–197 – Willensgemeinschaft mit Gott 267–268, 305, 558, 568, 573, 578, 606, 610–620, 674, 678, 771, 798, 808 Wissen 191–197

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Begriffsregister

Wohlordnung der Gesellschaft 530, 595–596 Wort 179–339 – schöpferisches Wort 256, 509, 546, 632, 646 – versöhnendes Wort des schöpferischen Wortes 460–494, 513–519 Würde des Menschen 268, 330, 390 Zeit / Zeitlichkeit 229–241 – Gegenwart – Präsenz des Gewesenen in der Gegenwart 236–240, 271, 329, 375, 557, 783 – Aus-Sein auf Zukünftiges in der Gegenwart 790–791 Zeuge / Zeugnis 42, 202, 239, 417, 432, 648, 650, 699

Zorn, gerechter 387 – Zorn / Wut 388 Zukunft / zukünftig – absolute Zukunft 100, 129–130, 145, 147, 155, 164, 313, 357, 448, 452–453, 573, 787, 801 – zukünftige Ewigkeit 76, 138, 145, 442, 522, 731–732, 781, 798, 802–803 – Zukunft: Richtungssinn des evolutiven Prozesses 347–348 – Zukunft des „Sich-gegenwärtig-Seins“ 271–272 „Zwei-Reiche-Lehre“ 404–406 – Gottes Regiment (Regierweise) „zur Linken“ 404–411 – Gottes Regiment (Regierweise) „zur Rechten“ 404–411

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