System- und Methodengeschichte der deutschen Musikkritik vom Ausgang des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts 3515117261, 9783515117265

Mit diesem Band legt Helmut Kirchmeyer die erste zusammenhängende Darstellung der deutschen Musikkritik vom ausgehenden

117 108 2MB

German Pages 529 [534] Year 2017

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

System- und Methodengeschichte der deutschen Musikkritik vom Ausgang des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts
 3515117261, 9783515117265

Table of contents :
INHALT
AN STELLE EINES VORWORTES
EINLEITUNG
I. VORVERSTÄNDNIS
II. HISTORISCHE ABLÄUFE
III. GLIEDERUNGEN
1) Philologische Kritik
2) Geschmackskritik
3) Psychologische Kritik
4) Gegengründungen
5) Subjektivierte Moral
6) Fortschrittsparolen
7) Standpunktskritik
8) Historische Kritik
9) Wissenschaftliche Kritik
10) Parteikritik
IV. SYSTEM UND WIRKLICHKEIT
1. KAPITEL: PHILOSOPHISCHE GRUNDLEGUNG
1. KANT
2. SCHELLING
3. JACOBI
4. OKEN
5. HEGEL
6. SCHOPENHAUER/NIETZSCHE
2. KAPITEL: DIE GESCHMACKSKRITIK
1. ZUR SYSTEMLAGE. KANT – MICHAELIS – REICHARDT – JACOBI
2. GESCHMACK UND REGELUNGSBEDARF. WEILER 1811
3. [ZWISCHENTEXT I] DAS MOZARTBILD BIS 1797
4. GENIE UND GEFALLEN
5. ANONYMUS 1803. DER PSEUDO-HILLER-DIALOG. GENIE UND URTEIL
6. VOM GENIE ZUM „WAHREN“ GENIE
7. 1816. EIN GASTROSOPH ALS STICHWORTGEBER: ÜBER GESCHMACK LÄSST SICH NICHT STREITEN
8. NACHTRAG. ROCHLITZ 1831: GESCHMACK ALS UNWERT
3. KAPITEL: DIE „ALLGEMEINE MUSIKALISCHE ZEITUNG“ 1797 BIS 1818. FRIEDRICH ROCHLITZ
1. VORAUSSETZUNGEN
2. FRIEDRICH ROCHLITZ
3. DIE FLEISCHMANN-THESEN
4. ROCHLITZENS VIER-KLASSEN-THEORIE
5. ROCHLITZ – FLEISCHMANN
6. BEDEUTUNG UND NACHTEIL
7. HORNS „FRAGMENTE“. VON DER UNBEGREIFBARKEIT DER MUSIK
8. NÄGELIS ‚NORMEN‘ VON 1802/03
9. DAS ROCHLITZ-VORWORT
10. NÄGELI – ROCHLITZ
11. ZUM VERHÄLTNIS KÜNSTLER – KRITIKER
12. HÖRKRITIK. SCHREIBER UND GUTHMANN
13. FRIEDRICH LUDWIG BÜHRLEN – APHORISMEN ZUR KRITISCHEN LEBENSWEISHEIT
14. ANONYMUS 1818
15. ERWARTUNGSHALTUNG
16. KUNSTPHILOSOPHIE
17. NACHTRETER: ERNST WOLDEMAR 1826
18. CARL MARIA V. WEBER ALS MUSIKKRITIKER
19. BANALITÄTEN. TERMINDRUCK UND MITARBEITERPROBLEME
4. KAPITEL: ZWISCHEN DEN STILEN
1. VORVERSTÄNDNIS
2. CHRISTIAN FRIEDRICH MICHAELIS
3. KARL BORROMÄUS VON MILTITZ
5. KAPITEL: GEGENGRÜNDUNGEN. „BERLINER ALLGEMEINE MUSIKALISCHE ZEITUNG“, „CAECILIA“ UND ANDERE
I. ABSCHNITT: DIE BERLINER ALLGEMEINE MUSIKALISCHE ZEITUNG. EIN KAPITEL ADOLF BERNHARD MARX. BERLIN ZWISCHEN 1824 UND 1830
II. ABSCHNITT. DIE ZWEITE KONKURRENZ. GOTTFRIED WEBERS „CAECILIA“
III. ABSCHNITT. GESCHEITERTE KONKURRENZEN
6. KAPITEL: DIE ALLGEMEINE MUSIKALISCHE ZEITUNG 1818 BIS 1848
1. DIE ÜBERGABEN
2. GOTTFRIED WILHELM FINK
3. DIE VORWORTE FINKS
4. NIEDERGANGSSYMPTOME. GESCHMACKSVORSTELLUNG ALS PARTEIUNG
5. DAS KRITISCHE PRINZIP. WERTUNGSNEUTRALITÄT ALS STILLSTAND
6. DEFINITIONSPROBLEME
7. DER DORN-FINK-STREIT
8. BEDRÄNGNISSE VON ALLEN SEITEN
9. TOPOS UNPARTEILICHKEIT UND ANDERE PHRASEN
10. FINKS ABGANG
11. JOHANN CHRISTIAN LOBE
12. 1848. DAS ENDE DER „ALLGEMEINEN MUSIKALISCHEN ZEITUNG“
7. KAPITEL: DIE NEUE (LEIPZIGER) ZEITSCHRIFT FÜR MUSIK 1834 BIS 1845. ROBERT SCHUMANN
1. MARKTSITUATION
2. STRUKTUR
3. LEIPZIG GEGEN LEIPZIG. KONKURRENZWERTUNGEN
4. ZIELOBJEKT KLAVIERMUSIK
5. DAS PROGRAMM
6. GUSTAV NAUENBURGS „RATIONELLE“ KRITIK
7. DAS NEUE MUSIKKRITISCHE VOKABULAR. DER SALON
8. SINNFRAGEN. VOM STREIT ÜBER EINE BEGRIFFSLOSE MUSIK. SOBOLEWSKI
9. DAS VIELGESPALTENE KRITIKER-ICH
10. PROJEKT STEREOTYP-REZENSION
11. KRITIK UND KRITIK DER KRITIK BEI SCHUMANN UND ANDEREN. BLOSSSTELLUNGEN
12. WIDER DIE ‚MÄKLER‘. APORIEN
13. ZIELSCHEIBE PHILISTER
14. MUSIKPHILOSOPHIE ALS KRITISCHE PROPÄDEUTIK. CARL FERDINAND BECKER
15. [ZWISCHENTEXT IV]: DER SCHUMANN-SCHILLING-STREIT
16. ERGEBNIS HISTORISCHE KRITIK. EDUARD KRÜGER
8. KAPITEL: ZWISCHENGRÜNDUNGEN
I. DIE SIGNALE FÜR DIE MUSIKALISCHE WELT 1843. BARTHOLF SENFF
II. PERSONA INGRATA. HERRMANN HIRSCHBACHS MUSIKALISCHK-RITISCHES REPERTORIUM
III. CARL GAILLARD UND DIE „BERLINER MUSIKALISCHE ZEITUNG“ 1844
IV. DIE TEUTONIA ODER DR. MED. JULIUS SCHLADEBACH
V. SONDERFALL „ALLGEMEINE WIENER MUSIK-ZEITUNG“ 1841
VI. SONDERFALL „BERLINER MUSIK-ZEITUNG ECHO“ 1851
9. KAPITEL: STILFIKTION ALS KRITISCHES PRINZIP. DIE NEUE BERLINER MUSIKZEITUNG 1847
1. PROGRAMM FORTSCHRITT
2. DER TYP
3. OTTO LANGE
4. ZUR THESE VON DER VERGLEICHENDEN KUNSTKRITIK
5. LANGES VORWORTE
6. NOCH EINMAL FLODOARD GEYER
7. DEFINITION FORTSCHRITT ALS KRITISCHES PRINZIP ODER RÜCKSCHRITT ALS FORTSCHRITT
8. ABGLEICH BERLIN-LEIPZIG BRENDEL-LANGE
9. STILFIKTION ALS BEURTEILUNGSMASSSTAB. DIE NEUE APRIORITÄT
10. ÜBERSCHLAGENDES SELBSTBEWUSSTSEIN
11. SCHUTZMASSNAHMEN. EHRENGERICHT
12. DER GEYER-LANGE-STREIT
13. DAS ENDE DER FIKTION: KRITIK ALS WEISENDES, KUNST ALS DAS GEWIESENE
10. KAPITEL: DIE NEUE ZEITSCHRIFT FÜR MUSIK 1845 BIS 1852 (DIE „BRENDELSCHE ZEITUNG“)
1. ZUR PERSON
2. FRANZ BRENDELS DRITTER STANDPUNKT. DIE HISTORISCHE KRITIK
3. CHIFFRE 87. FEINDBILD INDIFFERENTISMUS UND KRITICISMUS
4. ADOLPH TSCHIRCH UND DIE FORDERUNG NACH NEUHEIT IN FORM UND INHALT
5. STANDORTSBESTIMMUNG. GESCHICHTSTHEORETISCHE KRITIK
6. HEGEL-DÄMMERUNG
7. DER PRINZIPIENSTREIT SCHÄFFER – BRENDEL – KRÜGER – DÖRFFEL
8. ZAUBERFORMEL ‚ÜBERWUNDENER STANDPUNKT‘
9. DIE BRENDEL-OPPOSITION. OPPOSITION VON AUSSEN
10. DIE BRENDEL-OPPOSITION. OPPOSITION VON INNEN
11. TOPOS ALT-NEU
12. REVOLUTIONS-EUPHORIEN
13. NEU ERWECKTES NATIONALGEFÜHL. VERGLEICHE
14. ZEITUNGSKRIEGE
15. SCHEIDEPUNKT MEYERBEERS „PROPHET“. ZUR DIVERGENZ VON KRITIKERURTEIL UND PUBLIKUMSGESCHMACK
16. GRÜNDUNG DER TONKÜNSTLER-VEREINE
17. DIE LEIPZIGER TONKÜNSTLER-VERSAMMLUNG VOM 28. JULI 1849
18. DER WEBER-UHLIG-STREIT 1851. POLITISCHE INHALTE?
19. DIE AUFLÖSUNG (SELBSTVERNICHTUNG) DER MUSIKKRITIK. PROGRAMM WAGNER
11. KAPITEL: VON DER PARTEIKRITIK ZUR PARTEILICHEN KRITIK
1. MUSIKKRITIK OHNE SYSTEM-BEGRÜNDUNG
2. MUSIKKRITIK GLEICH WAGNER-LISZT-KRITIK
3. [ZWISCHENTEXT V] DER UNBEKANNTE LISZT
4. BRENDEL NACH 1852
5. SYSTEMERSTARRUNG UND POLITISCHE SPRACHENTWICKLUNG
6. DIE PARTEIEN. „WAGNER“ UND „ANTI-WAGNER“
7. [ZWISCHENTEXT VI] ZENTRUM WAGNER
8. ZERRIEBENER ZWISCHENSTAND. JOHANNES BRAHMS
9. AUSBLICKE
12. KAPITEL: VON DER WISSENSCHAFTLICHEN KRITIK ZUR VIRTUELLEN MUSIKGESCHICHTE
I. DER WEG IN DIE IDEOLOGIEN
II. VORFORM: DER ‚FALL HANSLICK‘
III. VIRTUELLE MUSIKGESCHICHTE
AN STELLE EINES NACHWORTES. [VORLÄUFIGES] FAZIT
REGISTER

Citation preview

Helmut Kirchmeyer

System- und Methodengeschichte der deutschen Musikkritik vom Ausgang des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts

Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 78 Franz Steiner Verlag

Helmut Kirchmeyer System- und Methodengeschichte der deutschen Musikkritik vom Ausgang des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts

Bei hef te zu m A rc h iv f ü r Mu si k w i s sen sc ha f t herausgegeben von Albrecht Riethmüller in Verbindung mit Ludwig Finscher, Frank Hentschel, Hans-Joachim Hinrichsen, Birgit Lodes, Anne Shreffler und Wolfram Steinbeck Band 78

Helmut Kirchmeyer

System- und Methodengeschichte der deutschen Musikkritik vom Ausgang des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11726-5 (Print) ISBN 978-3-515-11728-9 (E-Book)

AN STELLE EINES VORWORTES Dieses Buch bildet unter dem Obertitel „System- und Methodengeschichte“ den 1. Band des II. Teils der sechsteilig entworfenen „Situationsgeschichte der Musikkritik und des musikalischen Pressewesens in Deutschland, dargestellt vom Ausgange des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts“ und ist als Teil eines Ganzen zu verstehen. Der I. Teil ist der Handwerkslehre gewidmet, der III. Teil (Romantik und Widerromantik) der Anwendung der Systeme und Methoden auf die Komponisten vor Wagner, der IV. Teil dem zentralen Komplex der Auseinandersetzungen um Wagner, der V. Teil (Die neudeutsche Problematik) dem circumpolaren und nachwagnerischen Bereich. Grundsätzlich geht es um (nachprüfbare) Werk-, nicht um Aufführungskritik. Die Bände 2, 3 und 4 des II. Teils sowie die Bände 1, 2, 3 und 5 des IV. Teils sind in den Jahren 1990, 1995 (nicht: 1990) und 1996, bzw. 1966, 1967, 1972 und 1990 im Gustav Bosse Verlag Regensburg erschienen. Auf die dort im Urtext veröffentlichten Quellentexte wird mit eckig geklammerten arabischen Ziffern hinter römisch II (3 Bände 1–772) bzw. IV (4 Bände 1–1992) verwiesen. Dieses Verfahren spart Text und vereinfacht das Nachschlagen. Einige Abschnitte wurden aus früheren Veröffentlichungen verbessert und erweitert übernommen. Benutzte Quellen und Literatur sind im laufenden Text angegeben. Für weitere Literatur sei auf die Lexika Einstein, Riemann, MGG I und MGG II, auf die Ausgaben der Alten und der Neuen Deutschen Biographie sowie auf Wurzbach verwiesen. Dank der großzügigen Bereitstellung der Zeitschriftenlandschaft durch Wikisource wurden die Korrekturarbeiten erheblich erleichtert. Entdeckte Fehler, Verwechslungen und Irrtümer oder mögliche Anregungen bitte ich, mir freundlicherweise über die elektronische Postanschrift [email protected] zukommen zu lassen. Dem Steiner-Verlag in Stuttgart, vertreten durch Herrn Dr. Thomas Schaber, danke ich für sein Entgegenkommen und die Qualität der drucktechnischen Ausführung, Herrn Albrecht Riethmüller für die Freundlichkeit, das Buch in die Reihe der Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft aufzunehmen. Düsseldorf-Pempelfort, im Advent 2016

Albrecht Riethmüller zugeeignet

„Weise sind mild, aber fürchte die klugen Leute“ Friedrich Ludwig Bührlen, 1825

INHALT An Stelle eines Vorwortes ........................................................................................5 Einleitung ..........................................................................................................21 I. Vorverständnis ....................................................................................................21 II. Historische Abläufe ...........................................................................................21 III. Gliederungen ....................................................................................................22 1) Philologische Kritik ....................................................................................22 2) Geschmackskritik .......................................................................................22 3) Psychologische Kritik .................................................................................23 4) Gegengründungen.......................................................................................25 5) Subjektivierte Moral ...................................................................................27 6) Fortschrittsparolen ......................................................................................29 7) Standpunktskritik ........................................................................................29 8) Historische Kritik .......................................................................................30 9) Wissenschaftliche Kritik .............................................................................31 10) Parteikritik ................................................................................................32 IV. System und Wirklichkeit ..................................................................................34 1. Kapitel: Philosophische Grundlegung ...............................................................35 1. Kant ..........................................................................................................35 2. Schelling .....................................................................................................37 3. Jacobi ..........................................................................................................38 4. Oken ..........................................................................................................41 5. Hegel ..........................................................................................................41 6. Schopenhauer/Nietzsche .............................................................................44 2. Kapitel: Die Geschmackskritik ..........................................................................45 1. Zur Systemlage. Kant – Michaelis – Reichardt – Jacobi ............................45 a) Kant – Michaelis ..................................................................................45 b) Kant – Reichardt ..................................................................................46 2. Geschmack und Regelungsbedarf. Weiler 1811 .........................................47 3. [Zwischentext I] Das Mozartbild bis 1797 .................................................48 a) Standard-Verhalten ..............................................................................48 b) Reichardts musikkritische Vorstellungen ............................................51 c) Reichardt – Kunzen .............................................................................52 d) Bretzner-Zwischenspiel .......................................................................53 e) Reichardt 1805 .....................................................................................54 f) Schaul ...................................................................................................55 g) Nachbereitung......................................................................................56

12

Inhalt

h) Wertung aus Enkel-Sicht .....................................................................57 4. Genie und Gefallen .....................................................................................60 5. Anonymus 1803. Der Pseudo-Hiller-Dialog. Genie und Urteil ..................61 6. Vom Genie zum „wahren“ Genie ................................................................65 7. 1816. Ein Gastrosoph als Stichwortgeber: Über Geschmack läßt sich nicht streiten..................................................66 8. Nachtrag. Rochlitz 1831: Geschmack als Unwert ......................................68 3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818. Friedrich Rochlitz ...........................................................................................71 1. Voraussetzungen..........................................................................................71 2. Friedrich Rochlitz .......................................................................................72 a) Zur Person............................................................................................72 b) Typenlehre ...........................................................................................72 3. Die Fleischmann-Thesen ............................................................................73 4. Rochlitzens Vier-Klassen-Theorie ..............................................................76 5. Rochlitz – Fleischmann ..............................................................................80 6. Bedeutung und Nachteil..............................................................................82 a) Systemfreiheit als Prinzip ....................................................................82 b) Bedeutung ............................................................................................83 c) Nachteile ..............................................................................................86 7. Horns „Fragmente“. Von der Unbegreifbarkeit der Musik .........................86 8. Nägelis ‚Normen‘ von 1802/03 ..................................................................88 9. Das Rochlitz-Vorwort .................................................................................96 a) Nägeli und die „Allgemeine musikalische Zeitung“ ...........................96 b) Rochlitzens drei Punkte .......................................................................96 c) Zum Musikerbildungsstand um 1800 ..................................................97 10. Nägeli – Rochlitz ......................................................................................97 a) Einbehaltene Zukunft...........................................................................97 b) Thema Sprache und Stil.......................................................................98 11. Zum Verhältnis Künstler – Kritiker ..........................................................99 12. Hörkritik. Schreiber und Guthmann .......................................................100 13. Friedrich Ludwig Bührlen – Aphorismen zur kritischen Lebensweisheit 102 a) Zur Person..........................................................................................102 b) Rochlitz – Bührlen.............................................................................103 c) Juristenmentalitäten ...........................................................................104 d) Prinzip Aphorismus ...........................................................................104 e) Von der Ganzheit der Erscheinungen.................................................105 f) Kritik als Akt der Ichheit ....................................................................106 g) Kritiker-Kritik. Kunst als Ausdruck von Lebensgefühl.....................108 h) Kunst als Ausdruck der Zeit ..............................................................108 i) Kritik als Charaktersache ...................................................................109 j) Kritik als Utopie .................................................................................109 k) Urteil und Negation ........................................................................... 110 l) Verschärfte Töne ................................................................................. 112

Inhalt



13

m) Kunstgesetze als Annäherungswerte ................................................ 113 n) Fazit. Kritik ohne produktiven Einfluß.............................................. 114 14. Anonymus 1818 ...................................................................................... 115 15. Erwartungshaltung .................................................................................. 116 16. Kunstphilosophie .................................................................................... 116 17. Nachtreter: Ernst Woldemar 1826........................................................... 116 18. Carl Maria v. Weber als Musikkritiker.................................................... 119 19. Banalitäten. Termindruck und Mitarbeiterprobleme...............................121

4. Kapitel: Zwischen den Stilen ...........................................................................122 1. Vorverständnis...........................................................................................122 2. Christian Friedrich Michaelis ...................................................................123 a) Zur Person..........................................................................................123 b) Zuordnung .........................................................................................123 c) Kantkommentare................................................................................124 d) Über den Geschmack. Von der Liberalität des Kunsturteils ..............128 e) Hörer-Kritiker-Typologie...................................................................129 f) Die acht Kritiker-Qualitäten ...............................................................131 g) Von der vierfachen Wurzel der Unaussprechlichkeit des künstlerischen Eindrucks ................................................................132 h) Sehnsucht nach dem Gestern .............................................................133 i) „Altes und Veraltetes“ ........................................................................134 j) Nachsatz .............................................................................................135 3. Karl Borromäus von Miltitz ......................................................................137 a) Allgemeines .......................................................................................137 b) Kritiker und Publikum. Die Vier-Gruppen-Theorie ..........................138 c) ‚Bemerkungen‘ 1820 .........................................................................139 d) Berichterstattung aus dem Rückwärts ...............................................140 e) Miltitz 1840 .......................................................................................143 f) Weltsicht .............................................................................................144 g) Der Miltitz-Fink-Disput 1834............................................................145 h) Über Originalität................................................................................145 5. Kapitel: Gegengründungen. „Berliner Allgemeine musikalische Zeitung“, „Caecilia“ und andere ...................................................................................147 I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung. Ein Kapitel Adolf Bernhard Marx. Berlin zwischen 1824 und 1830............147 1. Zur Gründung ...........................................................................................147 2. Berlin gegen Leipzig .................................................................................148 3. Programmatik und Meinungsvielfalt. Beispiel Spontini...........................149 4. Fachmusikertum und die Folgen...............................................................151 5. Zur Methodik. Leitartikel 1824 ................................................................152 a) Selbstortung als Programm. Musik und Politik .................................152 b) Unparteilichkeit. Kritikerfrage gleich Standpunktsfrage ..................153 c) Musikkritische Propädeutik ...............................................................156

14

Inhalt

d) Stufen der Urteilsbildung ..................................................................158 e) Anspruch und Realität........................................................................159 f) Grundsätze nach 1824 ........................................................................159 6) Nachschau Methodik. Der Epilog 1824 ...................................................162 a) „Standpunkt“ Marx. Wertung Leipziger Allgemeine musikalische Zeitung ............................................................................................162 b) Die höhere Periode der Tonkunst. Gegenwart aus Vergangenheit. Nationalstolz ..........................................................163 c) Ziel Bildungsreform. Marx als Pädagoge ..........................................165 7. Parteienzeitung..........................................................................................166 8. Neuorientierung 1825. K. Schirmer ..........................................................166 9. Meinungsvielfalt als kritisches Prinzip. Zum Satz vom Widerspruch ......168 a) Setzung und Gegensetzung ................................................................168 b) Kampf gegen Fehlurteil aus Willkür, geistiger Beschränktheit oder nicht beherrschtem Handwerk ................................................169 10. Zeitbegriff als Standpunkt. Sache ohne Person ......................................171 11. Privilegienverlust. Musik als gemeinschaftliches Gut ............................173 12. Musikkritik als Form der Musikwissenschaft .........................................174 13. Mitarbeitermangel ...................................................................................175 14. Wiederholte Thematik. Grundsatzartikel 1828 .......................................177 15. Verfehltes Verteilerprinzip. Innere und äußere Folgen. Kunst als Feindschaft .............................................................................178 16. Musikkritik als Gewissenspflicht. Standpunktskritik und soziale Verantwortung........................................................................................181 17. Marx in der Kritik ...................................................................................184 18. Abgesänge ...............................................................................................185 19. Der Abschied...........................................................................................186 20. Nachwort. Persönliche Daten .................................................................187 II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz. Gottfried Webers „Caecilia“ ...................188 1. Vorverständnis...........................................................................................188 a) Zur Person..........................................................................................188 b) Die neue Zeitschrift ...........................................................................188 2. [Zwischentext II] Erscheinungsstatistik bis zur Gründung der Schumann-Zeitschrift (1834(1)) ......................................................191 a) Band-Heft-Folge ................................................................................191 b) Heftdaten ...........................................................................................191 3. Mainz gegen Leipzig ................................................................................193 4. Webers musikkritische Ansätze ................................................................194 a) Von Kant zu Schelling .......................................................................194 b) Publikum als Wertbegriff ...................................................................194 c) Funktion Rezension. Zweckmäßigkeit vor Spekulation ....................201 d) Juristisches Vorverhalten ...................................................................203 e) Kritik als Autorität .............................................................................204 f) Phänomen Undurchführbarkeit ..........................................................206 5. Problem Anonymität .................................................................................208

Inhalt

15

a) Zur Situation ......................................................................................208 b) Gottfried Weber ................................................................................. 211 6. [Zwischentext III(1)]: Der Fall Woldemar. Beethovenpolemik in der „Caecilia“ 1827 ......................................................................................214 a) Vorbemerkung ....................................................................................214 b) Woldemar...........................................................................................217 1) Pseudonym Ernst Woldemar = Klarname Heinrich Hermann....217 2) Woldemar: Zur Person ................................................................218 c) Der Verlauf.........................................................................................219 1) Woldemars Aufforderung an die Redaktion ...............................219 2) Gottfried Webers Anmerkung.....................................................220 3) Beckers Erwiderung ...................................................................221 4) Redaktionspolitik. Grossheim, Fröhlich, Weiler ........................223 5) Woldemars „Replik“ ...................................................................225 d) Nachwort ...........................................................................................226 7. Die Gassner-Utopie ...................................................................................228 III. Abschnitt. Gescheiterte Konkurrenzen ..........................................................228 1. Die „Musikalische Eilpost“ ......................................................................228 2. Allgemeine Musikzeitung und Münchener allgemeine Musikzeitung. Franz Stoepel .........................................................................................229 3. Ein Satire-Kommentar der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“..........230 6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848 .......................232 1. Die Übergaben ..........................................................................................232 2. Gottfried Wilhelm Fink .............................................................................233 3. Die Vorworte Finks ...................................................................................234 4. Niedergangssymptome. Geschmacksvorstellung als Parteiung ................238 5. Das kritische Prinzip. Wertungsneutralität als Stillstand ..........................239 6. Definitionsprobleme..................................................................................241 a) Altklassisch – klassisch – romantisch – biedermeierlich – neuromantisch – neudeutsch ...........................................................241 b) Zur Opposition. Fink und die neuromantische Schule 1838 .............242 c) Zum Vergleich Fink-Schumann .........................................................243 7. Der Dorn-Fink-Streit.................................................................................245 a) Dorns Rezension von 1828 ................................................................245 b) Der Artikel .........................................................................................246 c) Webers Nachwort ...............................................................................249 d) Das Marschner-‚Vorspiel‘..................................................................250 e) Finks erste Antwort ............................................................................253 f) Finks zweite Antwort .........................................................................257 g) Fazit ...................................................................................................259 8. Bedrängnisse von allen Seiten ..................................................................260 9. Topos Unparteilichkeit und andere Phrasen..............................................261 10. Finks Abgang ..........................................................................................263 11. Johann Christian Lobe ............................................................................263

16

Inhalt

a) Zur Person..........................................................................................263 b) Zur Sache ...........................................................................................264 c) In der Kritik. Fehleinschäzungen, Enttäuschungen ...........................264 d) Modell Vollkommenheit ....................................................................265 e) Funktion Rezension ...........................................................................266 f) Lobes Fortschrittsbegriff ....................................................................266 12. 1848. Das Ende der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ ..................269 7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845. Robert Schumann ..........................................................................................273 1. Marktsituation ...........................................................................................273 2. Struktur .....................................................................................................273 3. Leipzig gegen Leipzig. Konkurrenzwertungen.........................................275 4. Zielobjekt Klaviermusik ...........................................................................276 5. Das Programm ..........................................................................................277 6. Gustav Nauenburgs „rationelle“ Kritik .....................................................278 7. Das neue musikkritische Vokabular. Der Salon ........................................284 8. Sinnfragen. Vom Streit über eine begriffslose Musik. Sobolewski ..........287 9. Das vielgespaltene Kritiker-Ich ................................................................292 a) Doppelkritiken ...................................................................................292 b) Schumanns Modell Eusebius-Florestan-Raro ...................................293 c) Literarischer Anspruch.......................................................................294 10. Projekt Stereotyp-Rezension...................................................................295 11. Kritik und Kritik der Kritik bei Schumann und anderen. Bloßstellungen 296 12. Wider die ‚Mäkler‘. Aporien ...................................................................300 13. Zielscheibe Philister ................................................................................302 14. Musikphilosophie als kritische Propädeutik. Carl Ferdinand Becker.....303 15. [Zwischentext IV]: Der Schumann-Schilling-Streit ...............................304 16. Ergebnis Historische Kritik. Eduard Krüger ...........................................310 a) Zur Person..........................................................................................310 b) Der Aufsatz ........................................................................................ 311 8. Kapitel: Zwischengründungen .........................................................................318 I. Die Signale für die musikalische Welt 1843. Bartholf Senff ............................318 1. Markt-Voraussetzungen ............................................................................318 2. Prinzip unterhaltende Kürze .....................................................................319 3. Humor und Satire als musikkritische Methode.........................................321 4. Prinzip ohne Deutung ...............................................................................323 II. Persona ingrata. Herrmann Hirschbachs Musikalisch-kritisches Repertorium 324 1. Standpunkt, Maßstab, Wertung, Parteiung................................................324 2. Hirschbach vor der Gründung des Repertoriums .....................................325 3. Gründung des Repertoriums .....................................................................327 4. Persona ......................................................................................................328 5. Ingrata .......................................................................................................329 6. Zwischenträgerei und Intrigen. Zur Realtät des kritischen Handwerks....331

Inhalt

17

7. Hirschbachs Dreier-These .........................................................................332 8. Ansichten ..................................................................................................333 9. Mißerfolge ohne Aussicht .........................................................................335 III. Carl Gaillard und die „Berliner musikalische Zeitung“ 1844 ........................336 1. Zur Gründung. Anfang und Ende .............................................................336 2. Otto Langes Vorwort .................................................................................341 3. Flodoard Geyers Forderungen ..................................................................344 4. Banalitäten am Rande. Jul. Weiss und die drei Klassen ...........................345 IV. Die Teutonia oder Dr. med. Julius Schladebach.............................................345 1. Die Teutonia 1846 .....................................................................................345 2. Julius Schladebach alias Wise...................................................................345 3. Schladebach in der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung .........347 4. Schladebach in der Teutonia .....................................................................349 V. Sonderfall „Allgemeine Wiener Musik-Zeitung“ 1841 ...................................350 1. Österreichs Musikzeitungen bis 1841 und Schmidts Vorbild ...................350 2. August Schmidt .........................................................................................351 3. Wiener Musikkritik vor 1850 ....................................................................355 4. Das Ende ...................................................................................................357 VI. Sonderfall „Berliner Musik-Zeitung Echo“ 1851 ..........................................358 1. Ernst Kossak .............................................................................................358 2. Kossaks erkenntnistheoretischer Ansatz ...................................................358 3. Die Gegengründung ..................................................................................359 9. Kapitel: Stilfiktion als kritisches Prinzip. Die Neue Berliner Musikzeitung 1847 .........................................................361 1. Programm Fortschritt ................................................................................361 2. Der Typ .....................................................................................................361 3. Otto Lange ................................................................................................362 4. Zur These von der vergleichenden Kunstkritik.........................................363 5. Langes Vorworte .......................................................................................364 6. Noch einmal Flodoard Geyer ....................................................................367 7. Definition Fortschritt als kritisches Prinzip oder Rückschritt als Fortschritt .........................................................................................369 8. Abgleich Berlin-Leipzig Brendel-Lange...................................................370 9. Stilfiktion als Beurteilungsmaßstab. Die neue Apriorität .........................371 10. Überschlagendes Selbstbewußtsein ........................................................374 11. Schutzmaßnahmen. Ehrengericht............................................................375 12. Der Geyer-Lange-Streit ..........................................................................377 13. Das Ende der Fiktion: Kritik als Weisendes, Kunst als das Gewiesene .380 10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852 (die „Brendelsche Zeitung“) .........................................................................383 1. Zur Person .................................................................................................383 2. Franz Brendels dritter Standpunkt. Die Historische Kritik.......................384

18

Inhalt

a) Vorspiel Krüger ................................................................................................384 b) Das Brendel-Programm .....................................................................384 3. Chiffre 87. Feindbild Indifferentismus und Kriticismus...........................389 4. Adolph Tschirch und die Forderung nach Neuheit in Form und Inhalt ....390 a) Der erste Aufsatz................................................................................390 b) Der zweite Aufsatz ............................................................................391 5. Standortsbestimmung. Geschichtstheoretische Kritik ..............................392 6. Hegel-Dämmerung....................................................................................395 7. Der Prinzipienstreit Schäffer – Brendel – Krüger – Dörffel .....................399 a) Die Schäffer-Thesen ..........................................................................399 b) Brendels Erwiderung .........................................................................399 c) Der Fall Krüger. Utopien und Einlassungen. Verlust als Konsequenz ...................................................................400 d) Schäffers 2. Artikel. Differenzierungen. Fach- und Tageskritik ........402 e) Antworten Dörffel und Krüger ..........................................................405 f) Schlußwort Brendel............................................................................406 g) Schlußwort Schäffer ..........................................................................406 h) Brendels apologetische Krüger-Kritik ...............................................407 i) Religiöse Polarisierungen. Moralvorstellungen .................................408 j) Vom Standpunkt zur Partei .................................................................409 k) Zusammenfassung .............................................................................410 l) Carl Gaillards Kommentar .................................................................412 m) Noch einmal Schäffer. Ein verspätetes 2. Schlußwort .....................413 8. Zauberformel ‚überwundener Standpunkt‘ ...............................................416 9. Die Brendel-Opposition. Opposition von außen.......................................419 a) Vorwort ..............................................................................................419 b) Fink und die Allgemeine musikalische Zeitung ................................420 c) Ludwig Bischoff und die Rheinische Musik-Zeitung für Kunstfreunde und Künstler .......................................................421 d) Der Schucht-Brendel-Gottwald-Streit ...............................................421 1) Lobes letzter Versuch .................................................................421 2) Schucht .......................................................................................422 3) Antwort Brendel .........................................................................423 4) Schuchts Replik ..........................................................................424 5) Gottschald ...................................................................................426 10. Die Brendel-Opposition. Opposition von innen .....................................429 a) Vorwort ..............................................................................................429 b) Der Koßmaly-Streit ...........................................................................430 1) Der Anlaß ...................................................................................430 2) Der Koßmaly-Artikel .................................................................431 3) Die Brendel-Erwiderung ............................................................432 c) Der Dörffel-Brendel-Streit.................................................................433 1) Der Anlaß ...................................................................................433 2) Diskussion und Ausgang ............................................................434 11. Topos Alt-Neu .........................................................................................436

Inhalt



19

12. Revolutions-Euphorien ...........................................................................438 13. Neu erwecktes Nationalgefühl. Vergleiche .............................................444 14. Zeitungskriege ........................................................................................446 15. Scheidepunkt Meyerbeers „Prophet“. Zur Divergenz von Kritikerurteil und Publikumsgeschmack......................................................................450 16. Gründung der Tonkünstler-Vereine .........................................................452 17. Die Leipziger Tonkünstler-Versammlung vom 28. Juli 1849 .................453 18. Der Weber-Uhlig-Streit 1851. Politische Inhalte? ..................................456 19. Die Auflösung (Selbstvernichtung) der Musikkritik. Programm Wagner 457

11. Kapitel: Von der Parteikritik zur parteilichen Kritik ......................................459 1. Musikkritik ohne System-Begründung .....................................................459 2. Musikkritik gleich Wagner-Liszt-Kritik ...................................................460 3. [Zwischentext V] Der unbekannte Liszt ...................................................460 4. Brendel nach 1852 ....................................................................................464 5. Systemerstarrung und politische Sprachentwicklung ...............................465 6. Die Parteien. „Wagner“ und „Anti-Wagner“ ............................................466 7. [Zwischentext VI] Zentrum Wagner .........................................................467 a) Zum Vorverständnis ...........................................................................467 b) Früher Wagner ...................................................................................467 c) Bedeutung ..........................................................................................470 d) Reflexion statt Begriffslosigkeit ........................................................474 e) Prinzipiendenken ...............................................................................475 f) Hemmungen .......................................................................................475 g) Ballenstedt .........................................................................................476 h) Die atheistische Wendung .................................................................477 i) Aufgehobene Negation .......................................................................478 j) Problem Christentum..........................................................................478 8. Zerriebener Zwischenstand. Johannes Brahms .........................................479 9. Ausblicke ..................................................................................................482 12. Kapitel: Von der wissenschaftlichen Kritik zur virtuellen Musikgeschichte .488 I. Der Weg in die Ideologien ................................................................................488 1. Zur allgemeinen Situation .........................................................................488 2. Hans Vaihinger. Die Philosophie des Als-ob ............................................489 II. Vorform: Der ‚Fall Hanslick‘ ..........................................................................490 1. Vorverständnis...........................................................................................490 2. Zur Quellenlage ........................................................................................491 3. Ziel und Methode ......................................................................................491 4. Ableitungen und Dialektik ........................................................................492 5. Entgleisungen. Der Wiener Schmäh .........................................................493 6. Sprache als Waffe. Topoi ..........................................................................496 7. Warum Hanslick? ......................................................................................497 8. Merker – Hanslich – Beckmesser .............................................................499 9. Die Tannhäuser-Kritik von 1846...............................................................500

20

Inhalt

a) Vorgeschichte .....................................................................................500 b) Zum Artikel .......................................................................................501 c) Wagners Reaktion ..............................................................................502 10. Die Nottebohm-Affaire ...........................................................................503 11. Chrysander – Hanslick. Hintergründe .....................................................506 12. Wahrheit und Dichtung oder Wahrheit und Selbstschutz? ......................506 13. Die Beckmesser-Tragödie .......................................................................509 14. Opposition als kritisches Prinzip ............................................................509 15. Hanslick, Wagner und Böhler .................................................................510 16. Standortfrage und Herkunft .................................................................... 511 17. Nachrufe..................................................................................................515 III. Virtuelle Musikgeschichte..............................................................................516 1. Vorverständnis...........................................................................................516 2. Normative Kraft des Faktischen ...............................................................516 An Stelle eines Nachwortes. [Vorläufiges] Fazit .................................................519 Register

........................................................................................................521

EINLEITUNG I. VORVERSTÄNDNIS Objektwertungen unterliegen den seit Aristoteles für uns gültigen Gesetzen der Logik. Ihnen zufolge ist Sehen Sein am Gesehenen, oder, weitergedacht, Selbstsein am Gesehenen. Jede Objektwertung setzt demnach drei Bedingungen: das Objekt, das gesehen werden soll, sofern es gesehen werden kann; den Sehenden, sofern er sehen will; und die Bestimmbarkeit des Sehvorgangs als persönlichkeitsbezogenen philosophisch-ästhetischen Akt, wobei Objekte während des Beobachtungsverfahrens ihre Struktur verändern können, weil die Relativität von Raum und Zeit auch für das in Raum und Zeit beobachtete historische Objekt gilt. Und während Gesehenes und Sehender nach ihrer eigenen Art sind, bestimmt der Sehvorgang das, was überhaupt in den Blick gelangen kann, gleich ob wir ihn Vorverständnis, Vorurteil, Maßstab, auch Ideologie nennen wollen. Daß der Sehvorgang dabei anders als das Objekt in seiner Eigenart nicht vom Sehenden zu trennen ist, daß ein Objekt seine eigene Art in seiner eigenen Zeitzone nie verliert, sondern immer das bleibt, was es ist, macht den Sehvorgang mit dem Sehenden als Existenz identisch. Das Subjekt als wertende Instanz sucht sich den Sehvorgang, der zu ihm paßt. Das Urteil, das ein Subjekt am Ende abgibt, ist damit gleichzeitig ein Urteil des Subjektes über sich selbst. II. HISTORISCHE ABLÄUFE Die Geschichte der deutschen Musikkritik verläuft als Parallelbewegung zur Geschichte des deutschen Idealismus, der in diesem Zusammenhang als Auflösung der Erfahrungswelt in Bewußtseinsprozesse verstanden wird. Insofern ist unabhängig von allen Individualbeziehungen zwischen Kritiker und Künstler jedes Werturteil von übergeordneten Anschauungskategorien abhängig, die sich im Geschichtsverlauf verändern, teilweise überlagern, jedoch eine schlüssige Abfolge morphologischer Prozesse ergeben. Sie binden das individuelle Urteil in einem größeren formalen Zusammenhang und damit auch die inhaltliche Aussage. An hervorstechenden historischen Markierungsdaten fehlt es nicht: die Jahre um 1790,1806,1824,1834, 1846 und 1852 gehören dazu. Sie nach unseren derzeitigen Vorstellungen von Geschichte in Urteilsperioden zu gliedern, um Hilfen für die Bestimmung des eigenen Standpunktes zu gewinnen, ist folgerichtig. Die damaligen Erkenntnisse über die untrennbare Verquickung von zeitgenössischer philosophischer Aussage und zeitgenössischem Urteil haben bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren.

22

Einleitung

III. GLIEDERUNGEN 1) Philologische Kritik Danach ist die Musikkritik des 18. Jahrhunderts bis zum Aufkommen der Bachsöhne eine formale Kritik gewesen, die man auch als philologische oder objektive Kritik bezeichnet. Die Frage nach der künstlerischen Qualität war eine solche nach der satztechnischen Stimmigkeit. Der Kritiker mußte Fachmann sein. Die Dilettantenkritik späterer Zeit oder gar der sogenannte ‚gute Schreiber‘ von heute waren ebensowenig gefragt wie eine (als unseriös empfundene) Kritik nach bloßem Höreindruck ohne Einsicht in die Partitur. Die Kritiker, die damals die Szene beherrschten, waren maßgebende musiktheoretische Kapazitäten, ein Mattheson etwa, der das satztechnische Wissen seines Jahrhunderts formulierte, ein Marpurg, der die erste, noch ein Jahrhundert später vorbildliche Geschichte der Fuge schrieb, ein Scheibe, der die Bachsöhne förderte und den Vater maßregelte. Sie alle besaßen in der überkommenen Kompositionsregel ein für sie unumstößliches Kriterium, mit dem sie neue Kunstwerke beurteilten. Es funktionierte, solange die Voraussetzung, nämlich der strenge Satz, gesellschaftlich funktionierte. Die Irritationen setzten ein, als man sich nicht mehr so sicher war, ob der Wert eines Musikstückes mit dem satztechnischen Verfahren allein zu bestimmen sei. Es war die Geniezeit, also die Zeit der Bachsöhne, die das barocke Formenwesen beiseite schob, weil sie erkannt hatte, daß ein Stück satztechnisch bedenklich und trotzdem voll Musikalität sein konnte. Es führte zu einer erdrutschartigen Werteverschiebung, die 1790 mit Kants Kritik der Urteilskraft ihre philosophische Begründung erhielt. Kant wies nach, daß es keine Kunstbewertungsmaßstäbe mit Verbindlichkeitscharakter geben kann. Regeln aus bestehenden Kunstwerken abzuleiten und für andere, neu geschaffene oder sogar neu zu schaffende Kunstwerke zwingend zu machen, ist ebenso undenkbar, wie später entwickelte Kunstbegriffe auf frühere Kompositionen zu übertragen – das war das Fazit der Kritik der Urteilskraft, mit der Kant einen in der Geschichte der Kunstbewertung bis heute nicht herausgezogenen Pflock einschlug. Sie machte jegliche Regelkritik fraglich. Kants Wirkung auf die deutschen Dichter, insbesondere auf Schiller, führte zu einer kunstästhetisch geprägten Philosophie wie Dichtung, die es in dieser Form weder vorher noch später gegeben hat. Damit endete die erste große Epoche der Geschichte der deutschen Musikkritik. 2) Geschmackskritik Kant hatte nachgewiesen, daß Kunsturteile nicht von objektivierten Begriffen, sondern von unverbindlichen Geschmacksregularien abhängig sind. So ist die Zeit bis etwa 1806 von Auseinandersetzungen zwischen den alten Regelkritikern und den neueren Geschmackskritikern bestimmt. Das führte nicht unbedingt zu besseren Urteilen, wie das Beispiel Mozart lehrt; denn für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit eines Urteils ist es belanglos, ob sich der Kritiker einer Regel oder einem, ohnehin selbst wieder modisch zugeordneten Geschmack, verpflichtet fühlt. Seine indivi-

III. Gliederungen

23

duellen Fähigkeiten können mit der einen Methode so gut wie mit der anderen erfolgreich sein oder versagen. Gerade die Mozartkritik des 18. Jahrhunderts zeichnet sich dadurch aus, daß es sie im eigentlichen Sinne nicht gibt: in einem Zeitungsbestand von Zehntausenden von Seiten einige Dutzend Berichte, in der Mehrzahl bloß notizenartige und vielfach noch dazu fehlerhafte Werkaufzählungen einiger weniger Stücke. Mozart, der Regelabweichler, der Mann mit den eisernen Ohren, ja, hört man die Italiener, der Komponist ohne Gefühl, war vom Instrumentarium der alten kritischen Methode nicht recht zu fassen; aber auch die folgende Geschmackskritik mußte ihn dann verfehlen, wenn der Kritiker einen Mozart unverträglichen Geschmack entwickelt hatte, wie etwa Spazier oder Reichardt. Reichardt war als erster namhafter Musikjournalist Kantianer und begründete, wenn auch etwas glücklos, den modernen periodischen Musikjournalismus. Zu Mozart stand er in einem gebrochenen Verhältnis, weil sein Geschmack auf die Modekomposition des ausgehenden 18. Jahrhunderts gerichtet war. Jetzt stritt man sich über Geschmack wie vormals über Regeln. Der mehr und mehr selbständig aufblühende Musikmarkt begünstigte dauerhafte, periodische Presse. Nicht mehr die Berufsmusiker allein beherrschten das Feld, auch nicht die sogenannten Kenner und Liebhaber. Vielmehr sorgte die ungeahnte Ausweitung des Konzertwesens für das Aufkommen einer neuen Hörerschicht, die zu einem großen Teil aus Orientierung suchenden, musikliebenden Dilettanten bestand. Nach und neben verschiedenen Versuchen ohne langfristigen Erfolg, vermochte sich endlich seit Ende 1797 für einige Jahrzehnte die „Allgemeine musikalische Zeitung“ des klassisch orientierten Friedrich Rochlitz zu behaupten. Sie erschien bei Breitkopf & Härtel in Leipzig, das dank einer vernünftigeren sächsischen Zensurpolitik das hessische Frankfurt als Zentrum des Nachrichtenkreuzes Berlin-Wien-Paris-St. Petersburg abgelöst hatte. Im Rochlitzschen Nachrichten- und Beurteilungsrahmen vollzog sich die Auseinandersetzung der alten mit der neuen Musikkritik, die ihren Systemausdruck in Schellings Vorstellungen von einer Subjekt-Objekt-Identität und damit einer spirituellen Übereinstimmung von Kunstwerk und Kritiker fand. Sie war außerhalb der technischen Regeln und Normen aufzuspüren, weil über Regeln und Normen allein ein künstlerisches Objekt nicht zu begreifen ist. Dessen Spiritualität läßt sich nur von jemandem erfahren, der sich aus eigener Genialität in ein Kunstwerk hinein zu versetzen vermag. Geist erkennt nur, wer selbst vom Geist ist. Mit der Zustimmung zu dieser Anschauungsweise trat die Geschichte der Musikkritik in ihre zweite große Phase ein. Nach der objektiv formal philologischen Kritik des 18. Jahrhunderts und der von der Geschmackskritik bestimmten Übergangszeit brach sich die subjektive oder psychologische Kritik Bahn. 3) Psychologische Kritik An die Stelle des Wissens von Regeln und Normen durch den Fachmann trat das Empfinden von der Sache; aber auch die geschmacksorientierten Regelwidrigkeiten des sogenannten Genies aus Wollen oder Nichtkönnen wurden von der neuen frühromantischen Besonnenheitstheorie des ‚wahren‘ Genies, wie es jetzt hieß, ab-

24

Einleitung

gelöst. Der neue Kritikertyp hatte nachzuempfinden, aufzufassen, zu begreifen, und verständlich zu machen, was sich geistig, nicht technisch im Kunstwerk abspielte. Er hatte den Vorstellungen des Komponisten nachzugehen und allenfalls Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung dieser Vorstellungen in der Realität der Erscheinung des Kunstwerkes festzuhalten. Das Verfahren selbst war zwingend. Wenn schon außerhalb der eigenen Erfahrungen gewonnene Regeln keine Beweiskraft mehr haben konnten, wenn umgekehrt der bewußte Verstoß gegen Regeln oder das Nichtbeherrschen der Regeln kein Charakteristikum des jetzt ‚wahren‘ Genies, sondern Unvermögen war, dann hatte man vorerst die Gefahr eines neuerlichen Dilettantismus gebannt. Die ersten Jahrgänge der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ zeigen, wie der Prozeß logisch, aber nicht schmerzlos verlief. Persönlichkeiten wie Nägeli mit seinen viel zitierten Normen von 1802/03, aber auch Michaelis, Miltitz, Fleischmann, Horstig, Guthmann und natürlich Rochlitz selbst bezeugen den angestrengten Versuch, sich auf die neue kritische Situation einzustellen, je nach Charakterstruktur und Ausbildungsstand mit mehr oder weniger Erfolg. Viele der älteren Kritiker haben es auch in der Rochlitz-Zeitung nie geschafft. Doch die subjektive Kritik stieß ebenfalls bald an ihre Grenzen. Dort, wo sprachgewaltige Dichter wie E. Th. A. Hoffmann ihren Empfindungen über Jahrhundertgenies, wie Gluck, Mozart oder Beethoven freien Lauf ließen, entstanden Rezensionen, die zu Literatur wurden. Wenn sich Rochlitz der lange verkannten Meister annahm, öffnete er Türen in versperrt gehaltene Räume, zeigte das neue System, was es zu leisten vermochte. Aber auch im Zeitalter der Romantik waren die sogenannten wahren Genies als Künstler und Kritiker nur dem Namen nach häufiger, überwogen vielmehr mit der Zeit betuliche biedermeierliche Beschränktheit und schlafmützige Selbstgerechtigkeit. Künstlerische Bildung sollte doch kein aristokratisches Privileg mehr sein; Popularität hatte Beweiskraft bekommen. Nunmehr fand jedermann bei sich Empfindungen, Gefühle, innere Bewegungen, die er, sofern man ihn ließ, mit Anteilnahme äußerte – undenkbar für den Fachstolz des Berufsmusikers noch Jahrzehnte zuvor. Aber wenn schon die Wirkung eines Kunstwerks aus diesem selbst heraus und aus seiner Beziehung zum Geschmack der Zeit zu erklären war – mit welchem Recht sollte man dann Werke kritisch angehen können, die sich auf bestimmte Publikumsbedürfnisse eingestellt und damit einen zahlungskräftigen Markt erworben hatten; wie sollte man umgekehrt Werke verteidigen können, die die Mehrzahl kalt ließen, auch wenn sie künstlerisch weit besser als die erfolgreichen waren, dank einer beherrschten Satztechnik, die doch nicht mehr aktuell zu sein hatte? Aber das Musikleben bestand nun einmal nicht nur aus den geistigen Höhenflügen einiger weniger Genies und überragender Interpreten. Es gab längst ein ernst zu nehmendes Konzertleben der Variationen- und Potpourri-Spieler und die Fülle der Dilettanten, die davon begeistert, und die der Fachleute, die es nicht waren. Wie sollte, wie mußte man sich beispielsweise einem Leopold v. Meyer gegenüber verhalten, einem der materiell erfolgreichsten Konzertpianisten zwischen 1800 und 1850, der mit eigenen Paraphrasen und Tanzmusik-Potpourris ein Vermögen verdiente und sich rühmte, nie in seinem Leben öffentlich eine Beethoven-Sonate gespielt zu haben?

III. Gliederungen

25

Jetzt geriet auch die Kantnachfolge in ihre Aporie. Verwarf man die Regel als kritische Norm, das immanent Außergewöhnliche als unwahr genial und ersetzte die bisherigen Regulative durch Geschmacksbegriffe von ‚schön‘ und ‚nicht schön‘, während für das allzuviel Komponierte keine Begeisterung der Fähigen aufkommen konnte – wie wollte man dann noch Wertunterschiede begründen? So wurde nach dem Ausscheiden seines Gründers aus der einstmals bahnbrechenden Rochlitz-Zeitung ein vielfach wertneutrales und eher gleichgültiges Rendanturblatt, verkümmerten Korrespondenzberichte zu langweiligen Aufzählungen, wer was wo gespielt habe. Die Krise der zweiten Phase der Geschichte der Musikkritik entwickelte sich zwangsläufig aus der Realität des praktischen Musizierens. Auf der einen Seite philosophische Axiome, die verbindliche Werturteile über Kunst in Frage stellten und alles dem Geschmack und den persönlichen Empfindungen überließen, über die aber nicht zu diskutieren war, weil jeder seinen eigenen und vor allem einen anderen Geschmack hatte – und eine Musikerschaft, die sehr wohl Unterschiede zwischen guter und schlechter Musik, zwischen Künstlerischem und Nichtkünstlerischem zu machen wußte, und die nicht bereit war, einen Geschmack, der sich, um in heutiger Terminologie zu sprechen, subkulturell ansiedelte, nur deshalb unangetastet zu lassen, weil nach der jetzt neuen philosophischen Lehrmeinung alles vom subjektiven Empfinden eines Einzelnen und einer Mehrheit von Einzelnen und der daraus abgeleiteten Zweckmäßigkeit her zu beurteilen sei. 4) Gegengründungen So kam es 1824 zu zwei Gegengründungen, beide von pragmatischen Juristen geleitet, die gelernt hatten, Dinge nicht unentwegt in der Schwebe halten zu können, sondern irgendwann zum Spruch kommen zu müssen: die „Berliner allgemeine musikalische Zeitung“ von Adolf Bernhard Marx und die „Caecilia“ [Cäcilia] von Gottfried Weber in Mainz. Beiden Redaktionen war gemeinsam, sich nicht mehr mit Urteilen zu begnügen, die sich auf Regeln oder auf Geschmack beriefen, sondern Begründungen zu verlangen, warum man so und nicht anders urteilte. An die Stelle der subjektiv gestalteten, auch dichterisch eingekleideten Behauptung von Empfindungen, trat die zu begründende Auseinandersetzung mit dem Werk, sofern sie sachlich war, als Kritik, sofern sie unsachlich war, als Polemik. So las man in der „Caecilia“ als Werkkritik entweder ganz ausführliche, sich über Seiten hinziehende Abhandlungen, oder dort, wo dazu kein Platz war oder kein Anlaß bestand, notizenartige Kleinberichte unter Berufung auf die Autorität eines Fachmannes. Die „Caecilia“ zog sich bald aus der Tageskritik zurück; die Berliner scheiterte nach einiger Zeit vor allem am Korrespondenzwesen und ihrer systembedingten Widersprüchlichkeit. Indem sie primär auf die Begründung eines Urteils abhob und sekundär auf das, was dabei am Ende als Ergebnis herauskam, überforderte sie mit dem dadurch eintretenden, sich gegenseitig widersprechenden Meinungspluralismus ihre Leserschaft, zumal es ja grundsätzlich – das gehörte zum Redaktionsprogramm und wurde streng eingehalten – Professionelle und nicht Laien waren, die diese Urteile verfaßten und denen man sich nicht mehr wie früher mit dem Hinweis

26

Einleitung

auf die nicht vorhandene fachliche Kompetenz des Autors so ohne weiteres entziehen konnte. Von der Systematik her war diese Linie richtig, weil konsequent. Doch so wegweisend die Verlagerung des Urteils von übergeordneten Regeln und subjektiven Empfindungen weg zur seriösen Begründung auch war: die zeitgenössischen Leser fühlten sich je länger um so stärker von diesem Journalismus verwirrt, weil sie nicht mehr wußten, woran sie waren, wenn sie über denselben Gegenstand von verschiedenen Verfassern nicht nur unterschiedliche, sondern in einzelnen Fällen geradezu entgegengesetzte Bewertungen abgegeben lasen. Daran änderten auch die mehrfachen Redaktionserklärungen nichts, ein Kunstwerk lasse nun einmal nicht nur eine einzige Betrachtungsweise zu. Marx hielt das Verfahren sieben Jahre lang durch, quälte sich mit der Beschaffung auswärtiger Fachleute für sein Blatt, fiel auf Berufsmusiker herein, die sich selbst außerordentlich und die Konkurrenz weniger oder gar nicht gut fanden, und setzte seinen Lesern mit einander aufhebenden Urteilen von zum Teil schmerzhafter Schärfe zu. So war dann 1831 wieder dieselbe Marktsituation wie sieben Jahre zuvor entstanden; allerdings hatte sich die psychologische Situation von Musiker- und Kritikerschaft gründlich verändert. Der Name Kant war verblaßt, Schelling bereits überlebt, und das ausufernde Konzertwesen verlangte Entscheidungen. Zudem hatte die einstmals so stürmisch betriebene Demokratisierung des Musiklebens einen nur für weltfremde Idealisten unerwarteten Verlauf genommen. Die Verbreitung der Musik ins Volk hinein sollte dessen Bildungsstand erhöhen, doch nun war das Gegenteil dieser schönen Schwärmerei eingetreten. Es herrschte minderwertiges Theater, Amüsierkultur, Geschmacksverderbnis, Effekthascherei, und dazu Genieverkennung wie eh und je mit der bevorzugten Hinwendung zur beruhigenden Gedankenlosigkeit klingenden biedermeierlichen Spiels, als Feierabendvergnügen ohne tiefere Bedeutung, oder, wie man 1842 in Laubes „Zeitung für die elegante Welt“, nachgedruckt noch im wissenschaftlich gedachten Schillingschen „Jahrbuch des deutschen Nationalvereins für Musik und ihre Wissenschaft“ lesen konnte: der Musikbesuch böte die Möglichkeit, mehrere Stunden lang an nichts zu denken [IV,40+66]. Jetzt bekam die Musikkritik zwei neue Funktionen. Sie sollte durch Belehrung im Guten dem Tiefstand der Geschmacksbildung entgegen wirken und das Volk erziehen, was immer darunter gemeint war, und zum ersten Mal hatte sie den Kampf gegen ein Publikum zu führen, das sich der sogenannten Geschmacksverbesserung widersetzte und sich seine Umerziehung verbat. Der Kritiker als Pädagoge: das war die Konsequenz der Marxschen Wirksamkeit. Marx gab seine Zeitung auf, um als Musikpädagoge eben jene Bildungsmaßnahmen zu betreuen, die vonnöten schienen, um wieder das richtige Verhältnis zum Kunstwerk zu gewinnen. Mit diesem Auftrag stellte Robert Schumann in der zweiten Jahreshälfte 1834 der im Zeitverständnis zusehends matt werdenden „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ seine „Neue Zeitschrift für Musik“ entgegen.

III. Gliederungen

27

5) Subjektivierte Moral Schumann begann mit einer für die damaligen Verhältnisse unerhörten Bloßstellung des schlechten Geschmacks. Die Zeit der „unnützen Complimente“ sei vorbei, formulierte er. Salonkomponisten, neuneapolitanische Opernkomponisten, der ganze Bereich des hohlen Pathos, gemeint sind Meyerbeer und die Pariser Große Oper, waren im Visier, aber mit ihnen, und das war das Neue daran, auch das Publikum, das sich an solchen Sachen ergötzte. Aus dem ehemaligen „in tyrannos“ eines Schiller wurde das „in philistros“ der Neuromantiker. Zum ersten Mal wurden Musik, Musikhören und Musikhörer im streng protestantischen Sinne moralisiert, und mit dem zunehmenden Verständnis von Kunst als Ersatzreligion führte Schumann eine Entwicklung weiter, die bei Wagner ihren vielfach gescholtenen Höhepunkt erreichte. Mit dem Sakralisierungsprozeß war ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Musik des umstrittenen späten Beethoven verbunden, die nicht nur ein Musikstil, sondern ein Fanal war, an dem sich alt und neu schieden. Mit Schumann erreichte die psychologisch-subjektive Kritik ihren Höhepunkt. Sie richtete sich nie gegen noch unbekannte Kleinmeister, die um ihre Existenz rangen, nie gegen stilbildende Musiker, sondern ausschließlich gegen die anerkannten Modegrößen der Zeit – das unterschied die Kritik der „Neuen Zeitschrift für Musik“ wohltuend von dem, was sich inzwischen in anderen Journalen abspielte. Dort lobte man mitunter alles, was einen Namen hatte, und überging, was (noch) unbekannt war oder schätzte es als gering ein. Schumann führte ein neuartiges, schon dialektisches Vokabular in die Kritik ein, als er zwischen Musik und Musik unterschied, die einmal seicht, geschmacklos, verlogen, hohl und dergleichen sein sollte, ein andermal edel, aufrichtig, ehrlich, und so weiter – Jahrzehnte später wird noch „gesund“ dazu kommen. Die Kritik vollzog sich in unterschiedlich deutbaren Qualitätsaussagen, die ihre Begründung im fachlichen Subjektivismus des Kritikers fanden. Musikkritik wandelte sich vom Kunstrichtertum mit vorwiegend idealistischem Bezug oder dem Anliegen blanker Information für den, der es gerne genauer wissen wollte, zum Sprachorgan einer eigenständigen Kunstästhetik. Das war mehr als bloß eine neue Musikzeitung, das war ein neuer Zeitungstyp. Was brachte es einer subjektiven Kritik schon, daß der eine diesen, der andere jenen Standpunkt einnahm, daß alles zu erklären, zu begründen, zu vertreten war, wenn demgegenüber eine neue künstlerische Idee ihren Durchbruch versuchte, die Herkömmliches nicht nur als überholt, sondern als schädlich empfand. Schumann entwickelte eine Art Erkenntnistheorie der Musikkritik, als ihm die Kritikuntauglichkeit der Empfindung als solcher bewußt wurde, sofern man nicht zuvor die Qualität der Empfindung geprüft hatte; daß Kritik nicht dort stattfand, wo sich jemand aus was für Gründen auch immer von einer Reihe möglicher Urteile eines aussuchte, wenn dabei nicht gesagt wurde, warum er auf dieses und nicht auf ein anderes abhob; daß unabhängig von Geschmack, Erfolg und allgemeiner Meinung die künstlerische Wirklichkeit einer Komposition nicht aus dem Blick geraten durfte, die wiederum der Fachmann und nicht der Laie feststellte; daß die poetische Beschreibung von Musik als kritische Methode nur wenigen sprachbegabten Großen zugestanden werden durfte und darüber hinaus bei den Nachahmern eher peinlich wirkte; und daß die Mu-

28

Einleitung

sikkritiker im wertenden Geschäft auf die Darstellung von richtig und falsch nicht verzichten konnten. Aber richtig war da unter Umständen auch nur das, was man selbst tat, falsch das, was man beim Gegner zu Recht oder zu Unrecht aufspürte. Nur kamen jetzt jene neuen Begriffe in die Kritik hinein, vor denen sich Schumanns Vorgänger sehr gehütet hätten, und die in falschen Händen Unheilvolles bewirken konnten (und später ja auch Unheilvolles bewirkten), Begriffe, die geschmackliche Imponderabilien sogar als pseudoreligiöse Moralkriterien freisetzten und mit denen man dann unter großen Worten alles mögliche bewerkstelligen konnte: viele Jahrhundertgrößen sollten es bald auf besonders schlimme Weise zu spüren bekommen. Als Schumann mit seinem Weggang nach Düsseldorf von der journalistischen Bühne abtrat und seinen meinungsbildenden Einfluß verlor, wurde binnen weniger Jahre der neue kritische Weg noch deutlicher. Auch Fink von der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ war 1842 ausgeschieden, und zwischen diesen beiden seriösen Musikblättern schoben sich seit 1843 mit dem Aufkommen der neuerlichen Popularisierungswelle die „Signale für die musikalische Welt“, eine zeittypische Neugründung, die sich auf die Gattung der Satire stützte. Keine Musikzeitung des ganzen Jahrhunderts ist als historische Quelle so fragwürdig, keine hat so viele bewußt falsche Nachrichten in die Welt gesetzt, wie die „Signale“ des Bartholf Senff aus Leipzig. Sein geschäftlich von Jahr zu Jahr erfolgreicher werdendes Unternehmen benötigte nicht unbedingt Fachleute und Kenner weder als Berichterstatter noch als Leser, auch wenn er reichlich darauf zurückgriff. Seine Zielgruppe war im Gegenteil jene Musikamüsier-Gesellschaft, die gleicher Weise Fink wie Schumann samt Nachfolgern bekämpften, die Senff aber mit möglichst kurzen Berichten, daher ‚Signale‘, scheinbar umfassend versorgte. Zeitungen sind Ausdruck von Denkweisen. Ihr Erfolg ist das äußere Zeichen vorhandener oder nicht vorhandener sittlicher, hier: künstlerischer Maßstäbe, sprich Wertvorstellungen. Die waren inzwischen mit dem bewußten Ernstnehmen subkultureller Erscheinungen aus merkantilen Überlegungen so verworren, daß sich für die „Signale“ ein idealer Nährboden gebildet hatte. Ihre Berichterstattung war bissig, amüsant, respektlos, auf Dauer fad wie aller Dauerwitz um seiner selbst willen, oft giftig, gehässig, verlogen und betont verletzend, häufig nur scheinbar informativ, geschäftsorientiert, allem Grundsätzlichen abhold und ausschließlich den Tagesbedürfnissen zugewandt, dabei in der Beurteilung bedeutender neuer Ereignisse vielfach im philiströsen Sinne rückständig. Hin und wieder schlugen Ernst und Verantwortung durch und bewiesen, daß die Redaktion sehr wohl um die wirklichen Zusammenhänge Bescheid wußte, auch wenn man sie um der Klientel willen nicht oder anders formulierte. Und zum ersten Mal gelang es mit Erfolg, unter dem Deckmantel der angeblichen Befriedigung von Informationsbedürfnissen eine Musikfachzeitschrift gezielt als Verlagshaus-Zeitung zu korrumpieren: Gut ist, was im eigenen Verlag erscheint; über das, was sonst noch herauskommt, wird entweder überhaupt nicht oder wegwerfend und nur dann anständig gesprochen, wenn es anders gar nicht mehr geht. Das Primitivmodell der Musikzeitung als nicht einmal unterschwelliger Verlagswerbeträger ist schon im 19. Jahrhundert ein Kapitel für sich.

III. Gliederungen

29

6) Fortschrittsparolen Die Schumann-Nachfolger, allen voran Franz Brendel, hielten nichts mehr von subjektivistischer Meinungskritik. Mehr und mehr drängte man auf wieder überprüfbare Maßstäbe, die nicht länger in der persönlichen Auffassung oder der eigenen Autorität abgespeichert sein sollten. Der neue Maßstab, der von Brendel für die Musikkritik aufgegriffen wurde, hieß Fortschritt, der philosophische Gewährsmann hieß Hegel. Durch Marx war nachgewiesen worden, daß es so viele Wertbestimmungen geben mußte wie Meinungen zur Sache. Damit offenbarte sich das Kunstwerk in der Totalität der Meinungsvielfalt, unterlag das Werturteil erneut einer Relativierung, weil selbst die sich durchsetzende Meinung keineswegs die richtige sein mußte, so lange man noch an wahr und falsch festhielt. Ferner sah man, daß die Aufführungspraxis zeitbedingten Moden unterlag, daß man Stücke heute anders spielte als noch vor einigen Jahren. Man erlebte, wie Musikstücke aus der Vergessenheit auftauchten und andere dafür in die Vergessenheit zurücksanken, und man wollte den Grund dazu herausfinden. Man begriff, daß die Kritik der Schelling-Nachfolge mit dem historischen Prozeß harmonisiert werden mußte, daß die Geschichte der Musik offensichtlich unabhängig von der Meinung darüber verlaufen war und es erst der tatsächlichen Entwicklung vorbehalten blieb, ob ein Kritiker bestätigt oder ins Abseits gestellt wurde. Auch die Vermittlung der Schellingschen Spiritualität auf dem Umweg über den Philosophen Lorenz Oken erscheint im nachhinein als zeittypisch, weil Oken den Entwicklungsgedanken in die Philosophie einbrachte, der für materialkundige Musiker sicherlich handwerksgerechter war. Der tastende Vorstoß in die historische Kritik, mit der die dritte große Epoche der Geschichte der deutschen Musikkritik zu bezeichnen ist, erfolgte noch vor Brendel durch den Hegelianer Eduard Krüger. 7) Standpunktskritik Der Übergang von der subjektiven zur historischen Kritik geschah ebenso fließend wie seinerzeit der von der objektiven zu subjektiven Kritik. Anders als zu Zeiten von Marx war die Zahl der bildungsbeflissenen und schreibgewandten Musiker inzwischen hoch genug, und diese waren auch kritischen Auseinandersetzungen gewachsen. Die Zeit der sprachlich holprigen Ergüsse aus dem Anfang des Jahrhunderts, da man mitunter schwerfällig um Begriff und Ausdruck rang, war einer Zeit des flüssig interessanten Duktus der in der Schule des „Jungen Deutschland“ groß werdenden Musikliteraten gewichen. Jetzt ging es um die Synchronisierung von zeitgenössischem Werturteil, übergeordnetem musikalischen Entwicklungsprozeß und dem musikkritischen Einzelstandpunkt. Der Standpunkt war so sehr ein Ergebnis der subjektivistischen Kritik, daß man in der Übergangsphase von subjektiver zu historischer Kritik geradezu von einer Standpunktskritik als Bindeglied sprechen könnte. Das Wort ‚Standpunkt‘ war zu einer Art Zauberwort geworden. Das Urteil über ein Werk wurde doch vom Standpunkt des Beurteilers aus abgegeben. Je mehr man erkannte, daß die Verschiedenartigkeit der Urteile nur aus der Verschieden-

30

Einleitung

artigkeit charakterbedingter Standpunkte zu erklären war, um so mehr verlangte man im vorhinein die Preisgabe des Standpunktes des Kritikers durch diesen selbst, um sicher zu stellen, woran man mit ihm war. Er sollte seiner Kritik eine eigene programmatische Erklärung voranstellen, mit der er dem Leser Rechenschaft darüber abzulegen hatte, wie er grundsätzlich zu seinem Gegenstand stehe. Die Kritik sollte dadurch relativiert, der Subjektivismus auf das zurückgeführt werden, was er wirklich war: nämlich Meinung eines Einzelnen, der sich unter Meinungsbeeinflussung eine allgemeine oder wenigstens eine weitere Gültigkeit seiner Ansichten zu verschaffen sucht, die ihr als aus dem Subjektivismus abgeleitet gar nicht zusteht. So stritt man sich zunächst wieder einmal nicht über Werke, sondern über Standpunkte. Unversehens, aber folgerichtig, kam das Wort vom „überholten“ oder „überwundenen Standpunkt“ auf, das schnell zum Schlagwort wurde, weil auf der Kritikerseite der Standpunkt so der historischen Veränderung unterworfen war wie auf der Komponistenseite das Kunstwerk. 8) Historische Kritik Die historische Kritik lieferte erstmals seit vielen Jahren wieder übertragbare Maßstäbe. Erfolg ist nicht mehr bestimmendes Wertkriterium. Nicht das Publikum entscheidet über Wert oder Unwert einer künstlerischen Sache, sondern deren historische Stimmigkeit. Über Kunstgeschichte ist anders als im politischen Raum nicht demokratisch zu befinden, wo Stimmen gezählt, nicht gewogen werden. Die Höhe der Kunst bestimmt sich aus ihr selbst. Man hatte erfahren, daß sich Manieren abschliffen, Aufführungspraktiken schon im Zeitraum einer halben Generation verbrauchten, daß Kunst eine eigene Immanenz besitzt, daß man 1847 nicht mehr so wie 1784 komponieren konnte, daß sich Originalität an dem beweisbar machen ließ, was an Neuem dazu kam. Damit mußte sich auch der Maßstab eines Kritikers, der den historischen Standort des Kunstwerks nur bestimmen, nicht über ihn als Realitätsgegenstand entscheiden kann, der historischen Überprüfung stellen, und diese entlarvte nur zu oft diejenigen, die sich auf ihn beriefen, als Kritiker von gestern. Die Hoffnung auf eine Tätigkeit jenseits subjektiver Meinungsbildung führte die Musikkritik in ein bis dahin nie erlebtes Hochgefühl, das bis zur Vorstellung eines Umkehrverhältnisses gedieh: die Kritik als die leitende, der Künstler als die zu leitende Instanz. Mit der historischen Kritik stieg das Selbstbewußtsein der Kritiker nach und nach unangemessen an. Vergleicht man die selbstquälerischen Weisheitslehren eines Bührlen aus den zwanziger Jahren, die tiefsinnig um Vernunft und Gerechtigkeit der Musikkritiker kreisten und Kunsturteile am Ende nur noch als Charakterentscheidungen deuteten, mit dem überströmenden Selbstbewußtsein der Kritiker der Jahrhundertmitte, die sich auf ihre neuen historischen Maßstäbe beriefen, so offenbart sich die gewaltige Veränderung. Die Musikkritik stand auf der Höhe ihres Anspruchs. Am frisch entstandenen Kunstwerk mußte – das neue Zauberwort kam jetzt in Mode und durfte nirgends mehr fehlen – der ‚Fortschritt‘ gegenüber dem vorangegangenen Werk erkennbar sein, sonst war es Produkt eines überholten Standpunk-

III. Gliederungen

31

tes. Man fragte nicht mehr nur nach der Kraft des Eindrucks, man fragte von nun an nach der Neuheit des Produktes, weil die Musik fortzuschreiten hatte, wie alle anderen kulturellen Erscheinungen auch – wohin, das blieb im künstlerischen Bereich allerdings offen, weil es mehr als umstritten war. Die vierte Erfolgs-Musikzeitung um die Mitte des Jahrhunderts, die „Neue Berliner Musikzeitung“, trat Ende 1846 ausdrücklich unter dem Banner des Fortschritts an, so relativiert dieser Begriff in der Stadt des Historismus auch immer war. Hier wie in der inzwischen von Franz Brendel übernommenen ehemals Schumannschen „Neuen Zeitschrift für Musik“ trug man die Forderung nach der neuen Objektivität aus, gab es wieder ein falsch und ein richtig von der Sache her, war Urteil nicht mehr Meinung, so seltsame Blüten das Verfahren gerade auch in Berlin trieb. Dort wollte man allen Ernstes dem Komponisten verbieten, sich über Kunstwerke journalistisch-kritisch zu äußern, weil der Komponist immer befangen sei, und dort verwickelte man sich in seitenlange Grundsatzauseinandersetzungen über diese oder jene Form, wie sie in Wahrheit – dieses „in Wahrheit“ ist nicht nur in diesem Zusammenhang ein verräterisches Indiz – auszusehen habe, um daraus Rückschlüsse auf ein zeitgenössisches, zur Kritik anstehendes Stück derselben Form zu ziehen. Jeder Kantianer hätte das Verfahren als unseriös verworfen. Und mehr und mehr forderte man, die Kritik müsse wissenschaftlich betrieben werden, eine Brendelsche Lieblingsargumentation. Nicht lange blieb offen, was nach Brendel darunter zu verstehen war. 9) Wissenschaftliche Kritik Musikkritik wissenschaftlich zu betreiben, bedeutete, die Kritik am Kunstwerk mit dessen Entstehung und den Bedingungen seines Umfeldes zu verknüpfen. Ziel der Kritik war nicht mehr allein das (angeblich) Gute oder (angeblich) Schlechte, sondern die Einbeziehung der kunstgeschichtlichen Daten im weitesten Sinne, um aus deren Erhebung vor allem die Bestimmung des Standortes des befragten Stükkes innerhalb der Musikgeschichte und damit die von Wert oder Unwert, Zukunft oder Nicht-Zukunft zu bestimmen. Immer häufiger ist in dieser Zeit von der Zukunft die Rede – „Zukunftsmusik“ wird bald ein neues Schlagwort werden. Zukunft, das hieß: Analyse und Deduktion haben den wissenschaftlichen, also den historischen Wert oder Unwert eines Stückes ermittelt. Daraus lassen sich Rückschlüsse ziehen. Alles Weitere ist Sache der Zeit, die jedes Ding braucht, und das besorgt eben ‚die Zukunft‘. Einer kritischen Kapazität wie Brendel, der größten, die das 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Musikbereich hervorgebracht hat, konnte nicht entgehen, daß Wirkung allein keine Klärung in der Sache brachte, daß Wirkungsgeschichte nur einen verkümmerten Aspekt im Erscheinungsbild des Kunstwerks und zwar den phänomenologisch unwichtigsten vermittelt, solange damit nicht freigesetzt wird, warum die Wirkung so und nicht anders erfolgt. Das Marxsche Prinzip der Meinungsvielfalt war ja nicht verloren gegangen, nur war der Kritiker als Standpunktskritiker selbst historisch relativiert worden und hatte sich mit seinem Standpunkt über dessen Richtigkeit im Zeitablauf zu rechtfertigen. Erst die Verbindung der verschiedenen Situationen um das Kunstwerk herum macht das

32

Einleitung

Einzelereignis in einem ganzen Feld kommunizierender Ereignisse verstehbar. Im 20. Jahrhundert wird Karl Jaspers lehren, daß sich der Mensch in jedem Augenblick in einer bestimmten ‚Situation‘ befindet. Für das Kunstwerk als Produkt des Menschen gilt nichts anderes. Das Kunstwerk entsteht aus einer bedingten historischen Situation, es verschränkt sich mit anderen Situationen, die ebenso bedingt sind, und die Kunstgeschichte besteht aus nichts anderem als aus Abfolge und gegenseitiger Durchdringung sich immer wieder neu bildender Situationen. Diese Situationsgeschichte des Kunstwerks wird damit zur Geschichte der Kunst überhaupt und läßt in seinen Zusammenhängen alle Einzelereignisse in ihrer eigenen Zeitzone um so klarer erkennen, je genauer man die Situationsbedingnisse zu ermitteln versteht. Damit wurde die letzte Phase der Geschichte der deutschen Musikkritik eingeleitet. Zwangsläufig vollzog sich dieses wissenschaftliche, man darf nunmehr, auch zeitgeschichtlich terminologisch begründet, sagen: dieses musikwissenschaftliche Verfahren außerhalb der mehr oder weniger gut geschriebenen, letztlich unverbindlichen und damit fachlich überflüssigen Meinungen, zu denen auch der gesamte Bereich des Phrasen- und Versatzstück-Journalismus wie der Populärbiographien in systemgeordneten Verlagsprogrammen mit Umschichtung des längst Bekannten gehört einschließlich der privaten Erfahrungen reproduzierender Künstler, die man haben, aber, für die Produktionsgeschichte der Kunstwerke belanglos, auf diese Weise nicht kritisch begründen kann. Dieses Verfahren nannte Brendel Parteikritik. 10) Parteikritik Die Forderung nach Parteikritik wurde von Brendel zu Beginn des Jahres 1852 leitartikelhaft proklamiert, aber schon wenige Monate zuvor von Theodor Uhlig sinngemäß vorbereitet, als er die ‚Selbstvernichtung‘ (andere benutzten den Ausdruck ‚Selbstauflösung‘) der Musikkritik verlangte. Mit dem Erreichen des historischen Bewertungsverfahrens sahen sie für eine Musikkritik im Sinne früherer Zeit keinen Raum mehr. Natürlich verstand Brendel unter Parteikritik nicht das, was man im Assoziationsverfahren heute darunter verstehen würde. Parteikritik bildete für ihn die legitime Fortsetzung der historischen Kritik, die als Oberbegriff die zweite Hälfte des Jahrhunderts bestimmte, auch wenn man darin ein zunehmend depressives Lebens- und Kunstverständnis sehen mag. Es drückte sich in der Philosophie Schopenhauers aus, die bezeichnenderweise ab Winter 1852 auf dem Umweg über England in Deutschland aufgenommen wurde. Parteikritik hieß, auf der tragenden Grundlage einer wissenschaftlich historischen Kritik ein endgültiges Urteil über ein Kunstwerk zu ermöglichen, um dieses dann je nach Ergebnis entweder offensiv zu vertreten oder ebenso offensiv zu bekämpfen. Der mit Kritik beauftragte Wissenschaftsvertreter darf nicht unberührt neben seiner Sache stehen, sondern er hat eine Position einzunehmen. Diese Position erhält er nicht willkürlich, sondern als Ergebnis einer wissenschaftlichen Analyse mit einem für sie bedingten Rüstzeug, das er professionell zu beherrschen hat. So zu tun, als ginge einen das, was man untersucht, weder im guten noch im schlechten Sinne an, nimmt dem wissenschaftlichen Urteil seine Bedeutung. Die Musikwissenschaft, wie sie jetzt hieß und wie

III. Gliederungen

33

sie ab 1850 allmählich auch institutionell zum Durchbruch gelangte, ist wesentlich die Nachfolgerin der historischen Kritik nach deren Auflösung in die Parteikritik in der Terminologie Brendels, der selbst mit der Übernahme der Musikgeschichtsausbildung am Leipziger Konservatorium dieses Fach systemimmanent errichtete. Tatsächlich ist sie es ja auch und nicht etwa die Feuilletonkritik gewesen, die den weiteren Verlauf der Kunstproduktion, sei es als Komposition, sei es als Reproduktion beeinflußt hat. Ohne ihre Arbeiten, angefangen von den Urtextausgaben der frühen fünfziger Jahre bis zur Erforschung des Historischen Instrumentariums und der Wiederentdeckung der historischen Aufführungspraxis wäre die Musikszene von heute nicht denkbar. Umgekehrt wunderte man sich im weiteren Verlauf des Jahrhunderts über die tatsächliche Wirkungslosigkeit der Zeitungskritik auf Komposition, Interpretation und Musikleben. Die Feuilletonkritik gehörte mit dem Wegfall der Konzessionierung nach 1848 zur Standardausstattung der politischen Zeitungen, nachdem die belletristischen Blätter untergegangen waren. Zur Unterscheidung von der neuen wissenschaftlichen Kritik sprach man von ihr als von der Tageskritik, die sich beeinflussend, werbend, abwerbend, vermittelnd nur noch an den Leser wandte, den Künstler dagegen bloß wirtschaftlich, nicht mehr fachlich erreichte, eine Entwicklung, die sich in dieser Form schon mit dem Aufkommen der psychologischen Musikkritik angebahnt hatte. Damit stimmt überein, daß es musikkritische Grundlagenauseinandersetzungen, wie sie vor allem die vierziger Jahre hervorgebracht haben, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr gegeben hat – warum auch, alles Wesentliche war ja längst gesagt, die Spekulation über Kunstbewertung einer gesicherten Methode gewichen. Arbeiten über Musikkritik, wie sie sich immer noch finden, erschöpfen sich überwiegend entweder in schon dissertationsartigen, bereits historisch orientierten Untersuchungen oder in ziemlich beiläufigen, mitunter schlimm banalen Gelegenheitsaufsätzen und Aphorismen, die auf die künstlerische Entwicklung keinen Einfluß mehr ausüben, während die Feuilleton- und Tageskritik zur Klärung in der künstlerischen Sache geistesgeschichtlich bedeutungslos wurde. Sie bekam mit ihrer kulturpolitischen Werbe- und Abwerbe-Funktion eine soziokulturelle Macht über die Massen. Sie beeinflußte nicht mehr die großen Entwicklungszüge der Kunst, wohl den investierenden Geldgeber, der mit Kunst handelt und der abgeschreckt oder ermutigt werden kann, sich einzusetzen oder es bleiben zu lassen. Aus diesem Grunde bewegte sich die Feuilletonkritik ab 1850 auf diejenigen zu, die, mit oder ohne Fachkenntnisse, im feuilletonistischen Sinne gut zu schreiben verstanden. Bezeichnenderweise setzten sich im geregelten Verhältnis Künstler-Kritiker von der Mitte des 19. Jahrhunderts an auch die einstmals umstrittenen, bei uns etwas verschämt Ehrenkarten genannten Theater- und Konzertfreikarten durch. Die Zeitung wird Teil des Geldgeschäftes im Dreiecksverhältnis Künstler-Publikum-Presse und muß daher grundsätzlich keinen Eintritt mehr bezahlen. Sie verabschiedet sich zur gleichen Zeit vom Bereich der eigentlichen Kunstgeschichte und wird in Vorwegnahme von Quotenüberlegungen Gegenstand der Wirtschaftsgeschichte.

34

Einleitung

IV. SYSTEM UND WIRKLICHKEIT Die Qualität eines Urteils ist systemunabhängig. Das System gibt einen Rahmen vor, innerhalb dessen sich der Urteilende bewegt, und oft dürfte dem Urteilenden nicht einmal bewußt sein, daß seine Form des Urteils von Kategorien abhängt, die er sich nicht selbst ausgesucht hat. Das richtige oder falsche Urteil in der künstlerischen Einzelsache vollzieht sich in und mit jedem System, weil es von einem Individuum mit seinen ihm zukommenden mentalen und soziokulturellen Komponenten bestimmt wird. Weder vermag ein funktional gutes System einen zeitblind auftretenden Kritiker von einem falschen Urteil abzuhalten noch ein fragwürdiges System einen zeitoffenen Kritiker daran zu hindern, ein richtiges Urteil abzugeben, dessen Aussage auch nach längerer Zeit noch Bestand hat. Über das, was richtig, unrichtig oder falsch gewesen ist, entscheidet erfahrungsgemäß die jeweils übernächste Generation.

1. KAPITEL: PHILOSOPHISCHE GRUNDLEGUNG 1. KANT Am Anfang der methodischen Entwicklung der Musikkritik des 19. Jahrhunderts steht die 1790 erstmals veröffentlichte „Critik der Urtheilskraft“ von Immanuel Kant. Reichardt, der bei Kant Philosophie studiert hatte und in Königsberg persönliche Beziehungen zu ihm unterhielt, machte schon 1791 im zweiten Band seines „Musikalischen Kunstmagazins“ Auszüge daraus als „Fingerzeige für den denkenden und forschenden deutschen Tonkünstler“ [II,2] und einige Seiten zuvor einen Ausschnitt aus einer „Methodenlehre des Geschmacks“ [II,1] bekannt und überforderte damit gewiß die intellektuellen Möglichkeiten eines großen Teils seiner Leser. Natürlich folgt auch ein Ausschnitt aus Goethes Kunstlehren; schließlich bestand zur damaligen Zeit zwischen ihm und Goethe eine ziemlich enge künstlerische Verbindung. Schiller dagegen mochte Reichardt nicht. Goethe schrieb die Texte zu Singspielen im eleganten Geschmack, die Reichardt, ebenfalls im eleganten Geschmack, vertonte. Beide befanden sich damit, zeitgenössisch gesehen, auf der richtigen, historisch gesehen auf der falschen Seite der Entwicklung. Als Goethe das, schneller als Reichardt, begriff, kühlte sich die Freundschaft ab. Goethe erkannte, daß ihm seine langjährige musikalische Autorität Reichardt einen falschen Weg gewiesen hatte. Der politische Revolutionär Reichardt verblieb in der Vergangenheit und scheiterte an seiner eigenen Geschmackstheorie, Goethe, ohnehin von der übertrieben jakobinischen Betriebsamkeit des Menschen Reichardt widrig berührt („… von der musikalischen Seite unser Freund, von der politischen unser Widersacher …“),(1) befreite sich davon und ließ die Sturm-und-Drang-Zeit von ‚Schall und Rauch – Gefühl ist alles‘ hinter sich. Das Modell, das Kant 1790 in der „Critik der Urtheilskraft“ vorstellte und in deren berühmter Einleitung unter Einbeziehung der beiden voraufgegangenen Kritiken beinahe lehrbuchhaft zusammenfaßte, formte für die nächsten beiden Jahrzehnte die kritischen Verfahren aller Kunstsparten, also nicht nur die der Musik. Es stellte aus der Erkenntnis von der mentalen Verfangenheit jeglichen Urteilens das Urteil als solches prinzipiell, also nicht bloß graduell, in Frage. Kant war sich der Schwierigkeit bewußt, die mit der Verallgemeinerung eines singulären Urteils als apodiktisches Urteil notwendig verbunden ist. Diesen Zwiespalt zu lösen, gründete er das Kunsturteil nicht auf den Begriff, sondern auf das Gefühl, und begrenzte damit dessen übergreifende Aussagekraft. Indem er auf die Möglichkeit des Denkens an sich abhob, betrieb er Erkenntnistheorie. Im ersten Teil seiner Untersuchung geht es darum, das ästhetische Urteil, wie es damals gehandhabt wurde, von den mit ihm leicht zu verwechselnden Gefühls- und Billigkeitsurteilen zu scheiden. Er setzt darum zunächst beim Gefühl des Schönen an und stellt wie beim Guten des-

36

1. Kapitel: Philosophische Grundlegung

sen Apriorität fest. Die entscheidende Wendung Kants liegt im Nachweis, warum trotz der apriorischen Gemeinsamkeit, weil nämlich das Schöne ohne Begriff gefällt, zwischen dem Guten und dem Schönen ein wesentlicher Unterschied besteht. Dieses ‚ohne Begriff‘ ist, wird und bleibt bis heute folgenschwer; denn da nach Kant die Philosophie „Prinzipien der Vernunfterkenntnis der Dinge durch Begriffe“ enthält, beweist sie die prinzipielle Unmöglichkeit, allgemeingültige Kriterien zu entwickeln, nach denen sich die Schönheit eines Gegenstandes mit logischer Evidenz beurteilen ließe. Auf der Vorstellung von Schönheit als Gefallen ohne Begriff können keine ästhetischen Wertdoktrine mehr begründet werden. Damit ist auch Musikkritik auf der Grundlage ästhetischer und prinzipiell systematisierender Kategorien existentiell unmöglich. Der Schlußteil der Kantschen Untersuchungen verweist das ästhetische Urteil auf das Fundament des Geschmacks, so daß zwar eine ästhetische Doktrin als unmöglich ausgeschlossen ist, nicht aber eine Kritik des Geschmacks als Untersuchung über die Möglichkeit der apriorischen Geltung ästhetischer Urteile. Im Mißverständnis der Jahre nach 1830 wird daraus die zum Streit führende Ansicht abgeleitet, Musik sei eine gedankenleere beziehungsweise gedankenentleerte Kunst. In der vulgären Weiterentwicklung erklärte man Musik schließlich zu einem ‚Feierabendvergnügen‘, dem man sich hingibt, wenn man einmal so recht an gar nichts denken will. An dieser Stelle gerät Kant in eine weitere Schwierigkeit, weil der Geschmack nicht nur über das Schöne, sondern auch über das Angenehme urteilt. Beide Qualitäten wirken neben der Abwesenheit eines bewußt anwendbaren Maßstabes für Beurteilung durch die Unmittelbarkeit ihres Eindrucks. Kant muß nach dem Unterschied fragen und erkennt dabei, daß das Angenehme etwas individuell und vor allem zufällig Wohlgefälliges ist, während das Schöne trotz seiner Begriffslosigkeit Gegenstand eines allgemeinen und sogar notwendigen Gefallens wird. Daraus erhellt, daß zwar in Sachen des Geschmacks durch begriffliche Beweise nichts auszurichten ist, daß aber mit ihm trotz allem allgemeine Gefühle zum Tragen kommen. Für den Kritiker heißt das, jeder vorzuformenden Normbildung beraubt und auf seine eigene Individualität zurückgeworfen zu sein, sich selbst ständig überprüfen zu müssen, um das eigene Urteil ebenso ständig wieder in Frage zu stellen. Er muß jeden Gegenstand aus seinen eigenen Gesetzen und denen der ästhetischen Zweckmäßigkeit erforschen, um jederzeit bereit zu sein, sich selbst und die eigene Urteilsfindung zu berichtigen, wenn nicht gar zu verwerfen. Kant war seinerzeit keineswegs so berühmt wie heute. Anfänglich mehr angegriffen als bewundert, wurde allerdings Schiller früh auf ihn aufmerksam und berichtigte in „Anmut und Würde“ Kants Sittlichkeits-Imperative. Es war Reichardt, der den Namen Kant in die periodische Musikliteratur einführte. Aber die Auseinandersetzungen um Kants Vorstellungen vom Ding an sich waren für die musikkritische Handwerkslehre ein Streit unter Philosophen. Den Musiker berührten nur die praktischen Auswirkungen, und das war die Ablehnung der Meßbarkeit, auf die seit dem 17. Jahrhundert der Wissenschaftsbegriff eingegrenzt worden war, weil man Wissenschaft nur noch als kausalmechanische Erklärung der Wirklichkeit verstand. Ohne diesen Hintergrund sind die Bevorrechtigung des reinen Satzes in

2. Schelling

37

der Musiklehre und die Unverrückbarkeit der kontrapunktischen Gattungen nicht recht zu verstehen.(2) (1) Walter Salmen: Reichardt und Goethe, in: Katalog Walter Salmen und Regine Zeller zur Ausstellung „Der Tonkünstler Johann Friedrich Reichardt und Goethe“, Goethe-Museum Düsseldorf 2002, Sp. 24[a]–36[b]; (2) Kant wird von Julius Becker noch 1844 in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ als Autorität zitiert. Es ist aber zu bezweifeln, ob Becker, der ohne inhaltliche Tiefe schrieb, die Folgerungen richtig zieht, wenn er sich beim Musikverständnis ausschließlich auf das Gefühl beruft [II,479] und dabei Ausflüge zum ‚reinen Naturmenschen‘ und zur ‚Antike‘ unternimmt. Die Musik ist nach Becker „rein romantischer Natur“. Auf der anderen Seite ergänzt er die von ihm bestrittene Bewußtlosigkeit des schaffenden Genies mit der notwendigen Verstandestätigkeit, die dazu gehöre (AmZ XX./38, 9.5.1844, Sp. 151a–152b).

2. SCHELLING In der hochkomplizierten Auseinandersetzung um den Naturbegriff, um den es eigentlich geht, spielen die Vorstellungen von einer methodischen Handhabung von zu entwickelnden Prinzipien für eine Musikkritik nur eine untergeordnete Rolle. Sie bilden allenfalls Korollarien, die sich beiläufig zwingend ergeben. Die einfachen Musikkritiker der damaligen Zeit haben gewiß wenig davon verstanden, außerdem waren sie viel zu praktisch. Kant stand in einer langen philosophischen Tradition. Je mehr man dazu neigte, die Außenwelt als unerkennbar darzustellen, umso mehr mußte sich das Denken auf die Innenwelt verlagern, bis es schließlich im Gefühl einer Überlegenheit des Innerlichen über das Äußerliche geradezu explodierte. Das Materielle stand mehr und mehr dem Geistigen wie ein Fremdkörper gegenüber, der sich allmählich auch als Realität vernachlässigen ließ, bis, einer treffenden Anekdote zufolge, ein Hegel die Frage eines offensichtlich etwas daseinsbewußt kritisch verwirrten Studenten, seine, Hegels, Philosophie stimme nicht mit der Wirklichkeit überein, die nur vordergründig verblüffende Antwort geben konnte: Um so schlimmer für die Wirklichkeit. Daher rührte ja auch der überspülende Einfluß Spinozas auf Kunst, Philosophie und Leben, der vor allem durch den Düsseldorfer Jacobi ausgelöst wurde. Spinoza verstand die Welt als Organismus, begriff also Geist und Materie als Einheit. Das war neu und wurde unter dem Begriff Pantheismus nicht nur für die Kunstbetrachtung von Bedeutung. Um 1810 ist der Einfluß Kants so weit zurückgegangen, daß man glaubt, ihn belächeln zu können, ohne jedoch die These von der Unerkennbarkeit der Dinge und der Gebundenheit der menschlichen Erkenntnis in und an den Kategorien Raum und Zeit zu widerlegen. Das Denken richtete sich getreu nach Spinoza auf das Verhältnis von Subjekt und Objekt, und in dieser Auseinandersetzung wird aus gutem Grund Schelling und nicht Fichte die Leitgestalt. Friedrich Wilhelm Schellings Philosophie, ebenfalls Erkenntnistheorie auf der Grundlage Spinozas und Kants, aber mit dem Versuch einer Systembildung, ist anders als diejenige Kants nicht katalogisierbar. Der schon in frühen Jahren zu alles überstrahlendem Ruhm gekommene Philosoph evangelisch-theologischer Herkunft mit stark pietistischem Einschlag, der zusammen mit Hölderlin und Hegel in Tü-

38

1. Kapitel: Philosophische Grundlegung

bingen Theologie studiert hatte („Tübinger Drei“), allerdings anders als Kant das Sinken seiner Bedeutung noch zu seinen Lebzeiten (gestorben 1854 im Alter von 79 Jahren, mit 23 Jahren neben Fichte dank Goethe Professor an der Universität Jena, mit 37 Jahren geadelt) erfahren mußte, ist in seinen Grundlagenwerken vielfältig gebrochen, teilweise widersprüchlich und hat seine eigene Lehre immer wieder bis hin zu fast gegenteiligen Thesen überarbeitet. Die für die Musikkritik wesentlichen Momente seines Denkens sind sich aber im Grundsatz gleich geblieben. Schelling denkt auf eine Übereinstimmung von Innenwelt und Außenwelt, somit von Geist und Materie und überwirft sich darob mit seinem Freunde Fichte. Die entscheidende Wendung Schellings besteht darin, anders als Fichte, der nur das Ich als Subjekt kennt, auch die Natur als Ich zu denken und also das Ich des Subjektes mit dem Ich der Natur als Einheit aufzufassen. Diese Identitätsphilosophie ermöglicht die Erkenntnis des zu betrachtenden Objektes durch seine Übereinstimmung mit dem betrachtenden Subjekt, ermöglicht also auch wieder eine bewertende Musikkritik. Nur umfaßt diese neue Art von Werkkritik auch den Kritiker selbst und spiegelt ihn im zu betrachtenden Werk, weil Werk und Kritiker von derselben Art sind und die Kritik nur noch als Akt der Ichheit aufzutreten vermag. Schelling hat es auf diese Weise fertig gebracht, den durch Kant ein für allemal versperrten Weg zum Objekt an sich zwar nicht zu öffnen, wohl aber das Objekt an sich als Spiegelbild im Subjekt aufscheinen zu lassen. In dieser Form wird Schellings Gedanke von den zeitgenössischen Musikkritikern übernommen, ohne daß bei den meisten von ihnen eine mehr als vordergründige Kenntnis einiger Schlagwörter vorausgesetzt werden müßte. Zur Brendelzeit spielte Schelling keine unmittelbare Rolle mehr. Brendel wußte um den Schellingschen Einfluß und überlieferte ihn auch. Als Quelle dafür nannte er nicht die Identitätstheorie, sondern er bezog sich auf einen kleinen Aufsatz Schellings über den Maler Raffael, eher eine Nebenarbeit von zwei oder drei Seiten, auf deren wirkliche oder angebliche Bedeutung für die Musikkritik man ohne die Brendelbenennung vermutlich nie gekommen wäre. Zum Thema beschränkt sie sich auf die einfache Aussage, man müsse sich in das benannte Gemälde hineinversetzen, um es verstehen zu können – was eben eine Folge der Identitätsphilosophie war. Noch dem Rochlitznachfolger Fink ist die Bedeutung Schellings für den Vollzug der Musikkritik in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ bestens vertraut. Im Dorn-Fink-Streit weist er Dorns Vorwürfe, die Zeitung habe sich zu stark von Kant abhängig gemacht, mit dem Hinweis auf Schelling zurück. Fink war wie Schelling evangelischer Theologe und philosophisch bewandert. In seinem Fall ist davon auszugehen, daß er die Schellingsche Philosophie nicht nur oberflächlich kannte. 3. JACOBI Der eigentliche Gefühlstheoretiker war Friedrich Heinrich Jacobi, Unternehmer, Kaufmann, Philosoph, Jurist, Steuerpolitiker, Hofkammermitglied, Geheimrat, Freimaurer, Schriftsteller, Herausgeber, neben Schelling Münchner Philosophie-

3. Jacobi

39

professor und später noch Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Seine Bedeutung wird teilweise unterschlagen, teilweise unterschätzt, was einmal mit seiner starken Religiosität zusammenhängen dürfte, die weder zur sich protestantisch nennenden, in Wirklichkeit atheistisch denkenden Berliner noch zur ebenfalls streng protestantisch ausgerichteten Zeitungssituation von Leipzig paßte, wie mit dem Umstand, daß er kein Berufsphilosoph war und auch, antisystembedingt, kein philosophisches System hinterlassen hat, sondern nur literarische Zeugnisse, aphoristische Erkenntnisse und Briefe. Er war ein ungewöhnlich scharfsinniger Mann, der, wie Schiller, die Widersprüche bei Kant aufspürte und überzeugend benannte. Sein Satz, ohne Vorraussetzung des Realismus könne man in Kants System nicht hineinkommen und mit ihm nicht darin bleiben, ist berühmt geworden. Jacobi kam aus Düsseldorf (geb. 1743, gestorben in München 1819) und übertrug rheinische Unbefangenheit sowohl in die Philosophie wie in die Politik. Er korrespondierte mit allen bedeutenden Persönlichkeiten seiner Zeit und war mit vielen von ihnen mit mehr oder weniger gutem Ende befreundet, mit Hemsterhuis, Hamann, Lessing, Herder, Jean Paul. Mit Wieland gab er seit 1773 den „Teutschen Merkur“ heraus. Goethe besuchte ihn gemeinsam mit Basedow und Lavater in seinem zu einem geistigen Mittel- und Treffpunkt gewordenen Haus in Düsseldorf-Pempelfort. Anders als Kant oder Reichardt stellte er sich gegen die Auswüchse der Französischen Revolution, wurde in Reformkonferenzen hinein- und bald wieder herausgewählt, weil er wohl als erster im modernen Europa den Gedanken der Wirtschaftsliberalität vertrat, lernte die damals noch keineswegs weit verbreitete Lehre Spinozas kennen und machte sie gerade durch seine zum Pantheismusstreit führende scharfe Kritik daran in Deutschland erst richtig bekannt. Lessing ließ sich von Jacobi über Spinoza aufklären, und Moses Mendelssohn, der mit Jacobi über dieses Gespräch korrespondiert hatte, beschuldigte in einem eigenen Buch Jacobi, Lessing dadurch verunglimpft zu haben, daß er den Gedankenaustausch LessingJacobi und (ohne um Erlaubnis nachzufragen) seinen, Mendelssohns, Briefwechsel mit Jacobi veröffentlichte. Es veranlaßte Matthias Claudius, Protestant wie Jacobi, die Sache, die nachher auch Goethe und Herder beschäftigte, im V. Teil seiner „Sämmtlichen Werke des Wandsbecker Boten“ im Rahmen zweier Rezensionen aus dem Jahre 1786 aufzugreifen und sich mit ihnen vor Jacobi zu stellen(1). Jacobi erkannte in Kants Ding an sich eine ungelöste Problematik. Der Kantsche Kritizismus zieht den Nihilismus oder wenigstens einen absoluten Skeptizismus nach sich, es sei denn, man hält sich an die Welt der Erscheinungen und erkennt diese als die Wirklichkeit an; denn das Ding an sich stellt sich nur selbst vor und erklärt dabei nicht einmal, was es selbst ist, noch was andere Dinge sind. Jacobi zieht daraus den Schluß, daß sich die Wirklichkeit im menschlichen Bewußtsein nicht durch das Denken, sondern durch das Gefühl abbildet und gerät dadurch sowohl zu Kant wie zu Schelling in Gegensatz. Aus Kant beweist er, daß man mit dem Ding an sich keinen Zugang zur Wirklichkeit bekommt und vor allem darin kein Unbedingtes finden kann. Für ihn ist das der abgelehnte Spinozismus, der die Wirklichkeit ausschließlich als eine mechanische Notwendigkeit begreift, in der für ein Unbedingtes, also Gott, kein Platz ist, weil dieser, nach Spinoza, nicht Schöpfer, sondern selbst Ergebnis der Mechanik und daher mit allen Dingen der Wirklichkeit

40

1. Kapitel: Philosophische Grundlegung

identisch ist oder sich darin befindet, und weil, nach der Kantschen Lehre, ein Gott, der sich wissen läßt, kein Gott sein kann. Nach Jacobi gibt es eine zweifache Form der Erkenntnis, eine mittelbare und eine unmittelbare. Die mittelbare Erkenntnis ist das Wissen, die unmittelbare das Gefühl. Damit wird das Gefühl zur nicht rational bestimmbaren wahren Erkenntnis. Nur im Gefühl vereinigt sich der Mensch mit der Wirklichkeit. Was Jacobi ausspricht, ist die Anerkennung einer anderen als der rationalen Form des Denkens als gleichberechtigte Erkenntnisform. Sie erhält in Jacobis Deutung Vorrang. Alles das, was in Spinozas System keinen Platz mehr hat und nur als blindes Ergebnis einer kausalen Mechanik begriffen wird, kehrt in der Erfahrung durch das Gefühl zurück: Gott, Freiheit, Liebe, Glaube, Menschlichkeit, Treue, Ehre. All dieses setzt höchste Wirklichkeit, die sich nicht rational ableiten, nur vom Gefühl her erfahren läßt. Dabei steht Jacobi Kant näher, als es zunächst scheint. Denn auch Kant anerkennt aus der rationalen Begründung herausgenommene Verhaltensweisen, um sie durch ihren Vollzug zu vergegenständlichen. Liebe vollzieht sich im Vollzug der Liebe, nicht im Reden darüber. Glaube vollzieht sich im Willen zu glauben, nicht in der rationalen Diskussion. Man ist nicht barmherzig, indem man über Barmherzigkeit spricht oder sie gar fordert, vor allem von anderen, sondern indem man das Werk der Barmherzigkeit selbst tut, und das kann man auch ohne rationale Voraussetzungen. Glauben ist für Jacobi alles; aber Jacobi kann der Sache nach nur behaupten, nicht begründen. Denn die Begründung würde wieder das rationale Denken voraussetzen, dessen Kompetenz abgestritten wird, weil es zu keinem Ergebnis führt, sondern nur in sich selbst kreist. Das ist nicht die blind ungesteuerte Gefühlswelt der Geniezeit und schon gar nicht das Verhaltensmuster des guten Geschmacks. Es ist lediglich die Erkenntnis von der rational Nichtkatalogisierbarkeit realer Gefühle, nicht die Forderung nach einem ungesteuerten Ausleben der Gefühle, wie er sie in der Französischen Revolution kennen, verabscheuen, weil fürchten lernte. Auf die Musikkritik übertragen führt es zu einem Versuch von Inhaltsdarstellungen und zu einem ästhetischen Dualismus von Handkwerkslehre und Ideengehalt mit der nicht minder drohenden Gefahr, in einem erfundenen programmusikalischen Darstellungsmodus und in eine sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beinahe schon am Rande des Komischen ansiedelnden journalistischen Inhaltshermeneutik zu enden. Alle Darstellung, die über das Handwerkliche hinaus, am Handwerklichen vorbei, aber nicht ohne handwerkliche Kenntnisse und nicht ohne das Wissen um die technischen Bedingungen, Musik zu verstehen versucht, findet bei Jacobi ihre früheste Rechtfertigung. Der Komplex der künftigen psychologisch-subjektiven Musikkritik, die Regeln stillschweigend voraussetzt, jedoch nicht mehr übers Technische spricht und den Komponisten auch nicht danach befragt, hängt davon ab. Der (anonyme) Verfasser des Aufsatzes „Kunst und Kritik“ aus dem Jahre 1826 stellt Jacobi in eine Reihe mit Kant, Fichte und Schelling(2). (1) hier nach Ausgabe Urban Roede, Sonderausgabe Zürich o. J., S. 429–444; (2) AmZ XXVIII/11, 15.3.1826, Sp. 169–174, Z:173 [II,152].

5. Hegel

41

4. OKEN Der Hinweis auf Oken, der sich auf S. 2 des Einführungsberichtes 1824 der „Caecilia“ befindet [II,108], dürfte eher rhapsodischer Natur sein. Lorenz Oken (1779– 1851) besaß als Naturforscher über seinen Tod hinaus hohes wissenschaftliches Ansehen. Er gehörte zu den unmittelbaren Schelling-Schülern, war aber nicht in erster Linie Philosoph, der ein neues oder anderes Denken formulierte, sondern übertrug die Schellingsche Lehre in sehr eigentümlicher Weise auf seine naturwissenschaftlichen Klassifizierungen. Er entwickelte ein eigenes Natursystem aus inneren Zusammenhängen, die philosophisch-deduktiv bestimmt sind. Sein Vogelbuch machte ihn auch breiteren Volksschichten bekannt, und der Versuch, verständliche und sinnvolle deutsche Kunstwörter anstelle der wissenschaftlichen lateinischen Bezeichnungen zu (er)finden, führte zu einer Reihe von auch heute noch gebräuchlichen Namen. Oken rief 1822 eine Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte ins Leben, die unter anderer Bezeichnung heute noch besteht. Seine 1816 gegründete überwiegend naturwissenschaftliche und vor allem erstmals fachübergreifende enzyklopädische Zeitschrift „Isis“ wurde zum Vorbild nachfolgender Blätter. Es ist davon auszugehen, daß auch Rellstabs Musikzeitschrift „Iris im Gebiete der Tonkunst“ ihren Titel dem Okenschen Vorbild verdankt. Oken war Freimaurer, Philosoph, Biologe, Ornithologe und Physiologe und stand der Burschenschaftsbewegung nahe. Nach Zwischenstation in München ging er 1832 als Professor nach Zürich und wurde dort nach wenigen Monaten Rektor. Sein bedeutendster Schüler war Georg Büchner, Dichter, Naturforscher und ebenfalls Physiologe. Okens Erwähnung in der musikperiodischen Literatur ist mit Sicherheit auf seinen damaligen großen Ruf, und sachlich vermutlich auf den Ansatz einer Entwicklungsgeschichte der Naturwelt zurückzuführen, die ähnliche Überlegungen für die Geschichte der musikkritischen Methoden bei musikschriftstellerisch tätigen Naturtheoretikern unterstützte. 5. HEGEL Nach Kant setzte mit Fichte und Schelling bis zu dem 1831 verstorbenen Hegel ein Systematisierungshunger ein, der sich kunstphilosophisch in der verlangten methodischen Aufbereitung der Musikkritik niederschlug und Ende der vierziger Jahre alle Vorstellungen beherrschte. Die Wirkung Hegels trat, wie später diejenige Schopenhauers, zeitversetzt ein. Ob die damals lebende Musikerschaft von den komplizierten philosophischen Zusammenhängen mehr als einige Leitlinien (und die vermutlich auch noch unklar) verstanden hat, ist die Frage. Doch wenn Adolf Bernhard Marx mit der Pluralität der Meinungen zum selben Gegenstand die festgeschriebene eine Wahrheit als unbestreitbare Wahrheit vom Kunstwerk in Frage stellte, dachte er, ohne Hegelianer sein zu müssen, gleichzeitig den Gedanken von der Aufhebung des Widerspruchs mit. Die Darstellung des Systems stößt auf Schwierigkeiten, die im System selbst liegen. Bruno Liebrucks brachte es in seinen Vorlesungen auf eine bonmot-artige Formel: Entweder sei man Hegelianer, dann

42

1. Kapitel: Philosophische Grundlegung

befinde man sich im System, denke aus dem System heraus und könne es denjenigen, die nicht im System sind, nicht verständlich machen, oder man sei nicht im System, dann stehe man vor dem System und könne es nicht begreifen. Der Goetheforscher Volkmar Hansen zitierte anläßlich eines Vortrages einen unbenannten Brief aus dem Kreis um Goethe an Hegel, er, Hegel, habe ein Verfahren entwickelt, das es künftig möglich mache, alles, was richtig sei, falsch zu nennen, und alles, was falsch, richtig; gemeint ist auch hier die Auswirkung der Aufhebung des Satzes vom Widerspruch durch Hegel. Was den Musikbereich anbelangte, war Kant vorsichtiger als Hegel (und nach ihm Schopenhauer). Kant sprach im philosophischen Zusammenhang von Musik nur allgemein. Hegel dagegen nannte Künstlernamen. Er offenbarte seinen persönlichen Geschmack als Liebhaber der italienischen und Gegner der neueren deutschen Oper („Freischütz“) und verwickelte sich in die Modestreitigkeiten der zwanziger Jahre, die vor allem in Paris als Streit zwischen den Anhängern Rossinis und denen Mozarts ausgetragen wurden. Dort nahm um 1820 der Rossini-Enthusiasmus skurrile Formen an und schlug Wellen bis nach Deutschland und Österreich. In Paris vergötterte man Rossini geradezu und ehrte ihn mit teuren Festmählern und Sonderaufführungen. Man hieß ihn einen „Napoleon“ der Musik(1). Die aufkommenden Auseinandersetzungen Rossini-Mozart bezeichneten die Pariser als neuen Buffonisten-Streit, wobei man dem gerade erst zur künstlerischen Leitgestalt erklärten Mozart die Rolle Piccinis zuweisen wollte. Die Fronten waren klar. Auf Mozarts Seite standen die „Musiker“, auf Rossinis Seite die „Dilettanten, Literatoren und die meisten Journalisten“. Beide suchten „den grossen Haufen“ für ihre Meinung zu gewinnen, wobei sich die Zeitungsleute leichter taten, weil ihre Meinung als gedruckte Meinung eine größere Verbreitung erfuhr(2). Der für mehrere deutsche Zeitungen korrespondierende Sievers hat für die „Caecilia“ Ende 1828 die Zusammenhänge aus Paris in einem Artikel „Mozarts Beifall in Paris“ beschrieben(3) [II,234]. Demnach erhielten in Paris die Mozartschen Opern in den Jahren 1815 bis 1817 den meisten Zulauf, bis Rossini nach Paris kam. Er zog den Enthusiasmus des Pariser Publikums auf sich, und dank seiner ihm zufallenden Stellung als Leiter der Italienischen Oper verdrängte er Mozart vom Spielplan. Bei dieser Gelegenheit spricht Sievers am Beispiel Castil-Blase auch die Bestechlichkeit der Pariser Kritik an. Castil-Blase war ein Befürworter Rossinis. Er besorgte die französischen Übersetzungen von Rossinis Opern und bezog dafür entsprechende Tantiemen. Dann schlugen seine Kritiken um. Der weltkluge Rossini besorgte die Übersetzungen inzwischen selbst, wie Sievers schreibt, und brachte den Kritiker damit um einen großen Teil seiner Einnahmen. In Deutschland wandelte sich nach 1817 die französische Auseinandersetzung Mozart-Rossini in eine deutsche Auseinandersetzung Weber-Rossini, in die sich Hegel verstrickte. Weber hatte einen Wahlspruch „Wie Gott will“(4). Darauf spielte ein Wiener Witz an, der die journalistische Runde machte: „Weber componirt wie Gott will, Rossini aber wie die Menschen wollen, und darum gefällt uns der Letztere besser“ [II,578]. Hegel schloß sich den Rossinianern an und hatte für die Entwicklung der neueren deutschen romantischen Musik kein Ohr, wobei dem Begriff Romantik

5. Hegel

43

zu Hegels Zeit noch ein anderer Inhalt als einige Jahrzehnte später zukam(5). Ein Musikverständnis wie dasjenige Hegels war für Schumann unzumutbar, und der Rossini- wie der spätere Meyerbeer-Taumel waren es ebenfalls. Vermutlich deshalb läßt sich in Schumanns Zeitschrift zwar an etlichen Stellen auf einen Hegelschen Einfluß rückschließen, ohne den Namen betont hervorzuheben. Eine historische Einteilung in einer Rezension aus dem Jahre 1838, die wie selbstverständlich vorgenommen wird (Altertum: Plastik; Mittelalter: Malerei; Neuzeit: Musik), deckt sich mit Hegels ästhetischen Vorgaben und ist vermutlich Hegel entnommen(6). Doch Schumanns Weitblick ermöglichte es 1842 Eduard Krüger, die Leser der „Neuen Zeitschrift für Musik“ über Hegels Philosophie und deren Bedeutung für das Musikdenken in einem für Zeitungsaufsätze ungewöhnlichen Umfang zu unterrichten(7). Vor Kant war man „aufgeklärt“ gleich „vernünftig“ bis zu der Kuriosität, aus den Hornwerken, sofern sie einen Löwenschrei enthielten, die Figur mit dem Argument zu entfernen, es sei „unvernünftig“, einen Löwen in ein Fenster zu legen. Dann war man plötzlich „genial“, was immer man darunter verstand. Was in der Wissenschaft diskutiert wurde, landete entsprechend deformiert auf den Straßen. Vorstellungen atmete man wie die Luft, die einen umgab. Sie wurden zur Mode und im Munde des kleinen Mannes töricht genug. Und nun war man „fortschrittlich“ geworden, weil auch die Kunstvorgänge einem Entwicklungsvorgang unterworfen waren, den es zu erkennen, abzuleiten und zu begründen galt. In dieser Form war Hegels Geschichtsphilosophie als Entwicklungsgeschichte zu Anfang der vierziger Jahre angekommen. Eine kritische Kapazität wie Eduard Krüger gehörte zu denen, die verstanden, worum es ging. Sein Aufsatz 1842 in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ ist als Deutung der damaligen Geschehnisse grundlegend gewesen und öffnete den Blick für die Zusammenhänge zwischen Hegels Philosophie und dem Zwang, nach dem im Anschluß an Jacobi und Gottlob Ernst Schulze bestrittenen „Ding an sich“ die philosophische Klärung für die künftige Wertung künstlerischer Erscheinungen in ein System zu bringen. In diesem Sinne übernahm Brendel Schumanns Erbe und führte es als Kulturgeschichte weiter, während der Fortschrittsbegriff fast zur selben Zeit in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ ins Plakative umschlug. Das von der Systematik her bedingte Überwiegen des Geistigen vor dem Realen, in den vorrevolutionären Utopien des 18. Jahrhunderts schon erkennbar, machte den Weg für die Ideologien frei, die sich nach 1850 in allen Bereichen sowohl des privaten wie des öffentlichen Lebens Bahn brachen und dort, wo sie politisch wurden, in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts einmündeten. (1) (2) (3) (4)

AmZ XXV, Sp. 831; Korrespondenzbericht „Paris, im November 1823“, AmZ XXV/50, 10.12.1823, Sp. 829–830; Cae IX./36 ab Dezember 1828, S. 208–216; Im 1. Heft des 1. Bandes der „Caecilia“ brachte Gottfried Weber auf S. 16 ein HandschriftenFaksimile von Webers Wahlspruch; (5) s. Kapitel 6, Abschnitt 6 (Definitionsprobleme); (6) Albrecht Riethmüller: Zur Stellung der Musik in Hegels klassizistischer Ästhetik, in: Klassik als Norm – Norm als Klassik. Kultureller Wandel als Suche nach funktionaler Vollendung, herausg. v. Tobias Leuker und Christian Pietsch, Aschendorff Verlag Münster 2016, S. 213–

44

1. Kapitel: Philosophische Grundlegung

229; bei Riethmüller finden sich mehrere graphische Darstellungen zur Hegelschen Einteilung der Epochen und der unterschiedlichen Künste; (7) s. Kapitel. 10, Abschnitt 2a (Vorspiel Krüger).

6. SCHOPENHAUER/NIETZSCHE Schopenhauer hat sich selbst als Ende des deutschen Idealismus gesehen. Eine andere Lehrmeinung spricht diese Rolle Nietzsche zu. Für die Systemgeschichte der deutschen Musikkritik ist die Frage belanglos. Schopenhauers Wirkung setzt erst um 1852 von England aus in Deutschland ein, diejenige Nietzsches noch später. Zu diesem Zeitpunkt ist der Bewußtwerdungsprozeß der Musikkritik abgeschlossen. Die Namen Schopenhauer und Nietzsche tauchen in den Systematisierungen und Methodenüberlegungen nicht auf, werden aber in der angewandten Musikkritik der zweiten Jahrhunderthälfte mit bestimmend, Nietzsche vor allem im Zusammenhang mit den polemischen Auseinandersetzungen um Richard Wagner. Wagner suchte sich Schopenhauer zu nähern. Der aber, obwohl philosophischer Gegner von Hegel, war wie dieser Rossinianer und gleichzeitig Mozartianer, lehnte selbst Gluck ab und entzog sich damit jedem ernsthaften Versuch, ihn in die künstlerische Realität seiner eigenen Zeit einzubinden.

2. KAPITEL: DIE GESCHMACKSKRITIK 1. ZUR SYSTEMLAGE. KANT – MICHAELIS – REICHARDT – JACOBI a) Kant – Michaelis Nächst Kant, der die Grundlagen legte, sind Michaelis und Reichardt Schlüsselgestalten der Geschmacks- und Genie-Auseinandersetzungen, während Jacobi, unbeeindruckt von der Zwangslage, die Kantschen Vorstellungen zugunsten der Musikbetrachtung uminterpretieren zu müssen, das ungern gesehene Gegengewicht bildete. Michaelis hat im Abstand von fünf Jahren, 1795 und 1800, zweimal Kants Kritik der Urteilskraft unter dem Oberbegriff „Ueber den Geist der Tonkunst“ kommentiert. Daß die erste Ausgabe eine liebevolle Widmung an den damals in Giebichenstein bei Halle lebenden Reichardt trägt, die zweite darauf verzichtet, ohne einen anderen Widmungsträger einzusetzen, dürfte politische und menschliche Gründe gehabt haben. Michaelis, trotz allen philosophischen Genies lebenslang vergeblich auf der Suche nach einer Professorenstelle, war durch seine Freundschaft mit Fichte wider Willen in den Atheismus-Streit hineingezogen worden und hatte Schwierigkeiten übergenug bekommen. Sich neuerlich zu Reichardt zu bekennen, der allen revolutionären Gräueltaten zum Trotz unbelehrbarer Jakobiner blieb, wäre mit Sicherheit zu viel gewesen. Michaelis und Reichardt eint die Vorstellung von Musik als Sprache des Gefühls, die begrifflich (gedanklich) nicht in ein verbindliches System überführt werden kann. Musik übt Gewalt über das Herz aus, ohne dabei die Denkkraft zu beschäftigen. „Weil aber Empfinden uns leichter, und daher angenehmer, als Denken ist; so gewährt uns die Musik noch mehr eigentlichen unmittelbaren Genuß als die Poesie“ [II,24]. Michaelis geht weiter. Die Poesie wird durch die Denkgesetze eingeengt, nur in der Musik kann das Gefühl einen regellosen Gang gehen. Was sich in der Musik als Gedankenspiel gibt, ist nur eine zufällige Assoziation unbestimmter Vorstellungen. Deshalb nimmt, nach Michaelis, die Musik unter den schönen Künsten den untersten Platz ein. Während Reichardt Musiker und Journalist ist, ist Michaelis Musiker und Philosoph. Er kann den logischen Folgerungen Kants nicht ausweichen, spürt aber, daß da etwas nicht stimmt, wenn die Musik als Kunst zwar Menschen beherrschen, sie aber gleichzeitig gewissermaßen atavistisch von dem trennen soll, was durch intellektuelles Vermögen erreicht worden ist. Ein Kant konnte Theorien verfolgen, die für Musiker nicht mehr nachvollziehbar waren; ein Michaelis, der alle Voraussetzungen des Berufsmusikers erfüllte, konnte das nicht. Denn wenn die Musik aus Gefühl besteht, läßt sie sich auch nur vom Gefühl her wahrnehmen. Damit erhält man jedoch kein allgemein gültiges Mittel zur Beurteilung von Kunst. Die Vorstellungen von Ge-

46

2. Kapitel: Die Geschmackskritik

schmack und Genie allein tun es nicht. Die Aporie wird gefühlt, aber nicht erkannt, und so beginnt Michaelis mit einem Grenzgang, Kant geschickt, möglicherweise philosophisch sogar falsch, umzudeuten, indem er sich ständig auf ihn beruft, um ins Gegenteil zu gelangen. b) Kant – Reichardt Reichardts Ausweglosigkeit ist eine andere. Er ist der Kronzeuge einer Geschmackskritik schlechthin, ohne sie systematisieren zu können, weil sich, siehe Jacobi, auf Gefühle berufende Aussagen nicht in ein rationales System eingliedern lassen. Reichardt hat Kants Begründung dank seines persönlichen Umgangs mit ihm verinnerlichen können, schwenkt aber scheinbar wieder in ein Vor-Kantsches Denken mit anderen Vorzeichen um. Kants Lehre schloß für die Zukunft gültige apodiktische Kunsturteile aus, führte künstlerische Äußerungen nicht auf Begriffe, sondern auf Geschmack und damit auf eine Qualität zurück, die unter Umständen nur empirisch zu definieren war. Reichardt dagegen übernahm zwar willig die Kantsche Geschmackstheorie, deutete sie aber anders als Kant wieder apodiktisch mit überzeitlichem Verbindlichkeitsanspruch. Das Ergebnis war ein Versanden im Modegeschmack der eigenen Zeit mit einer schließlich schon starrsinnig wirkenden Daseinsverweigerung aller über den Tag hinaus reichenden Erscheinungen. Die Probe aufs Exempel war die Einstellung zu Mozart. Man würde es sich zu einfach machen, wollte man Reichardts Verhalten ausschließlich auf ein Mißverstehen Kants eingrenzen, nur weil er trotz Kants Beweisführung von der Unmöglichkeit in die Zukunft hineinwirkender verbindlicher Kunsturteile seiner eigenen Geschmacksvorstellung nachging und seine Musikkritiken darauf begründete. Die Begegnung des Musikers Reichardt mit dem Philosophen Kant wird zu einem Gedankenaustausch geführt haben. Das entspricht der Lebenswirklichkeit. Reichardt war kein Student unter vielen. Er war eine ernst zu nehmende Persönlichkeit mit eigenen Ansichten, die in seiner Zeit Gültigkeit beanspruchten und nachvollzogen wurden. Reichardt durfte sich tatsächlich auf Kant berufen, weil Kant in die Kritik der Urteilskraft den Begriff vom „sensus communis“ eingeführt hatte. Er wurde noch im 20. Jahrhundert mit unterschiedlichen Deutungsversuchen diskutiert. Unabhängig von dessen sozialer Komponente ließ er sich von Reichardt für seine künstlerisch-kritischen Zwecke nutzen. Kant hatte erklärt, von allgemeiner Schönheit oder allgemeinem Gefallen dürfe man dann sprechen, wenn eine Gruppe von Menschen in der Beurteilung eines fraglichen Gegenstandes übereinstimme. Eine solche in ihrer Meinung übereinstimmende Gruppe gab es zur Reichardt-Zeit. Reichardt war ihr Sprachrohr. Sie sammelte sich unter dem Oberbegriff vom ‚guten‘ Geschmack. Damit widersprach man Kant nicht. Kants Erkenntnis schloß nur die Verbindlichkeit eines solchen Gruppen-Urteils für andere Gruppen oder gar für in der Zukunft entstehende Gruppen aus. Das aber versuchte Reichardt. Dabei war ihm und Carl Spazier das gleichzeitige Gegeneinander unterschiedlicher Geschmacksgruppen bewußt, ohne daß sie für sich selbst daraus die notwendigen Folgerungen gezogen hätten, im Urteilen etwas weniger

2. Geschmack und Regelungsbedarf. Weiler 1811

47

unbedingt aufzutreten. In der „Berlinischen musikalischen Zeitung“ erklärte man (Spazier) den Geschmacksstreit mit den unterschiedlichen Voraussetzungen, unter denen sich beim Einzelnen der Geschmack und das vom Geschmack her gebildete Urteil entwickele(1). (1) [Carl Spazier]: Woher die abweichenden Geschmacksurtheile?, Berlinische musikalische Zeitung I/12. Stück, 27.4.1793, S. 45a–45b.

2. GESCHMACK UND REGELUNGSBEDARF. WEILER 1811 Denn Forderungen, zu einer konkreten Geschmacks-Ästhetik zu gelangen, konnten vom System her nie zufriedenstellend erfüllt werden. Die umfangreichste Arbeit dieser Art ist die von Weiler aus dem Jahr 1811 „Ueber den Begriff der Schönheit als Grundlage einer Aesthetik der Tonkunst“ [II,25]. Seine ästhetischen Vorstellungen leitete Weiler, der in Mannheim lebte, von Kant ab. Weiler erklärte: „Kant umfasste das ganze Gebiet der menschlichen Erkenntnis, wie noch keiner vor und nach ihm“(1). Er beginnt seine Abhandlung mit dem Satz: „Das Urtheil, dass etwas schön sey, entsteht früher, als das Bewusstseyn, was den Begriff der Schönheit ausmache“(1) und verbindet ihn mit einer Schelte der Formalkritik: „Eben so klar ist es, dass die Anwendung harmonischer und rhythmischer Regeln nicht der Zweck einer ästhetischen Bearbeitung seyn könne. Die freye Bewegung des Gemüths, nicht die Beschäftigung des Verstandes mit dem Mechanism, ist ästhetisch. Die Mittel dürfen nicht zum Zwecke erhoben werden. Eine Klippe, an welcher der Geschmack unserer Zeit so leicht scheitert! Rührt es doch daher, dass manche moderne Composition eher dazu dienen könnte, eine Beyspiel-Sammlung technischer Aufgaben zu seyn, als das Gemüth in seinem Innern anzusprechen!“(2) Schönheit wird von ihm als zweckloses Spiel freier Empfindungen bestimmt, um endlich wieder auf der bislang unübersteigbaren Klippe des Geschmacks zu landen. Weiler, der sich Jahre später mit seiner Beethoven-Würdigung Woldemar in den Weg stellen wird, zielt am Problem der Geschmackskritik vorbei, wenn er eine vollständige Theorie des Geschmackes mit dem Ziel fordert, die Gründe zum Urteil frei zu legen. Er will auf diese Weise eine Übersicht darüber gewinnen, nach welchen Regeln ein Geschmacksurteil erfolge. Ein anonymer Dialog fünf Jahre später „De gustibus non est disputandum“ [II,41] hingegen machte beweiskräftig, warum gerade das nicht geht – weil das Geschmacksurteil kein solches mehr wäre, erfolgte es nach Regeln. Trotzdem ging die Weilersche Forderung über den zeitlich späteren Dialog hinaus, weil sie auf einer Begründung für das so und nicht anders abgegebene Urteil bestand und diese Begründung durch Regeln nachvollziehbar gemacht wissen wollte. Bührlen ließ in seinen „Zerstreuten Gedanken über Aesthetiker und Publikum“ von solchen offensichtlich zur Erfolglosigkeit verurteilten Bemühungen ab und stellte nur nüchtern fest: „Über den Geschmack als subjektiven Eindruck, läßt sich freilich mit Keinem streiten, und wem eselgrau besser gefällt als himmelblau, ein Hanswurst besser als ein Apoll, und der Tyroler-Wastel besser als die Zauberflöte,

48

2. Kapitel: Die Geschmackskritik

dem muß man seinen Gusto lassen. Desto mehr unterliegen die Gesetze des Schönen der Untersuchung“(3) [II,379]. (1) AmZ XIII/7, 13.2.1811, Sp. 117–124, Z:117; (2) Weiler, a. a. O. S. 123; (3) Jahrbücher des deutschen Nationalvereins II/28,29, 9., 16.7.1840, S.224a–b, S. 232a–b, Z: 232a.

3. [ZWISCHENTEXT I] DAS MOZARTBILD BIS 1797 a) Standard-Verhalten Dieses Kapitel könnte, was die pressekritische Wahrnehmung anbelangt, ebenso mit „Zum nicht vorhandenen Mozart-Bild des 18. Jahrhunderts“ überschrieben werden. Die öffentlich geäußerten Ansichten des ausgehenden 18. Jahrhunderts über Mozart sind keineswegs erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts untersucht und mit einiger Verwunderung zur Kenntnis genommen worden(1). Bereits 1842 beschäftigte sich Conrad Friedrich Becker in einem (im 20. Jahrhundert offensichtlich unbemerkt gebliebenen) gründlichen Zeitschriften-Aufsatz „Mozart und die Kritiker seiner Zeit“(2) [II,425] mit dem Phänomen des unterschlagenen Mozart und legte dabei die Mangelerscheinungen gerade der Geschmackskritik offen, rühmte aber auch die Leistungen der neuen, von Rochlitz angeführten Musikkritik in der Aufarbeitung bislang vernachlässigter Erscheinungen. Becker ist nicht der einzige, der so verfuhr. Die „Berliner allgemeine musikalische Zeitung“ ging ihm im Zusammenhang mit der eigenen Hochschätzung Mozarts voraus, und Brendel wird ihm mit harschen Worten gegen die Reichardt-Zeit nachfolgen. In der „Neuen Zeitschrift für Musik“ wurden 1838 weitere für Mozart ungünstige Korrespondenzberichte aus Wien und Prag ausgegraben(3) [II,354]. So mühevoll eine Überprüfung des umfänglichen Zeitschriftenmaterials auch immer sein mag, so klärt sie die Zwangslage einer Kritik, der unter Abhebung auf eine sich in der überwiegenden Ein-Mann-Presse-Landschaft der eigenen Zeit festgesetzte Geschmacksrichtung nichts anderes als Schweigen übrig blieb, wenn sie es mit Persönlichkeiten zu tun bekam, die sich sowohl der Rezeptur wie der mit Substanz verwechselten Mode entzogen. Schon eine knappe Zusammenfassung der an anderer Stelle ausführlicher zu behandelnden Mozartkritik des ausgehenden 18. Jahrhunderts spricht für sich selbst. Daß Johann Adam Hiller, der in den Jahren 1767 bis 1770 in Leipzig die „Wöchentlichen Nachrichten und Anmerkungen die Musik betreffend“ herausgab und von dem wir wissen, daß er, wenigstens in seiner späteren Zeit, Mozart schätzte, den Namen Mozart nicht erwähnt, hat keine Beweiskraft, weil der 1756 geborene Mozart, obwohl Wunderkind, dafür noch nicht bekannt genug war. Das gilt nicht mehr für Johann Nicolaus Forkels „Musikalisch-critische Bibliothek“, die, drei dicke Bände stark, 1778 bis 1779 in Gotha erschien, und in der Mozart ebenfalls nicht einmal beiläufig mit Namen vorkommt; denn zu diesem

3. [Zwischentext I] Das Mozartbild bis 1797

49

Zeitpunkt ist Mozart jedenfalls für die Fachwelt und das Publikum als eine außergewöhnliche Erscheinung bekannt und längst erwähnenswert. Erst in seinem 1784 in Leipzig veröffentlichten „Musicalischen Almanach für Deutschland“ findet sich eine kurze Notiz. Ihrzufolge ist „J. G. Wolfgang Mozart ein Tonkünstler in der Erzbischöflichen Capelle zu Salzburg“. Er habe „Six Sonates pour le Clavecin, à Paris 1767, zwei dergleichen Sonaten, London; zwei dergleichen; sechs dergleichen; sechs Trio, zu Amsterdam“ herausgegeben(4). Im dritten Band des Werkes gibt der gelehrte Historiker einige Ergänzungen und weiß jedenfalls den Vornamen zu berichtigen: Mozart heißt nicht J. G. mit Vornamen, sondern J. J., und das Geburtsdatum gibt er richtig an. Er erwähnt einige Reisen und weiß auch um die Oper „Die Entführung aus dem Serail“ – möglicherweise ist ihm Bretzners Angriff auf Mozart bekannt geworden. Wie wenig ihm aber der Name Mozart etwas sagt, beweist der vierte Band von 1789, wo es über den immerhin dreiunddreißigjährigen Mozart nur lakonisch heißt: „J. J. Wolfgang Mozart, seit 1787 Capellmeister in Wien. ‚Die Entführung aus dem Serail‘ ist 1785 gedruckt. Auch sind seit 1784 verschiedene Sinfonien, Quartetten und Sonatensammlungen nebst Concerten fürs Clavier öffentlich bekannt geworden.“ Daß sich mit diesem Urteil ein (nur) journalistisches Zeitverständnis ausdrückt, zeigt Johann Friedrich Reichardt. Reichardt gab seit 1782 in Berlin ein „Musicalisches Kunstmagazin“ heraus. Mozart findet darin keine Erwähnung, auch nicht in den späteren Ausgaben. Dasselbe gilt für den an sich wohlunterrichteten Musikkritiker H. A. Fr. v. Eschstruth. Er redigierte 1784 bis 1785 in Marburg eine „Musicalische Bibliothek“. Auch hier sucht man Mozarts Namen vergeblich. H. Ph. C. Bossler ließ 1788 bis 1792 in Speyer eine „Musikalische Real-Zeitung“ erscheinen. Dort wußte er 1790 über Mozarts großes C-Dur-Quintett nichts anderes als „Grand Quintetto per due Violini, due Viole, Violon, del Signor Mozart, Wien, bei Artaria, – ist mit vielem Fleiss und Geschmack und soweit sich’s durch Gehör beurtheilen lässt, nach den strengen Regeln der Setzkunst gearbeitet“ zu schreiben(5). Das gilt dem Redakteur, der immerhin in einem musikalischen Fachblatt über fünf Jahre hindurch den Namen Mozart etwa ein halbes Dutzend Mal nennt, als ausreichende Kritik. Vergleicht man Bosslers Meinung mit der von Karl-Friedrich Cramer, so kam Mozart dabei noch verhältnismäßig gut weg. Dessen „Magazin der Musik“, 1783 bis 1787 in Hamburg herausgekommen, besteht aus 2800 Seiten; über Mozarts Haydn-Quartette enthalten sie Bemerkungen, die man ein halbes Jahrhundert später bestenfalls nicht mehr nur als Ausdruck von Hilflosigkeit werten kann. „Unser lieber theurer Pleyel befindet sich in Strassburg; besonders bezahlen ihm die Pariser seine Kompositionen ausserordentlich theuer. Mozart hat eine Reise nach Prag angetreten. Schade, daß er sich in seinem künstlerischen Satz, um ein neuer Schöpfer zu werden, zu hoch versteiget, wobei freilich Empfindung und Herz wenig gewinnen. Seine neuen Quartetten für zwei Violinen, Viole und Bass, die er Haydn dedicirt hat, sind doch wohl zu stark gewürzt – und welcher Gaum kann das lange aushalten. Verzeihen Sie dieses Gleichniss aus dem Kochbuche“(6). Weder die formalistische Rezeptkritik noch die gefühlsgetränkte Geschmackskritik konnten einer neuartigen Persönlichkeit wie Mozart auch nur annähernd gerecht werden, kein Wunder, daß sich die neuen Kritiker der Rochlitz-

50

2. Kapitel: Die Geschmackskritik

und Brendelzeit geradezu mit Verachtung über ihre Kollegen der Mozartzeit äußerten. Selbst nach seinem am 5. Dezember 1791 erfolgten Tode blieb Mozart der zeitgenössischen Kritik (der Kritik, nicht dem Publikum) eine weitgehend unbenannte Größe. Der einflußreiche Musikschriftsteller Carl Spazier, „Hochfürstl. Wiedischer Hofrath und ordentliches Mitglied der Churmainzischen Akademie der Wissenschaften“, ließ seit dem 9. Februar 1793 eine eigene Zeitung erscheinen, die „Berlinische musikalische Zeitung / historischen und kritischen Inhalts“, die stark unter Reichardtschem Einfluß stand und im Januar des Folgejahres wieder einging. Der Name Mozart wird siebzehnmal erwähnt, darunter zweimal im Register. Mozart ist für Spazier ein Komponist, der die Qualität seiner eigenen Zeit nicht erreichte und den man, wenn man sich überhaupt mit ihm beschäftigt, mit herabsetzenden, beinahe höhnisch-suffisanten Randbemerkungen abtun möchte. Nicht nur Mozarts Klavierlied „Abendempfindung“ aus dem Jahre 1787 dient dazu als Streitroß: „Wen Stellen, wie diese … nicht in seiner Abendempfindung stören können, der labe sich daran und preise die Kunst!“ Das zitierte Notenbeispiel, zweieinhalb Takte lang, enthält den Text: „So entfliehn des Lebens schönste Stunden – “(7). Der Text erscheint anonym, muß also von Spazier herrühren, weil alle ungezeichneten Artikel auf ihn zurückgehen. Reichardt und Spazier sprechen mit einer Stimme, sie treten geradezu als ‚ein Herz und eine Seele‘ auf. Auch Zelter erhält in ihr einen herausragenden Platz. Im Nachtrag zum 52. Stück, das zum 51. Stück gehört und als Inhaltsverzeichnis ausgelegt ist, wird der von N. Simmrock herausgegebene Klavierauszug der „Zauberflöte“ als Mozarts letzte und beste „Singmusik“ bezeichnet(8). Ein eingesandter Beschwerdeartikel „Zur Ehrenrettung Cramers, als Uebersetzers und Parodisten“(9) bezieht sich auf einen Brief in der Juli-Ausgabe des „Journal des Luxus und der Moden“, den der Einsender verurteilt: „Indessen, dem Verf. des Briefes mag es frey stehen, Charakteristiken von Dittersdorf, Mozart und Martin, als Theatercomponisten, nach seiner Art zu entwerfen und die Klassifikation derselben beym Publikum verantworten“(10). „Was und wie wird doch nicht manchmal in die Welt hinein geurtheilt, und wie weit liebloser fallen doch oft die Husarenhiebe von den Händen der Schriftsteller, als von den zu Kampf und Tod gezückten Fäusten der unerbittlichen Uhlanen! – Ist wohl nicht brav!“(11) Spazier und Reichardt sehen den zunehmenden Erfolg Mozarts und stemmen sich dagegen, und jeder hatte dafür seine eigenen Gründe. Ausgerechnet in seinem Aufsatz „Zum Kapitel der musikal. Vorurtheile“(12) steht für Spazier fest: „M. war ein grosses Genie; allein ist denn alles ohne Ausnahme meisterhaft, was er, oder ‚Pleyel‘ [original kursiv] etc. geschrieben haben? Mozart hatte eigentlich wenig höhere Cultur und wenig, oder vielleicht gar keinen wissenschaftlichen Geschmack; er hat in seinen übrigens originalen Theaterstücken zuweilen ganz den ‚Effekt‘ [original kursiv], die Hauptsache des Theaters, verfehlt; und was nun gar die wahre Bearbeitung des Textes betrifft, so stehe der auf, der ‚mit Gründen‘ [original kursiv] sagen kann, dass er den Text durchaus ‚richtig‘ [original kursiv] zu behandeln verstanden und dass seine Musik sich immer der Poesie so beigeselle, dass diese nicht wider ihn aufstehen und ihn beim Richtstuhl der Kritik verklagen könnte“(13).

3. [Zwischentext I] Das Mozartbild bis 1797

51

In der Ausgabe vom 22. Juni 1793 „Mozart auf dem Operntheater in Paris“ berichtet ein Korrespondent über die verunglückte Pariser Opernaufführung der „Heirath des Figaro“ und zählt Mozart „unter die allervorzüglichsten deutschen Componisten“(14). Spazier kann das nicht stehen lassen. Er setzt eine berichtigende Anmerkung unter den Text: „dass viele sehr gesuchte und überladne Sätze zu langsam vorgetragen wurden“(15). Die Nr. 37 enthält einen anonymen, von Spazier verfaßten Aufsatz „Ueber Modekomponisten“(16). Mozart wird als Modekomponist bezeichnet und in eine Reihe mit Pleyel gestellt. „Zu welchen Ungerechtigkeiten kann also nicht das Vertheidigen der Mode in der Musik verleiten! ‚Mozart‘ [original kursiv] z. B. gebührt Verehrung, allerdings; er war ein grosses Genie, und hat mitunter vortreffliche Sachen geschrieben, siehe seine Zauberflöte, einige seiner Ouvertüren und Quartetts. Aber das ‚Gemozarte‘ [original kursiv] hat jetzt schier kein Ende. Man sehe nur in Concerts [original], wie sich die Köpfchen der Damen wiegen, wie Mohnköpfe auf leichtem Stengel, wenn das poetisch unsinnige Ding gesungen wird: Mann und Weib, und Weib und Mann (macht netto 4) Reichen an die Gottheit an (! !)“ Spazier tröstet sich: „Nur Geduld! Die Zeit wird schon sichten und läutern und aufbehalten, was des Aufbehaltens werth ist“(17). Denn das Publikum ist „verwöhnt“, fühlt das „Schöne“ nicht, ist „recht frivol“, ist „zu unwissend, zu ungebildet“, zu sehr an „Klimpereien gewöhnt“, erkennt nicht „die Be- // strebungen des wahren Künstlers“. Als Spazier im Januar 1794 seine Zeitung aus Mangel an Teilnahme eingehen lassen muß, wünscht er seinem Nachfolger als Zeitungsmacher Glück. Alle Reichardtschen Versuche scheitern aus denselben Gründen, die auch Spazier nicht haben überleben lassen. Deren Geschmacksvorstellungen gehören einer überholten Zeit an. Der Nachfolger wird Rochlitz sein. Er erkennt die historische Bedeutung Mozarts, er erkennt die Realität einer bereits bestehenden Mozartbegeisterung beim Publikum und bei den Fachleuten, und er setzt mit seiner drei Jahre später beginnenden Zeitung auf das, was Spazier Mode nannte, und was doch mit Spaziers eigenen Worten, aber anders, als er sie verstand, „des Aufbehaltens werth ist“, und er geht einem einzigartigen journalistischen Erfolg entgegen. b) Reichardts musikkritische Vorstellungen Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ druckte 1831 Reichardts Vorstellungen über Musikkritik nach: „Andeutungen über musikalische Kritik von Joh. Fr. Reichardt. / Ein Wort zu seiner Zeit“(18) [II,267]. Es sind überzeugende und, wie meistens bei solchen Erklärungen, unbestimmt bleibende wohlklingende Worte, denen man das reale Versagen des Autors angesichts der bedeutenden Zeiterscheinungen gegenüberstellen muß. Die Kritik „soll die verschiedenen Genre’s in der Kunst genau scheiden und auf ihre Reinheit halten, ohne an den Werken des Genie’s und heitern Talents mit pedantischer Aengstlichkeit ekle Mäkeley zu treiben“, versteht sich „in den Augen, oder vielmehr vor dem Sinne des gebildeten Kenners.“ Die Kritik „soll aber jedem Kunstprodukt den ihm zukommenden Grad der Achtung anweisen, nicht drüber und nicht drunter, damit jedes nach seinem wahren Werthe

52

2. Kapitel: Die Geschmackskritik

gelte, dem Künstler Gerechtigkeit und dem Kunstfreunde Belehrung werde.“ Die „scharfe Geissel werde nur da ergriffen, wo es Noth thut, den Pöbel auseinander zu treiben, damit die edle Herzerfreuerin heiter und freyer einherschreiten kann.“ Der eigentlich nichtssagende, weil alles in der Schwebe haltende Text paßte zur Finkschen Redaktion. Reichardt müßte erklären, wann, wie und wo es Not tut, er müßte erklären, wen oder was er mit Pöbel meint, mit dem „gebildeten Kenner“, dem „wahren Werth“, der Gerechtigkeit dem Künstler gegenüber, und woher er die Legitimation nimmt, eine Geißel zu schwingen. Reichardt könnte sich auf eine solche Frage nur mit seinem eigenen Geschmack rechtfertigen, sofern er sich überhaupt rechtfertigen muß, und würde sich als Kant-Schüler ins Abseits stellen, weil ein Geschmacksurteil nach Kant keine in die Zukunft hinein verbindliche Bedeutung hat. c) Reichardt – Kunzen Eigentlich gibt es nur eine einzige Stelle im Schrifttum der Kritik des 18. Jahrhunderts, die sich überzeugend warmherzig über Mozart äußerte. Sie findet sich im 1. Jahrgang des seit dem 1. Oktober 1791 von Johann Friedrich Reichardt und Friedrich Ludwig E[Ä]milius Kunzen bis 1793 herausgegebenen „Musicalischen Wochenblatte“ und beschäftigt sich mit der Berliner Erstaufführung des „Don Giovanni“ vom 12. Oktober 1791. Vom Umfang her ergäbe sie im heutigen normalen Satz etwa 40 Zeilen. Daß sie ein Regiefehler war, zeigt die Durchsicht der weiteren Mozartkritiken im Wochenblatt. Abgesehen davon, daß Mozarts Namen, wie in den anderen Blättern auch, nur ganz selten auftaucht, und Opern wie „Titus“ und „Zauberflöte“ schlecht besprochen und kurz abgetan werden, wissen Reichardt und Kunzen nicht einmal den Hauptnamen Mozarts richtig zu schreiben – aus Mozart wird Mozard. Und zu allem Überfluß wird sogar das freundliche Urteil von ehedem geradezu offiziell widerrufen. Es heißt dazu: „Das obige Urtheil über Mozards Don Juan ist höchst übertrieben und einseitig. Niemand wird Mozard, den Mann von großen Talenten und den erfahrenen, reichhaltigen und angenehmen Komponisten verkennen. Noch haben wir ihn aber von keinem gründlichen Kenner der Kunst für einen korrekten viel weniger vollendeten Künstler halten sehn, noch weniger wird ihn der geschmackvolle Kritiker für einen in Beziehung auf Poesie richtigen und feinen Komponisten halten.“ Diese Kritik, mag sie nun von Reichardt oder Kunzen selbst oder von sonst jemandem anders stammen, ist deckungsgleich mit der Gesamtvorstellung der schreibenden oder, vorsichtiger ausgedrückt, der erlaubtermaßen schreibenden Öffentlichkeit über Mozart schlechthin. Sie hätte nie erscheinen können, wenn die beiden Herausgeber [beide zu ihrer Zeit berühmt] nicht damit einverstanden gewesen wären, schließlich war mit ihr ja nicht nur das negative Urteil über Mozart verfestigt, sondern die einzige zeitgenössisch-freundliche Stimme ausdrücklich ins Abseits gestellt worden. Es zeigt im Übrigen, wie schwer und wie existenzgefährdend es damals gewesen ist, eine deutsche Oper ins Leben rufen zu wollen.

3. [Zwischentext I] Das Mozartbild bis 1797

53

d) Bretzner-Zwischenspiel Der Protest (eigentlich sind es zwei) des erfolgreichen, weil mit einem ausgeprägten Gespür für modische Tendenzen ausgestatteten Leipziger Lustspieldichters, Romanschriftstellers, Tragödienschreibers und Kaufmanns Christian Friedrich Bretzner (1748–1807) aus den Jahren 1782 und 1783, der (zu Unrecht) als Kuriositätenbeitrag in die größeren Mozartdarstellungen Eingang gefunden hat, ist nicht musikkritisch zu verstehen, bezeugt aber das Ausmaß des Unbekanntheitsgrades von Mozart in der literarischen Gesellschaft Leipzigs. „Ein gewisser Mensch Namens Mozart in Wien hat sich erdreistet, mein Drama „Belmonte und Constanze“ zu einem Operntexte zu missbrauchen. Ich protestiere hiermit feierlichst gegen diesen Eingriff in meine Rechte und behalte mir weiteres vor. / Christoph Friedrich Bretzner, Verfasser des Räuschchens.“ Dieser Text aus dem Jahre 1782, den Hermann Abert(19) nach Quelle bei Wurzbach wiedergibt, hat keinen musikkritischen Inhalt. Bretzner konnte aus Prestigewie aus Honorar-Gründen nicht daran interessiert sein, daß andere, hier Gottlob Christian Stephanie und Mozart selbst, sein Stück umänderten und als Vorgabe für eine (neue) Komposition benutzten, ohne ihn zu fragen. Um nichts anderes ging es. Das zeigt auch der zweite Protest, der 1783 im sechsten Jahrgang der Berliner „Litteratur- und Theater-Zeitung“(20) auf den Seiten 398 bis 400 erschien. Vermutlich war dieser Protest das, was Bretzner zuvor als das vorbehaltene „Weitere“ angekündigt hatte. Schließlich brauchte er für seine Kollationierung einige Zeit, und rechtliche Handhabe hatte er im deutschsprachigen Raum damals ohnehin nicht. „Nachricht. / Es hat einem Ungenannten in Wien beliebt, meine / Oper: Belmont und Constanze oder die Entführung aus / dem Serail, fürs K. K. Nationaltheater umzuarbeiten, / und das Stück unter dieser veränderten Gestalt drucken / zu lassen. Da die Veränderungen im Dialog nicht be- / trächtlich sind, so übergehe ich solches gänzlich; allein der / Umarbeiter hat zugleich eine Menge Gesänge eingeschoben, / in welchen gar herzbrechende und erbauliche Verslein vor- / kommen. Ich möchte den Verbesserer nicht gerne um / den Ruhm seiner Arbeit bringen, daher sehe ich mich / genöthiget, die von ihm eingeschobnen Gesänge nach der / Wiener Ausgabe und Mozarts Komposizion hier zu spe- / zifiziren:“ Es folgen auf S. 399 eine Liste von 13 Einschüben und danach auf den Seiten 399 bis 400 Textproben aus dem Stephanie-Buch, die beweisen sollen, daß man seinen Text verschlimmbessert habe. Bretzner schließt mit seinem Fazit: „Das heiß ich verbessern! / Leipzig den 27. April 1783.“ Moralisch war Bretzner im Recht, ob auch literarisch steht hier nicht zur Frage. Über Musik wird kein Wort verloren. Die Darstellung ist im Hinblick auf die Empörung, die ihn erfüllt haben muß, sachlich zu nennen. Augenscheinlich hat er sich bei Gelegenheit seines Vergleiches auch über Mozart erkundigt. Jedenfalls fehlt jetzt jedes herabwürdigende Wort über den ehemals „gewissen Menschen“ aus Wien. Wir wissen, daß Bretzner in späterer Zeit Mozart geschätzt hat.

54

2. Kapitel: Die Geschmackskritik

e) Reichardt 1805 Reichardt ist bei seinem Mozartverständnis geblieben. In seiner „Berlinischen Musikalischen Zeitung“ erschien (anonym) ein Bericht über Berliner MessiasAufführungen vom 16., 23., und 30. Dezember 1804(21). Reichardt kommentierte mit einer Anmerkung: „*) In einem der Aprilstücke der jenaischen allgemeinen Litteraturzeitung findet sich eine gedachte und inhaltreiche Recension von der Mozardschen Ausgabe des Händelschen Messias, die manche von einem Manne, wie Mozard, unbegreifliche Unschicklichkeit bei Anbringung der Blasinstrumente rügt, es rühmlich aber in dem edlen und bescheidnen Tone thut, in welchen von wahren großen Meistern überall, selbst wenn es ihre Verirrungen gilt, gesprochen werden sollte. Man hat diese Recension häufig dem Schreiber dieser Note zugeschrieben; sie ist indessen eben so wenig von ihm, als manche andre Beurtheilung von Mozardschen Werken, über die man ihn seit mehreren Jahren, und, wie er von andern hört, wieder neuerlich mit pöbelhafter Wuth angefallen hat. Daß er es nicht der Mühe werth hielt, jenen Schreiern zuzurufen, wie sehr sie sich in seiner Person und in der Ansicht jener Recensionen irrten, wird jeder vernünftige Leser wohl natürlich und angemessen finden. Hier möchte aber wohl mancher glauben, er lehne jene tadelnde Anzeige nur von sich ab, um nicht weiter die Hetze hinter sich her zu ziehen. Deshalb setzt er gerne hinzu, daß er hoffen darf, seinen Lesern über eben diese Mozardsche Ausgabe einen noch tiefer eingreifenden Aufsatz vorlegen zu können, von einem Manne, der mit ihm schon oft und auch diesmahl gleiche Ehre // und gleichen Schimpf (s’il-y-en a) theilte. Beide sind auch sehr einstimmig der Meinung, daß, so groß der Meister auch immer sey, nur knechtischen Jüngern der Glaube an seine Unfehlbarkeit Bedürfniß ist. Diesen ist er denn auch nur ein Götze, dem sie in eben dem Sinne dienen, mit dem die Israeliten das goldne Kalb anbeteten. Wüßten die Armseligen nur, wie wenig dem großen Künstler selbst mit solchem Götzendienst gedient ist! A. d. H.“(22). Die Reichardtsche Fußnote läßt das Gegenteil von dem erkennen, was sich Reichardt davon versprach. Sein Vorablob von Mozart als dem „großen“ Meister ist für ihn eine im Anfang des Jahres 1805 notwendig gewordene Pflichtübung, um sich nicht ganz aus der Reihe zu stellen. In Wirklichkeit ist er weder davon überzeugt noch hat er etwas dazu gelernt. Schon daß er die maniriert falsche und inzwischen längst verbesserte Schreibweise „Mozard“ beibehält, gibt Aufschluß über seine Unbelehrbarkeit; die Gereiztheit des Tons, von pöbelhaften Angriffen und Hetze zu sprechen, wenn man Urteilen entgegen tritt, denen er nachweislich nie widersprochen hat, setzt ihn ins Unrecht; Mozart mit dem goldenen Kalb der Juden zu vergleichen, um das die Anhänger eines neuen Mozartbildes als Götzendiener herumspringen, zeigt, wie weit er zurückgeblieben ist. Außer der allgemeinen Phraseologie vom „großen“ Meister hat sich Reichardt, wenn er sich überhaupt über „Mozard“ äußerte, bestenfalls kritisch mit negativer Tendenz geäußert. Die Ankündigung in der Fußnote, die Händel-Instrumentierung Mozarts bald einer neuerlichen Untersuchung zu unterziehen beziehungsweise unterziehen zu lassen, machte er wahr. Sie erschien, mit „Z.“ (Zelter?) signiert, als zweiteilige Rezension der Breitkopf-Ausgabe in den Nummern 11 und 12 jeweils als Kopfartikel(23).

3. [Zwischentext I] Das Mozartbild bis 1797

55

Man würde Reichardt Unrecht tun, wollte man seine Bedeutung für die Musikgeschichte unterschlagen und ihn ausschließlich von seiner Mozartabneigung aus begreifen, bei der mit Sicherheit seine berechtigte Konkurrenzangst mitgespielt hat. Mit den Augen seiner Zeit gesehen war er als Komponist, Theoretiker und Meinungsmacher ein selbständiger Charakter mit erheblichem zeitgenössischen Einfluß, aber auch mit wirkenden Ideen. Er stand mit allen namhaften Persönlichkeiten seiner Zeit in Verbindung. Sein späterer Aufenthalt in Giebichenstein (heute ein Stadtteil von Halle), wo er eine schon damals berühmte und heute noch erhaltene Gartenanlage errichtete, wurde zu einem geistigen Zentrum. Anders wäre sein Einfluß auf Goethe auch nicht zu verstehen(24). f) Schaul Das Geburtsdatum von Johann Baptist Schaul steht offensichtlich nicht fest. Gesichert ist, daß er um 1809 Württembergischer Hofmusikus war und am 23. August 1822 in Karlsruhe starb. Schaul wurde durch seine „Briefe über den Geschmack in der Musik“ mehr berüchtigt als berühmt. Sie erschienen 389 Seiten stark im Oktavformat 1809 bei Macklot in Karlsruhe und erhielten von Carl Maria von Weber wegen Schauls Äußerungen über Mozart einen negativen Kommentar: „Wir sind weit entfernt, Herrn Schaul widerlegen zu wollen; denn das hiesse, der Welt jetzt beweisen wollen, dass eine Sonne existiere; so sehr widerlegt sich sein Buch selbst.“ Weber war es auch, der Schauls Plagiat offenlegte. Nach Weber hat Schaul aus Gerbers Tonkünstler-Lexikon 20 Seiten abgeschrieben, obwohl er sich rühmte, Gerber nicht benutzt zu haben. Da Schaul sich selbst so gelobt habe, schreibt Weber, brauche er, Weber, es nicht zu tun „und hierauf in Mozarts Namen – Amen“(25). Schauls Arbeit ist eine Übersetzung der drei Jahre zuvor bei Wilmans in Frankfurt am Main herausgekommenen italienischen Ausgabe „Conversazioni istrutive all’uso degli Amanti della lingua e litteratura italiana“ und deutet schon mit dem Titel an, in welche Richtung der Verfasser denkt. Schauls Buch „Ueber Tonkunst, die berühmtesten Tonkünstler und ihre Werke“, Karlsruhe 1818, gilt als zweite Auflage. Nissen hat in seiner Mozartbiographie das Urteil des seiner Zeit als Musikgelehrter zunächst angesehenen Schaul zur Kenntnis gebracht. Die „Neue Berliner Musikzeitung“ griff im April 1847 kuriositätshalber darauf zurück(26) [II,717]. Schaul, der sich vor allem an „Titus“, aber auch an der „Zauberflöte“ reibt, zieht die Schlußfolgerung, Mozart habe künstlerisch so gut wie alles falsch gemacht. Schauls umfangreiche Kritik zu Gunsten der Italiener (Jomelli, Boccherini) ist deshalb bemerkenswert, weil sie auf die nach Schauls Meinung grundsätzlichen technischen Mängel der Mozartschen Schreibweise eingeht und sie punktuell mit Beispielen belegt. Die Melodiebegleitung der Singstimmen bestehe bei Mozart überwiegend aus Nachahmungen, die Instrumentalbegleitung spreche eine andere Sprache als die Singstimme, der Gesang werde vom Orchester überdeckt, die Partien seien zu schwer geschrieben, es unterliefen zu viele Trivialitäten (die Arie „Das Bildnis ist bezaubernd schön“ bezeichnet Schaul als Gassenhauer), die Musik sei bis auf we-

56

2. Kapitel: Die Geschmackskritik

nige Stücke so trocken und langweilig, daß man eher an einen Anfänger als an einen reifen Meister denken sollte. Angeblich nach den Worten eines in Italien nach Schaul hoch angesehenen Italieners, dessen Name nicht genannt wird, leuchteten nur in den ernsthaften Arien hie und da einige Genieblitze auf, die zeigten, was aus Mozart bei einer besseren Leitung hätte werden können. Die Streichquartette seien überladen, die Harmonik rauh, die Melodik nicht selten gezwungen und schleppend. „Das Wenige, was mir die Italiener geben, macht mir mehr Vergnügen, als alle Reichthümer der Deutschen, weil das Wenige zu Herzen geht, hingegen jener Reichthum Nichts.“ Die Zeitgenossen haben die Auflage 1818 sofort und zwar mit Hohn aufgenommen, wie die Hinweise in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ zeigen. Jahn und Abert setzten sich mit Schaul auseinander(27). In beiden Fällen geht es um Mozarts letzte Oper „Titus“, die auch bei Mozartverehrern damals wie heute nicht auf unbedingte Zustimmung stößt. Die schärfsten, nach Abert sachlich nicht unbegründeten Urteile kamen 1796 aus Berlin. Man hat sie Reichardt zugeschrieben, der sich 1805 gegen diese Zuordnung allerdings heftig verwahrte. Zur Jahrhundertmitte hin wurde es ein Spiel eigener Art, andere Blätter, vor allem auch ausländische, auf inzwischen als belustigend empfundene Äußerungen über die Klassiker abzusuchen. Man ward dabei vielfach fündig. So dokumentierte die „Berliner musikalische Zeitung“ eine französische Stimme, die noch 1845 dem 2. Akt von Mozarts „Figaro“ „Kälte“, „mangelnde Theatralik“ und „Unsangbarkeit“ bescheinigte und als Gegenbeispiel die Opern von Adam, Halévy und Thomas empfahl [II,537]. Pikanterweise war der Kritiker gleichzeitig der Verleger der drei genannten französischen Komponisten(28). Aber auch ohne kritische oder polemische Absicht und ohne Berufung auf die ganz großen Namen holte man Berichte über Künstler hervor, die ein halbes Jahrhundert vorher geschrieben worden waren(29) [II,462]. g) Nachbereitung Geht man von den Vorstellungen der Modekomposition und der Italienereuphorie jener Jahre aus, sind diese und ähnliche Urteile nicht einmal unrichtig gewesen. Sie werden erst in dem Augenblick falsch, in dem die Gedankenwelt, aus der sie hervorgegangen sind, als modisch drittklassig und somit als nicht mehr wesentlich selbst in die Kritik gerät. In dem Maße, in dem die Spielwelten der Reichardt, Spazier und Kunzen als raumgreifende Erscheinungen nach unserer heutigen Meinung gesellschaftlicher Oberflächlichkeit durch andere, ebenfalls wieder Modeerscheinungen, ihre Entfernung erfahren, wird der verworfene Baustein zum neuen Eckstein. Fehlerhafte Urteile über Gegenstände einer Kultur hat es immer gegeben und wird es immer geben – entscheidend ist allein, wie weit sich eine herrschende Struktur so zu verfestigen weiß, daß sie für Fremdmeinungen keinen Raum mehr läßt. Im ausgehenden 18. Jahrhundert war das in Bezug auf Mozart der Fall, kein Wunder, daß die unter ganz anderen Voraussetzungen im neuen Jahrhundert auftretenden Kritiker nicht nur Mozart rehabilitierten, sondern ihren Vorgängern jegliches

3. [Zwischentext I] Das Mozartbild bis 1797

57

kritische Bewußtsein absprachen, sie später sogar als „Dummköpfe“ bezeichneten. Diesmal standen Künstler- und Hörerschaft auf der anderen Seite, und alle Versuche Reichardts, journalistisch am Leben zu bleiben, scheiterten. Reichardt nahm den Ruhm mit, den periodischen Musikjournalismus begründet zu haben – das war auf diesem Feld aber auch alles. Was er künstlerisch und musikkritisch verkörperte, wurde nicht mehr ernst genommen. Mit Artikeln wie „Etwas über gerechte und billige Würdigung musikalischer Talente“ [II,13] oder „Ueber das öffentliche Loben und Tadeln junger musikalischen(30) Talente“ [II,16] mit einem Druck- oder orthographischen Fehler gleich im Titel, die 1805 beziehungsweise 1806 in der „Berlinischen Musikalischen Zeitung“ erschienen, war wenig anzufangen(31). Da hebt die eine Sentenz die andere wieder auf, Selbstverständlichkeiten werden als Weisheit ausgesprochen und am Ende bleibt nichts als die Mahnung übrig, gute Leistungen oder Talente gut und schlechte Leistungen oder Talente je nach Sachlage abgestuft zu besprechen. Das ist genau der Artikel-Typ, der Jahrzehnte später die „Allgemeine musikalische Zeitung“ unter Fink mit ihrer postulierten ‚Unpartheylichkeit‘ in Verruf bringt. Reichardts Blätter schrieben an der neuen Zeit feindlich oder doch wenigstens verständnislos vorbei und gingen ein. In Ungnade fiel er auch bei Goethe, der Reichardt einstmals über alles geschätzt hatte, selbst aber mit Beethoven nicht viel anzufangen wußte und sich zu Mozart erst in späterer Zeit mit bedauerndem Wunsch äußerte, von ihm den „Faust“ vertont zu sehen, weil seiner Meinung nach das Hintergründige und Satanische im „Faust“ von Mozart besonders gut hätte ausgedrückt werden können. Meinte er etwa, von Reichardt beeinflußt und nach der Mode der gelehrten Männer jener Zeit, weil Mozart so schön Lärm zu machen verstand? h) Wertung aus Enkel-Sicht Nach 1800 begann man damit, sich über ältere Kritiker und ältere Kritiken lustig zu machen. Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ lieferte 1809 eine Probe und nannte sie „lächerlich“(32) [II,23]. Es geht um Sätze wie „In dem Osterstücke hatte er die Worte: ‚Er starb:‘ mit der Septima diminuta, 6ta und 5ta minor, sehr beweglich, und im Gegentheil die Worte …“ Um 1809 ist die Figurenlehre verschüttet. Daß der Komponist eine septima deficiens statt einer quarta deficiens benutzt und damit und an anderen Stellen gezeigt hat, das musikrhetorische Handwerk zu kennen, ist dem vorgeführten, für die Frankfurter „Oberpostamts-Zeitung“ schreibenden anonymen Wittenberger Berichterstatter offensichtlich noch bewußt gewesen, und sein Publikum war augenscheinlich gebildet genug, seinen technischen Stil zu verstehen – unmöglich für Kritiker und ihr Publikum nach 1800, denen es, sofern sie nicht formalkritisch im Sinne der objektiven Kritik des 18. Jahrhunderts orientiert waren, immer noch um Genie, Gefühl und Geschmack ging. Die Enkel- und Urenkel-Generation kannte keine situationsgeschichtliche Gerechtigkeit. Außerhalb der Zeitzone angesiedelt sah sie nur die Fehlurteile, aber nicht die Ursachen oder die Gründe, wie und warum sie in dieser Form zustande gekommen waren. Wie hieß es 1814 in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“:

58

2. Kapitel: Die Geschmackskritik

Alle großen Geister stünden über ihrer Zeit und würden daher auch nur von Einzelnen begriffen. „Doch das eben ist das Eigene wirklich genialer Naturen, dass sie sich durch die Urtheile anderer nicht bestimmen lassen“(33) [II,31]. In späterer Zeit hielt man der Reichardtschen Zeitung nicht nur ihre Mozartkritiken vor, sondern grub auch andere an der Sache vorbeigehende Urteile aus, in denen man nur noch Kuriositäten erblickte, darunter eine verfehlte Beethoven-Kritik aus dem Jahre 1805 über die „Adelaide“(34) [II,438]. Nicht immer war die Kritik der Kritik überzeugend. Demselben Nägeli, der mit seinen Normen der Musikkritik einiges Aufsehen erregte, wurden 20 Jahre später „Merkwürdige Sentenzen und Redensarten“ vorgeworfen. Nägeli hatte 1826 bei Cotta in Stuttgart seine Vorlesungen erscheinen lassen. Daraus zitierte die „Münchner Musikzeitung“ einen Passus mit Nägelis Feststellung, es seien größtenteils Dilettanten und nicht Leute vom Fach gewesen, die das kritische Schicksal bestimmt hätten. Mattheson sei hauptberuflich Gesandtschaftssekretär gewesen, Marpurg Kriegsrat, Rochlitz Belletrist, Gottfried Weber Jurist. Die „Münchner Musikzeitung“ stellt die rhetorisch gemeinte Frage, wer das geschrieben habe, und sie antwortet: „Hans Georg Nägeli, ein Musikalien-Verleger und Leihbibliothek Inhaber zu Zürich in der Schweiz“(35) [II,226]. Sie schreibt allerdings nichts davon, daß Nägelis Feststellungen in einem bestimmten Zusammenhang erfolgten und für sich allein genommen richtig sind. Natürlich darf der Rückblick auf Schaul nicht fehlen, der Haydns Urteil über Mozart kannte und verwarf und am Ende seines Buches die Meinung vertrat, jeder Barbiergeselle aus Bologna, Rom oder Venedig sei in der Lage, in Deutschland den ersten Sänger abzugeben(36) [II,64]. In Gottfried Webers „Caecilia“ erschienen 1825 als kleiner Beitrag „Reflexionen“ von C. Fr. Ebers. Da heißt es über Beethoven: „Als Beethovens Sinfonie Adur in X. zum ersten Mal gehört wurde entstanden Meynungen und Urtheile von allen Seiten. Einige meinten, es müsse wohl bei Beethoven übergeschnappt haben; Andere sagten, er habe in dieser Sinfonie den Zeitgeist schildern wollen, und wieder Andere fanden in dem letzten Satze ein Narrenhaus, wo die Verrückten sich herumbalgen.“(37) [II,136]. Was dann als des Verfassers eigene Meinung folgt, ist die schönste inhaltshermeneutisch-programmusikalische Auslegung, die eine Marie Schlesinger-Stephani oder Laura Rappoldi-Kahrer ein dreiviertel Jahrhundert später auch nicht besser hätten erfinden können. Ebers schließt geradezu treuherzig: „… und es würde erfreulich seyn, wenn es dem grossen Meister gefallen wollte, dieses sein Prachtwerk zu zergliedern.“ Verständnis fanden die Altvorderen ausgerechnet in einem Blatt, das sich nicht halten konnte, nämlich in der „Musikalischen Eilpost“, an der vor allem Lobe tätig war. Die musikkritischen Probleme der Zeit sind nach Ansicht eines anonym veröffentlichten Berichtes „Excerpte“ heute wie damals dieselben gewesen. Des Autors Gedanken laufen auf eine Verteidigung oder wenigstens ein Verstehen der historischen Fehlurteile hinaus(38) [II,175]. „Hätten wir aber in der damaligen Gegenwart gelebt, so würden wir, gleichwie in der unsrigen, vor dem Gewühl des vielen Schlechten, das gewiß auch der damalige Tag brachte, das Gute kaum bemerkt haben.“

3. [Zwischentext I] Das Mozartbild bis 1797

59

Noch weiter ging 1849 ein Aphorismus, in dem die Kritik der Kritik mit dem eigenen zeitgenössischen Fehlverhalten verknüpft wurde. „Viele dünken sich weise, und lachen über die Recensenten, welche, als Beethoven auftrat, diesen nicht sogleich anerkannten. Fragen wir aber nach den Ansichten derselben über die Gegenwart, so bemerken wir bald, wie sich bei ihnen, unbewußt, dasselbe Schauspiel, dieselbe Verkennung des Neuesten wiederholt; sie ahnen nicht, daß sie sich bei ihren Nachkommen dasselbe Schicksal bereiten, welches sie jenen alten Recensenten jetzt angedeihen lassen“(39) [II,722]. Der Verfasser dieses Aphorismus zeichnet mit F. B., es dürfte sich also um Brendel handeln, der seine Position zu erkennen gibt. Nach so vielen geschichtlichen Erfahrungen von Fehlurteilen sollte die Einsicht gewachsen sein, „daß der Grund des Mißfallens nicht in der Sache, sondern in der eigenen Individualität liegt.“ Die Handwerkslehre der Musikkritik zeigt am Typenvergleich die Jahrhunderte überdauernde überzeitliche Identität der klassischen vier Verhaltensmuster. In der rückwärts gerichteten Zeitverweigerung erscheint der Mozartverkenner des 18. Jahrhunderts dreißig Jahre später als Beethovenverkenner, der Wagnergegner von 1875 als der Schönberggegner von 1920 oder der Stockhausengegner von 1960. Wer aber die zeitgenössische Kunst nicht fördere, schade dem Fortgang der Kunst überhaupt. Brendel ‚entschuldigt‘ das Verhalten mit dem Idealismus derer, die in bester Absicht das Gute für die Kunst herbeiführen wollten, aber das Böse damit in die Welt setzten. Brendel zitiert Goethes Mephistopheles. Brendel sah Geschichte als einen nie endenden Zeitprozeß. Stillstand bedeutete für ihn Rückschritt. (1) Hans Engel: Mozart in der philosophischen und ästhetischen Literatur, Mozart-Jahrbuch 1953, S. 6 ff.; Karl Gustav Fellerer: Mozart im Wandel der Musikauffassung, Mozart-Jahrbuch 1956, S. 143 ff.; ders.: Mozart-Überlieferung und Mozart-Bild um 1800, Mozart-Jahrbuch 1955, S. 145 ff.; A. Hyatt King: Mozart im Spiegel der Geschichte, Bärenreiter-Verlag Kassel 1956; (2) Becker, AmZ XLIV/38, 21.9.1842, Sp. 729–734; (3) H. T.: Ueber Mozart von seinen Zeitgenossen, NZfM IX./29, 9.10.1838, S. 116b–117b. Das Kürzel könnte auf Truhn verweisen, der sich bei seinen Vorläufern über etwas beschwert, was er selbst seinen komponierenden Zeitgenossen täglich zufügte; (4) Forkel, Musicalischer Almanach 1784, S. 76 (G. = Gottlieb = Amadeus); (5) Bossler, Real-Zeitung 1790, S. 156; (6) Becker, a. a. O. S. 731; (7) Becker, a. a. O. S. 734 mit Notenbeispiel: Violinschlüssel, Achtel a1 (So), Achtel g1 (ent-), Viertel f1 (fliehn), Achtel b1-a1 (des), | Viertel g1 (Le-), Achtel d2-c2 (bens), Viertel as1 (schön-), Achtel c2-g1 (ste) | Viertel a1 (Stun-), Viertel a1 (den); original: Berlinische musikalische Zeitung, 46. Stück, 30. November 1793, S. 183; (8) Nachtrag zum 52. Stück. 51. und 52. Stück erscheinen gleichzeitig am 4. Januar 1794. Damit endet die Zeitung. Die Rezension steht auf S. 209a. In einer letzten „Nachricht“ (S. 210q) beklagt sich Spazier: „Allein der unbegreifliche Mangel an thätiger Theilnehmung von Seiten der Musiker von Profession, und die Lauigkeit überhaupt gegen alle ernste und höhere Bestrebungen zum Besten der Kunst, worin unser heutiges musikalisches Publikum versunken zu seyn scheint, geben zu wenig Ermunterung, um es sich um dasselbe ohne Noth sauer werden zu lassen.“; (9) Berlinische Musikalische Zeitung, 29. Stück, 24.8.1793, S. 114b–115a; (10) 29. Stück, a. a. O. S. 114b; (11) 29. Stück, a. a. O. S. 115a; (12) Zum Kapitel der musikal. Vorurtheile, 32. Stück, 14.9.1793, S. 126b–127b;

60

2. Kapitel: Die Geschmackskritik

(13) Vorurtheile, a. a. O. S. 127a; (14) Mozart auf dem Operntheater, Berlinische Musikalische Zeitung, 20. Stück, 22.6.1793, S. 77a– b; (15) Mozart auf dem Operntheater, a. a. O. S. 77b; (16) Ueber Modekomponisten, 37. Stück, 19.10.1793, S. 148a–b; (17) Ueber Modekomponisten, a. a. O. S. 148b; (18) AmZ XXXIII/16, 13.4.1831, Sp. 248; (19) zitiert nach Mozart, 9. Auflage 1955, Breitkopf & Härtel, Leipzig, 1. Band, S. 776; (20) Berliner Litteratur- und Theaterzeitung 1783, II 398 ff.; (21) Berlinische Musikalische Zeitung I/2, 1805, S. 5a–8a; (22) Berlinische Musikalische Zeitung, a. a. O. S. 6a–6b, Anmerkung; (23) Berlinische Musikalische Zeitung I/11, 1805, S. 41a–44a; I/12, 1805, S. 45a–48b; (24) s. Walter Salmen, Neue Deutsche Biographie XXI, Berlin 2003, S.295a–296a; (25) zitiert nach: Friedrich Kerst: Carl Maria von Weber als Schriftsteller, Mus V/17, [Band 18, 1. Juni-Heft] 1906, S. 324–330, Z:325, die Orthographie ist nicht original; (26) .– : Auch eine Kritik, aber aus den Jahren 1790 bis 1800, NBMz III/16, 18.4.1849, S. 126a–b, Z: 126b; (27) Quelle: Jahn, 2. Teil der 3., durch Deiters besorgten Auflage von 1891, S. 567; Abert, 2. Band der 6. Auflage von 1924, S. 750; (28) BmZ II/52,, 27.12.1845, S. [Gb]; (29) Beurtheilungen über Leistungen noch lebender Künstler vor beinahe fünfzig Jahren, AWM-Z IV/30, 13.1.1844, S. 49 [entnommen dem „Jahrbuch der Tonkunst von Wien und Prag“ 1796, genannt werden Eibler, Gyrowetz und Weigel]; dazu über Beethoven AWM-Z IV/12, 27.1.1844 [II,460]; (30) Druckfehler original; (31) Berlinische Musikalische Zeitung I/9, 1805, S. 33a–34a + II/33, 1806, S. 131a–132b. Die erste Arbeit ist mit C. F. abgezeichnet, die zweite ist unsigniert; (32) XII/4, 25.10.1809, Sp. 60–61; (33) K. B., Miscellen, AmZ XVI/23, 8.6.1814, Sp. 393–394, Z: 393; (34) AWM-Z III/23, 23.2.1843, S. 95b–96a. Das Original, im Rahmen einer anonymen Kritik (Kopfartikel) zweier Beethoven-Lieder, steht als erstes der beiden besprochenen Lieder unter „Recensionen“ in der „Berlinischen Musikalischen Zeitung“ I/3, 1805, S. 9a–10a; (35) MMz II/3, 18.10.1828, Sp. 46–48; (36) AmZ XXIII/41, 10.10.1821, Sp. 695–698; (37) Cae II./8, (Juni) 1825, S. 271–272; (38) MEp I./13, 1826, S. 97b; (39) NZfM XXX./62, 24.5.1849, S. 230b–231a.

4. GENIE UND GEFALLEN Es sind unerhörte Töne, wenn sich um 1800 Kritiker weder mit vorgegebenen Regeln noch mit geschmacksästhetischen Vorgaben zufrieden geben wollen. Nicht der Kritiker, der einer Regel oder seinem individuellen Geschmack folgt, bestimmt den Ort des Kunstwerks, sondern das Kunstwerk selbst weist der Kritik ihren Ort an. „Jeder Autor hat das Recht, sich seine Behandlungsart zu wählen und dadurch der Kritik den Standpunkt anzuweisen, aus welchem sie allein über ihn zu sprechen habe“(1). Dieser in eine längere Kritik über eine von Spazier besorgte Gretry-Ausgabe eingestreute Satz erschien im Februar 1802 anonym. Der Autor, wer immer es gewesen sein mag (möglicherweise Rochlitz selbst), spricht als Frühromantiker.

5. Anonymus 1803. Der Pseudo-Hiller-Dialog. Genie und Urteil

61

Regel wie Geschmack spielen keine Rolle mehr, es triumphiert das „Genie“. Was Anfang 1803 der ungenannte Verfasser des Hiller-Dialoges meinte, man solle die schlechten Kritiker lassen und sie mit den schlechten Musikern aufwiegen, liegt auf derselben Denkebene. Wenn das Genie die Kunst bestimmt und sich das Geniale im Verwerfen der üblichen Regel äußert, dann wird der am Regelwesen orientierte Kritiker das Geniale in der Kunst nie begreifen können und gerade am Genie als dem Prototyp des Künstlerischen vorbeizielen müssen. Folgerichtig kann der geniale Musiker nur von einem Kritiker begriffen werden, der in seinem Fach als Kritiker ebenso genial ist, wie der Musiker als Musiker. So erfindet sich der gequälte Geist in der Ausweglosigkeit seiner Zeit den ‚genialen Kritiker‘ als den einzigen Kritiker, dem Kritik noch obliegen darf. Aber dieser Kritiker vollzieht keine wissenschaftliche Deduktion, sondern begegnet dem Künstler in seinem eigenen Bereich, im zunächst nicht regelhaft erfaßbaren Genialen. „Es ist gewiss, dass für die Kunst selbst, einzelne genialische Aussprüche über ihr Wesen sowohl, als über den kunstmässigen Gebrauch ihrer Darstellungsmittel, nicht allein schicklicher, sondern auch zweckmässiger sind, als die gründlichsten wissenschaftlichen Deduktionen, welche ihrer Natur nach nicht weiter als bis an die Gränze der Kunst führen können; denn das Genie lässt sich von der Gefahr einer ausschweifenden Phantasie, nie durch die ihm fremde wissenschaftliche Warnung, sondern nur durch einen seiner Natur verwandten genialischen Wink, zurückhalten: sobald aber das Genie es unternimmt, seine eignen Ansichten auf wissenschaftliche Gründe zurückzuführen, und das von den Gesetzen der Schwere freye Gebäude begründen zu wollen, so entsteht nothwendig eine noch mehr verfehlte Kunstkritik, als die Wissenschaft liefert, wenn sie sich über ihr Gebiet // erheben will.“ (1) Gretry’s Versuch über die Musik. Im Auszuge und mit kritischen und historischen Zusätzen herausgegeben von D. J. Spazier, AmZ IV/19, 3.2.1802, Sp. 297–310, Z:298.

5. ANONYMUS 1803. DER PSEUDO-HILLER-DIALOG. GENIE UND URTEIL Über die eingetretene Wirrnis auf musikkritischem Gebiet gibt ein Dialog Auskunft, der Ende März 1803, also nach Nägeli, in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ erschien und das „Verhältnis des Kritikers zum Tonkünstler“ untersuchte(1) [II,9]. Das anonym aufgezeichnete fingierte Gespräch war keineswegs original, sondern teilweise Engels Gespräch zwischen Mendelssohn und einem jungen Dichter über das Verhältnis des Kritikers zum Poeten nachgeschrieben worden. Hier legte man es Adam Hiller in den Mund, weil Hiller zu dieser Zeit noch als kritische Autorität galt. Derlei Übertragungen literarischer Fragestellungen auf musikalische Probleme findet man in der Leipziger Zeitung häufig. Sie sind als Ergebnis der Rochlitzschen Belesenheit durch die als überlegen geltende zeitgenössische Literatur bedingt, der man zugestand, sich mit sprachlich gutem Ausdruck viel besser über die gedanklichen Hintergründe ihres Tuns äußern zu können als die hausbakken auftretenden damaligen Musiker und vor allem Musiktheoretiker, die mit ver-

62

2. Kapitel: Die Geschmackskritik

schwindend geringen Ausnahmen ein unelegantes Perückendeutsch schrieben und über fachspezifische Handwerksprobleme kaum hinauskamen. [Nicht ohne Grund veröffentlichte die Zeitung in diesem Zusammenhang 1799 eine kleine Anekdote, in der sie Kaiser Joseph II. den damals tonangebenden Kontrapunktisten Padre Martini in Bologna fragen läßt, ob er, der Pater, nicht glaube, daß auch einmal die Zeit komme, in der man „über die Produkte der Musik eben so gründlich, eben so gemeinverständlich und eben so einverstanden urtheilt und schreibt, als über die Produkte andrer Künste – der Malerey zum Beyspiel?“ Padre Martini verneint das mit der Begründung „Weil die Schriftsteller nicht Musik, und die Musiker nicht schreiben können“ [II,5]. Da ist dann auch noch vom Wesen der Musik die Rede, das als eine der beiden Ursachen für den Zustand verantwortlich gemacht wird; aber darauf läßt der Anekdote nach der Kaiser den Pater nicht mehr eingehen.] Der Dialog scheint geeignet, die allmählich in den Hintergrund gedrängten Musiker mit Standort Vor-Geniezeit einzubinden. Den Anfang macht eine Zweckdefinition der Musikkritik: „Die Kritik will dem Musiker zeigen, wie er sein Ziel, Wohlgefallen bey den besten Menschen zu erregen, erreichen kann; oder sie will ihn über die Beschaffenheit der Gegenstände beleh- // ren, die er bearbeitet – letzteres vornehmlich, wenn er für die Kirche, für das Theater‚ oder irgend etwas schreibt, worin sich andere Künste mit der seinigen verbinden sollen“(2). Nicht das Publikum also, das über Kunstproduktionen unterrichtet werden will, ist als Ziel der gerichteten Musikkritik anzusprechen, sondern der Künstler hat im Kritiker seinen Lehrmeister zu sehen, eine Konstellation, die so lange nicht merkwürdig sein konnte, als der Kritiker noch als Fachmann für den reinen Satz aufzutreten und den Künstler, wie ein Lehrer seinen Schüler, über Satzverstöße aufzuklären hatte. Jetzt wird die Konstellation zwischen Kritiker und Künstler zumindest merkwürdig, nachdem im selben Satz „beym wahren Künstler … vor allem Genie“ vorausgesetzt wird(3). Diese Konsequenz zeigt‚ daß man sich über die Begriffsverschiebung innerhalb der kritischen Möglichkeiten bewußt gewesen ist; das Genie wird als Fähigkeit der logischen Aushörbarkeit der natürlichen Vielfalt definiert. Nach der Auffassung der Zeit ist die große Lehrmeisterin die Natur. Die aber läßt unendlich viele Stimmen gleichzeitig erklingen, so daß der durchschnittliche Bürger keine davon wirklich deutlich zu vernehmen weiß. Das Genie hingegen verfügt über die Fähigkeit‚ aus der naturgegebenen Vielfalt einzelne Stimmen herauszuziehen und seiner Umwelt verständlich zu machen. „Das Genie‚ mit dem Abbild des Ganzen der Natur in seinem Innern, hat gleichsam die Grundstimme in sich, und hat auch mit seinem höchst feinen, höchst glücklich organisirten Sinne die einzelnen Stimmen ausser ihm geichsam aus dem Ganzen herausgehört, hat sie vollkommen gefasst; giebt, was es von beyden besitzt, wieder, und giebt es in der vernehmbarsten Sprache, mit den deutlichsten Tönen wieder“(4). Damit bildet das Kunstwerk des Genies eine „eingeschränktere Schule“ gegenüber der unendlichen Natur, dafür aber, menschlichen Sinnen angemessen, mit deutlicherer Vernehmbarkeit. Wenn sich dann die Kritik an das Kunstwerk anschließt, um sich selbst als Kritik zu belehren und Wertmaßstäbe zu suchen, die fürderhin wieder auf das Genie anzuwenden wären, so möchte sie nicht viel mehr denn als „Lehrerin ihres Lehrers“ auftreten und diesen „mit seiner eigenen Weis-

5. Anonymus 1803. Der Pseudo-Hiller-Dialog. Genie und Urteil

63

heit“ unterrichten(4). Um nun ‚die‘ Kritik zu retten, versucht der anonyme Verfasser einen gewagten Grenzgang. Die Kritik nämlich, so führt er aus, ist trotz ihrer Zwitterstellung zur Regelbildung deshalb befähigt, weil das Genie immer nur als Einzelnes auftritt, während sich die Kritik an unendlich viele Genies anschließt und deren Praktiken somit zur Grundlage von Regelbildungen machen kann. Das Genie seinerseits wird mit der Einschränkung entzaubert, nicht unbedingt in allen Augenblicken seines Wirkens Genie zu sein, sondern sich auch irren und mißverstehen zu können, um Orientierung am Nichtinspirierten zu suchen. Der Einwurf, wenn sich schon das Genie selbst unterrichten müsse‚ solle es sich besser an andere und höherwertige Genies wenden als etwa an die Kritik, wird mit der Feststellung beseitigt, für das irrende Genie bestehe kein Unterschied darin, ob es sich bei der Kritik oder beim anderen Genie Hilfe hole. Wenn sich das Genie bei anderen Instanzen mit der Absicht umsehe, eigenen Irrtum auszuschließen, dann geschehe das, um technische Verfahrensweisen in der Form von Regelübernahmen zu studieren, die als Musterbegriffe für jedermann Gültigkeit besäßen. Diese könne es vom Kritiker ebenso gut bekommen wie vom anderen Genie, vom Kritiker insbesondere deshalb, weil der sich mit allen verfügbaren Mustern beschäftigt habe und damit am besten zur Vermittlung befähigt sei. Als Beispiel wird auf Haydns Opernwerk hingewiesen. Die überlangen Arien Haydns und die ungenügende Charakterisierung der Personen in seinen Opern könnten sehr wohl durch eine Begegnung Haydns mit dem Gluckschen Opernschaffen beseitigt werden. Dabei zöge das Genie von der Kritik und nicht vom anderen Genie den größtmöglichen Nutzen, weil sich die Kritik als Tochter der Philosophie auf das „Absondern, das Hinaufsteigen zum Allgemeinen, das zum Regel-Bilden so nothwendig gehört“(5) besser verstehe. Ein weiteres Beispiel nimmt auf eine fingierte Symphonie Bezug, die als Mozartepigonie sicherlich sehr trefflich gemacht worden sei, aber noch besser hätte gemacht werden können, wenn der Komponist mit den allseits verstreuten Kritiken über Mozarts Schaffen ins Vernehmen gekommen wäre, in denen manches Gute über Mozarts Art niedergelegt worden sei(6). „Nur müssen wir uns über dieses Wie recht verstehen. Die Kritik kann dem Genie keine Arbeit abnehmen, auch nicht die kleinste; sie kann ihm eben so wenig den erfinderischen Geist, die Herzenswärme, die Macht über die Mittel, wodurch es seine musikalischen Ideen ausdrückt, in höherm Grade mittheilen, als es sie selbst schon hat. Alles, was sie vermag, – aber, glücklicherweise, auch Alles, was das Genie bedarf – sind Winke‚ Warnungen, Fingerzeige“ (6). Habe er die Fingerzeige gegeben, würde der Kritiker bescheiden zurücktreten. Die Wahrheit seiner Aussprüche zu finden und guten Gebrauch davon zu machen, wäre dann Sache des Komponisten geblieben, heißt es im Hinblick auf den fiktiven MozartEpigonen weiter, der als Beispiel zu dienen hatte. „Erfinden, eingeben, in die Feder sagen wird die Kritik nichts; und wenn sie das auch könnte und wollte – – / So würde das Genie sichs verbitten. / Natürlich! Weil es immer lieber selbst denkt, als sich vordenken lässt. Dies ist seine Art überall, auch wo nähere Belehrung auf das vollkommenste kann gegeben werden“(7). Der scharfe Ton, den viele Kritiker mitunter anschlagen, wird mit dem Hinweis beiseite geschoben‚ beim dicken Fell mancher Musiker ginge es nicht anders, und so höbe sich das wieder auf: „O‚ lassen Sie den gemeinen Schlag Musiker – Und lassen Sie dafür den gemeinen Schlag

64

2. Kapitel: Die Geschmackskritik

Kritiker. Sie mögen einander aufheben und fertig werden – Das thun sie wohl auch –“(8). Die Empörung über eine Kritik an Mozarts „Zauberflöte“, in der ein „eisenkalter Grammatiker“ „wie aus dem Olymp, herabsiehet“ und zu guter Letzt nichts anderes festzustellen wisse als eine Reihe von Verstößen gegen die Deklamation und dergleichen (der Hieb richtete sich gewiß vor allem gegen Reichardt-Kunzens „Magazin“ und gegen Spazier) wird geschickt in eine Apotheose Mozarts umgebogen, mit der zugleich der Artikel schließt: „Dass es besser seyn würde, auch jene Kleinigkeiten – Kleinigkeiten im Vergleich mit den unschätzbaren Verdiensten! – wären berichtiget, werden Sie zugestehen. Wenn der Recensent um dieser willen ein solches Werk herabzusetzen versucht, so hört er auf Kritiker zu seyn, und wird ein lächerlicher Pedant. Wenn er aber nur jene Kleinigkeiten Mozarten vorwerfen kann, und doch beweiset, dass er, der Kritiker, ein Mann von vielen Kenntnissen und reifer Kunsterfahrung ist: sagen Sie, wie ist es möglich, Mozarten besser zu preisen, als eben dadurch?“(9). Aus dem Dialog spricht ein Autor der Spätaufklärerzeit, der die Geniedeutung in der älteren und in der frühromantischen Fassung kritisch wertet und trotzdem nach Maßstäben sucht, die sich in nicht zur Verfügung stehende neue Regeln fassen lassen. Längst ist der Komponist zum Genie geworden, womit sich an der Sache nichts ändert. Es gibt den Künstler, der ‚in Wahrheit‘ keiner ist, weil man erst durch Genie zum ‚wahren‘ Künstler wird. Das Ziel des ‚wahren‘ Künstlers, also des ‚Genies‘, hat aber zu sein, bei den Menschen ‚Wohlgefallen‘ zu erzeugen. Und ‚die‘ Kritik zeigt ihm dazu den rechten Weg, allerdings nicht durch Hinweise, wie er es machen soll, weil das eben Sache des Genies ist. Der Dialogleser ist am Ende des Textes eigentlich so klug wie zuvor, und die Wirrnis offenbart die Unstimmigkeit in den Zusammenhängen. Regelkritik, Geniedeutung, Frühromantik passen nicht zueinander; die Entscheidung bleibt ungetroffen, weil die objektive Bewertung nicht mehr möglich und die subjektive dem Autor widrig ist. Er will die alte Naturtheorie aufrecht erhalten und beschreitet einen Weg, den ein halbes Jahrhundert später Otto Lange in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ zu Ende geht, der, wie sich dann herausstellen wird, ein Irrweg ist. Daß dort der Kritiker zum ‚Führer‘ werden soll, der Komponist zum ‚Geführten‘, ist nicht der gepriesene Fortschritt, sondern der Rückschritt ins 18. Jahrhundert. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9)

Ein Dialog, AmZ V/27, 30.3.1803, Sp. 445–452; Ein Dialog, Sp. 445–446; Ein Dialog, Sp. 446; Ein Dialog, Sp. 447; Ein Dialog, Sp. 449; Ein Dialog, Sp. 450; Ein Dialog, Sp. 451; Ein Dialog, Sp. 451–452; Ein Dialog, Sp. 452.

6. Vom Genie zum „wahren“ Genie

65

6. VOM GENIE ZUM „WAHREN“ GENIE Die Art, mit der in der Zeit von ‚Sturm und Drang‘ der Geniebegriff eingeführt worden war, verwehrte kritische Betrachtung. Solange jede Regelverletzung, nur weil sie eine Verletzung der Regel war, als Akt von Genialität ausgegeben und die Verletzung einer bestehenden Regel als Voraussetzung einer genialen Leistung schlechthin dargestellt werden konnte, verlor jede Kritik, vor allem die mit dem Versuch einer Normbildung, ihre Rechtfertigung, weil ihr alle Maßstäbe weggespült wurden. Ohne Überprüfung, wie weit die Regelverletzung strukturell sinnvoll oder doch nur auf unzulänglich beherrschtes Handwerk zurückzuführen war, war man hilflos. Und selbst dann, wenn man den Geniebegriff stark einengte, wirkten immer noch genug Unsicherheitsanteile mit, deren Isolierung nicht gelingen konnte. Jeder verstand unter Genie zunächst etwas anderes. Der Verfasser von Miscellen fand 1812: „Jämmerlich wird diese Vorstellung vollends gar, wenn man sie, wie so oft, nur auf die anwendet, die im Leben oder Schreiben es blos ganz anders machen, wie andere Leute“(1) [II,26]. Beethoven habe „mehr durch seine bizarren Sprünge, als durch seine Grossheit und Fülle, den Namen des Genialischen erlangt.“ Wörter wie Genie und genial waren zu schlagwortartigen Lieblingsbegriffen des ‚Sturm und Drang‘ geworden, den man häufiger als ‚Geniezeit‘ bezeichnet. Sie standen für ein künstlerisches Übermenschentum und für eine rücksichtslos zur Norm erhobene Selbstverwirklichung, die Entgrenzung und Gefühlslabilität forderte, Eigenschaften und Charakterzüge, die man später unkritisch mit Romantik gleichsetzte. Hier war Gefühl alles, Gestaltung nichts. Die Frühromantiker reinigten den Geniebegriff und beseitigten die Über- und Fehleinschätzung der Genie Genannten. Sie legten als Dilettantismus bloß, was sich mit ungekonntem Handwerk als neue Kunstidee getarnt hatte. Die Romantiker entwickelten ihre Ästhetik zunächst vorrangig als Auseinandersetzung mit der Ästhetik der Geniezeit. Sie machten den Geniebegriff nach 1800 literaturunfähig, indem sie ihn beispielsweise auf das alberne Gebaren und Gehabe Weimarer Dienstmädchen und Ladenjünglinge übertrug, um sich über deren absonderlich-unreifes Auftreten lustig zu machen. Wenn die auf diese Weise abgewerteten Begriffe ein Jahrzehnt später wieder auftauchten, dann mit eindeutigen Attributen, die den Geniebegriff der Geniezeit in einem neuen Geiste erscheinen ließen. Entweder sprach man kurzerhand vom ‚wahren Genie‘ und legte auf das ‚wahr‘ das entscheidende Gewicht, oder man leitete den Begriff Genie neu mit der Maßgabe ab, ein Genie sei etwas ganz anderes als das, was man darunter bislang habe verstehen wollen. Das aber war die ‚Besonnenheit‘, an der sich nach romantischer Anschauung das ‚wahre‘ Genie erkennen ließ, also Mäßigung im Gefühlsbereich und klare Vorstellung von dem, was strukturell-handwerklich vor sich zu gehen hatte. Auf dieser Grundlage für uns heute klassischer Merkmale konnte E. Th. A. Hoffmann Beethoven als romantischen Komponisten bezeichnen. Es bleibt unbeschadet, so lange man die eingetretene Begriffsinhaltsverschiebung richtig anspricht(2). Damit sahen sich die neuen Kritiker wieder in die Lage versetzt, sinnvolle Musikkritik zu betreiben. Man konnte

66

2. Kapitel: Die Geschmackskritik

sie nicht länger durch ein Schlagwort vom Genie, das sich nicht in Regeln pressen lasse, mundtot machen. Trotzdem dürfte sich beider Geniebegriff mit auf die Vorsicht ausgewirkt haben, mit der man zuvörderst Musikkritiken schrieb. Nachdem klar geworden war, daß es nicht mehr um die Regelabweichungen der Geniezeit ging, ließ sich das Wort ‚Genie‘ erneut, jedenfalls unbefangener, benutzen. Es sind tautologische Allerweltsphrasen, wie sich die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1830 über Genialität äußerte(3) [II,260]. Genialität könne nie anders als in Verbindung mit der Schönheit auftreten. „Nicht alles aber ist schön, was genial ist. Manches Geniale kann sogar hässlich seyn und misfallen.“ Die aufklärende Antwort auf die entscheidende Frage, woran man das ‚Schöne‘ erkennt, wird nicht erteilt. Als Schlagwort bleibt ‚Genie‘ bestehen, ist aber mit Skepsis angereichert. Nach Simon Sechter entschuldigen sich „formlose Arbeiten mit dem Genie, was sich an keine Form bindet“. In Wirklichkeit bestehe Genie darin, „schöne Formen zu schaffen und daß es gerade darum um sich freier bewegen zu können, die Regeln vollkommen inne haben müsse“(4) [II,529]. Das Sprichwort vom Genie, das sich immer durchsetzt, wird auf seine Richtigkeit überprüft und in seiner Pauschalierung als falsch befunden(5) [II,581]. Was dem einen ein Hindernis ist, ist dem anderen Förderung. Ohne seinen Vater hätte Mozart „seine Kunsthöhe schwerlich erstiegen“. Ohne die Französische Revolution hätte es keinen Napoleon gegeben. „… gibt man zu, dass eine geniale Kraft durch feindliche Umstände an der vollen Blüte verhindert werden könne; ja man gibt noch etwas viel Wichtigeres zu, dass sogar das Gedankenmaterial des Tonkünstlers, sein Eigenthümlichstes, doch nicht blos, allein und unmittelbar das Product seines Geistes, sondern mit ein Resultat empfangener Eindrücke, des Umganges mit dem respectiven Kunstelemente sei.“(6) (1) AmZ XIV/36, 2.9.1812, Sp. 597; (2) s. Kirchmeyer: Wandernde Begriffe. Überlegungen zur musiktheoretischen Fremdterminologie und Sinnverschiebung, in: Festschrift Mahling I, Schneider-Tutzing 1997, S. 667–690; (3) AmZ XXXII/5, 3.2.1830, Sp. 80; (4) WAM-Z V/100. 21.8.1845, S. 400b; (5) Aphorismen I, AmZ XLVIII/42, 21.10.1846, Sp. 697–698; (6) Aphorismen, a. a. O. S. Sp. 698.

7. 1816. EIN GASTROSOPH ALS STICHWORTGEBER: ÜBER GESCHMACK LÄSST SICH NICHT STREITEN „Jeder Mensch wird dasjenige wählen, was seiner Fassungskraft, seinen Talenten, seinen Neigungen und Gewohnheiten, seinen Bestrebungen und Aussichten, seinen Ahnungen und Idealen angemessen ist“, heißt es im September 1816 in einem anonymen Dialog „De gustibus non est disputandum“, mit dem die Geschmacksdiskussion jedenfalls in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ vorerst abgeschlossen wurde(1) [II,41]. Der Dialog begründet, warum sie in einer Aporie enden muß. Das Schlagwort ‚Über Geschmack läßt sich nicht streiten‘ kam damals in Mode.

7. 1816. Ein Gastrosoph als Stichwortgeber: Über Geschmack läßt sich nicht streiten

67

Es geht in diesem Falle vermutlich weniger auf Kant als auf den französischen Gastrosophen Jean Anthèlme Brillat-Savarin (1755–1826) zurück, der es aus dem Spanischen entlehnte. „Seinen Geschmack muss man jedem lassen, insofern man nicht berufen ist, denselben auf Erzieherweise zu bilden, oder auf Vormundweise zu leiten. Man kann keinem darüber Rechenschaft abfordern; denn obwol jeder // fühlt und weiss, was seiner Natur zusagt, so kann doch selten einer diesen concreten Act philosophisch begründen, weil dies die höchste Gabe der Abstraction voraussetzte. / Der Geschmack stellt sich hierin neben Glaube, Gewissen, Liebe, Ahnung, Instinct etc.“(2). Den Geschmack zum Gegenstand der Kritik zu machen gilt dem Verfasser als unwissenschaftlich. Er tröstet sich mit der Bemerkung: „Seyn Sie froh, dass es so ist. Des müssigen Gesprächs wäre kein Ende, wenn // jeder von seinem Geschmack Rechenschaft geben sollte“(3). Sieht man davon ab, daß Begriffe wie Glaube, Gewissen, Liebe, Ahnung, Instinkt nicht auf derselben Ebene wie Geschmack anzusiedeln sind, so ist nach Meinung des Dialog-Schreibers zur Sache selbst nichts mehr zu sagen, es sei denn, man wolle sich wiederholen, oder wiederholen, was andere möglicherweise sogar besser gesagt haben. Für die Zeitgenossen war allenfalls die Einsicht schlimm, daß sich die auf Geschmack beruhenden Urteile nicht zurückweisen ließen und somit die Geschmackskritiker von der Verantwortung freigestellt wurden. Sie folgten eben ihrem Geschmack, und wenn er so war, wie sie ihn bekundeten, so mußten sie auch so urteilen, wie sie urteilten. An den Künstler und an den Leser wurde dabei zuletzt gedacht. Die Geschmacksdiskussion zog sich über Jahrzehnte mit der Tendenz hin, das auf Geschmack beruhende Urteil als minderwertig zu betrachten. Die „Münchener allgemeine Musik-Zeitung“, die in der Prinzipien- und Methodenauseinandersetzung keine Rolle gespielt hat, griff 1828 in einer Besprechung(4) [II,216] das lateinische Sprichwort auf, beklagte das vernachlässigte Studium der Musikgeschichte und bekannte: „Das Motto der meisten unserer sogenannten Recensionen könnte heissen: de gustibus non est disputandum, und bescheidene Recensenten führen sich in der Regel auch nur so auf, stellen ihr Machwerk als ein subjektives Urtheil u. s. w. hin. Das aber soll eine rechte, wohlbegründete, Recension nicht seyn“(5). Sie soll sich nicht als das Resultat des Eindruckes, den eine Wahrnehmung auf uns macht, sondern als Ergebnis „einer allseitigen tief durchdringenden Erkenntnis des Objekts, und der ursprünglichen Bedingungen des Wohlgefallens unserer Wahrnehmungen“(5) äußern. Der Geschmackskritiker ließ sich nur biologisch entfernen, indem er sich überlebte. Trotzdem starb er als Typ nie aus. Als sich das Mozartbild grundlegend verändert hatte, interessierte es nicht mehr, aus welchen Geschmacksgründen ein Reichardt einen Mozart mißverstand oder mißverstehen ließ, ob möglicherweise Konkurrenz- und Neidgefühle eine ausschlaggebende Rolle mitspielten. Die Tatsache allein zählte. Natürlich hat Reichardt Mozart nicht verunglimpft; er hat nur ein Urteil über ihn veröffentlicht, das seinem, Reichardts, Geschmack entsprach, und daher war es weder falsch noch richtig, sondern es war eben sein Urteil, Reichardts Urteil, das, so würde sich Reichardt verteidigen, niemand zu übernehmen gehalten war und bei dem er selbst bei aller Gegenkritik bleiben durfte. Die sozialen Auswirkungen standen nicht zur Diskussion. Die spätere Zeit nahm das nicht hin, weil sie

68

2. Kapitel: Die Geschmackskritik

die abfälligen Untertöne heraushörte, auch die Folgen für die betroffenen Künstler bedachte. Das Zitat ‚De gustibus non est disputandum‘ benutzte man noch Jahrzehnte später (1842) als Kritik an der Frankfurter Oberpostamtszeitung [II,411]. (1) (2) (3) (4)

AmZ XVIII/9, 28.2.1816, Sp. 129–132; a. a. O. Sp. 131–132; a. a. O. Sp. 129–130; Ueber Seidel’s Umrisse zu einer Poesie der reinen Tonkunst, MaM-Z, I/30, 3.5.1828, Sp. 465– 469; (5) Ueber Seidel’s …, a. a. O. Sp. 465.

8. NACHTRAG. ROCHLITZ 1831: GESCHMACK ALS UNWERT Rochlitz hatte schon 1796 „Einige Ideen über Anwendung des guten Geschmacks“ bekannt gemacht. Lange nach seinem 1818 erfolgten Ausscheiden als Redakteur meldete er sich 1831 mit einem fingierten „Schreiben an einen Tonkünstler“ unter dem Titel „Der Geschmack“ noch einmal systemkritisch zu Wort. Der zweiteilige, ziemlich umfangreiche und anmerkungsverstärkte Grundsatzartikel erschien über sechzehnspaltig Ende Juli mit einer Fortsetzung Anfang August 1831(1) [II,268]. Er beendete mit dem Nachweis vom Unwert des Geschmacks als Urteilsvoraussetzung endgültig die Geschmacksdiskussion und darf somit als Schlußpunkt einer vierzig Jahre währenden Auseinandersetzung gesehen werden, deren berühmtestes Opfer zur Reichardt-Zeit Mozart wurde. Der Aufsatz ist nicht ganz einfach zu lesen, weil Rochlitz mit seinem Thema literarisch spielt, einen improvisierenden Briefstil erzeugt und viele Zusammenhänge mittels Negativkonstruktionen und rhetorischer Verschachtelungen ausdrückt, die man mehrmals lesen muß, um sie richtig zu verstehen. Rochlitz ist eben Schriftsteller mit dichterischem und gleichzeitig philosophischem Anspruch und kein Journalist. Die Position, die er einnimmt, ist eindeutig. Wer sich als Künstler dem herrschenden Geschmack unterwirft, weist nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit. Der Künstler hat nicht zu fragen, der Künstler hat tätig zu sein. Als Beispiel wird Beethoven genannt. Der Künstler, der nachzudenken beginnt, ob er sich mit dem herrschenden Geschmack in Übereinstimmung befindet, oder ob er eine solche Übereinstimmung suchen soll, beginnt zu zweifeln, wird dadurch unsicher und verfehlt sein Ziel, weil er nicht nur in Widerspruch mit sich selbst, sondern auch in Widerspruch zu seiner Umwelt gerät. Entweder folgt er als Künstler seiner Natur, dann muß er den herrschenden Geschmack überwinden, oder er folgt dem herrschenden Geschmack, dann zerstört er sich selbst. Nach einem langen Vorgeplänkel kommt Rochlitz zur Sache, „weil er sich nicht um Worte drehen“ will. Rochlitz stellt fest: „Es gibt einen guten und einen schlechten Geschmack, … einen reinen und einen verdorbenen, einen edlen und einen gemeinen, einen neuen und einen alten – und so weiter“(2). Und jeder glaubt, den guten Geschmack zu besitzen. Gleich, ob man Schönheit (rational) definiert oder dem Gefühl anheimgibt, fest steht, Schönheit ist etwas, das durch äußere Sinne wahrgenommen wird und durch Übereinstimmung

8. Nachtrag. Rochlitz 1831: Geschmack als Unwert

69

mit dem inneren Sinn zustande kommt. Der innere Sinn ist die Vernunft, so daß das Wesentliche der Schönheit auf vollkommener Übereinstimmung des sinnlich Wahrnehmbaren mit der Vernunft beruht, oder, Rochlitz drückt es auf andere Weise noch einmal aus, „auf vollkommener Vernunftgemäßheit, welche sinnlich wahrnehmbar ist.“ Das ist, so Rochlitz, die Voraussetzung für die geistige Freude. Auf der vollkommenen Übereinstimmung des durch die äußeren Sinne Wahrnehmbaren mit dem inneren Sinn beruht aller wahre Kunstgenuß und nicht minder geht davon alles wahre Kunsturteil aus. Darum erzielen die Genießenden und die Urteilenden über das Wesentliche der Schönheit Einigkeit. Das gilt allerdings nur für diejenigen, für die Kunst etwas bedeutet; denn selbst wenn es von tausend Zungen gepredigt werde, bleibe es ein großer Irrtum, daß Kunst für alle Menschen da sei. „Was sagt denn nun aber der ‚Geschmack‘ hierzu? Antworten Sie nicht in seinem Namen! Es ist vollkommen gleichgültig, was er dazu sagt: er hat hierein gar nicht zu reden. Er ist der Schuster, der am Schuh des grossen Apollos mäkelte: und das mit Recht; dann aber über das Werk überhaupt absprechen wollte: und das mit Unrecht; wesshalb er auch die gerechteste aller Abfertigungen erhielt: Schuster, bleib’ bei deinem Leisten!“(3). Schon den Begriff Geschmack, der bei Kant eine so große Rolle spielt, wertet Rochlitz ab, weil er ihn als Urteilswert nicht gelten lassen kann. Er habe seinen Namen vom untersten Platz in der Rangfolge der Sinne, den ihm nur noch der Geruch streitig machen könnte. Er ist ausschließlich für die „Schmecker“ von Bedeutung, denen er einen augenblicklichen Genuß bereitet; höhere geistige Freuden vermittelt er „nimmermehr“. In einer bösen Anmerkung schiebt Rochlitz das Bild des „deutschen Herrn“ de Bouverot aus Jean Pauls „Titan“ ein, der erklärte, seiner Meinung nach bleibe doch der antike Satyr die höchste Aufgabe für alle Kunst und gehe ihm noch über den Christus. Rochlitz dazu: „… der deutsche Herr fault – war nach einem, mir und Richter’n wohl bekannten Originale gezeichnet!“(4). Rochlitz will die Feinschmecker auf ihrer eigenen Ebene nicht unbedingt verwerfen. Sie haben mitunter recht in den Bemerkungen, nicht in den Prinzipien. „Hatte doch auch jener Schuster Recht – nämlich, als er über die künstlerische Ausführung des Schuhs urtheilte: nun aber muss er, dieser verfeinte Geschmack, wie der für die Schuhmacherarbeit verfeinte Meister, ohne Umstände zurückgewiesen werden, sobald er sich nicht beschränkt“(5). Trotzdem wurde auch später noch Geschmack als Urteilskriterium benutzt. Simon Sechter beispielsweise führte in einem seiner Aphorismen „Über Beurtheilungen eines musikalischen Kunstwerkes“(6) [II,398] die Urteilsdivergenz von Musikern über Fachprobleme in die Aporie. Wie man sich zum Verbot der Quintenparallelen äußere, oder zur unterschiedlichen Behandlung des dritten Taktviertels und so weiter, „da können sie in unzähligen Fällen unmöglich einerlei Meinung seyn“ findet Sechter. „Die Gegenstände, worin zwei Beurtheiler abweichen können, sind zu viele, um sie alle aufzählen zu können“. Er schließt daraus: „Hier tritt nun das Geschmacksurtheil ein, und je nachdem es seinem Geschmacke zusagt oder nicht, wird er es billigen oder verwerfen.“ Was Sechter sagen will, ist unmißverständlich, auch wenn es unrichtig ist, die unterschiedliche Auffassung eines technischen Problems durch zwei Künstler als eine Frage des Geschmacks zu deuten. Auch in

70

2. Kapitel: Die Geschmackskritik

anderen Bereichen greift Sechter Themen auf, die schon dreißig Jahre zuvor geklärt wurden, etwa den Geniebegriff. „Man affectirt daher häufig Verachtung der Regel, und um dazu einen triftigen Grund zu haben, gibt man sich für ein Genie aus, welches über die Regel erhaben ist“(7) [II,391]. Die Zeit des ‚Sturm und Drang‘, der ‚Geniezeit‘ ist 1841 längst vorüber. Sechter, der kein Philosoph, sondern Musiktheoretiker war, ist 1788 geboren; berühmt wurde er als Lehrer Bruckners. Wer sich um 1841 noch gegen kompositorische Regeln sträubt, ist nicht mehr ernst zu nehmen, mag er sich selbst sehen, wie er will. Noch Herrmann Küster beruft sich in einem ziemlich nichtssagenden Artikel „Ueber Kunstgeschmack und Kunsturtheil namentlich in Beziehung auf Musik“, der 1844 in der Gaillardschen „Berliner musikalischen Zeitung“ erschien, auf Geschmack, Schönheit und Einbildungskraft sowie „einiger Einsicht in die Technik“, die vonnöten seien, um mit „deutscher Ehrlichkeit“, mit „deutscher Unbestechlichkeit“ und mit „deutscher Bescheidenheit“ ein Urteil zu fällen(8) [II,492]. (1) Rochlitz: Schreiben an einen Tonkünstler, AmZ XXXIII/30+31, 27.7. + 3.8.1831, Sp. 477–483, 501–510; (2) Rochlitz, a. a. O. Sp. 489; (3) Rochlitz, a. a. O. Sp. 481; (4) Rochlitz, a. a. O. Sp. 482, Anmerkung; (5) Rochlitz, a. a. O. Sp. 483; (6) Sechter, AWM-Z I/113, 21.9.1841, S. 475b; (7) Sechter, AWM-Z I/67, 13.5.1841, S. 232a–b; (8) BmZ -/32, 31.8.1844, S. [Aa–Ab].

3. KAPITEL: DIE „ALLGEMEINE MUSIKALISCHE ZEITUNG“ 1797 BIS 1818. FRIEDRICH ROCHLITZ 1. VORAUSSETZUNGEN Für die Musikkritik ausgangs des 18. Jahrhunderts war es notwendig, die bisherige philologische Regelkritik mit dem neu entdeckten Geniebegriff in Einklang zu bringen. Nur so ließ sich ein Anachronismus zwischen Werk und Betrachtung vermeiden. Die Auseinandersetzung zwischen philologischem Herkommen und moderner Genietheorie trug die Ende 1797 von Friedrich Rochlitz ins Leben gerufene „Allgemeine musikalische Zeitung“ aus, die in Leipzig im Verlag Breitkopf & Härtel erschien und die Rochlitz bis 1818 verantwortlich leitete(1). Sie war ein Wochenblatt, das bis Ende 1810 nicht dem Kalenderjahr folgte, sondern deren jeweils erste Jahrgangsnummer zum Ende Herbst, zu ‚Martini‘, erschien. Die Frage Zeitung oder Zeitschrift ist in der späteren Literartur gestellt worden, ist aber eine Scheinfrage, die nur aufkommen kann, wenn man aus dem starren Schema eines fachbibliographischen Systems aus der Zeit nach 1900 denkt. Begriffe unterliegen einer zeitbedingten Begriffsinhaltsverschiebung, und der Begriffsinhalt von Zeitung war im Jahre 1798 „Nachricht“ im allgemeinen (Lessing) und Zeitung in unserem (derzeitigen) Sinn. Ein heutiges lokal geprägtes Periodikum, das sich „Nachrichten“ nennt, ist trotzdem eine Zeitung, ein Periodikum um 1800, das sich Zeitung nennt, ist nach Aufmachung und Erscheinungsweise als Lokalblatt eine Tageszeitung und als Fachblatt in eben diesem Sinne eine Zeitschrift. Es geht nicht um die Bezeichnung, sondern um den Inhalt als Sache(2). Die „Eutonia“ suchte, um 1829 den eigenen Standort zu bestimmen, einen Unterschied zwischen ‚Zeitschrift‘ und ‚Zeitung‘ zu definieren. Ihrer Meinung nach, die von der „Berliner allgemeinen musikalischen Zeitung“ im Rahmen einer kommentierten Vorankündigung wiedergegeben wurde, ist eine Zeitung für Tages- und Wochenneuigkeiten zuständig. Sie ist auf kurze, „angenehm zu lesende Aufsätze“ und „belehrende Unterhaltung“ gerichtet, die Zeitschrift dagegen auf „grössere Abhandlungen einzelner Materien aus dem Gebiet einer Kunst oder Wissenschaft; auf umfassende Übersichten und Berichte über alles Wichtige, das seit einer gewissen Zeit gewonnen worden“(3) [II,230]. Danach verstand sich die „Eutonia“ als eine „hauptsächlich pädagogische Musikzeitschrift für alle, welche lehrend oder leitend die Musik in Schulen oder Kirchen zu fördern haben.“ (1) Martha Bruckner-Bigenwald: Die Anfänge der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung, Diss. Freiburg 1938, Nachdruck (Knuf Hilversum) 1965; (2) Reinhold Schmitt-Thomas: Die Entwicklung der deutschen Konzertkritik im Spiegel der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung (1798–1848), Diss. Frankfurt 1969, Kettenhof Verlag Frankfurt, 787 S. (diese Arbeit ist grundlegend); (3) BamZ V/48, 26.11.1828, S. 460a–b.

72

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

2. FRIEDRICH ROCHLITZ a) Zur Person Johann Friedrich Rochlitz, am 12. Februar 1769 zu Leipzig geboren, in der Jugend Thomaner, war der herausragende Musikschriftsteller seiner Zeit. Er stand mit Goethe in Briefwechsel, für Carl Maria von Weber dichtete er die Kantate „Der erste Ton“ und die Hymne „In seiner Ordnung schafft der Herr“. Weitere Gedichte und Oratorien-Texte vertonten Schubert und Spohr. Seine vierbändige Sammlung für Freunde der Tonkunst war so berühmt, daß sie noch 1868 in 3. Auflage erschien. Seine Bach-Aufsätze zählen zu den frühesten ‚Wegen zu Bach‘, und die von ihm in den Jahren 1838 bis 1840 dreibändig herausgegebenen Sammlungen vorzüglicher Gesangsstücke von Dufay bis Michael Haydn erfüllten trotz der an ihnen geübten zeitgenössischen Kritik ihren Zweck (1). b) Typenlehre Die Geschicklichkeit des Redakteurs Rochlitz zeigt sich an der Art, wie er sich mit musikkritischen Urteilen auseinandersetzte, methodisch nämlich so gut wie gar nicht. Rochlitz ist zu musikalisch und wertbewußt gewesen, als daß er sich, um ein Musikstück zu beurteilen, auf irgendwelche Methoden oder Prinzipien in einer Zeit hätte festlegen lassen, in der man alles Festzulegende verwarf. Das gilt sogar für seine eigenen, die er aufstellte, um sich, wenn es ihm passend schien, nicht daran zu halten. Rochlitz beschäftigte sich mit Theoremen zur Musikkritik im Grundsätzlichen eher am Rande und dann auch nur mit solchen, die ohnehin selbstverständlich waren, weil er Urteile aus einer Art von gruppenzugeordneter Typenlehre begriff. Er ist damit auf seine Weise über ein ganzes Jahrhundert hinaus modern geblieben. Das redaktionelle Programm verbirgt sich in seiner Bewertung der Typen. Rochlitz läßt sie alle gelten und schließt sich weder der einen noch der anderen Gruppe an. Damit vermag er allen Urteilsgruppen gerecht zu werden, die sich nunmehr bei Rochlitz hinreichend vertreten fühlen. Journalpolitisch bedeutet das, Rochlitz vermag die Gesamtheit all derer zu gewinnen, die sich in seiner Zeit überhaupt mit Musik beschäftigen, und das sind Spätaufklärer, Vorromantiker, Frühromantiker, Berufs- und Laienmusiker, gebildete und weniger gebildete Musikfreunde aller Stände. Seine Zeitung ist dadurch keine ‚Leipziger‘ Zeitung, sondern wirklich eine ‚allgemeine‘ musikalische Zeitung geworden, die sich weder lokal noch richtungsmäßig eingrenzen läßt und in Leipzig nur ihren Erscheinungsort hatte. Auf diese Weise schlägt er die Konkurrenten, so daß in seiner Zeit einschließlich Reichardt keine neuen mehr erfolgreich aufkommen konnten; denn bis Mitte der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts hatten alle Konkurrenzunternehmer denselben Ansatz, ihre Blätter um ihren eigenen Standpunkt herum zu entwickeln und Gruppierungen mit anderen Meinungen entweder auszuschließen oder sogar zu bekämpfen. Seiner klassisch gebildeten Natur folgend ging Rochlitz den anderen Weg. In seiner „Geschichte der Musikästhetik“ aus dem Jahre 1934 charakterisierte

3. Die Fleischmann-Thesen

73

ihn Rudolf Schäfke in einem der wenigen Rochlitz gewidmeten Sätze als jemanden, der „das Werdende nicht aus der schroffen Verfemung des Überkommenen zu entwickeln“ suchte(2). Tatsächlich lebte Rochlitz aus dem Gefühl einer Nachfolge, nicht aus dem einer Opposition. Das hat nach Rochlitz kein Zeitungsgründer mehr so bewußt gemacht, nicht Marx, nicht Gottfried Weber, vor allem nicht Schumann. Sie verstanden sich als Neuerer im Gegensatz zum Früheren, aus dem sie als dem Älteren Einzelerscheinungen für sich nutzbar machten, um das größere Umfeld zu verwerfen und wirkliche oder vermeintliche Gegenwartsschwächen bloßzustellen oder handfest zu befehden. Rochlitz dagegen verstand Geschichte als Verwandlung. Keine Epoche ist besser oder schlechter als die frühere oder spätere, sie ist nur anders. Daher ist in ihrer Totalität keine zu verwerfen oder überzubewerten, und der Einzelne steht je nach seiner Geburt in einem steten Fluß von Gegenwart, der sich aus einer schätzbaren Vergangenheit her gebildet hat und weiter in eine ebenso schätzbare Zukunft hineinströmen wird. Über zweihundert Jahre später wird aus dieser Erkenntnis ein Eliot zu dem Satz finden, Alles sei immer Jetzt. So ist es kein Widerspruch aus redaktioneller Berechnung oder persönlichem Unverständnis, wenn er Fleischmann begrüßt, Nägeli hoch schätzt und sich trotzdem nicht nach dem richtet, was sie zu sagen haben. Für Rochlitz ist Kritisieren und Tadeln nicht dasselbe gewesen, wie er 1829 in einem längeren Dialog zwischen einem Gelehrten und einem Komponisten „Der Componist und der Gelehrte. / Ein Gespräch“ schreibt(3) [II,237]. Natürlich kennt er auch Fichte. Er läßt ihn und Johannes Müller und zwar an einer ausgezeichneten Stelle zu Wort kommen, nämlich in der ersten Nummer des Jahres 1817 gleich auf der ersten Seite(4) [II,46]. Fichte spricht nicht von Musik, sondern allgemein vom Kunstwerk, wie man es richtig aufzunehmen habe, und Müller definiert die Vollkommenheit aus der Verbindung von Denken und Fühlen. (1) Hans Ehinger: Friedrich Rochlitz als Musikschriftsteller, Diss., Breitkopf & Härtel, Leipzig 1929; (2) Rudolf Schäfke: Geschichte der Musikästhetik in Umrissen, Max Hesses Verlag Berlin 1934, S. 372; (3) Rochlitz, AmZ XXXVI/1, 7.1.1829, Sp. 5–16, Z:7–8; (4) AmZ XIX/1, 1.1.1817, S. 1/2q–3/4q.

3. DIE FLEISCHMANN-THESEN Der Fleischmann-Aufsatz „Wie muss ein Tonstück beschaffen seyn …“(1) [II,3] erschien mit einem ganz knappen Redaktionsvorwort zweiteilig im Januar 1799, also etwa vier Monate vor Rochlitzens Vier-Klassen-Theorie. Während sich Rochlitz einer eindeutigen Standpunktszuordnung entzieht, weil er alle Standpunkte als gerechtfertigt ansieht, ist der Kabinettssekretär Fleischmann den philologischen Vorstellungen des 18. Jahrhunderts verbunden. Zieht man ab, was für alle Künste und über alle Jahrhunderte hin gilt und daher Gegenstand der normalen Handwerkslehre ist, wie etwa die ausgewogene Verteilung der Gewichte innerhalb eines Kunstwerks, sei es Bild, Plastik, Bauwerk oder Tonstück (und auch Interpretation),

74

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

oder die Anlagenplanung oder die grammatikalische Richtigkeit und dergleichen, so schwört er nach wie vor auf die Gültigkeit des reinen Satzes und sieht das Genialische darin, dessen Regeln besonders gut zu erfüllen. Darauf läuft es bei allen seinen Parametern der immerwährenden Hinweise auf Genie und genialisch hinaus. Die ausnahmslose Gültigkeit des reinen Satzes in Frage zu stellen, Schönheit nicht mehr als die richtige Anwendung von Regeln zu verstehen, war aber das Anliegen und auch die Leistung der Geniezeit. Und wenn man jetzt spekulativ nach Fleischmann eine Mozartkomposition ausschließlich unter dem Gesichtspunkt richtiger Deklamation, richtiger Satztechnik, richtiger Melodienbildung, richtiger Instrumentalverwendung beurteilen wollte, käme man, wie geschehen, bei Reichardt, Spazier oder sogar Schaul an, weil Richtigkeit althergebracht definiert wird. Rochlitz dagegen weicht diesem Dilemma aus. Für ihn bildet Mozart den bislang unerreichten Höhepunkt der Musikgeschichte. Folgerichtig kann für ihn eine Mozartkritik unter ausschließlicher Berufung auf den bis dahin gehandhabten reinen Satz keine Gültigkeit haben. Gerade Rochlitz wird zum Kritiker derjenigen, die aus der Vorstellung italienischer gleich richtiger Gesangsdeklamation oder deutscher Kontrapunkttechnik über Mozart hinwegsehen oder ihn gar abschätzig betrachten. Aber auch Fleischmanns Thesen lassen sich jederzeit verdrehen. Er würde sich mit dem Argument wehren können: Reiner Satz ja, aber es muß Genie darin sein. Aber was kann an einem reinen Satz genial sein, außer daß man seine Regelhaftigkeit besser ausnutzt oder beherrscht als andere? Man mag alle Fleischmannschen Kompositionsthesen durchgehen und kommt immer wieder zu demselben Ergebnis. Er verlangt beispielsweise richtige Behandlung der Instrumente. Das ist ein Grundsatz, den jedermann zu jeder Zeit unterstreichen würde. Eine schlechte Instrumentation kann eine gute Komposition zunichte machen, einer schlechten Komposition kann durch eine gute Instrumentierung nicht aufgeholfen werden, formulierte im 20. Jahrhundert Bernd Alois Zimmermann. Wer wüßte das besser als die Komponisten nach 1850, als die Klangphantasie zum Bestandteil der Komposition wurde. Aber was heißt ‚richtige‘ Behandlung? Bei Fleischmann liest sich das ‚Richtige‘ so: „Um einem Tonstück das Verdienst allgemeiner Brauchbarkeit zu geben, darf der Komponist den mitspielenden Instrumenten nichts vorschreiben, was nicht ihrer Natur und ihren Fähigkeiten angemessen ist … “(2), und mit einem solchen Satz entlarvt er seine Geniebeschwörungen als Redensarten. Denn wenn alle Musiker ihre Instrumente in derselben Weise einsetzen, wird ein übereinstimmendes Klangbild erzeugt und die Instrumentenbehandlung verbleibt im Bereich des Durchschnittlichen. Das aber würde jenes immer wieder beschworene Genie, das neue Wege sucht, nie tun. Ferruccio Busoni wird dieses Dilemma in seinem „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ 1907 beziehungsweise 1916 thematisieren und verwerfen, weil es zu dem führt, was man zu Busonis Zeiten „Kapellmeistermusik“ nannte. Schon das „Genie“ in der Zeit Fleischmanns würde alles daransetzen, die Instrumente anders als bisher zu verwenden, um aus der Masse seiner Zeitgenossen herauszuragen, und Fleischmann bliebe dann nichts übrig, als in der Konsequenz seiner eigenen Thesen dem Verfasser, Genie hin, Genie her, ein mangelhaft unter seine Arbeit zu schreiben. Busoni hat die ungeliebte Kapellmeistermusik seiner Zeit auf dieses Phänomen einer von instrumentalkundi-

3. Die Fleischmann-Thesen

75

gen Kapellmeistern erzeugten Instrumentationsidentität zurückgeführt. Alle Instrumente würden von den in diese Kategorie gehörenden Komponisten in derselben Weise ausschließlich in ihren klingenden Lagen und damit unoriginell eingesetzt. Busoni spricht von der „prahlenden Geläufigkeit“ der Klarinette, vom „zögernden Ansatz“ des Horns, und so weiter. Das Ergebnis sind technisch gut gemachte, aber in ihrer Gleichförmigkeit ununterscheidbare, also handschriftlose und damit unbedeutende Arbeiten, über die nichts weiter mehr zu sagen ist(3). An anderer Stelle verbreitet sich Fleischmann über den „Plan in der Anlage“, wie er es nennt. Niemand wird ihm widersprechen, wenn er diesen Abschnitt mit dem Satz beginnt: „So wenig ein Haufen Steine ein Gebäude bildet, so wenig macht eine Reihe von tönenden Ideen, die bunt und planlos nacheinander folgen, einen musikalischen Satz aus“(4). Doch die Schlußfolgerung, die er daraus zieht, und die Anweisungen, die er gibt, führen in den schlimmsten formalen Regelkanon des 18. Jahrhunderts zurück und könnten ungebrochen vom formalisierten Formenlehreunterricht des 20. Jahrhunderts übernommen werden. Das Tonstück muß demnach aus mehreren Hauptabschnitten bestehen, „der erste in der Dominante, der zweyte in der weichen Sexte der Tonart oder in der weichen Mediante, der dritte in der Tonica“(4), und das ist der Betonung seiner Wichtigkeit wegen im Original auch noch überwiegend gesperrt gedruckt. Zu den Hauptabschnitten treten die Nebenabschnitte, und so geht es fort. Für eine Zeit, die das Genie in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen setzte, funktionieren solche Vorstellungen nicht mehr. Nach Fleischmann muß der Komponist in der Struktur seines Stückes genial sein; aber der zweite Satz hat in der Mediante zu stehen. Er muß in die Satztechnik etwas Geniales hineinbringen, aber die Reinheit des strengen Kontrapunktes darf nicht angetastet werden. Nach dem reinen Satz sind Quintenparallelen verboten. Die aus der Rhetorik stammende Figurenlehre kann sie aber gebrauchen, sei es um die Hinterlistigkeit des Judaskusses (Bach) oder den Wahnsinn Sauls (Kuhnau) darzustellen, und wer weiß, ob Kuhnau nicht insgeheim an seinen Quintenparallelen sogar Gefallen fand, aber unter dem Druck des reinen Satzes Sauls Wahnsinn als Vorwand brauchte, um sie schreiben zu dürfen? Der Komponist soll eine geniale Musik schreiben; aber die „drey Style, und der jedem eigenen Manier“(5) muß er in eine „verständige Unterscheidung“ bringen, das heißt, Kirchen-, Theater- und Kammerstil (stilus ecclesiasticus, theatralis und cubicularis) sind als solche säuberlich zu trennen und dürfen unter keinen Umständen miteinander vermischt werden – als ob das die Komponisten nicht schon vor 1750 längst gemacht hätten; wie wäre es sonst zu einem stilus ecclesiasticus seu cubicularis gekommen? Bei Fleischmann hebt das Eine das Andere wieder auf, und wo es interessant wird, bricht er ab oder bleibt bei Thesen. (1) (2) (3) (4) (5)

Fleischmann, AmZ I/14+15, 2.+9.1.1799, Sp. 209–213, 225–228; Fleischmann, a. a. O. Sp. 225; Ferruccio Busoni, Auflage 1916, S. 35; Fleischmann, a. a. O. Sp. 211; Fleischmann, a. a. O. Sp. 228.

76

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

4. ROCHLITZENS VIER-KLASSEN-THEORIE Der Zehnspalter „Die Verschiedenheit der Urtheile über Werke der Tonkunst“ vom Mai 1799 gleich im ersten Band seiner Zeitung ist programmatisch zu verstehen und bildet die erste und fast einzige grundsätzliche Äußerung über Musikkritik des Redakteurs Rochlitz [II,4]. Rochlitz stellt nach Art einer These seine Meinung voran, über keine Kunst werde so viel geurteilt wie über die Musik. Er erklärt es mit der Verbreitung von Musik in alle Lebensbereiche hinein und mit ihrer Wirkung auf die Menschen. Die Schlußfolgerung begründet das Aufsatzthema; denn weil über keine Kunst so viel wie über die Werke der Tonkunst geurteilt wird, müssen auch über keine Kunst wie über die Musik die Urteile so verschieden ausfallen. „Mit der Zahl der Urtheile und der Urtheilenden über jedes Ding wächset die Verschiedenheit der Urtheile selbst, da in der geistigen, wie in der materiellen Schöpfung, gänzliche Gleichheit unmöglich ist“(1). Am Beispiel der Rose erläutert Rochlitz die im Immateriellen liegende besondere Schwierigkeit des Urteils, weil es sich nicht auf einen Vergleich einer gemalten mit einer realen Rose zurückziehen kann. Das Musikstück wirkt „nach Massgabe der subjektiven Empfindungsfähigkeit“(1). Deshalb muß der Hörer seine eigenen Empfindungen kennen, muß sich selbst schon die Veränderungen im eigenen Zustand zum Bewußtsein gebracht haben, „um über sie und das, was sie erregte, urtheilen zu können“(2). Wer sich dazu nicht in der Lage sieht, sollte sich jeglichen Urteilens enthalten. „Da es aber im Wesen des Menschen liegt, über alles; und in seiner Schwäche, über nichts lieber zu urtheilen, als über das, was er nicht verstehet: so urtheilt er dennoch – und daraus muss allerdings eine große Verschiedenheit der Urtheile entstehen“(2). Rochlitz mißbilligt die allgemeine Verachtung derartiger Urteile. Er stellt fest, ein Tonstück, das auf alle nur empfindungsfähige, wenn auch nicht ausdrücklich auf Kunst ausgerichtete Menschen überhaupt nicht wirke, gewiß nicht gut sei, ohne daraus folgern zu lassen, daß es schlecht sein müsse – und umgekehrt, daß es nicht unbedingt als gut gelten muß, wenn es auf sie wirkt, aber ganz gewiß dann nicht schlecht sein kann. Rochlitz kommt auf jene Menschen zu sprechen, denen man zutrauen darf, über Musik zu urteilen und zwar einvernehmlich zu urteilen. Es sind die „Kunstkenner, Künstler, und Kunstliebhaber“. Die Erfahrung lehre aber, daß sie untereinander nicht einmal über das Wesentliche der Tonkunst Übereinstimmung zu erzielen vermöchten. Und nun folgen zum ersten Mal in der Journal-Literatur ausgewählte Beispiele nicht für negative oder positive Urteile, sondern für einander widersprechende Urteile in ein und derselben Sache aus dem Munde von Menschen, die ihrer Herkunft und ihrer Profession nach unbedingt als urteilsfähig zu gelten haben. „Glucks vollendete Vorstellungen in Paris pfiff die eine Parthey von Herzensgrunde aus, indess eine andere dabey in Elysium schwebte und den Komponisten anbetete. Rameau wurde ebendaselbst von einer Parthey ausgelacht, indess eine andere ihn bis über die Wolken erhob, und beiden Parteyen kann man nicht absprechen, dass sie unter unsere Kategorie gehören“(3). Es folgen weitere Beispiele. Über ein Jahrhundert später, 1913, hat die Cembalistin Wanda Landowska in einem Essay, der in der Schusterschen Fachzeitschrift „Die Musik“ erschien, die Beispiele

4. Rochlitzens Vier-Klassen-Theorie

77

noch vermehrt und sie, mit einer genaueren Fragestellung versehen, in eine andere Kombination gebracht, die das Verfahren, das Rochlitz meint, in seiner historischen Kuriosität noch besser verdeutlicht. (Es geht um den Vorwurf, die moderne Musik habe keine Melodie. Landowska beantwortete die Frage in einem Brief aus dem Kaukasus: „Weil sie modern ist. Niemals war moderne Musik melodiös. Im 17. Jahrhundert warfen die Franzosen der italienischen Musik Mangel an Melodie vor, verglichen sie mit einer geschminkten, lebhaften Kokette, die stets mit einem Fuß in der Luft schwebte, überall zu glänzen sich bemühte, so daß alle ihre Leidenschaften eintönig erschienen. Ein Jahrhundert später sind es wiederum die Italiener und deren Verteidiger, die Enzyklopädisten, die den Franzosen den Vorwurf machen, gelehrte, aller Melodie entbehrende Musik zu schreiben. / Nun war Gluck an der Reihe, die schönen Arien durch verzweifeltes Geschrei und krampfhaftes Geheul, jeden Melodienreizes bar, zu ersetzen. Und was ist erst von Bach zu sagen, dessen eigene Söhne zu Pater Martini liefen, um bei ihm das Geheimnis der schönen Melodie zu erlernen… . Und gar erst Wagner! Dieses Ungeheuer, das für ewige Zeiten die Melodie getötet hat! / … Es ist interessant zu beobachten, daß alle diejenigen, die man ihre Mörder hieß, der Reihe nach ihre Wohltäter und Retter wurden. / Italien soll im 17. Jahrhundert das Verdienst gehabt haben, die Melodie von den polyphonen Fesseln befreit zu haben, die sie zu sehr einzwängten. / Lully soll uns von dem schleppenden und düstern Gesang der Antike erlöst haben. / Rameau soll uns von dem ‚lullystischen plain-chant befreit haben, der ein Jahrhundert lang geleiert wurde.‘ / Die Italiener des 18. Jahrhunderts sollen die trockene Art Rameau’s durch ihren zarten und leichten Gesang verdrängt haben. Die Romantiker sollen uns von der Oberflächlichkeit der Italiener und Franzosen und von der kontrapunktischen Rüstung, die die Bachsche Musik bewaffnete, befreit haben“(4).) Im Anschluß an seine ausführliche und wesentliche Einleitung teilt Rochlitz (nach einem literarischen Spaziergängervorbild möglicherweise Sternes und Jean Pauls) scheinbar augenzwinkernd die kritisierende Musikwelt in vier uneinheitliche gesellschaftliche Gruppen ein. Die erste besteht aus den Eitlen und Modebewußten, die zweite aus den Gelehrten, die dritte aus den genießenden Zuhörern und die vierte aus Menschen, denen Musik zum Lebensbedürfnis geworden ist. Die erste Gruppe oder Klasse, wie es bei Rochlitz heißt, ist diejenige, denen auch er die geringste Sympathie abgewinnen kann. „Sie haben in der Oper und im Konzert Sitz und Stimme – Sitz, um sich und ihren Putz zu präsentiren, Stimme, um zu plaudern“(5). Am Künstler sehen sie nur seine Kleider oder sein Äußeres in Gestalt und Gehabe. Sie hören nicht Musik, sondern wohnen ihr bei; sie sind nicht beschränkt, sondern sie haben sich freiwillig einer Beschränkung unterworfen, weil sie, obwohl zu viel mehr befähigt, nichts weiter wollen als dabei sein. Sie schwätzen unentwegt, selbst bei den schönsten Pianostellen, und passen ihre Stimme der Lautstärke der Musik an, um sie auf jeden Fall übertönen zu können. Der letzte Satz zeigt, was und wen Rochlitz meint: „Uebrigens findet man diese Art Leute am gewöhnlichsten unter den Grossen und Vornehmen beyder Geschlechter“(5). Im Jahre 10 nach der Französischen Revolution beginnt ein empörtes Bürgertum Roß und Reiter zu nennen. Rochlitz spielt natürlich im Wissen über die Vorgänge von 1789 auf die längst nicht mehr angeblich ‚heiligen‘ Vorrechte ungebildeter, aber

78

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

mächtiger und einflußreicher Aristokraten an, die sich auch in Oper und Konzert benahmen, wie sie wollten, lautstark kamen und gingen, Karten spielten, tranken, sich auf ihre Weise und das zum Teil ziemlich ordinär belustigten, redeten und selbstgefällig kritisierten. Noch Spohr litt in den vierziger Jahren des kommenden Jahrhunderts unter einem Kassler Kurfürsten, der allabendlich die Oper besuchte und sich in seiner Loge, unbekümmert um das anwesende Publikum, lautstark mit seiner Frau herumzankte, und in Dresden gründete man zur selben Zeit einen Anti-Konzerthundeverein: Hundeliebhaber hatten die Unsitte einreißen lassen, ihre zwischenbellenden Hunde mit ins Konzert zu nehmen(6). Man wird sich bei dieser Gelegenheit ins Gedächtnis zurückzurufen haben, daß Gustav Mahler als Operndirektor in Wien die Saaltüren mit Beginn der Opernvorstellung schließen ließ und, was dann über Wien hinaus selbstverständlich wurde, den Einlaß für Zuspät- oder Wiederzurückkommende erst in der jeweils folgenden Aktpause erlaubte. Es war eine seiner Wiener Reformen und einer der Gründe für seine Unbeliebtheit in den betroffenen Kreisen. Was Rochlitz umschreibt, wird man kurze Zeit später mit ‚Philistertum‘ bezeichnen. Die zweite Klasse ist zweifach, eigentlich dreifach unterteilt. Hier sitzen einmal die eigentlichen Kunstkenner, die auf zweifach verschiedene Weise mit dem Verstande hören, und hier sitzen jene Virtuosen, die nur Virtuosen sind und sonst nichts. Der eine Teil der Kunstkenner zieht sich von allem zurück, was mit Gegenwart zu tun hat. Es mißfällt ihnen ausnahmslos, weil es nicht so ist, wie es früher war. „Sie haben, wie gewisse Gelehrte mit dem Examen, mit ihren Jünglingsjahren ihren Kursus für die ganze Lebenszeit vollendet“(7). Die Besseren unter ihnen vergleichen das Neue zu dessen Ungunsten mit dem Alten und haben die Reizbarkeit für neue Dinge längst verloren. Die zweite Gruppe der Kunstkenner versäumt zwar keine Aufführung eines neuen Musikstücks, tut dies aber nur, um sich darüber aufzuhalten, „sich die Freude zu verschaffen, zuweilen bey diesem oder jenem unserer gewöhnlichen Meister eine falsche Quinte, eine verbotene Oktave u. d. gl. zu finden“(8). Ihr war zum Beispiel Mozart, das „Requiem“ ausgenommen, ihr ganzes Leben hindurch zuwider und die früheren Arbeiten Mozarts nur deshalb interessant, weil sie an ihnen die häufigen Vernachlässigungen der grammatikalischen Regeln tadeln und darüber hinaus die Geschmacklosigkeit jener Zeitgenossen beklagen konnten, denen die Mozartsche Musik gefiel. Diese Art Männer „(denn Weiber dieser Art giebt’s wohl nicht)“(8), meint Rochlitz, findet man der Natur der Sache nach fast allein unter etwas bejahrten Künstlern und Musikgelehrten – man mag raten, ob Rochlitz das mit versteckter Ironie hinschrieb. Der zweiten Klasse rechnet Rochlitz noch die Nur-Virtuosen zu. „Für sie haben nur Schwierigkeiten und sogenannte Hexereyen // und deren gute oder übele Ausführung Interesse – wie für Seiltänzer nur der Gang auf Drath“(9). Alles was leicht auszuführen ist, das Einfache und Natürliche ist ihnen gleichgültig. Für sie sind technische Schwierigkeiten nicht Mittel zum Zweck, sondern die Sache selbst. Da sie überall Verwunderung, wenn auch nicht Bewunderung, Beifall, wenn auch nicht Zustimmung finden, und „des Menschen Eitelkeit vom Lauten und Plötzlichen nur allzuleicht hingerissen wird: so ist auch ihr gewöhnliches Entscheiden ohne Gründe und Absprechen auf eigene Autorität sehr leicht erklärlich“(10).

4. Rochlitzens Vier-Klassen-Theorie

79

Die dritte Klasse ist am einfachsten zu umreißen. In ihr befinden sich jene Hörer, die sich der Musik nur mit dem Ohre nähern, „gute, harmlose Leutchen beyderley Geschlechts“(10). Es sind diejenigen, die man zur Operettenzeit um 1900 als Liebhaber der leichten Muse bezeichnen wird. Rochlitz beschreibt sie auf seine Weise: „Sie lieben Musik, weil durch dieselbe ihr Blut in einige leichtere Wallung versetzt und ihre Füsse zum Tanzen gleichsam gehoben werden; sie lieben die Musik, welche dies bewürkt“(10). Musik ist für sie ein Mittel gegen die Langeweile. Sie mögen „artige“ Tänze, Variationen über ein „Lieblingsliedchen“, Militärmusik, „vornehmlich hübsche, artige, muntere Liederchen“ und in deren Geschmack geschriebene Opernarien und Duette. „Was mehr verlangt und voraussetzt, was tiefer eingreift, was sich nicht so leicht nachsingen lässt – das ist für sie nicht, ist ihnen nichts“(9). Ohne Papageno keine „Zauberflöte“, ohne das Menuett keine Haydnsche Symphonie: „Daß das Uebrige nicht für sie ist, sind sie aufrichtig genug zu gestehen; viele aber sind auch egoistisch genug, jenes Uebrige geringschätzig zu behandeln und zu verwerfen“(11). In der vierten Klasse endlich versammeln sich diejenigen, denen sich auch Rochlitz am engsten verbunden fühlt, „oft übersehen, fast immer ungefragt“(11). Sie gehen von richtigen Grundsätzen über die Kunst im Allgemeinen aus, sehen sie als Mittel zur Vervollkommnung und Veredlung des Menschengeschlechts. Was die Wissenschaft durch an die Vernunft gerichtete Lehren bewirken soll, das soll, wie sie glauben, die Kunst durch ihre dem Gefühl vorgehaltenen Darstellungen bewirken. Kunst ist ihnen weder Erzieherin und Bildnerin noch gar Dienerin der Sinnlichkeit des Menschen, auch nicht die Brücke, worüber er aus der Sinnlichkeit in die Freiheit übergehen soll, sondern sie zeigt, was die reine Natur wirklich ist. „Beyde Leiterinnen, die Wissenschaft und die Kunst, nehmen also den Menschen gleichsam in die Mitte und führen ihn nach dem Tempel der Vollendung und Freyheit“(11). Das nämlich soll, wie sie wollen, auch die Musik sein, und sie ist es, wenn sie wahre Musik ist. Sie sind gegen alle Äußerlichkeiten in der Tonkunst gleichgültig, wenn sie nicht als Mittel zu jenem Endzweck eingesetzt werden. „Deshalb ist ihnen das kleinste, unschuldige, muntere Volkslied, das muntere Menschen macht, mehr werth, als das Konzert, welches nichts ist, als Konvolut von Schwierigkeiten ohne Empfindung“(11). Sie hängen weder am Neuen, noch am Alten, sondern nur am Guten, das heißt für Rochlitz aber, an dem, das jenen höchsten Zweck der Kunst beabsichtigt und sich ihm nähert. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9)

Rochlitz: Die Verschiedenheit der Urtheile …, Sp. 497; Rochlitz, a. a. O. Sp. 498; Rochlitz, a. a. O. Sp. 499; Wanda Landowska: Warum ist die moderne Musik nicht melodiös? Ein Brief aus dem Kaukasus, (Französische Übersetzung von Stefania Goldenring), Mus XII/20, [Band 48, 2. Juliheft] 1913, S. 95–99, Z:96; Rochlitz, a. a. O. Sp. 500; s. Kirchmeyer: Das zeitgenössische Wagnerbild, Band I: Wagner in Dresden, 846 S., BosseVerlag Regensburg 1972, S. 36; Rochlitz, a. a. O. Sp. 501; Rochlitz, a. a. O. Sp. 502; Rochlitz, a. a. O. Sp. 502–503;

80

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

(10) Rochlitz, a. a. O. Sp. 503; (11) Rochlitz, a. a. O. Sp. 504.

5. ROCHLITZ – FLEISCHMANN Zwar zeigte sich Rochlitz von Fleischmanns Thesen zu einem als gut zu benennenden Tonstück ziemlich begeistert; trotzdem liegen zwischen Fleischmann und Rochlitz unvereinbare Welten. Es ist nicht einmal auszuschließen, daß Rochlitz mit seiner Vier-Klassen-Theorie den gerade verstorbenen Fleischmann auf menschlichfeine Weise zu korrigieren gedachte, ihn daher lobend erwähnte, um ihn inhaltlich zu widerlegen. Fleischmann hatte Rochlitz mehrmals sehr höflich erwähnt und in der Hoffnung vorangekündigt, Rochlitz möchte doch bald sein Versprechen wahr machen, sich über den anstehenden Gegenstand zu äußern. Der Aufsatz „Die Verschiedenheit der Urtheile über Werke der Tonkunst“ vom Mai 1799 erfüllte diese Erwartung. Rochlitz ist klug, von Haus aus kein Berufsmusiker, sondern Schriftsteller; er ist klassisch belesen und schätzt die Entwicklung des frühen Goethe hin in den Bereich der später Weimarer Hochklassik genannten Literatur richtig ein. Fleischmann gehört vom Gedankengut her dem 18. Jahrhundert an, ohne sich der Geniezeit, mit deren Prinzipien er nicht zurechtkommt, entziehen zu können. Rochlitz wiederum weiß um die Vorgaben des reinen Satzes, aber auch um deren Aufhebung durch die Geniezeit. Die Ablehnung der Regel ist nicht einmal versuchsweise spekulativ als System formuliert worden, vermutlich deshalb nicht, weil sich aus ausschließlicher Negation kein System bilden läßt. Das gilt für die so schwer in eine sinnenfällige Gestalt zu bringende flüchtige Musik mehr noch als für andere Künste. Um 1799 gehört das Schlimmste an Auswüchsen der Geniezeit schon der Vergangenheit an. Man verneint nach wie vor Regel um der Regel willen, aber auch das Genie, wenn es sich nur in der Verneinung der Regel äußert. Das, was sich in der Rochlitz-Zeit modern nennt, das, was wir heute Romantik und nicht nur Frühromantik nennen, verlangt ein durch Besonnenheit gemäßigtes oder gereinigtes oder geläutertes Genie. Dessen Produkte sind aber nicht durch kritische Kategorien im Vorhinein festzulegen, wohl an der Beherrschung des elementaren Handwerks zwar nicht generell, doch immerhin individuell bestimmbar. Rochlitz weicht in seinem Aufsatz der gesamten Problematik aus. Er läßt sich nicht, wie Fleischmann, dazu verführen, in die Einzelheiten zu gehen, in denen die Gefahren lauern. Und außerdem will er eine Zeitung machen, die Erfolg versprechen soll. Und so söhnt er sich mit allen Gruppenangehörigen aus, ausgenommen die der ersten Klasse und die Virtuosen der zweiten Klasse. Alle anderen haben in ihren Urteilen, auch wenn man sie nicht teilt, etwas Gutes vorzuweisen. Das gilt nicht für jene Vornehmen und Einflußreichen, die er in die erste Klasse einstellt. Aristokraten mit bloß instinkt- und rücksichtslosem Pochen auf ihre historisch verbrieften Rechte sind unbeliebter denn je. Ihr Urteil ist unmaßgeblich, weil sie, gleich ob Mann oder Frau, unwissend, eitel, unverständig, empfindungslos, schlicht gesagt durch und durch dumm sind, genau so wie die Virtuosen, die ein Stück nach

5. Rochlitz – Fleischmann

81

dem Grad seiner technischen Schwierigkeit und nicht nach der Substanz beurteilen. Später wird man solche Leute Artisten nennen, nicht Künstler. Aber schon die Menschen, die alles nur mit dem Verstand hören, die nichts von zeitgenössischer Musik wissen wollen und ganz in der vergangenen Zeit ihrer Jugend leben, ebenso wie jene Kritiker, die man mit einem späteren Vulgärbegriff als ‚Kritikaster‘ bezeichnet (bis zur Brendelzeit sprach man von ‚Mäklern‘), die sich alles anhören, nur um daran herumnörgeln zu können und in einem kleinen, möglicherweise auch noch vermeintlichen Fehler das ganze Stück sehen, sind für die Musikentwicklung durchaus nützlich. Sie haben nämlich nicht nur überall Unrecht, sagt Rochlitz, „sie stiften auch manches Gute, indem sie sich nach Möglichkeit dem Hange zur Frivolität widersetzen, der Ungerechtigkeit der Zeitgenossen gegen die grossen Männer unter den Vorfahren sich entgegenwerfen, an den Ungerechten Rache nehmen“(1). Sie halten, so würden wir heute sagen, die Musikgeschichte im Gleichgewicht und verhindern durch ihre Kritik ein Ausufern des Neuen in das Modische. Die Musikliebhaber, die Rochlitz der dritten Klasse zuordnet – wir würden sie heute entweder Operetten- oder Musical-Liebhaber nennen –, dürfen seiner Meinung nach weder verachtet noch verlacht werden, „wie gewöhnlich von ernsthaften Kennern und Liebhabern geschiehet“(2). Denn sie hängen an etwas, das zum „Wesentlichen der Musik“ gehört (Rochlitz läßt das Wörtchen ‚Wesentlichen‘ sperren) und sie sehen das, was in ihrer Sphäre liegt, von einer weit richtigeren Seite an und beurteilen es dementsprechend auch weit richtiger, als zum Beispiel der NurVirtuose es aus Rochlitzens zweiter Klasse je könnte, weil der nur am Äußerlichen hängt. „Junge, lebhafte, gebildete Damen gehören hauptsächlich in diese Klasse; und weil junge, lebhafte, gebildete Damen gar viel auf junge, lebhafte, gebildete oder ungebildete Herren wirken, diese aber die rauschende Stimme des Publikums handhaben – so werden sie sehr bedeutend für die Schicksale der Kunstwerke, folglich für die Schicksale der Künstler, folglich auch für die Schicksale und den Gang der Kunstkultur selbst“(2). Es liegt ein bißchen gütige Ironie in dieser Darstellung; doch im Jahre 1799 entscheiden in einer Zeit der Geringauflagen schon einige wenige Abonnenten über das Fortbestehen eines Zeitungsinstituts. Und dessen war sich Rochlitz ganz gewiß bewußt, daß er von den wenigen Kunstgelehrten, die ohnehin vermutlich einer Kaste angehörten, die die Dinge lieber geschenkt als gekauft haben wollten, nicht würde leben können. In seiner dritten Gruppe befand sich die Masse der Musikliebhaber, die übers Geschäft entschied und die zu allen Zeiten dazu berufen gewesen ist, die ‚höheren‘ Dinge (mit ihrer geringeren Abnehmerzahl) ausschlaggebend mitzufinanzieren – und potentielle Leser und damit Käufer gewinnt man nicht dadurch, daß man sie beschimpft oder sich gar über sie lustig macht und dadurch endgültig vergrault. Bei Rochlitz wird vieles zusammengekommen sein, Erkenntnis über die Käuferschichten, von denen er abhängig war und die er deshalb anzusprechen hatte, Großzügigkeit im Zugeständnis an anderer Leute Meinung, und möglicherweise eine so ausgebildete Musikalität, daß er auch an der Tanzmusik Gefallen finden konnte – oder sollte man davon ausgehen, daß Rochlitz nie getanzt oder ihm Papagenos Späße nicht auch gefallen hätten? Natürlich muß er den Preis für die beste Urteilsfähigkeit denen zuerkennen, die seiner Meinung nach die vierte Klasse ausmachen. Sie sehen auf den höchsten

82

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

Zweck der Kunst und sind bereit, beim Guten Nebensächlichkeiten, „welche vielleicht gegen das Richtige verstossen, ohne grosses Aufheben, mit der menschlichen Schwäche zu entschuldigen“(3). „Sie sind nicht unwillig bey den Urtheilen der dritten Klasse, und benutzen die Kritiker der zweyten, zur Bereicherung ihrer Kenntnisse und Berichtigung ihrer Erfahrungen. Ihre Urtheile über Werke der Tonkunst treffen mit den Urtheilen der zweyten und dritten Klasse nicht selten zusammen; die Gesichtspunkte, von wo aus sie diese Werke betrachten, nie. Sie begreifen die Urtheile beyder sehr wohl und werden gemeiniglich von ihnen nicht begriffen. Sie sind gegen jene tolerant und werden meistens intolerant behandelt. Ueber ein geradezu zu verwerfendes oder geradezu zu preisendes Tonstück urtheilen sie bestimmt und frey, aus Gefühl für die dort beschimpfte, hier verherrlichte Würde der Kunst; über eins, das nicht zu diesen beyden Arten gehört, halten sie ihr Urtheil gern zurück, weil sie auch keinen Funken genialischen Feuers erstickt wünschen, weil sich die Gründe ihres Urtheils nicht in der Kürze darstellen lassen, und weil sie wissen, dass man für ihre Gründe nicht überall Sinn und – Zeit hat“(3). Was Rochlitz hier niedergeschrieben hat, dürfte eine Selbstcharakteristik sein und gleichzeitig seine persönliche Überzeugung vom richtigen Verhalten eines seriösen Kritikers, – vor allem unbekannten Erscheinungen gegenüber. So wie er hier die Beurteilung seiner vierten Klasse beurteilt, ist er selbst aufgetreten. Und dazu paßt auch sein Schlußsatz, der eine ganz harte Ablehnung jeglicher Geschmackskritik darstellt: „Aber das Weidsprüchlein: de gustibus non est disputandum – halten sie für eine Lüge“. Weidsprüchlein kommt aus der Jägersprache und bedeutet nach unserem heutigen Verständnis so viel wie Jägerlatein. Die Kombination von Fleischmann und Rochlitz zeigt noch im Ausgang des 18. Jahrhunderts die Gesamtproblematik einer jeden Musikkritik. Regeln, Standpunkte, Kategorien, alles dies als notwendig zugegeben, ersetzen nicht jenes Irrationale, das in jedem Kunstwerk vorhanden sein muß und das sich letztlich der Begrifflichkeit entzieht. Kant hat es gesehen und ausformuliert. Mit dieser Diskrepanz ist bis zur Stunde noch niemand fertig geworden, gleich in welchem Jahrhundert er lebte. (1) Rochlitz: Die Verschiedenheit der Urtheile …, Sp. 502; (2) Rochlitz, a. a. O. Sp. 504; (3) Rochlitz, a. a. O. Sp. 506.

6. BEDEUTUNG UND NACHTEIL a) Systemfreiheit als Prinzip Die Systemfreiheit der Rochlitz-Zeitung stand im Einklang mit den durch Kant ausformulierten Ergebnissen einer erkenntnistheoretischen Philosophie. Rochlitz übernahm nur einen Teil der Kantschen Schlußfolgerung. Auf Kant bezog sich schon Reichardt; aber Reichardt ließ sich als Kritiker auf den schlüpfrigen Boden einer postulierenden Geschmackstheorie locken und scheiterte daran sowohl als Kritiker wie als Redakteur. Die Verneinung in die Zukunft hinein wirkender Kunstregeln

6. Bedeutung und Nachteil

83

ließ ein Vakuum entstehen. Das Kunsturteil nach Prinzip wurde durch das Kunsturteil nach Geschmack ersetzt, und das historische Ergebnis war eine Unterstützung der modischen Mittelmäßigkeit schon aus der Sicht der Zeit selbst und trotz aller Genieparolen ein Kampf gegen die Originalität. Natürlich hätte das Ergebnis auch anders aussehen können. Aber es ist vom publizistischen Tatbestand auszugehen, und der ist eindeutig. Das war nicht die Schuld Kants und seiner ‚zermalmenden‘ „Critik der Urtheilskraft“, das war, wenn man überhaupt von Schuld sprechen darf, die Schuld sehr namhafter Fachleute, die damals als die Gesprächsführer angesehen wurden. Die Frage ist utopisch und daher unwissenschaftlich, ob bei einer anders zusammengesetzten Kritikerschaft das Ergebnis hätte auch anders ausfallen können oder sogar müssen. Das Wertbewußtsein von Rochlitz dagegen war viel zu entwikkelt, als daß er sich und seine neue Zeitung auf eine einschränkende Geschmacksebene drängen ließ. Deshalb übernahm er zwar den kantischen Grundsatz von der Fehlerhaftigkeit einer Philologie als kritischem Normengeber, lieferte aber trotzdem die Musikbewertung nicht den Geschmackstheoretikern aus und traf damit den Nerv seiner Zeit. Rochlitz verabscheute kritisches Selbstbewußtsein nach Systemen als Methode und schuf gerade deshalb das Fundament für die neue Einschätzung frühromantischer und klassischer Komponisten – die späteren Blätter priesen Bedeutung, Würde und Moral des Kritikers mit beredten Worten, entwickelten eigene Systeme und kritische Kategorien aller Art, und mündeten mit wenigen Ausnahmen in die Dauerkriege gerade gegen die bedeutenderen Komponisten der eigenen Zeit. Man könnte spötteln: System hin, System her, am Ergebnis hat sich in keinem Jahrzehnt und unter keinem System etwas geändert. Tatsächlich sind ja nicht die Systeme brauchbar oder unbrauchbar, gut oder böse, sondern die Art und Weise, wie sie von Menschen gehandhabt werden. Es geht auch nicht darum, daß Kant, wie man ihm unterstellte, im landläufigen Sinne von Musik nicht allzuviel verstanden hat, sondern nur darum, daß er in seinem Begriff von der Kritik der Urteilskraft jene Voraussetzungen schuf, die kritisches Urteil überhaupt erst stichhaltig werden ließen, nämlich ein mentales Denken, das es als aberwitzig erkennt, irgend einen bestimmten Haltepunkt in der Musikgeschichte als historischen Fixpunkt festzulegen und alles Vorherige und danach Folgende aus ihm zu bewerten. Für die Musikgeschichte führt das zu einer dreigeteilten Kunstsicht aus einem 1. „noch nicht“, einem 2. „recht so“ und einem 3. „nicht mehr“. Für Schaul bildeten die Italiener den Fixpunkt, für Otto Jahn Mozart, für die völlig Zurückgebliebenen weit über 1850 hinaus Mendelssohn, für Felix Draeseke und die dann Zurückgebliebenen Wagner, und immer so weiter. Es ist genau das, was Kant gegenbewies, und was jeder Kultur, die blühen will, zuwider läuft. b) Bedeutung Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ wurde zur ersten Musikzeitung, die nicht nach kurzer Zeit wieder vom Markt verschwand, sondern fünfzig Jahrgänge erreichte. Neben der richtig diagnostizierenden Fähigkeit des Redakteurs Rochlitz trug die Gunst der Zeit das ihrige dazu bei. Musik begann zum Bildungsgut breiterer

84

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

Schichten zu werden. Dadurch wuchs der Wunsch weiterer Kreise, über Vorgänge im Musikleben unterrichtet zu werden und unterrichtet zu sein. Die Bereitwilligkeit, dafür auch Geld auszugeben, schuf den Markt für eine allgemeine Musikzeitung, wobei die Betonung auf dem ‚allgemein‘ liegt. Viele Publikationen führten damals das ‚allgemein‘ im Titel. Die spezialisierten Blätter kamen später und sind vielfach ein historischer Beweis für das Versagen eines Periodikums, neue Gedanken aufzugreifen und damit die Gründung eines weiteren notwendig zu machen, oder für das Auseinanderleben von Anschauungen in derselben Sache. Ohne die Rochlitzsche Persönlichkeit wäre trotz der günstigen Umstände der durchschlagende Erfolg der neuen Musikzeitung nicht zu erklären gewesen. Schließlich versuchten auch andere Herausgeber, Unternehmen und Verlage, etwas Ähnliches zu Stande zu bringen, ohne daß es ihnen gelang. Rochlitz war eine Ausnahmeerscheinung. Für den Verlag Breitkopf und Härtel war er ein Glücksfall. Sein klassisch geschliffener Stil, an dem sich die Besten der Zeit erfreuten, seine vielgerühmte Urteilsfähigkeit, seine gediegene Sachkenntnis auch auf Gebieten, die nicht unbedingt zum Musikbetrieb gehörten, dem Urteil über Musik als Hintergrund aber zugute kamen, ermöglichten es ihm, Einfluß auf viele Bereiche des geistigen Lebens zu nehmen. Rochlitz scheint über seine Musikzeitung sogar Beethoven beeinflußt zu haben. So gehen zum Beispiel die deutschen Vortragsbezeichnungen Beethovens auf einen Sprachreinigungsartikel zurück, der in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ anonym und mit einem ansteckend wirkenden, leicht ironischen Unterton erschienen war(1). Die Leipziger „Allgemeine musikalische Zeitung“ wurde ein auf die Wiener Klassik eingestelltes Blatt mit Abstechern in Richtung Bach und Händel. Sie ist es gewesen, die Mozarts steigende Beliebtheit aufgriff, in den Mittelpunkt ihres publizistischen Interesses rückte und damit verstärkte, und die bis dahin geäußerten, jetzt als vordergründig betrachteten Urteile des ausgehenden 18. Jahrhunderts zurückwies. Der vielen Artikel über Mozart wegen war der 1. Jahrgang fast schon so etwas wie ein Mozart-Blatt. Rochlitz setzte zudem alles daran, den Haydnschen Ruhm weiter zu steigern und nahm sich nach anfänglichem Zögern auch Beethovens an. Die wenigen kritischen Berichte über Beethoven, die sich in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ finden, sind später ungebührlich hochgespielt worden und haben bei Adolf Bernhard Marx den Anspruch geweckt, der eigentliche Beethoven-Förderer gewesen zu sein. Daran ist richtig, daß Marx ein enthusiastischer Beethoven-Verehrer mit überaus blumiger Sprache war und konkurrierende Zeitungen auf negative Beethovenkritiken geradezu absuchte, darin allenfalls in Gottfried Webers „Caecilia“ fündig wurde (und da auch nur bedingt im Hinblick auf die Woldemarschen Polemiken). Daß Weber angesichts der erregter werdenden Requiem-Problematik Beethoven gegenüber abkühlte, weil dieser sich auf die Seite seiner Gegner geschlagen zu haben schien, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es auch in der „Caecilia“ nur zwei beethovenkritische Rezensionen gegeben hat: die eine bezieht sich auf die ominöse Schlacht von Vittoria, mit der auch Rochlitz nicht viel anfangen konnte, die andere auf Beethovens Es-Dur-Violin-Quartett. Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ wiederum verhielt sich Beethoven gegenüber zurückhaltender als später Marx, aber auch neutraler als Weber. Das war keine Ten-

6. Bedeutung und Nachteil

85

denz gegen Beethoven, sondern ein Merkmal der kritischen Überzeugung in der Zeitung überhaupt, stiller und ruhiger zu schreiben, und muß daher unter einem anderen Blickwinkel gesehen werden. Aus der Tatsache, daß Marx, was Beethoven anbelangte, lauter schrieb, wie er überhaupt lauter und kategorischer kritisierte und kritisieren ließ, kann nicht der Schluß gezogen werden, die „Allgemeine musikalische Zeitung“ habe Beethovens Bedeutung nur eingeschränkt erkannt. Diese von Berlin ausgehende Behauptung kam einer Fälschung gleich. Als die Problematik des späten Beethoven anstand, lag die Redaktion nicht mehr bei Rochlitz, auch wenn man Anzeichen für Probleme glaubt sehen zu können, die er mit dieser Musik gehabt zu haben scheint. Aber der gesamte Komplex dessen, was wir heute Wiener Klassik nennen, ist in dieser Zusammenstellung durch die Rochlitzsche Zeitung zum ersten Mal markant in die Öffentlichkeit getragen worden, nicht zuletzt deshalb, weil sich Rochlitz der Mitarbeiter aus dem Kreise der Romantiker versicherte, denen er ja auch die Reinigung des umstrittenen Geniebegriffs verdankte. Rochlitzens Redaktion stand unter einem durch Schelling erweiterten KantAspekt, ohne daß sie den Mitarbeitern älteren Stils die Plattform entzogen hätte. Daher gibt es auch keine Programme, keine Ankündigungen, keine Kampf- oder Verteidigungsansagen, es fehlen alle die Redaktions-Vorworte, Mottos, Einleitungen und Erklärungen, ohne die spätere Blätter etwa seit 1824 nicht mehr auszukommen glauben. Das zwecklos Schöne aus Kants Philosophie in Verbindung mit der Redaktion durch einen Meister des deutschen Stils führte zu einer grandios gestalteten Zeitschrift, die eigentlich nie mehr übertroffen worden ist und der in späterer Zeit allenfalls noch die Schumannsche Zeitung einschließlich Brendelnachfolge an die Seite gestellt werden kann. Was fehlte, war die zu dieser Zeit noch nicht notwendige Einsicht in eine Musikbetrachtung, die sich nicht allein fachlich, sondern auch weltanschaulich gibt, und so geriet die „Allgemeine musikalische Zeitung“ in dem Augenblick in die Ausweglosigkeit, in dem in der Musikgeschichte die Weltanschauungskämpfe einzusetzen begannen, vorsichtig seit 1824, stärker seit 1834 und voll mit dem Jahr 1848. Der Verlag hat diesen gesellschaftlichen Umschwung wohl erkannt, sonst hätte er nicht versucht, als Redakteur Schumann zu gewinnen. Die beiden namhaften Berufsmusiker nämlich, die in der Nachfolge von Rochlitz standen, Fink und Lobe, besaßen weder dessen Genie noch dessen Sprachreichtum noch dessen redaktionelle Klugheit. (1) Anonymus: Sprachbereinigung, AmZ XVII/24, 14.6.1815, Sp. 406–407; ihm war schon zwei Jahre zuvor, 1814, eine Art Sendschreiben „An deutsche Componisten und ihre Verleger“ vorausgegangen (AmZ XVI/26, 29.6.1814, Sp. 432–433), in dem nach dem Sieg über die französische Besatzung das Bewußtsein deutschsprachiger Kultur gefördert werden und die Ankündigung neuer Kompositionen auf französisch statt deutsch („Sinfonie, Duo, V[W]alse, Leipsic, Vienne“ statt „Symphonie, Duett, Walzer, Leipzig, Wien“) abzustellen gebeten wurde; s. dazu Kapitel 10, Abschnitt 13 (Neu erwecktes Nationalgefühl. Vergleiche).

86

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

c) Nachteile Rochlitzens Verfahren hatte ein Gefahrenmoment, das sich früher oder später bemerkbar machen mußte, zumal Rochlitz zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Verantwortung stand, um die entstehenden Nachteile durch eine Kursänderung ausgleichen zu können. Die philosophische Orientierung ließ eine auf ästhetischen Kategorien beruhende, also prinzipielle Musikkritik nicht zu, sondern forderte das Genie zum Genie, den gleichen Geist für den Geist. Das war in der Stunde der Bewährung, vertreten durch vorzügliche Kritiker, ihr Vorteil; das wurde später, als Rochlitz die Redaktion niedergelegt hatte und die Zeitschrift in schwächere Hände, gleichzeitig aber auch in schwierigere Gewässer geriet, ein nicht mehr zu heilender Nachteil. Um den musikkritischen Standort der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ zu umreißen, genügt der Hinweis, daß sich bis zum Aufkommen der Konkurrenzblätter 1824, also in den ersten 27 Jahrgängen, nur zwei Ansätze zu musikkritischer Reglementierung finden. Der eine, 1802, stammt von Nägeli und enthält ein Redaktionsvorwort, der andere, 1803, hat einen nicht genannten Verfasser und ist eher geeignet, die Nägeli-Ansätze rückgängig zu machen statt sie zu befördern oder weiter zu entwickeln. Erst 1826 kommt es wieder zu einem musikkritischen Grundsatzartikel, der ausgerechnet den Berliner Beethovenpolemiker Heinrich Hermann (alias Ernst Woldemar) zum Verfasser hat. Die dann abgedruckten kritischen Aphorismen und Stellungnahmen, überwiegend von Friedrich Ludwig Bührlen, stehen bereits im Zeichen des unlösbaren Konfliktes zwischen einer bildungsbeflissenen, imperativen theoretisierenden Billigkeits-Kritik (aequitas) und einer realpolitischen, auf Aussonderung bedachten praktischen Handwerks-Kritik, die sich auf neue Methoden beruft. 7. HORNS „FRAGMENTE“. VON DER UNBEGREIFBARKEIT DER MUSIK Drei Jahre nach seinem Grundsatzartikel veröffentlichte Rochlitz (1802) Franz Horns(1) „Musikalische Fragmente“(2) [II,7], die neun Monate später von Nägelis Normen-Aufsatz überholt wurden. Der Verfasser nennt an keiner Stelle seine philosophischen Vorbilder. Er mußte das auch nicht, denn er hat nur eins: Kant. Aus Kants Unerkennbarkeit des ‚Dings an sich‘ machte Horn die Unbegreifbarkeit der Musik an sich. Kunst strebt danach, das „Unendliche im Endlichen darzustellen“. Aus dieser frühromantischen Vorgabe schließt er, „dass die ächten, vollendeten Werke derselben nicht eigentlich begriffen werden sollen. Der Verstand wird seine Fragen hier nicht beantwortet finden, denn die Kunst hat eine höhere Aufgabe zu lösen, als die er ihr geben könnte“(3). Selbst dem geläutertsten Verstande ist die Kunst „fremdartig“: „Dem Verstande, als einer einseitigen Funktion, kann die Kunst nichts anders seyn, als das Facit eines mit Klugheit durchgeführten Rechnungsexempels“(4). Beim Drama vermag der Verstand immerhin noch etwas zu entdecken, auch bei der „Mahlerey und Bildhauerkunst“. Bei der Musik dagegen läuft der Verstand ins Leere: „Sie vermag es nicht, Begriffe zu bilden, nicht Wahrheiten auszu-

7. Horns „Fragmente“. Von der Unbegreifbarkeit der Musik

87

sprechen, nicht die Reflexion zu beschäftigen – so lange sie die ächte ist – aus ihren Bildungen lassen sich keine einzelnen Punkte herausnehmen, kein Facit ziehen; sie vermag das alles nicht, und verschmäht es zu vermögen“(5). Daher kommen gerade intellektuell hochstehende Menschen mit der Musik nicht zurecht. Horn spielt auf Kant und Lessing an, denen man Unmusikalität nachsagte. „Sie ist reine Unbegreiflichkeit, aber gerade deshalb lässt sie auch die reine, intellektuelle Anschauung zu, die sich freylich nicht lernen läßt.“ Ob sich der an seinen Aphorismen geradezu berauschende Horn den in sich widersprüchlichen Satz selbst verstanden hat, ist eine Frage, die an dieser Stelle nicht beantwortet werden muß. „Sobald sie daher diese Unbegreiflichkeit aufgiebt, und sich zu der traurig beschränkten Verständlichkeit herabwürdigt, nach der sich ein grosser Theil des Publikums allerdings sehnen mag, so hört sie auch eben deshalb auf, Musik zu seyn, und wird eigentlich die Parodie derselben“(5). Horn mischt Kant mit atmosphärischen Vorstellungen von Frühromantik, ohne von Genie oder Gefühl zu sprechen. Er ist einer von denen, die es einem künftigen Amüsierpublikum leicht machten, Musik als intellektuelles Nichts auszugeben, mit der man sich allenfalls die Langeweile vertreibt, nur weil sich Musik der Begrifflichkeit im philosophisch-axiomatischen Sinne entzieht. Die Folgen eines solchen Denkens sieht er nicht. Ist eine Sache grundsätzlich nicht zu begreifen, sollte man es auch gar nicht mehr versuchen. Diese Auffassung zieht sich bis 1845 wie ein roter Faden durch die Musikkritik und wird erst mit dem Streit um die Reflexionsmusik von Berlioz über Schumann bis Wagner ab „Tannhäuser“ gegenstandslos. Horn meldete sich 1826 [II,161] und 1828 [II,213] noch einmal mit Fragmenten zu Wort. Beide erschienen in der „Caecilia“. Das Fragment von 1826 beruft sich auf den „tieferen Sinn“ der Musik(6), das von 1828 beschäftigt sich neben Kritik an englischer Literatur vor allem mit den früheren Fehlurteilen über Mozart(7). (1) Franz Christoph Horn, der auch unter dem Pseudonym J. G. Marquardt schrieb, war von Hause aus kein Musiker, sondern Romanschriftsteller und Literaturhistoriker. Horn wurde am 30. Juli 1781 in Braunschweig geboren und starb am 19. Juli 1837 in Berlin, wo er seit 1809 Vorlesungen über Shakespeare und deutsche Literaturgeschichte hielt. Er hatte seit 1799 in Jena und in Leipzig Philosophie und Geschichte studiert und trat mit Romanen und Novellen, sowie mit literaturhistorischen Forschungsarbeiten in Erscheinung. Seine Romane (Guiscardo, der Dichter, Leipzig 1801, 18172; Der Einsame, Leipzig 1801; Otto, Bremen 1810; Kampf und Sieg, Bremen 1811; Liebe und Ehe, Berlin 1819) sind zwar im Rückblick zeitgeschichtlich bedeutsam, übten aber keine große Wirkung aus. In den Jahren 1819 bis 1820 veröffentlichte er zwei Bände mit Novellen, unter denen sich eine Erzählung mit dem Titel „Der ewige Jude“ befindet, die nicht ohne Beachtung blieb. Bemerkenswert ist seine wissenschaftliche Arbeit „Umrisse zur Geschichte und Kritik der Schönen Litteratur Deutschlands während der Jahre 1790 bis 1818“, die in Berlin 1819 herauskam und 1821 in zweiter Auflage erschien. Obwohl schnell vergessen, war er immerhin interessant genug, um Gustav Schwab und F. Förster zu veranlassen, in Leipzig unter dem Titel „Psyche“ 1841 eine dreibändige Auswahl aus seinen Schriften zu veröffentlichen; (2) Horn: Musikalische Fragmente, AmZ IV/1802, Sp. 417–419; (3) Horn, a. a. O. Sp. 417; (4) Horn, a. a. O. Sp. 418; (5) Horn, a. a. O. Sp. 419; (6) Cae V./17, [Juli] 1826, S.8; (7) Franz Horn: Fragmente, Cae VIII./29, [ab Ende Februar /März] 1828, S. 33–35.

88

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

8. NÄGELIS ‚NORMEN‘ VON 1802/03 Nägelis für damalige Verhältnisse ungewöhnlich umfangreicher Fortsetzungsartikel „Versuch einer Norm für die Recensenten der musikalischen Zeitung“ von 1802 auf 1803 [II,8], eine Arbeit von über 20 Spalten Umfang(1), beschäftigte sich im Rahmen eines wohl durchdachten Systems wortreich und in Zeitlupenform mit all dem, was man fünfzig Jahre später möglicherweise als selbstverständlich, vielleicht sogar belanglos erklären würde, und schob dabei die tatsächlichen Probleme, die er sehr wohl erkannte, aus guten Gründen von sich weg. Um eine Norm zu erhalten, unterscheidet er zunächst zwischen ‚Kritik‘ und ‚Spekulation‘. Beide zusammen bilden die zwei Hauptstücke des philosophischen Teils einer Zeitschrift. Der Spekulant sucht jene Prinzipien der Beurteilung auf, nach denen der Kritiker urteilt. Daher sei eine Verständigung nur zwischen den Kritikern, niemals zwischen den Spekulanten möglich, weil Vorschriften, wie man zu spekulieren habe, nicht gegeben werden könnten, wohl solche, wie man zu kritisieren habe. Dann gelte es herauszufinden, ob ein Gegenstand überhaupt Gegenstand der Kritik sein könne, weil der eine wegen seiner Formlosigkeit unter, der andere wegen überhöhter Genialität über aller Kritik stehe. Vorausgesetzt dann, der gewählte Gegenstand sei wirklich ein solcher der Kritik, müsse die Verfahrenstechnik in der Formulierung gesichert werden. Das Urteil müsse motiviert erscheinen, anderenfalls es nicht Kritik, sondern bloß Meinung sei. Dadurch erwirke der Kritiker eine Konsequenz, die aber noch nichts über die Richtigkeit seiner Kritik aussage. Und selbst dann, wenn seine Kritik richtig sei, könne sie immer nur für das einzelne Individuum oder auch für mehrere Individuen für richtig gelten, die sich in derselben Kritik träfen. Verbindlich werde sie erst, wenn sie aus einem Prinzip heraus erfolge. Ein solches Prinzip, dem jegliches Urteil über Kunst zugrunde läge, gebe es nicht, weder für die Kunst allgemein, noch für die Tonkunst im besonderen. Aus diesen wenigen Proben, die ganz im Sinne Kants geschrieben sind, geht hervor, daß es Nägeli nicht um die Ausarbeitung kritischer Prinzipien zu tun sein kann, sondern um den Entwurf einer Verfahrenstechnik, die, sollte sie sich bewähren, als Norm für Kritiker modifiziert und dann gleichsam als eine Fiktion des ‚als ob‘ in Ansatz gebracht werden könnte. Regeln sollen aufgestellt und Urteile zusammengetragen, verglichen, begründet und erwiesen werden, um einen Erfahrungsschatz zu schaffen, der den späteren Kritikern als eine Art Gesetzbuch dienen kann. Nägeli forscht also nach einem Ansatz, stillschweigend experimentell vorausgesetzte Regeln der Urteilsfindung auf ihre Zweckmäßigkeit, Anwendbarkeit, Statt- und Unstatthaftigkeit hin zu überprüfen und so zu einer Verständigung zu gelangen, die in Vorwegnahme des Schlagwortes von der kommunikativen Verständigung Verbindlichkeit allein deshalb beanspruchen kann, weil die meisten an ihr Teil haben – ein früher Versuch, die hemmende Last der kantischen Erkenntnistheorie abzuschütteln, ohne jedoch, wie Jahrhunderte später, einen Beweis für die Legitimation zu erbringen. Aber trotz der Unmöglichkeit prinzipieller kritischer Sprüche ist der Gefühlswunsch nach Orientierung im künstlerischen Wertleben viel zu groß, um sich jemals intellektuell wegreden zu lassen. „Wir sind erwacht in einer neuen Welt voll der herrlichsten Bildungen. Wir fühlen nun das Bedürfnis, uns darin zu orientiren,

8. Nägelis ‚Normen‘ von 1802/03

89

den Standpunkt aufzusuchen, von welchem aus wir Alles nach allen Seiten überschauen, mittheilen und ermessen können“(2). Da ihn die Prinzipien der Kritik unerreichbar dünken, so daß sie einfach ohne weitere Voruntersuchung vorausgesetzt werden müssen, geht es um ihre Verbindlichkeit auf Grund aposteriorischer Erfahrungen und um ihre Logik in sich, um ihre Stetigkeit und ihre Aufgliederung. Diese nimmt Nägeli vor, und darin sucht er in Form musikkritischer Normbildungen die Musik wissenschaftlich zu begründen. Für Nägeli tun sich zwei Wege auf: den einen nennt er den ‚physikalischen‘, den anderen den ‚psychologischen‘. Der physikalische steigt von den Elementen zu den Produkten, der psychologische geht von den Wirkungen aus und schließt auf das Wesen zurück. Beide Verfahrensweisen führen zu kritischen Standpunkten: die erste zum ‚methodischen‘, die zweite zum ‚pathologischen‘. Die Naturphilosophen seien bei ihren Untersuchungen unter anderem auch auf die Phänomene des Schalles gestoßen und hätten, um sich diese erklären zu können, bis auf das Entstehen der Töne, ja bis auf die Bedingung ihres Entstehens zurückgehen müssen. Man habe akustische Experimente nach Regeln vor sich gehen lassen und sie nach Regeln erfolgen gesehen, habe die Verhältnisse der Töne physikalisch und mathematisch durch Klassifikation der tönenden Körper und durch Berechnung der Schwingungen der Saiten in vorgegebenen Zeitmomenten zu bestimmen versucht und dadurch der Tonkunst „die erste Basis ihrer wissenschaftlichen Begründung“(3) gegeben. Nach der Bestimmung der Tonverhältnisse habe man Regeln für die künstlerische Hervorbringung und Verbindung mannigfaltiger Töne zu einem musikalischen Ganzen festsetzen können. So sei aus vielen allgemeinen und besonderen Regeln eine eigene Methode entstanden – Nägeli meint die Kunst des reinen Satzes. „Diese Methode nun – in welche freylich auch manches Zufällige, nicht mathematisch Erweisliche, überhaupt manches Fremdartige als nothwendig aufgenommen ward … ist seither unter uns zum förmlichen Codex geworden. Künstler und Kunstrichter bequemen sich darnach. Sie befolgen und beobachten beynahe ausschliessend die darin enthaltenen Gesetze und Verbote … Selbst die Einführung der so // genannten freyen Schreibart liess nur Licenzen zu zum Behuf der Erweiterung und Verallgemeinerung der Kunst. Keineswegs sollten durch jene Katastrophe die Schranken der Methode vernichtet werden; sie wurden es auch nicht, sie wurden nur überschritten“(4). In diesem Bereich stünden dem Kritiker genügend Regeln und Gesetze zur Verfügung, deren er sich für seine Urteilsfindung bedienen dürfe, ohne sie überhaupt näher zu bezeichnen noch bezeichnen zu müssen, weil sie ohnehin jeder kenne. Die Unterschiede darin seien den verschiedenen Orthographien in derselben Sprache in einer Epoche zu vergleichen. Das aber, was Nägeli den methodischen Standpunkt nannte, war nichts anderes als die überkommene Verfahrenstechnik der philologisch-formalen Kritik, die man hinter sich lassen will. Abgründiger für eine Urteilsfindung ist der zweite, von Nägeli ‚pathologisch‘ genannte Weg. Musik löst Seelenbewegungen aus und zwingt zu Überlegungen, welche Art von Musik welche Art von Gemütsempfindungen nach sich ziehen könnte. So unbestritten nach Nägeli das Theorem ‚Musik als Sprache des Herzens‘ auch immer ist, so gäbe es doch kein allgemeines Einverständnis, weil es an Folge-

90

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

rungen, Anwendungen und Regeln fehle. Es fehle auch am Beweis, warum „diese oder jene Töne, Tonreihen, Accorde, Modulationen usw. diese oder jene Empfindung oder Empfindungsweise erwecken, und erwecken müssen. Wir haben weder Muster noch Beyspiele“(5). Nägeli ist in seinem Jahrhundert der erste gewesen, der Musikkritik von individueller Meinung trennte. Meinungen kann jeder haben. Sie sind belanglos und verdienen außer als politische Sensoren keine weitergehende Beachtung. Erst wenn sich Meinung mit Begründung verbindet, wird sie zur Kritik und erhält Beweischarakter. Nägeli kommt aus dem Rationalismus des 18. Jahrhunderts und ist immer Rationalist geblieben. Er bestreitet nicht die Gemütswirkung von Musik im Allgemeinen, wehrt sich wohl gegen Versuche, vom Allgemeinen ins Besondere zu gehen und einer bestimmten musikalischen Konstruktion als zwingende Folge eine bestimmte Gemütsbewegung zuzuschreiben, wo doch weder die musikalischen Konstruktionen noch die Gemütsbewegungen und erst recht nicht die Verschränkung beider hinreichend genug erforscht sind. Es sind Überlegungen, die ein halbes Jahrhundert später Eduard Hanslick zur Grundlage einer virtuellen Musikästhetik machen wird und damit ins Leere läuft. Ob der belesene Hanslick Nägelis Thesen gekannt hat (erwähnen wird er ihn nicht), bleibe dahingestellt. „Von diesem Standpunkte aus können mithin für einmal keine kritischen Urtheile, keine förmlichen Kritiken, sondern nur Reflectionen und Raisonnements geliefert werden. Der Kunstrichter (der Recensent,(6) urtheilt hier nur als Individuum. Sollte er als Kritiker urtheilen wollen, so müsste er sein neu erfundenes Kriterium vorausschikken und dessen Gültigkeit unmittelbar in der Anwendung erweisen“(5). Das eben geht nicht, nicht nur nicht in der Zeit Nägelis. Ohne diesen immer umstritten gebliebenen Zwiespalt hätten die Programmmusik-Diskussionen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert gar nicht aufkommen können. Als dritten Standpunkt entwickelt Nägeli vorausschauend jene Methode, die nachher die allein gültige werden sollte, nämlich die historische, die er damals auch so benannte. Bezeichnend ist sein Hinweis, die historische Methode bestimme den (7) „temporären Werth“ eines Tonstücks . Die Verständigung sei einfach, weil man sich auf dem Boden der Erfahrung immer verstehe, zumal hier, wo der Kritiker Fakten der Geschichte und fest liegende Daten als bekannt voraussetzen könne. „Zu dem Ende kann man die verschiedenen Epochen der Tonkunst, ihrer Formen und Fächer durchlaufen; untersuchen, in welches Fach das vorliegende Kunstwerk, zu welcher Schule sein Autor gehöre, an welchen seiner Vorgänger derselbe sich anschliesse; ob derselbe sich eine beschränkte oder eine viel umfassende, eine beinahe erschöpfte oder eine neue Kunstform gewählt; ob er in mehreren Formen seine Kräfte versucht, und mit welchem Erfolge. Man kann ihn mit sich selbst, seine spätern Werke mit den frühern vergleichen, und darnach seine Progressivität beurtheilen u. s. w.“(7). Alle drei Standpunkte, der methodische, der pathologische und der historische, sind nach Nägeli musikalisch immanent. Nun könne man auch die Erfahrungen anderer Künste für die Musik insofern verwertbar machen, als es Gesetze gebe, die über allen Künsten stünden, etwa solche, die sich auf Forderungen gründeten, wonach jedes Werk bei Mannigfaltigkeit im Einzelnen seiner Teile größtmöglichen Zusammenhang im Ganzen bewahren müsse. Daraus leitet er drei weitere Gesetze ab: Stetigkeit, Steigerung und Kontrast,

8. Nägelis ‚Normen‘ von 1802/03

91

Gesetze, die nicht für eine bestimmten Kunst, sondern für alle Künste gelten, und das seit so langer Zeit, daß keine Verständigungsschwierigkeiten aufkommen könnten. So gewinnt Nägeli den vierten musikkritischen Standpunkt, den er den architektonischen nennt. Er erwähnt ihn jedoch nur am Rande, weil er bemerkt, daß auch der methodische Standpunkt schon Forderungen des architektonischen enthält. Bis hierher konnte Nägeli seine Theoreme ungestört entwickeln. Jetzt gerät er in Schwierigkeiten. Nägeli muß den Geniebegriff einführen und dabei zugeben, daß nur der methodische, der historische und der architektonische Standpunkt unbedingte Verständigung ermöglichen, während der pathologische die Zuordnung einer Geniedefinition verlangt und damit Beurteilungen problematisch macht. Das sei schließlich auch der Grund für all die Entzweiungen in den letzten Jahrzehnten zwischen Mattheson und Vogler gewesen. „Genie, Genialität ist das Höchste, was man in der Kunst, an jedem Künstler, in jedem Kunstprodukte sucht. Und dennoch lässt sich das Genialische in der Kunst nicht konstruiren, in Begriffen darstellen, demonstriren. Es würde sofort aufhören, genialisch zu seyn, für genialisch zu gelten, wenn es theoretisch bestimmt werden könnte. Man kann darauf, wie auf das Göttliche, nur hindeuten. Es ist dem beschränkten und beschränkenden Verstande unzugänglich. Es kann selbst mit nichts anderm aufgefasst werden, als mit dem, was man genialischen Sinn nennt, den Sinn für das Unendliche. //(8) Eben dieses Genialische, Unendliche, Göttliche, das an den Kunstprodukten überall haftet, ist der Hauptgrund der bisherigen Misgriffe, Misverständnisse, Mishelligkeiten in den wissenschaftlichen Untersuchungen und Erörterungen über Gegenstände der Kunst“ (9). Hier setze das Ringen um die Autorität deshalb ein, weil es an vollgültigen und überzeugenden Beweisen fehle; aber wenn auch der Kunstrichter gerade das Geniale in seine Kritik einbeziehen müsse, so bliebe natürlich jede dahingehende Äußerung individuell beschränkt. Man habe sich nicht einmal über die Merkmale des Genialischen zu verständigen versucht. Nägeli trickst an dieser Stelle, indem er das Genialische dem Methodischen gegenüber stellt und das Genie sich dadurch offenbaren läßt, daß es „in seinen Produkten die Schranken der Methode zu überschreiten, und sofern sie zufällig, willkührlich, durch Autorität eingeführt sind, wirklich zu vernichten strebte“(10). Diesen Standpunkt, von dem aus die Bedeutung eines Stückes aufgesucht und nachgewiesen wird, insofern es vorgesetzte Methoden bricht, nennt Nägeli ‚idealistisch‘. Offensichtlich unterliegt Nägeli einem Trugschluß; denn wenn der methodische Standpunkt darin bestehen soll, eine Komposition auf ihre Regelhaftigkeit zu überprüfen und das Genialische nur in der Außerachtlassung eben dieser Regelhaftigkeit, dann ist die Feststellung eines idealistischen Standpunktes nur aus der Negation des methodischen möglich, und dann muß der methodische Kritiker das vermissen, was der idealistische sucht und umgekehrt, und im schlimmsten Falle, wenn nur durch Standpunktsermittlung die reine Faktur ermittelt werden soll, fehlt es wieder an der Wertung; denn selbstredend wird der regelverschworene Kritiker diese im selben Augenblick als zu Unrecht gebrochen bezeichnen, wo der realistische Kritiker die Notwendigkeit der Regelerneuerung belobigt. Vorerst jedoch stellt Nägeli seine aufgefundenen Standpunkte zusammen und errechnet sich vier, wobei er den architektonischen dem methodischen zuordnet.

92

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

Diese (methodisch, pathologisch, historisch, idealistisch) bezeichnet er als den „Gesichtskreis der reinen Objektivität“, ein Ausdruck, der fast schon den Gedanken an eine wertungsfreie Information als Ideal der Kritik nahelegt. Jetzt vollzieht Nägeli eine überraschende Wendung, die Zweifel daran aufkommen läßt, wie weit seine Rubrifizierung überhaupt praktisch-musikalischen Wert besitzen soll und wie weit ihn nicht der Wille zur übergeordneten Systembildung in eine Gliederungseuphorie aus Unterabteilungen treibt, die im kantischen Sinne deshalb falsch sind, weil sie sich nicht ausschließen, sondern überlagern und sich teilweise sogar widersprechen. Was Nägeli unter dem Begriff „Gesichtskreis der Relativität“ dem „Gesichtskreis der reinen Objektivität“ entgegensetzt, ist nicht mehr vom erkenntnistheoretischen Akt, sondern von der Empirie des Kunstwerks aus gesteuert und läuft der von Kant in seinen „Kritiken“ gewonnenen Einsicht zuwider, daß sich nur Dinge verschiedenen (gleich: ausschließenden) Inhaltes in Untergliederungen einteilen lassen. „Es können aber nicht alle Tonkunst-Produkte, als rein objektiv betrachtet, so angeschaut werden als hervorgehend oder hervorgegangen aus dem Gemüthe des Künstlers zufolge seines erwachten blossen Kunsttriebes. Der Künstler kann auf irgend eine besondere Veranlassung hin sich zum produciren anschicken, und nicht nur in die nothwendigen Schranken seiner Kunst treten wollen, sondern nach Willkühr seinem Produkte irgend eine besondere Richtung und Bedeutung, und zwar nicht blos innerhalb, sondern auch ausserhalb den Gränzen seiner Kunst, ja sogar ausserhalb den Gränzen der Kunst überhaupt geben; er kann irgend einen besondern Zweck zur Bildung für die Kunst, ohne zur anderweitigen Bildung durch die Kunst sich vor- // setzen; er kann den individuellen oder den gesellschaftlichen Menschen durch die Kunst bilden wollen, er kann sogar dem Staat und der Kirche damit dienen“(11). Daher teilt Nägeli die Kunstprodukte in die reinen und die angewandten ein. Die kritischen Standpunkte für die reinen Kunstprodukte finden sich unter dem „Gesichtskreis der reinen Objektivität“, die für die angewandten unter dem „Gesichtskreis der Relativität“ zusammengefaßt. Im Felde des „Gesichtskreises der Relativität“ siedelt Nägeli vier Standpunkte an: den ‚pädagogischen‘, den ‚plastisirenden‘, den ‚ästhetisirenden‘ und den ‚humanisirenden‘. Wenn der Künstler einen besonderen Zweck innerhalb der Grenzen seiner Kunst verfolgt, etwa Übungsstücke „a) für die Exekution, b) für die Contemplation“(12), Handstücke, progressive Sonaten, Divertissements verfertigt, dann muß er unter dem pädagogischen Standpunkt beurteilt werden. Unter den plastisierenden Standpunkt fallen Tonmalerei und das, was man später Programm-Musik nennen wird(12). Hier dient der Künstler nach Nägeli verschiedenen Zwecken außerhalb der Grenzen seiner besonderen Kunst, aber innerhalb der Grenzen der Kunst überhaupt. Verbindet er seine Kunst mit einer anderen in der Weise, daß die Musik untergeordnet (oratorische Deklamation) oder übergeordnet wird (Wortwiederholung aus Gründen der Musikalisierung), dann ist der ästhetisierende Standpunkt einzunehmen. Schließlich vermag der Künstler einem ganz außerhalb der Kunst überhaupt gelegenen Zwecke zu dienen, einem religiösen (geistliche Lieder), einem politischen (Vaterlands-Lieder) usw., dann unterliegt er dem humanisierenden Standpunkt, weil er auf die Veredlung des Gemüts abzielt.

8. Nägelis ‚Normen‘ von 1802/03

93

Alles das sind Aufgliederungen, die sich als philosophische Prinzipien nicht halten lassen, weil sie sich nicht ausschließen und damit je nach Standpunkt zum begründet widersprechendsten Urteil gefunden werden kann. Nägelis Fazit ist eine Zusammenfassung von Verfahrenstechniken. Danach hat der Kritiker zunächst zu überprüfen, ob das von ihm angesprochene Kunstwerk ein reines oder ein angewandtes sei. Ist das Kunstwerk ein reines, dann muß er vom methodischen Standpunkt aus die Benutzung der Satzkunstregeln überprüfen und feststellen, wie weit sie befolgt und wie weit sie verletzt wurden. Anschließend soll er alle Fragen beantworten, die sich vom architektonischen Standpunkt aus ergeben. Damit sind die Erfordernisse des methodischen Standpunktes erfüllt. Als besonders glücklich empfindet Nägeli eine antithetische Kritik aus methodisch und idealistisch gemischter Sicht, die allerdings nur möglich sei, wenn etwas im Werk dem Methodischen zuwiderlaufe. Genialisch ist ihm, was den Satzkunstregeln entgegensteht, nur schwach gemildert durch die Einschränkung eines sinnvollen Zuwiderlaufens. Nägeli vermag auch das nicht störungsfrei durchzuführen, weil er eine Untergliederung des Genialischen, nämlich das Originale, nicht näher zu bestimmen weiß, „das nicht eben gewürdigt werden kann, weil keine Vergleichung stattfindet; das der Rezensent also blos auszuheben hat“(13). Indem der Kritiker so von Originalität spreche, bahne er sich den „schicklichsten“ Übergang zum historischen Standpunkt, auf dem er orientiert sein müsse, um sagen zu können, was original sei. Kritik ist für Nägeli ein objektives Geschehen; alles andere ist bloß Räsonnement, und dieses ist unbedingt durch den entsprechenden sprachlichen Ausdruck kenntlich zu machen. Auf die Unterschiede beider Aussagen ist großer Wert zu legen, um nicht durch apodiktischen Stil ungesicherte Hypothesen zu festigen. „Was er vom methodischen und historischen Standpunkt aus sagt, soll er, als Kritiker bestimmt und aburtheilend aussprechen. Sodann mag er seine individuellen Meinungen, Reflexionen, Räsonnements über dieses Produkt, als solche, nicht als Kritik, hinzusetzen. So mag er auch, als blosses In- // dividuum, den pathologischen Gehalt, den Charakter des Tonstücks, zu bestimmen versuchen. Zumuthen kann man es ihm nicht, weil hier für den Kunstrichter noch keine Principien da sind“(14). Bezeichnend für Nägelis Kritikvorstellung ist die seiner Meinung nach Unzumutbarkeit, in einer Kritik persönliche Meinungen auszusprechen, die nicht abgesichert sind, sondern nur auf individuellen Empfindungen beruhen. Der Kritiker soll verbindlich entscheiden können – alles andere ist nicht seine Aufgabe. Auch bei angewandten Kunstwerken hat der Kritiker zuerst die musikalischen Vorgänge zu bezeichnen, sodann auf den Zweck des Künstlers und auf die Mittel zu reflektieren, wie dieser seinen Zweck erreicht und damit seine gestellte Aufgabe gelöst habe – etwa instrumentale Progressivität oder veränderter Empfindungsausdruck und ähnliches. Schließlich fordert Nägeli vom Kritiker eine Überprüfung der ästhetischen Grundlagen, von denen aus der Künstler zum Kunstwerk gekommen ist: „… er kann untersuchen, ob und in wie fern der Zweck des Künstlers zulässig, verdienstlich, oder unstatthaft und unwürdig war. Dies kann der Recensent theoretischer Weise aus Principien der Kunst überhaupt – die er aber anführen, und so fern sie

94

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

nicht allgemein anerkannt sind, erweisen muss – entscheiden, oder er kann es auch blos als urtheilendes Individuum sagen“(15). Noch ein letztes Mal betont Nägeli die Wichtigkeit einer Unterscheidung zwischen allgemeiner Theorie der Kunst, die auf Erkenntnis der Kunstmittel und Kunstgegenstände gerichtet ist, und von Philosophie der Kunst, der es um die Benutzung der Kunstmittel und Kunstgegenstände nach Vernunftzwecken gehe. Immer aber habe der Kritiker von der Theorie auszugehen und zur „Philosophie in diesem Sinne“, das heißt zur Praxis hinzuführen, wie es die Kunst auch tue. Kant hatte ja unter anderem den Theorie- und Praxisbegriff neu entwickelt und nachgewiesen, daß die Praxis als technische Praxis Teil der Theorie ist. Nägelis Schlußfolgerung, der Künstler sei als praktischer Komponist immer zuerst Theoretiker und danach Praktiker, indem er wissen müsse, was er mache, stand, unmittelbar auf die Kunst übertragen, in der Nachfolge Kants. Zum Abschluß geht Nägeli noch auf den Stil ein, dessen sich der Kritiker zu befleißigen habe. Er müsse kurz und gedrängt gehalten sein, die Ausdrücke einfach und bündig. Bezeichnend sind in diesem Zusammenhang Nägelis Forderungen nach der unbedingten Nüchternheit des Kritikers, die ja tatsächlich Merkmal der Leipziger Kritik geworden ist und sich dadurch den späteren enthusiastischen Jungen verdächtig machte: „Er äussere nie mehr Entzücken, wie in den Momenten des unmittelbaren Kunstgenusses. In solchen Momenten recensirt man nicht. Er breche niemals in Exklamationen aus. Dies kleidet ihn schlecht. Besonnenheit gilt hier mehr, als Begeisterung“(16). Die Ergebnisse aller seiner Erörterungen nennt Nägeli am Ende vorläufige ‚Requisiten‘, und er will ihnen Gesetzescharakter zugestanden wissen, auf deren Einhaltung eine jede Redaktion und vor allem die Redaktion der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ in Leipzig zu dringen und sie „als konstituirende Behörde“ entsprechend eingreifend herzustellen habe. Insgesamt hat er 12 solcher Requisiten herausgearbeitet und beendet mit ihrer zusammenfassenden Darstellung seinen Aufsatz: „1) Man muss im Allgemeinen Theorie der Kunst von Philosophie der Kunst unterscheiden. 2) Man muss nie blosses Raisonnement für Kritik ausgeben wollen. 3) Objektivität muß von Relativität, selbst in einzelnen Theilen des vorliegenden Kunstwerks, unterschieden werden. 4) Wer den methodischen Gehalt eines Kunstwerks schätzen will, muss die Methode, die Kunst des reinen Satzes, verstehen. Wer in Kunstwörtern sprechen will, muss sie nie anders, als im methodologisch eingeführten Sinne nehmen. 5) Wer den pathetischen Gehalt eines Kunstwerks schätzen will, muss seine individuellen Theoreme der Recension vorausschicken, oder auf die Quelle hinweisen, woraus er dieselben geschöpft. Dennoch wird keine Recension angenommen, die eine blos pathologische Schätzung enthält, weil in jeder Recension etwas Theoretisches und zugleich allgemein Anerkanntes enthalten seyn muss. 6) Wer den historischen oder temporären Werth eines Kunstwerks bestimmen will, muss die vorzüglichsten Produkte derjenigen Kunstform desjenigen Kunstfachs kennen, worein das vorliegende Werk gehört.

8. Nägelis ‚Normen‘ von 1802/03

95

7) Genialität soll an jedem reinen Kunstwerke gesucht werden. Bey angewandten Kunstwerken, besonders bey pädagogischen, darf wenigstens die Genialität vermisst werden. // 8) Wer den pädagogischen Werth eines Kunstwerks bestimmen will, muss das besondere Instrument, wofür das vorliegende Werk gesetzt ist, praktisch verstehen. (Wenn in theoretischen Dingen irgendwo die Autorität der Virtuosen etwas gelten kann, so ist es hier.) 9) Wer ein Vokalwerk recensiren will, muss nicht nur das Wesen der Poesie überhaupt, sondern besonders das Wesen der lyrischen (und lyrisch-dramatischen) Poesie kennen. Er muss auch das Mechanische der Poesie, und ihre mechanische Verbindung mit der Musik verstehen. Recensionen nicht-lyrischer Gesänge werden ausgeschlossen. 10) Wer die ganze ästhetische Zweckmässigkeit und Bedeutsamkeit einer Oper kritisiren will, muss als Theoretiker das Ganze der Kunst überhaupt übersehen, und die Verbundenheit aller einzelnen Künste zu einem Ganzen der Darstellung beurtheilen. 11) Wer ein Kunstwerk, als Beförderungsmittel der Humanität würdigen, mithin dessen Tauglichkeit zu Vernunftzwecken bestimmen will, muss als Kunstphilosoph die Bildungsfähigkeit seines Zeitalters, und die Stufe der ästhetischen Bildung, worauf dasselbe gegenwärtig steht, kennen. 12) Die Redaktion verwirft, was den erwähnten Forderungen auch im Einzelnen kein Genüge leistet. Sie streicht einzelne fehlerhafte Stellen in sonst guten Recensionen aus, wofür sie indess den Recensenten literarisch verantwortlich ist“(17). Nägelis Überlegungen nehmen die Begründungstheorie von Marx mit Einschränkung vorweg. Was bei Marx nämlich bei richtiger Begründung Geltung erhält, verwirft Nägeli, weil ein Urteil gut begründet und trotzdem falsch sein kann. Anders als Marx kommt es Nägeli nicht auf die Richtigkeit der Begründung, sondern auf die Richtigkeit des Urteils an. Bei Nägeli klingen viele Themen an, die nachfolgend Funktionen erhalten. Dazu gehört die Abfolge der ‚Standpunkte‘ ebenso wie eine Betrachtung aus historischer Sicht, die kurz vor 1850 durch Brendel zur wissenschaftlichen Kritik erklärt wird. (1) Hans Georg Nägeli: Versuch einer Norm für die Recensenten der musikalischen Zeitung, AmZ V/14+15, 29.12.1802 + 12.1.1803, Sp. 225–237 + 265–274; (2) Nägeli: Versuch einer Norm …, Sp. 230; (3) Nägeli, Sp. 232; (4) Nägeli, Sp. 232–233; (5) Nägeli, Sp. 234; (6) fehlende Klammer original; (7) Nägeli, Sp. 235; (8) Seitenwechsel + Absatz; (9) Nägeli, Sp. 265–266; (10) Nägeli, Sp. 267; (11) Nägeli, Sp. 267–268; (12) Nägeli, Sp. 268; (13) Nägeli, Sp. 270; (14) Nägeli, Sp. 270–271;

96

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

(15) Nägeli, Sp. 271; (16) Nägeli, Sp. 272; (17) Nägeli, Sp. 273–274.

9. DAS ROCHLITZ-VORWORT a) Nägeli und die „Allgemeine musikalische Zeitung“ Auf Fleischmann antwortete Rochlitz mit einem eigenen Artikel, für Nägeli genügte ihm ein kleines Vorwort, das er dem Aufsatz des „würdigen Schweizers“, wie es bei Rochlitz heißt, voranstellte. Rochlitz wäre nicht Rochlitz gewesen, wenn er sich nicht auch äußerlich sehr erfreut gezeigt hätte. Einmal war Nägeli eine damals hoch geschätzte Persönlichkeit, die für eine Mitarbeit gewonnen zu haben Ansehen einbrachte, zum anderen war der Aufsatz nun tatsächlich der erste Versuch in der Musikgeschichte überhaupt, musikkritische Beurteilungsmöglichkeiten in einer katalogartigen Zusammenfassung zu systematisieren. In dieser rationalen Form, um nicht rationalistisch zu sagen, ist dies auch in späterer Zeit nicht mehr unternommen worden. Rochlitz durfte sich glücklich schätzen, eine solche Arbeit in seinem immerhin noch jungen Blatt vorstellen zu können, auch wenn sie stilistisch nicht in das frühromantische Weltbild des Einen oder des Anderen hineinpassen mochte, dazu war sie zu blutlos-nüchtern und regelhaft-leidenschaftslos und ohne den aphoristischen Tiefsinn der neuen Zeit um 1800. b) Rochlitzens drei Punkte Rochlitz nutzte die Gelegenheit, seine eigene Vorstellung von musikkritischer Verfahrensweise in drei bezifferten Punkten zusammenzufassen. Damit legte er fest, auf welchem Feld ein Kritiker tätig werden kann. Als Voraussetzung gilt, daß es sich um ein Kunstwerk und nicht um eine „zu einem besonderen Behuf“ geschriebene Komposition, etwa eine Etüde, handele, bei der man nur von Zweckmäßigkeit reden könne. Was das Kunstwerk anbelangt, so spricht der Geist nur zum Geist (Rochlitz benutzt den Begriff „Sinn“ statt Geist). Hier ist für einen Kritiker kein Raum. Die Sache ist eben so, wie sie ist, und sie ist als solche hinzunehmen. Aber der Sinn muß offenbart werden, und über die Art und Weise, wie der Künstler das tut, läßt sich reden. Wenn der Kritiker feststellen sollte, daß der Künstler mit einer anderen Methode sein Ziel besser erreichen würde, dann soll er den Künstler beraten. Aus dieser Bemerkung geht hervor, daß Rochlitz nur den Berufsmusiker als Musikkritiker anerkennt, nicht den fachfremden Journalisten, der die Sprache so gut beherrscht, daß er über alles und jedes schreiben kann. Der dritte Punkt führt in die philologische Kritik des 18. Jahrhunderts zurück, weil er dem „Genie“ keine Freiräume läßt, die der Berufsmusiker als mangelndes Handwerk deuten könnte. Hier ist das eigentliche Feld für den Kritiker, weil es um die Reinheit des Satzes geht, die Richtigkeit der Deklamation und um andere handwerkliche Voraussetzungen, die tatsächlich meßbar sind. Fehler in diesen Bereichen können festgestellt und

10. Nägeli – Rochlitz

97

benannt werden. Es wird einer Autorität wie Carl Maria v. Weber bedürfen, um zu erkennen, daß scheinbar falsch behandeltes Handwerk gerade meisterhaft behandeltes Handwerk bedeuten kann. Weber wird es an seiner Arie „Durch die Wälder, durch die Auen“ beweisen, deren falsche Deklamation eine Wirkung herbeiführt, die bei richtiger Deklamation ausbleiben würde; Schumann schreibt Mendelssohn verärgert von den fehlerhaften Quinten im „Tannhäuser“ und muß die Kritik zurück nehmen, nachdem er die Oper gehört und erkannt hat, daß sie notwendig sind. Weber wäre möglicherweise geholfen gewesen, wenn Kind nachträglich neue Verse geschrieben und sie der Melodie angepaßt hätte – aber das gehört in den Bereich der Spekulation. c) Zum Musikerbildungsstand um 1800 Wir wissen aus zahlreichen und nicht nur polemischen Quellen, daß Musiker um 1800 ihrer künstlerischen Fähigkeiten wegen geschätzt, aber ihres angesagten geringen Bildungsstandes wegen wenig geachtet waren. Das Vorwort von Rochlitz gibt dazu, vermutlich ungewollt, einen bestätigenden Kommentar. Er schreibt, einem Teil seiner ausgewählten Mitarbeiter bei der Anwerbung Richtlinien mitgeschickt zu haben, die sie bei ihren Korrespondenzen berücksichtigen sollten. Wie diese Richtlinien ausgesehen haben, scheint nicht bekannt geworden zu sein. Rochlitz sagt dazu nur, sie seien auf das hinausgelaufen, was, abgesehen von ein paar Kleinigkeiten, in Nägelis und in seinen Grundsatzerklärungen stehe. Rochlitz erläutert weiter, er habe diese Anforderungen an die Rezensenten, die nach damaligem Sprachgebrauch häufig „Kunstrichter“ genannt wurden, nicht in den öffentlich gemachten Plan bei der Gründung seines Journals hineinnehmen wollen, um Mitarbeiter, auf die er angewiesen ist, nicht von vorneherein abzuschrecken, für sein „Institut“ zu arbeiten. Rochlitz redet ausdrücklich von den „meisten“ Mitarbeitern. Das geschieht aus Vorsicht. Alle Mitarbeiter, die gemeint sind, dürfen sich einreden, nicht gemeint zu sein. In einer Parenthese wird er noch deutlicher und spricht, sich geradezu entschuldigend, Nägeli unmittelbar an:„der Verf. kennet die Musiker, und wird uns darum Recht geben“. Marx erhebt zwanzig Jahre später ähnliche Vorwürfe. Es wird von 1800 aus gerechnet mehr als dreißig Jahre dauern, bis die um 1800 überwiegend betulich schwerfällige Sprache der Mitarbeiter ein flüssigeres, moderneres und gefälligeres Erscheinungsbild bekommt, ohne daß der Inhalt der Werk-Rezensionen dadurch verändert worden wäre. 10. NÄGELI – ROCHLITZ a) Einbehaltene Zukunft Zwischen Nägeli und Rochlitz besteht eine, möglicherweise zeittypische, Gemeinsamkeit. Beide sehen bereits alle methodischen Vollzugsformen einer systematisierten Musikkritik bis hin zum Standpunktsverfahren und der historischen

98

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

Ableitung zwecks Wertbestimmung aus der Einordnung in den Geschichtsverlauf; aber keiner von ihnen kommt auf den Gedanken, einer der erkannten Methoden den Vorzug vor der anderen zu geben. Ihre Betrachtung geht von einer Methodengleichheit aus. Eine Methode ist so gut wie die andere; denn die Richtigkeit des Kunsturteils, auf die alles hinausläuft, wird von der Persönlichkeit des Kritikers bestimmt, von dem, was er weiß, was er kann, was er will und was er charakterlich mitbringt. Methoden und Systeme sind dabei hilfreich, mehr nicht. Der Kritiker hat ein Kunstwerk zu beurteilen, das ist sein Auftrag. Das Urteil muß richtig sein. Urteilt er unter Einbeziehung von Sachverhalten, die mit dem Kunstwerk nichts zu tun haben, so verliert er seinen Anspruch. Darauf gründet die Forderung, der Kritiker dürfe grundsätzlich nichts aus seinem persönlichen Habitus in sein Urteil mit einbringen. Wie das geschehen soll, wird nicht gesagt. Anders als im Rechtsverfahren, das Nägeli wohl vorschwebt, bei dem ein Richter einen Tatbestand festzustellen hat, der den Richter persönlich nicht berühren soll, und dessen Bewertung er nach vorgegebenen Gesetzestexten und deren Auslegungen überwiegend vorgeschrieben bekommen hat, ist der Kunstkritiker von seinem Gegenstand immer persönlich berührt, anderenfalls gehört er in jene sowohl von Nägeli wie von Rochlitz abgelehnte Kategorie der indolent-kalten Mäkler, die einer falschen Quinte wegen die ganze Komposition verwerfen und sie wie ein Theorielehrer die Übungsaufgaben eines Schülers beurteilen. Bei Nägeli wird daher die „Meinung“ ausdrücklich verworfen. Meinung hat nichts mit Kritik zu tun. Meinung ist überhaupt nichts. Meinung ist eine Aussage ohne Bedeutung. Erst wenn der, der die Meinung äußert, etwas von der Sache versteht, wird seine Meinung zur Sachaussage. Auf die Erfahrung, daß Fachkritik genau so oft an der Sache vorbeizielt (wie sachliche Ahnungslosigkeit sie richtig treffen kann), haben sie wieder nur die probate Antwort, daß es sich dann eben um jenen verstandesbetonten Regelkritiker handelt, der nicht in der Lage ist, Substanz und Akzidenz voneinander zu unterscheiden und daher das Nebensächliche zur Hauptsache macht. Die von Nägeli und Rochlitz vertretene Methodengleichwertigkeit wird im Verlauf des historischen Prozesses verloren gehen. Aus der Möglichkeit von Methoden gelangen einzelne begründet in den Mittelpunkt, ohne im Ergebnis zu besseren Urteilen zu führen. Am Ende bleibt tatsächlich nur noch das übrig, was Nägeli beinahe empört als belanglos verwarf, nämlich die Meinung in der Spezifizierung als Einzel- und als Mehrheitsmeinung. Sie dient zur Begründung für irgendetwas, das man ohnehin will oder nicht will, in der Sache ungefragt, die man übernehmen und dann als postulierte Richtigkeit mit Nachdruck, gemeint ist kämpferisch, weitertragen kann. b) Thema Sprache und Stil Schon an dieser Stelle muß das Thema Sprache berührt werden, deren sich ein Kritiker einem Künstler gegenüber zu bedienen hat. In der musikkritischen Literatur beginnt man sich erst seit Anfang der vierziger Jahre darüber Gedanken zu machen. Für Nägeli oder Rochlitz und alle die anderen Zeitgenossen ist es ungefragt, daß der

11. Zum Verhältnis Künstler – Kritiker

99

Kunstkritiker (nicht der produktive Künstler) im herkömmlichen Sinne sprachlich neutral zu bleiben hat. Der Musikkritiker der Rochlitzzeit darf ein Stück anerkennen oder es verwerfen oder nichtssagend darüber schreiben; aber er wird im Regelfall vom System her nie den Künstler, der es gemacht hat, verunglimpfen oder gar verspotten. Spott oder Hohn als systematisches Mittel der Musikkritik kommt erst mit dem sich ausbreitenden Zeitungsjournalismus des „Jungen Deutschland“ auf. Wohl kennt man die Satire. Die „Signale für die musikalische Welt“ machten das, was sie für witzig hielten, mit ihrer Gründung seit 1843 programmatisch zum System und trafen damit den Nerv eines zur Schadenfreude neigenden deutschen Publikums. Die Spottkritiken beispielsweise Heinrich Heines, der sich in Verbindung mit einer Kritik in Versen an der Oper „Der Prophet“ über die chronische Darmerkrankung Meyerbeers lustig machte, gehören in diese Linie, die weiterführt zu den allgemein wohlfeilen Verspottungen von Künstlern nach 1852. Die „Hamburger musikalische Zeitung“ warb 1837 sogar mit der Ankündigung, ihre Kritiken würden „unpartheiisch, in ernster aber jederzeit anständiger Sprache geführt“(1) [II,340], wobei die werbende Ankündigung etwas anderes ist als die ausgeführte Realität. Diesem Widerspruch verfällt August Schmidt in seiner Wiener Musikzeitung. Auch er ist, wie er schreibt, bestrebt, „schmähsüchtige Invektionen“ seinem Blatt fernzuhalten. Am 3. Oktober 1844 entschuldigt man sich beim Leser für mögliche Versehen(2) [II,498]. Bei Schmidt ist das relativ zu betrachten; denn offensichtlich empfindet er seine mit Formalinjurien gespickte Sprache nicht als ‚schmähsüchtig‘, sondern als ihm zustehende Rückäußerung. In einer „Nachschrift der Redaction und Erklärung derselben für die Folge“(3) [II,302] teilte auch Fink anläßlich eines literarischen Streites mit, künftig alle persönlichen Angriffe, „so weit sie nicht unerlässlich zur Sache gehören“ nicht mehr abdrucken zu wollen. Ausgenommen davon sind die bezahlten Beiblätter, „über die wir nicht zu entscheiden haben. Leider waren diese Angriffe diessmal der Wichtigkeit der Sache wegen von Seiten der Redact. kaum zu vermeiden. Wir sehen aber, dass auch selbst in so wichtigem Falle nicht viel Gutes dabei herauskommt; es wäre offenbar für die Sache erspriesslicher gewesen, wenn die Persönlichkeiten gleich anfangs entfernt worden wären.“ Fink läßt sich eine Hintertüre offen. Sollten Angriffe unvermeidbar sein, oder ginge es um „unmoralische Thaten“, dann werde eine Ausnahme gemacht. Diese „Erklärung“ hätte auch unterbleiben können; es ändert sich ja nichts. Ein Grund, eine Polemik als unvermeidbar zu bezeichnen, findet sich leicht. (1) HmZ -/1, 4.10.1837, S. 1q; (2) AWM-Z IV/119, 3.10.1844, S. 476b; (3) AmZ XXXVI/52, 24.12.1834, Sp. 881–882.

11. ZUM VERHÄLTNIS KÜNSTLER – KRITIKER In der Zeit um Nägeli beginnt man tastend, über das Verhältnis Künstler – Kritiker nachzudenken. Nach einem unbekannten Verfasser, der für das „Musikalische Taschenbuch auf das Jahr 1803“(1) [II,11] schrieb, gibt es drei Arten, ein Kunst-

100

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

werk zu verstehen. Entweder empfindet man die Poesie im Kunstwerk, oder man erkennt die Kunstfertigkeit, mit der es gemacht wurde, oder man verbindet beides. „Die Menschen der ersten Art überlassen sich ganz ihrem – wahren oder falschen – Gefühl und finden Genuß, die der zweyten Art sind beklagenswerthe, bloße Verstandesmenschen, musikalische Rechner“. Sie begreifen bei Cherubini, Mozart und Haydn nur die harmonische Zusammensetzung, „und, wenn sie finden, daß sie neu und dennoch durchaus regelrecht ist“, haben sie „eine große Freude darüber“ und bezeugen „ihre besondere Hochachtung gegen den Künstler.“ Nur diejenigen, die beides vermögen, Poesie, Kunst und Genie ganz zu erfassen, „sind würdig der Anschauung der hohen künstlerischen Offenbarung“(2). Später wird es dieses Thema sein, dessen sich Wagner mit dem Zusatz „in Bezug auf einen besonderen Fall“ in einer Privateinsendung für den „Dresdner Anzeiger“ bedient (1846), um sich mit Carl Banck auseinanderzusetzen(3). Unter allen Künstlern sind die Musiker „am empfindlichsten gegen gesprochenen und gedruckten Tadel“, weiß die „Allgemeine musikalische Zeitung(4) [II,70], und sie vermeint auch den Grund zu kennen: „Die Ursache liegt klar am Tage. Sie sind neben den Schauspielern und Sängern die eitelsten Künstler. Ein blos mechanischer Virtuose ist nichts, wenn seine Virtuosität angefochten wird. Der Tonsetzer legt freylich sein ganzes Ich nicht in eine Sonate, in Variationen, in eine Oper selbst, dennoch nimmt er wärmer die Vertheidigung seines Werkes als ein Dichter des seinigen, was hinwieder der häufig vorkommenden Einseitigkeit seiner Bildung zuzuschreiben ist“(4). (1) Musikalisches Taschenbuch 1803, Miscellen, S. 348–349; (2) Taschenbuch, a. a. O. S. 349; (3) s. Kirchmeyer, Wagner in Dresden, S. 657–672; (4) AmZ XXIV/26, 26.6.1822, Sp. 435.

12. HÖRKRITIK. SCHREIBER UND GUTHMANN Daß Rochlitz bestrebt war, seinem Kritikerpersonal sachunkundige Leute nach Möglichkeit fernzuhalten, versteht sich aus dem Rang, den er der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ zu geben wußte. Rousseaus Behauptung: „Die erste und vorzüglichste Erforderniss jeder Musik ist: dass sie dem Ohr gefalle“(1), wird unmißverständlich abgelehnt. Urteil darf nicht nach einem einfachen Gehöreindruck erfolgen. Das Ohr als unkontrolliertes Urteilsorgan bedarf einer Schulung und muß ganz allgemein tauglich sein, andernfalls würde der Willkür der großen Menge Tür und Tor geöffnet, verlangte Schreiber, der 1804 ebenfalls Aphorismen veröffentlichte [II,12]. In der Zeit der nicht prinzipiellen Kritik sind Aphorismen beliebt, weil es zum System noch nicht reicht und die „Allgemeine musikalische Zeitung“, ohnehin anders als die späteren Gegengründungen, nie eine als verbindlich zu erklärende musikkritische Endentscheidung vertrat. Eine Beurteilung ausschließlich nach Gehör hat sie immer abgelehnt, auch wenn deren Anhänger möglicherweise hätten entgegenhalten können, Hörkritik sei selbstverständlich nur bei einem erfahrenen Musiker „mit Geschmack“ und Genieverständnis zulässig gedacht. Schreiber wehrt sich also gegen die mentale Komponente der Befangenheit oder Stimmung,

12. Hörkritik. Schreiber und Guthmann

101

in der sich der Kritiker befindet. Schreiber verlagert die entscheidende Qualität von der Regel weg in die Befindlichkeit des Kritikers, die dem Kunstwerk gegenüber angemessen sein muß. Hörkritik, also Urteil ohne nähere Kenntnis des Werkes, ist es nicht. F. Guthmann bezieht sich 1806 in seinem Artikel „Etwas über die Beurtheilung gewisser Musikstücke“ auf den unterschiedlichen Verständnisgrad von Musik [II,20]. Manche Musik ginge leichter, andere schwerer ins Ohr ein. Hörkritik dürfe nicht maßgebend sein. Wenn man sich mit einem Stück länger beschäftige, höre man sich ein und werte womöglich um. Was dann zunächst einmal unverständlich geklungen habe, enthülle seinen geheimen Sinn zur Offenbarkeit hin, und was leicht verständlich erscheine, werde unter Umständen als abgedroschen und banal empfunden. Das Gewicht verlagert sich vom Kunstwerk und seinem Schöpfer weg auf den hin, der es aufnimmt – das ist die Formel, und das war Kant, wenn er die Kritik als Wissenschaft überhaupt ablehnte, weil sie als geschmacksbezogene Erfahrungsansicht die Aufstellung von Regeln nicht zuließ. Es weist auf die Situation der Berlioz-Lisztschen Programmusik, der Wagnerschen Reformoper, überhaupt auf die Musik von Schumann und danach voraus, die als Bestandteil der Reflexionsmusik mehrmaliges Hören erforderlich machte, bevor man in die Lage versetzt wurde, die innermusikalischen Zusammenhänge wenigstens andeutungsweise zu erkennen oder zu empfinden, und es weist im vorhinein das sich vor allem ab 1850 im Musikjournalismus ausbreitende Verfahren zurück, sich über Musikstücke zu äußern, deren Struktur man nicht kennt und überhaupt zum ersten Mal hört. „Wie lächerlich daher, ein Urtheil über eine Composition abzugeben, die eben erst gehört ist. Daß dieses im Concertsaale oft genug vorkommt, giebt leider ein trauriges Bild von dem Zustande der musikalischen Kritik im Publicum,“ schreibt Theodor Hagen unter seinem Pseudonym Joachim Fels(2) 1842 in der „Neuen Zeitschrift für Musik“(3) [II,417], und Robert Schumann warnte im Textanhang zu seinem Album für die Jugend: „Urtheile nicht nach dem Erstenmalhören über eine Composition; was dir im ersten Augenblick gefällt, ist nicht immer das Beste. Meister wollen studirt sein“(4) [II,746]. Damit war der Boden für die Aphorismen Friedrich Ludwig Bührlens bereitet. Bührlen deutet Kritik und ihre Form nicht aus der Objektivität des Kunstwerks, sondern aus der Subjektivität des Kritikers, der gleichsam von sich selbst abhängig ist. Bührlen bezeichnet darüber hinaus das Ende auch der Kritikfähigkeit der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“, die denselben kritischen Vorstellungen, mit denen sie seit 1798 in den Erfolg ging, nach 1824 und erst recht nach 1834 den Verlust ihrer Führungsrolle verdankte. Einen findigen Rochlitz, der das mit seinem Einfallsreichtum hätte aufhalten können, gab es für die Zeitung nicht mehr. (1) (2) (3) (4)

C. Schreiber: Aphorismen, AmZ VII/6, 7. November 1804, Sp. 83–84, Z: 83; In den „Signalen“ schrieb Hagen unter dem Pseudonym ‚Butterbrodt‘; J. Fels, Aphoristisches, NZfM XVII./1, 1.7.1842, S. 3b/a, Z: 3b; Aus: Musikalische Haus- und Lebensregeln, NZfM XXXII./36, 3.5.1850, Beilage S. 3b.

102

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

13. FRIEDRICH LUDWIG BÜHRLEN – APHORISMEN ZUR KRITISCHEN LEBENSWEISHEIT a) Zur Person Ende 1815 beginnt unter der Schriftleitung von Friedrich Rochlitz in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ eine aphorismenartige Serie zu erscheinen, die über die Rochlitz-Zeit hinaus bis Ende 1827 anhält. Die Texte sind mit „Bemerkungen“ oder „Mancherley“ überschrieben. Verfasser ist Bührlen, einer der brillantesten Köpfe, die sich im Musikbereich über Kritik geäußert haben. Bührlen war kein Pseudonym, sondern ein bürgerlicher Name. Zu dieser Zeit hätte das auch keine Rolle gespielt, weil das Pseudonym ausreichte. Seine immer als Initialen abgekürzt erscheinenden Vornamen F. L. stehen für Friedrich Ludwig. Wie viele der von Rochlitz herangezogenen bedeutenderen Autoren kam er nicht aus der Musikszene und war vor allem kein professioneller Musiker, sondern Jurist. Als Schriftsteller gehörte er zum Umkreis der schwäbischen Erzählliteratur. Die zeitgenössischen Nachrichten über ihn fließen spärlich. Es sind eher notizenähnliche Vermerke in Herders Konversationslexikon von 1854 (Band 1, S. 709) und Pierer`s Universallexikon von 1857 (Band 3, S. 436, Altenburg), beide ohne Angabe des Sterbedatums, die knappe Eintragung von August Wintterlin in der „Deutschen Biographie“ (Band III, 1876, S. 511; in der „Neuen Deutschen Biographie“ ist Bührlen nicht aufgenommen), und schließlich als ergiebigste Quelle August Lewalds Nachruf in der „Schwäbischen Chronik“ von 1850. Demnach wurde Bührlen am 10. September 1777 in Ulm geboren, studierte zunächst Theologie, dann in Landshut Rechtswissenschaft, war 1809 Landgerichtsassessor in Eichstädt, 1810 in Söfflingen bei Ulm, trat 1811 aus bayerischen in württembergische Dienste über und starb im Alter von nicht ganz 73 Jahren am 9. Mai 1850 als Kanzleirat bei der Rechnungskammer in Stuttgart. Bührlen war vielseitig aufgeschlossen; er war Sammler und Kunstkenner, und er betätigte sich politisch, philosophisch und vor allem literarisch. Er veröffentlichte 1814 die „Lebens-Ansichten“, 1828 und 1831 „Bilder aus dem Schwarzwald“, 1833 „Zeitansichten eines Süddeutschen“, 1847 „Philosophie eines Dilettanten“, ferner zahlreiche Novellen und etliche Romane, 1818 „Erzählungen und Miscellen“, 1823 bis 1825 „Neue Erzählungen“, 1830 „Neueste Erzählungen“, 1832 „Der Enthusiast“, 1836 „Der Flüchtling“, 1844 „Die Prima Donna“. Darüber hinaus findet man außer in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ seine Arbeiten in der „Zeitung für die elegante Welt“, in der „Morgenzeitung“ und in anderen, damals angesehenen überregionalen Blättern. Ende 1827, Bührlen ist sechzig Jahre alt, verschwindet sein Name aus der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ so plötzlich, wie er 1815 darin aufgetaucht ist. Bührlen veröffentlichte aber weiter, etwa 1840 in den Schillingschen „Jahrbüchern des deutschen National-Vereins für Musik und ihre Wissenschaft“ [II,378; II,379]. Auch August Schmidt ist auf Bührlen gestoßen; denn in der „Allgemeinen Wiener Musik-Zeitung“ erschienen im August 1842 Bührlensche Aphorismen und Sentenzen: „Was der Zeit dient, geht mit der Zeit unter, und wenn sie es bis an den Himmel erhoben hätte“(1) [II,422].

13. Friedrich Ludwig Bührlen – Aphorismen zur kritischen Lebensweisheit

103

Aus Bührlens Aphorismen, die er in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ am 30. September 1824 veröffentlichte, geht hervor, daß er nicht nur vordergründig religiös war und daß er Kunst und Kritik mit religiösen Vorstellungen verband(2) [II,119]. Die spärlich erhaltenen Lebens-Nachrichten lassen nicht erkennen, ob er katholisch oder evangelisch gewesen ist. Da er in Bayern geboren wurde und zeitweise in bayerischen Diensten stand, ist eine katholische Konfession anzunehmen. Dafür spricht auch der Schlußsatz seines Artikels „Musikalische Grillen“ in den „Jahrbüchern des deutschen National-Vereins für Musik und ihre Wissenschaft“(3) [II,378]; ein Mittelsatz in seinen „Zerstreuten Gedanken über Aesthetiker und Publikum“ in demselben Organ könnte allerdings zur Widerlegung dieser Annahme herangezogen werden [II,379]. Doch hat Bührlen in einem Aphorismus vom 12. Februar 1823 sein Bekenntnis offen gelegt. Er spricht dort vom Besuch in einer „Stadt seines Bekenntnisses“ und bezieht sich auf „die anwachsende katholische Gemeinde“(4) [II,86]. b) Rochlitz – Bührlen Rochlitz besorgte sich als literarisch interessierter Schriftsteller die Neuerscheinungen seiner Zeit und war dabei auf das 1814 erschienene Buch „Lebens-Ansichten“ eines ihm unbekannten Verfassers namens F. L. B. gestoßen. Rochlitz zeigte sich von den Gedanken, die er dort vorfand, so beeindruckt, daß sie ihm für seine Musikzeitung wie geschaffen schienen. Er begann sie in unregelmäßigen Abständen in der Hoffnung nachzudrucken, ein Teil seiner eigenen Leser möchte sich durch die Fragmente bewogen fühlen, das eigentliche Buch, dem sie entnommern waren, im Original ganz zu lesen. Es ist durchaus möglich, daß Rochlitz zu dieser Zeit selbst nicht wußte, wer sich hinter F. L. B. verbarg. Bis 1821 tragen die Aphorismen als Verfasserangabe nur die Initialen. Dann tauchen einige wenige Aphorismen unter „F. L. Bührlen“ auf, aber das auch nur für das Jahr 1821. Anschließend bleibt es bei F. L. B., und ab 1826 erscheinen unter dem Titel ‚Mancherley‘ weitere Aphorismen, jetzt aber ohne Verfasserangabe, obwohl sie nach Stil und Inhalt Bührlen zuzuordnen sind. Bei der gediegenen Art eines Rochlitz ist nicht davon auszugehen, daß er mystifizierte, sondern daß es mit seiner Vorwort-Mitteilung in der MiscellenRubrik vom 9. März 1814 [II,29], der Verfasser sei ihm „ganz“ unbekannt „aber können wir uns nicht enthalten, hier ein Wort des Dankes für gar manche Anregung und Freude zu sagen“(5) seine Richtigkeit hat. Ohne diese seltsame Fügung wären sie vermutlich verloren gegangen; denn wer kommt auf die Idee, in literarischen Texten von Autoren nachzusuchen, die man schon zu ihren Lebzeiten kaum und nach ihrem Tode überhaupt nicht mehr gelesen hat. So ist dank des gewissenhaft kundigen Rochlitz eine Fülle tiefsinniger Beobachtungen erhalten geblieben, die thematisch in die Zeitspanne zwischen 1815 und 1824 hineinpassen. Rochlitz muß wohl zu den ersten gehört haben, die das Buch in die Hand bekamen, weil, wie er schreibt, die Schrift ‚noch gar nicht bekannt zu seyn scheint, und es zu werden doch so sehr verdient‘(6). Rochlitz hat Bührlen einen hohen Rang zuerkannt. Das bezeugt die Einleitung der Eröffnungsnummer des Jahres 1824 (XXVI/1, 1. Januar), in der

104

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

er Fichte-Rochlitz-Bührlen-Göthe mottoartig zusammenstellt und etliche Spalten weiter noch einmal Bührlen mit „Bemerkungen“ in Dialogform zu Wort kommen läßt. Die Nachdrucke bei Rochlitz erfolgten mit gegenüber dem Original veränderter Orthographie und Zeichensetzung und unbedeutenden Abweichungen (Rochlitz: bey, Bedürfniss, versetzt, müsste, Eindruck, Ahnen, klaresten, Gemeinplatz, drückt, Alles, Niemand, herab, nur zugleich, usw.; Original: bei, Bedürfniß, versezt, müßte, Eindruk, Ahnden, klarsten, Gemeinplaz, drükt, alles, niemand, hinab, nur auch zugleich, usw.). c) Juristenmentalitäten Als in der Nachfolge Kants und gleichzeitig der Gegnerschaft zu ihm in den zwanziger Jahren die Grundlagen einer systematisierten Musikkritik gelegt werden, dürfte es kein Zufall gewesen sein, daß maßgebliche Baumeister Juristen gewesen sind. Adolf Bernhard Marx, der Gründer der „Berliner musikalischen Zeitung“ ist ebenso Jurist wie der Gründer der „Caecilia“, Gottfried Weber. Bührlen ist es auch gewesen (und wenigstens juristische Anfängerkenntnisse besaßen Schumann, Dorn und Bülow). Von der Mentalität her verkörpert er gegenüber dem verteidigend werbenden Rechtsanwaltstyp Marx und dem angriffslustigen Staatsanwaltstyp Weber den abwägenden Richtertyp. Juristen, sofern sie nicht ideologisch verblendet oder weisungsgebunden sind, wenden eine andere Art des Denkens an. Sie suchen nicht nach Gründen, sondern nach Beweisen, und wenn sie Beweise gefunden haben, betreiben sie Beweissicherung und vor allem Beweiswürdigung, die zum unerläßlichen Handwerk gehört. Diese Verfahrensart ist geeignet, die schlimmsten Entgleisungen zu verhindern, wie sie im Tagesgeschäft der Literatur- und Musikgeschichte gang und gäbe sind. Vor allem Juristen mit Richterqualifikation erkennen die Gleichzeitigkeit der sich in ein und demselben Individuum vollziehenden, vermeintlich einander ausschließenden Gemütsverfassungen an, daß Gutes nicht nur Gutes schafft, sondern auch Böses, und Böses nicht nur Böses, sondern auch Gutes, bis hin zu der scheinbaren Inkonsequenz von Gut und Böse als Einheit in der uralten Juristenweisheit vom höchsten Recht als höchstem Unrecht, sofern Barmherzigkeit als praktiziertes Mitgefühl ausgelöscht wird. Auch Bührlen sieht am Ende für eine kritische Tätigkeit ohne Moralverständnis keine Grundlage. d) Prinzip Aphorismus Niemals mehr ist im Musikzeitschriftenbereich des 19. Jahrhunderts die mentale Verfangenheit des Kritikers in seiner eigenen widersprüchlichen Verworrenheit so deutlich gemacht worden wie durch Bührlen. Seine Stärke war der romantisch scharf geschliffene Aphorismus, der nicht kabarettistisch zur Pointe zugespitzt, sondern zu Ende gedacht in wenigen Zeilen ein ganzes Buch ersetzte. Bührlen hatte es dabei leichter als Rochlitz oder Brendel. Beide mußten die Richtigkeit ihrer Theorien in den aktuellen Rezensionen unter Beweis stellen – Bührlen konnte

13. Friedrich Ludwig Bührlen – Aphorismen zur kritischen Lebensweisheit

105

im allgemein Philosophischen oder Ästhetischen seiner Anschauungen verbleiben. Zwischen der Richtigkeit einer übergreifenden Theorie und der Richtigkeit einer Anwendung der Theorie auf ein bestimmtes Einzelkunstwerk sind handwerkliche Kenntnisse vonnöten, deren der abstrahierend ungreifbare Theoretiker in der Regel nicht bedarf, wohl der Kritiker. So bleibt der Theoretiker selbst bei den abstrusesten Behauptungen immer noch im Gespräch, nicht aber der Kritiker, wenn er angesichts eines sich behauptenden Kunstwerkes oder in einem technisch überprüfbaren Sachverhalt versagt oder versagt hat. Bührlen setzt die schlechte Kritik gegen die gute Kritik, den Negationskritiker neben den Lobhudler, ohne gehalten zu sein, seine Leser darüber aufzuklären, was eine schlechte oder eine gute Kritik ist. Er kann sich widersprechen, ins Biedermeierliche abgleiten, die Gegenwart (und ebenso die Vergangenheit) als zwingend bezeichnen. Ohne seine Herkunft aus dem kantischen und seine Beeinflussung durch das schellingsche Denken zu verleugnen, ließ Bührlen die Weilerschen Vorstellungen weit hinter sich, von den Fleischmannschen Gütecharakteristiken für Kunstwerke ganz zu schweigen. Ob er die Rochlitzsche Vier-Klassen-Theorie gekannt hat, muß offen bleiben, weil es dafür keine Beweise gibt. Mit der Ausdruckstechnik des Aphorismus und damit Verzicht auf Systembildung entging er allerdings ähnlich Rochlitz einer Gefahr, der Marx wie Weber und später auch Brendel nicht entkommen sind. Alle drei mühten sich mit dem Versuch ab, aus einer in sich selbst nicht zur Stimmigkeit zu bringenden Erscheinung ein System machen zu wollen, und eine Systembildung, die sich nicht auf eine Hypothese als Denkmodell mit Richtigkeits- und nicht etwa Wahrheitsanspruch zurückzieht, führt zur Verbiegung der Realitäten und schlägt früher oder später in ideologische Reflexion im Bereich einer irrealen virtuellen Geschichtsschreibung um. Aus einer Musikgeschichte, wie sie ist, wird eine Musikgeschichte, wie sie sein soll. Verbindet sie sich mit einem politisch restaurativen System, wird sie menschenverachtend, beharrt sie auf deren Ziele, selbst wenn der politische Druck entfällt, wird sie möglicherweise noch eine Zeitlang meinungsbildend bleiben, zuletzt aber als Karikatur enden. e) Von der Ganzheit der Erscheinungen Um ein Kunstwerk zu begreifen, muß der Kritiker eine ganze Geschichte der Kunst in sich tragen, meint Bührlen, erst dann kann er bemerken, auf welcher Lebensstufe sich das Kunstwerk befindet, das er anspricht. Mehr noch, er muß die Tiefen des Lebens begreifen, „um zu fühlen, wie sie das Kunstwerk neu aufzuregen versucht hat“(7) [II,38]. Bührlen erkannte, daß ein Beurteiler eine Komposition nicht nach ihrem objektiven Gehalt bestimmt, sondern nach dem, was er selbst sich unter richtig vorzustellen vermag. Er beurteilt, „wie die Statue seyn sollte, um auf sein Kamin zu passen“(8), heißt es [II,62]. Bührlen vergleicht den Kritiker mit einem Schützen, der nach der Scheibe schießt: es gibt nur einen Mittelpunkt, der getroffen werden will, nur eine Bahn, dahin zu gelangen, aber unendlich viele Wege, beides zu verfehlen. Bührlen erkannte weiter, daß ein kritisches Urteil niemals am Einzelnen ansetzt, sondern am Ganzen. Das war eine seiner wichtigsten analytischen Entdeckungen,

106

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

mit der sich spätere hochgezüchtete wissenschaftlich-kritische Deduktions-Systeme aushebeln lassen. Der Kritiker empfängt von seinem Gegenstand einen aus einzelnen Momenten zusammengesetzten Gesamteindruck, den er unbewußt übernimmt. Erst wenn dieser günstig ist, versucht er durch Einzelanalyse die Gründe dafür ausfindig zu machen und eine Kette von Beweismitteln zusammenzusetzen, die den guten Eindruck logisch zusammenhält. Dasselbe gilt in der umgekehrten Richtung: die Kritik am Einzelnen beginnt, wenn die Ganzheit der Erscheinung mißfällt. Niemals nimmt ein guter Kritiker Einzelheiten auf, aus deren Beurteilung er die Beurteilung der Ganzheit ableitet. „Wem ein Ganzes nicht zusagt, der pflegt auch über das Einzelne ungerecht zu urtheilen“(9), und „Was man im Ganzen liebt, und nicht entbehren kann und will, das nimmt man auch in seinen Einzelheiten in Schutz. Die Neigung im Ganzen despotisirt das Urtheil im Einzelnen“(10), erkennt Bührlen [II,72]. Wer sich innerhalb einer geistigen Bewegung oder einer Gruppe aufhält, verteidigt schon im eigenen Interesse die Gruppe, aus der heraus er selbst lebt, gegen jede Vorhaltung eines Mißstandes am Rande; und umgekehrt, wem die ganze Richtung nicht paßt, sucht deren Fehlerhaftigkeit am Einzelgegenstand nachzuweisen, selbst wenn die Nachweise noch so fadenscheinig, noch so unüberprüfbar und unbeweisbar und damit nicht nur unrichtig, sondern falsch sind. Eine ausgeführte Handwerkslehre brächte dafür die Beispiele. f) Kritik als Akt der Ichheit Bührlens Denken dreht sich um seine Erkenntnis von Musikkritik als Akt der Ichheit, ein Begriff, den er in diesem Zusammenhang benutzt und der natürlich über Fichte von Schelling abgeleitet ist. Der Kritiker raisonniert über sich selbst. Es gipfelt in der programmatischen Feststellung, daß Kritik nicht für den Kritisierten, sondern für den Kritisierenden charakteristisch ist – eine für die damaligen Verhältnisse unerhörte Wendung weg vom Objekt auf das Subjekt zu. Es wurde im Zwiespalt zwischen Schelling und Fichte von der Philosophie längst vorbereitet. Diese Thesen wird Adolf Bernhard Marx, der mit Sicherheit Bührlen gelesen hat, als System intellektualisieren, der heißblütige Weber schon praxisbezogen voraussetzen, Gustav Nauenburg in Richtung auf die Berliner Kritik der fünfziger Jahre und im Gegensatz zu Brendel kunstphilosophisch mit seinem System der rationellen Kritik weiterschreiben, alle unter einer unverhältnismäßig starken Idealisierung des Künstlers, die nicht wahrhaben will, in welchem Ausmaß Künstler niederrangige Eigeninteressen vertreten und ihre Aussagen häufiger als zugegeben etwas mit Gegnerschaft, ja sogar Feindschaft zu tun haben. „Wir können nichts anschauen, ohne es unwillkürlich zum Unsrigen zu machen“(11), schreibt Bührlen [II,100]. „Unser Urtheil ist nicht etwa eine Verstandeshandlung in der Art, daß man die starre Regel fragte, und nach ihr entschiede; nein, was wir je geschaut, erlebt, genossen, das wird aufgeregt. Durch das Wunder eines allgemeinen Aufgebots früherer Eindrücke, und das Daranhalten des neuesten entsteht dasselbe. Urtheilsfähig machen heisse also – Erfahrungen geben, und Ansichten umstimmen wäre nicht leichter, als die entscheidendsten bisherigen Eindrücke durch neue gegentheilige vertreiben“(12)

13. Friedrich Ludwig Bührlen – Aphorismen zur kritischen Lebensweisheit

107

[II,80]. Bührlen denkt in Goetheschen Kategorien. Was wir gesehen oder gehört haben, bleibt in uns und macht uns zu dem, was wir sind(13). Im Rückkopplungsverfahren mögen Wendungen nicht ausgeschlossen sein, sofern dem Akt der Folgen setzenden Rückkopplung im Individuum ein Akt des Erreichens einer höheren Stufe der Erkenntnis vorausgegangen ist. Die Mehrheit bildet sich nur selbst in ihrem Umfeld ab. Eine Zeitung etwa ist nicht in erster Linie ein Informationsträger mit einem frei gehaltenen Wirkungsbereich, sondern eine Denkweise, die sich Lesern mit ähnlicher Denkweise anbietet. Daher wird in den meisten Häusern jeweils die Zeitung gehalten, die der allgemeinen Meinung des Zeitungshalters entgegen kommt. Die Beurteilung der gelesenen Nachricht schließt jede Äquitas im juristischen Sinne aus. Daher läßt die Anschauungskategorie des Ichs nur so viel an Qualität zu, wie dem Ich selbst darin zukommt. Bührlen ist nicht mißzuverstehen: „Wenn ein Publikum nicht auf der Bildungsstufe steht, welche das Kunstwerk fordert, so spricht es demselben gewöhnlich den Werth ab. Es sucht den Mangel nie in sich, sondern im Werke, seine Langeweile ist ihm Beweis der objektiven Langweiligkeit“(14) [II,84], und weiter: „An sich ist etwas weder schön noch interessant; menschliches Verlangen, Bedürfnis macht es dazu. Der schönste Mondschein lässt uns kalt, wenn wir ihn nicht brauchen. Aber der nächtliche Wandler, der Reisende, der Liebende, der Maler, der Kranke, der Sehnsuchtsvolle, sie wissen, was sie daran haben. Sie beziehen dieses Aeussere auf eine innere Welt von Antheil, Gefühl, Anliegen. Was wir nicht zu Herzen nehmen, das ist uns gleichgültige Oberfläche. So auch Musik, die wir nicht brauchen“(15) [II,118]. Die moderne Musiksoziologie sagt nichts anderes. Wer gelobt nach Hause kommt, findet eine martialische Musik passend, der Getadelte findet sie unerträglich. Die Zuordnung von Kunst und Augenblicksmentalität verfärbt das Urteil, das nicht mehr ästhetisch, sondern funktionell auftritt. Bührlen zitiert: „Kant sagt: Schön ist, was ohne Interesse gefällt. Wir nennen im Leben vieles schön, was uns anregt, reizt, unterhält, beschäftigt, unserer Entwickelung Vorschub thut, unser Verlangen befriedigt. Diess sind aber nur Anneigungen zum Schönen. Schönheit ist’s, die durch sich selbst befriedigt“(16) [II,100], und: „Wer Etwas producirt, muss sich gefallen lassen, dass ein Jeder bey demselben an sein Eigenes denkt. Das Publikum gleicht hierin einem Leichen-Condukte, wo am fremden Grabe die Meisten ihre eigenen Anliegen beweinen. So sieht und hört jeder in deinem Kunstwerke seine eigenen Kunstbilder, Kunsttöne, und versteht dich nach seiner Weise, und du zweifelst dann oft, ob du denn wirklich in deinem Wesen begriffen werdest“(17) [II,111]. „Das Urtheil der Meisten ist ein Akt der Ichheit. Es zieht an, stösst ab, es greift hinaus in die Welt, es strahlt das Ich hinaus in’s Universum. Was dem Selbst zuwider ist, gegen das hat es tausend Einreden, ‚wenn‘ und ‚aber‘, warum es ihm nicht gefällt, tausend Ausreden, warum es / sich ihm nicht zu nähern vermag. Die urtheilende Selbstheit stemmt alle ihre Seiten gegen den Gegenstand ihrer Abneigung, und weil sie nicht concentrisch mit ihm ist, so begegnen sich alle ihre Radien geradezu oder schief, stossen, durchschneiden, stören sich in allen Zonen. Sie durchbohrt ihn mit den ihrigen, wie mit hundert Dolchen, statt ihn herankommen zu lassen und ihn central aufzunehmen“(18) [II,170].

108

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

g) Kritiker-Kritik. Kunst als Ausdruck von Lebensgefühl Mit dem zuletzt angeführten Aphorismus erfaßt Bührlen erneut eine Parteilichkeit im Urteilen, die er zurückweist: „Das gewöhnliche schau- und lesewüthige Publikum kennt keine Billigkeit, es weiss nur zu vergöttern oder zu verdammen, zu erhöhen oder zu zertreten. Seine Günstlinge fehlen nie, und seinen Sündenböcken gelingt nie etwas“(19) [II,62]. Es erwächst nicht aus Unbilligkeit, sondern aus einer Art von Eitelkeit, wenn der Kritiker nämlich das künstlerische Ereignis nur deshalb verkleinert, um die Existenz noch größerer Erlebnisse persönlicher Art vorzuschieben und sich selbst dadurch in Szene zu setzen, ein Verfahren, das mit großem Erfolg schon an der frühen Kritik nachzuweisen ist(20) [II,68]. Bührlen betreibt zum ersten Male begründende Kritiker-Kritik. Man müsse den Kritiker kennenlernen, forderte er. Aus der Bekanntschaft mit ihm erwachse das Gefühl der Überlegenheit. Wer mit dem Kritiker gesprochen habe, sehe nur zu oft, wie gering dessen geistige Kapazität sei, von der man Heil oder Unheil erfahre. Mancher werde sich dann aus Lob und Tadel eines Kritikers weniger machen(21) [II,110]. Für Bührlen ist ein neuer Kunststil Ausdruck eines neuen Lebensgefühls und damit gegen Kritik gefeit. Ein aus einem neuen Lebensgefühl erwachsenes Kunstwerk zu bekämpfen sei widersinnig, weil hinter jedem Kunststil ein Mensch stehe, der seine Handschrift nicht ändern könne, ohne sich selbst aufzugeben oder zu verleugnen(22) [II,123]. Ein Künstler ist Ausdruck seiner Zeit, das Kunstwerk eine „neue Offenbarung des Lebens“(23) [II,169]. Ändert sich die Zeit, so ändert sich die Kritik und verdammt, was einstmals hoch bewertet war – man müßte aus späterer Sicht hinzufügen, sofern sie überhaupt mitbekommt, was sich getan hat. Der kluge Kanzleirat in Stuttgart ist weiter selbst als Rochlitz oder Louis Spohr. Er ist einer derjenigen, die schon in den zwanziger Jahren den späten Beethoven bejahen. h) Kunst als Ausdruck der Zeit Meister machen offensichtlich keine Fehler. Bührlen meint dazu, Meister, die nachweislich Fehler aufwiesen, litten eben an bestimmten Schwächen ihrer Zeit und hätten „ihre geistigen Säfte nicht höher zu reinigen gewusst“ (24) [II,111]. Bührlen steht davor, den einzelnen Künstler gegen Kritik ganz allgemein für geschützt zu erklären: als Ausdruck der Zeit entzieht er sich jedem Urteil, das nicht gleichzeitig seine Zeit einbezieht, aus der er kommt. Bührlen sieht schon das historische Umfeldproblem. Es wird später in der Auseinandersetzung um Wagners „Rienzi“ eine Rolle spielen, wenn man in den Schwächen der Oper nicht die Schwächen Wagners, sondern die Schwächen der Gattung sieht, der die Oper angehört, also der französischen Großen Oper.

13. Friedrich Ludwig Bührlen – Aphorismen zur kritischen Lebensweisheit

109

i) Kritik als Charaktersache Bührlen gelangt auf diese Weise zu einer Frage, die zwanzig Jahre später, in der „Neuen Berliner Musikzeitung“, breitflächig und mit erheblichen innerredaktionellen Folgen gestellt und systematisiert werden sollte: wer denn überhaupt berechtigt sei, das Amt des Kritikers auszuüben. Mit der längst vollzogenen Verlagerung des Blicks vom Kunstwerk weg auf den Kritiker hin war die Frage folgerichtig. Bührlen ist den Weg weiter gegangen, als er die Kritik charakterbezogen sah, sie nicht mehr bloß als fachliches, sondern vorrangig als moralisches Problem begriff und von da aus einen kritischen Idealtypus konstruierte. Er zählte Eigenschaften auf, die der Kritiker haben müsse, wenn er sich im Konflikt zwischen einer subjektiv unmöglichen kritischen Wertung und dem Wunsch nach einer Verbindlichkeit mit Normanspruch dennoch behaupten möchte. Als das Problem in der Berliner Kritik nach 1848 durchgesprochen wird, ist die Antwort beinahe banal. Die offiziöse Argumentation geht vom Berufsfeld aus. Es wird nicht nach den Eigenschaften gefragt. Jemand ist von Beruf Komponist – also darf er keine Musikkritiken schreiben, weil er vom Grundsatz her befangen ist. Man hat schlechte Erfahrungen gemacht, wenn sich Kollegen übereinander äußern, und man will vorbeugen. In der redaktionellen Auseinandersetzung zwischen August Lange und Flodoard Geyer, der die Verallgemeinerung ablehnt, obsiegt Lange. Es ist Geyer, der geht. Materialistische Handfestigkeit hat über metaphysische Zurückhaltung triumphiert, sich aber gleichzeitig selbst damit ins Abseits gestellt. Fortan ist eine Lücke entstanden, und das einseitig ausgelegte System funktioniert nicht. Unter der versprochenen Zukunft wird die Vergangenheit verstanden und der Kollegialneid der Komponisten untereinander ist trotzdem nicht zu unterbinden, sondern wird paradoxerweise sogar verstärkt. j) Kritik als Utopie Bührlen ist Metaphysiker und seine Antworten bestehen in der Regel aus Fragen. Drei Jahre vor seinem Tod, also 1847, veröffentlichte er seine Schrift „Philosophie eines Dilettanten“, in der schon von Evolution die Rede ist, unter welchem Begriff er Fortschritt oder Fortschreiten im Allgemeinen zusammenfaßt. Als Kantverehrer denkt er geistige Entwicklungen nicht kausalmechanisch, sondern vom intelligiblen Substrat her. Die scheinbar so zwingende Entwicklung des Einen aus dem Anderen könnte Fiktion sein. Es kann so sein, muß es aber nicht. Es könnte auch anders sein. Hier beginnt ein Fiktionalismus, den Vaihinger später in seiner Philosophie des Als-ob ausformulieren wird. Es sind Zuordnungen zu erkennen, Lebensräume, Totalitäten. Der Zusammenhang ist unerkennbar, aber Lebenswirklichkeit, die sich ästhetisch im Kunstwerk äußert. Daher Bührlens Leitsatz, daß der, der ein Kunstwerk beurteilen will, die Totalität der Lebenswirklichkeit in sich tragen muß. Und da hinter jeder Lebenswirklichkeit ein Gesetz steht, besteht auch ein Recht auf Leben. Zu Ende gedacht, führt der Gedankengang zwangsläufig zu einer Aufhebung jeder kritischen Tätigkeit, die mit dem Anspruch der Realität als normative Kraft des Faktischen keinen Ansatz mehr hat. Bührlen begründet damit, gewollt oder unge-

110

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

wollt, die lethargisch werdende Rezensionspraxis der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“, die sich als wertende Instanz zurückzuziehen beginnt. Der Praktiker vermag mit dieser Denkweise wenig anzufangen, er kann ohne die Unterscheidungsmerkmale gut und schlecht nicht arbeiten, weil das Unkraut hochschießt, wenn es nicht mehr als Unkraut behandelt werden darf, sondern als Pflanze, die auch ohne Pflege wächst und unter dem argumentativen Schutz des Nicht-Praktikers einen Verdrängungsapparat aufbaut, der alles, was nicht von seiner Art ist, erstickt. Der später weiträumig zehnteilig in der ersten Jahreshälfte 1847 zwischen Julius Schäffer und Franz Brendel leidenschaftlich ausgefochtene Streit rührte daher an die geistige Existenz eines Brendel, wenn Schäffer mit durchaus ernst zu nehmenden Argumenten die Existenzberechtigung einer Tages-Kritik aus deren Versagen heraus bestritt und allein noch seine „höhere“ Kritik zulassen wollte, die nicht mehr wertete, sondern nur noch in der Weise informierte, den Leser aus der gegebenen Information seine ihm selbst zukommenden Schlüsse ziehen zu lassen. Eine tiefsinnige Denkweise wie diejenige Bührlens ist hochstehend, edel und feinnervig, aber als Regulierungsinstrument im künstlerischen Alltagsleben unbrauchbar, allenfalls notwendig, um Kritik als individuelle Kritiker-Selbstdarstellung auf Kosten von Kunst bloßzulegen. Bührlen vertrat einen Bildungsbegriff, wie er gerade erst im Anschluß an Schiller und Goethe zur Reform der Universitätslandschaft durch Wilhelm von Humboldt eingeführt wurde. Er setzt getreu nach Kant die Unerkennbarkeit der Dinge voraus. Diesen einzigartigen Weg ist in Europa nur Deutschland gegangen und die gegenseitige Befruchtung der systematisierenden idealistischen Philosophie aus Jena und der literarischen Hochklassik aus Weimar blieb unwiederholbar. Legt man das Wesen der Dinge offen, so wird es bereits mit dem Vollzug der Offenlegung zerstört, bevor es zur Anschauung gelangt. Es gibt keinen lebendigen Geist, der faßbar wäre. Der Weltgeist selbst, das, was die Welt „im Innersten zusammenhält“, ist nicht zu begreifen. Die Banalität beginnt dort, wo man den Geist beschwören will und ihn in der Beschwörung tötet, weil man selbst Weltgeist sein müßte, um dessen Anschauung zu erfahren. Jedes Verstehen ist somit gleichzeitig ein Nichtverstehen. Das alles spielt sich in einem im Anschluß an Hegel überbewerteten geistigen Bereich ab, mit dem man trotzdem nichts anfangen kann, wenn es gilt, die realen Vorgänge einzuordnen, um überhaupt leben und denken zu können. Und zur Bewältigung der Alltagsrealität ist eine auf solchen Prinzipien beruhende Kritiktheorie nicht tauglich. Den Beweis dafür bildet die „Allgemeine musikalische Zeitung“ nach dem Abgang von Rochlitz und der Redaktionsübernahme durch Fink im Jahre 1827. k) Urteil und Negation Robert Schumann, der Kunstpraktiker, reagiert 1834 unmißverständlich: Die Zeit der unnützen Complimente sei vorbei. Und vorbei ist auch die Zeit der Bührlenschen Aphorismen, denen schon Marx und Weber nicht folgen. Die Kernfrage ‚natura naturans‘ oder ‚natura naturata‘, aus deren verschiedener Beantwortung

13. Friedrich Ludwig Bührlen – Aphorismen zur kritischen Lebensweisheit

111

die Kunstkritik lebte, eine zweigeteilte Welt aus Natur und Geist, nach Spinoza unabhängig getrennt, nach Fichte einteilig als Ich, nach Schelling zweigeteilt als Identität, nach Hegel dual mit unbedingtem Vorrang für das Geistige bei gleichzeitigem Realitätsverlust, später politisch übertragen: diese Kernfrage muß vor den Erfordernissen im Alltagsleben zurücktreten. Man hat Gründe dafür, es nicht auszusprechen, aber danach zu verfahren, nämlich nach Jacobis Gefühlstheorie, die ebenfalls aphoristisch blieb, weil sie auf innerer Erfahrung beruhte und sich daraus kein System bilden läßt. Die gesamte Kritik des Schumannkreises stand in dieser Tradition und mußte im Gegenzug nur besorgen, aus Kritik nicht Meinung werden zu lassen. Bührlens Philosophiebuch besteht aus einer einzigen großen Fragensequenz, weil das geistige Leben selbst aus Fragen besteht, nicht aus Wissen, das immer nur vorläufig und vermeintlich sein kann, allenfalls richtig, nie aber wahr. Er kommt zu dem Schluß, daß ein Urteil in Sachen Musik grundsätzlich nur von Kritikern gefällt werden kann, die prinzipiell wohlwollenden Gemütes sind, die von einer bejahenden Anerkennung ausgehen, nicht von einer verweigernden Negation, von Menschen, die keine Überheblichkeit entwickeln, sondern Ehrfurcht vor der fremden Leistung haben, von Menschen, die mit den technischen Grundlagen des betroffenen Gegenstandes vertraut sind und nicht mit geschickter Zunge kritisches Urteil mit Privatmeinung verwechseln, oder, so würden wir heute sagen, geldwertgeschäftsorientierte oder ideologisierte Kultur- oder Verlags- oder Redaktionspolitik betreiben. Nur sie bringen die Voraussetzungen mit, ihren eigenen mentalen Voreingenommenheiten soweit wie möglich begegnen und die Aufgeschlossenheit für neue Kunststile als neue Lebensäußerungen fordern zu können, weil sie sich nicht aus der jetzt neuen Zeitzone des Kunstwerks in eine alte oder eine kommende flüchten oder auch wegstehlen wollen [II, 134; II, 131; II,169]. Urteil ist Ichheit und somit im Ich begrenzt. „Das verneinende Urtheil liegt viel näher als das bejahende. Der Tadel geht aus unserer unkünstlerischen Natur hervor, die zuerst eckig hervorspringendes Einzelnes wahrnimmt; aus unserer Einseitigkeit, die keiner freyen Wahl des richtigen Standpunktes fähig ist; aus unserer Geschmacklosigkeit, die ihre Rechnung nicht findet; aus unserer Gemeinheit, die schadenfroh das Strahlende gern schwärzen möchte; aus unserer Stumpfheit, die aufgekizzelt, ja aufgedonnert werden sollte; aus unserer Altklugheit und unserm Gernwitz, die als scharfsinnige Bemerker auftreten; aus unserer albernen Vornehmheit, die, sich aufblähend, keinen Eindruck an sich kommen lassen will, und sich der kleinsten Erregung schämt; aus unserm Neide, weil uns selbst nichts gelingen // will; aus unserer Bosheit, die anderen gern ihre unschuldige Freude verderben möchte. / Das bejahende Urtheil steht, dem verneinenden gegenüber, unscheinbar da, denn es kann in seiner Kunstliebe, vielseitigen Erregbarkeit, Geschmack, Seelen-Grösse und Güte, Bescheidenheit und Demuth nichts aufbringen, als: Das Werk ist gut, ansprechend, erhebend! – Das Gute hat überhaupt viel weniger Namen, als das Schlechte. – Die Wirksamkeit, den Charakter, den Werth, die Constructionsweise des Kunstwerks zu bestimmen, ihm seinen Kunstrang anzuweisen, dazu gehört schon das höhere Vermögen des wirklichen Kunst-Gelehrten“(25) [II, 193].

112

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

l) Verschärfte Töne Die für Bührlens Schreibweise schärfer gewordenen Äußerungen aus dem Jahre 1827 sind gewiß gegen den seit 1824 in der „Berliner Allgemeinen musikalischen Zeitung“, aber auch in der „Caecilia“ üblich gewordenen, stark absprechenden Rezensionsstil gerichtet, unter dem auch die vielfältig angegriffene ehemalige Rochlitz-Zeitung zu leiden hatte, in der Bührlen seine Aphorismen veröffentlichte. Die fallen vermutlich nicht ohne Grund in dieser Zeit, gerade was das Thema Musikkritik angeht, besonders reichlich aus. „Den blossen Verstand besticht kein Gelingen im Allgemeinen, der Egoismus ist scharfsichtig im Durchforschen alles ihm dienlichen und undienlichen, und wir haben allerdings das meiste Wissen dem Eigennutze zu danken, der es für sich errang, aber der Welt nicht vorenthalten durfte. Die Absichtlichkeit ist aufpassend, der Dünkel ist // ungenügsam und tadelt vornehm herabsehend, die Entzweiung ist verneinend und lauert auf fremde Schwächen. / Alle diese Eigenschaften sind in den Menschen gewöhnlich mit besseren gepaart, und so helfen sie auch in der Kunstwelt zu einer gewissen scharfsinnigen Umsicht. Aber das rechte kritische Kunst-Urtheil vermag doch am Ende nur ein von Natur bejahender, kunstfreundlicher Geist zu fällen“(26) [II, 169], oder: „Beurteilung – von vorne – ist oberflächlich, applaudirend, tadelnd nach dem flüchtigen Eindruck; von der Seite – schief, einseitig, lobhudelnd oder schimpfend nach Nebenansichten; von hinten – theoretisch, kritisch, sieht // in’s mechanische Getriebe des Werkes; von unten – malitiös, auf den Kopf stellend; von oben – vornehm verkleinernd, anmaassend. Der humane Beurtheiler kennt und meidet alle diese Standpunkte, um sich auf den künstlerischen zu stellen, in die richtige Perspective. Hier erscheint die gute oder schlechte Intention, das Gelingen oder Verfehlen, und der Spruch ist gerecht und milde zugleich, wie ihn sich der Darsteller, die Hand auf der Brust, selbst sprechen müsste“(27) [II, 158]. Und weiter „Eine einseitige, negative, malitiöse Kritik hat das Aergerliche, dass wir uns im Stillen immer mit ihrer Widerlegung abgeben, dadurch viel Zeit für positives Wirken verlieren, und wenn wir mit Apologieen auftreten, gegen sie nichts gewinnen, weil sie, wie ein Rabulist, schon im Voraus gegen alles mit ihrem ‚Nein‘ gefasst ist. Glücklich, wer sie gänzlich ignoriren kann! Wie im Leben jedes Ding zwey Hauptseiten hat, sein Seyn und sein Nichtseyn, so auch in der Kunst. Eine Kritik, welche nur immer vom Nichtseyn eines Werkes und nicht in gleichem Maasse von dessen Seyn spricht, ist in ihrer Einseitigkeit – der grössten, die es gibt – erbärmlich, und in ihrer Verneinung satanisch, so wie ein Mensch im Leben es ist, der nur immer zu sagen weiss, was die Gegenstände alles nicht sind“(28) [II,169], schließlich: „Man kann zu gleicher Zeit im Urtheilen sehr streng und sehr mild seyn. Wenn eine Kunstdarstellung im Ganzen sehr ungenügend ausfällt, so ist doch gewöhnlich dabey sehr viel gutes Talent aufgewendet worden, und eine zerfallende Anstalt kann doch noch manche brauchbare Glieder besitzen. Das gewöhnliche Absprechen und Verdammen ist beleidigend. Nur der ist zum Tadel, zur scharfen Kritik berechtigt, der zuvor ausspricht, was erreicht und geleistet worden ist“(29) [II,78].

13. Friedrich Ludwig Bührlen – Aphorismen zur kritischen Lebensweisheit

113

m) Kunstgesetze als Annäherungswerte Seiner philosophisch-romantischen Herkunft entsprechend konnte sich Bührlen nicht mit festlegenden Kunstgesetzen abfinden. Kunstgesetze dienen ihm dazu, „dass man sie annähernd halte, sich nicht zu weit von ihnen entferne“. Sie können aber keinen Genius binden, weil der stets anders schreite „als die Berechnung: Das Genie vor dem Richterstuhle des Verstandes – ist eine wehthuende Erscheinung; er glaubt nicht daran, dass es alle Buchschulden mit freyen Gaben bezahle“(30) [II,62]. Mit Carl Maria von Weber trifft sich Bührlen in der Überlegung, daß es künstlerische Produkte gibt, die keiner Kritik standhalten und doch „wunderschön und unvergleichlich“ sind(31) [II,146]. Bührlen verweist auf ein Reichardt-Lied („Kennst du das Land“). Das Kunstwerk bietet also Möglichkeiten aus sich selbst, gibt damit aber dem Kritiker eine Handhabe, den Künstler gewissermaßen gegen sich selbst auszuspielen. Der Kritiker, heißt es bei Bührlen, sieht aus „den tausend Augen seiner Kenntnisse“, er „riecht mit tausend Nasen seines Scharfsinnes“, seine Aufmerksamkeit hat „tausend Ohren“, seine Neigungen und Wünsche „tausend Gaumen“(32) [II,94]. Mit diesen „unterscheidenden, wählenden, richtenden Werkzeugen“ umschlingt der Kritiker das Kunstwerk, das mit seinem Entstehen eine eigene Skala der Vollkommenheit preisgibt. Daran mißt der Kritiker, wie weit der Künstler unter seiner eigenen Vorstellung geblieben ist, die das Kunstwerk andeutet. Bührlen gibt zu, daß man bei jedem Künstler eine „Bildung innerhalb gewisser // Schranken, eine einseitige Fertigkeit, manche Gewöhnungen, Eigenheiten, beschränkte Sinne, Talente, Erfahrungen, Anhängsel der Geburt, Erziehung, Lebensweise, Beschäftigungsart“ voraussetzen müsse.“(33) „Er täuscht aber ein Ganzes, Allgemeingültiges vor, er lügt eine Einseitigkeit, die er nicht besitzt, er sucht mit Anstrengung und List seinen Urbildern, den Idealen des Kritikers zu genügen.“(34). Aus dem Faktischen dessen, was der Künstler geleistet hat, entsteht wie von selbst für den Kritiker die Summe der Möglichkeiten, denen hätte genügt werden sollen oder können. Bührlen drückt es negativ aus: der Künstler habe in der Reihe der schaffenden Augenblicke unendlich viele Möglichkeiten des Fehlens zu vermeiden. Sein großräumiger Aphorismus variiert nur noch einmal seine Vorstellung, daß jedes Kunstwerk aus seinen eigenen Gesetzen dem Kritiker die Bahn anweise und die Übertragung feststehender überkommener Maßstäbe auf ein Kunstprodukt unmöglich sei, und er schließt mit einem Gleichnis: „Es ist schwer, ja im Grund unmöglich, eine gerade Linie aus freyer Hand zu ziehen. Zwischen zwey Punkten ist nur Eine möglich; desto leichter ist’s, eine der unendlich vielen möglichen krummen zu machen. Mit einem Blicke prüft aber das Auge in der Richtung von einem Punkte zum andern, ob die Linie, die für die gerade gelten soll, nicht hüben oder drüben abweiche. Die zeichnende Hand ist der Künstler, das prüfende Auge der Kritiker.“(35)

114

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

n) Fazit. Kritik ohne produktiven Einfluß Bührlen spricht dem Künstler gewissermaßen sein Urteil: Er muß immer mit und für sich allein bleiben. Das Schöne geht zwar seinen Gang, aber es bleibt unverstanden(36) [II,85]. Und für den vom Künstler letzten Endes abhängigen Kritiker gilt, daß seine Kritik keinen produktiven Einfluß auf den Gang der Geschichte auszuüben vermag. Der böse Wille der Kritik wolle es nicht, der gute könne es nicht. Die Kritik fordere dies und das, man horche auf die Kritik, man glaube ihr mitunter auch, aber es geschehe selten oder nie so, wie sie es möchte (37) [II,171]. Kurz vor Jahresschluß 1827 läuft in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ die Reihe der Bührlenschen Aphorismen zur Musikkritik allmählich aus. Sie überschlagen mehr als 20 Jahre Geschichte und nehmen die Uhlig-Brendelschen Forderungen von 1852 vorweg, die vom Ende der Musikkritik und deren Selbstauflösung handeln – gemeint ist die nach immanenten Prinzipien, hier: Schein-Prinzipien ausgerichtete, allgemeingültig wertende, sich wissenschaftlich nennende Werkkritik. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15) (16) (17) (18) (19) (20) (21) (22) (23) (24) (25) (26) (27) (28) (29) (30) (31) (32) (33) (34)

F. L. B. Miscellen, AWM-Z II/102, 25.8.1842, S. 416a; AmZ XXVI/40, Sp. 653–654; II/28, 18.6.1840, S. 200a–b; AmZ XXV/7, 12.2.1823, Sp. 109–110, Z:109; AmZ XVI/10, 9.3.1814 Sp. 171–172; ~/11, 16.3.1814, Sp. 187–188, Z:171; AmZ XVI/10, a. a. O. Sp. 171; AmZ 1814, Sp. 14; AmZ XXIII/32, 8.8.1821, Sp. 558; AmZ XXIII/32, 8.8.1821, Sp. 558; AmZ XXIV/33, 14.8.1822, Sp. 548; AmZ XXVI/2, 8.1.1824,, Sp. 27–29, Z:29; AmZ XXIV/47, 20.11.1822, Sp. 771–772, Z:772; AmZ XXIV/47, 20.11.1822, Sp. 772; AmZ XXV/2, 8.1.1823, Sp. 30–32, Z:31; AmZ XXVI/37, 9.9.1824, Sp. 603–604, Z:603; AmZ XXVI/2, 8.1.1824, Sp. 27–29, Z:28; AmZ XXVI/23, 3.6.1824, Sp. 377–379, Z:377; AmZ XXVIII/45, 8.11.1826, Sp. 742–743; AmZ XXIII/32, 8.8.1821, Sp. 557–559, Z:559; AmZ XXIV/8, 20.2.1822, Sp. 135–136; AmZ XXVI/22, 27.5.1824, Sp. 360–362; AmZ XXVI/47, 18.11.1824, Sp. 771; AmZ XXVIII/40, 4.10.1826, Sp. 656–658, Z:656; AmZ XXVI/23, 3.6.1824, Sp. 377–379, Z:378; AmZ XXIX/43, 24.10.1827, Sp. 731–733, Z:731/732; AmZ XXVIII/40, 4.10.1826, Sp. 656–658, Z:656/657; AmZ XXVIII/25, 21.6.1826, Sp. 410–412, Z:411–412; AmZ XXVIII/40, 4.10.1826, Sp. 656–658, Z:657; AmZ XXIV/43, 23.10.1822, Sp. 706–706, Z:706; AmZ XXIII/32, 8.8.1821, Sp. 557–559, Z:559; AmZ XXVII/46, 16.11.1825, Sp. 765–769, Z:767; AmZ XXV/43, 22.10.1823, Sp. 711–712, Z:711; AmZ XXV/43, 22.10.1823, Sp. 711–712; AmZ XXV/43, 22.10.1823, Sp. 711–712, Z:712;

14. Anonymus 1818

115

(35) AmZ XXV/43, 22.10.1823, Sp. 711–712, Z:712; (36) AmZ XXV/4, 22.1.1823, Sp. 61–62, Z:62; (37) AmZ XXVIII/50, 13.12.1826, Sp. 830.

14. ANONYMUS 1818 Der Bruch zwischen dem 18. Jahrhundert mit seiner zu überwindenden Affektenlehre und dem 19. Jahrhundert mit seiner psychologisch gedachten Genielehre war zu einschneidend, um nicht immer wieder Überlegungen herauszufordern, ob die neue Zeit im Entwicklungssinne besser oder nicht doch ein Rückfall vom goldenen in ein silbernes Zeitalter sei. Wer zwischen 1800 und 1820 schreibt, hat es schwer. An Haydn, Mozart und Beethoven ist nicht mehr vorbeizukommen, aber die geliebten Alten, namentlich Händel, Bach, Graun, Hasse, Benda will man nicht preisgeben. Das geht nicht nur Michaelis oder Miltitz so. In der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ erschien 1818 ein umfangreicher Zweiteiler unter dem Titel „Einige Ideen über die ältere und neuere Compositionsart“(1) [II,55]. Der Verfasser bleibt anonym. Der Stilwandel erfolgte für die älteren Zeitgenossen offensichtlich zu schnell. „Es ist unglaublich, in wie kurzer Zeit und auf welche verschiedenartige Weise sich der Styl und überhaupt die ganze Gestalt der Composition geändert hat“ (2). Kompositionen, die noch vor 30 bis 40 Jahren „selbst bey der Menge den ausgezeichnetsten Beyfall erhielten, klingen jetzt in den Ohren der Meisten veraltet und abgeschmackt“. Der Verfasser will die Gründe wissen, deren er drei mögliche nennt. Entweder habe sich die Natur des Menschen verändert, oder die Musik sich in dieser Zeit so „zu ihrem Vortheil verändert, dass die ältere weit hinter ihr zurück- // stehen muss“, oder „der Mensch hascht nur nach Neuem und Auffallendem, und vergisst das Alte, sobald sich ihm etwas Neues darbietet“(3). Eine Veränderung des Menschen, das, was wir heute biologische Veränderung nennen würden, schließt er aus. Mit dem zweiten und dritten Grund beschäftigt er sich ausführlich. Es beginnt mit der Darlegung dessen, was ein Musikstück haben muß, um von einem Beurteiler günstig aufgenommen zu werden, „das ganze Gewebe der Kunstregeln, welche für die wahrhaft edle Musik bestanden, noch jetzt bestehen.“ Es sind die üblichen lehrbuchhaften kompositionstechnischen Formalien vom Aufbau einer Hauptmelodie bis zur Unterlegung von Text, die der Anonymus vorträgt. (1) AmZ XX/37+38, 10. + 23.9.1818, Sp. 649–653, 665–673; (2) a. a. O. Sp. 649; (3) a. a. O. Sp. 649–650.

116

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

15. ERWARTUNGSHALTUNG In einem überaus langen, aber auch tiefsinnigen Rochlitzschen Dialog „Künstlersinn und Künstlerloos“ wird zunächst alles, was in Verbindung mit Wert und Bedeutung deutscher Musik steht, „trübe bis zum Düsteren, schwer bis zum Schwerfälligen“ behauptet(1) [II,144] und mit der geforderten Heiterkeit der Kunst in Gegensatz gebracht. Dabei benennt Rochlitz das, was die moderne Soziologie die mentale Komponente nennt, also den Gemütszustand, den ein Hörer im Augenblick des Erklingens von Musik mitbringt. Rochlitz thematisiert die Erwartungshaltung, die Einfluß auf ein Urteil nimmt. Der Dialog zeigt, wie zu ein und derselben Sache so viele Meinungen als Urteil geäußert werden, wie Urteilende befragt wurden. Die Lösung einer theoretischen Diskussion erfolgt durch einen jungen Komponisten, der sich nach quälendem Zögern durch vielfältige seelische Erlebnisse in Begeisterung versetzt sieht und dadurch zwei Stücke zu Stande bringt. Von Handwerk ist nicht die Rede. Alles Technische bleibt ungesagt. Rochlitz schreibt ein Stück Literatur in Hoffmannesker Art. Es muß offen bleiben, ob Rochlitz das Genie kennzeichnet, das nicht gegen die Regel ist, aber die Regel selbst bildet. Als Literaturstück ist es gut gemacht, als Lehrstück bleibt es unbefriedigend. (1) AmZ XXVII/41, 12.10.1825, Sp. 677–691.

16. KUNSTPHILOSOPHIE Nach Meinung eines unbekannten Autors, der für das „Musikalische Taschenbuch auf das Jahr 1803“ eine „Uebersicht des jetzigen Zustandes der Musik“ verfaßte, entsteht Kunstkritik durch Anwendung der Wissenschaft auf die Kunst. „Bey der nothwendigen Revolution, die jetzt die Philosophie erlitten hat, sind für die KunstPhilosophie neue Ansichten eröffnet worden. Eine Kunst-Philosophie selbst existirt noch nicht. Es sind nur einzelne Andeutungen offenbart und gegeben, welche die Aufstellung dieser Wissenschaft nun erst möglich machen“(1) [II,10]. „Alle Kunst nimmt ihr Lebensprincip aus der Philosophie“(2), heißt es bei Bührlen, und: Man ist in der Kunst fast noch mehr als sonst im Leben gewohnt, sich mit Worten, Redensarten, überlieferten Meynungen etwas weiss zu machen“(3) [II,132]. (1) a. a. O. S. 67–250, Z:239; (2) Bührlen, AmZ XXVII/13, 30.3.1825, Sp. 216–219, Z:216; (3) Bührlen, a. a. O. Sp. 217.

17. NACHTRETER: ERNST WOLDEMAR 1826 Der Woldemarsche Artikel über Musikkritik vom Ende April 1826 „Ueber den Beruf zur Kritik im Gebiete der Tonkunst“(1) [I,153] ist weniger durch seine Aussage zum Thema als durch seine autobiographischen Hinweise auf den Berliner Verfasser Heinrich Hermann (Pseudonym: Ernst Woldemar) bedeutsam. Woldemar wird

17. Nachtreter: Ernst Woldemar 1826

117

einige Jahre später eine üble Rolle als öffentlicher Wortführer der gegen den späten Beethoven ausbrechenden Polemik spielen. Adolf Bernhard Marx bescheinigte ihm einen unguten Ruf. Nicht nur die Beethovenpolemik macht den Grund dafür offensichtlich, sondern auch der Aufsatz über Musikkritik, eine weitschweifige, überaus selbstbewußte, mitunter ins Läppische abgleitende Arbeit ohne Aussagekraft, die im Abstand eines Vierteljahrhunderts polemisch nachtritt, was längst geklärt ist. Sie beginnt zunächst harmlos und überzeugend: „Um ein wirklich schönes Gedicht zu schaffen, muß man unstreitig ein geborener … Dichter seyn; allein zur richtigen Beurtheilung desselben ist dieses gerade nicht nöthig“(2). Das ist sinngemäß die später auf Friedrich den Großen bezogene Kegelspiel-Anekdote: Um festzustellen, daß der König die Kegel mit der Kugel nicht getroffen hat, muß es der lachende Berliner Schusterjunge keineswegs selbst besser können. Das an sich schlüssige Dichter-Beispiel wird unschlüssig weitergeführt; denn auf einmal kommen undefinierte und undefinierbare Begriffe hinein, Geist, Herz, Geschmack, Schönheit, Verstand, Beredsamkeit. Für Woldemar sind das die Qualitäten, die der besitzen muß, der das Empfundene richtig darstellen will. Woldemar überträgt verdoppelnd dieselbe Beweisführung auf Malerei, Bildhauerei, Kupferstecherei, Architektur und Rhetorik. Woldemar, der somit gezeigt hat, daß man Dichtung zu beurteilen vermag, ohne ein Dichter zu sein, ein Gemälde, ohne selbst malen zu können, dreht nunmehr die Zuordnungen um. Man kann nämlich nach Meinung Woldemars ein hervorragender Dichter sein, ohne die Befähigung zu besitzen, Dichtkunst, also Literatur zu beurteilen, und ein guter Maler, ohne etwas von Gemälden zu verstehen. Im Musikbereich jedoch, so führt er aus, ist das alles ganz anders. „Ist es also, gelinde gesprochen, nicht höchst sonderbar, wenn die meisten Musiktreibenden sich einbilden, oder vornehmer Weise mindestens doch // so thun, als ob sich’s in Hinsicht auf ihre schöne Kunst, die man aber gegenwärtig nicht selten eine hässliche zu nennen versucht wird, durchaus ganz anders verhielte?“(3) Woldemar ist offensichtlich, so läßt sich unterschwellig aus seinen Ausführungen schließen, als Künstler erfolglos (was der Realität entspricht), hält sich aber trotzdem für einen gewaltigen Kenner, der fest davon überzeugt ist, alle Art von kontrapunktisch gestalteter Musik habe als veraltet zu gelten. Was er mit häßlicher Musik meint, geht aus dem zwei Jahre später gegen die Musik des späten Beethoven geschriebenen Pamphlet hervor, das Beethoven zum Kandidaten für das Irrenhaus erklärt. Woldemar hält weder etwas von der Gattung Hofkomponist („Hof-Compositeur“) noch von den Virtuosen. Das stimmt zwar mit der Meinung des Großteils der seriösen Zeitgenossen überein, es wird aber in einer Art vorgetragen, die unangenehm wirkt: „… so müssen wir erst soviel Notenpapier verdorben haben, als dieser musikalische Heros selbst, um mit Ehren sagen zu können, dass an allen seinen Herrlichkeiten – so weit sie nämlich nicht anderen früheren und wirklichen Meistern abgestohlen sind – so viel, als nichts ist … . Sein Anche io sono Pittore! ist in der Welt nichts weiter als eine Arroganz, die darum durchgeht, weil man sich hin und wieder so schlecht auf wahre Meisterwerke der Tonkunst versteht(4). Was die Meinung der Virtuosen angeht, „so kann kein Sterblicher über den wahren Werth einer Musik früher entscheiden, als bis er sich gehörig legitimirt hat, entweder in

118

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

jeder Secunde jede Taste eines Fortepiano’s mindestens vier bis sechs Mal berühren, oder einer Violine nicht bloss alle angenehmen und bezaubernden, sondern auch sämmtliche Katzen- und Jammertöne entlocken“(4). Sie wissen nichts als das schön zu finden, was neu ist, und empfinden „die göttlichsten Harmonieen oft nur in ihren Händen“. Wenn man sie frage, wer in der Kunst höher stehe, Händel oder Hasse oder Gluck oder Mozart, so wüßten sie nicht, was sie antworten sollten, ja, sie wüßten vermutlich nicht einmal, was man mit dergleichen Fragen eigentlich wolle. Anschließend beschäftigt sich Woldermar, wie es ironisch heißt, „in tiefster Demuth“, mit „jenen Herren mit gravitätischen Mienen und tiefsinnigen Blicken“, welche insbesondere bei allen unsicheren Leuten für die ersten gründlichsten Kenner der Musik gelten. Sie können die Verhältnisse der Intervalle nach „haarscharfen Brüchen“ berechnen, und wie man Dissonanzen vorbereitet und auflöst. Sie lernen aus Bachs wahrer Art, das Klavier zu spielen, aus Kirnbergers Kunst des reinen Satzes, aus Türks Generalbaß-Schule. Es sind, nach Woldemar, „lauter Werke, in welchen (beyläufig gesagt) der wissenschaftlich gebildete Liebhaber das wahre philosophische Licht vermißt“(5). Daraus „erhaschen“ sie so viel, „als nöthig ist, um bey Gelegenheit vor Leutchen, welche von solchen grammatischen Wunderkünsten nichts verstehen, noch begreifen, seraphisch zu glänzen“(5). Für Woldemar besteht der „Irrthum der Irrthümer“ darin, die „wahre Kennerschaft der Musik einzig und ausschliessend in deren Grammatik zu suchen“. Woldemar will auf die Ablehnung einer intellektuell nachprüfbaren Gesetzmäßigkeit als Grundlage für ein Urteil hinaus. Sie fällt so radikal aus, daß er alle regelbestimmte Musik, darunter die gesamte Kontrapunktik nicht nur ablehnt, sondern streckenweise ins Lächerliche zu ziehen versucht. Seiner Meinung nach sind nämlich die Leute, die ein kontrapunktisches Stück beurteilen können, zu einem vernünftigen Urteil sofort außerstande, wenn es sich einer kontrapunktischen Beurteilung entzieht, weil sie dafür, so Woldemar, nicht die vorauszusetzende Empfindung besitzen. Geistesgeschichtlich ist dieser Text, der 1826 in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ erschien, in den Jahren zwischen 1775 und spätestens 1791 angesiedelt, allerdings mit der Einschränkung, daß es sich bei Woldemar alias Heinrich Hermann aus Berlin um keinen ernst zu nehmenden Autor handelt. Um die „handgreifliche Ideenverwirrung zwischen grammatischer Richtigkeit und ästhetischer Schönheit“ zu zeigen, die bis zur Stunde fortdauere, formuliert er im Dialogverfahren den Satz: „Der Kreis ist ein rundes Viereck“ und folgert daraus, daß, wenn es einen als Satz grammatikalisch richtig formulierten Unsinn in der Wortsprache gebe, es ihn auch in der Sprache des Herzens geben müsse, gemeint ist die Musik(6). Es folgen die üblichen schön klingenden Forderungen mit ihren nebelhaften Voraussetzungen, die er dialogisch vorbringen läßt: „… ich verlange Neuheit der Erfindung, ohne gesuchte Modekünsteley; Natur und Wahrheit des Ausdruckes, ohne melodische oder harmonische Affectation, vor allem aber die strengste Einheit des Hauptthema’s, wie der Ausführung, und bey der letztern nur solche Nebengedanken und Empfindungen, die auf den Hauptsatz wirklich Bezug haben, nur solche Dissonanzen, welche die Schönheit des Ganzen in der That heben, nur solche Figuren und Verzierungen, die nicht wie Schminke und Schönpflaster wirken“(6).

18. Carl Maria v. Weber als Musikkritiker

119

Das sind typische Scheinforderungen eines Journalisten, der mit wohlklingenden Worten raumgreifend, aber äußerst selbstbewußt, nichts sagt. Es soll alles neu, aber nichts soll anders sein! Die ganze Sequenz wird dadurch gekennzeichnet, daß die aufgeführten Geschmacksbegriffe inhaltslos sind. Was für eine Schönheit? Was für eine Einheit, die streng sein soll? Was ist harmonische Affektation, was gesuchte Modekünstelei? Was sind Dissonanzen, mit denen man die Schönheit des Ganzen hebt? Woldemars Aufsatz ist ‚Ueber den Beruf zur Kritik im Gebiete der Tonkunst‘ betitelt, und er muß die Frage beantworten, wem denn eigentlich in Sachen der Tonkunst das Recht zur Entscheidung in letzter Instanz zugesprochen werden darf. Er hat die Hofkomponisten ausgeschlossen, die Musikgelehrten, die Virtuosen, die Komponisten des strengen Satzes, und so gut wie die Totalität der Musikliebhaber mit Instrumentalkenntnissen. Wer bleibt da noch übrig, außer ihm selbst, wie man aus der Anlage seines Artikels schließen muß. „Wer soll denn also als letzte Instanz in Sachen der Tonkunst entscheiden? – Es versteht sich, vor allem die vollendeten Meister ihres Faches selbst; allein doch wohl nur, wenn sie so unpartheyisch und gerecht gegen einander sind, als Haydn und Mozart es waren. Wie aber, wenn diess nicht der Fall ist?“ Woldemar meint Händel, weil der sich über Gluck historisch falsch geäußert hat. „Soll der philosophisch ästhetische Kenner der Musik darum, weil er nicht ausübender Künstler ist, vor dieser höchsten aller musikalischen Autoritäten augenblicklich verstummen, und Meisterwerke, wie die Iphigenien, der grammatischen Rigorosität preisgeben? Keinesweges: …“ (6). Er werde vielmehr zu dem Schluß finden müssen, „dass sich der Raphael der Tonkunst mit obigem Urtheile selbst unrecht gethan hat“(6). (1) (2) (3) (4) (5) (6)

AmZ XXVIII/17, 26.4.1826, 273–282; Woldemar, a. a. O. S. 273; Woldemar, a. a. O. S. 273–274; Woldemar, a. a. O. S. 274; Woldemar, a. a. O. S. 275; Woldemar, a. a. O. S. S. 276.

18. CARL MARIA V. WEBER ALS MUSIKKRITIKER Carl Maria v. Weber legte Wert auf die Feststellung, niemals anonym geschrieben, sondern sich stets mit seinem Namen bekannt zu haben(1) [II,54]. Als Grund gab er an, sich „als Mitproducirender … nicht das unbedingte Richteramt über meine Mitbrüder“ anmaßen zu wollen(2); aber auch, um jene zu widerlegen, die im Kritiker immer nur den sehen, „der das Recht hat, schadenfroh unter verhüllendem Mantel sein Müthchen zu kühlen, oder Gnade und // Protection angedeihen lassen zu dürfen“(3), obwohl er, wie er ausdrücklich betont, sehr viel von der Anonymität halte. Für Weber sind die Erfordernisse einer Kritik „Gründlichkeit und Wohlwollen“(4). Weber hat sich 1818, ebenfalls in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“, auch in sehr diplomatischer Weise über die Dresdner Kritik und Dresdner Kritiker ausgesprochen [II,56], woraufhin ihm die „Correspondenten A. C. H.“(5) sogleich antworteten [II,57]. Vermutlich kam sein Text nicht diplomatisch genug an: „Wir

120

3. Kapitel: Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1797 bis 1818

erklären übrigens dem Hrn. von Weber mit aller ihm gebührenden Hochachtung, dass wir uns in unsern Urtheilen keine Gesetze vorschreiben lassen werden …“ Webers Urteile erfolgten immer sehr vorsichtig, respektvoll und höflich, und er flocht kritische Grundsatzüberzeugungen ein, wie etwa in seine Besprechung von Hoffmanns Oper „Undine“(6) [II,49]. Er will weg vom „Gesellschaftsurtheil“, wie er es nennt, „wo ohne weitere Beweisführung eine Partey es gut, die andere schlecht findet, die gemässigtere es weder verwirft noch erhebt, und alles nur Gewicht und Glaubwürdigkeit durch die Persönlichkeit des Beurtheilers und das ihm wieder partiell geschenkte Vertrauen erhält“(7). Er will weg von einer Betrachtung, die aus einem besonderen Einzelstück aufs Ganze schließt. Weber will die geistige Region ausmachen, in der sich die Oper bewegt – man könnte ihn als einen Vorläufer von Adolf Bernhard Marx bezeichnen. Carl M. v. Weber selbst soll auf ‚schlechte‘ Kritiken empfindlich reagiert haben. Um sich vor einem Dresdner Kritiker namens Müller, der ihn in der „Leiziger Zeitung“ unentwegt angriff, zu schützen, soll er, wie die „Signale“ 1846 berichteten, seinen eigenen Tod vorgetäuscht haben. Müller habe ihm einen überschwenglichen Nachruf gewidmet und sei dadurch in seiner weiteren Berichterstattung über Weber ‚gefesselt‘ gewesen [II,557]. Marx verfaßte im April 1829 einen langen Artikel „Karl Maria von Weber’s Ansicht über öffentliche Besprechung der Kunstangelegenheiten“(8) [II,242], nachdem er den dritten Teil der hinterlassenen Schriften Webers zu Gesicht bekommen hatte. Marx wäre nicht Marx gewesen, wenn er seine Introduktion nicht dazu benutzt hätte, nachdrücklich für eine schriftstellerische und auch kritische Tätigkeit von Komponisten zu werben und Weber als ein leuchtendes Vorbild für die Doppeltätigkeit herauszustellen. Im übrigen verspricht der Titel mehr als er hält, weil er sich außer der Marxschen abschnittslangen Einleitung auf den Nachdruck zweier Weberscher Texte beschränkt. Marx druckte zunächst den Text „An die kunstliebenden Bewohner Dresdens“ ab, den Weber aus Anlaß der Gründung einer Deutschen Oper verfaßt hatte. Nach einer kurzen Zwischenbemerkung folgt Webers Besprechung der Tondichtungen Fescas. Im Anschluß daran verspricht Marx „Später, wie gesagt, ein Näheres über diese Leistungen Webers.“ (1) Ueber die Tondichtungsweise des Hrn. Concertmeisters, Feska, in Carlsruhe; nebst einigen Bemerkungen über Kritikenwesen überhaupt, AmZ XX/33, 19.8.1818, Sp.585–591; (2) Weber, a. a. O. Sp. 587; (3) Weber, a. a. O. Sp. 587–588; (4) Weber, a. a. O. Sp. 588; (5) ACH war das Kryptonym der in Dresden lebenden Malerin Therese Emilie Henriette aus dem Winckel; (6) Weber, AmZ XIX/12, 19.3.1817. Sp. 201–208; (7) Weber, a. a. O. Sp. 201; (8) Marx, BamZ VI/14, 4.4.1829, S. 105–106a.

19. Banalitäten. Termindruck und Mitarbeiterprobleme

121

19. BANALITÄTEN. TERMINDRUCK UND MITARBEITERPROBLEME Anders als später bei Marx finden sich bei Rochlitz keine ausdrücklichen Hinweise auf die typischen Probleme, die bei periodisch erscheinenden Blättern unausweichlich sind. Jeder Redakteur steht unter Termindruck. Ein Periodikum muß zeitbestimmt erscheinen, und es muß im vorgeschriebenen Umfang erscheinen. Der verantwortliche Redakteur ist ständig auf der Suche nach guten Artikeln, und häufig sieht er sich genötigt, auf solche zurückzugreifen, die er bei einem besseren Angebot hätte liegen lassen. Immerhin hatte Rochlitz klugerweise sehr schnell ein umfangreiches Korrespondentennetz aufgebaut, so daß er, sollte es eng werden, immer genügend Füllmaterial besaß. Aber nicht jeder, der in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ eine Musikkritik schrieb oder je sich über Musikkritik ausließ, ist ein Rochlitz gewesen. Neben den großen substanzhaltigen Aussagen verblassen die schönrednerischen Phrasen über Urteil und Urteilsbildung, die sich durch das Blatt hinziehen. Banalitäten, wie sie etwa in den „Bemerkungen aus dem Tagebuche eines praktischen Musikers“ nachzulesen sind, kennzeichnen die Beschäftigung von Urteilslosen mit dem Thema [II,15]. Sie möchten sich gerne einem herrschenden Standpunkt anschließen, ohne mit ihm etwas anfangen zu können. Antithetische, aber nicht zu Ende gedachte Vorstellungen finden sich da, wenn es etwa heißt, jeder Künstler, der Vorzügliches leiste, müsse seiner nervlichen Reizbarkeit wegen mit äußerster Schonung behandelt werden, während man dafür den Talentlosen mit besonderer Strenge anzufassen habe, weil 1.) bei keiner Tätigkeit das Geistlose und Schlechte so gänzlich unnütz erscheine wie in der Musik, 2.) keine Tätigkeit den Menschen, der sich immer damit beschäftige, so in „Stumpfheit, Albernheit, Niedrigkeit und Schlamm“ hineinziehe wie die Musik, 3.) in keiner Tätigkeit so oft bloße Lust am Produzieren mit der Fähigkeit, es auch zu können, verwechselt werde. Beispiele dieser Art, wie sie in den Rezensionen zu finden sind, schmälern die Bedeutung des Blattes nicht, weil sie unvermeidbar sind.

4. KAPITEL: ZWISCHEN DEN STILEN 1. VORVERSTÄNDNIS Die Zahl derer, die von den Ereignissen überfordert waren und sich im Streit zwischen Spätaufklärung, Geniezeit und Frühromantik keiner Bewegung mit vollem Herzen anschließen konnten oder wollten, keine bejahten, aber auch keine verneinten und mit der Formel eines ‚sowohl als auch, aber besser doch nicht‘ lebten, ist hoch. Es befinden sich bedeutende Namen darunter. Wenn sie versuchten, zwischen den Welten einen eigenen Standpunkt zu entwickeln, kamen sie zwar zu einem schätzbaren Ruf, der aber auch ihre für die Entwicklung historische Bedeutungslosigkeit festlegte. Sie verloren in der Fülle der Erscheinungen den zeitgenössischen Boden unter den Füßen und überlebten allenfalls mit einigen glücklichen Gedanken, die nicht ausreichen, sie als Mitarchitekten einer neuen Musikwelt zu begreifen. Demgegenüber verblassen alle Rückstände aus der Zeit der philologischen Kritik, wie sie sich in der Leipziger Zeitung finden: „Ist, was die Ausarbeitung eines Tonstücks verlangt, sein Charakter festgehalten, sind die Schwierigkeiten der Passagen nur scheinbar, so dass alles von dem Geschickten rein, gut und mit Freude vorgetragen werden kann; ist ferner der Gesang und die Melodie ausdrucksvoll und enthält keine Stimme etwas, was der Natur des Instruments zuwider ist: so ist ein solches Stück schon unter die guten zu zählen; kommt nun noch hinzu, dass eine gewählte Harmonie das Ganze hebt und belebt, den Ausdruck verstärkt, das Künstliche darin natürlich und das Natürliche künstlich ist, so dass das Ohr eines Nichtkenners angenehm unterhalten und befriedigt wird, aber // auch der Kenner vollen Genuss findet: so ist ein solches Tonstück, poetischen Werth in beyden Fällen vorausgesetzt, mit Recht unter die besten zu rechnen“(1). Dieser Abschnitt befindet sich in einer Rezension aus dem Jahre 1803 über die beiden Rombergs und bildet ein beredtes Zeugnis für das Durcheinander, das kaum noch zu gliedern ist. Das entworfene Bild vom vermeintlich guten Kunstwerk läßt sich trotz der schön gerundeten Worte auf dürre Formeln bringen, aus denen eine Welt von gestern spricht, die mit der Gegenwart nicht zurecht kommt: das Musikstück darf schwierig aussehen, muß aber leicht zu spielen sein; es darf nichts enthalten, was der Natur der Instrumente nicht angepaßt ist; es muß von der Harmonik her das Künstliche natürlich (gesperrt gedruckt) und das Natürliche künstlich (gesperrt gedruckt) erscheinen lassen; und es muß demjenigen, der nichts von Musik versteht, angenehm in den Ohren klingen und gleichzeitig den Kenner überzeugen – alles natürlich unter der Voraussetzung eines poetischen Wertes des betreffenden Tonstückes. Wäre Fleischmann nicht tot, könnte diese Charakterisierung von ihm stammen. Aber auch wenn Fleischmann tot ist, ist seine Gedankenwelt noch lebendig und wird von Leuten weitergetragen,

2. Christian Friedrich Michaelis

123

die ehrlichen Herzens trotzdem verwirrt sind und alte Begriffe mit neuen Begriffen und mit Modebegriffen vermischen, unbekümmert darum, daß die Voraussetzungen nicht mit den Durchführungen zusammenpassen. (1) AmZ VI/10, 1.12.1803, Sp. 153–158, Z:153–154.

2. CHRISTIAN FRIEDRICH MICHAELIS a) Zur Person Michaelis war von Hause aus Philosoph und gehört in die Gruppe der frühen KantKommentatoren. Seine Kenntnisse auf musikalischem Gebiet waren beträchtlich, und er beherrschte zudem die kontrapunktische Theorie des reinen Satzes. Er studierte alte Sprachen und Rechtswissenschaft. Seine Verbindung zu Fichte, der seiner erklärten atheistischen Grundhaltung wegen, nicht zuletzt nach einem negativen Gutachten Goethes, seine Jenenser Professur verloren hatte, hinderte ihn nicht, im Rahmen einer ausgedehnten schriftstellerischen Tätigkeit begeisterte Artikel über Kirchenmusik zu schreiben. Der Name Michaelis ist in allen damals namhaften Blättern zu finden, in Reichardts „Berlinischer musikalischer Zeitung“, Rochlitzens Zeitung, in Webers „Caecilia“, in der „Eutonia“, der „Mnemosyne“, der „Zeitung für die elegante Welt“, im „Freimüthigen“ und in vielen weiteren damaligen den Markt bedienenden literarischen, belletristischen und philosophischen Organen. Auch seine Buchpublikationen sind beachtlich. b) Zuordnung Michaelis, ein gebürtiger Leipziger des Jahrgangs 1770, starb 1834. Wie viele Philosophen der Zeit nach Kant, die schwer einzuordnen sind, weil sie sich, anders als Kant, im Laufe ihres Lebens in ihren Aussagen nicht nur verändert, sondern, wie etwa Schelling, geradezu widersprochen haben, ist auch die Zuordnung von Michaelis nicht fraglos vorzunehmen. In etlichen Texten ist nicht sicher zu stellen, worauf sie sich beziehen, weil der Autor es vermeidet, Namen oder Werke zu nennen. Damit wird der Spekulation ein Freiraum eröffnet, der die Eindeutigkeit der Aussage beeinträchtigt. Michaelis hat den Kantkreis nie verlassen, seine scharfsinnigen Überlegungen bei der Übertragung Kantscher Prinzipien zeigen ihn als Rationalisten, seine geradezu leidenschaftlichen Lobreden auf die Kirchenmusik des 18. Jahrhunderts unter Ablehnung der zeitgenössischen Produktion werfen die Frage auf, ob er sich rückwärts wendet oder den Romantikern anschließt und nur die Auswüchse benennt. Seine für die Geschichte der Musikkritik bedeutsame, weil neuartige Definition des Geschmacksbegriffs läßt die Geniezeit hinter sich, setzt aber Kunstwerke aus dem Geiste des Genialen voraus. Er anerkennt Haydn und Mozart, erwähnt aber Beethoven in seinen für die „Allgemeine musikalische Zeitung“ verfaßten Aufsätzen nicht, was den Schluß auf eine unterschwellige Abnei-

124

4. Kapitel: Zwischen den Stilen

gung zuläßt. Diese Annahme wird unter der Voraussetzung bestätigt, bei dem Kürzel M. in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ handele es sich um Michaelis. „M.“ bespricht im ersten Jahrgang zwei Variationenwerke Beethovens(1). Er nennt Beethoven einen bedeutenden Klavierspieler. „Ob er aber ein eben so glücklicher Tonsetzer sey, ist eine Frage, die, nach vorliegenden Proben zu urtheilen, schwerer bejahet werden dürfte“, weil Beethoven sich „z. B. in der Modulation Rückungen und Härten erlaubt, die nichts weniger als schön sind“. Bei dieser Gelegenheit erteilt er Ratschläge, wie man es besser machen könne. Er rät (Beethoven?) dazu, als Musterbeispiel Voglers Bearbeitung der Forkelschen Variationen über ‚God save the King‘ zu studieren. Weitere (anonyme) Beethovenkritiken sind zwar nicht absprechend, aber mäkelnd. Beethoven würde „viel Gutes liefern, das unsere faden Leyersachen von öfters berühmten Männern weit hinter sich zurück ließe, wenn er immer mehr natürlich, als gesucht schreiben wollte“(2). Ähnlich lautet das Urteil über die Violinsonate Op. 12. Es gäbe immer welche, die das „Widerhaarige“ und „Ueberschwere“ liebten. „Wenn Hr. v. B. sich nur mehr selbst verleugnen, und den Gang der Natur einschlagen wollte, so könnte er bey seinem Talente und Fleisse uns sicher recht viel Gutes für ein Instrument liefern, dessen er so ausserordentlich mächtig zu seyn scheint“(3). Der Beethoven gegenüber angeschlagene Ton ändert sich mit dem 2. Jahrgang. Vermutlich hat Rochlitz die Beethovenkritik jetzt selbst übernommen. c) Kantkommentare Im Zusammenhang mit seinem 1805 in der „Berlinischen Musikalischen Zeitung“ erschienenen Aufsatz „Nachtrag zu den vermischten Bemerkungen über Musik“ hatte Michaelis schon auf das Unbefriedigende einer Beschreibung von Musik durch der Gefühlswelt entnommene und satztechnisch nicht abgeklärte Begriffe hingewiesen [II,14]. Er beschränkte seine Kritik keineswegs auf das, was er subjektive, also neuere Musik nannte, sondern meinte die alte Musik und die Interpretation gleich mit: „Nicht minder schwer jedoch, als verdienstlich, würde es seyn, die verschiedenen Charaktere der Musik … durch Begriffe und Worte möglichst zu bestimmen“ (4). Man müsse zeigen „was und warum Etwas in der Musik oder im Spiel oder im Gesange schön, erhaben, feierlich, prächtig, rührend, naiv, lieblich, anmuthig, reich, groß, sinnvoll, heroisch, weich, zärtlich, einfach, kunstvoll, launig, witzig, ernst oder scherzhaft, gefällig oder bizarr, wahr und gehaltvoll, pikant oder schlicht und schmucklos u. s. f. zu nennen sei“(4). Schumann fügte später diesen überwiegend positiven Eigenschaften die negativen bei, als er von hohlem oder leerem Pathos sprach und sich damit auf Meyerbeer und die Ornamentisten bezog, damit aber endgültig den im wahrsten Sinne des Wortes unergründlichen Weg für eine Musikbeschreibung freigab, deren Problematik am Ende größer als ihr anfänglicher Nutzen wurde. Michaelis versucht sich dadurch zu retten, daß er definierbare Objekte durch undefinierbare Voraussetzungen glaubt erklären zu können. Da wird zwischen einem „in seiner Art Schönen“ und einem „zufällig Schönen“ unterschieden, von den Werken der Tonkunst im „edlern Sinne“ gesprochen, ohne daß der

2. Christian Friedrich Michaelis

125

Begriff ‚edler‘ unstreitig definierbar würde. „Die Beurtheilung freier Schönheit (gleichsam einer Naturschönheit oder eines schönen Gegenstandes überhaupt) setzt nur Geschmack d. h. schlechthin Gefühl fürs Schöne, voraus; aber die Beurtheilung der bedingten Schönheit (der eigentlichen Kunstschönheit als solche) erfordert außer dem Geschmack Kenntniß der Bestimmung, des innern Zwecks des dargestellten Gegenstandes, und zugleich Rücksicht auf die Idee und Absicht des Künstlers, mit Einem Wort: Kunstkenntniß“(5), und weiter: „Weil unsere moralische Beschaffenheit nur zum geringeren Theile durch Begriffe und deutlich erkannte Grundsätze, zum größten Theil aber durch bloße (sittliche) Gefühle bestimmt wird, ist es wohl erklärlich, wie eine Kunst welche Begriffe und Gedanken weder zum Mittel noch zum Zweck ihrer Wirksamkeit hat, mit unsrer Sittlichkeit in Zusammenhang stehen könnte.“ Michaelis erklärt damit „die Verschiedenheit zwischen Urtheilen bloßer Liebhaber und wirklicher Kenner der Musik.“ Die sittliche Stimmung kündigt sich für ihn in der Beschaffenheit der Töne an. „Analogie und Einbildungskraft ergänzen, was in unsern Wahrnehmungen noch mangeln möchte, und eine moralische Sympathie, das geheime Band edler Seelen, leitet die Töne, die wir als Ausdruck sittlicher Gefühle auslegen und begierig aufnehmen, in unser Herz“(6). Was „Geistiges“ nicht versinnlicht, „moralische Ideen“ nicht ausdrückt oder veranlaßt, sittliche Gemütsstimmung nicht belebt oder unterhält, ist nach Michaelis „des Namens schöner Künste kaum werth“, es setzt kein bleibendes oder stärkendes Vergnügen, sondern nur „kurzweilige Belustigung und Unterhaltung“. Und bei denen, die Musik hören, ist „Unbefangenheit und reine sittliche Gesinnung“ Voraussetzung(7). Wieder folgt die Unterscheidung zu Reichardt, wenn es um die „Werke der Tonkunst (im edleren Sinn)“ geht und Michaelis neben Händel und „Hayden“ endlich auch Mozart nennt. In beiden Fassungen spielt Matthisson eine bedeutsame Rolle, der vom Symbol der inneren Übereinstimmung des Gemüts mit sich selbst gesprochen hatte(8). Michaelis beruft sich immer wieder auf die Landschaftsmalerei, die sein überzeugendstes Beispiel bildet und an die späteren Vorstellungen des Impressionismus heranreicht. Sie stellt Formen und Gestalten dar, die an sich selbst nichts bedeuten. Der Zauber, der vom Bild ausgeht, die Empfindungen, die sich beim Betrachter einstellen, die Erinnerungen, die aufleben, die Ideen, die er zu erkennen glaubt, alles das bleibt der „Einbildungskraft des Zuhörers“ überlassen. „Die Schönheit der Kunst kann also auch nicht in ihrer mittelbaren oder unmittelbaren Beziehung auf moralische Veredlung bestehen, wenn wir Schönheit nicht mit objectiver äußerer Zweckmäßigkeit d. h. mit Nützlichkeit verwechseln wollen“(9). Die Schönheit der Form ist ihre innere Vollendung, ohne daß sie damit die Vernunft beleidigen dürfte. Für Michaelis heißt das, sie darf nicht unmoralisch sein. Und gleich schließt sich wieder die alles in Frage stellende Einschränkung an, Ästhetik und Moral dürften nicht verwechselt werden. „Die Regeln für die Kunst sollen keineswegs erkünstelt oder erklügelt, sondern selbst nur aus den schönsten Werken abgeleitet seyn; sie können auch dem wahren Kunstgenie keinen Zwang anthun; denn dieses entdeckt sie bald in sich selbst, kann aber wohl bisweilen leitender Winke und Erinnerungen bedürfen, um vor Abwegen bewahrt zu werden“(10). Es gibt also Schönheit, Schönheit überhaupt, Schönheit an sich, das Genie, das Genie auf Abwegen, das wahre Genie, den Liebhaber, den Kunstkenner, den wahren

126

4. Kapitel: Zwischen den Stilen

Kunstkenner. Es gibt das Genie, das die Regeln selbst entwirft, aber sich trotzdem an Regeln halten muß. Es gibt eine Kunst, die nicht auf Begriffe abheben kann, sondern auf den Geschmack. Es gibt einen Geschmack, der sich nicht definieren lassen kann, weil jeder einen anderen hat; es gibt aber auch den wahren Geschmack. Michaelis läßt einen riesigen philosophisch-ästhetischen Baum wachsen, dessen Wurzelwerk allerdings so schwach entwickelt ist, daß ihn der leiseste Lufthauch umblasen müßte. Michaelis bleibt Rationalist. Die Regel ist maßgebend, obwohl die Erkenntnistheorie zum gegenteiligen Schluß findet, wenn die Regel aus bestehenden Kunstwerken abgeleitet die künftigen bestimmen soll. Michaelis stellt kategorisch fest, Komponieren lasse sich nicht erlernen, wohl deren Regeln. Er bringt Beispiele, so daß man erfährt, was er meint. Eine Kirchenmusik beispielsweise lasse sich beanstanden, weil sie zu bunt sei, oder eine Sonate, weil sie die Eigentümlichkeiten der Sonate nicht erfülle. Das Verfahren funktioniert aber nicht. Ob Kirchenmusik zu bunt oder gerade passend ist, wird vom Umfeld vorgegeben. Diese Gedankenfolge kennt Michaelis nicht, wie er zwar die Funktionsgebundenheit von Musik spürt, aber nicht verdeutlichen kann, weil der Erkenntnisstand der Zeit noch nicht so weit ist. Führt man die Gedankengänge von Michaelis am Beispiel der Sonate weiter, so ergeben sich wunderliche Schlußfolgerungen. Das Genie stellt die Regel auf und soll die Kunst erweitern. Es gibt aber eine festgeschriebene Form, in der man die Sonate komponieren muß. Komponiert jemand eine Sonate, ohne sie zu verändern, so ist er kein wahres Genie, verändert er sie, so verstößt er gegen die Eigentümlichkeiten, die eine Sonate ausmachen und ist ebenfalls kein Genie. Ein wahres Genie erkennt man demnach an seiner Fähigkeit, eine Sonate zu verändern, ohne sie zu verändern. Das ist die Zerrissenheit des Rationalisten, der Kant beipflichten muß, mit dem Verstand die neue Welt als notwendig erkennt, sie mit dem Herzen aber gar nicht will. Da nutzen auch all die schönen Definitionen nichts, wenn sie in der Anwendung auf bestimmte Kunstwerke versagen. „Der Tonkünstler stellt keine eigentlichen Objekte, sondern immer nur das Subjektive unsrer Vorstellungen dar, was zu den Empfindungen und Gefühlen und Beschaffenheiten des innern unmittelbaren Gemüthszustandes gehört. Seine Absicht ist keineswegs Erkenntniß, sondern theils Bewegung des Herzens, Belebung des Gemüths, angenehmes Gefühl oder Lust an dem behaglichen Spiele der durch äußere Eindrücke erregten innern Empfindungen, theils ästhetisches Wohlgefallen und Lust des Geschmacks an harmonischer Darstellung affektvoller Gemüthszustände und an dem regelmäßigen, objektfreien und zufällig scheinenden Spiele der mit mannichfaltigen Gehörsvorstellungen verbundenen innern Empfindungen und Anschauungen der Einbildungskraft“(11). Nach Kant ist das Geschmacksurteil nur rein, wenn seinem Bestimmungsgrund kein empirisches Wohlgefallen beigemischt werde. Nicht was ich empfinde, nicht Stoff oder Gehalt, sondern nur wie ich empfinde, nur „die Verbindung und Zusammensetzung meiner Empfindungen, läßt sich darstellen“, aber „Empfindungseinheit ist ein ästhetisches Erfoderniß jedes guten Kunstwerkes und gehört der musikalischen Darstellung eigenthümlich an, daher man die Einheit der // Empfindungen so wie sie in der Poesie und Musik beobachtet wird, auch musikalische Haltung nennt“(12). Für die Zeit ungewöhnlich und eine wirklich neue Wendung ist die Übertragung der Schönheitstheorie auch auf die Interpretation des

2. Christian Friedrich Michaelis

127

Kunstwerks. Es ist ohnehin erstaunlich, daß Michaelis Mozart in einem Atemzug mit Händel und Haydn nennt; denn mit seiner Verhaftung als Musiker in der Vorgeniezeit des 18. Jahrhunderts ist er auch bei aller Diskussion um die Bedeutung des Genies nicht fähig, den Kreis der Affektenlehre zu verlassen. Was er noch in der zweiten Fassung seines Kant-Kommentars über die Empfindungseinheit darlegt, ist eine theoretische und streckenweise ultimative Beschwörung der Beibehaltung der Doktrin von der Einheit des Affektes. Die findet er bei Bach und bei Händel, nur noch bedingt bei Haydn, Philipp Emanual Bach und Muzio Clementi (Namen von Komponisten, die er lobend erwähnt), und bei Mozart gar nicht mehr: „Wo die Empfindungseinheit in der Musik oder in der Poesie fehlt, da macht das Werk keinen Haupteindruck, bildet kein vollendetes Ganzes, da zerstreuen sich die einzelnen Eindrücke, da werden wir auf eine unangenehme Weise unter den verschiedensten Empfindungen herumgetrieben, ohne einen Mittelpunkt für die Umfassung des Ganzen zu gewinnen. Wo sich die Empfindungseinheit findet, da schreiben wir der Musik ein Thema, einen Charakter, wahren Ausdruck zu: nur durch sie erhält sie Bestimmtheit und Kraft, durch sie wird das Mannichfaltige vereinigt, und also Schönheit bewirkt. Sie giebt dem Ganzen Haltung, Festigkeit und Bestand: sie fesselt die Aufmerksam- // keit, im Wahrnehmen des vorübergehenden Einzelnen den bleibenden Charakter nicht aus dem Gesicht zu verlieren. Ein wildes regelloses unnatürliches Herumschweifen oder Hinundherflattern der Empfindungen ist der wahren Kunstdarstellung zuwider: nur die Einheit und Harmonie der Empfindungen giebt ihr Licht und Leben“(13). An keiner Stelle wird die Wechselbeziehung zwischen einer Darstellung in Farbe, Worten oder Tönen und den Empfindungen, die der Betrachter, Leser oder Hörer für sich entdeckt, außer Betracht gelassen, obwohl sie objektiv im Werk nicht vorhanden sind. Dem Bildhauer gesteht er zu, mit der Darstellung des äußeren Menschen auch die Mittel zum Ausdruck des inneren Menschen bereit zu stellen. Aber das Schöne am und im Werk ist unabhängig von dem, was der Betrachter, Leser oder Hörer dabei empfindet. „Freilich hängt sehr viel von der mehr oder minder geübten und geschärften Auffassungskraft des Zuhörers und von der größeren oder geringeren Feinheit seines Gefühls ab“(14). Es heißt weiter: „Der Tonkünstler stellt den innern Menschen nur von der Seite seines Gefühlvermögens dar … er bringt die Gefühle und Empfindungen nicht auf Begriffe.“ Der Dichter teilt durch Gedanken und Anschauungen mehr mit als der Tonkünstler, dafür kann der Tonkünstler inniger bewegen. „Das Angenehme unterscheidet sich aber dadurch von dem Schönen, daß es mit keiner nothwendigen Einhelligkeit der Beurtheilung des Gegenstandes verbunden ist, sondern nur auf Privatgültigkeit Anspruch macht“(15). Michaelis sieht das alles ein und spricht es aus, kommt aber weder von den Kunstvorstellungen seiner Jugend frei noch von deren Nützlichkeitsvorstellungen, was für seinen Einfluß möglicherweise noch verhängnisvoller war. „Ich beschließe diese Betrachtung mit einigen Bemerkungen über die Nützlichkeit und die Schädlichkeit der Musik in Beziehung auf das gesellige Leben und die Sitten der Menschen“(16). Das Thema Nützlichkeit war in der Literatur inzwischen hinreichend besprochen und längst in das Kuriositätenkabinett des 18. Jahrhunderts verwiesen worden. Die Nützlichkeit etwa der Gemse für den Menschen, weil man aus ihren Hörnern Griffe für Spazierstöcke machen konnte und

128

4. Kapitel: Zwischen den Stilen

ähnliches der Art wurde in dem Schiller-Goetheschen Xenion von der Weisheit der Schöpfung, die zum Tonkrug den Stöpsel gleich mit erfand, beißend verspottet. Der Kunstgegenstand steht für sich selbst, daran kam auch Michaelis nicht vorbei, wenn er Kant nicht preisgeben wollte; die Auswirkungen auf den Menschen mögen gesellschaftspolitisch von Bedeutung sein, haben aber nichts mit der Bewertung als Kunst zu tun. d) Über den Geschmack. Von der Liberalität des Kunsturteils Die in der Rochlitz-Zeit wohl wichtigste Arbeit von Michaelis erschien unter C. F. M. im Oktober 1806 und handelte „Ueber musikalischen Geschmack“ [II,18]. Mit demselben Recht könnte man den scharfsinnigen Artikel aber auch einen Aufsatz über die Liberalität des Kunsturteils nennen; denn die steht im Mittelpunkt. „Der gebildete liberale Kunstgeschmack lässt jedem musikalischen Verdienst Gerechtigkeit wiederfahren; keine, sonst unschuldige, Vorliebe für irgend eine Manier, für antike oder moderne, populäre oder gelehrte, verwickelte oder einfache Musik, für einzelne Komponisten und Musikgattungen, verfälscht oder besticht sein Urtheil, sobald es sich über Privatgültigkeit erheben, nicht etwa blos das Individuell-Angenehme oder Beliebte, sondern das Schöne, in seiner Art Vollkommene, den Kunstwerth an sich, betreffen soll“(17). Das ist eine Geschmacksinterpretation, die über die einseitige Reichardtsche Vorstellung von Geschmack hinausführt. Der Kantinterpret Michaelis definiert Geschmack also nicht ausschließlich persönlichkeitsbezogen, wie es bis dahin üblich war, sondern entwickelt die Vorstellung einer Art von Meta-Geschmack, der gleichbedeutend mit der Anerkennung künstlerischer Leistungen jedweden Stils ist. Sieht man von den philosophischen Ausflügen ab, die nur ein Philosoph mit Schwerpunkt Ästhetik versteht, und bei der er das Schöne, das Erhabene, das Charakteristische vom Häßlichen, Niedrigen, Charakterlosen, Schlechten und Fehlerhaften unterscheidet, was immer das im allgemein philosophischen Umfeld bedeuten soll und wie immer man es am Tonstück gezielt nachweisen will, so besteht die Bedeutung dieses Aufsatzes und damit auch die Wirkung von Michaelis in der Transzendierung des individuellen Geschmacks in ein Urteilsverfahren aus einem erweiterten, freieren Standpunkt. Jeder Mensch hat seine Eigenheiten, die auf ähnlich gebildete und gestimmte Menschen ähnlich wirken; es gibt eine Beschaffenheit, eine Eingewöhnung, Grundsätze des musikalischen Systems, eingeprägte Vorstellungen aus dem Schulunterricht, ein Ideal von Musik und ihren Wirkungen, und auch eine moralische Denkart über den Wert der Musik und der Künstler, und „von diesem allen wird mehreres bey Jedem, bald mehr, bald weniger, den Eindruck, den Effekt, die Beurtheilung einer Musik mannichfaltig bestimmen, so dass nicht leicht der Eine ganz dasselbe fühlen, oder auf die nämliche Art urtheilen wird als der Andre“(18). Es ist bei Kant angesiedelt, der Geschmack mit dem Gefallen einer Gruppe von Gleichgesinnten in Verbindung brachte und dafür den Begriff vom sensus communis in die Kritik der Urteilskraft einführte. Die feinen psychologischen Unterschiede in der Auffassung von Musik sind nach Michaelis nicht zu definieren; aber es gibt eine Übereinstimmung im

2. Christian Friedrich Michaelis

129

Totaleindruck, und das Schöne, wie es von Michaelis gedacht wird, hebt auf diese Einhelligkeit ab, „und der grosse Komponist legt eben in sein Werk die Zauberkraft, die Gemüther Aller, die nur für Kunst Sinn haben, mit einem gleichen gemeinschaftlichen Entzücken zu erfüllen, oder mit gleichen erhabenen Empfindungen zu erschüttern“(19). Michaelis stellt fest, daß sich eine solche Wirkung nicht nur über die verschiedenen Nationen erstreckt, sondern auch über Generationen anhält und nennt als Beispiele dafür die Namen Händel, Johann Sebastian Bach, Haydn und Mozart, die man nur dort nicht anerkenne, wo reine Barbarei herrsche (man erinnert sich an Spaziers ärgerliche Bemerkung vom „Gemozarte“). Der Urteilende hat über einem individuellen Geschmack zu stehen. Michaelis nennt das „Liberalität des Geschmacks“. Er ist der Auffassung, eine solche Liberalität sei bei den Menschen ebenso selten „als einseitige, absprechende Urtheile über Musik gemein sind“(19). ‚Gemein‘ bedeutet nach dem Sprachverständnis des 18. Jahrhunderts in diesem Zusammenhang ‚allgemein‘ im Sinne eines ‚von den meisten so gehandhabt‘. Ohnehin setzt das Verständnis der Michaelis’schen Diktion die von Kant geprägte Begriffssprache voraus. e) Hörer-Kritiker-Typologie Michaelis schlüsselt die verschiedenen Verhaltensmuster auf, mit denen Hörer an ein Kunstwerk herangehen, und entwirft schon so etwas wie eine Kritikertypologie. Er beginnt mit den Menschen ohne Geschmack, die nur vom Angenehmen reden, „von dem, was ihrem Individuum gerade jetzt behagte, ihre Ohren und Nerven kützelte, ihr Blut in lebhaftere Wallung brachte“(19), und die jetzt so tun, als hätten sie das Schöne erkannt und daher von den anderen eigensinnig verlangen, ihrem Urteil beizupflichten. Nach den starrsinnig geschmacklosen Leuten werden die gefühllosen ohne Einbildungskraft abgehandelt, die nur mit dem „kalt vergleichenden und kalkulirenden Verstande“ urteilen. Sie haben sich ein individuelles Kunstsystem zurechtgelegt, das ihrer Meinung nach das einzig richtige ist. Finden Sie es bestätigt, ist die Musik für sie gut, obwohl sie davon im Herzen nicht betroffen werden, weil sie Musik betrachten, „wie der geübte Rechenmeister ein arithmetisches Exempel durchgeht“. Wieder andere haben zwar Empfindungen für das Schöne, sind aber zu sehr von Vorurteilen für bestimmte Kompositionsstile und Künstler eingenommen. Sie wollen nichts anderes als ihre Lieblingskomponisten hören und werden bisweilen getäuscht, weil sie Vergnügen auch bei Stücken erfahren, die von anderen Komponisten geschrieben worden sind, von Komponisten, die sie vorher möglicherweise gehaßt oder verachtet haben. Michaelis nennt Namen von Komponisten, die eine Gemeinde um sich geschart haben, Hasse, Naumann, Händel, Johann Sebastian Bach, Mozart, Pleyel. Eine solche Gemeinde will Musik nur von ihrem Gemeindeoberhaupt hören oder solche, die in seinem Stil geschrieben ist. Sie ziehen ein schlechtes Stück von diesem jedem anderen besseren vor, ohne jeden in seiner Art und Sphäre gelten zu lassen. Michaelis hält ihnen vor, die Meister selbst hätten großzügiger gedacht. Bach habe Händel geschätzt, Mozart Bach, Haydn Mozart, Cherubini Haydn. Und diese Meister, so meint Michaelis, hätten nie ihre „hohe

130

4. Kapitel: Zwischen den Stilen

Stufe der Vollkommenheit“ erlangt, „wenn ihr Kunstgeschmack nicht diese ausgebreitete Empfänglichkeit gehabt, wenn sie nicht durch vielseitige Richtung auf allerley Art des Schönen, Grossen, Vollkommenen in der musikalischen Welt ausgebildet, und mit blinder Verehrung an einem einzigen Vorbilde gehangen hätten“(20). Obwohl Michaelis weder von Kritik noch von Kritikern spricht, sondern von Urteil und urteilen, und auch nicht von Gerechtigkeit und Unparteilichkeit, sondern von Liberalität des Geschmacks, meint er Kritik. Und während er dem Künstler zur eigenen Selbstfindung Einseitigkeit zugesteht, hält er urteilende Einseitigkeit des individuellen Geschmacks von Menschen für unverzeihlich, die ohne Absicht auf Kunstproduktion „blos als Freunde des musikalischen Genusses oder als Mitglieder musikalischer Executionen absprechende Urtheile fällen und ins Werk setzen. Denn sie geben ihrem eigenen Geschmack damit eine einseitige Richtung, verleiten auch Andre leicht zur Einseitigkeit, und bringen das musikalische Publikum um eine Mannichfaltigkeit und Fülle von ergötzenden interessanten Unterhaltungen, welche der Reichthum der Kunstschöpfung in vielfältigen Gattungen, Arten und Formen darbietet“(21). Was Michaelis an dieser Stelle schreibt, ist modern noch bis ins 21. Jahrhundert hinein. Es könnte in anderer sprachlicher Gewandung in jeder Kritik an Schaul über Jahn, Hanslick, Riemann, Adorno, und weiter stehen. Sie legten sich ein unterschiedlich begründetes künstlerisches Privatsystem zurecht und versteiften sich mit teilweise bösen Worten gegen andere darauf, in ihm das letzte überhaupt noch gültige Weltbild zu erkennen. Michaelis benennt Kleist, Hagedorn, Gellert, Bürger, Göckingk, Voss, die beiden Stolberg, Gleim, Hölty, Uz, Salis, Matthisson, Wieland, Klopstock, Haller, Schiller und Goethe und erklärt, man könne ihnen vielleicht eine noch größere Reihe bekannter oder berühmter Komponisten gegenüberstellen, und jeder von ihnen habe seinen eigenen Wert und es könne keiner von ihnen den anderen ganz entbehrlich machen. Der eine gestalte dies, der andere anderes besser. „Alle Vollkommenheit findet sich nicht so leicht bey einem Meister beysammen; das Genie, welches so vielerley Gestalten annehmen will, büsst darüber vielleicht seinen eigenen Charakter ein, und lässt am Inhalt seiner Darstellungen so viel vermissen, als es am Umfange gewinnen möchte“(22). Michaelis vollbringt eine selbst schon fast geniale Weiterbildung der kantischen Urteilskraft, wenn er Kants erkenntnistheoretische Ableitung einer Unmöglichkeit in die Zukunft hinein gültiger Kunsturteile aus der Irrealität trotzdem immer wieder versuchter Urteile auf die Realität eines Kunstpluralismus überträgt, der es dem einsichtigen Kritiker verbietet, künstlerische Erscheinungen zu verneinen, statt sie als Teil einer kulturellen Vielfalt zu begreifen. Eben das entsprach der Rochlitzschen Auffassung. Bührlen wird wenig später noch weiter gehen, wenn er Kunst als Lebensäußerung des Künstlers und gleichzeitig als Symptom der Zeit deutet, in der man zusammen mit einem Künstler lebt, der sie nur früher als andere erkennt. Diese Sichtweise läßt einen Nägeli hinter sich. Miltitz schaltet mit der geforderten Wertneutralität die kritischen Unterscheidungsmerkmale keineswegs aus und verbleibt nur dadurch im Sinngefüge des 18. Jahrhunderts, daß er seine Folgerungen aus dem alles relativierenden Geschmack und nicht aus einem intellektuellen kritischen Bewußtsein zieht und somit in einen nicht mehr oder nur schwer zu steuernden VorUrteilsbereich verlegt.

2. Christian Friedrich Michaelis

131

Wer diese Voraussetzungen bejaht, den werden auch wirkliche Mängel und Fehler „nirgends für das Gute und Schätzbare unempfindlich machen“. Am Ende entscheidet für Michaelis der Grad der Humanität, den jemand mitbringt, über das Ausmaß seiner Liberalität. „Humanität überhaupt, Sinn für Freundschaft und Religiosität, im edelsten Verstande, scheinen mir die moralischen Bedingungen zur Liberalität des Kunstgeschmacks zu seyn. Die schöne Kunst ist ein Gemeingut der gebildeten und sich bildenden Menschheit. Wer die Menschheit nicht ehrt, nicht liebt, … wird auch dessen, was aus ihr Schönes und Gros- // ses hervorgeht, … sich nicht unbefangen freuen“(23). Nach Michaelis sind Egoismus, Eigensinn, Neid und Stolz die Gegner einer Liberalität des Geschmacks. Sie „vergiften die Quelle unsrer Mitfreude an allem, was zur Vollkommenheit der schönen Kunstwelt gehört und beytragen kann“(24). Nichts anderes ist die Schlußfolgerung Bührlens. Ernst zu nehmende Kritik verlangt Moral in der vergleichenden Wert-Abschätzung von gut und schlecht. f) Die acht Kritiker-Qualitäten Am Ende offenbart sich der klar denkende Rationalist Michaelis. Er stellt acht Qualitäten auf, die jemand, der richtig urteilen will, in sich vereinigen sollte, „was man wol in diesem und jenem zerstreut oder in schwachen Graden, aber selten bey einem in vollkommener Beschaffenheit u. Verbindung antrifft“(25). Dazu gehören: 1. Der Urteilende muß über eine „unverstimmte Empfänglichkeit“ für den sinnlichen Eindruck der Musik verfügen, denn „das Urtheil bezieht sich zuletzt auf die sinnlichen Data“; 2. Er muß Zartheit und Feinheit des inneren Sinnes und eine „gewandte Einbildungskraft“ besitzen, weil er sich sonst nicht der Klarheit der musikalischen Empfindungen bewußt werden und sie nicht in ihrem Zusammenhang verfolgen und als Ganzes zusammenfassen kann; 3. Er muß über einen gebildeten Geschmack für Darstellung und Ausdruck verfügen, mithin über „freye Regsamkeit der Einbildungskraft u. des Verstandes“(26), um die Vorgänge innerlich nachbilden zu können; 4. Er muß sich eine wenigstens vorläufige und allgemeine Kenntnis der Satztechnik angeeignet haben; Michaelis spricht von den „artistischen Regeln der Musik“; 5. Er muß eine richtige Ansicht von der Tonkunst mitbringen, über den Zweck ihrer Wirksamkeit, „Kenntnis ihres Geistes, ihrer Kraft, ihrer Gränzen, um einzusehen, was und wie viel man von ihr fordern und erwarten dürfe oder nicht“; 5. Er hat Rücksicht auf die zu vermutende oder tatsächliche Idee des Künstlers zu nehmen, die dieser in seinem Werk verfolgt, „und auf die Verhältnisse der Zeit oder des Orts, in denen er es entwarf und ausführte“; 7. Er muß genügend Erfahrung haben, um das „Bessere vom Schlechtern, das Alte vom Neuen, den Geist vom Buchstaben, Hauptsache vom Nebenwerk, und das Originelle vom Nachgeahmten leicht“ unterscheiden zu können; er muß schließlich 8. eine weit höhere „Kultur der Gemüthskräfte“ mitbringen als jemand, der bildende Kunst beurteilt. „Denn bey der Musik müssen wir oft die langen und verwickelten Reihen einzelner vorübergehender Eindrücke im Gedächtniss behalten, schnell vergleichen und zu einem Ganzen verbinden, während wir bey den bildenden Künsten das bleibende Werk

132

4. Kapitel: Zwischen den Stilen

des Bildhauers oder Mahlers immer vor Augen haben, und auf die Theile desselben leicht und willkührlich zurücksehen können, um aus ihnen das Ganze zusammenzusetzen und uns klar zu machen“(26). Die Probleme seiner Schlußforderungen liegen in der Unabgeklärtheit etlicher Begriffe, soweit sie nicht, wie Urteils- oder Einbildungskraft, kantisch definiert oder, wie ‚willkürlich‘ als Ausdruck für freie Entscheidungsfähigkeit, dem Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts zugeordnet sind. Aber mit ‚richtig‘, ‚gewandt‘, ‚frei‘ und dergleichen werden kulturzugeordnete Relationsbegriffe benutzt, die jeder nach seinem Gusto auslegen kann und auch ausgelegt hat. g) Von der vierfachen Wurzel der Unaussprechlichkeit des künstlerischen Eindrucks Daß Michaelis ausschließlich Kant und nicht auch andere philosophische Meinungen seiner Zeit einbezogen habe, wird durch seine Geschmackstheorie widerlegt. Der schon erwähnte „Nachtrag zu den vermischten Bemerkungen über Musik“ handelt von der Unaussprechlichkeit des künstlerischen Eindrucks, die insbesondere auf die Musik bezogen wird. Michaelis geht vom natürlichen Mitteilungsbedürfnis des Menschen aus, der andere an seinen Erlebnissen teilhaben lassen möchte. Die Musik entzieht sich einer solchen gewünschten Versprachlichung, weil sie den Hörer hindert, sich über seinen eigenen Geschmack klar zu werden. Michaelis, der offensichtlich Viererteilungen liebte, nennt dafür vier Gründe. Die Musik reiche über Begriff und Wort hinaus, ihre Inhalte seien unaussprechbar. „Gerade das wahrhaft Geniale, Originelle und Idealische, das zu hoher Bewunderung und Wonne erhebt, läßt sich nicht beschreiben.“(27) Was bleibt, ist entweder das ehrliche Eingeständnis, den Eindruck aufs eigene Gemüt nicht in Worte fassen zu können, oder die Zuflucht in eine unpassende Adjektiv-Wahl, bei der man von ‚niedlich‘, ‚hübsch‘, ‚angenehm‘, ‚prächtig‘ und dergleichen spricht. Zweitens ist nach Michaelis unsere Sprache nicht reich genug, „alle die feinen Züge oder Schattirungen und die mancherlei Besonderheiten musikalischer Komposition treffend zu bezeichnen“. Man muß also Bildvergleiche aufsuchen, weil sie der poetischen Stimmung noch am nächsten kommen und „die Einbildungskraft am wenigsten beschränken“. Drittens verfügen viele nicht über die technisch-handwerklichen Voraussetzungen, die Organisation eines Tonstücks mit seinen inneren Wechselbeziehungen zu verdeutlichen. Sie mögen dem Künstler an Gefühl und Geschmack verwandt sein, aber es fehlt ihnen die Gewandtheit, um sich über den Wert des Einzelnen und Ganzen richtig auszudrücken. Der vierte Grund, aus dem er die Schlußfolgerungen zieht, ist seine Bestimmung des Geschmacksurteils als eines Gefühlsurteils. Das ist nicht mehr Kant, sondern bereits Jacobi. Auch wenn der Name Jacobi nicht fällt, sind es doch Jacobis Gedanken. Die meisten Menschen haben von ihren Gefühlen nur ein dunkles Bewußtsein und können die Gründe ihres Gefühls nicht nennen. Sie können die ‚gemischten‘ nicht von den ‚ungemischten‘ Gefühlen unterscheiden und den oft zusammengesetzten Eindruck, den eine Musik hinterläßt, nicht in ihre Bestandteile auflösen. Jetzt fließen Schellingsche, oder, was bei Michaelis näher

2. Christian Friedrich Michaelis

133

liegt, die Gedanken Fichtes ein; denn „Hierzu kommt noch die schwer zu vermeidende Abhängigkeit unserer jedesmaligen Kunstbeurtheilungen von individuellen Gemüthsstimmungen, Ideenverbindungen, Neigungen und Gesichtspunkten“(28). Michaelis schließt daraus, eine Kritik dürfe nicht mehr, wie bisher, in der WirForm, sondern nur noch in der Ich-Form abgegeben werden; denn es ist das „Ich“, das dieses Gefühl entwickelt, von dem aus es zum Urteil gelangt, und das Urteil ist darüber hinaus immer auch in sich selbst gebrochen, weil der Urteilende, der ein Werk günstig empfängt, trotzdem Partien darin entdeckt, die ihn kalt lassen. Michaelis scheint, möglicherweise nur vorübergehend, in der Welt Jacobis angekommen zu sein. h) Sehnsucht nach dem Gestern Alle Forderungen nach einer Liberalität des Geschmacks und als deren Folge eine großzügigere Beurteilung fremder Werke täuschen nicht darüber hinweg, daß Michaelis mit seinem Herzen an der Kontrapunktmusik des 18. Jahrhunderts hängt. Seine Beschwörung der Kirchenmusik der alten Meister ist nicht die Begeisterung eines E. Th. A. Hoffmann, der auf etwas hinweisen und es zurückgewinnen will, um es neu nutzbar zu machen, sondern es ist die Überzeugung eines Mannes, der in der alten Musik, die er antike Musik und anderen Orts objektive Musik nennt, die nicht mehr zu übertreffende Vollkommenheit an sich sieht. Es erklärt, warum an keiner Stelle der Name Beethoven fällt. Die Musikgeschichte ist für Michaelis in diesem Zusammenhang bei Mozart beendet, und sie hat ihren Höhepunkt im Kontrapunkt des 18. Jahrhunderts bei Bach und Händel bereits hinter sich. Sein Nachtrag zu den vermischten Bemerkungen über Musik von 1805 endet mit einer Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Musik, wobei er objektive Musik mit der epischen, subjektive Musik mit der lyrischen Literatur gleichsetzt. Die Definitionen überraschen nicht mehr. Der objektive Komponist „bildet in seinen Werken gleichsam eigene musikalische Welten, giebt keine bloße Kopie, keine Schilderung, sondern selbstständige Originale. Dieser Stil eignet sich vorzüglich für den erhabenen Ausdruck, für die Bezeichnung des Ewigen, für Lobgesänge auf die Gottheit, und für Alles, was den Charakter der Selbstständigkeit, Wahrheit, Festigkeit und Beharrlichkeit trägt, und sich über Willkühr und Zufall erhebt“(29). Seine Vorstellungen von den zeitgenössischen, den subjektiven Musikern – und gemeint ist die deutsche Klassik ohne Beethoven, nicht die Frühromantik – erweisen sich in einem philosophisch geprägten Text fast schon als Groteske, zumal der Name Haydn auch noch falsch geschrieben wird: „Andre drücken mehr ihre subjektive Individualität aus (z. B. Mozart und Hayden) und gleichen den lyrischen und humoristischen Dichtern“(29). Und weiter unten im Text spricht er erneut „die lyrische Subjektivität und den humoristischen Geist der neuern Tonkünstler“ an(30). „Sie schmiegen sich auch mehr den zufälligen individuellen Stimmungen ihrer Zuhörer an, als die antiken Meister, welchen die innere Vollendung und Wahrheit ihrer Darstellung Hauptanliegen war“(30). Michaelis kann gar nicht mehr über die neuen Komponisten sprechen, ohne nicht gleich wieder bei den alten anzukommen und für sie zu

134

4. Kapitel: Zwischen den Stilen

schwärmen und zu werben. Die Abwägung der satztechnisch geführten Beweise zwischen in sich geschlossener Objektivität des Alten und dem freien Spiel des Besonderen, Zufälligen und Subjektiven des Neuen fällt mental zu Gunsten des Alten aus, das sich durch seine Art „unabhängiger von den Zufälligkeiten des Geschmacks“(29) erweist. Im Sinne von Michaelis läßt sich nach alledem nur noch eine einzige mögliche Schlußfolgerung ziehen: auch wer Gefallen an der neuen subjektiven Musik gefunden hat, findet am Ende doch wieder zur alten Musik zurück. Michaelis hat sich in dem dreiteiligen Aufsatz aus dem Jahre 1806 unter dem Titel „Vermischte Bemerkungen über Musik“(31) [II,19], zu dem der „Nachtrag …“ geschrieben wurde, noch eindeutiger geortet. Er stellt eine weitere Listung von dem auf, was „der gebildete Geschmack“ vom Kunstwerk verlangen muß: „Die wichtigsten Merkmale und Erfordernisse des guten musikalischen Styls sind folgende: Er soll korrekt (der organischen, rhythmischen und harmonischen Form nach richtig und fehlerfrei), präcis (bestimmt), klar (der Idee und // dem Gegenstande angemessen), elegant (zierlich, schön, gewählt), harmonisch überhaupt (wohltönend), lebendig (ausdrucksvoll), nach Verhältniß gedrängt (energisch), geschlossen (geründet) und endlich auch leicht (frei vom peinlichen Zwange) seyn“(32). Das sind Kategorien, die bis auf die zeitgebundenen für jede Musikepoche und für jede Kunstgattung Gültigkeit haben. Auch wenn er den „pedantischen Geschmack“, der alles verwirft, was vom Herkömmlichen abweicht(33), ablehnt, erweist er sich bereits mit dem zweiten Absatz seines Artikels als ein Prophet des Rückwärts: „Der Kunstgeschmack kehrt, wenn er manche Moderevolutionen durchlaufen und sich in wechselnden Formen und Genüssen erschöpft hat, zu den alten Meistern wieder zurück, um sich an dem Wahren, Hohen, und Ewiggroßen, das ihr unbestochener Genius schuf, wieder zu erholen und zu stärken“(34). Es leuchtet ein, warum beide Aufsätze nicht bei Rochlitz, sondern in der Reichardtschen „Berlinischen Musikalischen Zeitung“ erschienen, die einem Michaelis, wie er sich hier darstellt, näher stehen mußte. i) „Altes und Veraltetes“ In der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ erschien Mitte Mai 1814 ein weiterer Aufsatz von Michaelis „Ueber das Alte und das Veraltete in der Musik“(35) [II,30]. Der Aufsatz bezweckte eine werbende Hinwendung zur alten Musik, widerstrebte damit nicht eigentlich den Tendenzen der Romantik. Erst aus der Gewichtung ergibt sich, daß Michaelis in die Vergangenheit und nicht in die Zukunft zielt. „Es giebt gewisse Musikliebhaber, welche manches in vielem Betracht ehrwürdige Werk der Tonkunst mit dem Urtheil abfertigen: das ist alt. Dies soll aber mit andern Worten so viel heissen, als: das ist veraltet, von keinem Interesse, von keiner Bedeutung mehr für die jetzige Zeit“(36). Michaelis weist nach, es handele sich hierbei um ein Vorurteil, weil es sich gerade gegen klassische Kompositionen richtet (gemeint sind Kompositionen des 18. Jahrhunderts), die er nach Hunderten beziffert und die deshalb überleben würden, weil sie nicht einem vorübergehenden Zeitgeschmack huldigten. Dort findet Michaelis Einfalt und wahre Größe, Ernst und jugendliche

2. Christian Friedrich Michaelis

135

Heiterkeit. So wie es Greise mit einem Herzen voller Empfindung gibt, deren Umgang lehrreich sein kann, so gilt dasselbe für Musik aus früheren Zeiten, und das um so eher, je mehr ein Komponist – gemeint ist der Komponist seiner eigenen Zeit – einem „flüchtigen Modegeschmack“ huldigt und bloß „den Sinnen zu schmeicheln“ sucht. Die ‚geschmeichelten Sinne‘ werden für Michaelis zu einem pauschalierenden Topos, mit dem er seiner zeitgenössischen Musik beikommen will. „Gerade das Reizende in der neueren Musik, was zu sehr den Sinnen schmeichelt, stumpft uns auch wieder für sie ab, und nöthigt uns wenigstens zu einer grössern Abwechslung und zur Erkünstelung immer neuer und höherer Reize, wodurch die Musik oft nur zu weit von ihrer erhabenen Simplicität, Würde und Kraft entfernt wird“(37). Seine Musikideale spricht er unverdrossen aus, es sind neben Johann Sebastian Bach und Händel, vor allem Kuhnau und Hammerschmidt, eine für das Jahr 1814 nicht mehr so recht passende Zusammenstellung. Aber das ist die Musik, an die sich jenes Publikum hält, das Michaelis die „gebildeten Freunde der Tonkunst“(37) nennt. Mit Sinnenschmeichler kann er zu dieser Zeit nur Haydn, Mozart (das ‚Requiem‘ ausgenommen, das der religiöse Michaelis an anderer Stelle anerkennend erwähnt(38)) und Beethoven meinen, die er nicht namentlich aufzählt. Seine Vergleiche werden immer kruder. Er führt Kunstliebhaber an, die einen schlecht gemachten kolorierten Kupferstich oder ein buntes Bild – „Zeichnung und Ausdruck mag darin noch so incorrect und unbedeutend oder geschmacklos seyn“ – den schönsten und kunstreichsten Blättern vorziehen, die „blos durch Licht und Schatten gehoben“(39) werden. Der modernere Musikhörer seiner Zeit zieht sich nach Michaelis vor der Alten Musik deshalb zurück, weil in ihr nicht genug Blasinstrumente spielen, nicht genug bunte Figuren oder chromatische Würze zu finden sind. Am Ende seiner Gedankenführung steht die unbedingte Verklärung der Kirchenmusik der alten Italiener und Deutschen, die Michaelis als die vorzüglichsten Beispiele des Antiken zum Ideal auch für das Jahr 1814 erklärt. „Die feyerlichen, kindlich einfachen und herzlichen Choräle, die ernsten, grossen Chöre, machen das Wesentliche davon aus. Die Ideen der Religion tragen den Charakter des Ewigen, und dies kann die Musik nicht besser erreichen, als durch die, nur mit Unrecht, aus Leichtsinn und Unverstand verspottete, wundervolle Kunst des Contrapuncts, der kanonischen und figurirten Arbeit“(39). Auf diese Weise kommt ein Bild des Unendlichen zustande, wird das Universum abgespiegelt, der zügellose Lauf der Phantasie gehemmt und der Mensch statt dessen in eine Tiefe versenkt, die unerschöpflich ist. Alles andere ist nur Zutat, um es richtig ins Licht zu stellen. Der Artikel endet mit einer Apotheose des religiösen Charakters jener Zeit, der sich „wenigstens bey den Componisten der Werke heiliger Tonkunst, so unverkennbar ausdrückte“(40). j) Nachsatz Es wäre eine eigene Untersuchung wert, herauszufinden, ob der Kontrapunktverehrer Michaelis dieses Urteil fällt, weil er alles Moderne abgeschmackt findet und daher keinen Zugang zur Musik seiner eigenen Zeit bekommt, oder ob ihm die Töne des josephinischen Aufklärertums zu schrill in den Ohren klangen. Seine Meinung

136

4. Kapitel: Zwischen den Stilen

setzt eine religiöse Überzeugung voraus, die für einen Fichteverteidiger immerhin seltsam erscheint und dem Nachfahren den Widerspruch zur Lebensrealität von Michaelis noch unerklärlicher erscheinen läßt, ihm ausgerechnet aus religionspolitischen Gründen die Universitätslaufbahn zu verweigern. Im Jahre 1814 ist Michaelis noch kein alter Mann. Mit seinem Urteil würde man zurechtkommen, wenn es sich aus der Vor-Mozart-Zeit gegen die Bachsöhne und ihre Geniezeitnachfahren richtete. Die spielen im Jahre 1814 aber keine Rolle mehr. So läßt sich Michaelis nicht als Zeitdiagnostiker, sondern als Zeitüberholter deuten, jedenfalls was diesen Bereich seiner Urteilsbildung anbelangt. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15) (16) (17) (18) (19) (20) (21) (22) (23) (24) (25) (26) (27) (28) (29) (30) (31) (32) (33) (34) (35) (36) (37)

AmZ I/23, 6.3.1799, Sp. 366–368; (Trio Op. 11) AmZ I/34, 22.5.1799, Sp. 541–542; AmZ I/35, 5.6.1799, Sp. 570–571; Michaelis: Berlinische musikalische Zeitung 1805, Sp. 138b; Kantkommentar I, S. 38; Kommentar I, S. 40; Kommentar I, S. 45; Kommentar I, S. 47; Kommentar I, S. 51; Kommentar II, S. 9; Kommentar II, S. 65–66; Kommentar II, S. 85–86; Kommentar II, S. 86–87; Kommentar II, S. 88; Kommentar II, S. 111; Kommentar II, S. 116; Michaelis: Ueber musikalischen Geschmack, AmZ IX/4, 22.10.1806, Sp. 49–57, Z:54; Michaelis, AmZ, Sp. 50; Michaelis, AmZ, Sp. 51; Michaelis, AmZ, Sp. 52; Michaelis, AmZ, Sp. 53; Michaelis, AmZ, Sp. 54; Michaelis, AmZ, Sp. 56–57; Michaelis, AmZ, Sp. 57; Michaelis, AmZ, Sp. 56; Michaelis, AmZ, Sp. 57; Michaelis, Nachtrag zu den vermischten Bemerkungen über Musik, Berlinische musikalische Zeitung I/36, 1805, Sp. 137a–140a, Z:137b; Michaelis, Nachtrag, Sp. 138a; Michaelis, Nachtrag, Sp. 139a; Michaelis, Nachtrag, Sp. 139b; C. F. Michaelis: Vermischte Bemerkungen über Musik, Berlinische musikalische Zeitung II/21, 24, 34, 1806, Sp. 81a–82a, 93a–94b, 133a–134b; Michaelis: Vermischte Bemerkungen, Sp. 93a–93b. Die Wörter ‚korrekt, präcis, klar, elegant, harmonisch, lebendig, gedrängt, geschlossen, leicht‘ sind im Original gesperrt gedruckt; Michaelis: Vermischte Bemerkungen, Sp. 81b–82a; Michaelis: Vermischte Bemerkungen, Sp. 81a; Michaelis: Ueber das Alte und das Veraltete in der Musik, AmZ XVI/20,18.5.1814, Sp. 325– 328; Michaelis, Ueber das Alte, Sp. 325; Michaelis, Ueber das Alte, Sp. 326;

3. Karl Borromäus von Miltitz

137

(38) Michaelis, Vermischte Bemerkungen, Sp. 81b; (39) Michaelis, Ueber das Alte, Sp. 327; (40) Michaelis, Ueber das Alte, Sp. 328.

3. KARL BORROMÄUS VON MILTITZ a) Allgemeines Vom Geburtsjahr 1780 aus gesehen wäre Miltitz berufen gewesen, den romantischen Kreis mit zu gestalten. Sein Vater war der erste Hofmarschall des Königs von Sachsen, seine Frau Oberhofmeisterin am Dresdner Hof. Er selbst starb 1845 als Geheimer Rat, Oberhofmeister beim Erbprinzen Johann und Kammerherr in Dresden. Miltitz war Dichter, Schriftsteller, Maler, Komponist weltlicher und geistlicher Instrumental-, Vokal- und Bühnenmusik, spielte Klavier, Violoncello und Querflöte und betätigte sich zeitlebens als Musikschriftsteller und Musikkritiker, vor allem für die von Winkler unter dem Pseudonym Theodor Hell geleitete Dresdner „Abend-Zeitung“ und für die „Allgemeine musikalische Zeitung“, der er die Treue hielt, aber vermutlich nicht nur deshalb Schumanns Angebot ablehnte, für die „Neue Zeitschrift für Musik“ zu arbeiten. Seine künstlerische Vielseitigkeit, die dem romantischen, allumfassenden, universalen Künstlertum entsprach, und seine freundschaftliche Verbindung mit Friedrich de la Motte-Fouqué, sein offenkundiger Katholizismus, dem seine Bemühungen um Hebung der sozialen Stellung des Musikers und seine Vorschau auf den späteren Caecilianismus zu danken sind, sein Kampf gegen die sprachliche Überfremdung, seine Anteilnahme an Jean Paul und E. Th. A. Hoffmann und noch viele andere Eigenschaften hätten eine engere und zwar gestaltende Verbindung zur Romantik nahegelegt. Dazu ist es nie gekommen. Miltitz hat die Gedankenwelt der späten Aufklärung nicht wirklich verlassen können und geriet nach und nach auf einen eher biedermeierlichen Weg. Wie weit dazu seine Verbindung mit Reißiger beigetragen haben mag, für den er unter anderem den Text zur „Felsenmühle“ schrieb, bleibe unbesprochen. Vieles ist bei Miltitz widersprüchlich gewesen. So schätzte er beispielsweise Chopin hoch ein. Seine Korrespondenzen aus Dresden bezeugen kritischen Sachverstand und Gradlinigkeit. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Schwierigkeiten, die er um 1842 mit dem Verlag Breitkopf & Härtel bekam, mit seinem Festhalten an einem anachronistisch werdenden Schreibstil zusammenhingen. Der Verlag hat damals seine Anfrage über eine nähere Bestimmung seiner Berichte unbeantwortet gelassen und die von Miltitz ausgehende Einstellung seiner Berichterstattung für die „Allgemeine musikalische Zeitung“ geflissentlich nicht rückgängig gemacht. Ob Unzufriedenheit auch der Verlagsleitung die Ursache war, oder Fink ihn nicht mehr beschäftigen wollte, bleibt unbeantwortet. Ihn ausgerechnet durch Schladebach zu ersetzen, ist ein weiterer Beweis für Finks unglückliche Personalentscheidungen. Miltitz hatte merkwürdigerweise kein Geschichtsbewußtsein und daher kein Verständnis für die Wiederbelebung alter Musik. Er begriff weder die Bedeutung des Dirigenten für die künftige Entwicklung des Orchesters noch die Notwendigkeit einer veränderten Programmgestaltung im Konzertwesen. Daß er in seiner

138

4. Kapitel: Zwischen den Stilen

Dresdner Zeit Wagner nicht nur verständnislos abwartend, sondern fremd abwertend betrachtete, versteht sich unter diesen Umständen fast schon von selbst. Miltitz hat öffentlich nie über oder gegen Wagner geschrieben; aber die beiden durch Ottomar Kleemann(1) überlieferten Tagebucheintragungen bezeugen seine Abneigung. „Rienzi“ ist „Eine Oper, in die mich nie wieder jemand bringt. Bei dieser Musik heißt es wirklich: Quousque tandem“, und den „Fliegenden Holländer“ bezeichnete er als einen ‚Breibler Mischmasch‘. Den „Tannhäuser“ hat er nicht mehr erlebt, möglicherweise hätte er sich durch ihn in den Religionsstreit verwickeln lassen. Daß sein lateinisches Zitat ‚Quousque tandem‘ = ‚Wie lange noch?‘ der ersten catilinarischen Anklagerede Ciceros entnommen ist, dürfte bei einem so gebildeten Mann wie Miltitz nicht ohne Absicht geschehen sein. Wagner wird von Miltitz als ein Catilina der Musik angesprochen, der demnach alles umstürzen und zerstören und die neue Welt ausschließlich auf sich selbst bezogen errichten will. Ein bißchen Prophetie ist dabei, rechnet man das sächsische Revolutionsjahr 1849 ein. Wie weit er sich damit von den Anschauungen des Erbprinzen entfernte oder ihnen nahestand, ist nie untersucht worden. Immerhin hat ihm der Prinz einen Bühnentext geschrieben, den Miltitz vertonte und der in Dresden auch aufgeführt wurde. b) Kritiker und Publikum. Die Vier-Gruppen-Theorie Miltitz verstand sich selbst nicht als Musikgelehrter und auch nicht als praktischer Musiker, sondern als gebildeter Liebhaber. Als solcher schrieb er für gebildete Liebhaber. Seine Kritikvorstellung ist janusköpfig. Er erwartet von der Kritik Einflußnahme auf den Künstler mit der Absicht, bei ihm eine Verhaltensänderung zu bewirken; auf der anderen Seite soll sie beim Publikum, sofern es ein entsprechendes Maß an Bildung mitbringt, die Urteilskraft stärken und den Geschmack verbessern. Somit richtet sich das Augenmerk von Miltitz auf die unterschiedlichen Bildungsschichten einer Zuhörerschaft. Entsprechend der Vier-Klassen-Theorie, die einstmals Rochlitz aufstellte und die Miltitz mit Sicherheit gekannt hat, teilt er das Publikum in vier Gruppen ein, in das bildungslose gemeine Volk, den bloßen Liebhaber, den gebildeten Liebhaber, und den Kenner und Künstler vom Fach. Seine Zielgruppe ist die der gebildeten Liebhaber. Vom Kritiker werden Geschmack, Sachkenntnis, Übung im Sinne von Erfahrung und Überparteiligkeit verlangt. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, daß der Kritiker in Widerspruch zum Publikumsgeschmack gerät. „Unmöglich kann man von der Kritik verlangen, daß sie einer brillanten Szene oder der herrschenden Geschmacklosigkeit wegen ein mattes Werk gut nennen solle … obgleich die eleganten Herrn zu den Galopp- und Walzerthemen ihren allerhöchsten Beifall geben.“ Aber auch ein um Objektivität bemühter Kritiker könnte befangen sein. Handelt es sich um einen guten Kritiker, dann muß er selbst sehen, wie er mit diesem Nachteil zurechtkommt. Miltitz hat sich zu diesem Gegenstand mehrfach grundsätzlich geäußert, in der „Abend-Zeitung“ mit seinem Artikel „Über die Befugniß, musikalische Aufführungen zu beurteilen“, in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ Februar 1820 mit einem mit „BEMERKUNGEN“ überschriebenen Artikel ohne Namensnennung [II,60].

3. Karl Borromäus von Miltitz

139

c) ‚Bemerkungen‘ 1820 Daß es sich um eine Miltitzsche Arbeit gehandelt hat, ist durch Ottomar Kleemanns Rostocker Dissertation von 1937 bekannt geworden. Wie alle Äußerungen von Autoren, deren Standpunkt schwankend ist, wirkt auch dieser Text brüchig. Er beginnt überzeugend und weckt Anteilnahme, bald jedoch läßt die Spannung nach und am Ende bleibt die Frage offen, was der Verfasser eigentlich bezweckt hat. In dieser Zeit erscheinen die „Bemerkungen“ Friedrich Ludwig Bührlens, und man geht in der Annahme kaum fehl, daß sich Miltitz die Überschrift so bei Bührlen geborgt hat, wie er sich mit seinen vier Gruppen an Rochlitz anlehnte. Miltitz übernimmt einen geistreichen Text der Literatur und ersetzt das Wort Sprache durch das Wort Musik. „Wenn eine gewisse Epoche hindurch in der Musik viel gedichtet, und von vorzüglichen Talenten der lebendig vorhandene Kreis menschlicher Empfindungen und Interessen musikalisch // durchgearbeitet worden, so ist der Zeitgehalt in dieser Beziehung erschöpft, und die Musik zugleich, so dass nun jedes mässige Talent sich der vorliegenden Hauptweisen in Melodie und Harmonie, wie gegebener Phrasen, mit Bequemlichkeit bedienen kann“(2). Natürlich ist für Miltitz wie für alle Musikschriftsteller in jener Zeit die Musiksprache unerschöpflicher als die Wortsprache, weil sie „unbestimmter“ ist und „eine Unendlichkeit von Combinationen zulässt“. Weil ein Gefühl durch verschiedenartige „Modulationen“ musikalisch erzeugt werden kann (gemeint ist, daß ein bestimmtes menschliches Gefühl nicht einer einzigen bestimmten ‚Modulation‘ entspricht. Miltitz muß unterstellen, im Verhältnis Poesie-Mensch sei das anders), gleicht sich der Vorsprung wieder aus. Im Vergleich verfügt die Musik über nicht mehr Charakteristika als die Poesie. „Die Musik singt gleichzeitig mit der Dichtkunst die nämlichen Anliegen des Menschenherzens“(3). Der mit der Zeit gegangene Leser, der im Jahre 1820 längst romantische Vorstellungen verinnerlicht hat, wird als Schlußfolgerung die Notwendigkeit eines neuen Ansatzes erwartet haben. Davon ist bei Miltitz nicht die Rede. Er spricht allgemein von wichtigen Zeitereignissen, durch die „neue Zuflüsse eröffnet scheinen“. Jetzt müßte er die neuen Zuflüsse für die Gegenwart angeben; aber tut er nicht. Er will nicht gelten lassen, daß die politischen Ereignisse, auf die er anspielt, nennenswerte künstlerische Folgen gehabt haben. „So viel Grosses auch in den letzten dreyssig Jahren geschehen, der aus diesem Fluss der Völkerschicksale herausgeschlemmte poetisch-musikalische Gehalt liesse sich ohne Zweifel in wenigen Goldmünzen eines Dramas, einiger Lieder und Tonwerke verprägen“(3). Das ist es also: im Musikleben ist, nach Miltitz, nichts geschehen. Er spricht von den letzten dreißig Jahren, meint also die Jahre 1790 bis 1820. In dieser Zeit hat Haydn seine beiden Oratorien, die Mehrzahl der großen Messen und die 12 letzten Symphonien komponiert, Beethoven acht Symphonien und den „Fidelio“, Carl Maria von Weber den „Freischütz“, von Rossini, dessen Intrigen vermutlich die italienische Aufführung der Miltitzschen Oper mit verhindert hatten, oder von Spontini sei gar nicht erst gesprochen. Welches Drama Miltitz meint, welche Lieder und welche Tonwerke, sagt er nicht. „Was wir davon gehört und gesehen, sind die ewigen Wiederholungen der nämlichen Themate“(3). Sind die ästhetischen Momente und die Interessen eines Zeitalters erst einmal durchgearbei-

140

4. Kapitel: Zwischen den Stilen

tet, so wird dem minder Begabten das Kopieren leicht; aber der „kräftigste und bildungslustigste Geist“, der den Verbrauch der künstlerischen Mittel spürt, hat seine Not, „Original zu seyn, weil er fast überall auf bekannten Wegen und in betretenen Fussstapfen wandelt“(3). Bis dahin waren es klare Aussagen, die Miltitz machte. Sowohl in der Literatur wie in der Musik verbrauchen sich die Mittel. Literatur und Musik folgen den Zeitereignissen. Nur hat sich in den letzten dreißig Jahren in der Musik nichts Nennenswertes abgespielt. Die Aussage ist unrichtig, aber unmißverständlich. Dem letzten Drittel des Aufsatzes fehlt diese Klarheit, weil Miltitz seine wahre Meinung nicht am Einzelbeispiel verdeutlichen will. Es gibt erstgeborene, und es gibt nachgeborene „Apollo-Söhne“. Die erstgeborenen „treffen ein kindliches, leicht und tief rührbares Geschlecht an, diese ein reizgewohntes, schwer im Ganzen erregbares“(3). Nachfolgend paßt der eine Abschnitt nicht zum andern, und der ganze Teil nicht zum Anfang, sofern man nicht die Absichten des Autors durchschaut. Miltitz will doch immer wieder auf dasselbe hinaus. An der eigenen Zeit geht so viel Schönes geradezu spurlos vorüber. Der Künstler gewinnt nur dadurch Einfluß auf die Menschen, daß er die Welt des „Gemüths zur lebendigen Anschauung zu bringen, und diese seinem Produkt zum Hintergrund zu geben weiss“(4). Geschieht das nicht, so fehlt die Resonanz. Das ist für Miltitz die Situation der Gegenwart. „So dichtet und componirt unsere Zeit fort und fort, und selten antwortet das rechte Echo in den Herzen der Leser und Hörer, sie verschleudert Schätze an die Menge, die sie auf nichts zu verwenden weiß“(4). Nun könnte man meinen, Miltitz betreibe Publikumsschelte. Der Künstler der Gegenwart produziert große Werke, doch der Hörer ist nicht gebildet genug, sie zu verstehen. Das aber meint Miltitz nicht, wie der Schlußabsatz zeigt. Miltitz ist davon überzeugt, daß die Künstler der Gegenwart mit großen Mühen bedeutende Werke schaffen, sie nur trotzdem Nachtreter sind und deshalb nicht beim Publikum ankommen. Der letzte Abschnitt des Aufsatzes ist sowohl in der gemeinten Sache wie in der Selbstcharakterisierung des Autors eindeutig: „Daher wirkt der Meister auch mit sparsamen Mitteln so stark, weil er seiner Zeit immer ihre Jugend und Lebensfrische zurückzugeben weiss, weil sein Werk das Bild einer schönen Welt mitbringt, welchem wir die einzelnen Gestalten zugesellen, ja, weil er selbst uns der beständige Repräsentant einer schönen Welt ist“(4). Die von Miltitz hier beschworene schöne Welt der Gegenwart ist die schöne Welt von gestern, um nicht zu sagen: die von vorgestern, ohne daß untersucht würde, ob sie wirklich so schön war, wie es die Rückerinnerung vorgaukelt. d) Berichterstattung aus dem Rückwärts Die Miltitzschen Vorstellungen werden durch seine Berichterstattungen und Musikkritiken bestätigt. Sie tragen noch bis in den Beginn der vierziger Jahre in die „Allgemeine musikalische Zeitung“ Bewertungsmaßstäbe hinein, die vielfach schon für 1800 kaum noch vertretbar waren und betreffen alle Bereiche der Orchester-, Spiel- und Aufführungspraxis. Für Miltitz ist beispielsweise das Baßfundament Voraussetzung einer guten Komposition. Die instrumentationstechnischen Verän-

3. Karl Borromäus von Miltitz

141

derungen nach 1800, die anders als im Generalbaßzeitalter den Baßfundamenten nicht mehr die allein tragende Bedeutung zumessen, vollzieht Miltitz noch 1836 nicht nach. Mit der Entwicklung des Kapellmeisterwesens ist er überhaupt nicht einverstanden, auch wenn er mehrfach die Bedeutung der Orchesterleitung herausstellt. „Überhaupt ist es sonderbar, daß vor dreißig Jahren … der sel. Kapellmeister Seidelmann als Dirigent keinen Finger regte, während jetzt, wo die Musik seitdem so fortgeschritten ist, das hörbare und sichtbare Tactiren nicht aufhört“, heißt es in einer Berichterstattung aus dem Jahr 1835. Miltitz hat an dieser Auffassung bis zuletzt festgehalten. Auf Dresden bezogen, wo Miltitz lebte, ist es keineswegs unverständlich. In der öffentlichen Wahrnehmung der Dresdner spielte der Dirigent noch über 1840 hinaus keine wirkliche Rolle. Die Opern-Programmzettel verzeichneten jeden, der an der Aufführung beteiligt war, lediglich der Name des Abendkapellmeisters fehlt. So ist es heute noch ein Problem festzustellen, welche Opern in der Zeit bis 1849 von Reißiger, Wagner oder Röckel dirigiert worden sind. Erst wenn über datierbare Aufführungen Berichterstattungen vorliegen, in denen der Kapellmeister namentlich genannt wird, oder aufführungsbezogene Tagebucheintragungen ehemaliger Orchestermitglieder, läßt sich eine unstreitige Zuordnung herstellen. Für die Zeitgenossen war dies nicht unbedingt notwendig, weil jede ins Repertoire genommene Oper ein für allemal von einem der drei Herren betreut wurde und nur in Krankheitsfällen ein anderer einsprang. Die Wende kam erst 1848 mit dem von Wagner dirigierten Dresdner Armenkonzert vom 23. April 1848, dessen Presseecho zum ersten Mal ausdrücklich die Bedeutung des Kapellmeisters für eine Aufführung hervorhob(5). Für Miltitz dagegen ist Dirigieren nichts anderes als Taktschlagen gewesen. Wollte er wirklich sagen, wenn weniger gute Orchester schon keinen Dirigenten gebraucht hätten, dann bessere erst recht nicht? Die Bewegungen, mit denen Einsätze gegeben oder Differenzierungen herbeigeführt werden, sind für Miltitz überflüssiges Schaugehabe. Vermutlich wird ihm auch die Einführung des Taktstockes durch C. M. v. Weber kein Vergnügen bereitet haben. Darüber hinaus bekämpfte er Tempowechsel und Rubati noch 1839. Seiner Meinung nach machen sie viele schöne Sätze wirkungslos. Miltitz bedenkt das „Hülfsbuch für Lehrer und Lernende“ von Marx mit kritischem Lob und verlangt im Gegensatz zu Marx die Einhaltung eines festen Rhythmus, wenn er zum Verständnis des Stückes notwendig sei. „Wir kennen berühmte Instrumentisten und berühmte Sänger, die die besten Orchester zur Verzweiflung brachten mit ihrem ewigen Tempo rubatoSpielen“(6). Auf der anderen Seite lobte er das Orgelspiel Gottlieb Schneiders, weil der so trefflich zu registrieren verstehe. Er „wisse vorzüglich hierdurch ein Crescendo anzubringen, das von Frühlingssäuseln bis zum Gewittersturm anwächst“(7). Diese Art des Orgelspiels, die hier bewundert wird, ist neuerer Art. Gänzlich ins 18. Jahrhundert zurückversetzt wird man durch seine Auffassung von der richtigen Zusammenstellung eines Konzertprogramms. Noch 1837 gibt er dafür in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ Ratschläge: „Im Concerte mache eine kräftige Ouvertüre oder der erste Satz einer Sinfonie den Anfang. Nun trete der Concertist auf, in dessen Vortrag durch Solo’s und Tutti’s schon Abwechslung liegt. Ihm folge ein Gesangstück … Der zweite Satz [Miltitz meint den zweiten Teil des Konzertes] beginne mit dem Mittelsatz einer Symphonie und dazu gehörigem Allegro … Nun

142

4. Kapitel: Zwischen den Stilen

komme weiter ein Gesangstück, am liebsten eine Arie, zum Ausruhen vom Instrumentenspiel. Zum Schluss käme am zweckmässigsten der rauschende Schlusssatz einer Sinfonie. Allein da die Eitelkeit des Concertisten verlangt, dass er den letzten Eindruck mache, so sei ihr nachgegeben, und er schliesse mit Variationen oder Rondo, oder wie er sonst will.“(8) Man überlegt unwillkürlich, ob Miltitz das ernst gemeint hat. Aber viele Orchesterkonzerte waren tatsächlich so, wie hier gefordert, aufgebaut, und feste Abonnementskonzerte gab es bis zu dieser Zeit nur in Leipzig unter Mendelssohn. In Dresden machten erst Hiller (erfolglos) und dann Wagner (erfolgreich) damit den Anfang. Es dauerte Jahrzehnte, bis sich stilreine Programme und nicht unterbrochene Mehrsatzstücke durchsetzten. Was Miltitz anbelangt, war er offensichtlich noch nicht in der Lage, ein mehrsätziges symphonisches Stück als Einheit zu betrachten; aber er erklärt in diesem Zusammenhang, mit seinem Konzertplanvorschlag „bekäme man Einheit in die Mannigfaltigkeit … und brächte die so schöne, dem Deutschen allein angehörige Gattung der Sinfonie immer mehr empor.“ Es gibt nur wenige Linien, die Miltitz mit der aktuellen Musikanschauung verbinden. Auch wenn es manchmal so aussieht, als zeige er Verständnis für zeitgenössische Vorgänge, sind es doch eher Randerscheinungen, denen er beipflichtet. So spricht er sich 1842 gegen die sprachliche Überfremdung aus: „(warum diese französischen Namen, da sich das Alles eben so gut deutsch geben lässt?)“(9) Es stand einem Manne gut an, der als Offizier in österreichischen Diensten gegen Napoleon gekämpft hatte, und das Thema war überdies ebenso erledigt wie seine Forderungen nach deutschen Programmzetteln, nach einer Deutschen Oper und häufigerem Spielen von Symphonien. Begriffe wie Klassik und Romantik versteht er in althergebrachter Weise. Noch 1838, zu einem Zeitpunkt also, da sich die Begriffe Klassik und Romantik der poetischen Literatur folgend längst mit verbindlich werdendem Inhalt füllten, bezeichnete er Mozarts „Zauberflöte“ als „ein wahres Eldorado der ächten Romantik“ (10). Miltitz benutzte die Begriffe wie spätere Laien-Musikliebhaber unreflektiert emotional. Programmusik ist für ihn unannehmbar. Im Rahmen einer Dresden-Korrespondenz bespricht er im Dezember 1836 ein Quintett von Onslow, das der Komponist „Krankheitsquintett“ nennt: „Gegen die Idee, den Fieberparoxismus u. die Genesung durch Musik ausdrücken zu wollen, liesse sich viel sagen, und die besonnene Kritik wird immer Recht behalten, wenn sie dergleichen ästhetische Missgriffe nennt. Denn in der That wäre es nicht schwer gewesen, diesen Musikstücken … andere Namen zu geben“(11). Im Widerspruch dazu bezeichnet er im April desselben Jahres eine Mazurka Chopins (den Miltitz schätzt) als „Kampf eines jungen frischen Lebens gegen irgend eine feindliche Gewalt, in Wehmuth und Sehnsucht ersterbend“(12). Von der Entwicklung der Klavierspielkunst und der modernen Virtuosität hält Miltitz ebenfalls nichts. Er nennt Liszt einen „Maschinisten“ und sagt von dem Liszt spielenden Pianisten Krüger, daß dieser „die Melodien mit einem Finger spielt und mit den neun anderen soviel Arabesken und Passagen macht, als habe er noch neunzehn disponible andere Finger“, und an anderer Stelle „… man hat durch das Gefallen an Besiegung von Schwierigkeiten diese letztern so gehäuft, und die Fertigkeit, sie zu bezwingen, so geübt, daß man eines Theils nicht absieht, was noch mehr hierin geleistet werden könne, anderer-

3. Karl Borromäus von Miltitz

143

seits der wahre Gleichgewichtspunkt der Musik, zum größten Nachtheile der Sache völlig verrückt ist“. Den zeitgenössischen Komponisten wirft er vor: „… seitdem unsere Componisten fünf mal durchgestrichene Noten über dem Notensystem vom Ripieno verlangen, seitdem spielt kein Orchester mehr ganz rein … und wolle uns doch Niemand überreden, daß das fünf fach gestrichene C über der Linie auf irgend einem geblasenen, gegriffenen oder gestrichenen Instrumente mehr seyn könne als – Quietschen! Ein echt musikalischer Zweck“(13). Ärgerte er sich vielleicht, weil die Stücke für ihn selbst zu schwer geworden waren, oder erkannte er bereits die Probleme der salonvirtuosen Ornamentisten, die wenig später zum journalistischen Thema wurden? e) Miltitz 1840 Für die „Allgemeine musikalische Zeitung“ verfaßte Miltitz 1840 eine Arbeit unter dem für ihn charakteristischen Titel „Ueber das was bleibt und das was schwindet in der Musik“(14) [II,382], die nicht nur ein Zeugnis für die längst eingetretene Stagnation seines Denkens bildet, sondern auch einen offensichtlichen Realitätsverlust erkennen läßt. Miltitz beklagt die geringe Wertschätzung vorangegangener künstlerischer Leistungen. Niemand wolle mehr wie Raffael malen, niemand kenne mehr Uz, Michaelis, ‚Lichtwehr‘, Thümmel; und Klopstock, Wieland und Voss lasse man nicht mehr als Dichter gelten. Man mäkele an Schiller und Goethe herum. „Gleichwohl hat die neueste Zeit noch keinen einzigen so allgemein gefeierten Namen aufstellen können, als es in den achtziger Jahren des verflossenen Jahrhunderts Bürger, Hölty, Salis, [‚]Mathisson[‘], Wieland, Herder, Schiller und Goethe fast gleichzeitig waren“(15). Noch auffallender aber sei die „Erkältung“ der Zeitgenossen gegenüber den besten Werken der Musik. Niemand außer den älteren Männern vom Fache kenne mehr die Arbeiten der niederländischen Schule. Die frühern Italiener werden weder in Italien noch in „Teutschland“ verlangt. So weit kann man Miltitz noch folgen. Wenn er aber klagt, selbst „Männer der neuesten Zeit, Haydn und Mozart, Lichtpunkte für alle Zeiten, werden in ihren Sonaten, Quartetten und Sinfonieen, lächelnd bei Seite gelegt“, und sogar der Enthusiasmus für Beethoven sei auf die großen Konzerte in Paris beschränkt, die Ouverturen in Deutschland herrlich ausgeführt, aber vom Publikum teilnahmslos entgegen genommen „wenn man anders den Korrespondenten trauen darf“(16) – so muß man fragen, woher Miltitz seine Informationen bezog. Die Korrespondenten hat er genannt; aber aus deren Berichten läßt sich eine Schlußfolgerung wie diejenige, die Miltitz zieht, nicht belegen. Miltitz behauptet allen Ernstes: „Unbezweifelt ist, dass die Musik in ihren Wirkungen auf die Menge noch spurloser vorübergeht, als die Kunst des Mimen“(16). Das Publikum ist für Miltitz nur die „grosse Masse“, der „Haufe“. Über den Erfolg eines Stückes entscheiden die gebildeten Liebhaber und Kenner, „und am Ende sind es doch diese, die den Ruf eines Kunstwerks feststellen“(17). Auch die Lösung weiß Miltitz: der Künstler müsse das Publikum an sich heran ziehen. Wie das zu geschehen hat, weiß er ebenfalls. Die Komponisten dürfen nur noch klassische Werke liefern, so daß es andere als gute Kompositionen nicht mehr gibt. Leider wollen

144

4. Kapitel: Zwischen den Stilen

die „dermaligen Theaterdirekzionen, vornehm oder gering, entweder vom eigentlichen Wesen der Kunst als sittliches Veredelungsmittel“(17) nichts wissen, sondern haben ihr Geldgeschäft oder „Garderoben- und Dekorazionspracht“ im Sinn. Wie bekommt man gute Opern? Indem die Komponisten gute Texte erhalten und die Autoren dafür, wie in Frankreich, gut bezahlt werden. Die Komponisten müßten es über sich gewinnen, „mehr nach Wahrheit und wirklicher Schönheit, als nach sogenanntem Effekt zu streben“(18). Über die Forderungen, die der Komponist an den Dichter zu stellen habe, will er sich später einmal äußern; Lichtblicke sieht er für die Kammermusik. „Auch ihr ist nur dann eine längere Dauer zu versprechen, wenn sie sich das blose Bravourgeklingel versagt, und, verbunden mit billiger Berücksichtigung dessen, was der Zeitgeschmack in Harmonie und Melodie verlangt, auf innern Gehalt bedacht ist(18). Da sähe es zur Zeit ganz gut aus. Den Komponisten empfiehlt er das Studium „eines edlen und grandiosen Periodenbaues“, ein Gedanke müsse über acht Takte hin ausgehalten werden und dürfe sich nicht nach zwei Takten erschöpfen. Das Scherzo „sei rasch, feurig, kontrapunktisch neckend, das letzte Allegro düster oder heiter, aber immer edel, // in grossen Formen angelegt und nicht zu eng in der Ausführung gehalten, damit man zur (vernünftigen) Modulazion Gelegenheit findet. Dagegen vermeide man im ruhigen Tempo Andamento’s, Kettengänge von Septimenfolgen u. dergl., die sonst sehr beliebt, jetzt altmodisch klingen. Und so habe jede Zeit ihr Recht, jede Geschmacksrichtung Zutritt, sobald nur die Hauptforderungen, Schönheit, Gehalt und Wahrheit, nicht dadurch verletzt werden.“ Mit diesen Sätzen schließt der Artikel. f) Weltsicht Das Miltitzsche Denken zielt auf eine statische Weltsicht, die sich jeder Entwicklung der Musik widersetzt. Seine Definition des Begriffes Klassik, die er 1827 in der „Abend-Zeitung“ veröffentlichte, ist dafür kennzeichnend: „Classisch heißt in der Musik ein Werk, in welchem Reinheit des Satzes, Correctheit des musikalischen Stiles in der bezeichneten Gattung, mit Faßlichkeit und Klarheit der Sprache, mit Fülle und Originalität der Erfindung, nächst einem eminenten Grade theoretischer Kunstgelehrsamkeit, verbunden sind. Aber davon ist noch ein Gefangennehmen der Genialität unzertrennlich, damit Stoff und Form, hier musikalische Erfindung und musikalischer Stil, ganz ineinander zusammenfallen und keines auf Kosten des andern vorherrschend werde. Genialität und Besonnenheit müssen einander vollkommen die Waage halten. Wo diese Forderungen befriedigt sind, da erhebt sich das Werk zum Meisterbilde seiner Gattung, verdiente classisch genannt zu werden“(19). Miltitz, den in der technischen Behandlung eines Instrumentes niemand täuschen kann und dem als Musikkritiker ein hoher Rang zukommt, ist der Meinung, ein genialer Künstler sei in der Lage, auf dem Boden einer festgefügten Tradition Neues zu schaffen. Wie das aussehen soll, wird nicht gesagt. Ansätze dazu sind Rezepte des 18. Jahrhunderts, mit denen inzwischen niemand mehr etwas anfangen will.

3. Karl Borromäus von Miltitz

145

g) Der Miltitz-Fink-Disput 1834 Stünde nicht sein Name darunter, würde man nicht vermuten, der Aufsatz „Ueber musikalische Begeisterung“(20) [II,288] stamme von Miltitz. Er vertritt darin den Standpunkt, jede Komposition erwachse aus einer Inspiration, die eine Idee vollendet zur Welt bringe. Der Komponist erfahre sie in einem Zustand der Begeisterung, und im vollendeten Kunstwerk werde sie keiner Veränderung mehr unterworfen. Miltitz geht bis zu der Behauptung, Mozart habe ursprünglich nicht vorgehabt, in die Ouverture zur „Zauberflöte“ eine Fuge einzuarbeiten. „Er sagte sich nicht mit kühler Reflexion: ‚ich will als Ouverture einen fugirten Satz in Es dur schreiben.‘ Hätte er das gethan, so hätten wir eine lederne Schlussfuge mehr. Nein, ihm schwebte im Nu das musikalische Gewitter des Hauptgedankens: // [Notenbeispiel] vor. / Die Antwort der Fuge kam so von selbst, dass ich dächte, ich wollte meinen Kopf verwetten, Mozart habe erst nach den ersten zwanzig Tacten bemerkt, dass das Ding eine Fuge geworden sey. ‚Auch gut!‘ mag der Herrliche gelächelt haben. Alles Uebrige, und namentlich der zweyte Theil, ist von der Reflexion aus den Lichtfunken des ersten Augenblicks zusammengewoben“(21). Es soll nicht danach gefragt werden, ob Miltitz im Ernstfall seinen Kopf verloren hätte. Fink setzt dem Artikel seine „Antwort auf vorstehende Abhandlung“ unmittelbar nach(22) [II,289]. Fink widerlegt Miltitz auf ebenso ruhige wie vornehme Art, und man erkennt den sonst so verklausuliert und schnell sarkastisch-aggressiv schreibenden Fink nicht wieder. Er weist zunächst nach, daß Miltitz die Begriffe Begeisterung, Inspiration falsch interpretiert und widerlegt dessen Vorstellungen mit dem Hinweis auf Beethoven. Fink hat von einigen Beethoven-Sätzen Vorstudien gesehen und weiß um Beethovens Arbeitsweise. An diesen Beispielen zeigt Fink, daß das wahre Kunstwerk nicht einfach so herabschwebt, sondern in zum Teil mühseliger Arbeit aus einer obwaltenden Idee zum Werk geformt wird. Die „Inspiration des Augenblicks“ ist nicht mit dem Werk identisch. Fink geht so geschickt vor, daß er Miltitz mit Miltitz widerlegt. h) Über Originalität Miltitz äußerte sich 1838 in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ „Ueber Originalität in der Musik“(23) [II,353]. Die Frage, was man machen müsse, um originell zu sein, werde nicht beantwortet oder des Langen und Breiten ausgeführt (Miltitz spricht von ‚schwatzen‘), „dass man originell sein könne, ohne genial zu sein, aber nicht umgekehrt“. „Was nun der junge beginnende Komponist aus diesem Geschwätz für Nutzen schöpfen werde, das weiss jeder, der überhaupt weiss, was Kritik dem Anfänger hilft – nämlich gar nichts. Sie schlägt ihm die Flügel nieder.“ Miltitz schlußfolgert: „In Wahrheit kann der Kritiker nur die Reinheit des Satzes, die Grammatik beurtheilen; ob Originalität in einem Werke herrsche, so wie über das Gefallen eines Musikstückes nur die allgemeine Stimmung, nicht aber das Urtheil einer Handvoll übellauniger, einseitiger Pedanten entscheiden.“

146

4. Kapitel: Zwischen den Stilen

(1) Ottomar Kleemann: Carl Borromäus von Miltitz als Kritiker, Diss. Rostock 1937, Triltsch & Huther, Berlin 1937, 123 S.; (2) Miltitz: Bemerkungen, AmZ XXII/6, 6.2.1820, Sp. 91–92; (3) Miltiz, Bemerkungen, a. a. O. Sp. 92; (4) Miltitz, Bemerkungen, a. a. O. Sp. 93; (5) Kirchmeyer: Wagner in Dresden, a. a. O. S. 632; (6) AmZ XLI/19, 8.5.1839, Sp. 357–361, Z:358; (7) Kleemann, a. a. O. S. 40; (8) AmZ XXXIX/8, 22.2.1837, Sp. 125–126, Z:126; (9) AmZ XLIV/9, 2.3.1842, Sp. 186–189, Z:187; (10) AmZ XL/48, 28.11.1838, Sp. 799–800, Z:800; (11) AmZ XXXVIII/51, 21.12.1836, Sp. 843–845, Z:845; (12) AmZ XXXVIII/17, 27.4.1836, Sp. 277–278, Z:277; der Satz ist im Original mit Gänsefüßchen ausgezeichnet; (13) Abend-Zeitung 1826, nach Kleemann S. 53; (14) AmZ XLII/43, 21.10.1840, Sp. 673–877; (15) Miltitz: Ueber das was bleibt, a. a. O. Sp. 873; (16) Miltitz, Ueber das was bleibt, a. a. O. Sp 874; (17) Miltitz, Ueber das was bleibt, a. a. O. Sp. 875; (18) Miltitz, Ueber das was bleibt, a. a. O. Sp. 876; (19) Abend-Zeitung 1827, nach Kleemann; (20) Miltitz, Ueber musikalische Begeisterung, AmZ XXXVI/14. 2.4.1834, Sp. 213–218; (21) Miltitz, Ueber musikalische Begeisterung, a. a. O. Sp. 216–217; (22) Fink, AmZ XXXVI/14. 2.4.1834, Sp. 218–226; (23) Miltitz, Ueber Originalität, XL/37, 12.9.1838, S. 601–606.

5. KAPITEL: GEGENGRÜNDUNGEN. „BERLINER ALLGEMEINE MUSIKALISCHE ZEITUNG“, „CAECILIA“ UND ANDERE I. ABSCHNITT: DIE BERLINER ALLGEMEINE MUSIKALISCHE ZEITUNG. EIN KAPITEL ADOLF BERNHARD MARX. BERLIN ZWISCHEN 1824 UND 1830(1) 1. Zur Gründung Im Jahre 1824 gründete Adolf Bernhard Marx die „Berliner allgemeine musikalische Zeitung“, ein Unternehmen, dem die Fachleute aus mancherlei Gründen Waghalsigkeit bescheinigten und an dessen längeren ersprießlichen Fortbestand sie nicht glauben wollten. Dazu war der Ruf des als Ausbeuter und Raubdrucker verschrieenen Verlegers Schlesinger zu schlecht, Marx selbst in der musikalischen Welt noch wenig bekannt und die bisherigen Erfahrungen mit auf Dauer erfolglos gebliebenen bodenständigen Berliner Musikzeitungen zu eindeutig, als daß sie hätten geeignet sein können, für ein neues Organ große Hoffnungen zu wecken. Die Nützlichkeit eines vordringlich Berliner Lokalproblemen gewidmeten Blattes stellte man nicht in Abrede. Gegen Eingriffe des Verlegers hatte sich Marx vertraglich abgesichert. „Hierbei wird wiederholt bekannt gemacht, dass der Redaktion durch schriftlichen Vertrag vollkommene Unbeschränktheit in ihrem Verfahren zugesichert ist, dass namentlich die Verlagshandlung sich jedes Einflusses auf die Redaktion begeben und dass der Verleger, Herr Schlesinger, während des ganzen ersten Jahrganges der Zeitung niemals eine Abweichung von jener Bestimmung im Vertrage versucht hat“, schrieb Marx in der ersten Nummer des zweiten Jahrgangs(2) [II,281]. Dort äußerte er sich in fünf Punkten erneut über die vorgesehene Richtung seiner Zeitung. Unter 1) bittet er um Beiträge. „Jeder Beitrag, welche Ansichtweise und Meinung ihm auch zum Grunde liegen, welchen Gegenstand er auch betreffe und welche Form ihm gegeben sei, ist willkommen, sobald er von Persönlichkeiten und dergleichen frei, und für die Tonkunst gehaltreich, seine Ausdehnung aber im Verhältnisse zur Wichtigkeit des Gegenstandes und zu dem Raume der Zeitung nicht zu gross ist. Namentlich sind sachgemässe Widerlegungen in der Zeitung erschienener Aufsätze so willkommen, wie jeder andre Beitrag – auch da, wo sie nicht ausdrücklich gewünscht werden.“ Unter 2) regelt er das Verfahren der Werkbesprechungen. Nur solche Werke werden besprochen, von denen Verleger oder Autor der Redaktion ein Exemplar (gemeint ist: unentgeltlich) zugeschickt haben. Wird das Werk nicht besprochen, geht das Exemplar an den Absender zurück; wird es besprochen, geht es in Besitz und Eigentum des Kritikers über. Gleichzeitig sichert Marx zu, „dass bei der Vertheilung und Beurtheilung … niemals eine persönliche Rücksicht für

148

5. Kapitel: Gegengründungen

oder wider jemanden eintritt.“ Noch unter derselben Ordnungsnummer folgt als dritter Absatz die Mitteilung über die Unabhängigkeit des Redakteurs Marx von der Verlagsbuchhandlung. Unter 3) geht es um anonyme Einsendungen. Ohne der Redaktion seinen Namen offenzulegen könne kein Korrespondent mit einer Veröffentlichung seines Artikels rechnen. „Dagegen wird von der Redaktion jedem auf Verlangen die strengste Anonimität zugesichert.“ Unter 4) heißt es „Widerlegungen der Mittheilungen andrer Blätter können nur dann in dieser Zeitung Aufnahme finden, wenn sie an und für sich vollkommen fasslich und überdem der Tendenz der Zeitung nach No. 1 entsprechend sind.“ Marx hat sich zweimal in kurzem Abstand, am 7. und am 25. Februar 1824 [II,102, 103], gegen Einsendungen gewehrt, die seine Zeitung für sich selbst nutzbar zu machen gedachten. Das waren einmal Buchhandlungen, die sich eine billige Werbung erhofften und ihm gleich die fertigen Rezensionen, aber ohne Noten schickten, sowie Privatpersonen, die ihre Eigeninteressen verfolgten. Marx bezog das sogar auf sich selbst. Als er 1826 in einer Zeitung angegriffen wurde und man von ihm eine Stellungnahme erwartete, lehnte er das aus demselben Grund ab [II,158]. Der fünfte und letzte Punkt enthält nur noch die Mitteilung vom Wegfall der monatlichen Übersichten der Berliner Musikaufführungen, weil „die Menge wichtigerer Gegenstände wächst“. Selbstverständlich dachte sich Marx seine Zeitschrift als verbessertes Konkurrenzunternehmen zur „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ in Leipzig, nach deren Aufmachung er sich richtete, ohne den Redaktionsstil der Rochlitz-Nachfolger zu übernehmen, dem man als Folge von Vergreisung Rückständigkeit und grau in grau zeichnende Manier nachsagte. Darin traf sich Marx mit der zur gleichen Zeit ins Leben tretenden Mainzer „Caecilia“ (Cäcilia) Gottfried Webers. Mochte Marx das Leipziger Organ abschätzig betrachten, so behinderte es seine hochfliegenden Redaktionspläne, in seiner neuen Zeitung ein Forum sich kreuzender kritischer Ideen und Gegenideen zu eröffnen, weil die wenigen zeitgenössischen Musiker, die den dazu nötigen Bildungsstand mitbrachten, in der Mehrheit längst unablösbar an die Leipziger Konkurrenz gebunden waren. (1) verbesserter und erweiterter Nachdruck von Helmut Kirchmeyer: Ein Kapitel Adolf Bernhard Marx. Über Sendungsbewußtsein und Bildungsstand der Berliner Musikkritik zwischen 1824 und 1830, in: Beiträge zur Geschichte der Musikanschauung im 19. Jahrhundert, herausgegeben von Walter Salmen, Bosse-Verlag Regensburg 1965, S. 73–101; (2) Bekanntmachungen, BamZ II/1, 5.1.1825, S. 8b.

2. Berlin gegen Leipzig Zunächst erwiesen sich die Befürchtungen als grundlos. Die Berliner fühlten sich von der Leipziger Zeitung viel zu sehr vernachlässigt. Ausgerechnet der Berliner Korrespondent der Leipziger „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ zählte ihrer Meinung nach zur Kategorie der wertungslos gleichgültigen Leute. Er lieferte weder das gewünschte ‚Raisonnement‘, wie es damals hieß, noch das inzwischen geforderte begründete Urteil, sondern begnügte sich damit, Titel, Nomenklatur der Sänger und dazu diejenigen Textesworte abzudrucken, die am meisten beklatscht

I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung

149

worden waren. Alles das paßte den selbstbewußt gewordenen Berlinern nicht, und so forderte man ein eigenes Sprachrohr, das ihnen Marx zu liefern gedachte. Auf Grund der besonderen Berliner Verhältnisse in Verbindung mit der Marxschen Mentalität hielt es sich nicht allzu lange. Auch wenn die Enthusiasten, zu denen Heinrich Dorn gehörte, mit ihrer vernichtenden Kritik an der Leipziger [II,220] weit übers Ziel hinausschossen, so boten die abwertenden Stimmen ein merkantiles Sprungbrett, das über sechs Jahre trug. Beim Beginn des fünften Jahrgangs hatte das Blatt mehr als 600 Abonnenten, eine an den Auflagenverhältnissen des 19. Jahrhunderts gemessen beachtliche Zahl. Vieles von dem, was man gegen Leipzig sagte, war allerdings überzogen und grenzte in seiner Ausschließlichkeit an Demagogie, sofern es nicht schlicht auf Nichtwissen streitlustiger jüngerer Mitarbeiter beruhte. So begann die Würdigung Beethovens keineswegs, wie mit Unterdrückung der Rochlitzschen Leistungen behauptet wurde, erst mit dem Marxblatt. Richtig ist, daß Marx ebenfalls viel für die Popularität Beethovens in Deutschland getan hat, auch wenn sich in seinen Beethoven-Interpretationen keineswegs die Nüchternheit seiner kritischen Vorstellungen widerspiegelte. Jedenfalls blieb er nicht vornehm zurückhaltend, sondern ging mit seiner Zeitung gegen die Beethovenpolemiken musikkritischer Lokalgrößen kämpferisch an. 3. Programmatik und Meinungsvielfalt. Beispiel Spontini Im umstrittenen Fall Spontini wurden die Schwierigkeiten offenbar, in die sich vom System her ein so forsch vorgehendes Periodikum wie das Marxsche verwickelte. Es wollte ja kein Interessenblatt sein, das sich auf gängige musikalische Richtungen festlegte. Rezensionen wurden bestellt und erst dann abgedruckt, wenn sie sich als durchgearbeitet erwiesen. Das führte im Extremfall zu merkwürdigen Situationen, weil freundliche und unfreundliche Äußerungen über annähernd denselben Gegenstand mit gleichem Stellenwert nebeneinander zu stehen kamen, auch wenn dabei die eine Rezension das Gegenteil der anderen enthielt. Dem Leser wurde in solchen Fällen die von ihm gewünschte Orientierungshilfe entzogen, sofern er selbst nicht unterrichtet genug war, den übergeordneten Marxschen Redaktionsgedanken zu entdecken. Während sich die Leipziger im Problembereich auf einen lauen Ton hin rettete, zielte die Berliner auf die Absurdität einer mit dem Anspruch der Objektivität auftretenden univoken Wahrheit. Zu welch einem Durcheinander das führen mußte, lehrte der Fall Spontini, dargestellt in sechs Jahrgängen musikalischer Kritik. Die ersten beiden Jahrgänge der „Berliner allgemeinen musikalischen Zeitung“ enthalten fast ausnahmslos lobende Besprechungen Spontinis. Verfasser ist Marx selbst, der dem italienischen Meister freundlich gegenüberstand. Im dritten und vierten Jahrgang jedoch besprechen Kritiker wie Franck und Rellstab die Spontinischen Opern. Beide mochten den Italiener nicht. So sind die späteren Urteile über Spontini gegen die früheren gestellt, und das nicht etwa auf Grund eines organischen Anschauungswandels der Zeitschrift, sondern als Konsequenz eines eigentümlich regulierten redaktionellen Verteilerschlüssels. Natürlich kann man sich

150

5. Kapitel: Gegengründungen

seine eigenen Gedanken darüber machen, warum sich Marx aus der Spontinikritik zurückzog, zumal die von Rellstab vertretenen kritischen Wertungen, die später sein bedeutender Nachfolger Ernst Kossak mit negativen Schlußfolgerungen gegen Rellstab bekämpfen sollte, mit den Marxschen musikkritischen Grundsätzen gewiß nicht übereinstimmten. Wohl waren die Rellstab-Rezensionen im Marxschen Sinne schlüssig gearbeitet und nach dem Marx-Programm jedenfalls zwingend aufnahmewürdig. So ergab sich die für diese frühe Zeit ebenso einzigartige wie seltsame Konstellation eines tendenzmäßigen Widerspruchs zwischen Redaktion und Mitarbeiter, und das nicht allein nach der künstlerischen, sondern auch nach der redaktionellen Überzeugung. Die Redaktion vertrat keine Partei, der Mitarbeiterstab mitunter wohl. An sich wäre zu vermuten gewesen, man werde ausschließlich Kritiker verpflichten, denen man Neutralität zutraute. Damit entschied über das Schicksal der Zeitschrift die Fähigkeit des Redakteurs, seine redaktionell-programmatischen Wünsche mit den Mitarbeitertendenzen auszugleichen, also im Falle von Berichten nicht organneutraler Personen Gegengewichte durch Verpflichtung unvoreingenommen denkender Mitarbeiter zu schaffen. Anderenfalls mußte das Blatt zum Spielball für den durchsetzungsfähigeren Teil der Mitarbeiter werden und sich dadurch auf die Dauer als ernst zu nehmendes Periodikum selbst zu Grunde richten. Hier wurde die Marxsche Zeitungsidee durch den geringen Bildungsstand des deutschen Musikertums jener Jahre rasch beschädigt. Marx konnte an Rellstab nicht vorbei gehen, auch wenn dieser andere Überzeugungen vertrat. Die Berliner Spontini-Kritik wurde von Rellstab angeführt. Rellstab selbst sah sich darob angegriffen und verteidigte sich in der Marx-Zeitung gegen eine noch nicht erschienene Gegenkritik mit einer „Nachschrift“(1) [II,186]. Spontini sei so über die Maßen gelobt worden, daß es auch möglich sein müsse, ein kritisches Wort über ihn anzubringen. Die lobende Kritik über Spontini bezeichnete er darin als „Unwesen“. „Ueberdies hat Herr Spontini einen so verderblichen Einfluss auf manche unserer jungen Künstler gehabt, sie sind durch die glänzende Aussenseite seiner Produktionen so verblendet worden, dass auch in dieser Hinsicht ein strenges, aber unbestochenes Urtheil nicht unnütz sein möchte.“ Herrn Spontini müsse doch „die irrende Stimme eines strengen Tadlers mehr werth sein als das niedrige kindisch verächtliche Lobpreisen feiler Schriftsteller in feilen Zeitschriften.“ Man habe in den Kaffeehäusern aus den dort ausliegenden Blättern die Seiten herausgerissen, „auf denen durch den Tadel gegen Herrn Spontini dem Treiben seiner verächtlichen Schmeichler der Stab gebrochen“ sei. Im weiteren Verlauf fallen Ausdrücke wie „feile Buben“, „Schurken“ und „Leute dieses Schlages“. Rellstabs Wortwahl spricht ebenso gegen ihn wie die kaum nachvollziehbare Behauptung, Lob in einer Kritik sei Schmeichelei und eine ‚irrende Stimme‘ besonders beachtenswert. Franz Stoepels „Allgemeiner musikalischer Anzeiger“, der bedeutungslos blieb, weil er nach nur einem Erscheinungsjahr wieder eingestellt wurde, hielt 1826 dagegen. Stoepel kündigte im „Vorwort“ an, kurze beurteilende Anzeigen, aber ohne Gründe zu bringen, eine Bemerkung, die sich gewiß gegen Marx richtete. Das Beiblatt „Minerva“ solle dann die Widersprüche, Antikritiken und Streitigkeiten

I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung

151

aufnehmen, weil „beurtheilten Gelehrten und Künstlern oft die einleuchtendsten Gründe nicht einleuchteten“ [II,157]. (1) IV/26, 27.6.1827, S. 208.

4. Fachmusikertum und die Folgen Viele der ehrenwerten Marxschen Überlegungen wirkten sich für seine Zeitung ungut aus. Dazu gehört die Vorgabe, nur solche Mitarbeiter schreiben zu lassen, die als erfahrene Musiker ausgewiesen und gleichzeitig bereit waren, sich zur Leipziger „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ in einen bewußten Gegensatz zu stellen. War diese Koppelung an sich schon fragwürdig, wenn als redaktionelles Ziel Meinungsvielfalt und nicht ein bestimmtes ästhetisches, von einer ausgewählten Künstlergruppe vertretenes Programm vorschwebte, so war sie im vorliegenden Falle auch undurchführbar, weil sie sich nur durch Selbstbeschädigung erreichen ließ; denn die so böse belauerte Leipziger Musikzeitung hatte längst alle älteren Kritiker von Rang an sich gezogen. Marx mußte sich für seinen Rezensionenteil überwiegend jungen Musikern oder Außenseitern anbequemen, die ihm auf längere Sicht mehr schadeten als nutzten. Leute wie der bestechliche Rellstab oder der streitsüchtige Dorn zählten dazu. Es fehlte Marx an tüchtigen, ausgleichenden Mitarbeitern. Daß Marx nur Berufsmusikern das Recht zugestand, Rezensionen zu schreiben, sicherte seinem Blatt eine besondere Art von durchgehender Autorität, die nicht so ohne weiteres aufzubrechen war, aber auch um so zerstörerischer wirken konnte, wenn sie Neuheiten gegenüber nicht aufgeschlossen genug dachte. Zum Vorteil gereichte dem Blatt seine Sprache. Niemals ist die Berliner in Arroganz ausgeartet, niemals ist sie unverschämt, bitter, anzüglich, gehässig geworden – und das machte sie so gefährlich, weil die Urteile formal richtig begründet, terminologisch richtig gefaßt, aber die Kompositionen unrichtig oder gar nicht, oder, noch schlimmer, nicht mehr als Werk, sondern als kulturpolitischer Gegenstand begriffen wurden. Marx konnte die spätere Erfahrung der Geschichte nicht kennen, daß nicht der vorgebliche ‚gute‘ Musiker über Erfolg und Mißerfolg einer Komposition allein entscheidet, sondern die größere Zahl der unstudierten, also dilettierenden Musikhörer mitstimmt, weil Wirkung, Anspruch und Gefallen von und an Kunst vom allgemeinen Lebensraum abhängen. Indem sich Marx gegen Kräfte sträubte, die Musik nicht hauptberuflich ausübten, führten die Korrespondenzberichte vor allem über außerberlinische Musikverhältnisse zu mitunter schon kurios wirkenden Interessenvertretungen. Die Außenkorrespondenz wurde zu einer der Schwachstellen der Marx-Zeitung. Versuche zur Verpflichtung seriöser außerberlinischer Berichterstatter schlugen vielfach fehl, weil die beiden Forderungen – Musiker-Beruf und Distanz zur Leipziger – nur bedingt zu erfüllen waren. Es kam zu Interessenkartellen, ohne daß Marx dies verhindern konnte. Gelegenheit und Zufall spielten eine große Rolle. Solange es sich um Berlin handelte, mochte er die Verhältnisse noch leidlich überblicken. Dagegen war er mangels geeigneter Nachrichtenagenturen, sich gegenseitig regulierender Konkurrenzblätter und überlokaler Presseunterneh-

152

5. Kapitel: Gegengründungen

men in allem Außerberlinischen ganz auf die Redlichkeit seiner Mittelsmänner angewiesen, die sich, wie wir heute feststellen können, vielfach als unzuverlässig erwiesen. Nachdem Marx nicht davon abzubringen war, nur Korrespondenten in führenden musikalischen Positionen als Schreiber zuzulassen und nach wie vor keine Mitarbeiter aus musikliebenden Laienkreisen verpflichtete, sah er sich bald gezwungen, seine Informationen mehr und mehr von Musikdirektoren und Theaterleitern zu beziehen, die sich die Gelegenheit nicht entgehen ließen, ihre eigenen Produkte und Produktionen äußerst günstig zu besprechen, während Marx nicht mehr in der Lage war, die wirklichen Zusammenhänge zu erkennen. Hinzu kamen schließlich noch seine Bewertungsmaßstäbe, die Marx als konsequenter Theoretiker von Bach und Beethoven abnahm. Auch wenn er mit hehren Worten das Gegenteil betonte, übersah er, daß andere Zeiten auch andere musikalische Sachverhalte schaffen mußten. So spitzte sich denn der merkwürdige Redaktionsstil allmählich bis zur Katastrophe zu: auf der einen Seite auswärtige Musikdirektoren, die personalpropagandistisch lauthals über ihre eigenen Unternehmungen berichteten, auf der anderen Seite Verkennung guter Zeitgenossen unter dem Schilde fachlich abgesicherter Rezensionen. Das zielte nicht nur gegen Spontini, sondern mehr noch gegen die französische Opernschule eines Isouard, Auber und Herold. Marx scheint sie geradezu gehaßt zu haben. Nichtsdestoweniger standen sie für ein künstlerisch vertretbares Genre. Dorn prophezeite ihm aus diesen Gründen ein baldiges Scheitern als Kritiker, und Dorn sollte damit Recht behalten(1). Marx wurde mehr und mehr zum retrospektiven Betrachter und ging schließlich sogar so weit, die Pflege zeitgenössischer Opern gänzlich zu verwerfen, um statt dessen die Neukultivierung des Händelschen Opernschaffens zu fordern, für den er wie für Bach mit manchmal reißerisch aufgemachten Artikeln focht. Er übernahm damit eine Vorkämpferrolle und blickte jedenfalls auf diesem Felde weiter als viele seiner Kollegen noch ein halbes Jahrhundert später. (1) Dorn, a. a. O. Cae VIII./31, 1828, S. 186.

5. Zur Methodik. Leitartikel 1824 a) Selbstortung als Programm. Musik und Politik Dabei hat mit Ausnahme nur noch der Zeit um 1848 keine deutsche Musikzeitschrift mit solch nachdrücklicher Hingabe am kritischen Problem gearbeitet wie die „Berliner allgemeine musikalische Zeitung“, die eine zeitschriftengeschichtlich einmalige Fülle an musikkritischen systematischen Abhandlungen aufweist. Allein im 1. Jahrgang sind es vier Artikel, deren Tendenzen sich von Jahrgang zu Jahrgang wiederholen und trotz mancher Verdunkelung durch ein zu redseliges Vokabular scharf genug heraustreten, um die Linie des Blattes erkennen zu lassen. Die erste Abhandlung dieser Art ist ein langer Fortsetzungsartikel „Ueber die Anfoderungen unserer Zeit an die musikalische Kritik; in besonderm Bezuge auf diese Zeitung“ [II,99]. Der Artikel stammt (wie nahezu alle Arbeiten dieser Art)

I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung

153

von Marx selbst. Bezeichnend für den Standort des Blattes ist schon der erste, Parallelen zwischen Musik und Politik ziehende Satz. Tatsächlich spielt die Politik von jetzt an auch eine Rolle in der musikkritischen Methode. Es paßte zum Charakter eines Adolf Bernhard Marx. Seiner politisch iberalen Gesinnung wegen erfuhr er niemals eine offizielle Ehrung, von einer Verdienstmedaille abgesehen, die ihm der König von Sachsen für seine Kompositionslehre verlieh. Marx hat sich, ähnlich wie Richard Wagner, wenn auch weniger radikal, 1848 ebenfalls politisch zu Wort gemeldet und unter anderem eine Arbeit über die Bedeutung der Wahlen verfaßt(1). Marx kämpfte in allen Bereichen um das unkontrollierte Wort, und dieser politisch motivierte Kampf spiegelt sich in seiner Musikzeitung. Der Artikel beweist, daß auch die Berliner Zeitung die Wendung vom kritischen Objekt zum kritisierenden Subjekt vollzogen hat. Das Urteil wird als zum Urteilenden gehörig gesehen. Im Urteil legt der Urteilende eine Probe seiner eigenen Urteilsfähigkeit ab und dieser hat sich in jenem zu bewähren, um damit zum Teil einer Fülle auseinander strebender Meinungen zu werden. Denn die Divergenz des Urteils als Grundsatzprogramm, so nachteilig sie sich auch immer wirtschaftlich auswirken mochte, war das aufregend Neue des Blattes. Hinzu kam, daß nach Marx der eine Kritiker oder die eine Institution einen höheren Beruf zum Urteilen hat als der oder die andere – gemeint sind die Berufsmusiker und die Musikzeitschriften, denen darzulegen aufgegeben ist, nach welchen prinzipiellen Vorstellungen sie ihre Aufgabe zu erfüllen gedenken, zumal Zeitungstendenz und Mitarbeiterstreben in der Regel nicht unbedingt in die gleiche Richtung weisen. Diese Voraussetzungen reichen aus, um den sich selbst widersprechenden Urteilsstil im Blatt zu begründen, den Marx herbeiwünscht, weil er nur darin das Wesen einer richtigen und verpflichteten Zeitschrift erfüllt sieht: „Der Verein der Mitarbeiter und des Redakteurs … ist ein so freier, wie irgend eine, wissenschaftlichen oder andern Zwecken gewidmete Gesellschaft. So wenig also der Redakteur sich anmassen wird, eine der seinigen entgegenlaufende Meinung um desswillen zurückzuweisen, so wenig er ferner nach diesem Grundsatze berechtigt ist, jede in seinen Blättern aufgenommene Ansicht als sein geistiges Eigenthum in Anspruch zu nehmen, und verpflichtet, sie als solches zu vertheidigen, ja, so sehr er im voraus und ein für allemal dagegen protestirt, dass jede, oder diese und jene Ansicht als sein künstlerisches oder wissenschaftliches Glaubens-Bekenntnis angesehen werde, bevor er sich dazu bekannt hat: so wenig wird man der Zeitung selbst aus dem Vorzuge, verschiedenen, sogar widersprechenden Ansichten Zugang zu gewähren, den Vorwurf der Inkonsequenz, des Widerspruchs und der gleichen machen dürfen“(2). b) Unparteilichkeit. Kritikerfrage gleich Standpunktsfrage Die „schönklingenden Redensarten von Unparteilichkeit, Unbefangenheit, Vielseitigkeit, Gründlichkeit usw.“ werden verworfen, abgewehrt auch die übliche Auffassung des Publikums vom Sinn der Rezensionen. Das eine persifliere sich nur selbst, das andere sei nichts als „eine höhere Gattung von Buchhändler-Anzeigen, Rathgeber bei ihren Einkäufen“. „Am wichtigsten ist ihnen die Klassifikation eines

154

5. Kapitel: Gegengründungen

Werkes in die hergebrachten Rubriken und die Angabe, unter welchen äussern Bedingungen der technischen Fertigkeit, des Ortes, der Zeit, ein Kunstwerk ausführbar sei“(3). Marx lehnt zwar die Unparteilichkeit ab, fordert aber die Parteilichkeit (noch) nicht, wie das im letzten Stadium der Entwicklung der Musikkritik zur Jahrhundertmitte hin geschehen wird. Dafür versteht Marx auch unter Unparteilichkeit keineswegs die Preisgabe interessengetragener Tendenzen, sondern Lauheit und Ausweichen vor der Erkenntnisfrage. Nach Marx muß sich der Kritiker des Sinngehaltes eines Kunstwerkes bemächtigen und sich anschließend ganz dafür einsetzen oder ganz dagegen aussprechen, was im Ansatz der späteren Brendelschen Parteikritik entspricht. Soziologische Gesichtspunkte geltend zu machen, vorsichtig zu prüfen, was wohl allgemein sich durchsetzen könnte, überhaupt – gleich in welcher Weise – einer Entscheidung auszuweichen, verwehrt Marx dem Kritiker. Gleichzeitig mit Gottfried Weber stößt Marx jenseits aller kantischen Bedenken zur Formulierung einer arbeitsfähigen Kritik vor, sieht aber noch nicht die Notwendigkeit der Einbindung der Kunstkritik in den Umweltzeitrahmen. Das wird erst Brendel gelingen. Die Kritik ist notwendig und sie muß geäußert werden. Kritik heißt Entscheidung und Urteilsbildung – Marx ist wie Weber Jurist, er drängt auf den Spruch und hat real-praktische Erwägungen im Sinn. Deshalb muß der Kritiker prüfen und sich dann entscheiden. Wie er entscheidet ist für Marx, anders als für Weber, gleichgültig. Urteil ist für Marx Zeitäußerung und deshalb dokumentationswürdig, gleich wie auch immer es sich ausspricht. Nur muß es entschieden erfolgen, klar formuliert, durchdacht und fachlich exakt sein, also nicht bloße Meinung über etwas, das man selbst nicht versteht. „Jede Bemühung, die nicht auf eine Läuterung, auf Erweiterung der Ansicht, auf eine geistige Bereicherung des Lesers abzweckt, muss dem Schriftsteller für nichtig und verloren gelten. Ein Urtheil, das nicht wenigstens die klare Erkenntniss des beurtheilten Gegenstandes giebt, das, statt uns das eigentliche Wesen desselben darzuthun, eine Reihe allgemeiner, überall anwendbarer, nirgends ausreichender Redensarten vorlegt, kann niemanden geistig fördern“ (4). Marx läßt schon die Urteilsprinzipien der kritischen Methode durch einen allgemeinen Erkenntnisakt bedingen, der vor Betrachtung eines Einzelkunstwerks vollzogen ist: „… die Ansicht, die jeder von diesem Kunstprinzip, von der Kunst überhaupt, gewonnen hat, ist die Grundlage zu seinen Urtheilen, und jedes derselben eine Anwendung seiner Ansichtsweise auf einen besonderen Fall. Mögen daher Urtheile über einzelne Gegenstände benutzt werden, um allgemeine Ansichten zu berichtigen; mancher für Kunstphilosophie und Kunstgeschichte wichtige Satz ist füglicher an einem einzelnen Falle darzuthun, manches einzelne Kunstwerk regt erst eine neue allgemeine Ansicht an und giebt Gelegenheit, einem ansehnlichen Theile des Publikums Wahrheiten anschaulich zu machen, es auf Ideen vorzubereiten, die es in der Allgemeinheit noch nicht zu fassen vermag. Möchte denn jeder Urtheilende streben, seinen Urtheilen den Charakter und Werth geschichtlicher Dokumente zu geben, nicht blos die beurtheilte Einzelheit umfassend, sondern auch den dermaligen Standpunkt allgemeiner Kunsterkenntniss fruchtbar berührend“(5). Marx setzt einen immanenten Standpunkt voraus und spricht nicht bloß von ei-

I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung

155

ner mentalen Verfangenheit des Kritikerurteils. Er trifft sich darin mit Nägeli und überholt Gottfried Weber. Nicht viel später wird man fordern, der Kritiker möge vor jeder Kritik seinen persönlichen Standpunkt mitteilen, damit der Leser das Urteil richtig einordnen könne und und auf diese Weise eine Fehlbeurteilung des Urteils als Über- oder Unterschätzung durch den Lesenden unterbleibe. Sogar einen dokumentarischen Standpunkt kennt Marx, eine Kritik, die sich bleibenden Wert sichere – auch das sollte später aufgegriffen werden, als sich nach und nach die sogenannte ‚höhere‘ Kritik absonderte, die dann nichts anderes mehr war als die musikwissenschaflliche Disputation. Von Standpunktskritiken sprach auch Nägeli, aber sie erklärten sich bei ihm aus den letzten Überbleibseln der rhetorischen Terminologie. Danach konnte jeder Kritiker jeden Standpunkt einnehmen, weil er mit dem Standpunkt als solchen ja nur eine jederzeit auswechselbare Methode an die Hand bekam, so, wie sich ein Kameramann der Wechselobjektive bedient, um das abzubildende Objekt mittels verschiedener Brennweiten in verschiedenen Größen aufnehmen zu können. Bei Marx jedoch ist der Standpunkt untrennbar mit der Psyche des Kritikers oder des Künstlers verbunden. Er kann ihn nicht abstoßen, wie er will, er trägt ihn als sein persönliches Schicksal mit sich. Lebenseinflüsse mögen ihn verändern, aber weil er nicht nur mental, sondern charakterlich mit dem Kritiker verbunden ist, bleiben seine kritischen Voraussetzungen immer dieselben. Damit wurde für Marx nur noch der Standpunkt eines Kritikers maßgebend, weil der dem Außenstehenden vor Augen führt, welcher kritischen Disposition ein Urteil vor allem Urteilen bereits unterworfen ist, sofern man die Marxsche Überzeugung teilt, daß der Standpunkt selbst schon über das Wesen dessen Auskunft gibt, der ihn vertritt. Aus der Standpunktsfrage mußte sich für Marx die Kritikerfrage schlechthin ergeben und redaktionspolitisch folgerichtig auch die Entscheidung, auf wen er für seine „Berliner allgemeine musikalische Zeitung“ als Korrespondent zurückzugreifen habe. Die Antwort, die er mit juristischer Pedanterie klassifiziert, mag eigentümlich wirken, paßt aber zum Marxschen System. Weder Gegner noch Anhänger eines Meisters, einer Schule, einer Schreibart kommen für ihn in Frage. Den Enthusiasmus für einen Künstler nennt er Liebhabereien, die vornehmlich dem jugendlichen Alter zuzuordnen seien und keinen Grund in der Sache, nur einen in der Person fänden. Der Enthusiast stoße im Laufe seines natürlichen Wandlungs- und Reifeprozesses seine Liebhaberei ab, weil sie ihn nicht mehr befriedige, und er wähle sich eine neue, und so fort, bis jenes Irren, an der Fülle der Erscheinungen gesättigt, wieder unter die Herrschaft der Reflexion falle. Es verbleibe ihm am Ende die Erkenntnis, kein Gegenstand könne allgemein, sondern jeder nur in einer bestimmten Art befriedigen, welche Erkenntnis nach Marx die erste Stufe der Urteilsfähigkeit ist. „Wir dürfen aus dieser Sphäre sehr Wertvolles, ja Vortreffliches erwarten von denen welchen es gelegen ist, ihre individuelle Auffassung eines Gegenstandes als harmonirend mit der allgemein menschlichen, oder wenigstens volksthümlichen Auffassungsweise und hierdurch als allgemeiner annehmbar, darzulegen. Was allgemein annehmbar ist, gilt uns für wichtig, beträfe es auch die kleinste Einzelheit. Es ist schon viel gewonnen, wenn man die Idee eines einzelnen Kunstwerkes, das Wesen, den Charakter eines Künstlers erkannt hat“(6).

156

5. Kapitel: Gegengründungen

Die Auffassungsfähigkeit ist dabei gruppenbedingt. Die einen kommen nie über die Grenze eines Gegenstandes hinaus, anderen gehe im Laufe des Lebens die Fähigkeit verloren, sich von neuen Dingen anregen zu lassen. Ist es mit einem Menschen erst einmal so weit gekommen, dann kann ihn nichts mehr vom Werte neuer Gegenstände überzeugen. Ein Kritiker muß dagegen in besonderem Maße rezeptive Fähigkeiten entwickeln, er muß sich in vorangegangene Epochen rückversetzen, sie noch einmal im Geiste durchleben können, um dann Rechenschaft von ihnen abzulegen. Es ist das ein etwas merkwürdiges Bekenntnis eines Mannes, der doch selbst in vielem den retrospektiven Kritiker verkörperte und den Beweis dafür lieferte, daß die intellektuelle Erkenntnis über das Grundlegende einer Sache keineswegs mit der intellektuellen Erkenntnis über das Vorliegende einer Sache übereinstimmen muß. „Wie wertvoll müsste uns das lebendig geschaffene Bild einer früheren Periode sein – und wie lehrreich! Wie ungenügend ist dagegen das unkräftige Bestreben des Alters, auf eine ihm geistig verschlossene, jugendliche Kunstperiode einzugehen, wie unbefriedigend das Urtheil über neue Kunstwerke aus einer Ansichtsweise, aus der sie nicht hervorgegangen sind!“(7) Die Eröffnungsfrage, wer denn nun urteilen soll, tritt für Marx zurück. In diesem Stadium scheint ihm die Propädeutik der Theorie die eigentliche Grundlage der Kritik zu bilden – er kommt damit seinen eigenen Fähigkeiten entgegen, ein Beispiel für den psychisch bedingten Standpunkt, den er selbst eben noch einnahm. „Alle bis jetzt berührten Leistungen geben jedoch nur Einzelheiten. Sie können uns nicht befriedigen; wir müssen vielmehr eines Ganzen uns bemächtigen, die Kunst als ein Ganzes aufzufassen suchen“(7). c) Musikkritische Propädeutik Die folgende Frage, ob die Theorie die Kunst als Ganzes begreifen könne, verneint Marx mit einer langen Beweisführung. Sie läuft auf die Behauptung hinaus, die alte Theorie habe sich nicht auf die Kunst als Ganzes, sondern immer nur auf einzelne Kunstwerke bezogen und diese dann, ungefragt ihrer Herkunft, als beispielhaft für die Zeit gesetzt. Dieses Verfahren wirft Marx der Leipziger „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ vor. Man habe Tonwissenschaft getrieben, Akkorde bestimmt, Systeme wie Diatonik, Chromatik und Enharmonik aufgestellt, Tongeschlechter wie Dur und Moll gebildet, die Akkorde auf Grundakkorde zurückgeführt, während Lautlehre und Rhythmus noch lange nicht erschöpfend behandelt worden seien. Das alles sei zwar nötig, könne aber nicht als Zweck an sich gesetzt werden. Marx hat über die alte Theorie im Widerstreit mit der neuen später ein eigenes Buch (1841) geschrieben, gegen das sein Leipziger Widersacher Gottfried Wilhelm Fink eine Gegenschrift verfaßte. „Neumusikalischer Lehrjammer“ heißt der höfliche Buchtitel, mit dem Fink das in der romantischen Aesthetik wurzelnde Bildungstheorie-Ideal von Marx zu zerpflücken suchte(8). Die Kritik an der alten Theorie diente Marx als Vorbereitung seiner eigenen, dem Logierschen System verwandten Tonsatzlehre.

I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung

157

Marx unterteilt die Theorie in Lehrbücher und philosophische Bücher. Beide kommen bei ihm schlecht weg. Die Philosophen sind ihm zu wenig Musiker, und die Musiker zu wenig Philosophen, als daß von ihnen etwas anderes als Mißverständnisse und gegenseitige Spöttereien zu erwarten seien. Wenn man sich wenigstens des Wesens der einzelnen Elemente in ihrer Sinnhaftigkeit bemächtigt hätte, wäre man halbwegs so weit gekommen, künstlerische Einzelleistungen zumindest einigermaßen sinnvoll zu besprechen. Das habe bis jetzt nur die Kunstgeschichte fertiggebracht. Winckelmanns Theorie der Bildenden Künste sei den musikalischen Künsten vorangeeilt. Winckelmann fand laut Marx die Gesetze des Schönen, Lavater versuchte, die des Wahren darzustellen, und die Musiker leisteten überhaupt nichts. Daraus zieht Marx die Schlußfolgerung, die ganze Theorie der Tonkunst sei falsch gehandhabt worden und das bei all der Mühe, die man auf sie verwendet habe. „Man ging nämlich nicht auf die Natur zurück, sondern begann mit der Betrachtung und Zergliederung von Kunstwerken, die man als ein Absolutes, keiner weitern Rechtfertigung aus jener Bedürfendes angesehen haben wollte. Diese Willkür zog einen zweiten Fehler in den ersten hinein: man griff behufs der Beobachtung hier und da nach Kunstwerken, ohne von etwas Anderm als dem Interesse der Anerkennung, das sie, oder ihr Schöpfer sich errungen, geleitet zu werden. Nun vermag aber nicht einmal das Genie in einem Kunstwerke die Natur ganz und vollkommen rein zu erfassen und darzustellen; der talentvolle, verständige Künstler mag viel Lobenswerthes leisten, ohne nur jenem nahe zu kommen – wie wollte man aus den durch einander geworfenen Leistungen beider die Natur und das in jener beruhende Wesen der Kunst erkennen? / So ist es erklärlich, dass man nicht das Wesen der Tonkunst, sondern statt seiner eine einzelne Eigenschaft und zwar die allen Kunstwerken allgemeinste zuerst erkannte und als höchstes Ziel ansah, ja ihre Erwerbung als das einzige unerlässliche Gebot aussprach. Ich meine den Wohlklang“(9). Wohlklang definiert Marx als „der wohlthuend anregende Eindruck, den der Anblick einer harmonischen, leichten, gesicherten Existenz in uns zurück lässt“(10). So sei es dazu gekommen, Werke höher zu bewerten, die dem Wohlklang und den aus dessen Erfordernissen abgelauschten Regeln folgten, als solche mit tieferer Aussage. „Die nun ihr System aus dem obigen Grundsatze gebildet und abgeschlossen hatten, verschrieen die Abweichungen von ihren Regeln als Verirrungen, geniale Ausschweifungen, auch wohl geniale Unwissenheit – bis sich die höhere Wahrheit wenigstens vor dem Richterstuhle des Gefühls Anerkennung erworben hatte“(10). Für Marx ist das nicht nur die Geschichte Mozarts und Beethovens gewesen, sondern die eines jeden Genies, das war, ist und sein wird. Später habe man die Abweichungen als Ausnahmen mit unter die Regeln gesetzt, ohne jemals die Unzulänglichkeit der Regeln im Grunde ihrer selbst zu erkennen und zuzugeben. Auf diesem Wege ließe sich jedoch niemals zu einer umfassenden und durchdringenden Beurteilung kommen. Marx sieht auch das Genie der Zukunft schon dazu vorverurteilt, unter der Fuchtel einer solchen Geschmackskritik zu leiden. Er sollte damit recht behalten.

158

5. Kapitel: Gegengründungen

d) Stufen der Urteilsbildung Es ist bezeichnend, daß Marx im Rahmen seiner Theorie und sicherlich auch in Weiterführung Nägelis mehrere Stufen der Urteilsbildung voraussetzt und damit historische Methoden der Kritik anklingen läßt, allerdings ohne sie vorerst begrifflich zu fassen. Die historische Anschauung wurzelt in der romantischen Kritikertheorie. Der Einzelkritiker, der sich in ein Kunstwerk zu versenken hat, um sich ihm auf seine Weise genial zu vermählen, muß sich in ein einzelnes Kunstwerk oder in eine ganze Epoche hinein versetzen können, so daß sich am Ende die historische Kritik, wie sie nach 1848 schlagwortartig begriffen und zum Thema aller musikkritisch-systematischen Erörterungen wurde, fast schon von selbst ergibt. Zuerst – so beschreibt Marx die beiden ersten Perioden der Tonwissenschaft – habe die Kunst nur Gestalten gebildet und die Theorie sich auf die Entwicklung der Gestaltlehre beschränkt, etwa auf die Tonsysteme. Dann sei die Kunst dazu übergegangen, schöne Gestalten und nicht mehr bloß Gestalten zu bilden, und die Theorie sei dem durch die Entwicklung der Stimmführungsgesetze gefolgt, die den Wohlklang bezweckten. Beides bleibe vorausgesetzt, wenn es die folgenden zwei Perioden zu durchwandern gelte. Das Fazit der Betrachtungen zwingt Marx zur Forderung nach historischer Beobachtung von Kunstwerken und verschiedenen Zeitstilen, um dadurch neue Gesetze aufzufinden. Damit bewegt sich Marx in eine Richtung, die in die Widersprüchlichkeit der kritischen Urteile weist und zur Essenz seiner gesamten kritischen Wirksamkeit wurde: „Haben nicht alle Kunstwerke, die sie uns überliefert, denselben Ursprung, dasselbe Ziel? Hat nicht überall und zu allen Zeiten der menschliche Geist gerungen, mit der Gesammtheit seiner Kräfte im Kunstwerke seine Anschauungen vom Menschen, vom Leben, von der Natur, seine Ideen – sinnlich darzustellen? Für keinen Künstler, für keine Kunstperiode giebt es eine andere Aufgabe. So stellt die Gesammtheit der Kunstwerke eine Geschichte des menschlichen Geistes und seiner Entfaltung zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten, in sinnlichen Bildern dar und wie der menschliche Geist seine Kräfte entwickelte, sein Gebiet erweiterte, so hat auch die Kunst stets neue Mittel und Werkzeuge sich geschaffen, ist stets zu weitern Gränzen vorgedrungen. // Der Kampf der Meinungen war überall und zu allen Zeiten nichts, als die lebhafte Bemühung jeder Parthei, die Anschauung, den Ideenkreis, der nach ihrer Natur und ihren Verhältnissen ihr nothwendig war, gegen den Andrang fremdartiger zu vertheidigen. Es war ein Streit, in dem jede Parthei Recht und Unrecht hatte; Recht nach der Aussicht von ihrem individuellen Standpunkte aus, Unrecht aus einem höhern, beide Richtungen beherrschenden Gesichtspunkte“(11). Marx drängt in Richtung eines Fortschrittsbegriffs vom steten Wandel der künstlerischen Werkzeuge bei gleichbleibendem Ideengut der Grundideen. An diesen Sätzen zeigt sich, daß Marx der eigentliche journalistische Vorläufer Schumanns war und warum sich beider kritische Programme in so vielem deckten.

I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung

159

e) Anspruch und Realität Ohne die Sache wirklich zu beschädigen ist die Marxsche Formulierung trotzdem ungeschickt gewesen. Seine unverhohlene Bereitschaft, zur „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ nur kämpferische Distanz zu wahren, hemmte. Deren inzwischen längst zum Gerede abgesunkene Behauptung, unparteiisch verfahren zu wollen, hatte nur den zweit- und drittrangigen Kräften Raum gegeben und würgten später selbst noch Komponisten wie Chopin und Schumann durch Bagatellisierung ihrer Arbeiten ab. In dem längst zur Zeitung der Mittelmäßigkeit gewordenen Organ war für das Außerordentliche kein Platz mehr. Nicht nur Marx haßte den Widerspruch zwischen Anspruch und Realität und spürte in der Phraseologie den schlecht überspielten Versuch, sich der Verantwortung zu entziehen und sich hinter einem philiströs gehandhabten philosophisch getarnten System zu verstecken. Andererseits war er, oder besser: war man damals noch nicht so weit, das unmittelbar parteigebundene Blatt mit eigener Ästhetik zu fordern, so daß Marx zwischen beiden auseinander strebenden Richtungen hindurch steuern mußte. Er verurteilte Parteilosigkeit wie Parteigebundenheit, mußte aber seinem eigenen System zufolge eingestehen, daß sich die Gegenwart richtig erst aus dem Gegeneinander der Zeitstimmen erkennen lasse. So suchte Marx seiner Zeitschrift dadurch eine Sonderstellung anzuweisen, daß er sie zum Austragungsort auseinander laufender parteigebundener Auseinandersetzungen machte und damit jeder Ansicht ein Forum eröffnete, sofern sie standpunktmäßig begründet erschien und nicht autoritär oder als Schulzwang auftrat. Marx sprach aus, eine Zeitung sei eben „kein abgeschlossenes, sondern ein sich fortbildendes Werk“(12)‚ und mit dieser Feststellung glaubte er zur Genüge den Tenor der Kunstkritik angegeben zu haben, der die „Berliner allgemeine musikalische Zeitung“ künftighin beherrschen sollte. Er wollte zur Erkenntnis bringen, was „jedes Kunstwerk und jeder Künstler wesentlich ist, welche Stelle sie in der Reihe der Kunstleistungen am meisten einnehmen, wie sich in ihnen das Kunstprinzip gestaltet, die Kunst als ein Fortlebendes entwickelt hat“(13)‚ wenn nötig mit Hilfe früherer theoretischer Leistungen, aber „die Fessel jedes Systems abschüttelnd“(13). f) Grundsätze nach 1824 Im dritten Jahrgang schickt Marx eine „Einladung an alle Freunde der Tonkunst zu musikalischer Korrespondenz“(14) [II,151]. Darin erklärt er seine Wünsche. Es sei schwierig, an allen bedeutenden Orten „Männer vom Fach“ für eine Korrespondenz zu finden. Er stellt drei Forderungen, die anschließend unter erstens bis drittens erläutert werden: Sie müßten auf Neues aufmerksam machen, sie müßten den Geist darstellen, der dort herrsche, „damit man den Einfluss des Ortskarakters auf die Musik und deren Rückwirkung erkenne und beachten lerne“, und sie „müssen die Gelegenheit wahrnehmen, an einzelnen Produktionen Ideen zu entwickeln, die sich eben in solcher Anknüpfung am klarsten und eindringlichsten darstellen lassen“(15). Die Texte müssen so geschrieben sein, daß sie „die Urtheilsfähigkeit und Gerechtigkeit des Berichterstatters darthun“, und wer ohne Namen schreiben will, „wird

160

5. Kapitel: Gegengründungen

es noch weit gediegener müssen.“ Die Schuld an gehaltlosen Berichten dürfe man nicht den Redaktionen anlasten. Eine Redaktion könne nicht mehr tun, als diejenigen aufzufordern, „die sich den Ruf der Tüchtigsten erworben haben.“ Deren Beiträge ließen sich dann nicht einfach zurückweisen. Zu Punkt 2 heißt es, dem Publikum sei mit trockenen Aufzählungen nicht gedient. Auch hier seien Redaktionen eher zu beklagen als zu verklagen, wenn sie noch niemanden gefunden hätten, der in der Lage wäre, aus der Vielfalt der Ereignisse das Wichtigste zusammen zu stellen. Anonym zugeschickte Beiträge werden nicht angenommen, doch wird den Berichtenden auf Verlangen Anonymität zugesichert. Zum dritten Punkt meint Marx, im Wirkungskreis einer Zeitschrift könnten gerade Betrachtungen, wie von ihm gefordert, lehrreich sein. Man habe ja noch kein „wahrhaftes Musiksystem“ und es wäre dringend an der Zeit, ein solches herzustellen – Marx zielt natürlich auf sich selbst. Der Punkt wird mit noch weiteren Hinweisen angereichert. Das Wichtigste für die gesuchten Korrespondenten dürfte der erste Satz im letzten Abschnitt gewesen sein. Dort wird erklärt, für Beiträge dieser Art im Auftrage der Verlagshandlung „nach Kräften honorirt“ zu werden. Er erinnert daran „für die, welche in ihren ökonomischen Verhältnissen Bedenken finden könnten“(16). Marx liebte das Wort „Standpunkt“. Seinen Standpunk legte er 1826 als „Standpunkt der Zeitung“ (17) [II,173] diesmal in einer Art von erheblich ausgedehntem Epilog fest. Er ordnet ihn unter drei Punkten. Der erste davon gilt dem Königstädter Theater, das mit dem königlichen Theater nichts zu tun hatte und nach anderen Gesichtspunkten geführt wurde. Ihm, so hatte Marx versprochen, wolle man sich widmen, und man sei diesem Ziel näher gekommen. Dem Königstädter Theater wurde neben vielem Kritischen eine besondere Qualität bei der Darstellung italienischer und neufranzösischer Opern nachgerühmt. Diese Opern müsse man kennen, um zu begreifen, warum sie nach Meinung von Redakteur und seinen Mitarbeitern „tief unter der Geistesbildung und dem wahren Kunstbedürfnisse unseres Volkes“ stünden. Der zweite Punkt beschäftigt sich mit dem „Musikunterricht in Beziehung auf allgemeine Volksbildung“, ein Marxsches Lieblingsthema, das von den anderen Musikzeitschriften nicht ernsthaft genug aufgeriffen worden sei. „Wäre die Tonkunst nicht bisher vorzugsweise dem ausschliesslichen Besitz der Begüterten vorbehalten, so hätte das schlechte Auswärtige nie solche Verbreitung auf Kosten des Bessern, was wir schon besitzen, gewinnen … können“(18). Den dritten Punkt behandelt er besonders ausführlich. Es geht um eine Reihe von Auseinandersetzungen, die sich auch in anderen Zeitungen abgespielt haben. Marx nennt den Streit um die Echtheit des Mozartschen Requiems, den Streit um Thibauts „Ueber Reinheit der Tonkunst“, eine eigene Besprechung der Aufführung von Grauns Passion durch Zelter, die er irrigerweise auf frühere Aufführungen übertrug (wofür sich Marx entschuldigt), um eine aburteilende Opern-Kritik in der eigenen Zeitung. Die Gegner Gottfried Webers oder Thibauts seien zu weit gegangen, wenn sie Weber oder Thibaut charakterlich in Frage stellten. Und selbst wenn die Charaktervorwürfe gestimmt hätten oder stimmen würden, wäre damit nichts über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Sache selbst ausgesagt. Marx betrachtet die Vertreter beider Parteien als ehrenwerte Personen, die sich von der Leidenschaft haben hinreißen lassen. Marx ruft zur „Duldsamkeit“ auf, sich ausschließlich mit dem Thema zu befassen

I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung

161

und alles Persönliche bei Seite zu stellen. „Doch genug, um die redlich das Recht Wollenden, wenn sie sich je vergessen haben, zu dem ihrer Würdigen zurückzurufen … Und so möge das neue Jahr neuen Eifer für die Sache und Frieden unter ihren Anhängern, auch bei der grössten Verschiedenheit der Ansichten, bringen“(19). Zu Beginn des sechsten Jahrgangs 1829 legte Marx erneut die „Grundsätze der Redaktion“ offen(20) [II,235]. Er katalogisiert sie in sieben Punkten: 1) Alle Musikverständigen und Freunde der Tonkunst sind zur Mitarbeit eingeladen, ihre Beiträge sollen für die Tonkunst gehaltreich sein, im Umfang der Wichtigkeit des Gegenstandes Rechnung tragen und auf die Raumbegrenzung der Zeitung Rücksicht nehmen; 2) Wer mitarbeiten will, muß den Nachweis einer erfolgreichen künstlerischen oder wissenschaftlichen Tätigkeit erbringen; 3) Werkbeurteilungen werden nur bei Lieferung eines Freiexemplars vorgenommen. Sollte allerdings ein Mitarbeiter eine Besprechung über ein nicht eingesandtes Stück liefern, ist dies der Redaktion auch recht; 4) Bei der Verteilung der eingesandten Werke werden solche Mitarbeiter ausgesucht, deren Ansicht mit den Ansichten des Verfassers möglichst harmoniert; 5) es wird keine Korrespondenz zugelassen, deren Verfasser sich der Redaktion nicht nennt. Auf Verlangen wird jedem die strengste Anonymität zugesichert; 6) Widerlegungen von Meinungen in anderen Blättern können nur dann aufgenommen werden, wenn sie vollkommen faßlich sind und der unter 1) genannten Tendenz der Zeitung entsprechen; 7) durch schriftlichen Vertrag ist die Unabhängigkeit der Zeitung gewahrt und jede Einmischung durch den Verleger ausgeschlossen. Durch einen neuen schriftlichen Vertrag ist auch das Arrangement mit den Mitarbeitern ganz dem Redakteur überlassen. Der Mitarbeiter muß sich dem Verleger gegenüber nicht nennen und keine weiteren Verhandlungen mit ihm führen. Das gilt auch für die Honorarzahlungen, die vom Verleger „auf blosse Anweisung vom Redakteur erfolgen“(21). (1) Adolf Bernhard Marx: Der Ruf unserer Zeit an die Musiker, NBMz 1848/20; Marx: Unsre Wahlen. Die wichtigste Tagesfrage für jeden patriotischen Preußen, Berlin 1848; Marx: Berufung und Beruf des Landtags. Ein Wort zur Verständigung und Einigung an meine Mitbürger, Berlin 1848; (2) Anfoderungen, a. a. O. S. 3a; (3) Anfoderungen, S. 3b; (4) Anfoderungen, S. 3b; (5) Anfoderungen, S. 4a; (6) Anfoderungen, S. 9b; (7) Anfoderungen, S. 10a; (8) Marx: Die alte Musiklehre im Streit mit unserer Zeit, Leipzig 1841; Fink: Der neumusikalische Lehrjammer oder Beleuchtung der Schrift: Die alte Musiklehre im Streit mit unserer Zeit, Leipzig 1842; (9) Anfoderungen, S. 17a–b; (10) Anfoderungen, S. 17b; (11) Anfoderungen, S. 18b–19a; (12) Anfoderungen, S. 19b; (13) Anfoderungen, S. 19a; (14) Marx: Einladung, BamZ III/9, 1.3.1826, S. 65a–67a; (15) Einladung, a. a. O. S. 65a; (16) Einladung, S. 67a;

162 (17) (18) (19) (20) (21)

5. Kapitel: Gegengründungen Marx: Standpunkt, BamZ III/52, 27.12.1826, S. 421b–424b; Marx, Standpunkt, a. a. O. S. 422b; Marx, Standpunkt, S. 424b; Marx:Grundsätze der Redaktion, BamZ VI/1, 3.1.1829, S. 7a–8b; Marx, Grundsätze, a. a. O. S. 8b.

6) Nachschau Methodik. Der Epilog 1824 a) „Standpunkt“ Marx. Wertung Leipziger Allgemeine musikalische Zeitung Ebenso umfangreich wie der Leitartikel ist der Epilog zum ersten Jahrgang 1824 „Andeutung des Standpunktes der Zeitung. / (Als Epilog)“ [II,124]. Er sollte neuerlich den ‚Standpunkt‘ der neuen Musikzeitung festlegen. ‚Standpunkt‘ wird ohnehin mehr und mehr zum Schlagwort, das sich nach 1848 als „überwundener Standpunkt“ zum begrifflichen Streitgegenstand entwickelt. Was er im Prolog gleichsam nur mittelbar als gegen die „Allgemeine musikalische Zeitung“ gerichtet ahnen ließ, spricht er jetzt unumwunden aus. Nach einer eher fragwürdigen, historisch gehaltenen Einleitung über die Kritik in der Zeit bis 1798 begreift er das Leipziger Blatt, wie es damals üblich zu werden begann, aus dem Geist der Mozartzeit. Die Aufgabe der Leipziger Zeitung habe darin bestanden, das Vorhandene und Vollendete einer abgeschlossenen Epoche als Grundlage zu nehmen und populär zu machen. Die Leipziger habe diese Aufgabe erfüllt – ein auf Rochlitz, nicht auf Fink gemünztes Kompliment! – und insbesondere Norddeutschland auf eine geistig höhere Stufe der Musikkultur gehoben. Wie weit sie dann allerdings dem Fortgange der Tonkunst über die mozartsche Periode hinaus gefolgt sei, gezieme der jüngeren Zeitung der älteren gegenüber nicht festzustellen – eine keineswegs unbemerkt bleibende Spitze gegen die ungeliebte Konkurrenz. Fink wird ihm die Kritik heimzahlen, wenn er gegen das Theoriebuch von Marx polemisiert und damit die längst persönlich gewordene Auseinandersetzung auf eine andere, ihm näher liegende Ebene verschiebt. Geschickt spielt Marx die veränderten Zeiten aus, weil er ja den Nachweis erbringen muß, nicht mehr die alte, ehrwürdige Leipziger, sondern seine „Berliner allgemeine musikalische Zeitung“ sei jetzt das eigentliche Organ der Gegenwart. Unter anderen, nämlich – das steht im Hintergrund – ungleich ungünstigeren Umständen ins Leben gerufen, hätten sich die Umstände nachher unerwarteterweise als günstig erwiesen. Jetzt, also 1824, lebe man in der Zeit einer noch werdenden Periode der Tonkunst. Diese neue Tonkunst vorzubereiten, sei die schwierigere und wichtigere Aufgabe einer jeden musikalischen Zeitung. Während also die alte Leipziger nur sichten, bewahren und popularisieren mußte, muß die neue Berliner einem noch Ungeborenen zum Leben verhelfen – das will Marx sagen. Hier deutet sich in Umrissen der Prioritätsanspruch der späteren Berliner Musikkritik der vierziger und fünfziger Jahre gegenüber dem praktischen Kunstwerk mit der Vorstellung an, die Musikkritik sei dazu berufen, dem Künstler den Weg anzuweisen. Marx zufolge hat sich die Leipziger im Sinne der Formalkritik auf altes Regelwesen, auf Konventionen stützen können, auf eine Harmonielehre, die des sogenannten Wohlklangs wegen mit einer Serie negativer Regeln, gemeint sind

I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung

163

Verbotsregeln, ausgestattet worden sei. Daß eine solche Theorie negativer Regeln, von Vorschriften darüber, was man alles nicht tun dürfe, „unserer Kulturperiode, in der // die Geister sich so kräftig aus dem Negativen zu dem Positiven erheben, nicht mehr genügen kann, bedarf keines Beweises“ (1). Marx verlangt positive Regeln und fand sie bei Logier, dem er als Theoretiker folgte. Damit sah er seiner Zeit die Aufgabe gestellt, „einen grossen Theil unserer Ansichten erst neu zu begründen und erst unsern allgemeinen Grundsätzen Eingang zu verschaffen, bevor wir für die Resultate daraus, für unsere Urtheile, Beistimmung hoffen dürfen“(2). Vor allem jedoch sucht Marx zu beweisen, eine Scheidung zwischen Technischem und Geistigem in der Musik sei deshalb unstatthaft, weil nun einmal alles Musikalische, und damit auch das Technische, einen geistigen Ursprung habe. Er beschuldigt Rameau und Euler, mit ihrer Verlagerung der musikalischen Wissenschaft auf die mathematische Seite die irrige Meinung gestützt zu haben, es gebe an der Musik etwas, das nicht vom Verstand, sondern nur von der Empfindung begriffen werden könne. Was Marx ausspricht, ist eine Art der Formulierung über den Einbruch des Geniebegriffs, wie er Ende des vorangehenden Jahrhunderts die philologische Musikkritik erschütterte und widerlegte. Die Tonkunst sei um Gegenstände erweitert worden, die man vordem nicht einmal zu denken, geschweige denn zu komponieren gewagt habe. „Die Ideentiefe, in Beethovens Kompositionen, der neue Reichthum von Klangkombinationen in seinen Symphonien, seine kühn nach neuen Beziehungen umgreifende Modulation – die großartige Einheit, die früher unerhörte Leidenschaft in Spontini’s Opern – diese Flora geistreicher Züge in Webers Kompositionen, sein kühnes und reich ausgestattetes Streben nach einer früher nicht erreichten Karakteristik – selbst die üppige Sinnlichkeit Rossinis und die witzigen Arbeiten der Franzosen – // deuten sie nicht auf noch höhere, alles vereinende, alles überbietende Leistungen, auf eine noch nicht vollendete höhere Periode der Tonkunst?“(3) b) Die höhere Periode der Tonkunst. Gegenwart aus Vergangenheit. Nationalstolz Die neue und höhere Periode der Tonkunst, so wie Marx sie nun sah, legte Verpflichtungen auf, mit modernen Mitteln tieferer Forschungen in das Wesen der Kunst und damit vor allem in das der neuen Kunst einzudringen. „Es kömmt darauf an, ein Entstehendes zu fassen und zu fördern, es ist in der Tonkunst, wie überall, die Aufgabe der Zeit, sich selbst zu begreifen“(4). Aus diesen Zeilen spricht Leidenschaft, um nicht zu sagen Besessenheit, und sie offenbaren gleichzeitig jenen unverbrüchlichen Glauben an die musikalische Zukunft, auf den später Robert Schumann seine neue Leipziger Zeitschrift gründen konnte. Für Marx war die Geschichte der neuen Musik gleichzeitig eine solche der alten Musik. Wenn man sich um das Wesen der Tonkunst schlechthin bemühe, werde mehr und mehr auch auf die alte Musik Licht fallen – davon war Marx überzeugt. Vollständig befriedigend werde nämlich die Gegenwart nur aus ihrer eigenen Vergangenheit begriffen, und wenn auch jede Zeitung in erster Linie der Gegenwart zu dienen gegründet werde, so dürfe doch der „Rath und die Lehre“ der Vergangen-

164

5. Kapitel: Gegengründungen

heit nicht vernachlässigt werden. Der in der poetischen Literatur längst vollzogene romantische Einheitsgedanke der Künste vermählte sich also mit der speziellen Bildungstheorie, die den Pädagogen Marx kennzeichnet und auf den alle seine Gedanken zuliefen. Auch darin unterscheidet sich die Berliner von der gewohnten Leipziger Sprache, daß in ihr ein Nationalstolz zu wachsen beginnt, der bald zum unverhüllten Angriff vor allem auf die französische Kunst antreten sollte, also weit vor den vierziger Jahren und dem Erscheinen der Karlsruher „Oberdeutschen Zeitung“. Immer wieder verglich Marx Deutsche zu deren Gunsten mit Italienern, Franzosen und Engländern. Schon zu Beginn des ersten Jahrgangs veröffentlichte er eine Reihe gestellter Briefe aus dem Ausland, die es ihm ermöglichten, seine Verachtung gegenüber fremder, angeblich banaler Kunstvorstellungen zu äußern. „Sir, / ich mache mir zwar nichts aus der Musik; denn in unserer Staats- und Handelsverfassung wüßte ich nirgends etwas mit ihr anzufangen. Damit aber in dem Zeitlaufe Ihres Blattes meinen Landsleuten auch in dieser Sphäre nicht der Ruhm entgehe, weise ich ihnen hierbei 600 Pfund an, für die Sie mir eine Partie Musiker anher spediren wollen, die dann hier naturalisirt werden. / Zugleich mache ich Ihnen bekannt, daß ich einen Preis auf die Erfindung eines durch Dämpfe getriebenen Orchesters gesetzt habe zur Ersparnis der vielen Musiker, die nützlicher auf der Flotte, oder in den Komptoirs angestellt werden können“. Diese Probe aus dem kurzen Brief angeblich eines Engländers bedarf keines Kommentars(5). Marx wurde in der Bekämpfung der von ihm als Machwerke empfundenen italienischen und französischen Opern nicht müde und bediente sich auch des Mittels der Satire. So ließ er 1829 zwei fingierte Briefe veröffentlichen, die das ausufernde Virtuosentum und die französische Oper bloßstellen sollten(6) [II,248; II,249]. „Ist der Fürst freudig gestimmt, so nimmt man Theil an seiner Freude, und – tanzt; wenn er traurig ist, sucht man ihn aufzuheitern und – man tanzt. Ich weiss nicht, ob es Mode ist an(7) Hofe, den Königen einen Ball zu geben, wenn sie übler Laune sind… . Doch es giebt noch ganz andere Veranlassungen zu tanzen. Die feierlichsten Handlungen des Lebens werden mit Tanzen abgethan. Die Priester tanzen, die Soldaten tanzen, die Götter tanzen, die Teufel tanzen, es wird getanzt bis ins Grab, und Alles tanzt bei Gelegenheit von Allem“(8). Die Marxsche Zeitung hat den außergewöhnlichen Erfolg von Meyerbeers „Robert der Teufel“ nicht mehr erlebt, sonst wäre gewiß noch der Tanz der aus ihren Gräbern auferstehenden Nonnen mit thematisiert worden. In einem Korrespondenzbericht aus Dresden aus dem Jahre 1830 verlangte Spazier „Ist es nicht heilige Pflicht, im Vaterlande sich der eignen Künstler kräftig anzunehmen?“(9) [II,263]. Spazier bricht eine Lanze für Lindpaintner, der, wie Marschner, einen „Vampyr“ komponierte, mit der einfacheren Gestaltung seiner Oper jedoch nicht gegen Marschner ankommen konnte, weil Marschner „dem Geschmack des Tages so gehuldigt, und, … so viel schriftstellernde Freunde hatte?“(9) Lindpaintner habe seinen Plan sechs Monate vorher in der „Leipziger Zeitung“ bekanntgemacht, und kaum war er bei der Ouverture, erfuhr er von Marschners Arbeit. Über diesen Vorfall lag (nach Spazier) Lindpaintner sechs Wochen krank

I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung

165

darnieder. „Wie es mit dieser Kollision zugegangen, wer den Text zuerst sich ausgewählt, ist noch unbekannt“(9). Marx will 1830 in ganz Deutschland „ein Ringen und Streiten des vaterländischen Sinnes“ erkennen(10) [II,259]. Er spricht gegen die ‚Einmischer‘, wie er sie nennt. „Sie möchten vorerst jedes Wort gegen das Fremde als eine Aeusserung inländischer Missgunst ansehn“. Dabei gehe es ihnen nur um „schreierisches Bethun und Aufrechthaltung ihrer Privatgelüste“. Kein Volk sei anderen Völkern gegenüber so aufgeschlossen wie Deutschland, ganz anders als Italiener, Franzosen und Engländer. c) Ziel Bildungsreform. Marx als Pädagoge Der Epilog 1824 dient mit dürren Worten als Bestätigung. Vor allem der Schluß seines Artikels zeigt Marx als künftigen Erzieher, wie ja sein Lebenswerk folgerichtig auf die Arbeit an einer grundlegenden Bildungsreform des ausübenden Musikertums und hörenden Publikums zulief. Marx sieht sich weniger als Kritiker denn als Lehrer. Seine Zeitung will sich der Erziehung des Publikums widmen, sie will die Menschen – wie E. Th. A. Hoffmann ein Jahr später in der „Caecilia“(11) [II,138] – zum richtigen Hören bringen. Seiner Meinung nach ist dem Künstler nichts ersprießlicher als zu beobachten, wie Vorurteile ausgeräumt, Achtsamkeit begründet werden. Ein gehaltvolles Kunstwerk mache sich nicht von allein geltend, setze sich nicht von allein durch. Gerade die besseren Leistungen in der Kunst stünden dem Publikum zu ferne, um sofort begriffen und gewürdigt zu werden. Marx zieht den Vergleich mit Shakespeare. Er merkt an, wie vieler Vorarbeiten es bedurft hätte, um Shakespeare dem Publikum bekannter zu machen. In demselben Sinne müsse noch vieles geschehen, ehe Beethovens Bedeutung von der Öffentlichkeit richtig gewürdigt werden könne. Das läge nicht an der Mangelhaftigkeit der Künstler, sondern an der mangelhaften Bildung der Hörer. In den kommenden Jahren soll seine Zeitung helfen, den musikalischen Bildungsgrad des Publikums zu erhöhen. Wie recht Marx hatte, zeigen die streckenweise in unfreiwillige Komik ausartenden Zwischenfälle um den letzten Beethoven, zeigen Wagners Schwierigkeiten, im Jahre 1846 in der sächsischen Residenz Dresden Beethovens bis dahin von Publikum, Fachwelt und Kritik abgelehnte 9. Symphonie aufführen zu dürfen. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10)

Marx, Epilog, BamZ –/62, 29.12.1824, S. 444b–448b, Z: 446a; Epilog 1824, S. 446b; Epilog 1824, S. 447a–b; Epilog 1824, S. 447b; BamZ 1824/2, S. 12b–12a. Der Artikel besteht aus fingierten Briefen je eines Italieners, eines Franzosen und eines Engländers, Z:12a; BamZ VI/22, 30.5.1829, S. 174–176a; VI/24, 13.6.1829, S. 189a–189b; Originalschreibung; BamZ VI/24, a. a. O. S. 189; BamZ VII/18, 1.5.1830, S. 141a–144a, Z:143b; BamZ VII/5, 30.1.1830, S. 33a–33b;

166

5. Kapitel: Gegengründungen

(11) E. Th. A. Hoffmann: Gedanken bei dem Erscheinen dieser Blätter, Caecilia III/9, [Juni] 1825, S. 1–13 [II,138].

7. Parteienzeitung Unter diesen Voraussetzungen sah sich Marx genötigt, das Verhältnis KünstlerKritiker von Grund auf anders zu bestimmen. Er deutete den Parteigegensatz im kritischen Handwerk nicht nur als fruchtbringend notwendig für jedes blühende geistige Leben, sondern auch als natürlichen Prozeß im Ablauf der Geschichte. So war er gezwungen, die Bitternis einer gegen den einzelnen Künstler gerichteten und möglicherweise auch von ungerechtfertigt motivierten Parteigegensätzen getragenen Aburteilung von seinem höheren kritisch-historischen Standpunkt aus abzuschwächen. Was für oder gegen einen Künstler geschrieben wurde, erschien ihm weniger wichtig als die Tatsache, daß überhaupt über ihn geschrieben wurde – auch darin nahm Marx bereits Erkenntnisse späterer Informationsspsychologie vorweg. Marxens Überlegungen wurden mit den Konservatoriumsgründungen aufgegriffen. Die Forderung nach sachgerechter Unterrichtung mündete in die Parteierziehung im Sinne einer einzelnen Richtung, mochte sich diese nun rückschauend oder fortschrittlich geben, und sie ließ die Parteizeitungen entstehen, deren erste Schumann ins Leben rief. 8. Neuorientierung 1825. K. Schirmer Die erforderliche Neuorientierung der Musikkritik übernahm Anfang 1825 K. Schirmer mit einem Aufsatz „Welche Geltung kann die Beurtheilung ihrer Werke für Künstler haben?“(1) [II,126]. Schirmer scheidet bei seinen Betrachtungen persönliche Eitelkeit als Motiv für den Wunsch nach öffentlicher Beurteilung aus. Das ist Wunschdenken; denn der Geschichtsverlauf zeigt ein anderes Bild vom hier verherrlichten Künstler. Doch gibt es nach Schirmer keine Idee und keine noch so ausschweifende Phantasiegestalt, die so neu wäre, daß sich ihre Keime nicht geschichtlich nachweisen ließen. Insbesondere das Kunstwerk wird wie das Kind von der Mutter in einem organischen Prozeß geschaffen, der als körperliche und geistige Einheit verfließt. Nun ist es, so Schirmer, die Eigenheit alles Geschaffenen, nicht für sich allein bestehen zu können. Daher drängt auch der Künstler nach Mitteilung. Die Idee des Künstlers ist nicht das Kunstwerk selbst, seine Schriftzüge sind noch nicht das Leben des Werkes. Es muß erst den Kontakt aufzunehmen verstanden haben, im menschlichen Gesamtleben zum Glied in jener Ideenkette zu werden, an der sich der menschliche Geist fortleitet – „geistig erzeugt aus dem Leben, muß es im Leben bestehen und Leben weiter erzeugen: dann erst ist die Intention des Künstlers erfüllt, sein Schaffen in seinem Werk ihm bewährt“(2). Öffentlichkeit ist für den Künstler und seine Schöpfung notwendig; nur in ihr leben und bedeuten er und sein Werk etwas. Suche der Mensch schon für jede einzelne von ihm entwickelte Kraft

I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung

167

einen dazugehörenden Wirkungskreis, so sei es gerade dem Künstler unentbehrlich, seine Schöpfung leben zu sehen, weil sich in ihr die Gesamtheit seiner geistigen Kräfte bewähren müsse. Auf diese Weise sprach Schirmer den Boykott als den eigentlichen Unglücksfall für einen Künstler an und erkannte ein Verfahren, das erst von der Publizistik späterer Zeit als typisches Verhalten einer faschistoiden Gesinnung benannt wurde. Mehr als hundert Jahre später wird der Boykott zu einem nationalsozialistischen und stalinistischen Prinzip zur Ausschaltung nicht genehmer Meinungen und Tatbestände. „Der wahre Gegner des Künstlers ist daher nicht der, welcher sein Werk angreift, sondern welcher ihm den Weg zur Oeffentlichkeit zu verschließen trachtet, und ein Künstler, gegen den dies allgemein gelänge, würde vernichtet sein“(2). Kommunikationsnotwendigkeit (später wird man darunter einen Teil von Werbung verstehen) als das Lebenselixier des Künstlers schlechthin rechnet nicht mehr das gut oder schlecht einer Kritik nach, sondern allein deren Existenz und höchstens noch deren Umfang. Den Zwiespalt zwischen Künstler und Kritiker löst Schirmer mit der Feststellung auf, ein derart aus der Gesamtheit des Lebens hervorgewachsenes Werk könne niemals anders als auch mit der Gesamtheit aller lebendigen Kräfte richtig erkannt [Schirmer schreibt: „empfangen“] werden. Jede andere, also partikulare Auffassung, töte im Menschen die Idee des Kunstwerks und beweise dem Künstler, daß sein Werk nicht seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt und also nicht verstanden worden sei. „So gewiß demnach auf der einen Seite auch das unbegründete Gerede unkundiger Korrespondenten, der laute Beifall der Menge, als Ausbrüche eines unbewußten Gefühls, dem Künstler keine volle Genugthuung gewähren können: so gewiß muß auf der andern Seite ein begründetes Urtheil, schon nach der Form zunächst das Erzeugnis der Reflexion, in dem Künstler eine Art von Befremden, das Vorurtheil erregen, daß hier die Reflexion für sich allein erfassen und darstellen wolle, was nicht blos aus ihr hervorgegangen ist“(3). Schirmer will, daß sich die Schwierigkeiten aus der Funktion ergeben. Das Kunstwerk ist nach Schirmer nicht geschaffen worden, um von einem Kritiker beurteilt zu werden, sondern für ein geistiges Leben und zum Genusse. Die Rezension hingegen muß sich deshalb auch dem Werk gegenüber so unbehaglich fremd gebärden, wie, so vergleicht Schirmer, ein überscharfer Beobachter in einer harmlosen Gesellschaft unwillkommen wirkt. Weil nur dem Künstler selbst die Gesamtheit der Auffassung seines Werkes so möglich ist, wie sie im Hervorbringen des Kunstwerkes vorhanden war, muß daraus geschlossen werden, daß der Künstler sein eigener bester Kritiker sein werde, eine Ansicht, die sich zwei Jahre später auch bei Bührlen (vermutlich, der Text ist anonym) findet, wenn es heißt, der strengste Kritiker sei der redliche Künstler sich selbst(4) [II,194]. Das Schwergewicht dieser Sentenz liegt auf dem ‚redlich‘. Ein solcher Spruch ließ sich, bedenkt man die typischen Künstlereitelkeiten voreinander und Künstlerstreitigkeiten untereinander, schnell zu einem billigen Schlagwort ummünzen, wenn er auch, was das Kunstwerk, nicht die Wirkung anbelangte, richtig war. Beifall kann dem Künstler schmeicheln, Gleichgültigkeit oder Tadel ihn verwunden; gleichzeitig kann ihm der Beifall kein sicheres Bewußtsein geben, auf dem richtigen Wege zu sein, und der Tadel kann ihn nicht vernichten, nur „in sich selbst kann er erkennen, ob sein

168

5. Kapitel: Gegengründungen

Streben ein wahrhaftes oder ein erlogenes ist. Was er in strenger Selbst-Prüfung über sich ausspricht, das allein gilt – ihm und früher oder später“ auch der Welt(5). Wie Bührlen annähernd zur gleichen Zeit kommt Schirmer zu dem Schluß, jeder Künstler stehe letzten Endes allein da und müsse sehen, wie er mit seiner eigenen Situation fertig werde. Die Zusammenhänge begründen ihm, warum nachgerade jedes Urteil, gleich an welchem Kunstwerk, vorbeizielen muß; denn so begreifen, wie es gedacht war, kann es nur der Künstler selbst. Der Kritiker hingegen verfolgt immer seine eigene Bahn und bietet Standpunkte an, die dem Künstler zwar die Möglichkeit der Selbstüberprüfung geben, ihn in seiner Künstlerexistenz aber niemals erreichen und damit auch nicht gefährden können. Schirmer vollendet die kritischen Vorstellungen von Adolf Bernhard Marx mit der Schlußfolgerung, nur die Vielfalt aller Meinungen aus den verschiedensten Blickwinkeln über einen Gegenstand der Kunst erreicht ein Kunstwerk, wenn sich schon dessen inhaltliche Wertschwere nicht ermitteln läßt. Um das geistige Leben, um Atmosphäre und Lebensluft zu gewährleisten, die der Künstler für sein Schaffen braucht, ist eine Vielfalt der Anschauungen notwendig, mit der allein die Frage zur Entscheidung ansteht, ob ein Künstler zur Kenntnis genommen und damit für diskussionswürdig befunden wird, und nicht, ob die Mehrzahl der Meinungen für ihn günstig oder ungünstig ausfällt. (1) (2) (3) (4) (5)

BamZ II/2, S. 9–11; II/3, S. 17–18, 1825; Schirmer, a. a.0. S. 10b; Schirmer, S. 11a; –: Mancherley, AmZ XXIX/46, S. 781, 1827; Schirmer, a. a. 0. S. 17b.

9. Meinungsvielfalt als kritisches Prinzip. Zum Satz vom Widerspruch a) Setzung und Gegensetzung Schirmers Ansichten und die von Marx beruhen auf der Kritikererfahrung, daß zu jedem Gegenstand die kritische Distanz mit dazugehört, daß jede Setzung die Gegensetzung erfordert und die Gegensetzung in demselben Augenblick geschaffen wird, in dem auch die Setzung erfolgt. Jeder künstlerische Gegenstand schafft mit seiner Existenzwerdung seine eigene Kritik mit, und damit wird die Kritik selbst zu einem Stück des Kunstwerkes. Es würde dieser Marx-Schirmerschen Anschauungsweise nur menschliche Unreife verraten, wenn sich ein Künstler über etwas ereiferte, das doch aus dem eigenen Produkt als Korollar hervorgegangen ist. An dieser Iebensnahen kritischen Methodik ist die Auffassung vom kritischen Gegenüber als einer in der eigenen künstlerischen Struktur einbeschlossenen Konsequenz etwas Neues. Sie vermag darüber hinaus dem Künstler als mentale Kontrolle zu dienen. „Jede läßt sich auf einen Grund zurückführen, an dem der Künstler sein Werk zu prüfen, sich selbst deutlich zu machen hat, welchen Ansprüchen genügt sei, oder noch genügt werden müsse. Nicht der Ausspruch also des Urtheilenden, die Auffassung des Werkes durch ihn, sondern die Ansichtweise, die dem Urtheile zum

I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung

169

Grunde liegt, haben dem Künstler wesentliche Bedeutung: sie muß er zu erkennen streben, um an ihnen seine Tendenz und seine Reife dafür zu prüfen. Schwäche der Urtheilskraft oder Trägheit nur kann den Künstler von diesen Anlässen zur Selbstprüfung zurückziehen und so undenkbar es ist, daß alle die verschiedenen Ansichtweisen, aus denen Urtheile hervor gehen, von dem Künstler, gegen den sie sich erheben, als richtig und // anwendbar angenommen werden: so gewiß ist es der Beweis irgendeiner Schwäche im Künstler, wenn er sich durch eine abweichende Ansichtweise beunruhigt, oder verletzt fühlt. Der Unkräftige geht in einem solchen Konflikt unter, der Stärkere geht hervor aus ihm mit erhöhter Kraft“(1). Mit solchen Betrachtungen suchte Marx seinen besprochenen Künstlern bewußt zu machen, daß die vielen ‚schlechten‘ Kritiken in der „Berliner allgemeinen musikalischen Zeitung“ als Bewertung so gut wie nichts zu sagen hätten, weil sie doch nur mögliche Standpunkte darlegten, die sich zu einem künstlerischen Gegenstand einnehmen ließen. Marx empfand also die vor allem später so scharf ausfallenden Urteile seiner Zeitung nicht etwa als unzulässige Fehlurteile, die den Charakter und den Ruf seines Blattes herabzusetzen geeignet waren, sondern einfach als Beiträge zum geistigen Leben seiner Zeit. Er kam damit dem modernen publizistischen Standpunkt nahe. Was er nicht bedachte, waren die Suggestivkraft des gedruckten Wortes auf und für die Leser und die Befindlichkeit derjenigen, an die er sich wendete und die seine Gedankengänge nur dann nachzuvollziehen gedachten, wenn sie sich auf andere, nicht auf sie selbst bezogen. Ob Marx oder Schirmer Hegelianisches Gedankengut aufgenommen haben, ist bislang nicht thematisiert worden. In den Marxschen Artikeln taucht der Name Hegel nicht auf. Doch wenn Marx ein Urteil, sei es aus der Regel oder aus dem Geschmack, verwirft, sofern es den Anspruch erhebt, die reine Wahrheit zu sein, und die Gegensetzung fordert, die mit demselben Rechtsgrund zu einem anderen oder sogar ganz anderen Ergebnis gelangt, dann stellt er den Satz vom Widerspruch in Frage. Pluralismus kann mit dem Satz vom Widerspruch nicht mehr viel anfangen. Man mag ihn, wie Hegel, philosophisch, oder, wie Marx, mit Hegelschem Gedankengut, aus musikkritischer Erfahrung künstlerisch aufheben: das Ergebnis bleibt dasselbe. Bei Hegel führen die Widersprüche zu einem neuen Ergebnis, bei Marx bleiben sie unauflösbar nebeneinander bestehen. Als man in Langes „Neuer Berliner Musikzeitung“ zwanzig Jahre später unter nun tatsächlich Hegelianischem Einfluß den Fortschritt als Selbstvollendung einengte und dem Kritiker eine Rolle der absoluten Entscheidungshoheit zuwies, zeigte sich erst, wie weit man hinter Marx zurückgefallen war. b) Kampf gegen Fehlurteil aus Willkür, geistiger Beschränktheit oder nicht beherrschtem Handwerk Daß Marx nicht der Willkür einen Freiraum zu öffnen gedachte, beweisen seine gewissenhafte eigene Rezensionsweise und seine vielen erzieherisch-kritischen Arbeiten, nicht zuletzt zahlreiche Einzelartikel, in denen er Fehlurteile überprüfte und ihren Fehlurteilsgrund bloßlegte. Darüber hinaus nahm Marx die billige Un-

170

5. Kapitel: Gegengründungen

terschichtenkritik gar nicht ernst, sondern nur die logisch zureichend begründete und fachlich richtig ausgestattete Rezension mit eigenem Standpunkt. Für einen Musikjournalismus, wie er sich mit schnoddriger Sprache, suffisanten Anspielungen und halbgebildeter Besserwisserei zu tummeln begann, war in seinem System kein Platz. Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang etwa ein Dreispalter aus dem Jahrgang 1825. Unter dem Titel „Zur Beherzigung“ [II,133] untersuchte Marx Fehlurteile über den von ihm verehrten Mozart. Er verglich sie mit denen über neuere Komponisten und stieß dabei auf Parallelen. Als Gründe behauptete er in allen Fällen Oberflächlichkeit, die nicht nur den Kritiker, sondern auch den Komponisten beherrschen könne, sowie Bequemlichkeit, einer Sache auf den Grund zu gehen. Überhaupt haben die Kritiker im 19. Jahrhundert, wenn man den Fehlurteilen prominenter Kollegen zu hart zusetzte, nur zu gern die Fehlurteile berühmter Komponisten über ihre ebenfalls berühmten Kollegen hervorgesucht, um an ihnen zu beweisen, daß sich damit nichts beweisen lasse. Die meisten Urteilenden, so analysierte Marx, klebten an bloßen Äußerlichkeiten, ohne das Zwingende einer Erscheinungsform aus deren eigenen historischen Bedingungen zu begreifen, und verfielen damit vorgefaßten Mustern: „lhr Urtheilen besteht dann in einem stückweisen Vergleichen des neuen Werkes mit den frühern als Muster anerkannten, oder mit einem nach ihnen gebildeten Schema. Da heißt es denn: dieser neue Komponist sei nicht so klar, wie Mozart, jener häufe zuviel Dissonanzen, ein Dritter zu viel Modulationen, ein vierter zu viel Instrumente und was dergleichen mehr. Fragt man, warum solche Anhäufung, Modulation usw. zu missbilligen sei: so wird auf Mozart, Haidn und andre (wie zu ihrer Zeit auf ihre Vorgänger) zurückgewiesen, die es anders gemacht. Wer die Schwäche eines solchen Arguments ahnet, will es durch Lehrsätze vertreten, die freilich nur in allgemeinen Ausdrücken wiederholen, was jene Exemplifikationen an den erkohrnen Mustern andeuten“ (2). Selbst gegen die gutmütigeren Kritiker, die neuere Komponisten, wenn sie über das bis dahin als statthaft Anerkannte hinausgingen, mit dem Hinweis zu ‚entschuldigen“ suchten, eine äußere Notwendigkeit zwinge den Komponisten „leider“ dazu, wendet sich Marx. Er fragt an: „Wie aber, wenn die Neuern (Mozart, oder unsere Zeitgenossen) gar nicht nach jener Einfalt, jener Ausführlichkeit, jener Uebersichtlichkeit, jener Ruhe und Haltung usw. ihrer Vorgänger gestrebt, wenn sie etwas ganz anderes, als diese gewollt haben, wenn ihre Idee und ihr Zweck jene Eigenschaften im alten Maasse gar nicht dulden und zulassen? Denken wir denn noch so, wie vor fünfzig Jahren? Ist unser Ideenkreis, unsre Anschauung vom Menschen und der Welt noch dieselbe? Oder nicht vielmehr ein weit weit höherer und reicherer Ideengang eröffnet? Und in der Musik allein sollte der menschliche Geist stehen geblieben sein?“ (3). Das Feuer, das den Zeitgenossen aus solchen Zeilen entgegenschlug, wäre für die „Allgemeine musikalische Zeitung“ unerhört gewesen und erklärt, warum Marx zunächst so viel Anteilnahme fand. (1) Schirmer, a. a. 0., S. 17b–18a; (2) Marx, Zur Beherzigung, BamZ 1825, S. 119a; (3) Marx, a. a. 0., S. 119b.

I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung

171

10. Zeitbegriff als Standpunkt. Sache ohne Person Jedes Kunstwerk muß nach seinen eigenen Gesetzen gemessen werden – Beurteilungsmaßstäbe überkommener Systeme können dann nicht herangezogen werden, wenn sie mit dem Typ des neugeschaffenen Werkes nichts zu tun haben – jedes Kunstwerk liefert aus sich selbst heraus die Maßstäbe seiner Beurteilung: Mit dem Eifer des Entdeckers oder, wo entsprechende Gedankengänge schon bekannt, aber verschüttet waren, des Wiederentdeckers, suchte Marx seine Prinzipien in das Bewußtsein seiner Leser geradezu einzuhämmern. Die Zeit selbst – anderthalb Jahrhunderte später würde man vom Umfeld sprechen – wünschte Marx in seinem Kritikenspiegel einzufangen und aus deren Studium den Standpunkt zu gewinnen, von dem aus ein Kunstwerk seine alleinige Bewertung erfahren darf: „Wir wollen kurzweg die so Urtheilenden zu den über Mozart Splitterrichtenden stellen, und nie ein neues Werk nach dem Maßstabe einer frühern Zeit, sondern jedes nur aus den Ideen und dem Standpunkte seiner Zeit beurtheilen. Wir wollen nicht bei der oberflächlichen Wahrnehmung stehen bleiben, daß der oder jener Neuere etwas Anderes gemacht, als sein Vorgänger; noch vielweniger daraus folgern, daß er deshalb gefehlt habe. Es muß untersucht werden, was jeder gewollt, ob sein Zweck dem Standpunkte seiner Zeit angemessen und nach dem Standpunkte der Kunst erreicht sei. Dann nur werden wir jeden nach Würden und Wahrheit erkennen, jeden neben dem andern, jede Periode neben der andern gelten lassen, und die Kunst in ihrer Gesammtheit, in ihrem Fortleben begreifen“(1). Mit dem diesmal nicht so genannten Epilog zum zweiten Jahrgang 1827 der Zeitung „Andeutung des Standpunktes der Zeitung“ [II,148 (nicht mit II,124 vom Jahr zuvor zu verwechseln, der noch den Untertitel „Als Epilog“ führte)] zeigen sich die Spannungen zur neuitalienischen und neufranzösischen Musik. Marx stellte mit Bedauern die zunehmende Italianisierung auch des Konzertwesens fest. Er sah es als seine besondere, wenn auch wenig erfreuliche Aufgabe an, zu untersuchen, was es damit auf sich habe, wenn beispielsweise die „geistlose Ergötzung der Sinnlichkeit“(2) (gemeint ist vor allem Rossini) solch großen Widerhall finde. Der Jahrgang enthält in Vorwegnahme der späteren Schumannschen Zeitung zudem Angriffe auf das nicht nur für Marx überhand nehmende Virtuosentum. Die „Berliner allgemeine musikalische Zeitung“ jedenfalls fühlte sich „zu strenger Opposition gedrungen“(3) und hoffte auf die Unterstützung all derer, die den offen gelegten Motiven seiner Zeitungsarbeit Anerkennung zollten. Wieder tritt das erzieherische Moment hervor: „Dem Publikum die Erinnerung an das Edlere lebendig halten, den ausübenden Künstlern und Künstlerinnen aus der Sache und an Anderer Beispiele andeuten, wohin solches Streben führen muß, das ist es, was der mus. Ztg. für das Beste der Kunst und der Künstler oblag“(3). Um 1827 wendete sich Marx gegen einen besonders unrühmlichen Journalisten-Typ, den er mit einem zeitlosen Ausspruch als einen Mann definierte, der die „Sache um der Person willen“(4) versäumt. Diesen Kritikertyp wollte Marx für seine Zeitung nicht haben. Auch von daher gesehen glaubte er, zur Mitarbeit an seiner Zeitung ausschließlich Fachleute ersuchen zu dürfen. Seiner Meinung nach lasse sich nur unter dieser Voraussetzung wenigstens im Umfeld seiner eigenen Zei-

172

5. Kapitel: Gegengründungen

tung eine seriöse Kritik fördern und das Argument zunichte machen, man müsse auf jene Leute zurückgreifen, weil bessere nicht zur Verfügung stünden. „Wer ist zu der Theilnahme an der musikalischen Zeitung berufen?“(5) [II,177], war deshalb eine Frage, die Marx immer wieder stellte, um sie so zu beantworten, daß alle Fachleute nicht nur berechtigt, sondern um der Kunst willen moralisch verpflichtet seien, am Aufbau seiner Zeitung mitzuarbeiten. Der Aufsatz beginnt mit der Aufzählung neuer Mitarbeiter, und er nennt in diesem Zusammenhang auch Beethoven, der der Zeitung „durch die Zusicherung thätigen Antheils die höchste Ehre erwiesen“. Auf diese Weise sichert sich Marx ab: „Für das Bestehen der Unternehmung ist also keineswegs die Nothwendigkeit vorhanden, neue Mitarbeiter zu werben“. Marx konstruiert eine historische Folge von Kirche, Feudalismus und Volk, die nebeneinander bestehen geblieben sind, Katholizismus, Protestantismus, Herrscherhäuser. Die Dilettantentätigkeit habe zu Singakademien, Instrumentalvereinen, „selbst“ Liedertafeln und schließlich zu Musikfesten geführt. Marx handelt im zweiten Teil Kirchenmusik, Konzertwesen, Oper und Unterrichtswesen ab. Den Künstlern „ist allgemeiner Fortschritt zu höherer Erkenntnis unentbehrlich“. Nach dieser ausführlichen Einleitung kommt er, räumlich kürzer, endlich auf den eigentlichen Kern seines Aufsatzes zu sprechen. Ein Einzelner könne alle die zu bewältigenden Aufgaben nicht lösen. Außerdem müsse man auch einen gemeinsamen Ort für „Rede und Berathung“ haben, und „die musikalische Zeitung ist dazu bestimmt“, natürlich seine Zeitung. Damit nicht genug, daß sie sich allen darbietet, „allein sie verpflichtet auch Alle zur Mitwirkung, die deren fähig sind und sich zu dem gemeinschaftlichen Interesse bekennen“. Die Aufklärung über Musik darf nicht länger bei den „Unterhaltungsblättern“ liegen. „Soll die Aufklärung über Musik noch länger den Unterhaltungsschriften der Nichtmusiker überlassen bleiben? Aller von ihnen so zahlreich ausgehenden Mißverständnisse und Irrungen sind die Musiker schuldig, so lange sie nicht das Ihrige für das Bedürfnis ihrer selbst und der Zeitgenossen thun. – Soll das Urtheil über Kunstsachen länger den Unterhaltungsjournalen überlassen bleiben, denen ihrem Wesen nach die Kunst nur als Konversationsartikel dient? Welche Bedeutung kann für den Künstler an und für sich ein Urtheil haben ohne Beweise – denn die läßt der Raum und die vielseitige Tendenz jener Blätter nicht zu – meist von einem ungenannten Verfasser und unter der Autorität eines Redakteurs, der sich selbst nicht zu den Musikern zählt, und gleichwohl die Kompetenz des Urtheilers // verbürgen soll? Und dennoch gebührt ihnen – deren Aussprüche nur als Wiederhall schon begründeter Kunsturtheile ihre wahre Bedeutung und Geltung finden können, die auszeichnende Anerkennung, nach dem Vermögen und Sinn ihrer Unternehmungen für das Bedürfnis der Zeit thätiger gewirkt zu haben, als die zunächst Verpflichteten“(6). Für einen Künstler könne ein Urteil von einem Ungenannten im Dienst eines Redakteurs, der nichts von Musik versteht, keine Bedeutung haben. Marx spricht von einer „schulmeisterlichen und todten Kritik“, der die Komponisten nicht mehr ruhig zusehen dürften. Zum Schluß zieht Marx alle Register, beschwört Lessing, Wieland, Schiller, Goethe, Reichard, C. M. v. Weber, Jean Paul, Dürer, Leonardo da Vinci, Beethoven, Händel, Bach, um an deren Werken das tiefe Studium nachzuweisen, dessen sich die genannten Künstler zu befleißigen hatten. „Nur die fal-

I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung

173

sche Kritik, die das Werk freier Geister ihren eigenmächtigen Regeln unterwerfen möchte, ist Anmassung zu nennen; die wahre Kritik, der diese Zeitung sich widmet, ist die verbündete Begleiterin des Kunstwerkes, und hat keine andere Aufgabe, als uns den Zugang zu der Idee des Künstlers zu öffnen, Künstler und Publikum zu einigen.“ Marx hat die realitätsferne, idealistische Vorstellung, die Künstler sollten „die Stelle der falschen und unberufenen Kritiker“ einnehmen. Diese und ähnliche Sätze finden sich bei Marx so oft, daß man im Umkehrschluß auf einen erheblichen Mitarbeitermangel schließen muß. Das Wollen allein macht es ja nicht, man muß „es“ ja auch können; man muß Stärken und Schwächen am Werk nicht nur erkennen, sondern auch sprachlich richtig zu Papier zu bringen verstehen – und das stand und steht nicht im Vermögen eines jeden Berufsmusikers.(7) (1) (2) (3) (4) (5)

Marx: Zur Beherzigung, BamZ 1824, S. 119b; Marx, Andeutung des Standpunktes, 1825, S. 421b; Marx: Andeutung, 1825, a. a. O. S. 422a; Marx [II,177], BamZ 1827, S. 2b, s. Anmerkung 5; Marx, Wer ist zu der Theilnahme an der Zeitung berufen?, BamZ IV/1, 3.1.1827. S. 2a–4a, IV/2, 10.1.1827, S. 9a–14b; (6) Marx, Wer ist, a. a. 0., S. 13a–13b; (7) s. Abschnitt 13 (Mitarbeitermangel).

11. Privilegienverlust. Musik als gemeinschaftliches Gut Seine Untersuchungen, was die Journalistik wirken solle und könne, beginnt Marx wie schon gewohnt mit einer historischen Exkursion, mit der er sich den Verlauf der Musikgeschichte so zurechtlegt, wie er ihn zur Bestätigung seiner Thesen benötigt. Die Musik sei im Laufe ihrer Geschichte von drei Prinzipien beherrscht worden: zuerst von den kirchlichen, die auf tüchtige und religiös erhebende Werke abzielten, welche der Stille und Abgeschiedenheit der Kirche unterworfen worden seien und in der Heiligkeit des Kultus ihre Gewähr gefunden hätten, dafür aber „eine höhere Erudition, eine Rechtfertigung vor dem freien Weltgeiste nicht habe zum Bedürfnis werden lassen“(1). Dann sei der Feudalismus zur Herrschaft gelangt und die Kunst als Vorrecht für die höheren Schichten erklärt worden. Die Musik habe die Verpflichtung übernommen, diesen Schichten einen seltenen, erlesenen Genuß zu bereiten, so daß an die Stelle des Schönen und Wahren das Seltene getreten sei. So entstanden Konzert und Oper. Nun hat sich nach Meinung von Marx aber eine ganz neue Tendenz durchgesetzt. Wie in der politischen Welt sei die Freiheit des Menschen ausgesprochen und anerkannt worden, so daß sich jetzt auch die Kunst entschiedener dem freien Leben in Natur und Staat zugeselle und jeder Mensch ein Recht an ihr erhalte. Die künstlerische Gesamtdarstellung des Lebens sei aber das Drama, und so wende sich das öffentliche Interesse immer mehr der Oper zu. Was bisher in unbegriffener Formation aus einer geregelten Technik oder aus Willkür hervor gebracht worden sei, wolle nun geistig begriffen und zu Geisteszwecken erfunden sein. Was früher nur das religiöse Interesse, später nur den Geschmack der Höfe zu befriedigen gehabt hätte, müsse sich jetzt den Interessen aller widmen.

174

5. Kapitel: Gegengründungen

Die Tonkunst ist nach Marx nicht mehr ausschließlicher Besitz der Künstler oder der Vornehmen und Begüterten, sondern sie ist zu einem Bedürfnis und zu einem gemeinschaftlichen Gut des gesamten Volkes geworden. Natürlich muß das Volk zum großen Teil erst dazu gebracht werden, an diesen Gütern teilzunehmen. So weist Marx anerkennend auf die preußischen Versuche zur Schaffung eines geregelten Musikunterrichtes hin, zumal das Konzertwesen nicht mehr viel tauge. Es sei ein „Verführungsort zu künstlerischer Seichtigkeit, Zerstreuung, Gedanken- und Herzlosigkeit und zu schwächlichem Sinnenkitzel“(2) geworden. Marx muß den unterschiedlichen Wert der Opernmusik zugeben; aber weil die Opernmusik offensichtlich auf das Publikum wirke, müsse etwas Gutes daran sein, und dieses Gute gelte es herauszuarbeiten. Neigung und Abneigung seien wandelbar und subjektiv, Erkenntnis allein stehe und wirke für das Allgemeine – und zu diesem Zwecke sei eben das Interesse aller in Anspruch genommen. Deshalb könne dem Publikum auch nur öffentliche Erörterungen über die Daseinsfragen der Kunst etwas nutzen. „Man täusche sich hierbei nicht mit jenen oberflächlichen Gemeinsprüchen: die Auffassung der Kunstwerke sei Sache des Gefühls, der Natur und was dergleichen mehr. Gefühl und Natur des Menschen selbst sind ja himmelweit jenem rohen Anfang des Kindesalters enthoben. Man versuche, ob unsere größten Kunstwerke aller Gattungen dem entwickelten Gefühl nur zugänglich sind, der Unbildung mehr, als etwa einzelne Anklänge bieten, ihr innerstes und köstlichstes Wesen jemand erschließen, der nicht die Bildungsstufe ihres Schöpfers theilt! Und welchen dringenden Anlaß, allgemeine Höherbildung zu wünschen und zu befördern, bietet unsern Tonkünstlern die heutige Entartung der Bühne! Wenn die Direktionen den Vorzug ihrer Joko’s und sonstigen Armseligkeiten vor bessern Werken mit Berufung auf den Geschmack und die Theilnahme des Publikums entschuldigen: welche Waffe bleibt dagegen, als den fähigen Theil des Publikums auf eine Bildungsstufe zu fördern, die jene Nichtigkeiten verbietet?“(3). Auf den Kritiker seiner Zeit sieht Marx zwei Aufgaben zukommen. Mit dem verbreiteteren Anteil an der Tonkunst sei auch das Bedürfnis gewachsen, Erkenntnisse über sie zu erhalten. Die theoretischen Schriften liefern Vorarbeiten. Ehe die Theorie so weit sei, allgemeinere Grundlagen zur Kunsterkenntnis zu schaffen, werde noch viel Zeit vergehen müssen. Am Ende des Aufsatzes steht geradezu eine Apotheose der Musikkritik: ihr ist aufgetragen, alle Probleme zu lösen, die in irgendeiner Weise eine gesonderte Behandlung erfordern. (1) Marx, Wer ist zu der Theilnahme an der Zeitung berufen?, a. a. O. S. 3a; (2) Marx: Wer ist, a. a. O. S. 9b–10a; (3) Marx: Wer ist, S. 11b.

12. Musikkritik als Form der Musikwissenschaft Durch Marx wird Musikkritik erstmals als eine Form der Musikwissenschaft angedeutet. Die Kritik ist nach Marx damit beschäftigt, das Einzelne in seinem Wesen zu begreifen. Dadurch erhöht sie die Auffassungsfähigkeit, fördert den Künstler zu raschem Erkennen und Erkanntwerden und liefert den Stoff für die spätere all-

I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung

175

gemeinere Betrachtung der Kunst. Für den Künstler, dessen Aufgabe es „eben ist, unter Leitung der Idee Individuelles zu schaffen“(1) und für das Publikum, das nur durch Auffasssung des einzelnen Kunstwerkes zu Genuß und höherer Erkenntnis gelangt, kann es keine wirksamere Lehre geben als die sich an Einzelnes anknüpfende und sich daran erläuternde, „mit der eigenen Anschauung zusammenschmelzende Kritik“(2). „In solchem liegt die eine Hauptkraft der alten Schule, aus der unsere größten Werke hervorgetreten sind. Was sie am einzelnen Schüler übte und der Einsicht des einzelnen Lehrers anvertraute, ziemt sich jetzt, nach Maassgabe der allgemeineren und höhern Erkenntniss unserer Zeit, für alle zu verwalten und auf allgemein haltbaren Grund zu heben“(3). Der Kritiker muß echt von unecht unterscheiden können. Er muß begrifflich arbeiten und abstrahieren lernen. Was in diesen frühen Voruntersuchungen geleistet worden ist, vermittelt Erkenntnisse, die man heutzutage nachdrucken könnte, ohne daß sich ihre Herkunft anders als aus der eigentümlichen Orthographie und der Stilistik würde nachweisen lassen. Die große Misere der augenblicklichen künstlerischen Zustände wäre nicht eingetreten, meint Marx, wenn man durch fleißiges wissenschaftliches und kritisches Arbeiten rechtzeitig die richtige Erkenntnis von den künstlerischen Gegenständen hätte vermitteln helfen. Marx spricht hier fast mit der beschwörenden Leidenschaftlichkeit eines Advokaten, der einen zum Tode Verurteilten noch im letzten Augenblick dem Spruch der Geschworenen zu entreißen gedenkt. Sein Blatt sei zur Teilnahme an der Leistung aller bestimmt und sei nicht Werk und Eigentum eines besonderen Redakteurs oder einer bestimmt umrissenen Gruppe. Doch nur wenn die Fähigsten, und zwar ausnahmslos alle, nach ihrem besten Vermögen zusammenwirkten, dann sei „die Schuld gelöst, die uns allen unsere Zeit auferlegt“(4). (1) (2) (3) (4)

Marx, Wer ist, a. a. O. S. 12a; Marx, S. 12a–12b; Marx, S. 12b; Marx, S. 13a.

13. Mitarbeitermangel Seine ihrer ständigen Wiederholungen wegen stereotyp werdenden Aufrufe, um neue Mitarbeiter zu gewinnen, beweisen, daß Marx den Nachteil seines Blattes erkannt hatte. Anstrengungen dieser Art wären nicht notwendig gewesen, wenn sich aus dem Berufsmusikerstand genügend Mitarbeiter mit den Ansprüchen des Redakteurs befriedigender geistiger Disposition und schriftstellerischem Können hätten finden lassen. Marx gibt es offen zu. Aber hier stand er sich mit seinen Anforderungen selbst im Wege. Dem scheint eine kurze Notiz vom 7. Mai 1828 zu widersprechen [II,217]. Marx bittet darin im Rahmen seiner ‚Bekanntmachungen‘: „Bei der zunehmenden Anzahl und Thätigkeit unsrer geehrten Mitarbeiter“ diese „ergebenst“ um möglichste „Gedrängtheit“. Es kann sich bei dieser Anmahnung nur um Einsparung von Druck- und Papierkosten bei Artikeln von Autoren gehandelt haben, die dazu neigten, sich in ihren Ausführungen allzu weitläufig zu verbreiten.

176

5. Kapitel: Gegengründungen

Marx suchte Einwürfe zu zerstreuen, die mögliche Autoren davon abhalten mochten, für seine Zeitung zu arbeiten. Die einen schützten vor, keine Zeit zu haben, weil sie komponieren müßten. Ihnen setzt Marx entgegen, auch der beschäftigste Komponist komponiere nicht den ganzen Tag. Andere sähen in der Kunst ein Produkt des unbewußten Gefühls, das sich nicht begrifflich fassen lasse. Marx fragt zurück, ob denn jemals ein Kunstwerk ohne Mitwirkung des Geistes, ohne Vorstudium, ohne Überlegung zustande kommen könne. Und nicht einmal das sei angesichts der [rhetorisch zu verstehenden] Frage ausschlaggebend, ob die große geistige Produktion Goethes und Schillers diese an kritischen und wissenschaftlichen Studien gehindert habe. Und das Hauptargument, das damals noch als spätes Relikt der kritikfeindlichen Vorzeit bekannt war: Kritik sei Ausdruck einer Anmaßung über den Mitmenschen, widerlegt er mit dem Hinweis, das treffe nur für die falsche Kritik zu. Nur die falsche Kritik, die „das Werk freier Geister ihren eigenmächtigen Regeln unterwerfen möchte, ist zu nennen; die wahre Kritik, der diese Zeitung sich widmet, ist die verbündete Begleiterin des Kunstwerkes, und hat keine andere Aufgabe, als uns den Zugang zu der Idee des Künstlers zu öffnen, Künstler und Publikum zu einigen“(1). Wollten sich die Künstler gegenseitig gerecht werden, so sollten sie eben an die Stelle einer falschen Kritik treten, die unberufen sei, deren „Lob den Verständigen nicht erfreuen, deren Tadel nicht belehren und fördern, deren Gedanke nie mit der Idee des Künstlers zusammenklingen kann“(1), und „Eben der Antheil der Künstler wird zwischen ihre That und den Akt kritischer Erkenntniss Frieden bringen und unter beiden, den Künstlern und Kritikern, den Ausübenden und Lehrenden, Uneinigkeit in Einklang, Furcht und Mißtrauen in Vertrauen, Unzufriedenheit und Groll in Freudigkeit und Bündnis verwandeln. / Wir leben in der Zeit des Streites; Entscheidung und Einigung müssen errungen werden. So thue denn jeder dazu, eingedenk des alten solonischen Gesetzes, das der Staatsehre den beraubte, der sich, fähig der Theilnahme, den Staatserörterungen entzog“(1). Worüber sich Marx ausschweigt und was der Thematik einen etwas eigenen Beigeschmack verleiht, kann man 1837 in Schumanns „Neuer Zeitschrift für Musik“ nachlesen(2). Dort schreibt (im Zusammenhang mit einer Richtigstellung falscher Angaben in Schillings Universal-Lexikon der Tonkunst) ein ehemaliger Mitarbeiter der Marx-Zeitung, er habe die Arbeit für Marx aufgeben müssen, weil es ihm seine Umstände nicht länger erlaubten, ohne Honorar Beiträge zu liefern. Offensichtlich erwartete Marx der Honorarzusage zum Trotz kostenfreie Zubringerdienste, ohne die er vermutlich früher noch als 1830 genötigt gewesen wäre, das Blatt einzustellen. Es ist ohnehin erstaunlich, daß er es so lange am Leben erhalten konnte. Auch Fink hatte Mühe, die guten Mitarbeiter zu dauerhafter und pünktlicher Arbeit zu bewegen [II,360], wie einem Abschnitt eines Vorwortes der Redaktion von Anfang Juli 1839 zu entnehmen ist. (1) Marx, Wer ist … a. a. O. S. 14b; (2) Hientzsch: Abgenöthigte Entgegnung, NZfM VII./41, 21.11.1837, S. 164.

I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung

177

14. Wiederholte Thematik. Grundsatzartikel 1828 Nachdem er sich auch in diesem Jahrgang 1827 in einer Art Epilog unter dem inzwischen einfallslos gewordenen Obertitel „Standpunkt der Zeitung“ [II,197] mit heftigen Worten gegen die zunehmende Verflachung des Geschmacks ausgesprochen hat und dabei vor allem auf Berlin, Leipzig und Wien und auf französische Opernmusik zielt(1), wird der Jahrgang 1828 in einem für die damaligen Verhältnisse ganz ungewöhnlichen Ausmaß mit Grundsatzartikeln zur Musikjournalistik überzogen: In der ersten Nummer ist es ein mehrteiliger Aufsatz „Grundsätze der Redaktion; als Wünsche den Mitarbeitenden und dem Publikum zur Prüfung vorgelegt“ [II,200]; in Nr. 8 ein Nachtrag, der fast eben so lang ist wie der Artikel, dem er als Kommentar dienen sollte: „Nachtrag zu dem Aufsatze in No. 1 bis 3: Grundsätze der Redaktion u. s. w.“ [II,208]; in Nr. 50 eine Arbeit „Noch einmal über das Verhältnis des Künstlers zu seinem Beurtheiler“ [II,232]; und am Ende des Blattes wieder der Jahrgangsendaufsatz mit dem für ihn üblichen „Standpunkt der Zeitung“(2) [II,233]. Die Artikel sind überwiegend polemisch gehalten und Marksteine in der Auseinandersetzung mit dem „Erbfeind“ „Allgemeine musikalische Zeitung“, bilden aber, so lang sie auch immer sein mögen, nur Wiederholungen des ohnehin schon mehrfach Gesagten. Marx kamen allmählich selbst diese ständigen Wiederholungen verteidigungswürdig vor, und so entschuldigte er sich in einem der Aufsätze des Jahrgangs 1828 mit der vordergründig belustigenden Erzählung: „Es ist eine bekannte Geschichte, dass ein Pfarrer Jahr aus Jahr ein dieselbe Predigt hielt und sich vor dem Konsistorium damit verantwortete: seine Zuhörer hätten sie noch immer nicht gefasst“(3). Die meisten lachten über diese Geschichte, meint Marx, die doch einen sehr ernsten Hintergrund habe. Wer sich durchdrungen fühle und ganz erfüllt von einer Wahrheit sei und sie beherzigt sehen möchte, der könne nicht schweigen, sondern müsse seine Rede unentwegt wiederholen, damit sie am Ende doch vernommen werde. „In dieser Lage findet sich der Unterzeichnete mit seiner Ansicht von Künstlerwürde, Künstlergerechtigkeit und Ueberlegung dem Publikum und den öffentlichen Berichterstattern gegenüber“(3). Marx wollte unter allen Umständen den praktischen Künstler zum Schreiben bringen, eine Tendenz, die man später in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ aus Erfahrungsgründen ebenso entschieden verwarf. Marx trieb mit seinem Ausschließlichkeitsanspruch, nur den Künstler als Kritiker, als Theoretiker und als lehrenden Wissenschaftler zuzulassen, einem Extrem zu, das für sein Blatt immer gefährlicher wurde; denn bereits damals war bekannt, daß die schlechtesten Musikkritiker in praktischen Musikerkreisen und vor allem in den Reihen der Komponisten zu suchen sind. Marx mag das bemerkt haben, Marx mag auch darauf aufmerksam gemacht worden sein – jedenfalls nahm er zu dem Problem Stellung, „als solle hier eine zünftige Ausschließlichkeit gepredigt und bewerkstelligt werden. Wie wenig wären dazu gerade die Musiker berechtigt, deren Kunst bis jetzt noch die geistreichsten und fruchtbarsten öffentlichen Lehrer unter den Nichtmusikern gefunden! Wie übel ständ’ solches Abschließen dieser Zeitung an, die eben den Kunstfreunden so viel verdankt!“(4) Nur solle eben jeder aus seiner Sicht etwas zur

178

5. Kapitel: Gegengründungen

Erforschung dessen beitragen, das er Tonwissenschaft nennt und das eigentlich auf eine systematische Musikwissenschaft und Stilkritik hinauslief. Der Theologe, der Schulmann, der Philologe, der Philosoph, sogar der Dichter – sie alle sollen nach Marx aus ihrem Sachbereich Beiträge zur Tonwissenschaft liefern(5), eine Forderung, die Marx mit teilweise rührender sprachlicher Naivität formulierte. Das hatte aber nichts mit dem Prinzip Musikkritik am Kunstwerk zu tun, dessen Ausübung er ungeachtet der alltäglichen Nachteile dem praktizierenden Musiker zuwies. Später wird Otto Lange aus der Erfahrungstatsache der künstlerischen Interessenkollision das Gegenprinzip zu Marx bilden. Am Jahresende 1829 wettert Marx vor allem gegen die Berliner Hofbühne(6) [II,257]. „Unsere Theater sind aller Seichtigkeit der französischen Bühne heimgegeben. Es ist nicht einmal mehr der grossinnige Spontini, nicht der sinnlich reizende Rossini, sondern der materialistische Auber, welcher den Reigen führt.“ Marx spricht über Auber mit Hochachtung. „Aber Deutschlands Musik muss eine andere sein; sie hat einen tiefern Born, als die heutige aus Paris verschriebene Mode.“ Nach Marx hat sich in Berlin lediglich das Konzertwesen verbessert. Gegen die vordem beliebte Art der Programmgestaltung, Einzelsätze aus Symphonien statt sie ganz vorzutragen, schrieb Marx an. Noch im November 1829 erklärte er unter dem Obertitel „Bekanntmachung“, keine Anzeigen von Konzerten zu veröffentlichen, wenn nicht eine „vollständige Symphonie oder sonst ein grösseres Werk“ gespielt werde(7) [II,256]. Die Berliner Opern-Zustände änderten sich nicht. Als Carl Gaillard rund anderthalb Jahrzehnte später dasselbe aussprach, kostete es ihn die Freikarten fürs Theater. (1) Marx: Standpunkt der Zeitung, BamZ IV/52, 26.12.1827, S. 423b–424b; (2) Die Redaktion, Grundsätze der Redaktion als Wünsche den Mitarbeitern und dem Publikum zur Prüfung vorgelegt, BamZ V/1, V/2, V/3, 2., 9., 16.1.1828, S. 2a–3a, S. 10a–11a, S. 15a– 16a; D. R., Nachtrag zu dem Aufsatze in No. 1 bis 3: Grundsätze der Redaktion u. s. w., BamZ V/8, 20.2.1828, S. 57a–59b,1828; Marx, Noch einmal über das Verhältnis des Künstlers zu seinem Beurtheiler, BamZ V/50, 10.12.1828, S. 469a–471a; Marx, Standpunkt der Zeitung, BamZ V/52, 24. 1828, S. 493b–494b; (3) Marx, Noch einmal … a. a. 0. S. 469a; (4) Marx, Grundsätze … a. a. 0., S. 10b; (5) Marx, Grundsätze, S. 10b; (6) BamZ VI/52, 26.12.1829, S. 416a–b; (7) BamZ VI/47, 21.11.1829, S. 376b.

15. Verfehltes Verteilerprinzip. Innere und äußere Folgen. Kunst als Feindschaft Wenn Marx unter seinen kritischen Grundsätzen auch den nennt: „Bei der Vertheilung der eingesandten Werke sucht die Redaktion soviel wie möglich jedes demjenigen Mitarbeiter zuzuweisen, von dem sich die beste Harmonie der Ansicht und des Verfahrens mit dem Verfasser voraussetzen lässt“(1)‚ so beweist eine Durchsicht der Kritiken, daß ihm im Gegenteil die Redaktion samt ihren ethischen Voraussetzungen nur zu oft aus den Händen geglitten zu sein scheint und man dies außerhalb der Zeitung merkte. Gemeint war, grundsätzlich niemanden mit einer Kritik zu be-

I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung

179

auftragen, der dem zu kritisierenden Werk oder der zu kritisierenden Aufführung indolent oder gar feindlich gegenüber stand, sondern sie dem zu übergeben, der mit einem neutralen, aber sachbetonten Vorverständnis an die Arbeit heranging. In der Realität dagegen gelangten die Rezensionsaufträge mangels ausreichender Mitarbeiter viel zu leicht und viel zu oft an Leute, die mit dem zu besprechenden Gegenstand auf freundlichem oder feindlichem Fuße standen und in ihrer beflissenen Befangenheit genau jene ordinär parteigebundene Interessenklientel bildeten, die Marx so verabscheuungswürdig fand. Hier standen sich also nicht Verfasser und sein Kritiker gegenüber, der die Materie besonders gut beherrschte, sondern zwei Leute, die Konkurrenten oder Verbündete im selben Gebiet, auf jeden Fall also nicht mehr organneutral waren. Die im 20. Jahrhundert vor allem von Markus Lüpertz vertretene These, Kunst habe in erster Linie etwas mit Feindschaft zu tun, wurde schon im 19. Jahrhundert ungeschminkt ausgesprochen. Die „Signale für die musikalische Welt“ schrieben am 31. Juli 1849 dem „Morgenblatt“ eine Londoner Korrespondenz nach, in der sich ein junger deutscher Aristokrat überaus verächtlich über Künstler äußerte. Wenn er fortfahre, mit Künstlern umzugehen, dann müsse er „moralisch entwürdigt werden; wie die Spinnen bekämpfen sie sich“(2) [II,727]. „Wir Musiker halten im Allgemeinen nicht viel Gutes voneinander“ heißt es 1850 in einem mit „Kritische Briefe“ überschriebenen Artikel für Bischoffs 1. Jahrgang der „Rheinischen Musik-Zeitung für Kunstfreunde und Künstler“ gleich auf der 1. Seite(3) [II,757]. Man lobt, um gelobt zu werden, und man tadelt, um sich zu rächen. Der Verfasser bestätigt jene, die eine objektive Musikkritik als vom Grundsatz her unmöglich ansehen, weil kein Kritiker je über sich selbst hinauswachsen könne. Kritiken werden um der Kritiken willen geschrieben, heißt es da. Es klingt wie eine Kampfansage an die Berliner, wenn er erklärt, nicht durch die Kritik bekomme man eine Idee vom Werk, sondern das Werk erst verschaffe einem die Idee einer (ansonsten unverständlichen, das ist gemeint) Kritik(4). Und weil das so sei, werde er nicht „sine ira et studio“, sondern im Gegenteil „con amore, con fuoco, con energia, con passione“ schreiben(5). Für Marx, der in den meisten Fällen nicht einmal die richtigen Zusammenhänge gesehen haben mag, bedeutete das nichts. Diesem von seiner Sache leidenschaftlich begeisterten Mann diente Kritik ausschließlich als Standpunktsache, die mitzuteilen war, sofern sie sich als hinreichend begründet erwies, auch wenn sie sogar vordergründig mehr über den Äußernden als über den Besprochenen aussagte. So sehr das in der Methode unter übergeordneten ideellen Bezügen gerechtfertigt erscheinen mochte, so sehr führte es in der handwerklichen Wirklichkeit der Alltagskritik zu einer Reihe von Bildern, die alles andere als schön waren. Zu einem Zeitpunkt, da in Deutschland nur drei nennenswerte Musikzeitungen erschienen, die Tageszeitungen noch keine Feuilletonkritik, sondern nur den Leserbrieftyp des ‚Eingesandt‘ kannten, die Musikberichterstattung der belletristischen Blätter erst im Aufbau begriffen und vor allem das Phänomen der neuen rigiden Kunstbesprechung noch längst nicht emotional verarbeitet worden war, konnte eine nicht anderweitig aufgehobene oder gemilderte negative Besprechung unabsehbare Folgen nicht nur im materiellen Bereich zeitigen, auch wenn es, anders als im 18. Jahrhundert, augenscheinlich keine Selbstmordversuche mehr gegeben

180

5. Kapitel: Gegengründungen

hat. Über diese Tatsache täuschen alle noch so hochgeistigen Kommentare zum kritischen Geschäft nicht hinweg. So gesehen, war die Redaktionspolitik der Leipziger Musikzeitung nicht einmal so kritikwürdig, das Gute auszusprechen und das Schlechte zu verschweigen, wenn sie in der Realität des Alltags nicht ebenfalls anders gehandhabt worden wäre, nämlich häufig genug das Alltägliche zu loben und das nicht Alltägliche ohne besonderen Kommentar auf sich beruhen zu lassen. Für das Marxsche Blatt galt eine Gefährdung dieser Art um so eher, als sich Marx der Richtigkeit und moralischen Lauterkeit seiner kritischen Sprüche zu versichern pflegte. Von der Psychologie der Kritik her gesehen, über die wir heute mehr wissen, kann eine solche Tendenz eben wegen ihrer innerlichen Wahrhaftigkeit äußerlich katastrophal wirken, weil sie leicht in Fanatismus, in Eifer ohne Liebe ausartet. Marx selbst mußte sich mit diesem Problem auseinandersetzen und zeigte sich sehr ungehalten. Der Mitarbeitermangel oder sogar Mitarbeiterschwund dürfte vielleicht auch – das läßt sich allerdings bloß vermuten – mit dem instinktiven Zurückweichen des Künstlers und einfach gebliebenen Kritikers vor einem Unternehmen zusammenhängen, das die Peitsche letzten Endes gar zu hart handhabte. Wenigstens ein Zeugnis gibt es, auf das sich eine solche Vermutung stützen könnte. So sah sich Marx im Jahrgang 1829 zum Abdruck eines Briefes veranlaßt, dessen Verfasser ein Musikdirektor aus Halle namens Lemann war. Er bemängelte unverblümt die zu harte Sprache der Marxschen Zeitung und tadelte vor allem die im Interesse der alten Musik großangelegten literarischen Aktionen des Blattes [II,238]. Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ aus Leipzig verfahre in all dem viel unparteiischer und sei deshalb verläßlicher. Vor allem möge man nicht Rezensionen mit Witzen machen. An dem Vorfall ist vielleicht die Tatsache charakteristisch, daß Marx überhaupt einen Brief abdruckte, der seine Arbeit sachlich in Frage stellte; allenfalls verständlich, wenn man ihn auf Marxens Standpunktstheorie zurückführte, der er sich demnach auch in eigener Sache als Betroffener untergeordnet hätte. Der Vorwurf geht dank der Geschicklichkeit von Marx ins Leere. Er stellt ihm nämlich einen, angeblich von einem Engländer stammenden Text voran, der die ‚höhere‘ Kritik in Deutschland preist, also das, was Marx zur Blüte bringen will(6). Auch über die grundsätzliche Parteilichkeit von Musikern allgemein druckte Marx Brieffragmente ab, in denen unter anderem ausgeführt wird, ein Komponist sei schlichtweg nicht geschult, sprich: gebildet genug, um mit der Feder umgehen zu können. Diese Briefe mögen gestellt gewesen sein, um Marx ein Stichwort zu geben, das er aufgriff, nicht um die Behauptung zu entkräften, sondern um sie zu unterstützen und den Disput zum willkommenen Anlaß zu nehmen, wieder einmal auf die Notwendigkeit einer ausgebreiteteren Erziehung und natürlich auf seine Zeitung hinzuweisen, in der man alles dafür Notwendige besorgt finde: „Die Tonkunst hat eine Bahn beschritten, auf der es sich je länger, je mehr unmöglich zeigen wird, ohne ausgebreitetere Bildung zu genügen; die Zeitung bietet den gewissenhaft Theilnehmenden zu beidem Gelegenheit: sich und sein geistiges Besitzthum zu prüfen und durch Mittheilung reicher zu werden“(7). Die Voraussicht hat Marx sicherlich nicht betrogen; immerhin blieben die Folgen der radikalen Kritisiererei nicht aus. Marx sah sich gehalten, Künstler mit scharfen Worten zu maßregeln, die eine Kritik wie ein Todesurteil empfingen und

I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung

181

wie ein Evangelium aufnähmen. Angeblich häuften sich mit dem urplötzlich verschärften kritischen Ton, der in dieser Form bislang unbekannt war, unter überempfindlichen Künstlern die Fälle von Selbstmord, Verzweiflungsakten, schweren Schocks mit anschließenden Verstandeszerrüttungen – jedenfalls behauptete man es, ohne dafür namentliche Beweise vorzulegen. Doch zeigte die so eifrig propagierte unparteiische Standpunktskritik allmählich eine unerfreuliche Kehrseite und wollte die vor ihrem Gewissen schuldig sprechen, die dazu die Veranlassung gaben. Marx wehrte sich heftig und drehte die Sachlage um. Er sprach die Künstler schuldig, die nicht fähig seien, die Notwendigkeit der Kritik einzusehen und vor allem diejenige einer außerpersönlichen Standpunktskritik mit der Tendenz, alle zu Wort kommen zu lassen, um die Zeit mit ihren vielfältigen und unbegreiflichen Widersprüchen einfangen zu können: „Es wird gar noch dahin kommen, daß ein Getadelter die Rezension verächtlich zerreißt und dann verzweifelnd als Patrone durch den Kopf jagt… . //… Lüge, Angst, Kabale und Wuth – um ein gedrucktes Wort. / Sind das Künstler? Ist das das Künstlerbewußtsein, das ein Blättchen, ein Wort zerrütten kann? Ein Wort – von wem? Da, von einem Unbekannten – dort, von einem, der sich nicht zu nennen wagt – anderswo von einem der sich selbst als Nicht-Künstler bekennt. Wie muß es um das Wissen und die Kunst jener Verzagenden stehn, daß sie auch dem Unberufenen und Ungebildeten in ihrem Fache sich unterwerfen! Und – wenn es nun ein bewährter Kenner, wenn es der größte Meister wäre, dessen Urtheil ihnen entgegen träte? Ist das ein Künstler, der seinen Beruf von außen erlauschen, der von außen die Entscheidung herhohlen(8) will, ob er fortschreiten oder abstehen soll? Setzt nicht ohnehin der Künstler sein ganzes Loos auf einen Beruf, auf den Glauben an seine innere Stimme? Wer etwas Anderes in der Welt mit innerer Befriedigung sein kann, der ist eben nicht Künstler: wer aber fühlt, daß er nur als Künstler, nur der Kunst leben kann: was vermag den zu schrecken?“(9) (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9)

Marx, Grundsätze der Redaktion, a. a. O., S. 18a; SfdmW VII/35, 31.7.1849, S. 278; RhM-ZfKK I/10, 7.9.1850, S. 76b–78a; RhM-ZfKK, a. a. O. S. 77a; RhM-ZfKK, S. 77b; Schilderung deutscher Kritik, BamZ VI/2, 10.1.1829, S. 16a–16b; Marx, Nachtrag, S. 57a–58a; Originalschreibung; Marx, Noch einmal, a. a.0. S. 469a–b.

16. Musikkritik als Gewissenspflicht. Standpunktskritik und soziale Verantwortung Menschliche Auswirkungen der Kritik erkannte Marx nicht, oder er wollte sie jedenfalls nicht wahrhaben, indem er Folgen dieser Art zweifelhaften Motiven zuschob. Sein Systemansatz erlaubte es ihm nicht, Kritik als auch emotional niederschmetterndes oder erhebendes Moment ernsthaft zuzulassen.

182

5. Kapitel: Gegengründungen

Daß der Künstler wie jeder andere in einen Lebensraum doppelter Gewandung eingeschlossen ist, in den seiner menschlichen Verrichtungen und den seiner künstlerischen Arbeiten, und daß beide in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn einer verletzt wird, so wie nach einem von Romain Rolland geprägten Vergleich derjenige, der den einen Flügel eines Vogels lähmt, auch den anderen mitlähmt, all das wird ein intelligenter Mann wie Marx sicherlich gesehen, aber unter dem selbst auferlegten Systemzwang ins Abseits verdrängt haben. Die gedruckte Kritik ist nicht für den Künstler, sondern für den Leser bestimmt; und selbst wenn sie für den Künstler geschrieben worden wäre, was Marx nicht ausschloß, würde sie als gedruckte Botschaft den Leser mit allen sozialen Folgen für den Betroffenen erreichen. Das gedruckte Wort übte zumal in der Marxzeit eine größere magische Wirkung als anderthalb Jahrhunderte später aus, und die gering bestückte feuilletonistische Zeitungslandschaft bot wenig Orte an, um benötigte Gegenstimmen laut werden zu lassen. Die Zeitungskritik trifft nicht nur den Künstler, sondern immer auch den Menschen mit, der wie jeder andere in einer bürgerlichen Umwelt lebt, die über seinen Ruf und damit über sein Heimatgefühl entscheidet und berufliche Niederlagen weder auf den Rechtfertigungsgrund noch auf ihre Tragik hin untersucht. Das geschriebene Wort, wenn es denn absprechend ist, trifft sodann zwangsläufig auch die Familie, also Frau und Kinder in deren Alltagsverrichtungen. Ein wegen eines Stückes Musik (oder eines Gedichtes oder eines Bildes) vor seiner bürgerlichen Umwelt bloßgestellter Künstler enthüllt die Tragik, die jeder Kritik als Weltanschauungskritik mit entsprechender kulturpolitischer Tendenz einbehalten bleibt. Beides zu trennen setzt eine Intelligenzstruktur, besser: eine innere Sicherheit voraus, die dem überwiegenden Teil der möglichen Leserschaft fremd ist. Man erinnert sich der Warnungen Bührlens, die lange vor der Zeit ausgesprochen wurden, in der die „Berliner allgemeine musikalische Zeitung“ die künstlerische Bühne mit einer Heftigkeit angriff wie nur noch später Hirschbachs „Repertorium“, daß nämlich Kritiken „sich gedruckt ganz anders ausnehmen“ als geschriebene oder nur gesagte(1) [II,27], und rund ein Jahrzehnt später meinte er dazu etwas gutmütig-spöttisch „Aufmunterung macht den Künstler zum Quadrat seiner selbst(2) [II,106]. Marx mochte zeitgeschichtlich und historisch im Recht sein; aber das Faktum räumte auch er nicht aus. Man kann nicht töten, ohne Blut zu vergießen, und man kann kein Blut vergießen, ohne sich nicht selbst dabei zu beflecken. Marx half sich über die moralische Klippe hinweg, indem er den Künstler, der vor dem gedruckten Wort verzweifelt, nicht mehr als Künstler gelten lassen wollte. Der Künstler müsse vielmehr so stark von der Idee und dem Glauben an sich selbst und seine Kunst beseelt sein, daß er des gedruckten Wortes nur bedingt achte. Das sollte der Kritiker Marx möglicherweise den Kindern sagen, die auf dem Schulhof ausgelacht werden, weil sich ein Schreiber in der örtlichen Tageszeitung über ihren Vater lustig gemacht hat. Nun gibt es das erst Jahrzehnte später, denn die Marxschen Thesen wurden in einer Fachzeitschrift vorgetragen, nicht im lokalen oder überlokalen Feuilleton einer Tageszeitung, wo sie auch nicht hingehört hätten. Marx verstand Kritik als Vielfalt von Meinungsbildung und erkannte keinem kritischen Spruch Unantastbarkeit zu, wie er sie in der gedruckten Fassung dem geschulten wie dem ungeschulten Leser gegenüber suggerierte. Bei Marx ging es nicht um

I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung

183

richtig oder falsch in der Sache, sondern um richtig oder falsch in der Begründung der Meinung zur Sache, auch wenn die Meinung zur Sache nachweisbar falsch war oder ist. „Die Scheu vor Widerspruch, ist nur Verrätherin der Schwäche, die nicht siegen kann, oder der Trägheit, die nicht um den Sieg ringen mag, oder der Eitelkeit solcher, die sich als Kämpfer und Sieger uns auflügen möchten. In allen diesen Fällen ist nicht der Widerspruch, sondern der innere Mangel des Künstlers wahrer Widersacher“(3). Für Marx ist die stete Auseinandersetzung aus Kritik und Gegenkritik ein notwendiger organischer Prozeß, ohne den das Leben stagniert. Haydn bezweifelte Beethoven, Reichardt bezweifelte Mozart und Beethoven, Gluck bezweifelte Händel usw. – Marx zitiert lebendige Geschichte, um der ständigen Auseinandersetzung ontologische Notwendigkeit nachzuweisen. Wanda Landowska wird Jahrzehnte später das auf Epochen beziehen, was Marx aus den Urteilen berühmter Künstler über berühmte Künstler herauslas(4). Widerspruch ist zum Bestandteil der Sache selbst geworden, in diesen Satz ließe sich in der Sprache der Nachfolger die musikkritische Vorstellungswelt von Marx ausdrücken. Nie würde eine neue Idee, nie eine neue Offenbarung hervorgebracht, wagte man es nicht, über die Idee der Vorgänger hinauszugehen: „Das Neue ist es, das den Widerspruch gegen das Alte erhebt; soll dieses mit all seinen Anhängern nicht versuchen dürfen, sich dem Widerspruch, dem Neuen gegenüber zu behaupten?“(4) Der Künstler ist in diesem Zusammenhang nur derjenige, der seine Idee gegen den Widerspruch aufrechtzuerhalten hat und die Welt für sie gewinnen muß. Jede Auflehnung, jede Abweisung sei ihm nur Mahnung zu erhöhtem Eifer und festerer Treue. Marx trägt an einem Konflikt, der jeder über ihre eigenen Möglichkeiten nachdenkenden Kunstkritik von Anfang an beigegeben ist, und er tröstet sich mit dem Begriff von der rechten Wahrheit: „Es ist auch bei den meisten nicht der Widerspruch, sondern seine eingebildeten Folgen, die sie bald besorgt machen, bald gegen ihn empören. Deshalb gilt es ihnen gleichviel, wer entgegentritt, und mit welchen Waffen man sie anzugreifen versucht; der Sachkundige, oder der Unwissende, der Bewährte, oder der sich seines Namens schämt – Gründe oder vage Ansprüche, // Wahrheitsliebe oder offenbare Lüge: alles das bleibt unerwogen in der Furcht vor dem gedruckten, öffentlichen Wort; alles heisst ihnen Anfeindung und wird mit Anfeindung, Schmähung, Verzagtheit und Heuchelei erwiedert. – Was soll man noch über diese handgreifliche Selbstverblendung sagen? Was fürchtet man? Aufklärung des Publikums? Wer wagte es unter uns, diese Wohlthat zu verkennen? – Irrthum? Wie schwach muß da die eigne Überzeugung sein? – Ungerechtigkeit? Sie hat noch nie gegen Recht und Glauben gesiegt. – Lüge? Sie hat stets nur zur Verherrlichung der Wahrheit gedient. – Und wenn eine Zeit lang der und jener getäuscht wird: wer hätte je alle Stimmen für sich gehabt? Und wer ist je vor einer Anzahl Verleiteter und Verkennender erlegen? Ein leichter Windstoß verweht den aufgeregten Staub – und ruhig schreitet der rechte Mann vorwärts“(5). Das ist sicherlich schön gesagt; aber die Wirkung ist dieselbe, gleich ob jemand vom Huf eines unvernünftigen Tieres oder vom Prügel eines intelligenten Mannes getroffen wird. Für die „Berliner allgemeine musikalische Zeitung“ zu schreiben ist aus der Sicht von Marx mehr als Schreiben überhaupt, es ist eine Gewissenspflicht, die zu

184

5. Kapitel: Gegengründungen

versäumen einer Schuld gleichkommt. Zu dieser Feststellung ist Adolf Bernhard Marx bereits am Ende seines fünften Jahrgangs 1828 gelangt, mit der Maßgabe, seine ständigen Aufforderungen zur Mitarbeit entsprängen nicht etwa dem Bedürfnis mangelnder Mitarbeiter, was der fünfjährige Fortbestand des Blattes ja beweise, sondern nur seinem eigenen Pflichtbewußtsein: „Allein – um so schmerzlicher gewahrt man die nächste Aufgabe der ersten fünf Jahre keineswegs vollkommen gelöst. Eben der Grundzug im Karakter der ganzen Unternehmung, als einer gemeinsamen Angelegenheit aller Musiker, ist ungeachtet umständlicher und wiederholter Auseinandersetzungen noch nicht allgemein erkannt und beherzigt – am wenigsten von den hiesigen Musikern. Die Folgezeit wird richten über unsern Anspruch an sie, und ihre Zögerung, ihn zu erfüllen. Galt unsre wiederholte Aufforderung nicht dem wahrhaften Besten der Kunst, der wir alle uns gewidmet haben: so war sie unberechtigt. Wo nicht, so haben die Säumenden – nicht an uns, sondern an dem allgemeinen Besten – und ihrem eignen, ihre Pflicht versäumt“(6). (1) (2) (3) (4) (5) (6)

Mittheilungen aus dem Tagebuche eines Tonkünstlers, AmZ XV/33, 18.8.1813, Sp. 641–642; F. L. B., Bemerkungen, AmZ XXVI/12, 18.3.1824, Sp. 190–193, Z: 191; Marx: Noch einmal … a. a. 0., S. 470b; s. Kapitel 3, Abschnitt 4 (Rochlitzens Vier-Klassen-Theorie); Marx: Noch einmal … a. a. 0., S. 470b–471a; Marx: Standpunkt … a. a. O. S. 494b.

17. Marx in der Kritik So nüchtern Marx in der Beurteilung der musikkritischen Realität war, so blumenreich wurde seine Sprache, wenn es um die Anwendung ging. Seine Bachinterpretation war für rational denkende Zeitgenossen fast eine Zumutung, ebenso seine Beethovendeutungen. Marx mag zu blumenreich formulieren, aber er hat ohne Kenntnis der Figurenlehre gespürt, daß hinter der Bachschen Musik eine geistige Welt wirkte, die sich keineswegs im Technischen erschöpfte, sondern das Technische zu deren Darstellung benutzte. Der Anonymus, der in der „Münchener Musikzeitung“ unter „Eduard“ „Kritische Briefe eines praktischen Musikers“ veröffentlichte (1) [II,225], schiebt zunächst alles, was mit Aesthetik zu tun hat, als überreich vorhanden bei Seite. Fast ein Drittel des Textes ist eine Kritik an Marx (einem „Mann voll Kraft und vielem guten Willen“) und seiner Zeitung, die in eine Polemik umschlägt. Was Marx bei der Analyse einer Bachschen Musik alles heraushöre, das könne er nicht nachvollziehen. Es folgen Ergüsse über seine Art des „Genießens“ und dann ist er wieder bei Bach, was der wohl sagen würde, wenn ihm Kirnberger die neusten Rezensionen seiner Werke vorläse. „Ich möchte hören, was die alten Herren sagen, deren ganze Theorie nicht über den reinen Satz und die Lehre von dem Fugenbau hinaus gieng“(2,3). Das Bachbild von ‚Eduard‘ ist ganz aufs Technische eingegrenzt und damit selbst aus der Sicht des Jahres 1828 banal. „Ich will gern zugestehen, dass solche poetische Recensionen nicht eben jeder machen kann, und ich, wie schon gesagt, auch nicht – es sind Gedichte, ordentlicherweise neue Kunstwerke; aber

I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung

185

könnte man nicht behaupten, dass sie eine falsche Folie haben, nemlich das eingebildete Seelenleben eines andern, und nicht des Dichters?“(4) Im letzten Abschnitt kündigt er an, ein Requiem von Eybler besprechen zu wollen, aber nach seiner Art (= Gefühl mitteilen), was er technisch schön und nicht schön findet, ohne Anspruch darauf zu erheben, „dass ich das einzig Rechte getroffen“(5). (1) (2) (3) (4) (5)

MMz II,2, 11.10.1828, Sp. 21–25; a. a. O. Sp. 23; gieng = Originalschreibung; a. a. O. Sp. 24; a. a. O. Sp. 25.

18. Abgesänge Die nachfolgenden Jahrgänge bilden nur noch einen Abglanz der früheren Aktivitäten. Die bekannten Leitlinien der Redaktion werden unverändert dargelegt und dabei eher auf Verfahrensfragen Obacht gegeben; es findet sich ein Abdruck eines (möglicherweise fingierten) englischen Briefes über deutsche Musikkritik [II,238], in dem gerade der Deutsche als der geborene Kritiker bezeichnet wird, weil der Deutsche angeblich keine ‚Sentenzen‘ schmiede. Der deutsche Kritiker, so behauptete Marx, stehe als Dolmetscher zwischen den Begeisterten und den Nichtbegeisterten, zwischen dem Propheten und dem Volke. Er strebe die Schönheit zu entdecken und zu erkennen an, wo immer sie sich zeige, und er suche die Staubhülle durch ein wissenschaftliches Eindringen in den Gegenstand von ihr abzustreifen usw. – die schon im ersten Band angemeldeten nationalen Ansprüche werden damit bestätigt(1). Es findet sich der schon erwähnte kritische Brief des über die vielen schlechten Kritiken der „Berliner allgemeinen musikalischen Zeitung“ empörten Musikdirektors aus Halle. Es findet sich ein weiterer Brief, der ironisch zu verstehen ist. Marx möge doch die praktischen Musiker mit seinen Aufforderungen zur Mitarbeit in Ruhe lassen! Als Begründung wird ein wahrhaft erbärmlicher Musikerwerdegang eines Handwerkers, ja Stümpers vorgestellt, der sich damit abgibt, Ouvertüren für zwei Flöten zu arrangieren (Kompositionen dieser Art hat es wirklich gegeben) und dergleichen mehr. Der Zweck dieses Berichtes besteht natürlich in der Anprangerung bildungsloser Musiker, die als Nurmusiker anachronistisch werden und angesichts ihres geringen Bildungsstandes niemals an einer Musikzeitung tätig werden dürfen. „Darum lassen Sie mir ja die Musiker unserer Generation in Ruhe. Sollte sich ein wirkliches Genie darunter finden, das taucht doch ungerufen aus dem Ocean auf. Die übrigen aber machen Musik, sie dichten aber keine – –“(2). (1) Schilderung deutscher Kritik, von einem Engländer, BamZ VI/2, 10.1.1829, S. 15a–16a; (2) – ‚ Bemerkung zu den mehrmaligen Einladungen an alle Musiker, an der Zeitung thätig Theil zu nehmen. (Aus einem Briefe), BamZ V/9, 28.2.1829, S. 67a–68b, Z:68b.

186

5. Kapitel: Gegengründungen

19. Der Abschied Marx verabschiedete sich mit Datum 24. Dezember 1830 von seinen Lesern. In seinem „Abschied des Redakteurs“(1) [II,266] wünscht er sich von den bedankten Lesern und Mitarbeitern, der Zeitung ihre Teilnahme auch ferner zu gewähren, „so lange diese ihrer Aufgabe treu bleibt: den reinen Gedanken, die reinste Bestimmung der Tonkunst aus bergenden Verhüllungen, aus momentaner Verunstaltung, Verkennung und Verirrung frei herauszustellen“(2). Es klingt, als solle die Zeitung weitergeführt werden, was aber nicht der Fall gewesen ist. Marx, der Komponist und Redakteur, ist stolz darauf, die Zeitung nie seinen eigenen kompositorischen Interessen untergeordnet zu haben, „so erheblichen Anlass ich bisweilen gefunden hätte“. Noch einmal, ein letztes Mal äußert er sich über seine Art, die Aufgabe der Musikkritik zu sehen, und es klingt wie ein Vermächtnis an die Nachwelt: „Allerdings giebt es eine bedingte, schonende Art, die Wahrheit auszusprechen – oder vielmehr die Unwahrheit zu umgehen. Man kann jedes Kunstwerk … als eine verkörperte Idee und einen besonderen Moment … auffassen – oder auch von diesem höhern Standpunkte herabsteigen zu einer einseitigen Betrachtung“(3). Marx versteht darunter eine Komposition ohne Kunstwert, aber vielen technischen Einfällen, auf die sich ein Kritiker zurückziehen kann. Marx nennt das „Verträglichkeits-Politik“. „Mir erscheint sie keiner Zeit unerlaubter, als der unsern“(3). Marx behandelt im Folgenden das Verhältnis der Kritik zum Publikum. Die Verträglichkeitspolitik toleriere momentane Neigungen, um ein „Theilchen Wahrheit zu insinuiren“. Er habe auch das nicht gemacht. „Dies hat mich vor Meinungswechsel bewahrt; ich bin nicht verleitet worden, den Komponisten der Vestalin unter die grössten Künstler zu stellen und denselben Künstler mit spätern Werken als einen Schüler und Unfähigen zu betrachten, wie viele Musiker unserer Zeit; ich konnte durch die Modernität der Opern Rossini’s und Auber’s mich nicht zu einer Beistimmung in die allgemeinere Meinung bewegen lassen; ich konnte das Kleben am Alten und das Wiederbringen des Ausgelebten nicht als Leben und zeitgemässes Schaffen ansehen, aber eben so wenig versäumen, auf das zu verweisen, was wir an den alten Meisterwerken haben, aus ihnen lernen, nach ihrem Muster erstreben müssen. Eine nicht ferne Zukunft wird zwischen meiner und der Ansicht des Tages, wo sie abweichen, entscheiden“(4). Jeder Mitarbeiter habe unbeschränkte Meinungsfreiheit gehabt, „wenn eine von der meinigen abweichende Ansicht nicht ihren Vertreter in ihr gefunden hat, so ist es nicht meine Schuld“(4). Fink hat sich zum Problem der Mitarbeiterfreiheit ein Jahr später nüchterner geäußert und ließ dabei einen Blick auf die Redaktionspolitik werfen. Auch bei ihm erscheinen gute Arbeiten, die nicht die Meinung der Redaktion widerspiegeln. Er denkt aber nicht daran, seine abweichende Meinung den Lesern mit einer vorausgeschickten Anmerkung bekannt zu machen. Er brauche gute Mitarbeiter, heißt es, und die glaube er zu verprellen, wenn er allenthalben seine andere Meinung zwischensetze(5). Was bei Fink redaktionspolitisch zu verstehen ist, ist bei Marx Ergebnis des musikkritischen Ansatzes. Ein Hinweis darauf, daß er diese „Erklärung über mein Verfahren“ glaube „den geehrten Theilnehmenden schuldig zu sein“, ein zweiter

I. Abschnitt: Die Berliner allgemeine musikalische Zeitung

187

Hinweis, zu anderen Arbeiten „berufen“ zu sein, dann schließt Marx sein Abschiedsbekenntnis mit dem Satz, nunmehr von der journalistischen Bühne abzutreten, und, sollte er Veranlassung sehen, sich doch noch einmal schriftstellerisch zu melden, dies immer nur mit voller Namensunterschrift zu tun. Das war Marxens Abgesang von der Berliner Szene redaktioneller Tätigkeit. Sein Organ verschwand, und anders als andere vor ihm, traf er auch keine Anstalten mehr, musikkritische Journalistik in gleicher, ähnlicher oder veränderter Form wieder aufleben zu lassen. Erst vierzehn Jahre später kam es mit der Gaillardschen Musikzeitung zu einer neuen eigenständigen Berliner Musikkritik, die nach nur dreidreiviertel Jahren von der weit einflußreicheren „Neuen Berliner Musikzeitung“ verdrängt wurde. Zu diesem Zeitpunkt heißt das führende deutsche Blatt längst „Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik“, dessen Gründung Robert Schumann besorgte. Der politisch aufgeschlossene Marx ließ sich im Berliner Revolutionsjahr 1848 in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ tatsächlich mit einem Fortsetzungs-Aufsatz noch einmal „Der Ruf unserer Zeit an die Musiker“ vernehmen(6) [II,663]. Darin finden sich einige Zeilen über Musikkritik. Fast erregt wehrt er sich gegen die eingerissene Phraseologie in den „Berichtchen und Recensiönchen“, willkürlich und ohne Begründung von schön oder unschön, originell oder nicht originell, melodiereich oder melodiearm zu sprechen und sich darauf hinauszureden, „dass zu näherm Eingehen kein Raum vorhanden sei“. Und selbst über die auffallendsten und beliebtesten Erscheinungen der Zeit habe die Kritik „nur in seltenen Fällen Licht verbreitet“. (1) (2) (3) (4) (5)

Marx: Abschied des Redakteurs, BamZ VII/52, S, 414q–416q; Marx, a. a. O. S. 414; Marx, a. a. O. S. 415; a. a. O. S. 416; Fink: Ein nothwendiges Wort der Redaction auf Veranlassung einer Stelle dieses trefflichen Aufsatzes [II,270], AmZ XXXIII/40, 5.10.1831, Sp.660–661) (6) NBMz II,21, 24.5.1848, S.155b–156a.

20. Nachwort. Persönliche Daten Marx stand im 28. Lebensjahr, als er seine Zeitung gründete (geboren 15. Mai 1795 in Halle). Er war Schüler von Türk und Zelter, was seine Nähe zu Johann Sebastian Bach erklärt. An der Wiederaufführung der Mathäuspassion 1829 unter Mendelssohn war er mit beteiligt. Er studierte Rechtswissenschaft und wurde 1827 in Marburg zum Dr. phil. promoviert. Die Aufgabe seiner Zeitung 1830 fällt zeitlich mit seiner Ernennung zum Professor an der Berliner Universität zusammen. Vermutlich bedingte das eine das andere. Zwei Jahre später wird er Universitätsmusikdirektor. Mit Franz Crommer und Otto Lange gründete er 1844 den Berliner Tonkünstlerverein und in Verfolgung seiner pädagogischen Ziele neben Julius Stern und Theodor Kullak 1850 das Stern’sche Konservatorium. Marx starb am 17. Mai 1866 zwei Tage nach seinem 71. Geburtstag in Berlin. Als Komponist blieb er ziemlich erfolg-

188

5. Kapitel: Gegengründungen

los, seine zahlreichen Schriften erfuhren Anerkennung. Sein schärfster Gegner war Fink. Weitere Einzelheiten sind in jedem guten Musiklexikon nachzulesen. II. ABSCHNITT. DIE ZWEITE KONKURRENZ. GOTTFRIED WEBERS „CAECILIA“ 1. Vorverständnis a) Zur Person Gottfried Weber, der am 1. März 1779 im pfälzischen Freinsheim bei Mannheim geboren wurde, stieg über Richterstellen in Mannheim, Mainz und Darmstadt (1802 – 1814 – 1818) 1832 zum hessischen Generalstaatsprokurator auf. Das Amt des Staatsprokurators wurde von den Franzosen eingeführt. Aus ihm entwickelte sich die heutige Staatsanwaltschaft. Weber spielte Querflöte und Violoncello, leitete in Mannheim zeitweise ein Konservatorium, stand mit Carl Maria von Weber in Briefwechsel und komponierte Messen. Seine musikwissenschaftlichen und musiktheoretischen Verdienste sind vielfältig. Er begründete die Zweifel an der Echtheit des Mozartschen Requiems, und in seinem „Versuch einer geordneten Theorie der Tonsetzkunst“, das in 3. Auflage und dreibändig 1830 bis 1832 erschien, führte er unter anderem die Großschreibung für Dur und die Kleinschreibung für moll, ferner die römischen Ziffern für die Stufenbezeichnungen ein. Weber starb nach längerer Krankheit (seit 1838) am 21. September 1839. b) Die neue Zeitschrift Im April 1824 erschien im Verlag B. Schott’s Söhne unter der Redaktion des [noch] Darmstädter Richters Gottfried Weber das erste Heft einer neuen Musikzeitschrift im kleinen Oktavformat (8°), die bis 1848 Bestand haben sollte. Es trug die Aufschrift „Caecilia / eine Zeitschrift / für die / musikalische Welt / Herausgegeben / von einer Gesellschaft von Gelehrten, / Kunstsachverständigen und Künstlern. / Mainz / Im Verlag der Hof-Musikhandlung / B. Schott Söhne / Unter Verantwortlichkeit der Verleger.“ Die „Caecilia“ („Cäcilia“) enthält theoretische Aufsätze von beträchtlicher Länge, nüchterne Musikkritiken, die zu den besten des Metiers zählen und schon die Technik der Doppelkritiken aufnehmen. Selbstkritiken waren zulässig, sofern der Verfasser einen angesehenen Namen trug, doch wurde davon so gut wie nie Gebrauch gemacht. Unter der Rubrik „Historische Artikel“ brachte die Zeitung Anzeigen interessanter Ereignisse auf dem Gebiete der Kunst, dazu Berichte von neuen Erfindungen, Instrumentenabbildungen, Biographien und Autobiographien, Todesanzeigen, Porträts, lithographierte Faksimilia und Korrespondenzartikel [II,108]. Notizen bloß lokalen Interesses waren von der Aufnahme ausgenommen. Des weiteren finden sich neben zur Komposition freigegebenen Gedichten vereinzelt der Namenspatronin Caecilia gewidmete Musikstücke, im unterhaltenden Teil

II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz

189

„Phantasien im Kunstgebiete“, Anekdoten, Aphorismen, Streckverse, Epigramme und sonstige Gedichte, auch kurze Erzählungen, Charaden, Rätsel, Logogriphe und dergleichen. Jede Nummer wurde mit einem Intelligenz-Blatt mitunter recht erheblichen Umfangs beschlossen. Vier Hefte bildeten einen Band, den jeweils ein Inhaltsverzeichnis eröffnete. Im 10. Band druckte man (ab S. 255) ein Gesamtinhaltsverzeichnis der letzten vierzig Hefte. Ein Heft kostete 36 Rheinische Kreuzer oder 8 Groschen. Weber blieb bis zu seinem Tod der leitende Redakteur; ihn löste 1842 bis zur von den Zeitereignissen erzwungenen Einstellung der Zeitschrift Siegfried Dehn ab. Die Erscheinungsweise erfolgte unregelmäßig, doch mit Ausnahme der kritischen Jahre 1831, 1832 und 1838 und der erzwungenen Unterbrechung von 1839 bis 1842 kamen in jedem Jahr mindestens vier Hefte heraus. Im Zeitraum April 1824 bis Mai-Juni 1848 erschienen insgesamt 27 [nicht: 26] Bände gleich 108 Hefte. Die Unterbrechungen hatten zureichende Gründe. Für die Jahre 1831 bis Mai 1832 waren das die „sturmbewegten“ Zeiten (noch vor dem Hambacher Fest), wie der Verlag zuvörderst des Intelligenzblattes zu Heft 57 (XV. Band) ausführte. Was gemeint war, steht in einem Brief an Gottfried Weber vom 4. August 1831, den Wilhelm Altmann im 10. Jahrgang der Sammelbände der Internationalen MusikGesellschaft 1908/09 [Aus Gottfried Weber’s brieflichem Nachlaß, S. 489] veröffentlichte: „… und wir werden hoffentlich die Gelder dazu aufbringen. Obschon diese Bemerkung heut zu Tage am rechten Ort ist, auch bei so kleinen Summen, so liegt die Ursache auch ebenso klar, wenn wir Ihnen bekennen, daß unsere Ladeneinnahmen noch nie so gering gewesen als wie diesen Sommer: aller Mut ist den Menschen benommen, … Man wünscht Friede und wünscht Polen Hülfe und Sieg und die Cholera wieder nach Asien zurück …“ Die Krankheit Webers blockierte das Jahr 1838, wie das Titelblatt zum XX. Band ersichtlich machte, und die Interimszeit wurde durch seinen Tod und die notwendige Neuorientierung zu Dehn hin herbeigeführt. Aus verlegerischer Sicht war die „Caecilia“ ein kostspieliges Zuschußgeschäft. Die Verluste wurden Ende 1826 besonders schmerzlich, als sich Weber im Requiem-Streit vor allem gegen Stadler geradezu festbiß, den zuvor hoffnungsvoll zugeströmten Abonnenten dies nicht behagte und sie in großer Zahl abzuwandern begannen. Schott warnte damals den Redakteur mit Brief vom 27. Januar 1827, sicherte ihm aber weiterhin seine Unterstützung zu. Zwar handelte der Jurist Weber seine Verträge hart genug aus, um sich einem bestimmenden Einfluß der finanzierenden Verlagshandlung Schott in Mainz entziehen zu können; doch zwang auch ihn die Realität des Musikalienmarktes, Zugeständnisse zu machen und bei Schott erschienene Produkte wenigstens zur Besprechung zu bringen. Im Hinblick auf die weitere Zeitungsgeschichte ist das bemerkenswert gewesen; denn nahezu alle später herauskommenden Musikblätter dienten mehr oder weniger erkennbar den Verlagsinteressen ihrer Geldgeber. Besonders schlimm, man kann auch sagen: besonders skrupellos handhabte Bertholf Senff das Verfahren in den „Signalen für die musikalische Welt“. Gottfried Weber stellte das Programm der „Caecilia“ neuerlich im Mai 1833 vor(1) [II,284]. Dabei spielt auch er auf die „stürmisch bewegte“ Zeit an, der mehrere Blätter zum Opfer gefallen seien, während seine „Caecilia“ bescheiden standhaft, und, wie er stolz verkündet, sich „nur durch ihren eigenen Werth“ erhalten habe. Er

190

5. Kapitel: Gegengründungen

hatte das 56. Heft zu Neujahr 1833 ausgegeben und damit den 14. Band beschlossen. Er verspricht zu Beginn des 57. Heftes (Beginn des 15. Bandes) bei gleich bleibendem Plan („deren unverbrüchliche und rücksichtslose Festhaltung die Feinde der Wahrheit und schwachmüthige Neider ihr freilich nie verzeihen konnten“(2)) eine raschere Folge, woran ihn in den letzten beiden Jahren die Besorgung der 3. Auflage seines Theorie-Buches gehindert habe. Weber beschönigt die Probleme, die seiner Zeitung durch die Auswirkung der Woldemar-Polemiken entstanden waren, und verfällt streckenweise in eine pathetische Phraseologie, die man weniger bei Weber als bei Fink und Schmidt gesucht hätte, „unter dem Zettergeschrei junger und alter Buben, am Ende jederzeit, durch Wahrheit siegend, auf dem Kampfplatze gestanden, wie sehr sie auch nur ganz wider ihren friedlichen Willen verlockt worden war, – siegend und belohnt durch die unzweideutigsten Beweise, daß wahre Kunstfreunde ihr ehrliches, unwandelbares Streben, dem Schönen, dem Guten und vorzüglich der Wahrheit überall nach Vermögen Förderung und Anerkennung zu schaffen, erkennen und ehren“(2). So geht es noch etliche Sätze weiter, wobei Weber, wie bei derartigem Selbstlob üblich, viel zu allgemein bleibt, um erkennen zu lassen, was oder wen er meint. Wieder nüchtern geworden, erläutert er seine Vorstellung, nicht eigentlich eine musikalische Zeitung zu betreuen, sondern Aufsätze von „bleibendem Interesse“ bieten zu wollen. In fünf Abschnitten benennt er noch einmal den bekannten Inhalt der „Caecilia“ (I. Theorie; II. Kritik; III. Historische Artikel; IV. Verkehr; V. Ausstellung; VI. Blos unterhaltender Theil), wobei er unter II bereit ist, Autokritiken aufzunehmen, sofern sich die Verfasser nennen. Er fordert auch die Verlagshandlungen auf, nichtanonyme Rezensionen ihrer guten Publikationen zu schicken, die er abdrucken will, ein ungewöhnliches Angebot. Sollte der Autor unbedingt anonym bleiben wollen, so werde die Redaktion auf ihre eigene Verantwortung hin das ändern, was mit ihrer Überzeung nicht übereinstimme. Fink kündigte das Wiedererscheinen der „Caecilia“ höchst anständig an, will aber zu den Heften der befreundeten Redaktion keine kritische Stellung beziehen(3) [II,299]. Fink schreibt dazu, er halte nichts von den „sogenannten“ Journalschauen desselben Faches, wenn sie gegeneinander auftreten. Eine Bemerkung kritisiert er aber doch. Weber legte auf die Unabhängigkeit seiner Mitarbeiter großen Wert, und Fink meint dazu, es könne bei einer umfangreichen Zeitschrift gar nicht anders sein. „Wo wollte man denn die Herren Mitarbeiter hernehmen, da bekanntlich auch nur zwey Köpfe so selten unter einen Hut zu bringen sind?“ Finks Verhalten wirkt ehrenwert, sowohl vom Text her wie von der Tatsache, ihn erscheinen zu lassen. Schließlich hatte es knapp sechs Jahre zuvor zwischen ihm und Dorn, zwischen ihm und Weber aus Anlaß von Dorns Besprechung der Marxschen Zeitung, die inzwischen nicht mehr bestand, eine heftige Kontroverse gegeben. (1) Gfr. Weber: Empfehlung, Cae XV./57, S. 1–9; (2) Weber, a. a. O. S. 2; (3) AmZ XXXVI/20, 9.7.1834, Sp. 458–460.

II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz

191

2. [Zwischentext II] Erscheinungsstatistik bis zur Gründung der Schumann-Zeitschrift (1834(1)) a) Band-Heft-Folge I II

1–4 5–8

1824 1825

III IV V VI VII

9–12 13–16 17–20 21–24 25–28

1825 1826 1826 1827 1828

VIII

29–32

1828

IX X

33–36 37–40

1828 1829

XI

41–44

1829

XII

45–48

1830

XIII

49–52

1831

XIV

53–56

1832

XV

57–60

1833

XVI

61–64

1834

382 Seiten, 88 Seiten Intelligenzblatt. 272 S. + 54 S. Rätselauflösung + 58 S. Haslinger-Anzeigen, 46 S. Ibl. 314 Seiten, 60 Seiten Intelligenzblatt. 352 Seiten, 52 Seiten Intelligenzblatt. 306 Seiten, 54 Seiten Intelligenzblatt. 314 Seiten, 34 Seiten Intelligenzblatt. 270 Seiten, 62 Seiten Intelligenzblatt, 16 Seiten Schott-Anzeigen. 280 Seiten, 67 Seiten Intelligenzblatt, 10 Seiten Schott-Anzeigen. 250 Seiten, 10 Seiten Intelligenzblatt. 282 S. einschließlich 28 S. Inhaltsverzeichnis, 22 S. Intelligenzblatt. 340 S., 58 S. Intelligenzblatt [Erscheinungsort: Antwerpen, Paris, Mainz]. 314 S., 67 S. Ibl, 8 S. Anz. Webers Theorie d. Tonsetzk., 8 S. Schott-Anz.. 288 Seiten, 60 Seiten Intelligenzblatt, 32 Seiten Schott-Anzeigen. 388 Seiten, 87 Seiten Intelligenzblatt, 24 Seiten Schott-Anzeigen. 296 Seiten, 56 Seiten Intelligenzblatt, 8 Seiten Schott-Anzeigen. 284 Seiten, 52 Seiten Intelligenzblatt. b) Heftdaten

Die Erscheinungsdaten der Hefte lassen sich derzeit nur aus den Intelligenzblättern erschließen, die als Einnahmen bringende Werbeträger nach herkömmlicher Weise beigegeben wurden und deren Anzeigendatierungen Rückschlüsse zumindest in Annäherungswerten erlauben. Der Vergleich mit den beiden originalen Übersichten in Band III, S. VI für Heft 1–13, und im Intelligenzblatt zu Band VII, S. 7 für Heft 17–24 zeigt, daß sich bei einer ausreichenden Anzahl neuer Anzeigen auf diese Weise einigermaßen schlüssige Ergebnisse erzielen lassen. Die einzelnen Bände sind originaldatiert.

192

5. Kapitel: Gegengründungen

Heft

erschienen

erschlossen aus:

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

April 1824 Juni 1824 Juli 1824 Oktober 1824 Dezember 1824 Februar 1825 April 1825 Mai 1825 Juni 1825 August 1825

11

August 1825

12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41

Oktober 1825 Dezember 1825 nach Dez. 1825 März 1826 April (?) 1826 Juli 1826 August 1826 September 1826 November 1826 Dezember 1826 Dezember 1826 April 1827 Mai 1827 (nach) 22. Juli1827 (nach) 1. August 1827 Dezember 1827 Neujahr 1828 (nach) 8. Februar 1828 (nach) Februar 1828 April 1828 August 1828 September 1828 Oktober 1828 (nach) 14.11.1828 [vermutlich] Dez. 1828 1. Februar 1828 März 1829 April 1829 August 1829 Oktober 1829

Einleitung zu Band III, S. VI ebenda ebenda ebenda ebenda ebenda ebenda ebenda ebenda ebenda (10/11 sind gemeinsam erschienen [Band III, S. 88]) ebenda (10/11 sind gemeinsam erschienen [Band III, S. 88]) ebenda ebenda letztes Datum: 25.11.1825, Ibl 14, S. 22 (Brief) Ibl 15, S. 28 (Verlagsmitteilung) Ibl 16, S. 48, nach 1. März 1826 ebenda ebenda ebenda ebenda [zusammen mit Heft 21] ebenda [zusammen mit Heft 20] ebenda ebenda ebenda Ibl 25, S. 13 Ibl 26, S. 38 Ibl 27, S. 52 Ibl 33, S. 1 Ibl 29, S. 15 Ibl 30, S. 19, S. 30 Ibl 31, S. 31. S. 59 Ibl 32, S. 32, S. 64, S. 67 Ibl 33, S. 20 Ibl 34, S. 21–23 Ibl 35, S. 36 [offensichtlich keine brauchbaren Angaben] Ibl 37, S. 3 (Verlag) Ibl 38, S. 10 (5. Februar 1829) Ibl 39, S. 13 Ibl 40, S. 21 Ibl 41, S. 18

II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz

Heft

erschienen

erschlossen aus:

42 43 44 45 46 47

November 1829 November (?)1829 Dezember 1829 Januar 1830 ? Juni 1830

Ibl 42, S. 21 Ibl 43, S. 33 Ibl 44, S. 46 Ibl 45, S. 1 (2. Januar 1830

193

Ibl 47, S. 25; Heft 47, S. 223

(1) nach Veit Stolzenberger: Untersuchung der Musikzeitschrift „Caecilia“, 59 S., (ungedruckte) Hausarbeit Düsseldorf 1989.

3. Mainz gegen Leipzig Wie die gleichzeitig in Berlin von Adolf Bernhard Marx gegründete „Berliner allgemeine musikalische Zeitung“ verstand sich auch Webers „Caecilia“ als Konkurrenzunternehmen zur Leipziger „Allgemeinen musikalischen Zeitung“. Der offensichtlichen Frontstellung wich er dadurch aus, daß er sein Blatt nicht als ein in festen Zeitabständen erscheinendes Periodikum bewarb, sondern als heftweise Sammlung von Aufsätzen in zwangloser Folge mit der Maßgabe, nur solche „von b leib en d em In t e re sse “ abzudrucken(1) [II,108]. Eine Spitze ist die Mitteilung, in der „Caecilia“ kämen auch solche Stimmen zu Wort, die nicht unbedingt der Meinung der Redaktion folgten, weil im Gegensatz zu anderen Herausgebern, die das nicht so handhabten, bei der „Caecilia“ „von keiner Partey die Rede seyn“ könne(2). „Denn sie ist, bis zu einem gewissen Grade einklängig mit Oken, der Meynung, die Herausgeber einer Zeitschrift, oder jeder andern Sammlung, seien keineswegs gesetzt, um fein dem Laufe der Dinge seinen Weg anzuweisen, ihre Ansichten zur Norm zu erheben, um darnach, wie man zu sagen pflegte, die Tugend zu belohnen, das Laster zu bestrafen, und als Polizeyscherge des Geschmackes und der Intelligenz, am Thore Wache zu stehen, damit kein ihren Ansichten widersprechendes Gut eingefahren und verdebitirt, kein anderes System gepredigt werde, als das von ihnen approbirte. – Fern bleibe jede Bevormundung dieser Gattung von unserer Cäcilia“(2). Weber hat diese Ausrichtung seiner Zeitung beibehalten und sie neun Jahre später mit teilweise denselben Worten noch einmal bestätigt(3) [II,283]. Daß man um die philosophischen Probleme Bescheid wußte, lehrt die Schärfe der gegen die Leipziger Zeitung gerichteten Kritik. Weber wählte dazu eine indirekte Taktik, um einem Blatt beizukommen, für das er selbst zahlreiche Aufsätze verfaßt hatte. Statt selbst sie unmittelbar anzugreifen, läßt er die „Berliner allgemeine musikalische Zeitung“ rezensieren und das Berliner Blatt auf Kosten des Leipziger Blattes über alle Maßen loben. Verfasser ist Heinrich Dorn, der an der Berliner Zeitung zu zeigen versucht, was der ehemaligen Rochlitz Zeitung, die jetzt von Fink geführt wird, alles fehlt. Daß dieser Hieb tief getroffen hat, beweisen die beiden erbitterten Antworten Finks(4).Die eine erschien in der „Caecilia“ selbst, die andere in der Leipziger „Allgemeinen musikalischen Zeitung“. Finks Antworten zeigen

194

5. Kapitel: Gegengründungen

aber auch, warum die Berliner Zeitung auf die Dauer nicht konkurrenzfähig bleiben konnte und daß nicht allein die äußeren Gründe der Auseinandersetzung zwischen Marx und Rellstab das Blatt nach sechs Jahren eingehen ließen, sondern auch gewichtige innere, die sich aus der Struktur der Marx-Zeitung ergaben. (1) (2) (3) (4)

Einführung, Cae I./1, [April] 1824, S. 1–5, Z:1; Einführung, a. a. O. S. 2; Empfehlung / von / Gfr. Weber: Cae XV./57, [ab 2. Woche Mai] 1833, S. 1–9; H. Dorn: Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung, Cae VIII./31, [April] 1828, S. 178–188 [II,220]; J. W. Fink: Antwort auf einige Punkte der Recension der Berliner allgem. Musik. Zeitung, von H. Dorn, im 31sten Hefte der Cäcilia, AmZ XXX/36, 3.9.1828, Sp 585–592 [II,222]; G. W. Fink: Zweite Antwort auf des Hrn. Dorn Recension der Leipziger Allgemeinen Musikal. Zeitung im 31. Hefte der Cäcilia, Cae IX./35 [nach 14.11.]1828, S. 147–155 [II,231].

4. Webers musikkritische Ansätze a) Von Kant zu Schelling Weber taktierte geschickter als Marx und löste auch das Kritikproblem besser. Dem Kanterlebnis wich er aus, indem er, um ein Bild zu benutzen, den im Wege liegenden viel zu schweren Block nicht zur Seite räumte, sondern über ihn hinweg kletterte. Das war um 1824 nicht allzu schwer, weil Kant zu dieser Zeit an Autorität verloren hatte. Kant wird auch keineswegs überwunden, sondern nicht mehr beachtet, weil man sich an Schelling orientiert. Dessen Philosophie von der Identität von Subjekt und Objekt legten die Musiker auf ihre Weise aus, um Kunstwerk und Kritik deckungsgleich machen zu können. Wenn sich Weber auch nicht auf die Kantsche Erkenntnistheorie berief, so war er doch nicht ohne philosophische Waffen, die ihm Schelling lieferte. Die zeitgenössischen Ausfälle gegen Kant und die von ihm in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ zum Teil immer noch getragene Kritik zeigen, wie vehement sich die Kritik zur Prinzipienkritik wandelte. Schelling wirkte zusätzlich über zwei Einflußkanäle: einmal über seinen kleinen Raffael-Aufsatz, und, in Verbindung mit seiner Gesamtphilosophie, über den romantischen Philosophen schellingscher Prägung, Lorenz Oken, der gleich eingangs der „Cäcilia“ wenn auch in anderem Zusammenhang in einer Weise hervorgehoben wird, die auf einen erheblichen Bekanntheitsgrad jedenfalls im Umfeld der Redaktion schließen läßt. b) Publikum als Wertbegriff Der Ansatz, von dem aus Weber das Problem der Kritik sah, war anders als bis dahin üblich. Hier äußerte sich ein Jurist mit nüchtern praktischem Denken. In einem Grundsatzartikel von 1826 verknüpfte Weber das Rezensionsproblem mit dem Anonymitätsproblem(1) [II,162]. Nicht mehr wird auf die Prinzipien der Kritik gedacht und damit kantische Erkenntnistheorie auf die Kritiktheorie übertragen, sondern es wird darüber gesprochen, wie man es mit dem Problem Musikkritik im eigenen

II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz

195

kleinen Bereich halten will. Weber geht es mit einer bis dahin unbekannten Fragestellung an. Zum erstenmal in der neueren Geschichte der Musikkritik macht er das Publikum als Wertbegriff aus, um das sich die anderen Definitionen der Kritik bislang nicht ausdrücklich gekümmert hatten, weil man Publikum und Künstler häufig als zwei Blöcke mit unterschiedlichen Interessen verstand. In einem vierteiligen Artikel „Analekten für Künstler, Kunstrichter, Kunstfreunde“ [II,37] in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ vom Oktober-November 1815 wird gleich im ersten Aufsatz in Spalte 699 Kopernikus zitiert: „Was dem Volke gefällt, verstehe ich nicht; was ich verstehe, gefällt ihm nicht: wir sind geschieden.“ Weber sieht die Zusammenhänge anders. Als Redakteur weiß er (und Rochlitz wußte es immer, auch wenn er es nicht ausdrücklich betonte), daß es der Leser ist, der über Erfolg oder Mißerfolg einer Zeitung entscheidet, und trotzdem in Zweck- und Zielsetzung einer bis dahin idealistischen Anschauung keine bewußt wahrgenommene Rolle spielte. Für Weber ist es unfragwürdig: Kritiken werden nicht für den Autor, also im Musikbereich für den Komponisten oder den ausübenden Künstler, und sie werden nicht um ihrer selbst, sondern nur für das lesende Publikum geschrieben, ein Publikum, das ein Kasseler Kritiker 1849 in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ in einem anderen Zusammenhang die „objective Mehrheit“ nennen wird(2) [II,711]. Komponisten und ausübende Künstler werden von einer Kritik nur mit betroffen. Weber verschiebt auf diese Weise grundlegend die bisherige Zweck- und Zielsetzung, die Kritik müsse im Interesse der Kunst den Komponisten belehren. Das Genieproblem machte diese These zumindest schwankend. Wie sollte ein Kritiker ein Genie belehren, wenn nur das Genie das Genie versteht! Die Hilfskonstruktionen vom genialen Kritiker, der dem genialen Komponisten zu entsprechen habe, konnten sich einem so scharfen Verstande wie dem Webers gegenüber nur als brüchig erweisen. Webers neue These findet ihre Rechtfertigung. Selbst im 20. Jahrhundert meinten Komponisten abfällig, noch nie habe ihnen eine Kritik über ihre Kompositionen etwas Wesentliches gegeben, ihnen weitergeholfen oder sie gar belehrt. Dafür ist die Kritik aber nicht da. Die Kritik ist für das Publikum bestimmt, das über die Musikproduktion unterrichtet werden will, die es selbst weder überschauen noch möglicherweise sachlich beurteilen kann. Für Weber steht fast ausschließlich das Bedürfnis des Lesers im Mittelpunkt. Zwar findet er es schön, wenn ein Komponist aus einer Kritik etwas Sinnvolles für sich entnehmen kann; Weber sieht darin eine allenfalls erfreuliche, trotzdem nebensächliche Auswirkung. Wenn es nämlich, so begründet Weber, um die Belehrung der Komponisten zu tun wäre und nur darum, dann brauche man die Rezensionen ja nicht zu schreiben, um sie drucken zu lassen, sondern könne sie den Komponisten gleich auf weniger beschwerliche Weise persönlich zustellen. Daß man sie aber drucke, um sie möglichst vielen Lesern in die Hände zu geben, lasse doch wohl darauf schließen, daß die gedruckte Kritik dem diene, für den man sie überhaupt erst gedruckt habe, und das sei der Leser. Von jetzt an wird auch in den anderen Blättern das Publikum mit unterschiedlicher Wertung gesehen, die jede Form von der Ablehnung über Gleichgültigkeit bis zur Begeisterung annehmen kann. Die in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ 1822 erzählte Anekdote von Farinelli und seinem Diener soll das Unverständnis des Publikums beweisen. Der

196

5. Kapitel: Gegengründungen

Diener tritt als Farinelli auf und erhält begeisterten Beifall – Farinelli jetzt als Diener wird bescheinigt, Talent zu haben(3) [II,81]. Diese Anekdote ist ein Topos, den man in viele andere, auch nicht künstlerische Bereiche übertragen kann und der sich schon in den ältesten italienischen Novellen findet. Für viele Beobachter steht fest, daß der Name für den Erfolg mit ausschlaggebend ist. Da gibt es den berühmten Meister, dessen Komposition man über alles lobt, bis sich herausstellt, daß sie von einem anderen stammt, und umgekehrt, eine gute Komposition, die man übersieht, bis man erfährt, ein beliebter Komponist habe sie verfaßt(3) [II,272]. Da ist die Geige, die ein Vielfaches an Wert gewinnt, wenn sie von einem bedeutenden Instrumentenbauer gefertigt sein sollte, obwohl sich der Klang des Instrumentes dadurch nicht verändert. Dasselbe gilt für ein Gemälde oder auch für Gebrauchsgegenstände. Eduard Krüger setzte in seinem vierteiligen Aufsatz „Laien, Dilettanten, Künstler“ von 1839 die Begriffe Volk, Dilettant und Künstler nach Hegelart in eine Dreiteilung aus den Gegensätzen Laie-Künstler und dem Dilettanten als vermittelnde Instanz und mußte ihn zwangsläufig mit Ausnahmen bestücken(4) [II,363]. Auf das Publikum kommt alles an. Seine Stimme entscheidet. Aber das Publikum ist das Volk, und das Volk ist mit Kindern zu vergleichen. Sie freuen sich über alles, über das Gute ebenso wie über das Schlechte. Erst auf Dauer streifen sie das Schlechte, das nur der Zeit gehörige, ab. Publikum gleich Volk reagiert zunächst wertneutral, weil unbewußt und gefühlsbetont. Das Volk erfreut sich am bunten Glitzer. Aus diesem Grund das Volk zu verachten bezeichnet Krüger als „finsteren unthätigen Menschenhaß“(5); denn das Volk erkenne auch das Bleibende: „Es kann sich über Erhabenes und Gemeines freuen – – – vielleicht dauert bei ihm das Große etwas länger, während das Gemeine nach kurzem Beifall rasch, wie es emporsproß, untergeht“(6). Krüger zitiert Goethe und spricht von der „Volkheit“. Nicht das einzelne Urteil zähle, sondern die Totalität der Urteile. „Die Totalität, gleichsam die Weltseele des Publicums oder aller gleichzeitiger Publica zusammengenommen ist es, was man Zeitalter nennt; im Gebiete der Politik heißt’s öffentliche Meinung, welche als etwas Notorisches, Indefinibles nicht eine einzelne, subjectiv ausgesprochene Wahrheit, sondern eine allgemeine alle durchdringende Grundstimmung bedeutet: diese könnte sogar einem Einzelnen fehlen, ohne dadurch an Allgemeinheit zu verlieren, so wie ein Wahnsinniger unter tausend Vernünftigen den Begriff der vernünftigen Menschheit nicht aufhebt“(7). Dem steht der Künstler „mit wissenschaftlicher Machtvollkommenheit“ gegenüber. „Der Künstler ist die persönlich bewußte Kunst, und als solcher der Allgemeinheit mit subjectivem Wollen gegenübergestellt“(8). Der Künstler schafft mit Bewußtsein und Wollen. Zwischen beiden Gruppen erscheint der Dilettant. Er kommt aus dem Volke, hat sich aber weitergebildet, ohne Künstler zu sein. Krügers Dreiteilung scheint für den Augenblick schlüssig zu sein. Außerdem erkennt er die Bruchstellen. Eine Idealkonstruktion Volk-Dilettant-Künstler gibt es in dieser Form nicht. Denn zum Volk zählen auch Menschen mit richtiger Erkenntnis, und Künstler vertreten nicht immer das Überzeitliche, sei es, weil sie es nicht wollen oder weil sie es nicht können, und der Dilettant kann falsche Wege beschreiten und mit betörender Kraft wollende Menschen verführen. Alles das muß

II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz

197

Krüger bedenken und mit Beispielen belegen. So wird sein Artikel „Laien, Dilettanten, Künstler“ 1839 mit allein vier Fortsetzungen überlang. Fast zur gleichen Zeit erscheint, wie eine Parodie auf Krüger, in den „Jahrbüchern des deutschen National-Vereins für Musik und ihre Wissenschaft“ ein in Reimform gebrachter Artikel „Das Publikum“, dessen letzte zwei Zeilen erklären, sechs Kennern sechs „Publika“ vorzuziehen(9) [II,367]. Nach Meinung eines Schreibers in der „Allgemeinen Wiener Musik-Zeitung“ (es dürfte sich der Signatur -sky nach um Lewinsky gehandelt haben), ist „Ein Muster-Publicum“ nur das in der Bierhalle. Nach drei Takten beginnt es schon begeistert zu klatschen, und das immer wieder aufs Neue, und am Ende mußte Lanner seine neueste Walzerschöpfung auch noch wiederholen(10) [II,429]. Dagegen hat Carl Gollmick in einer für die „Neue Zeitschrift für Musik“ geschriebenen Satire das Publikum beschrieben, wie es als ‚vox populi‘ von Interessenvertretern gegen die ‚wahre‘ Kunst mißbraucht wird(11) [II,582]. Die „Signale für die musikalische Welt“ brachten im Januar 1843 eine moritatenähnliche Zusammenstellung von Fällen aus Italien, in denen das lachende und spottende Publikum offensichtlich künstlerisch ungenügende Musiker angeblich zum Zusammenbruch und in einem Falle sogar in den Tod trieben(12) [II,436]. Krüger ist 1848 so weit, den Beifall überhaupt abgeschafft zu fordern, weil die Reaktionen eines Publikums irrational seien(13) [II,672] (Beifallsfreie Kunstdarbietungen wurden im 20. Jahrhundert von Arnold Schönberg für seinen Wiener Musikalischen Privatverein eingeführt.). Krügers damals für die „Allgemeine musikalische Zeitung“ geschriebenen Aufsätze befaßten sich mit den Beziehungen zwischen Kunst und Politik. Vom publikumsbestimmten ‚Zeitgeist‘ sprach Bührlen schon 1823, als er mit einem krassen Bild kritisch anmerkte, viele Künstler trauten sich nicht, ihn hinter sich zu lassen und entschuldigten sich damit, man habe doch dem „muthmaasslichen Verlangen des Publikums“ nachgeben müssen. Ein solcher Künstler „verehrt im Herzen die wahren Kunstheiligen, aber er nimmt von ihren Altären die Kerzen und zündet sie dem Satan und den bösen Dämonen an“(14) [II,89]. R. O. Spazier aus Dresden (nicht zu verwechseln mit Carl Spazier) erklärte 1828 in der „Münchener allgemeinen Musik-Zeitung“, es sei nicht wahr, daß die kritische Stimme nichts gegen Volkes Stimme ausrichten könne. Unter Verweis auf Clauren, der durch die an ihm geäußerte Kritik seine Beliebtheit verloren hatte, will er die Bedeutung insbesondere der Musikkritik nachweisen. Die größte anderweitige Bildung reiche häufig nicht aus, gute von mittelmäßiger Musik zu unterscheiden(15) [II,207]. Er spricht von der „momentanen Stimmung“, die oft das Schlechteste begünstige. „Es giebt eben Wahrheiten, die, wenn auch noch so oft ausgesprochen, ewig wieder neu sind, weil die Wirkungen, die sie hervorrufen, und zu deren Bannung sie ausgesprochen wurden, in jedem Augenblicke ihren Geburtsaugenblick in demselben ältern Menschen, geschweige denn in jedem neu auflebenden feyern“(16). Zeitschriften erzielten ihre größte Wirkung am Tage ihres Erscheinens. Sie sprechen aus der Gegenwart für die Gegenwart, und seien der Nachwelt von Interesse, weil sie den Geist der Vorzeit erkennen ließen. Spazier schreibt, um für die neue Münchner Musikzeitung zu werben. Über kritische Prinzipien redet er

198

5. Kapitel: Gegengründungen

nicht; das Thema ist ihm offensichtlich fremd. Er ist ein erklärter Gegner Rossinis, wie vor allem der zweite Teil seines Fortsetzungsartikels zeigt. „Mit einer Klage über das Eindringen Rossini’s in unsere musikalische Welt begann ich fast meine erste Nummer, und mit einer Klage über ihn beginne ich die zweite, dort, weil man ihn in München so bereitwillig hereingelassen, hier aber, weil er bei uns so über die Gebühr immer noch verweilt“(17). In der Italienischen Oper sei die ganze Saison über nur Rossini gespielt worden, und die Italienische Oper unterdrücke das Aufkommen der deutschen Oper. Die Kritik müsse dagegen vorgehen, auch wenn man über den vielen Schönheiten den Mangel des dramatischen Elementes einräume. Es gelte grundsätzliche Opposition. Spazier nennt keine Komponistennamen, die gegen Rossini antreten könnten. Er bleibt bei der Veranlassung „der öfteren Aufführung anderer grosser und wahrer dramatischer Erzeugnisse.“ Spazier ist zeitfeindlich rückwärts gewandt. Man müsse jedes neu aufstrebende Talent milder beurteilen, wenn es, um Erfolg zu haben, auf die allgemeine Meinung der Zeitgenossen, die in den Rossini-Strudel hinein geraten seien, Rücksicht nähme. Publikumsbeschimpfungen ziehen sich über das ganze Jahrhundert hin. Zu viele, auch ernsthafte Kritiker können nicht begreifen, warum das eine Stück gefällt und das andere nicht, wenn sie selbst, wie ein Brünner Korrespondent der „Allgemeinen Wiener Musik-Zeitung“ 1846, gegenteiliger Auffassung sind [II,587]. In der etwas seltsamen „Zeitschrift für Deutschlands Musik-Vereine und Dilettanten“ ging es in einem 32-seitigen anonymen Artikel „Ueber den Einfluss des Dilettantismus und der Dilettanten auf den jetzigen Geschmack in der Musik“(18) [II,405] um undefinierte Benutzung des Adjektivs ‚wahr‘, um ‚wahre‘ Kunst, ‚wahre‘ Schönheit in Abgrenzung von der Mittelmäßigkeit, die „unausstehlich“ sei. Der mit viel Alltagsweisheit und sich gegenseitig aufhebenden Feststellungen gespickte Artikel unterscheidet zwischen Künstlern, gewöhnlichen Musikern, Musikanten und ‚Schnurranten‘. Urteile widersprächen sich, die Entscheidung erfolge durch den „festgestellten Begriff vom Schönen“. Schön wird definiert als „dasjenige, was wir billigen, was unser Verstand gut heisst oder, was uns Vergnügen macht, was unser Gemüth anspricht“(19). Über den jeweiligen Geschmack führe man in jeder Epoche Klage, wenn auch nur von denen, die „von der Wirklichkeit abgestossen werden“(20). Künstler sind einmal so, ein andermal anders, das Publikum urteilt einmal so, ein andermal anders. Meisterwerke werden an dem einen Ort verstanden, an dem anderen nicht. Die Dilettanten sind ein Teil des Publikums, aber nur ein Teil davon. Die gut dotierten Hoftheater und Hofkapelldirektionen bestimmten das Gute, und das wirke auf die Dilettanten, und die verbreiteten es dann in ihren Vereinen. Zum Thema Publikum äußern sich viele Schreiber, wenn auch meist eher aphoristisch und ohne den Ernst, mit dem Gottfried Weber das Verhältnis Künstler-Publikum abhandelte. Das Publikum schlägt mit seinen Meinungen wie das Wetter um, ist auf ernsthafte Kunst bedacht, läuft der Mode hinterher, will unterrichtet werden, weiß alles besser. Das Thema ist unerschöpflich und in sich selbst so zerspalten, daß man jede Position dazu einnehmen kann, um gleicherweise Recht oder Unrecht zu haben. Sicher ist nur, ohne Publikum gibt es auch keine Kunstöffentlichkeit [II,310; II, 315].

II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz

199

So laufen alle Auseinandersetzungen mit dem Thema Publikum auf dasselbe hinaus. Es ist einmal gut, einmal schlecht. Einmal erkennt es das Richtige, ein andermal begeistert es sich für das Falsche. Was richtig oder falsch ist, vermag im Augenblick des Ereignisses ohnehin niemand zu sagen. Ein Publikum kann nicht als Ganzes besser oder schlechter sein als das einzelne Individuum, das Teil dieses Publikums ist. Also kann man Publikum schelten oder loben, und man sagt dabei immer etwas Richtiges oder etwas Falsches. Und geht man auf den Einzelnen zu, so hat er seine Gründe, sich so oder anders zu verhalten. So wird in den Texten Publikum entweder pauschaliert oder in eigenen kleinen Betrachtungen ernst oder unernst gesehen oder sogar gescholten [II,145](21), [II,143](22). Auch in der Marx-Zeitung wird die Rolle des Publikums als Entscheidungsträger untersucht. In einem mit „F.“ gezeichneten Aufsatz „Vom Urtheil des Publikums über Künstler und Kunstwerke“(23) [II/149] vertritt der Autor am Beispiel des Vergleichs der „Euryanthe“ mit dem „Freischütz“ die Ansicht, der Entscheidung über den Wert der „Euryanthe“ auszuweichen, wenn man das Urteil über die Oper entweder aus dem Vergleich mit dem erfolgreicheren „Freischütz“ oder aus dem Publikumserfolg der „Euryanthe“ selbst fällen wolle. „So zeigte sich beim Publikum, was wir bei Individuen alltäglich vorkommen sehen: der Unbehülfliche, dem eine Definition, der Stumpfsinnige, dem ein Urtheil fehlt, flüchten beide, jener zu einem Beispiele, dieser zu einem Vergleiche“(24). In der Natur der Kunstwerke selbst läge eine Bestimmung, durch die sie historisch würden. Das Kunstwerk will in der Welt heimisch und anerkannt werden. An dieser Stelle spricht der Pädagoge Marx. Der Autor setzt die entsprechende Empfängnisfähigkeit der Hörerschaft als Bedingung voraus. Bevor das Kunstwerk vollendet wurde, hat es beim Künstler eine Entwicklung gegeben. Der Hörer muß diese Entwicklung bei sich selbst nachvollziehen, ehe er das Kunstwerk aufnehmen kann. Den Weg jedoch von der Bewußtlosigkeit zum Bewußtsein zu durchlaufen geht nicht so schnell. Ein Kunstwerk kann nicht beim ersten Hören durch ein Publikum verstanden werden, auch wenn der „Euryanthe“, die den Ausgangspunkt der Betrachtungen bildete, nicht der Charakter einer epochalen Erscheinung zuzuerkennen sei. Ohne noch den später geläufigen Begriff von der Reflexionsmusik zu kennen, meint der Verfasser genau diese. Das Wort von der „Veredlung“ des Hörers fällt. Bei einem einfachen Rätsel bemühe man sich, die Lösung zu finden. Und für die Kunst sollten solche Bemühungen nicht nötig sein? „Entweder man glaubt überhaupt nicht an so hohe Beziehungen der Kunst, oder man stellt blos an die Musik die Foderung, dass sie Allen fasslich sei. Da sollte dann das Recht, das man allen übrigen Künsten zugesteht, der Musik allein nicht widerfahren? Darum nicht, weil Musik bei jedem Trinkgelage, in jedem Tanzsaale zu hören ist, oder weil der Zutritt zu ihrem Tempel Allen offen steht?“(25) Also kommt dem Publikum nach dem ersten Hören kein entscheidendes Urteil zu. Brendel war es, der in einer eigenen Abhandlung „Der Beifall des Publikums und der Werth desselben“(26) [II,719] den Beifall zeitgenössisch relativierte. Die Tatsache, daß das Publikum sowohl bedeutende wie modische Musik beklatscht (und oftmals bedeutender Musik befremdet gegenüber steht), ließ ja nur eine einzige Schlußfolgerung zu. Brendel bringt das Beispiel von der Angst, die in London Haydn vor Pleyel hatte. Pleyel war dabei, Haydn den Ruhm streitig zu machen,

200

5. Kapitel: Gegengründungen

und so kam er auf die Idee mit dem Paukenschlag. „Pleyel ist vergessen, Haydn lebt; nur das Gericht der Geschichte bringt Entscheidung in letzter Instanz“(27). „Es ergiebt sich hieraus, wie kein Vernünftiger die Stimmen des Tages mißachten, denselben aber auch nicht einen höheren Werth beilegen wird, als sie verdienen. Der Beifall des Publikums giebt ein Zeugniß für einen gewissen Grad des Gelingens; … ist ein Durchgangspunkt, … ist aber nicht das Letzte, … Nur Der hat den Preis errungen, der neben solchem Beifall zugleich das Urtheil der Besten seiner Zeit für sich hat; das Letztere ist ihm eine Bürgschaft für die Anerkennung der nachfolgenden Zeiten; wer allein den ersteren errang, kann sicher sein, nur der Mode gelebt zu haben.“(27). Nur kurze Zeit später wird man in diesem Zusammenhang von „Zukunft“ sprechen. A. J. Becher behandelte 1842 in einem Dreiteiler „Kritik des Publicums“ für die „Allgemeine Wiener Musik-Zeitung“ die Frage der Zusammensetzung eines Publikums wie der Möglichkeit, ein Publikum zu erziehen, nach Kunstsinn, Geschmack und Dilettantismus(28) [II,415]. Für Theodor Hagen aus Hamburg ist am schlechten Geschmack des Publikums nur „die“ Kritik schuld(29) [II,496]. In Hamburg „brüllt“ man Bravo, wo man still sein sollte, und umgekehrt. Nach Vorstellung des Frühkommunisten Hagen, der über Frankreich und England nach USA auswandern mußte und Ende Dezember 1871 in Washington mit nicht einmal fünfzig Jahren starb (geb. 1823), ist das Volk ohnehin schon in politischer wie religiöser Hinsicht betrogen. Der Bildungsgrad des Publikums hänge von der Kritik ab. Man muß bei der Erklärung einer solchen Behauptung daran denken, daß ein Städter, vor allem ein Kleinstädter, der nicht gerade instrumentalbegabt war, seine Informationen ausschließlich über die Zeitung bekam, die er las. Die Musikkritik hatte also einen viel größeren Einfluß als hundert Jahre später, wo man sich weiterer Informationsquellen bedienen konnte. „So wie diese [gemeint ist die Kritik] vorurtheilsfrei, selbständig, mit Kenntnissen gewaffnet die Interessen der Kunst überwacht, wird auch das Publicum in seinem Urtheile geläuterter, zartfühlender dastehen.“ Hagen spricht bei Kritikern und Publikum von Halbbildung. „Es ist diese Halbbildung, die in Literatur und Kunst in Deutschland das meiste Unheil angerichtet hat; denn sie ist durch die Zahl in Stand gesetzt, Recht zu haben. Die Halbbildung ist immer gleich mit ihrem unreifen Urtheile da, und wird dadurch der fressende Krebs an fast allen unsern Institutionen“(30). Jede Behauptung über das Publikum kann mit einer Gegenbehauptung widerlegt werden, selbst wenn man so etwas wie Publikumsschelte betreibt. Bei Carl August Schimmer „Ueber den musikalischen Enthusiasmus“ liest sich das so: „Schöne Sache um den Enthusiasmus“ und die Aufhebung gleich hinterher: „Grässliche Sache aber auch um den Enthusiasmus“(31) [II,459]. Die Sache zu erklären ist ausweglos. Es gibt eben „das“ Publikum nicht, und die Teilbarkeit einer Menschen- oder Berufsgruppe kannte man schon im Mittelalter. Alles Gute kommt von X, alles Schlechte kommt von X. Für X ist jede Gruppe einsetzbar. Bührlen behauptete „Die Menge liebt das Gute, Schöne, Geschmackvolle, versetzt mit einem Zusatz von Bösem, Unschönem, Geschmacklosem“(32) [II,142]. Viele Erklärungsversuche bleiben kurios. Im „Jahrbuch des deutschen National-Vereins für Musik und ihre Wissenschaft“ liefert ein Autor, ein Ministerialrat

II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz

201

H. v. St. Julien, im Juli 1839 eine mehrteilige Studie „Beiträge zu einer Theorie des Beifalls“(33) [II,362]. Unterschieden wird zwischen „Konsument“ und „Produzent“. Es geht um kunstwissenschaftliche Begriffe, physiologische Bemerkungen, Begründung des modernen Kunstelements, kunstatmosphärische Beobachtungen, Kunst- und Geschmacksmesser, und im „Museum der eleganten Welt“ erschienen 1836 „Maximen und Bemerkungen“(33) [II,316] über die drei Widersprüche, die ein Mensch in sich vereinigen sollte: „die Liebe zur Tugend mit der Gleichgiltigkeit gegen die öffentliche Meinung; die Liebe zur Arbeit mit der Gleichgiltigkeit gegen den Ruhm; und die Sorge für seine Gesundheit mit der Gleichgiltigkeit gegen das Leben.“ Ruhm meint hier Erfolg, und Erfolg ist die Anerkennung, und über die Anerkennung entscheiden die Fachleute und das Publikum, wobei die Fachleute selbst ein Teil dieses Publikums sind. Die Erkenntnis von der eigentlichen Funktion der geschriebenen, nicht der Auge in Auge abgegebenen Kritik setzte sich trotzdem nicht so schnell durch. Noch 1828 wird in der „Münchener Theater-Zeitung“ der längst überholte Standpunkt vertreten, die Kritik sei für den Künstler, hier: den Schauspieler, bestimmt(34) [II,224], und möglicherweise hat man sie dort auch noch so verstanden. Jedenfalls werden allerlei Schlüsse aus dem Verhältnis Kritiker-Schauspieler abgeleitet. c) Funktion Rezension. Zweckmäßigkeit vor Spekulation Weber stellt die Frage, für was denn dem Leser Rezensionen dienen sollen: „Die Antwort ergiebt sich wohl von selbst aus der Natur des Verhältnisses. Das Publicum soll und will von den Erscheinungen in der literarischen Welt Kunde erhalten. Aus den Novitätenverzeichnissen der Verlagshandlungen, aus Messkatalogen u. dgl. sind aber nur Namen und Titel zu ersehen, was in den mei- // sten Fällen noch äusserst wenig sagen will. Das Publicum bedarf daher, ausser dem blossen Titel eines Buches oder einer Composition, auch noch etwas Näheres von seiner Beschaffenheit und Einrichtung zu erfahren, von der Art und Weise, wie der Verfasser oder Tonsetzer seinen Gegenstand gegriffen, aufgefasst, vom Gesichtspunct, aus welchem, und der Art, wie er ihn dargestellt, für welche Classe von Lesern, Spielern oder Sängern das Werk bestimmt und gerecht ist, u.s.w. u.s.w., was alles auch selbst der ausführlichste Titel nicht anzudeuten vermag“(35). Kants Anliegen wird auf diese Weise durch eine Nützlichkeitserwägung außer Kraft gesetzt. Es geht nicht mehr um Richtigkeit des Urteils auf der Grundlage erdachter Prinzipien, sondern um die notwendige Information eines Publikums. Es geht um bündige Entscheidungen, die gefällt werden müssen. Es gilt, das Publikum mit einem Gegenstand bekannt zu machen, von dem es ohne Informationen zum Schaden aller Beteiligten keine Kenntnis erhalten würde. Es sind Entscheidungen, die nicht aufgrund philosophischer Vorüberlegungen hinausgezögert oder gar verhindert werden dürfen, wenn nicht der tägliche Umgang mit Kunst erlahmen soll. Die Konsequenz aus der kantschen Erkenntnistheorie, Kritik könne nicht durch Begriffe verbindlich erfolgen, sondern gründe im Geschmack, mag so richtig sein wie immer es will – so

202

5. Kapitel: Gegengründungen

wird damit doch nicht aus der Welt geschafft, daß das tägliche Verkehrsleben die Kritik erfordert und nicht auf sie verzichten kann, sofern nicht ein wesentliches Stück der kulturellen Freiheit verloren gehen soll. Die Zweckmäßigkeit ist der philosophischen Spekulation vorgeordnet. Damit wird die Autorität Kants zwar nicht logisch, aber doch praktisch gebrochen, weil sich nicht ableugnen läßt, daß Kants Anschauung auf die Dauer zum Skeptizismus, auf jeden Fall zur Stagnation eines freien Kunstlebens führen muß. Den besten Beweis dafür liefert die Leipziger „Allgemeine musikalische Zeitung“. Der Schelling-Einfluß, aus der Identitätsphilosophie von Subjekt und Objekt auf die Musikkritik im Verhältnis Kritik zu Kunstwerk umgeformt, zeigt sich in der Versetzung des Schwergewichts der Kritik hin zu einem Autoritätsstandpunkt. Des Kritikers zweite Pflicht, neben der ersten, das Publikum zu unterrichten, nämlich die Mitteilung über Wert und Unwert des Stückes, bleibt mit Zuspitzung auf die Wertung hin nach wie vor erhalten; aber die Lösung liegt in der Gediegenheit des Kritikers, der mit seinem Namen für die Richtigkeit bürgt, also nicht mehr in einem vom Außenstehenden nachvollziehbaren methodischen Prinzip. Was Bührlen in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ in seinen Aphorismen hintergründig verschleiert ansprach, das klärt Weber scharfsinnig ab: „Es sollte sich eigentlich von selbst verstehen, dass diese Benachrichtigung des Publicum über den Werth des Werkes als solches, ganz unabhängig bleiben müsste von dem Umstande, ob der Beurtheiler mit den vom Verfasser aufgestellten Sätzen einverstanden ist, oder nicht, indem, im Falle einer Meinungsverschiedenheit, die Erörterung, welche von beiden Meinungen die richtige, welche unrichtig sei, nicht der Gegenstand einer, zur Benachrichtigung des Publicum über den Werth oder Unwerth des Werkes, bestimmten Recension sein kann und sein darf, und es eine höchst unschickliche Arroganz ist, wenn ein Mensch meint, seine von den, in einer Schrift aufgestellten Ansichten abweichende Meinung – über deren Vorzug vor jener ein Urtheil auszusprechen doch wohl nicht ihm selbst zustehen kann, – doch in dem Gewand eines Urtheilsspruches, im richterlichen Gewande einer Recension, aussprechen zu dürfen; ein Unfug welcher indessen, im heutzutagigen Recensirwesen, leider häufig genug zu spucken pflegt, so wie auch umgekehrt, nicht selten ein Recensent, zumal ganz anonym, sich ein Fest daraus macht, über das Erscheinen einer Schrift den unendlichsten Jubel darum zu erheben, weil der Verfasser demjenigen Glauben huldigt, welchem er, der Recensent, zugetan ist. – Wir wollen nicht läugnen, dass in manchen Fällen die Grenzlinien zwischen einer reinen Beurtheilung des Werkes als solches, und einem Urtheilen über den Werth der darin ausgesprochenen Meinung, einigermassen ineinanderfliessen: wenn aber z. B. (wie man wohl Beispiele hat,) beim Erscheinen einer Streitschrift über einen bestrittenen Gegenstand, der Recensent solcher Streitschrift derselben jubelnden Beifall darum zollt, weil sie die und die Meinung aufstellt, als deren Anhänger er sich eben dadurch bekennt, – dann hört, um das Wenigste zu sagen, sein von ihm, dem Anhänger der eignen Partei, ausgesprochener Beifall auf, ein Urtheil zu sein, dessen Gewand und Sprache er sich aber dann auch nicht unziemlicherweise anmasen // sollte“(36).

II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz

203

d) Juristisches Vorverhalten Selbst wenn man nicht wüßte, daß Weber von Hause aus Jurist ist, müßte man es aus diesem Abschnitt fast zwingend schließen. So, wie er hier spricht, spricht nur ein gelernter Jurist. Der angehende Jurist wird seiner Mentalität entsprechend als künftiger Richter, Ankläger oder Verteidiger gesehen. Vom Richter wird Besonnenheit, angeborene Ruhe, Billigkeit (‚Aequitas‘) und die Fähigkeit verlangt, gegen sich selbst und seine eigenen Vorstellungen (künstlerisch gesprochen: gegen seinen eigenen Geschmack) entscheiden zu können; vom Ankläger logisches Denkvermögen, rasche Reaktionsfähigkeit, Unerschrockenheit; vom Anwalt Kunst der Taktik, übersprudelnde Beredsamkeit, Begeisterungsfähigkeit. Darüber hinaus zielen die juristischen Übungen auf die beiden in der Rechtspraxis u. a. statthaften Verfahrensweisen des Gutachter- und des Urteilsstils ab. Der Gutachterstil darf keine das Urteil präjudizierenden Formulierungen enthalten; denn dem (deutschen) Richter steht als Zeichen seiner richterlichen Unabhängigkeit die Beweiswürdigung zu. Allein der Urteilsstil hat eine apodiktische Form. Er ist aber nur dann zulässig, wenn der Urteilende in keinem Befangenheitsverhältnis zum beurteilten Gegenstand steht, also nicht in eigener Sache spricht. Auf diese strenge Unterscheidung spielt Weber an. Für ihn als Juristen, als Staatsanwalt wie als erfahrenem Richter, ist die Sauberkeit in allen kritischen Entscheidungen dermaßen selbstverständlich, daß er sie nur kurz andeutet. Natürlich handelt es sich um eine idealistische Fiktion, anders wären Fehlurteile nicht zu erklären. Auch der Richter ist auf seine Weise befangen und er kann, wenn er ideologisch instrumentalisiert worden ist, geradezu mörderisch zur Karikatur dessen werden, was er eigentlich vertreten sollte. Ob jemand an einer Sache innerlich beteiligt ist oder nicht, weiß jeder Mensch im Grunde seines Gewissens über alle dialektischen Manöver des Selbstbetruges hinaus ziemlich genau. Was Weber anklingen läßt, gründet in einer alten Rechtspflege, deren Grundlagen ohne die erwähnten Unterscheidungen zusammenbrechen würden und mit ihnen das gesamte Rechtsgebäude. Es erklärt auch, warum der Jurist Weber noch stärker als der Jurist Bührlen die Autorität des Kritikers betont und damit für die musikkritische Umformung schellingscher Theorien vorbestimmt zu sein scheint; denn selbst das beste Gesetzeswerk ist außerstande, dem Richter mehr als Paradigmen und Hinweise und Handhaben und daraus abgeleitete Vorschriften zu liefern. Nichts kann ihm die letzte Entscheidung einschließlich der Verantwortung abnehmen. Weber überträgt zeitgenössische Gerichtspraxis auf die Musikkritik. Das kritische Fehlurteil wird einem Justizirrtum gleichgesetzt, den zu verhindern die moralische Qualifikation des Richters verbürgen muß. Auf dieselbe Weise findet sich der (wohlwollende) Kritiker mit einem Fehlurteil ab wie der (wohlwollende) Richter mit seinem in der Regel folgenschweren Justizirrtum, nämlich allein dadurch, daß bei der Urteilsbildung alle Möglichkeiten der Wahrheitsfindung ausgeschöpft wurden. Der Richter = Kritiker muß bei der Urteilsverkündung von sich selbst sagen können, nach menschlichem Ermessen nichts unversucht gelassen zu haben, richtig = gerecht zu entscheiden. Wenn er dann doch zum falschen Spruch gefunden hat, dann sind eben die Verhältnisse stärker gewesen als er selbst. Daß sich Gottfried Weber alles

204

5. Kapitel: Gegengründungen

andere als sanft betrug, wenn es um seine eigenen Angelegenheiten ging, zeigen seine groben Briefe an seinen Verleger Schott. e) Kritik als Autorität Ungeachtet aller kritischen und erkenntnistheoretischen Postulate, objektive Normierungen seien, weil immer subjektiv verfremdet, nicht möglich, verlagert sich die Webersche Vorstellung auf die Autorität des Einzelkritikers, weil nun einmal Kritik und Gegenkritik wie Setzung und Gegensetzung ein wesentliches Merkmal eines blühenden geistigen Lebens bilden und die Verhinderung des einen die des anderen mit bedingt. So findet Weber zu dem Schluß, jede Kritik trage die Gewähr für ihre Richtigkeit in sich selbst(37). Die Kritik weise sich in ihrer Art als gute oder schlechte Kritik aus und der Kritiker spreche über sich selbst, während er kritisiere. Die Kritik ist, ganz im Sinne Bührlens, für den Kritisierenden genauso bezeichnend wie für den Kritisierten. Die Konsequenz ist für die „Caecilia“ eigentümlich genug. Die Kritiken lassen sich schwer an, sie machen, eben weil sie aus sich selbst heraus sprechen müssen, Mühe. Sie sind unter Skrupeln hergestellt und mitunter durchgearbeiteter als die eigentlichen Artikel, die nur darstellen und nicht werten. Aus demselben Grund nehmen die Kritiken einen ungewöhnlichen Umfang an. Auch in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ sind viele Rezensionen erheblich ausgedehnt; meistens bei Opern- und Oratorien-Besprechungen, deren Inhaltsangaben weitläufig ausfallen, nicht die eigentliche Wertung. Trotzdem gingen die älteren Kritiker mit dem Raum nicht so sparsam wie ihre Kollegen anderthalb Jahrhunderte später um; außerdem brachte man häufig als wichtig eingeschätzte Ereignisse gleich als Kopfartikel. In einem letztlich kleinen Blatt wie der „Caecilia“ fallen diese Riesenartikel besonders auf, etwa die Beurteilung von Büttingers Bearbeitung der asiolischen Anfangsgründe der Musik(38), von Sabelons Orgelschule(39), von Biereys „Dämagogisch“(40), von Göbels instruktiven Klavierstücken(41), von Müllers Orgelschule(42), von Spontinis „Olympia“(43), vom Text zu „Euryanthe“(44), von Stanislao Matteis „Pratica d’accompagnamento“(45). Die Besprechung zweier Messen G. J. Voglers durch J. Fröhlich im 1. Band zieht sich übergreifend vom Ende des 1. über den Anfang des 2. Heftes hin (S. 105–128). Auch spätere Tageszeitungen kennen diese Ausführlichkeit. Fundamentale Arbeiten, etwa Otto Jahns Mozart-Biographie, erhalten dort mehrstellige Fortsetzungsartikel mit Teilnachdrucken, und eine Opernneuheit wurde in den Musikblättern mit mindestens einer Fortsetzung besprochen (viele Tageszeitungen berichteten sogar über die Folgeaufführungen). Nur muß in solchen Fällen immer die Frage beantwortet werden, warum man sich welchen Arbeiten mit solcher Ausführlichkeit widmete; denn Ausführlichkeit bzw. der zugemessene Raum im Verhältnis der Besprechungsteile zueinander, Darstellung und Wertung, war selbst wieder eine Wertung. Weber setzte sich auch mit diesem Problem auseinander. Er hatte schon früher auf die Textauszüge als Bestandteil jeder gut gearbeiteten Kritik hingewiesen. Sie müssen dem Leser einen Eindruck von Stil und Technik

II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz

205

geben. Eine Kritik ohne ausführliche Zitate ist verdächtig, weil der Leser glauben muß, der Kritiker enthalte sich der Zitate, um dem Kritisierten Gedankengänge zu unterstellen, die dieser niemals gehabt noch geäußert habe. Der Kritiker muß dabei Zitate nicht nur ausschnittsweise bringen, sondern größere Zusammenhänge und zwar charakteristische Textauszüge, so daß der Kritisierte sich noch im Stadium der Besprechung durch seine eigene Kraft gegen Unbilligkeit wehren kann. Selbst in der schärfsten Kritik wird auf diese Weise die andere Seite ausgiebig gehört werden können. Allerdings dürfen die Auszüge nicht so weit gehen, daß der Leser einen „Führer“ erhält und sich mit dessen Hilfe das Studium des Originals als vermeintlich überflüssig glaubt sparen zu können(46). Dieser Gesichtspunkt ist übrigens nur bei Weber zu finden, weil, so läßt sich vermuten, ausführliche Zitatproben (seien es Noten- oder Textbeispiele) für die Rezensionspraxis jener Zeit viel zu selbstverständlich waren, als daß man darauf eigens noch hätte eingehen müssen. Nur für den juristischen Systematiker war die Nennung des Tatbestandes notwendig. Natürlich kannte Weber den Trick, Texte so geschickt zu übermitteln, daß sie das Gegenteil von dem besagen, das zu besagen sie hergestellt wurden. Wahrheiten werden in diesem Falle als Teilwahrheiten wiedergegeben und paralysieren damit das wirklich Gemeinte. Weber drückt das Phänomen auf folgende Weise aus: „Allein es ist schon fürs Erste nicht zu läugnen, dass selbst solche ausführlich begründende Beur- // theilungen, und auch solche, welche ihren Urtheilsspruch durch Auszüge aus dem Werke belegen, doch immer noch einigermassen den Zweifel übrig lassen, ob die ausgezogenen Stellen nicht aus dem Zusammenhange gerissen – ob nicht, ausser dem mit Recht Getadelten, auch noch manches Lobenswerthe verschwiegen worden, oder umgekehrt? welche Zweifel gänzlich auszuschliessen man am Ende eigentlich das ganze Werk in die Recension abschreiben, oder es dem Leser selbst vorlegen müsste; – u. s. w. – und dass also, selbst ziemlich ausführlich begründete und mit Excerpten belegte Beurtheilungen, meistens doch noch keine vollkommene Gewähr ihrer Richtigkeit in // sich tragen. Denn wie oft finden wir in einer Recension, ein Werk gelobt oder getadelt, als Beleg dieses Urtheiles einige Stellen aus dem Werke ausgehoben, und die Schönheit oder Fehlerhaftigkeit derselben nach an sich selbst einleuchtenden Grundsätzen nachgewiesen; so scheint dann die Recension ein motivirt begründetes Urtheil, und ist es doch keineswegs, indem es doch lediglich von der Gewissenhaftigkeit oder dem Scharfsinne des Recensenten abhängt, etwa grade nur die vortheilhaftesten Stellen des Werkes zu excerpiren, die fehlerhaften aber zu übergehen, oder umgekehrt, oder, (wie wir es ebenfalls erlebt,) die ipsissima verba des Werkes aus dem Sinne und Zusammenhange gerissene, in entstelltem Sinne wiedergebend, einem Verfasser, mit dem grössten Scheine von Begründung, den grössten Unsinn anzuschuldigen, u. s. w., so dass also auch hier, wie überall, das Meiste doch immer wieder auf Treue und Glauben des Recensenten beruht“(47). ‚Treu und Glauben‘ ist ein Rechtstopos, auf den sich noch heute die Juristen dann berufen, wenn andere einschlägige Paragraphen nicht zur Verfügung stehen(48). „Treu und Glauben“ geht von der Verkehrssitte aus und verlangt bei jeder Beurteilung die Berücksichtigung der herrschenden sozialethischen Wertvorstel-

206

5. Kapitel: Gegengründungen

lungen. Für die Juristen unter den Kritikern liegt es nahe, auf diese Weise die nie zu heilende Bruchstelle zwischen Anspruch und Verhältnismäßigkeit zu schließen. Weber weiß, daß es unmöglich ist, in ausreichender Zahl Kritiker zu verpflichten, welche über alle jene Eigenschaften verfügen, die er als unerläßlich für das Amt eines Kritikers voraussetzt. Er weiß ferner, daß die Überfülle neuer Werke alle Begrenzungen sprengen würde, wollte man jedem Stück auf ideale Weise gerecht werden. Der gesamte Raum aller kritischen Blätter zusammen genommen würde, so mutmaßt Weber, selbst bei verdoppelter Bogenzahl nicht ausreichen, von jedem erschienenen und erwähnenswerten Werk „auch nur Eine solche vollständig begründete Beurtheilung“(49) mitzuteilen, und es fehle zudem an den Männern, die mit den erforderlichen Kenntnissen „auch den Willen, den Fleis und die Musse vereinten, Beurtheilungen so umfassender und erschöpfender Art über jedes Werk auszuarbeiten“(50). f) Phänomen Undurchführbarkeit Also gelangt Weber zu dem Schluß, alle seine Forderungen an die Musikkritik seien im Prinzip undurchführbar. Da aber das Verlangen des Publikums nach Kritiken befriedigt werden müsse, seien alle kritischen Blätter dazu übergegangen, „ihm keineswegs lauter solche durchaus begründet beweisende darzubieten“(49), sondern weitaus in der Mehrzahl „andere“. Das entspreche der Natur der Sache nach. Weber hat sich darüber klar zu werden, wie er es halten will, wenn die Begründung, die seiner Meinung nach das Herzstück jeder kritischen Äußerung ist, aus Raummangel herausgenommen werden muß. Die Begründung zu kürzen schließt er aus, weil eine unvollständige Begründung nicht nur keine Begründung, sondern etwas viel Schlimmeres ist: weil sie unter dem Aussehen einer wenn auch unvollständigen Begründung einen Anspruch erhebt, der ihr nicht zusteht und vor allem dann gefährlich werden kann, wenn mit der Methode des gesiebten oder geschleusten Materials gearbeitet worden ist. Weber bringt an dieser Stelle das Beispiel von der Kette, die keine haltbare Kette mehr ist, wenn nicht alle ihre Glieder gleicherweise sicher aneinander befestigt sind, die aber, so könnte man ergänzen, sofern sie nicht sicher befestigt sind, trotzdem Haltbarkeit vortäuschen kann und endlich zum Schaden des Besitzers unerwartet reißt: „… eine scheinbare, in der That aber nur unvollständige Begründung ist in gewisser Hinsicht sogar noch schlimmer als gar keine, eben weil sie denn doch den Namen und die Physiognomie einer Begründung trägt. Uns scheint es immer eine unziemliche Anmassung, eine nur halb begründete Beurtheilung im Tone eines begründeten Urtheils auszusprechen, ein Verfahren, welches vollends in den Händen eines befangenen oder wohl gar parteiischen Recensenten sogar höchst gefährdevoll werden kann, eine heimliche Waffe, deren Verdebitirung eine gute Polizei mit gutem Grunde eben so wie Stilette, Glasdolche und Arsenik untersagen dürfte“(50). Wieder spricht der Jurist, wenn Weber eine informationsdemagogische Musikkritik mit typisch italienischen Mordwaffen gleichsetzt, mit dem Stilett, dessen fehlende Blutrinne zur innerlichen Verblutung auch bei harmloseren Verletzungen führt, mit dem (venetianischen) Glasdolch, einer besonders

II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz

207

heimtückischen Waffe, deren Metallklinge eine Spitze aus Glas besitzt, die beim Auftreffen auf einen Knochen abbricht oder zersplittert und dadurch eine vor allem in der damaligen Zeit meist tödliche Wunde hinterläßt, und dem Gift. Sein Problem löst Weber am Ende mit dem als Grundsatz ausgesprochenen Hinweis, seine „Caecilia“ werde entweder ausführlich begründen oder gar nicht. Im zweiten Fall werde einfach eine Beschreibung geliefert und das Werturteil unkommentiert angeschlossen. Die Gewähr für die Wahrhaftigkeit der Beschreibung und für die Richtigkeit des Urteils beruhe dabei allein „auf dem Vertrauen zur Wahrhaftigkeit, zu Unpartheilichkeit und Urtheilskraft des Rezensenten“(51). (1) Die Redact der Cäcil.: Ueber Recensionen überhaupt, und insbesondere über die in der Cäcilia erscheinenden, und über Anonymität und Pseudonymität, Cae V./17, (Juli) 1826, S. 9–23, S. 270; s. dazu Kapitel 5, Unterkapitel II, Abschnitt 5, Unterabschnitt b (Gottfried Weber); (2) Aus Cassel, NZfM XXX./10, 1.2.1849, S. 53a–53b, Z:54b; (3) AmZ XXIV/49, 4.12.1822, Sp. 799–801 und: Wie viel der Name zur Sache thut, AmZ XXXIV/49, 7.12.1831, Sp. 805; (4) Krüger, NZfM XI./9+10+11+12, 30.7. + 2., 6., 9.8.1839, S. 33a–34b, 37a–38b, 41a–43b, 45a–46a; (5) Krüger, a. a. O. S. 33b; (6) Krüger, S. 34a; (7) Krüger, S. 37b; (8) Krüger, S. 38a; (9) Jahrbücher, I/39, 26.12.1839, S. 312b; (10) WAM-Z II/127, 22.10.1842, S. 515b; (11) Gollmick: Die Tochter des Copisten, NZfM XXV./34, 24.10.1846, S. 135a–137a; (12) SfdmW -/3, 17.1.1843, S. 20; (13) Krüger: Beziehungen zwischen Kunst und Politik II, AmZ L/30, 26.7.1848, Sp. 485–487; (14) Bemerkungen, AmZ XXV/14, 2.4.1823, Sp. 223–224 Z:223; (15) R. O. Spazier: Ueber Musik und Musikverwandtes mit Bezug auf die eigenen Umgebungen, MaM-Z I/18, 2.2.1828, Sp. 283–288; I/19, 9.2.1828, Sp. 294–300); aber auch Carl Spazier hatte sich 35 Jahre zuvor mit einem anonymen Artikel „Ueber das Klatschen in Concerten. Ein Wort in Scherz und Ernst“ (Berlinische musikalische Zeitung I/43. Stück, 9.11.1793, S. 169a– 171a) über den Gegenstand geäußert, allerdings mehr in Form einer Humoreske mit tieferem Sinn, die sich mit den äußerlichen Beweggründen von Beifallspendern beschäftigte; (16) Spazier, a. a. O. Sp. 286; (17) Spazier, Sp. 294; (18) ZDM-VD II./1 = -/5, [ab Ende Januar] 1842, S. 1–32; (19) ZDM-VD, S. 5; (20) ZDM-VD, S. 7; (21) Cae III./12, [Oktober] 1825, S. 270–274; (22) BamZ II/39, 28.9.1825, S. 312b–316a; (23) BamZ III/3, 18.1.1826, S. 17a–19b; (24) BamZ, a. a. O. S. 17a; (25) BamZ, a. a. O. S. 18b; (26) Brendel, NZfM XXX./34, 26.4.1849, S. 189a–190b; (27) Brendel, a. a. O. S. 190b; (28) Becher, AWM-Z II/67+68+91, 4. + 7.6., 30.7.1842, S. 270a–271a, 273a–274b, 278a–279b; (29) Hagen, NZfM XXI./23, 16.9.1844, S. 90b–91a; (30) Hagen, a. a. O. S. 91a; (31) Schimmer, AWM-Z IV/10, 23.1.1844, S. 37a–b; (32) AmZ XXVII/36, 7.9.1825, Sp. 604;

208 (33) (34) (35) (36) (37) (38) (39) (40) (41) (42) (43) (44) (45) (46) (47) (48) (49) (50) (51)

5. Kapitel: Gegengründungen Museum der eleganten Welt I/43, 28. Mai 1836, S. 681; MTh-Z II,2, 11.10.1828, Sp. 21–25); Ueber Recensionen, a. a. O. S. 10–11; Ueber Recensionen, Anmerkung, S. 12–13; Ueber Recensionen, S. 13; Cae I./1, 1824, S. 40–51, davon knapp 6 Seiten Nachweis von Sinn-, Sach- und Übersetzungsfehlern; Cae I./1, 1824, S. 74–77; Cae I./2, 1824, S. 133–139.; Cae I./2, 1824, S. 145–150; Cae I./2, 1824, S. 170–178; Cae II./5, 1825, S. 1–27; Cae II./5, 1825, S. 42–65; Cae IV./14, 1826, S. 135–140; dazu: Ueber Recensionen, Anmerkung, a. a. O. S. 13/14/15 Anm.; Ueber Recensionen, a. a. O. S. 11; Ueber Recensionen, S. 14–16; heute § 242 BGB; Ueber Recensionen, a. a. O. S. 17; Ueber Recensionen, S. 18; Ueber Recensionen, S. 19.

5. Problem Anonymität a) Zur Situation Indem Weber, seinem System folgend, die Verantwortung für eine Kritik ausschließlich dem Kritiker zuschrieb, mußte dieser unabhängig vom Publikationsorgan nur durch seinen Namen die Autorität seines Berichtes sichern. Das schloß vom Grundsatz her Anonymität aus. Anonymität ist ein im 19. Jahrhundert immer wieder behandeltes Problem und reicht weit übers Musikalische hinaus. Für die politischen Zeitungen war sie unverzichtbar. Eine Zeitung lebt von den Informationen, die sie erhält, und im Gefahrenfall muß der Informant unter allen Umständen geschützt werden. Wer Informantennamen preisgibt, schockt die Informanten und erhält als Folge des Vertrauensbruches keine Informationen mehr. Als Zeitungsmacher büßt er den Vertrauensverlust mit dem Verlust der tagespolitischen Aktualität, auf die er im Überlebenskampf gegen seine Konkurrenz dringend angewiesen ist. Diese vom Leben erzwungene Tatsache steht über jedem abweichenden Richterspruch, der doch nur im Interesse und damit als Handlangung einer bestimmten Machtkonstellation das Informationsgeheimnis zum Schaden von Informant und Organ aufbrechen will. Eine gesetzliche Löschung wäre gleichbedeutend mit dem Ende der aufklärenden und unabhängigen Nachricht. Das gilt allerdings nur für die Aufdeckung des Informantennamens einem Interessenvertreter außerhalb des Organs gegenüber. Nicht davon betroffen ist der selbstverständlich zu verlangende Nachweis für die Richtigkeit der Information dem für das Publikationsorgan Verantwortlichen gegenüber, vor allem, wenn sie schädigenden Inhalts ist. Soll der Informant nicht preisgegeben werden, muß vom

II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz

209

Zeitungsbesitzer bis herunter zum Zeitungsdrucker eine personale Instanz mit allen Folgen die Haftung übernehmen. Natürlich wußten die Redaktionen, daß politisch interessante Informationen nur von Leuten zu erhalten sind, die selbst der Institution angehören, in denen aufgetretene Mißstände oder öffentlichkeitsinteressante, offiziell zurückgehaltene Vorgänge zuerst bekannt werden. Gerade diese Leute sind aber durch Abhängigkeiten und Gegenseitigkeitsabkommen so stark verpflichtet oder auch verschuldet, daß sie sich nicht frei äußern können, ohne sich selbst zu gefährden. Informationen aus solchen Kreisen werden erst erhältlich, wenn man dem Informanten Sicherheiten bieten kann, die mögliche Repressalien gegen ihn ausschließen. Die Zeitung hat dafür nur ein einziges Mittel, nämlich die Zusage der Anonymität oder der Pseudonymität gegenüber jedermann. Die Anonymität schützt den Kritiker, und hier auch den Musikkritiker vor allen Belästigungen, denen er ausgesetzt sein könnte, dient ihm aber auch nur zu leicht als Tarnkappe, um nicht für gewalttätige Rezensionen herangezogen zu werden. Anders als die Pseudonymität ist die Berechtigung der Anonymität in Fachzeitschriften-Rezensionen immer umstritten gewesen. Die Schustersche Neugründung vom Herbst 1900 „Die Musik“ kannte keine Anonymität mehr. Alle Aufsätze, Berichte, Kritiken, Korrespondenzen sind (mit verschwindenden Ausnahmen, bei denen Kürzel benutzt wurden) mit vollem Namen einschließlich der akademischen Titel versehen. Grundsätzlich gilt aber, daß Anonymität nur dem Leser und eventuell strafwilligen Instanzen, nicht den Redaktionen gegenüber gewahrt bleiben muß. Die seriösen Redaktionen haben Berichte unbekannter Personen, die ihre Identifikation nicht preisgeben wollten, selten angenommen, und die unseriösen mußten dieser Praxis der drohenden strafrechtlichen Konsequenzen wegen, wenn auch möglicherweise widerwillig, im eigenen Interesse folgen. Sogar Friedrich der Große soll in Berliner Zeitungen vom 22. August 1743 eine anonym gehaltene Nachricht über den mit Unehre entlassenen Ballettmeister Potier hinein gebracht und sich auch um Nachdruck in Pariser und Londoner Blättern bemüht haben, weil sich nach Vermutung des Königs Potier nach Paris oder London wenden werde [II,371]. Marx ließ am 4. Juli 1829 mit einer knappen „Bekanntmachung“ in Erinnerung „bringen“ [II,251], grundsätzlich keinen Bericht „beifälligen oder tadelnden Inhalts“aufzunehmen, dessen Verfasser sich nicht „wenigstens“ der Redaktion nenne. Auch Fink vertrat diesen Standpunkt, wenn er auch weniger Worte als Weber darum machte(1). Fink erlaubte Anonymität dem Leser, nicht aber sich gegenüber. Er wollte wissen, mit wem er es zu tun hatte(2). In seiner grundsätzlichen Erklärung „Nöthige Bekanntmachung und Bitte der Redaction, die Einsendung und Aufnahme von Aufsätzen aller Art betreffend“ vom 5. August 1829 [II,253] ging es nicht nur um dieses Problem. Fink machte gleichzeitig seinem Ärger über Doppeleinsendungen Luft. Da verwahrte er sich in überaus höflich-gedrechselter Sprache gegen Autoren, die ihm eine Arbeit schickten, die längst anderswo gedruckt war, oder sie schickten sie gleich an mehrere Zeitungen(3). Fink nennt Namen. Und während er sich noch damit beschäftigte, zu prüfen, ob der Artikel seiner Zeitung beziehungsweise seinen Lesern nützlich sein könnte, war ihm der Konkurrent schon zuvorgekommen. Am meisten erregte er sich über

210

5. Kapitel: Gegengründungen

sich selbst, wenn ihm ein solcher Vorabdruck trotz sorgsamen Lesens der anderen Musikblätter entgangen war, so daß er statt eines von ihm ausschließlich verlangten Originalbeitrags seinen Lesern irrtümlich einen Nachdruck vorlegte. Als Beispiel führt er einen Aufsatz Ludwig Bergers an, in dem es um ein Urteil Mozarts über Clementi geht. Der Autor bat dringend um schnelle Beförderung. Fink kam dem Wunsch nach. So erschien der Artikel am 15. Juli 1829 in Nr. 28 der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ [II,252]. Der Redakteur bemerkte zu spät, daß man ihn wörtlich schon in der „Berliner allgemeinen musikalischen Zeitung“ hatte lesen können(4). In einem ähnlichen Zusammenhang berichtete er 1832 unter dem Untertitel „Redactionsfreuden“ von den Mühen, die es kostet, gute Korrespondenten zu bekommen(5) [II,273]. Einen Monat später erklärte er eines unerquicklichen Vorfalles wegen unter der Überschrift „Nothwendige Bemerkungen“, keine Rezensionen anzunehmen, die nicht von ihm in Auftrag gegeben worden seien(6) [II,274]. Die „Berliner allgemeine musikalische Zeitung“ lehnte jeden Beitrag eines Einsenders ab, „der nicht wenigstens der Redaktion Namen, Karakter und Wohnort angiebt“(7) [II,192]. Nahezu alle Blätter enthalten entsprechende Notizen, sogar die „Signale für die musikalische Welt“ brachten immer wieder kurze Hinweise, wie man anonym eingesandte Beiträge behandele, sie nämlich ungeprüft wegzuwerfen. Auch für die „Signale“ gilt ein Zugeständnis der Anonymität nur dem Leser, nicht gegenüber der Redaktion, die wissen müsse, welcher Artikel von welchem Verfasser stamme. Senff hatte die Angewohnheit, Briefe mitunter über die Zeitung zu beantworten und dafür eine eigene Rubrik „Signalkasten“ eingerichtet. Ein Anonymus aus Leipzig schickte Ende des Jahres 1846 einen Artikel, der Senff wohl gefiel, und so schrieb er den ihm unbekannten Autor öffentlich an: „Warum denn anonym?“(8). Bei Gelegenheit erfährt man 1844 aus einem der ‚Signalkasten‘, daß er Beiträge von ihm unbekannten Autoren nicht annimmt, was mit seiner Anfrage an den Anonymus von 1846 nicht ganz schlüssig erscheint(9). Schmidt hat mehrmals in seiner Zeitung darauf hingewiesen, anonyme Einsendungen bei Seite zu legen. Auch er will wissen, wer sich hinter der Zuschrift verbirgt. Dann werte er lediglich, ob sie mit der Tendenz seiner Zeitung in Einklang stehe(10) [II,430]. Schmidts „Allgemeinen Wiener Musik-Zeitung“ brachte unter dem 14. Februar 1846 eine Kurzanzeige, in der sie einem Herrn „F.“ knapp mitteilte, seine Einsendung nicht anzunehmen, weil er nicht wisse, von wem sie stamme(11) [II,547]. Das war gleichzeitig eine Warnung an alle Liebhaber der Anonymität, es gar nicht erst zu versuchen. Es scheint aber nur bedingt etwas genutzt zu haben; denn schon vier Monate später mußte Schmidt einem Grazer Einsender ‚R … r‘ gegenüber erklären, sich in seinem Fall auch nicht mit der Nennung des Namens der Redaktion gegenüber zufrieden geben zu können. Bei polemischen Aufsätzen müsse er zu seiner eigenen Sicherheit auch etwas über den Charakter des Einsenders wissen, „denn ich will meine Zeitung rein von aller geheimen und verkappten Polemik halten und sie nicht zum Tummelplatze von boshaften Verleumdungen und hinterlistigen Verdächtigungen und Schmähungen machen. Dieß Hrn. R … r zur Wissenschaft und Darnachachtung“(12) [II,563].

II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz

211

Die „Signale für die musikalische Welt“ machten sich unter Berufung auf die „Fliegenden Blätter“ auf ihre Weise über anonyme Schreiber lustig. Sie teilten ihren Lesern die wissenschaftliche Bestimmung eines neuen „Wunderthieres“ mit: „Criticus quaestuarius. / Ahomo recensens. / Tirannus artistico-encyclopaedicus anonymus.“ aus der Familie der „Parasiten“, „Zu Deutsch: Der Kunsttitrann“, der immer „verkappt“ auftritt und das Licht scheut(13) [II,525]. Bereits Rochlitz scheint sogleich nach der Gründung seiner Zeitung und vor allem nach deren Erfolg in einer nicht mehr hinnehmbaren Weise von anonymen Einsendungen gequält worden zu sein, so daß er sich im Juli 1801 genötigt sah, darüber eine eigene „Erklärung“ abzugeben(14) [II,6]. Er hatte schon bei der Gründung der Zeitung darauf hingewiesen, keine anonymen Beiträge anzunehmen. Zwischen einer Anonymität gegenüber dem Leser und der gegenüber der Redaktion war zu unterscheiden. Richtete man ohne Absenderangabe an die Redaktion eine Anfrage, dann erledigte sich die Sache von selbst. Schrieb man der Redaktion einen Bericht oder eine Korrespondenz, und geschah das ebenfalls ohne Absenderangabe, so galt das gleiche. Schlimmer war die ausufernde Tendenz, Anonymität gegen jedermann als Mittel der üblen Nachrede zu benutzen, und davor hatten die Redaktionen angesichts des ausgeprägten Persönlichkeitsschutzes durch die Gerichte und nach 1815 durch die Vorgaben der Zensur, keine Nachricht bringen zu dürfen, deren Wahrheitsgehalt nicht zu beweisen war, zu Recht große Angst. Rochlitz äußerte sich in seiner „Erklärung“ unmißverständlich: „Wir ehren die Anonymität, die so Manchem von Verhältnissen abgedrungen wird; aber wir hassen noch mehr den Gebrauch, Journale zum Tummelplatz persönlicher Absichten, partheyischer Entscheidungen, und verächtlicher Klätschereyen zu machen, und ohne Allwissenheit kann man den Aufsätzen dergleichen Absichten nicht immer ansehen.“ Rochlitz unterschied zwischen zwei Arten von Mitteilungen bzw. Aufsätzen: den theoretischen oder allgemein historischen Arbeiten, die er offensichtlich auch ohne Absendernennung bei entsprechender Qualität aufzunehmen bereit gewesen ist, und solchen, die „direkt oder indirekt persönlich“ gehalten sind. Rochlitz sicherte den Autoren unbedingte Namensgeheimhaltung zu, verlangte aber die Offenlegung ihres Namens der Redaktion gegenüber, „um das nöthigenfalls verantworten zu können, was er geschrieben“ habe, gemeint ist natürlich die Klaglosstellung der Schriftleitung im Falle von Schadensersatzsansprüchen Dritter. Rochlitz litt damals zusätzlich unter ziemlich dümmlichen Beschwerdebriefen; anders wäre nicht der tragikomische Schlußabsatz seiner Erklärung zu verstehen: „Da ist gesagt, dass die Petersilie eine Pflanze sey; warum führt ihr nicht aus, dass sie nicht unter die Mineralien gehöre? oder: dort hat man einen neuen fürstlichen Palast beschrieben, wir haben uns auch ein Gemeindehaus erbaut, warum beschreibt ihr das nicht? –“ b) Gottfried Weber Am ausführlichsten hat sich Gottfried Weber dem Problem gestellt. Die Redaktion – und das war Weber selbst – ließ 1826 unter der langen, fünfzeilig teilkursiv, teilgesperrt und punktunterschiedlich aufgemachten Überschrift „Ueber Recensio-

212

5. Kapitel: Gegengründungen

nen / überhaupt und insbesondere / über die in der Cäcilia / erscheinenden, und über / Anonymität und Pseudonymität“ eine fünfundzwanzigseitige Redaktionsmeinung drucken, in die Weber das Rezensionsproblem in Verbindung mit dem immer wieder aktuellen Problem der Anonymität oder Nichtanonymität des Kritikers abhandelte(15) [II,162]. Fast die Hälfte des langen Aufsatzes ist im Sperrdruck geschrieben, ein Zeichen dafür, wie wichtig Weber seine Ausführungen nahm. Er erklärte darin, eine Rückführung der Qualität eines Berichtes auf die Qualifikation eines ungenannten Verfassers niemals zulassen zu können, wohl Pseudonyme als greifbare Ersatznamen anzuerkennen, wenn die Pseudonymität grundsätzlich beibehalten blieb. Tatsächlich gibt es in Webers Jahren keine anonymen Beiträge oder Nachrichten. Wenn Weber sein kritisches System auf Verantwortung, Gewähr und Bezeugung des Kritikers abstellt, fällt die Bürgschaft, die der Kritiker zu leisten hat, mit seiner Anonymität fort. Weber darf das nicht zulassen, auch wenn er die Gründe zur Anonymität anzuerkennen bereit ist. „Sobald hingegen der Recensent sich zu seinem ausgesprochenen Urtheile bekennt und dadurch die Verantwortung für die Richtigkeit und jedenfalls für die Unparteilichkeit desselben, auf seinen ehrlichen Namen übernimmt; – dann freilich, aber auch nur dann, hat das Publicum eine Gewähr für die Glaubwürdigkeit der ausgesproche- // nen Würdigung, Empfehlung oder Warnung, und dieses auch selbst dann, wenn sie nichts weiter wäre, als blose Empfehlung oder Warnung, auch ohne, vollständige oder unvollständige, Begründung und Nachweisung, nur aber auf Treu und Glauben eines sich nennenden Empfehlers oder Warners, ausgesprochen“(16). Weber beruft sich allenthalben auf Treu und Glauben, und er ist viel zu sehr erfahrener Praktiker, um nicht zu wissen, welche gesellschaftlichen Konstellationen er mit der Preisgabe der Anonymität schaffen würde. Daher untersucht er die Begriffe Anonymität und Nichtanonymität weitaus genauer als damals üblich und gelangt zu dem Schluß, die Preisgabe der Anonymität zugunsten der Nichtanonymität dürfe unter keinen Umständen mit der Preisgabe des bürgerlichen Namens gleichbedeutend sein. Vielmehr soll der Leser gleichsam eine Kennziffer, eine Orientierungsmarke erhalten, aus der er ermitteln kann, zu welchem Verfasser welche Kritik gehört und welches Gewicht sie aus dieser Zuordnung erfahrungsgemäß erhält. Dazu zählen Pseudonyme, Schriftstellernamen, auch Redaktionsvertretungen, mit denen eine Redaktion die Bürgschaft für eine Kritik übernimmt, und dergleichen mehr: „Man braucht vom Recensenten nicht grade überall die Nennung seines eigentlichen bürgerlichen Vor- und Zunamens zu fodern, sondern es kann, an dessen Stelle, wohl auch manches Andere genügen. So wird man z. B. nicht läugnen, dass ein Schriftsteller, welcher, neben seinem, für seine bürgerlichen Verhältnisse geltenden bürgerlichen Namen, etwa Ein für Allemal einen Schriftstellernamen angenommen hat, wie z. B. ‚Theodor Hell‘, – ‚Friedr. Kind‘, ‚Jean Paul‘ u. d. gl., dass, sage ich, ein solcher, wenn er einer Recension diesen seinen Schriftstellernamen untersetzt, keineswegs anonym – wenigstens nicht in dem oben ausgeho- // benen Sinne des Wortes, heissen kann; denn, auch ohne in Anschlag zu bringen, dass die eigentlichen Namen solcher Pseudonyme offenkundig sind, und selbst wenn sie es nicht sind, so setzt doch jeder, welcher seinen Schriftstellernamen unter eine Recen-

II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz

213

sion schreibt, diesen seinen literarischen Namen zum Pfande der Verbürgung der Unparteilichkeit seines Urtheiles ein, und er wird, ist ihm an der Reputation seines Schriftstellernamens gelegen, sich möglichst hüten müssen, in seinen Beurtheilungen unwahr, parteyisch befunden zu werden; denn lässt er sich solchen Vorwurf ein- oder ein Paarmal zu Schulden kommen – was das Publicum doch immer gar bald entdeckt – so ist der Glaube, das Vertrauen der Lesewelt auf den Werth seiner Empfehlungen oder Warnungen, gar bald dahin, und es ist seinem Loben aller Credit, seinem Tadel der Stachel für immer benommen. / Was hier von literarischen Namen einzelner Personen gesagt ist, gilt, sehr offenbar, auf gleicher Weise auch von ähnlichen Collektiv- und Behördennamen. So ist z. B. der Name ‚die Redaction der Jenaer allgemeinen Literaturzeitung‘ der Collektivname einer literarischen Behörde: und es ist wohl nicht zu zweifeln, dass eine solche Stelle, auch abgesehen davon, ob und in wie weit es offenkundig ist, welche Personen diesen Collektivnamen tragen, doch sicherlich die grösste Ursache hat, die Reputation von Wahrheit und Unparteilichkeit nicht aufs Spiel zu setzen. // Wir wenigstens finden es sehr natürlich, dass eine Redaction auf ihren guten Ruf wenigstens ebenso sorglich und wohl noch viel sorglicher halte, als mancher, seinen wahren bürgerlichen Namen nennende Schriftsteller auf den seinigen. / Und auf gleiche Weise ist anzunehmen, dass selbst jeder einzelne Recensent, der seine Beurtheilungen auch nur ständig mit einer unkenntlichen Chiffer zu unterzeichnen pflegt, auch die gute Reputation solcher Chiffer zu erhalten suchen muss; oder thut er es nicht, so werden seine unter der Firma solcher Chiffer ausgesprochenen Urtheile sehr bald den Credit beim Publicum, sein Lob oder Tadel als Gewicht verlieren, und seine etwaige Parteilichkeit also durch sich selbst unschädlich werden“(17). Die Lösung des Anonymitäts-Problems bildete für Weber den Schlußstein am Gebäude seiner kritischen Methode, aus Gründen der praktischen Lebensweisheit eine Form der Kritik zu schaffen, die sich bewähren kann, auch wenn ihre erkenntnistheoretischen Prinzipien nach wie vor unsicher bleiben. Kant wird nicht widerlegt, wohl umgangen. Weber stößt den „kritischen Dreifuss“ der Anonymität, wie er es nennt, zu Nutz der Gültigkeit der Kritik um: „Wenn nun ein, auf irgend eine solche Weise sich nennender Recensent seine günstige oder tadelnde Beurtheilung auch nicht ganz vollständig, oder auch selbst gar nicht begründet, so ist die Recension freilich in sofern keine vollgültige Beweisführung über die Güte oder Ungüte des recensirten Werkes, sondern nur eine Empfehlung oder Warnung, aber doch allemal eine verbürgte, welche, als solche, wohl immer noch weit mehr Vertrauen verdient, als eine, vom kritischen Dreifuss herab, hinterm Vorhange der Anonymität hervor, in der grösstentheils nur erborgten Form eines motivirten Urtheilsspruches von sich gegebene, anscheinend begründete Recension. // Darum also, weil, lauter vollständig begründende Rezensionen zu liefern, auch der Redac. der Cäcilia eben so unmöglich ist, als es allen anderen kritischen Blättern von jeher gleichfalls unmöglich gewesen ist, – und weil wir nur anscheinend begründende Recensionen nicht nur für nichts beweisend, sondern auch für noch schlimmer halten als, ohne leidigen Schein von Begründung ausgesprochene, blose Empfehlungen oder Warnungen, sofern diese nur durch Treue und Glauben eines auf eine der vorerwähnten Arten sich nennenden Recensenten verbürgt sind, – so werden die Cäcilienblät-

214

5. Kapitel: Gegengründungen

ter, wie auch schon bisher zum Theil geschehen ist, zwar ihre Beurtheilungen oft auch ohne vollständige Begründung, (aber dann jedenfalls ohne die Miene und den Schein einer solchen), zum Theil sogar lediglich als Empfehlung oder Warnung, aussprechen, alsdann aber freilich am allerwenigsten sich zum Organe anonymer Recensenten hergeben“(18). Mit einer Einladung an alle Mitarbeiter, die sich ein Urteil zutrauten, in diesem Sinne an der Gestaltung der „Caecilia“-Kritiken mitzuwirken, schließt der große, mit „die Redac. der Cäcil.“ unterzeichnete Artikel. Über Musikkritik hat sich die „Caecilia“ an keiner Stelle mehr prinzipiell geäußert. (1) G. W. Fink: Nöthige Bekanntmachung und Bitte der Redacion, die Einsendung und Aufnahme von Aufsätzen aller Art betreffend, AmZ XXXI/31, 5.8.1829, Sp. 505–508; (2) Fink, a. a. O. Sp. 507–508; (3) Fink, Sp. 505–506; (4) Fink, Sp. 506–507; (5) AmZ XXXIV/15, 11.4.1832, Sp. 240–243); (6) AmZ XXXIV/20, 16.5.1832, Sp. 339; (7) BamZ IV/42, 17.10.1827, S. 344 (verdruckt als S. 144); (8) SfdmW IV/50, 2.12.1846, S. 400; dazu SfdmW I/27, [1. Nummer] Juli 1843, S. 208; (9) SfdmW II/3, [3. Heft] Januar 1844, S. 24; (10) WaM-Z II/128, 25.10.1842, S. 520b; (11) AWM-Z VI/20, 14.2.1846, S. 80b; (12) AWM-Z VI/77–78, 27./30.6.1846, S. 311b; (13) SfdmW III/30, 23.7.1845, S. 239–240; (14) Die Redakt. der mus. Zeitung: Erklärung, AmZ IV/2, 7.10.1801, Intelligenzblatt Oktober No. 1, S. 3; (15) Ueber Recensionen überhaupt, und insbesondere über die in der Cäcilia erscheinenden, und über Anonymität und Pseudonymität, Cäcilia V./17, [Juli] 1826, S. 9–23; (16) Ueber Recensionen, S. 19–20; (17) Ueber Recensionen, S. 20–22; (18) Ueber Recensionen, S. 22–23.

6. [Zwischentext III(1)]: Der Fall Woldemar. Beethovenpolemik in der „Caecilia“ 1827 a) Vorbemerkung Die für spätere Zeiten beinahe unglaubwürdigen Schwierigkeiten, die Wagner bekam, als er 1846 für das Dresdner Palmsonntagskonzert ausgerechnet die wenige Jahre zuvor unter Karl Gottlieb Reißiger glücklos gespielte 9. Symphonie Beethovens auf sein Programm nahm, sind an anderer Stelle ausführlich geschildert worden(2). Geschehnisse dieser Art als provinzielle Rückständigkeiten von Städten und Residenzen und als Ausnahmeerscheinungen zu bewerten, würde allerdings der Situation der Beethovenschen Musik nach dem Ableben Beethovens bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nicht gerecht werden. Die Quellen belehren darüber, daß Teile des Beethovenschen Spätwerkes noch Jahrzehnte nach 1827 in den Kreisen

II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz

215

der Fachmusiker als mißratene Produkte eines planlos gewordenen Genies nicht nur umstritten gewesen, sondern geradezu verworfen und auch nicht gespielt worden sind. Man unterstellte ihnen geistige Verirrung eines vereinsamten und darüber hinaus auch noch tauben Musikers. Der „Fall Woldemar“ steht symptomatisch für eine europaweit beethovenfeindliche Front, der sich Wagner noch 1846 gegenüber sah, übertürmt von der russischen Mozart-Beethoven-Auseinandersetzung Ulibischeff-Lenz der fünfziger Jahre. Zu diesem Zeitpunkt ist der „späte“ Beethoven längst zum fanalartigen künstlerischen Programm geworden, mit der sich die Neuzeit, die sogenannte Zukunftsmusik, später auch „neudeutsch“ genannt, ankündigt. Es ist Wagner, der die 9. Symphonie salonfähig macht, es ist Liszt, der erstmals die späten Klavierwerke ins Programm nimmt, es ist die Katholische Kirche, die Beethovens „Missa solemnis“ für liturgiefähig erklärt (in Breslau wurde sie als pars integrans mit einer gewissen Regelmäßigkeit in das Hochamt eingestellt, das dadurch über zwei Stunden dauerte), und auch die späten Streichquartette müssen trotz Hirschbachs Begeisterung lange warten, ehe sie in den öffentlichen Quartett-Abenden gehört werden können. Die 9. Symphonie bildete im Sonderfall ‚später Beethoven‘ einen eigenen „Fall“ für sich. Kein Komponist hat so viel an äußeren Ehren auf sich versammeln können wie seinerzeit Beethoven. Er vermochte als freischaffender Künstler von den Erträgnissen seiner Arbeit gut zu leben und genoß auch im Kreise der empfindlichen Aristokratie eine soziale Ausnahmestellung, die vor ihm keinem Musiker in dieser Weise gewährt worden war. Daß schließlich alle seine Symphonien noch zu seinen Lebzeiten in Partitur gestochen wurden, ist ein weiterer Beweis für das erworbene Ansehen. Dieses Ansehen war der Grund, warum die eigentliche Beethovenpolemik erst mit Beethovens Ableben 1827 einsetzte; denn bis dahin verhielt sich auch die Musikkritik, sofern sie in dieser Form damals bereits bestand, überwiegend ehrerbietig. Rochlitz hatte den späteren Klassikern einen frischen Boden bereitet und die Zeitgenossen über die geschmäcklerischen Ansichten Reichardts weit hinausgeführt. Der unterscheidende Sinn war geweckt worden. So fällt die Ausbreitung des Beethovenruhmes zeitlich mit der Ausbreitung der Rochlitz-Zeitung zusammen. Daß Beethoven, auch in der Rochlitz-Zeitung, die er sich hielt, Berichterstattungen zu lesen bekam, die mit einzelnen seiner Arbeiten (Schlacht von Vittoria) nicht einverstanden waren, bestätigt nur die Tendenz, Beethoven als den geistig weitesten der Komponisten seiner Zeit zu begreifen. Wenn trotzdem manche Beethovensche Erfolgs-Komposition kein pressekritisches Echo erfuhr (etwa sein schnell berühmt werdendes Septett), so nur deshalb, weil zur damaligen Zeit eine feuilletonistische Musikberichterstattung im späteren Sinne in den allgemeinen Wiener Tageszeitungen noch nicht eingerichtet war. Natürlich gab es Ausnahmen. Nägeli zählt dazu. Er hatte erst 1803 in seinem „Répertoire des clavecinistes“ (ohne Opuszahl) den Erstdruck der beiden Beethoven-Sonaten Op. 30 Nr. 1 (mit 3 von Nägeli selbst hineinkomponierten Takten) und Op. 30 Nr. 2 abgedruckt. Ein Vierteljahrhundert später gehörte er, anders als sein Geistesverwandter im Liedertafelwesen August Schmidt, zu den Kritikern Beethovens. Nägelis Urteile sind in seinen 1826 erschienenen „Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung der Dilettanten“ nachzulesen. Aber auch Rochlitz ge-

216

5. Kapitel: Gegengründungen

riet durch das, was Beethoven in seiner späten Zeit schrieb, in Verlegenheit, wobei ‚spät‘ im Hinblick auf Beethoven keineswegs nur einen Zeit-, sondern in erster Linie einen Stilbegriff vorgibt. Rochlitz lieferte Beethoven wie nur noch Haydn (Mozart war ja tot) nicht zuletzt mit den Besprechungen der Symphonien I bis VIII ein musikliterarisches Echo von bemerkenswerter Aufmachung. Daß es Kompositionen waren, die bei Breitkopf & Härtel in Leipzig erschienen, dem Verleger auch der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“, sei vorerst am Rande vermerkt. Das blieb so, bis Beethoven (den man einer Überlieferung zufolge an seinem Begräbnistag als den „König der Musiker“ bezeichnete) die Probleme des „letzten“ oder „späten“ Beethoven aufgab und sich nun viele seiner Bewunderer kopfschüttelnd Gedanken darüber zu machen begannen, welch eigenartige Entwicklung der allseits geschätzte Meister doch zu nehmen scheine und welche tieferen Gründe dafür verantwortlich zu machen seien. Rochlitz, der es sich bis dahin nicht hatte nehmen lassen, die Kritiken über Beethovens Kompositionen möglichst selbst abzufassen, sah sich angeblich – das bleibt spekulative Behauptung – in einen Zwiespalt zwischen der aufrichtigen Bewunderung für den Wiener Meister und seiner eigenen musikkritischen Überzeugungstreue versetzt. Jedenfalls wurden die Kritiken über die weiteren, also die „späten“ Kompositionen, von anderen Autoren und Kritikern geschrieben. Aber Rochlitz war ja auch seit 1818 nicht mehr der bestimmende Redakteur, und die späten Werke, um die es hier ging, erschienen bei Schott und bei Schlesinger. Beethoven hätte Rochlitz gerne als seinen Biographen gewonnen, was nicht gelang. Über die Gründe kann man spekulieren. Daß er Beethoven nicht in seine vierbändige Biographiensammlung „Für Freunde der Tonkunst“ (1824–1832) aufnahm, die so berühmt wurde, daß sie 1868 in 3. Auflage erschien, hatte damit aber nichts zu tun, sondern es ergab sich aus der Anlage der Sammlung. Vermutlich ohne die genaueren Hintergründe gewußt zu haben, spürte Beethoven den etwas anderen Zug in der Zeitung. Seine oft zitierte Klage, seit Rochlitz den „Kommandostab“ niedergelegt habe (gemeint ist die Zeit nach 1818, als zunächst die beiden Verlagsherren Härtel die Redaktion inne hatten), sei es auch mit der Zeitung anders geworden, entsprach der Realität. Solange Beethoven lebte, vollzog sich geäußertes Mißfallen an seinem neuen Stil mehr auf menschlich feine Weise. Mit dem 1827 erfolgten Tode Beethovens waren diese Hemmungen beseitigt. Es mußten keine moralischen Rücksichten mehr genommen werden, und so versteiften sich die Kritiker zuletzt auf ein Argument, das erst wieder in der Polemik gegen Richard Wagner, später gegen Gustav Mahler und Arnold Schönberg und jüngst gegen Karlheinz Stockhausen eine Rolle spielen sollte – man stellte ernsthaft und nicht nur metaphorisch seinen Verstand in Frage. Die schlimmsten Äußerungen dieser Art gehen auf den Berliner Musiker und Musikschriftsteller, vielleicht auch nur Musikliebhaber Ernst Woldemar zurück, der in der Systemgeschichte der Musikkritik eine kleine Rolle gespielt hat. Er lieferte Ende 1827 mit seiner „Aufforderung an die Redaktion der Cäcilia“ das erste Zeugnis einer konsequent zu Ende gedachten Beethovenpolemik nach Beethovens Ableben. Die Redaktion der „Caecilia“ druckte die Zuschrift ab und handelte sich dadurch wenig Zustimmung, aber um so mehr Ablehnung ein.

II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz

217

Daß sie einen Artikel, der Pamphletcharakter trug, überhaupt aufnahm, dürfte persönliche Hintergründe gehabt haben. Weber hatte in der „Caecilia“ einige Male Beethovensche Kompositionen ungünstig besprochen und erklärte jetzt im Requiemstreit, Beethoven stelle sich nur deshalb auf die Seite seiner Gegner, um ihm das zu vergelten. Weber seinerseits verhielt sich in seinem Vorgehen, große Teile des Mozartschen Requiems als nicht von Mozart komponiert nachzuweisen, mehr und mehr irrational, nachdem er anfänglich eingenommene Positionen räumen mußte. Weitaus mehr an Musik, als Weber ursprünglich behauptet hatte, stammte wirklich von Mozart. Weber war zu weit gegangen. Beethoven, der vermutlich wußte, welche Folgen es für die Mozartwitwe haben konnte, wenn man beweiskräftig machte, dem Grafen Wallsegg seinerzeit ein nicht ganz originales Manuskript untergeschoben zu haben, um das vereinbarte Honorar nicht zurückzahlen zu müssen (und der Graf, der das Stück als sein eigenes ausgegeben hatte, verlangte ja schon 1800 nach der Veröffentlichungs-Ankündigung des Verlages Breitkopf & Härtel eine Entschädigung von 50 Dukaten und wurde mit der Überlassung von Abschriften ungedruckter Mozartnoten zufrieden gestellt), unterstützte eher die Interessen der Mozartwitwe und zog dadurch zusätzlichen Unwillen Webers auf sich. Beethoven solle sich – so wurde behauptet – gegen die Weberschen Arbeiten erklärt haben, und Weber beeilte sich, nach Beethovens Tod ein darauf hin lautendes Dokument Beethovens, ein Brief an den Mozartverteidiger Abbé Stadler, in seinem Blatt zu veröffentlichen. Das Webersche Vorgehen stieß auf heftige Kritik der Leser, des Verlegers und insbesondere des Berliner Konkurrenten Adolf Bernhard Marx. Die Requiem-Auseinandersetzungen selbst sind in diesem Zusammenhang unerheblich, weil es nur darum geht, eine Erklärung dafür zu finden, warum ausgerechnet die Mainzer „Caecilia“ Gottfried Webers das Woldemarsche Pasquill veröffentlichte. b) Woldemar 1) Pseudonym Ernst Woldemar = Klarname Heinrich Hermann Daß sich unter dem Pseudonym Ernst Woldemar der Berliner Journalist Heinrich Hermann verbarg, wußten die Zeitgenossen schon seit Ende 1834. Schließlich hatte er sich zu dieser Zeit mit einem „Eingesandt“ in Schumanns „Neuer Leipziger Zeitschrift für Musik“ zu Wort gemeldet(3), um als „ehrlicher, deutscher Dank“ eine kleine Laudatio auf die von ihm seit 20 Jahren bewunderten Möserschen WinterMusikabende zu halten und aus diesem Anlaß sein Pseudonym gelüftet, vermutlich um vom Belobigten auch erkannt zu werden. Daß es sich bei der Signatur „Ernst Woldemar – Heinrich Hermann“ tatsächlich um eine und nicht um zwei Personen handelt, geht aus der Ichform der Einsendung hervor. Woldemar schrieb für belletristische Blätter sowie für die namhaften damaligen Musikzeitschriften, für die „Allgemeine musikalische Zeitung“, die „Neue Zeitschrift für Musik“ und die „Caecilia“. Da er auch literarische Themen (Heinrich Heine) einbezog, gelangte er in Meyers grundlegendes Heine-Verzeichnis und von da mit Quellenangabe in die Anonymen- und Pseudonymen-Lexika. Die von Albert Fleury 1953 in seiner

218

5. Kapitel: Gegengründungen

Frankfurter Dissertation über Gottfried Webers Musikzeitschrift „Caecilia“ auf S. 27 behauptete und von Werner Braun 1972 in seinem bei Gerig in Köln erschienenen Taschenbuch „Musikkritik“ auf S. 38 ungeprüft übernommene Behauptung, Woldemar sei Gottfried Weber gewesen, sind ebenso wie die daran anknüpfenden Schlußfolgerungen falsch. Auch ohne die autobiographischen und biographischen Hinweise zeigen Vergleiche in Thematik und Sprache bei Weber und Woldemar drastische sachliche und stilistische Unvereinbarkeiten. Woldemar bedient sich eines immer wieder ins geradezu Läppische abgleitenden und äußerst polemischen Schreibstils, der Weber fremd ist(1). Der Hinweis ist keineswegs nebenrangig. Mit dem Namen Woldemar verbindet sich die wohl schlimmste Polemik gegen den verstorbenen Beethoven, die es je im deutschen Schrifttum gegeben hat. Schaul ist für Mozart schon schlimm genug, Woldemar ist schlimmer, wenn er 1828 die späten Kompositionen Beethovens als die Produkte eines Geisteskranken bezeichnet, der ins Tollhaus gehöre. (1) Gottfried Weber hat gleich im 1. Heft der „Caecilia“ in einem Asterisk-Verweis (S. 12) erklärt: „Zur Vermeidung aller möglichen Irrungen bemerke ich, dass alle meine Beiträge mit meiner Namensunterschrift versehen werden.“ Die von Christoph-Hellmut Mahling vorgenommenen Auflistungen der Weberschen Kürzel bestätigen die Richtigkeit des Verweises (Die Zeitschrift Caecilia und ihre Krisen, in: Festschrift Wolfgang Rehm zum 80. Geburtstag, 2015).

2) Woldemar: Zur Person Über die Person Ernst Woldemars alias Heinrich Hermann gibt es bislang keine gesicherten Kalenderdaten. Alles Wissen über ihn entstammt biographischen Anmerkungen, die er in seine Arbeiten eingestreut hat, Zeitangaben, aus denen sich Rückschlüsse ziehen lassen, sowie der überaus negativen Charakterisierung durch Adolf Bernhard Marx, die durch Woldemars Schreibstil bestätigt wird. Danach handelte es sich bei Woldemar-Hermann um einen Berliner Flötisten, der sich selbst als einen philosophisch gebildeten Liebhaber bezeichnete und als junger Mann Friedrich Wilhelm Rust begegnet sein muß, möglicherweise als Schüler in Dessau. Da Rust 1796 gestorben ist, Carl Ph. E. Bach, auf dessen 6. Sammlung von Sonaten angespielt wird, im Jahre 1788, muß Woldemar 1826 mindestens 50 Jahre alt gewesen sein, vermutlich älter, weil der von ihm bevorzugte Geschmack dem der Zeit nach 1775 entspricht, der Name Woldemar noch vor der Jahrhundertmitte außer im „Eingesandt“ von 1834 in den Fachzeitschriften nicht mehr aufzutauchen scheint und die Replik gegen Becker im Rahmen der Beethovenpolemik den Eindruck einer leicht beginnenden Desorientierung nicht ganz unbegründet erscheinen läßt. Diese Zeitspekulation würde mit der anläßlich der Beethovenpolemik geäußerten Marxschen Bemerkung übereinstimmen. Marx hat Woldemar sicherlich auch persönlich gekannt, denn er spricht im letzten Absatz einer ausschließlich gegen Gottfried Weber gerichteten eigenen Nummer (Nr. 16) vom 16. April 1828 unter der Überschrift „ENDLICH NOCH PERSÖNLICHES / Gottfried Webers Uebelthat an Beethoven“ seiner „Berliner allgemeinen musikalischen Zeitung“ geradezu verächtlich über Woldemar, der, so heißt es, „alt geworden ist, ohne irgend etwas in der

II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz

219

Kunst und ihrer Wissenschaft geleistet oder gezeigt zu haben, als die traurige und verbitternde Erinnerung an eine empfänglichere Jugendzeit, deren Verschwinden er irrig für Absterben und Rückschritt der Kunst hält“(4). Den Vornamen ‚Ernst‘ in seinem Decknamen Woldemar hat sich Hermann vermutlich nicht ohne Grund ausgesucht. Er steht für Ernsthaftigkeit, Entschiedenheit, Entschlossenheit. Ob auch Woldemar als sprechender Name gewählt (Woldemar = berühmter Herrscher) oder aus Jacobis Jugendroman abgeleitet wurde, muß Spekulation bleiben. c) Der Verlauf 1) Woldemars Aufforderung an die Redaktion Woldemars „Aufforderung / an die / Redaktion der Cäcilia.“ ist mit „Berlin den 20. December 1827.“ gezeichnet und erschien fünfseitig im 29. Heft (8. Band = 1828) der „Caecilia“(5). Woldemar geht von der Voraussetzung aus, Beethoven habe „früher“ Werke geliefert, „die seinen Namen nicht mit ihm sterben lassen werden“. Allein dieser „geniale Meister“, der nach Haydn und Mozart „gewiss der originellste musikalische Heros unter uns“ sei, habe später „grössere und kleinere Sachen geschrieben, zu welchen Männer von besonnenem Verstande, geregelter Phantasie, und gesunden Ohren, im Stillen die Köpfe nicht wenig geschüttelt haben“(6). Wenn ein alltäglicher „Klingklangsheld“ auf seiner „sterilen Bahn irre gehe“, dann habe das nicht viel zu bedeuten. „Allein ob sich ein Mann von eben so reicher, als excentrischer Einbildungskraft, wie Beethoven, dermasen in düstere, leere, trockene, plan- und geschmacklose Speculationen – mit der schön- // sten der Künste, mit der Musik, verliert, dass man nicht blos das Ruder des allgemeinen gesunden Menschensinnes, sondern selbst das seines eigenen früheren Verstandes darin vermisst; das hat allerdings sehr Viel zu bedeuten, denn das kann die deutsche Nation um den schönen Ruhm bringen, auf den sie mit Recht bisher so stolz war, nämlich: in den Schöpfungen der Harmonie, wie der Melodie, die erste der ganzen gebildeten Welt zu seyn!“(7) Beethoven habe in seinen letzten Kompositionen von einem für alle schönen Künste verbindlichen Horazschen Kanon [Woldemar zitiert: „sit, quodvis, simplex duntaxat et unum“ (Was du dir zu schaffen vornimmst, sey wenigstens einfach und ein Ganzes)] in seinen letzten Kompositionen „auch nicht das Mindeste mehr geahnet“(8), er habe „ohne die feste Hand der besonnenen Kritik, auch nur um so schlimmer!“ „in das weite Blaue“ hinein geschrieben, „unbekümmert, was, oder wie es wird?“, und die „weltklügern französischen neuesten Schulen“ hätten die Deutschen in der Musik „längst“ überflügelt, weil sie „der Natur getreu, noch immer das Horazische Gesetz befolgen, welches der Gigant Beethoven, in den unglücklichen letzten Tagen seines Daseyns, offenbar nicht blos übertreten, sondern in der That – mit Füssen getreten hat!“(6) Die Redaktion der Cäcilia werde sich kein geringes Verdienst „um die himmlische Tonkunst er- // werben, wenn sie dieses historische Faktum, wie es reellen und ächten Deutschen geziemt, endlich einmal unumwunden und öffentlich zur Sprache“(9) bringe. [An dieser Stelle ließ die Redaktion, also Weber, eine Asterisk-Anmerkung vom Umfang einer ganzen Seite

220

5. Kapitel: Gegengründungen

einrücken, die ihrer Doppelbödigkeit wegen gesondert zu bewerten ist.] „Während B., ohne Gehör, in düstere Grübelei und Melancholie versunken, noch unter den Lebendigen, mehr vegetirte, als eigentlich schuf“, da habe es geheißen, man dürfe dem „hochverdienten Manne“ nicht „mit dergleichen scharfen Aeusserungen“ wehe tun, und auch er, Woldemar, habe „aus Schonung des Zartgefühls, das jene Zurückhaltung mindestens auf Rechnung des guten Herzens bringt“, seine Privatmeinung über Beethovens letzte Arbeiten entweder gar nicht öffentlich oder doch stets „mit der aufrichtigsten Anerkennung seiner unleugbaren frühern Verdienste“ geäußert. „Nach seinem Hinscheiden soll ihn aber, als redlichen Deutschen, dem Wahrheit und Gerechtigkeit über Alles gehen müssen, Nichts weiter abhalten, bei jeder Gelegenheit laut zu erklären, dass er, der nicht blos über die unvergänglichen Werke eines Händel, Gluck, Hasse, Graun, Haydn, Mozart u. s. w., sondern ebenso gut über Beethovens sonstige geniale und geregelte Geistesprodukte jederzeit in die heiligste und feurigste Begeisterung geräth, den unglücklichen, melancholischen, düstern und verworrenen Grübeleien, welche dieser ausgezeichnete Kopf kurz vor seinem Tode ausbrütete, nicht nur nicht den geringsten Geschmack abgewinnen kann; sondern dass ihm auch bei deren Anhörung nicht anders zu Muthe ist, als ob er sich in einem Irrenhause befände, und dass er sie so noch in der That höchst abschreckend, geschmacklos und entsetzlich finden muss“(10). Das Wörtchen „redlich“ darf in diesem Zusammenhang nicht fehlen. Es ist ein Epitheton, mit dem noch weit über 1900 hinaus ungeschliffene deutsche Schreiber Grobheiten als Tugenden ummünzen. 2) Gottfried Webers Anmerkung Der Webersche Kommentar ist ein Zwittergebilde, das einen Redakteur in der Zwangslage zeigt. Freiheit der kritischen Meinung muß Freiheit auch in der Äußerung über Beethoven enthalten. Der Meinungsfreiheit sind aber dort Grenzen gesetzt, wo die Verlagsinteressen beginnen, vom Druck der öffentlichen Meinung und der Überzeugung der Fachkollegen abgesehen. Webers Verhalten stimmt weder mit der Meinung des Verlegers Schott noch mit dessen Interessen überein. Weber beruft sich auf sein Vorverständnis, jedem ‚Denker‘ in seinem Blatt Aufnahme zu gewähren und ihn nicht zu korrigieren und daher „fortwährend auch den feurigsten, und selbst den unbedingtesten Bewunderern der Göttlichkeiten aus den letzten Epochen der Beethovenschen Muse, das Wort in unsern Blättern mit dem grössten Vergnügen gestatten werden, wie wir bereits oft genug gethan und, cum grano salis, auch selbst mit eingestimmt haben“(11), und das Wort so „keinesweges, wie von manchen Redactionen literarischer Blätter mitunter zu geschehen pflegt, allein demjenigen geben, welcher in ihrem Sinne sprechen will“(12). Weber bezieht sich auf Oken. Ein Zeitschriftenherausgeber sei nicht dazu da, eigene Ansichten zur Norm zu erheben, um dem Lauf der Dinge seinen Weg anzuweisen. Doch wenn man schon eine neue Zeitschrift leitet, die dem Verleger ständig erhebliche Zuschüsse abverlangt und Nutzen allenfalls über die Möglichkeit der freien Werbung einräumt, so kann man doch nicht so weit gehen, die Verlegerin-

II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz

221

teressen dadurch zu beschädigen, daß man Kompositionen negativ bespricht, die er gerade erst in seinen Verlag genommen hat, also Beethovens Neunte Symphonie, die Missa solemnis und das Streichquartette Op. 131. Der menschliche Aspekt kommt hinzu. Weber muß ein sehr schwieriger, hoch empfindlicher und leicht zu beleidigender Mann gewesen sein, und er war mit Sicherheit sehr von sich überzeugt. Die Briefe, die er an Schott schreibt, sind rüde, respekt- und lieblos, ja fast schon ehrenrührig, und angesichts seines damaligen Berufes als amtierender Richter lösen sie noch im nachhinein so etwas wie Erschrecken aus. Weber wirkt egozentrisch bis zur Egomanie, und eher ist die Ruhe des Verlegers im Umgang mit ihm zu bewundern. Der Requiemstreit ließ Weber Beethoven gegenüber nicht mehr unparteiisch sein. Auf der anderen Seite war Beethoven eine künstlerische Instanz, die man nicht so ohne weiteres angreifen oder gar in Frage stellen konnte, ohne sich selbst zu verletzen. Er kann als Redakteur aber weder Ludwig Rellstab noch anderen verbieten, über Beethoven geteilter Meinung zu sein, es sei denn, er verzichtete auf ihre Mitarbeit. Mit genauer Quellenangabe Band 7, Heft 25, Seite 18 beruft er sich auf deren „freimüthige Äußerungen“, um Herrn Woldemar gegenüber seine Überparteilichkeit herauszustellen(13). Er kann auch nicht darüber hinwegsehen, daß einige Kompositionen Beethovens, vorsichtig ausgedrückt, als nicht auf der Höhe der Zeit stehend empfunden werden, was vor allem für die immer wieder zitierte und zudem noch publikumswirksame „Schlacht von Vittoria“ gilt. Erst recht kann er nicht daran zweifeln, daß mit den späten Werken Beethovens ein neues, und zwar sehr ernst zu nehmendes Diskussionsfeld entstanden ist. Es läßt sich nicht einfach mit einer Handbewegung abtun. Alle diese Empfindungen, so widersprechend sie sein mögen, können sich sehr wohl in einem Menschen gleichzeitig ausbreiten und sein Handeln bestimmen. Über die künstlerische Qualität der „Schlacht von Vittoria“, die ja auch so etwas wie ein virtuoser Spaß gewesen sein wird, ist man sich in Musikerkreisen unpolemisch einig, und die Meinungen Rellstabs kann man hinnehmen. Aber Woldemar meinte Kompositionen, die Gottfried Weber gerade nicht meint, nämlich die letzten Streichquartette, die letzten Klaviersonaten, die Missa solemnis, die 9. Symphonie. Obwohl der Kommentar scheinbar als Zustimmung zu Woldemars Forderung auftritt, man müsse auch einem Beethoven gegenüber kritisch bleiben, ist er, anwaltlich raffiniert, durch die Rezensionsrealität der „Caecilia“ gegenteilig formuliert. Das zeigen Freiherr von Weiler aus Mannheim, Grossheim aus Kassel sowie J. Fröhlich. 3) Beckers Erwiderung Woldemars Artikel kostete Weber mit Sicherheit mehr Ansehen und den Verleger mehr Abonnenten, als er wahrhaben wollte. Dabei ging es nicht eigentlich um die Kritik an Beethoven – es ging um die Art, in der sie formuliert worden war. Wer sich als Anhänger der modernen französischen Musik zu erkennen gab, und „über diejenigen Herren Kontrapunktisten und Grammatiker, die auch solch handgreiflichen musikalischen Unsinn noch geniessbar finden, weil er gegen ihre magern Regeln nicht anstößt, endlich einmal mit dem Näs- / chen auf die Wahrheit ge-

222

5. Kapitel: Gegengründungen

stossen werden können“, etc. etc. seinen Spott ausgoß und damit vermutlich gegen seinen eigenen Willen zu erkennen gab, daß die grammatikalische Richtigkeit auch der pauschal abqualifizierten letzten Werke Beethovens nicht in Abrede zu stellen waren, ihnen aber die „ächte Sprache der Tonkunst“ entgegen hielt, die mit der Grammatik der Tonkunst nicht zu würdigen sei und sich auf die „allgemeinen Gesetze des Schönen“ berief, die allerdings nicht definiert wurden, und die, das stand ja ungeschrieben dahinter, nicht Beethoven, sondern Heinrich Hermann alias Ernst Woldemar beherrschte, durfte sich über Widerspruch nicht wundern. Wenn er dann gar seine Polemik mit dem Abschnitt schloß: „Wenn, bei geistigen Schöpfungen, alles blos auf die grammatische Richtigkeit ankäme, wer müsste dann nicht auch den Anfang von nachstehender Erzählung passiren lassen: „Asien ist urplötzlich nach Amerika verschlagen; und unmittelbar nach dieser Versetzung hat die kleinste Maus nicht allein, binnen sechs Minuten, zwei Dutzend Elendthiere, sondern bald darauf auch noch den grössten Elephanten verschlungen, so dass selbst nicht ein Stückchen seines Rüssels übrig blieb?“ – Alles richtig wie Gold, nach der Grammatik! aber Ohe! welcher Unsinn! – Sapienti sat!“, war es beinahe zwingend, die Frage nach der angeblichen Demenz des alten Beethoven mit größerem Recht auf den Kritiker Woldemar zu übertragen, der sich zuletzt nicht nur polemisch, sondern seinem Vornamen ‚Ernst‘ zum Trotz schlichtweg albern gebärdete. Weber war der Vorwurf zu machen, einen Artikel von solcher Stillosigkeit des Abdruckes für wert gehalten zu haben, und es hagelte Proteste von allen Seiten, vor allem aus der Richtung der konkurrierenden Blätter. Zusammen mit den Angriffen Dorns auf die Leipziger „Allgemeine musikalische Zeitung“ wurde das Jahr 1829 für Weber daher äußerst ungemütlich. Er verwickelte sich von einem Streit in den anderen und gewann nichts dabei; wohl verlor der Verleger Abonnenten, darunter namentlich Breitkopf & Härtel als Verleger der unentwegt angegriffenen „Allgemeinen musikalischen Zeitung“. Zunächst druckte Weber im nächsten Heft (Nr. 30) unter dem Titel „Kleine Entgegnung / auf die im 29. Heft der Cäcilia*) gege- / bene Aufforderung, L. van Beethoven / betreffend“(14) einen gegen Woldemar gerichteten und im April 1828 geschriebenen Protestartikel ab, der den angesehenen Leipziger Organisten Conrad Friedrich Becker zum Verfasser hatte, und löste damit die fast noch schlimmere Replik des Berliners aus, die Weber nach Herkommen abdrucken mußte und die, wieder wegen ihres unkontrollierten Stils, alles noch schlimmer machte. Im Kernabschnitt schrieb Becker: „Bekanntlich hat Beethoven an 130 und mehr Werke geschrieben. Ist es nun recht, einen Mann wie diesen nach dem Tode auf eine solche Art an den Pranger zu stellen, wegen etwa dreier Werke, die er in den letzten Lebensjahren schrieb? – Sind sie wirklich, was Herrn Woldemar und zehn anderen, die eine solche Aufforderung machen können, schwer möchte zu beweisen sein, sind sie wirklich für ein Tollhaus gut? – Sollten sie es aber sein, wie sie es nie sind, so werden sie bald in Vergessenheit kommen – das Urtheil ist dann gesprochen und jedes Wort darüber verloren. – – / … Aber nein, nicht die Deutschen, sondern Einer beschuldigt ihn der ‚düstern, leeren, trok- / kenen, plan- und geschmacklosen Speculationen!‘ // Nun, Einer kann nicht verlangen, dass andere untersuchen sollen, ob die Symphonie u. s. w. ‚für das Tollhaus’ passt, Einer benimmt Beethovens letzten

II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz

223

Werken keinen Werth, Einer giebt und raubt dem wahren Verdienste keinen Lorbeerkranz; für Einen kein Wort mehr – aber für Andere, die so schwach vielleicht wären, ein ähnliches Urtheil zu fällen. / Beethoven hat eine neue Bahn gebrochen; wollte er sie behaupten, so musste er, da seine Jünger ihm schnell nacheilten, immer Neues leisten. Sein Lauf endete! – Die Jünger naheten noch nicht, denn steil ist der Weg, den er gezeichnet, auf den er vollendet hat, – – und darum sind seine letzten Schöpfungen uns ein Geheimnis noch. Naht erst die Zeit, wo wir die neunte (d-moll) Symphonie mit solcher Leichtigkeit und Ruhe, wie die erste (C-Dur) hören, so ist gewiss alles uns jetzt Unklare daraus verschwunden und ebenso gewiss ein neuer Heros vorhanden, der uns weit vorangeschritten ist“(15). 4) Redaktionspolitik. Grossheim, Fröhlich, Weiler Unter keinen Umständen durfte sich Weber mit Woldemar auf einer Stufe gestellt sehen. Er hätte alles verloren und Schott ihn fallen lassen müssen. Die meisten der Stücke, die Woldemar meinte, erschienen bei Schott (9. Symphonie, Missa solemnis, Streichquartett Op. 131; die Quartette Op. 132 und 135 kamen bei Schlesinger in Berlin heraus). Weber tat sich vermutlich nicht allzu schwer, Beethoven zu ärgern, über den er sich in der Requiem-Sache so aufgeregt hatte, und auch die Klinge des ehemaligen Generalstaatsprokurators schlug nicht allzu sanft. Aber er mußte sich selbst dabei klaglos stellen; denn Woldemar war in seiner erkennbaren Dünkelhaftigkeit zu weit gegangen. Um die juristische Hintergründigkeit der Weber-Anmerkung zu erfassen, war Woldemar trotz beflissener literarischer Bildung nicht gescheit genug. Der Trick, in derselben Nummer weitere Besprechungen anzumerken und dabei anzudeuten, die Meinung mit deren Verfassern zu teilen, hätte Woldemar eigentlich hellhörig machen müssen. So erschien im 32. Heft des 8. Bandes zunächst eine Doppel-Rezension über die 9. Symphonie. Die ausführlichere stammte von Prof. J. Fröhlich, die zweite von Dr. G. Grossheim. Beide zusammen nahmen 29 Seiten in Anspruch(16) und überschlugen sich geradezu vor Anerkennung der Leistung des späten Beethoven. Fröhlich bezeichnet die Symphonie als „das genialste Werk …, das je in dieser Art geschrieben ward“(17), und Grossheim erklärt: „Wahrlich! Der müsste zu jenen Bedauernswürdigen gehören, die Schiller von seinem Bunde ausschliesst, der nicht hier, im Hochgenusse schmelzend, den Becher hoch und höher noch heben, und Schiller und Beethoven die reinste Libation bringen wollte; der Thräne sich nicht schämend, die bey dem Gedanken an einen unersetzlichen Verlust über seine Wange rinnt“(18). Nicht genug damit, folgten im nächsten Heft Nr. 33 (9. Band) drei weitere überaus günstige und wie schon aus Anlaß der Symphonie ausführliche Besprechungen der Missa solemnis und der letzten Streichquartette, also genau jener Werke, die den Gegenstand von Woldemars Pamphlet bildeten. Zur Messe war es wieder eine Doppelrezension, diesmal in umgekehrter Reihenfolge, von Grossheim, datiert 20. März 1828(19), und Fröhlich(20), mit einem Gesamtumfang von 23 Seiten. Den Beschluß machte der mit Juli 1828 abgezeichnete sechsseitige Weilersche Artikel

224

5. Kapitel: Gegengründungen

„Ueber den Geist und die Auffassung der Beethoven’schen Musik. Bei Gelegenheit der Anzeige seiner Nachgelassenen Quartette“(21) (gemeint sind die Opera 131, 132 und 135), in dem man etwas von „leidiger Oberflächlichkeit“ und „beschränktem Urtheilsvermögen“ lesen und auf Woldemar beziehen mußte. Dessen „Replik“ auf Becker erschien am Schluß des 34. Heftes. Das Verfahren muß auf den bis dahin ahnungslosen selbstbewußten Berliner wie ein Schlag ins Gesicht gewirkt haben. Was hier im Vorfeld redaktionspolitisch vorgenommen wurde, dürfte eindeutig sein. Die fünf Rezensionen dienten als Kontrapunkt zu Woldemar und brachten Weber, militärisch gesprochen, einigermaßen aus dem Schußfeld, versöhnten ihn mit dem Verleger, ohne allerdings die verloren gegangenen Abonnenten zurückzugewinnen. Webers Zeitung war gegründet worden, um das Für und Wider ungefärbt stehen zu lassen. Es gab (zunächst in der Minderzahl) Freunde des späten Beethoven, und es gab (zunächst in der Mehrheit) Gegner mit unterschiedlichem Spektrum. Niemand konnte einer Redaktion einen Vorwurf daraus machen, beiden Meinungen Raum zu geben, keine zu unterdrükken, aber mit Abstufungen zu werten. Den Woldemar-Aufsatz ohne Neutralisierung aufzunehmen wäre redaktionspolitisch mehr als nur unklug gewesen – schließlich ging es um Ludwig van Beethoven (unklug und geschäftsschädigend dazu war es ohnehin, einer derart überzogenen Polemik gegen Beethoven Raum zu gewähren). Zum anderen eröffnete der Redaktionskommentar, daß man von beethoven-enthusiastischen Rezensionsartikeln wisse, die Wendungen enthalten, die sich unabhängig von der historischen Richtigkeit nur gegen Woldemar und seinesgleichen richten konnten. Der Redaktionsfehler war das Imponderabilium, daß aufgebrachte Beethovenfreunde wie Becker das Woldemarsche Pamphlet nicht ungerügt stehen ließen und die ungeschriebenen, aber immer beachteten Regeln des journalistischen Duells Woldemar noch ein weiteres Mal zu Wort kommen lassen mußten. Webers Taktik ging damit nicht auf. Versetzt man sich in seine Lage, so mußte er schon Schott zuliebe die umstrittenen, aber diskussionswürdigen späten Beethovenwerke wenigstens anständig besprechen lassen. Die Redaktionsanmerkung stellte sicher, daß gegenteilige Aufsätze vorlagen oder wenigstens mit bekannter Tendenz abschließend in Arbeit waren. Weber hätte damit die Angelegenheit beenden können, wenn nicht, gewiß unaufgefordert, Becker aufgetreten wäre. Nun mußte man Woldemar noch einmal das Wort erteilen. Weber veröffentlichte aber erst die zweite Serie der Fröhlich-Grossheim-Besprechungen und schloß die Weilersche Kritik der Beethovenschen Streichquartette an. Damit neutralisierte er die ohnehin unbedarfte, sich fast von allein erledigende Woldemarsche Replik, die er an das Ende des nächsten Heftes 34 und damit weit abgeschlagen verwies – ein redaktionspolitisch meisterhafter Schachzug, vielleicht auch eine kleine Gemeinheit gegenüber Woldemar, der damit sicherlich nicht gerechnet hatte, sich auf das Lesen seiner Replik freute und eine weitere Abfertigung erhielt, zu der er sich nach den damaligen Spielregeln nicht mehr im selben Blatt äußern konnte, und ein anderes stand ihm aus einleuchtenden Gründen nicht zur Verfügung.

II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz

225

5) Woldemars „Replik“ „Der Herr Organist Becker zu Leipzig hat die edle Dreistigkeit, meine Aufforderung über Beethoven anzugreifen, ohne sie gelesen zu haben. Vernünftige Leute werden also nicht über mich zürnen, sondern über ihn lachen.“ Mit diesen für den Verfasser mehr als für den Adressaten charakteristischen Sätzen beginnt Woldemar, der die Kritik an seinen Äußerungen sehr übel genommen hat, seine „Replik“ genannte Antwort. Sie erschien im 34. Heft (Band 9) und ist noch polemischer, noch abfälliger, noch unbelehrbarer, noch erregter als das Ausgangssubstrat und bewegt sich auf der untersten Ebene eines für Beethovenfreunde kaum noch erträglichen Journalismus(22). Woldemar sieht sich als Verehrer des frühen und mittleren Beethoven, der zu seinem Schrecken in dessen späteren Arbeiten eine mit der Taubheit zusammenhängende geistige Verwirrung feststellt und sich als „redlicher Deutscher“ genötigt fühlt, dies der Öffentlichkeit in der Hoffnung mitzuteilen, seine Erkenntnis werde Allgemeingut und Beethoven in seinen letzten Jahren mit allen Folgen für seine in dieser Zeit komponierten Stücke zum Geisteskranken erklärt. Schon an der Zwischenanmerkung Webers, auch wenn er sie zu Hilfe ruft, hätte Woldemar merken müssen, daß man ihm nicht folgen wird; aus Beckers Antwort liest er richtigerweise die unverhohlene Herabwürdigung seiner Person und Meinung heraus und sieht sich unerwartet in die Rolle eines Popanz verwiesen, die er nicht spielen will. Retten hätte sich Woldemar mit einer ruhigen und abwägenden Neubewertung im Rahmen seiner ihm zustehenden Schlußantwort, auch wenn er damit seiner Überzeugung von der Minderwertigkeit der späten Beethoven-Produkte keineswegs abschwören mußte. Er hätte sich dann auf der Ebene etwa von Spohr oder von Rellstab bewegt und damit seine Ernsthaftigkeit nicht in Frage gestellt. Um so zu reagieren fehlte es Woldemar an natürlicher Intelligenz, taktischem Geschick und Charakterqualitäten, außerdem stand ihm seine Liebhaberei für die leichtere französische Musik im Wege, die wiederum auf der Voraussetzung einer hedonistischen Musikauffassung als Unterhaltungsmedium beruhte. Also blieb ihm nur überzogene Polemik nicht nur gegen Beethoven übrig, sondern auch gegen alle, die nicht seiner Meinung waren. Da er andere als Geschmacksargumente, vor allem keine kompositorischen Fehler nachweisen konnte und trotzdem auch noch überzogen polemisch, ja beleidigend gegen seinen Kritiker auftrat, den er an einer anderen Stelle mit „Herr Organist an der Pleisse“ tituliert, wurde er genau das, was er nicht sein wollte, nämlich ein Prototyp des nicht mehr ernst zu nehmenden, wenn auch unter Umständen gefährlichen Schmierenjournalisten, der keine regulierende Instanz mehr über sich anerkennen will. Woldemar ist der typische „harte“ Schreiber mit großmäuliger Aufdeckungsmentalität, der in seinen Berichten vor nichts zurückschreckt, aber, selbst zur Rede gestellt, in einer irrationale Grenzen streifenden Überempfindlichkeit Gegenwehr-Auseinandersetzung mit unzulässigem Angriff auf seine Person verwechselt und daraufhin ins Schimpfen gerät. „Wenn aber Beethoven gegen das Ende seines Lebens ein anderer geworden ist, als er früher war; soll das nach seinem Tode zur Ehre der Kunst – die immer höher steht, als die des einzelnen Künstlers – nicht gesagt werden dürfen, ohne seinem wirklich errungenen Ruhme zu nahe zu treten? Man hat von dem grossen Newton erzählt, dass er

226

5. Kapitel: Gegengründungen

vor seinem Tode die Offenbarung Johannis zu erklären suchte; von Kant, dass er in seinen letzten Augenblicken beinahe kindisch wurde; eben das hörte man, oder beinahe noch Schlimmeres, von dem geistreichen Platner zu Leipzig. – Haben die Erzähler solcher Schwachheiten je die Absicht gehabt, die Verdienste so vortrefflicher Männer herabzuwürdigen, oder sie selbst damit an den Pranger zu stellen? Ferner ist der Herr Organist an der Pleisse so gütig gewesen, meine Behauptung: >dass Beethoven in seinen letzten Werken ins weite Blaue hinaus komponirt habe, unbekümmert, was oder wie es werde?< auf dessen sämmtliche Kompositionen auszudehnen. – Was soll man dazu sagen? – Ich bin zu diskret, um den rechten Namen für eine so handgreifliche Verunglimpfung hierher zu setzen. / Übrigens erlauben wir – denn wenn der Herr Organist meinen Aufsatz und die von der verehrl. Redaktion der Cäcilia hinzugefügten Anmerkungen gelesen hätte; so würde er wissen, dass hier nicht von Einem, sondern von Mehreren bereits die Rede ist – ich sage, wir erlauben ihm und noch einem Dutzend solcher Professoren, als er in seinem Aufsatze zu Hülfe ruft, sehr gerne, aus den so furchtbar tönenden und hin und wieder wirklich delirirenden Schwanengesängen des originellen Komponisten, zu machen, was sie Lust haben. – >Nur immer zu, vortreffliche Herren und Kenner der Musik< werden wir sprechen; >erklären Sie Töne, welche uns die Haut mit Gänsestoppeln überziehen, für das Non plus ultra der Kunst. Machen Sie Ihrer Welt begreiflich, dass gerade hier der Komponist die neue Bahn gebrochen hat, auf der künftig Alles fort wandeln muss. Bestehen Sie darauf, dass die jüngeren Musiker ins gesammt weder Geist, Verstand, Herz, Ohr, noch Geschmack besitzen, so bald sie nicht in diese neue phantastische Weise mit einstimmen< u. s. w., u. s. w., u. s. w. / Das grössere Deutschland wird hoffentlich fortfahren, die wirklich unsterblichen Gesänge des Händel, Hasse, Graun, Gluck etc, immer mehr aus dem Staube hervor zu suchen, und dabei immer fester an seinen beiden letzten untadelhaften Genien, Haydn und Mozart, zu hangen; und Sie – ja Sie, treffliche Herren, werden zuletzt da stehen wie – nichts für ungut! – wie die Senatoren von L., wenn sie den weisen Entschluss gefasst haben, – regelmässig vierzehn Tage vor jeder Feuersbrunst die Spritzen probiren zu lassen.“ Mit diesen Abschnitten schließt Woldemars „Replik“. d) Nachwort Nach diesen eigentlich unnötigen Auseinandersetzungen gibt es in der „Caecilia“ keine negativen Äußerungen mehr über Beethoven. Was gegen Beethoven zu sprechen scheint, wird von Jahr zu Jahr mehr als Scheinargumentation freigelegt, was für ihn spricht, wird immer gewichtiger. Weber hätte alles in Frage stellen müssen, wofür er als Redakteur eintrat, hätte er anders entschieden. Für „den“ Woldemar oder „die“ Woldemars ist auch bei ihm künftig kein Platz mehr. Der Name Woldemar bleibt der Nachwelt auf denselben Seiten erhalten, auf denen man über den späten Beethoven schreibt, nicht als sachlich gerechtfertigter Kritiker oder Werkbegleiter, sondern als deren Karikatur. Der Typ aber, den er verkörpert, Dünkel

II. Abschnitt. Die zweite Konkurrenz

227

gepaart mit selbstgerechtem Überlegenheitsgefühl, wird auch in der Zukunft nicht untergehen, so wie er schon im Jahrhundert davor seine Spuren hinterlassen hat. (1) erheblich erweiterte und verbesserte Vorlage von: H. Kirchmeyer: Der Fall Woldemar. Materialien zur Geschichte der Beethovenpolemik seit 1827. in: Beiträge zur Geschichte der Musikkritik, herausg. v. Heinz Becker, Bosse Verlag Regensburg 1965, S. 19–25; (2) Kirchmeyer: Wagner in Dresden, Bosse-Verlag Regensburg 1972, S. 624 ff.; (3) Ernst Woldemar – Heinrich Hermann: Die Möserschen Musikabende. / Ein ehrlicher, deutscher Dank an den Herrn / Unternehmer. / (Eingesandt.), NLZfM I./76, 22.12.1834, S. 302a–b; (4) BamZ V/16, 16.4.1828, S. 121–130, Z:130; Gottfried Weber wird vermutlich erst aus dieser Reaktion eines ihm im Grunde wohlgesinnten Kollegen begriffen haben, was er zu seinem eigenen Schaden angerichtet hat. Marx widmete dem Vorfall eine ganze Nummer, druckte alle Äußerungen und Behauptungen Webers ab und kommentierte sie leidenschaftlich und anklagend; (5) Woldemar, Aufforderung, Cae VIII./29, S. 36–40; (6) Woldemar, Aufforderung, S. 36; (7) Woldemar, Aufforderung, S. 36–37; (8) Woldemar, Aufforderung, S. 37; (9) Woldemar, Aufforderung, S. 37–38; (10) Woldemar, Aufforderung, S. 38; (11) Anmerkung S. 38; (12) Anmerkung S. 39; (13) Die erwähnte Seite 18 (und im Original zugehörig die Seite 19) befindet sich innerhalb eines von Ludwig Rellstab geschriebenen Artikels über den zu dieser Zeit bereits verstorbenen Carl Maria v. Weber („Carl Maria v. Weber. / Von L. R.“, S. 1–20). Rellstabs Verfasserschaft wird sowohl in der Heftübersicht wie innerhalb der lebenden Kolumne angegeben. Rellstab schildert ein Treffen mit Weber, der sich bei dieser Gelegenheit kritisch über den späten Beethoven geäußert haben soll: „Wie sich erwarten liess, sprach er mit der grössten Begeisterung von diesem erhabenen Genius, wiewohl auch er, (und gewiss theilt diese Meinung jeder urtheilsfähige Unbefangene mit ihm,) die seltsamen Verirrungen des Meisters in der neuesten Zeit, nicht ohne ein Gefühl bedauernder Wehmuth betrachten konnte. Wohlwollend, und gewiss mit Recht, leitete er sie aus dem anomalen Zustande des erschütternden Unglücks jenes grossen Mannes her, das sich, auf eine höhnisch grausame Weise mit der Unbehülflichkeit seines Geistes in allem was die Welt und ihre äusseren Verhältnisse angeht, gepaart hat, um die hohe Natur seines Genius zu verdrängen und zu unnatürlichen Auswüchsen zu treiben.*) … // Das sind Webers eigene Worte, so gut sie ein getreues Gedächtnis bewahren konnte.“ Unter der Asterisk-Anmerkung schreibt Gottfried Weber „*) Wir glauben dem Herrn Verfasser hier das Zeugnis schuldig zu sein, dass dieser Aufsatz schon lange vor Beethovens Tode zur Cäcilia eingesendet war. / d. Rd.“ Gottfried Weber hat den Artikel also bis nach Beethovens Tod zurückgehalten, aus Rücksicht auf Beethoven oder weil er Rellstab nicht traute und über die Unzuverlässigkeit Rellstabs Bescheid wußte, der seine eigene (bekannte) Meinung über den späten Beethoven hier Weber in den Mund legte; (14) Erwiderung C. F. Becker, Cae VIII./30, S. 135–138; (15) Becker, a. a. O. S. 136–137; (16) Fröhlich, Cae VIII./32, S. 231–256, Grossheim, Cae VIII./32, S. 256–260; (17) Fröhlich, a. a. O. S. 233; (18) Grossheim, a. a. O. S. 260; (19) Grossheim, Cae IX./33 (1. und 2. Bogen des IX. Bandes sind als VIII. Band verdruckt), S. 22–26; (20) Fröhlich, Cae IX./33, S. 27–45; (21) Weiler, Cae IX./33, S. 45–50; (22) Woldemar: „Replik“, Cae IX./34, S. 135–136.

228

5. Kapitel: Gegengründungen

7. Die Gassner-Utopie F. S. Gassner, der in Gießen Musikdirektor war, machte einen (weltfremden) Vorschlag, den Weber freundlich aufnahm und noch freundlicher zurückwies(1) [II,112]. Gassner schlug vor, in jeder bedeutenderen Stadt einen Verein aus „tüchtigen und berühmten Musikern und Componisten“ zu bilden. Die angehenden Komponisten sollten dann statt an einen Verlag ihre Manuskripte an diese Kommission schikken. Die Kommission prüfe die Arbeiten und gebe auch eine Empfehlung über die Höhe des Honorars. Auf diese Weise bekämen die Verleger „gleichsam approbirte“ Arbeiten und das Publikum nur noch wertvolle Musikstücke, weil „Winkelcomponisten“ ihre Sachen „im Pulte“ behielten. Gassner ist überzeugt, daß sich „Männer von Ruf“ für diese Arbeit „mit Vergnügen“ zur Verfügung stellten. In einer „Nachschrift der Redaction“ räumt Weber höflich ein, den vom „wahren Eifer für das Gute und Schöne ausgehenden“ Vorschlag „des achtungswerthen Hrn. Einsenders“ zu unterstützen, wenn es ihm nur die „Musse“ erlaube. Allerdings würde kein Verleger ohne vorherige hauseigene Prüfung eine Komposition zum Druck bringen. Es lägen dann zwei „Taxationen“ vor (2). (1) Cae I./1, [Juni] 1824, S. 164–167; (2) Das vorgeschlagene Verfahren entspricht den Vorstellungen totalitärer Staaten.

III. ABSCHNITT. GESCHEITERTE KONKURRENZEN 1. Die „Musikalische Eilpost“ Marx und Weber machten Neugründungen weiterer Blätter schwer. Trotzdem wurde es versucht. A. F. Häser und J. C. Lobe gründeten 1826 in Weimar die „Musikalische Eilpost. Uebersicht des Neuesten im Gebiete der Musik“ [II,174]. Das heute nur in wenigen Bibliotheken vorhandene Blatt wurde schon nach der 25. Nummer wieder eingestellt. Mehrere in Deutschland erscheinende Musikzeitschriften und die Aufnahme von Artikeln über Musik in den meisten Unterhaltungsblättern, so wurde geschrieben, zeugten vom Interesse der Bevölkerung am Thema Musik. Die „Eilpost“ wußte um ihre eigenen Probleme und suchte sich auf einem Zwischenweg Abonnenten zu verschaffen. „… während jene mannigfaltige Abhandlungen über Gegenstände der Musik, tief eingehende kritische Beurtheilungen weniger einzelner musikalischen Werke und ausführliche Korrespondenz-Nachrichten und dergl. liefern, gedenken wir alle [das ‚alle‘ ist gesperrt gedruckt] neueste musikalische Komposizionen anzuzeigen, bei diesen Anzeigen uns zwar, wie es der Menge der erscheinenden Werke wegen unvermeidlich ist, von einer ins Detail gehenden Kritik fern zu halten, aber doch die geistige Sphäre, in welcher sich ein Werk bewegt, deutlich zu bestimmen.“ Der Idee nach war es, wie Stoepels Versuche, eine Vorwegnahme des Hirschbachschen „Repertoriums“ und wie dieses undurchführbar.

III. Abschnitt. Gescheiterte Konkurrenzen

229

2. Allgemeine Musikzeitung und Münchener allgemeine Musikzeitung. Franz Stoepel Die „Allgemeine Musikzeitung“ habe solchen Beifall gefunden, daß sie auch im kommenden Jahr fortgesetzt werde, hieß es am 2. Januar 1828 [II,201]. In Wirklichkeit wurde sie bereits im Juli 1828 eingestellt und hatte somit eine Laufzeit von nur anderthalb Jahren (die 1. Nummer war am 1. Juli 1827 erschienen). Stoepel erklärt noch einmal, was er alles machen will. Obwohl der Grundgedanke überzeugt, war das Unternehmen (vergleichbar dem späteren Hirschbachschen) allein schon des zu groß geplanten Umfanges wegen zum Scheitern verurteilt. Stoepel, der später für Schumanns Zeitung schrieb, setzte sich von Frankfurt nach München ab und versuchte es neuerlich, auch hier ohne Erfolg. Franz Stoepel hat bei seinen Zeitgenossen seiner seltsamen Verhältnisse und seiner Auseinandersetzungen mit Logier, seiner Unrast und seiner vielen gescheiterten Unternehmungen wegen ein ungutes Bild hinterlassen. Gottfried Weber allerdings bewunderte seine satztechnischen Kenntnisse(1). Stoepels 1827 in der von ihm gegründeten und bald wieder eingegangenen „Münchener allgemeinen Musik-Zeitung“ veröffentlichten „Zufällige Gedanken über musikalische Kritik“(2) [II,190] reichen weder an Rochlitz noch an Weber oder Marx heran, sind aber trotz ihres Jean Paul nachahmenden vagierend-blumigen Stils in einem fragmentarischen Dialog ernsthaft zu nennen. Er zeichnet das Bild eines Berufsstandes, eben des Kritikers, der so verrufen ist, daß ihn „die Alltags-Menschen“ der Gelehrtenund Künstlerwelt „oft kaum noch zu den Menschen überhaupt zählen mögen“(3). Natürlich gibt es davon Ausnahmen, und natürlich ist er, Stoepel, eine davon. Stoepel, der nicht lange genug gelebt hat, um ausreifen zu können (er starb nach einem unruhigen Leben 1836 im Alter von gerade 42 Jahren), vertritt eine Mittelposition zwischen der Vorstellung des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts (= die Kritik wird für den Künstler geschrieben) und der späteren Zeit (= die Kritik wird für das lesende Publikum geschrieben), indem er sich auf den Standpunkt stellte, die Kritik diene sowohl dem Künstler wie dem Publikum. „Weil dem nun einmal so ist, weil wir nicht für Künstler allein schreiben, sondern für das grosse Kunst geniessende und treibende Publicum, darum sollen, darum müssen wir nicht von der Technik unserer Kunstwerke reden und schreiben, sondern uns nur bemühen, ihm das Verständniss zu eröffnen über das, was der schaffende Künstler wollte; seine Intentionen, kurz den Geist, das innerste Wesen seines Werkes müssen wir andeuten, wir müssen den Zuhörer zu der Stimmung zu erheben suchen, welche erforderlich ist, dass der Töne tausendfache Sprache nicht unverstanden verhalle im leer gebliebenen Herzen!“(4) Stoepel verwirft damit jene Kritiker, die Kunstverständnis einseitig aus technischem Wissen ableiten und sich über Quintenparallelen oder Querstände aufregen. Stoepel wehrt sich gegen die vielfach noch landläufige Vorstellung, der geringe Bildungsstand Beethovens habe strukturelle Gestaltungsvorgänge nur aus Zufall entstehen lassen. Es ist „keineswegs erforderlich, dass ein Künstler sein reiches bewegtes Gemüthsleben in Worten auszu- // sprechen, dass er einen poetischen Commentar zu seinen Werken zu schreiben vermöge“(5). Natürlich müsse der Kritiker etwas vom Handwerk verstehen; aber darüber spreche man nur beim

230

5. Kapitel: Gegengründungen

schülerhaften Machwerk. Das Kunstwerk müsse vom Kritiker „in seinem schönsten Glanze“ dargestellt werden, „Spott und bittern Tadel nur der geckenhaften Eitelkeit, dem Dünkel und der Anmassung, wenn freundlicher Rath und Wink nicht fruchten.“ Stoepel (sofern die Abkürzung ‚Sp.‘ für Stoepel steht), fand in der „Münchener allgemeinen Musik-Zeitung“ für das „misshandelte Wort“ Genie 1828 eine neue Definition(6) [II,210]: „es gibt eine Freiheit des Geistes, mit der die Menschheit im Menschen anfängt: und wo diese Freiheit als die höchste intellectuelle Selbstständigkeit das kaum zu Erfindende erfindet und das kaum zu Entdeckende entdeckt, da ist der Genius der Kunst und der Wissenschaft, oder das wahre Genie. Das wahre Kunst-Genie findet sich im Conflict mit dem Zeitalter, mit Mustern, Beispielen, Regeln …“ Die vom Genie hervorgebrachte Originalität entstehe absichtslos, heißt es weiter. (1) (2) (3) (4) (5) (6)

Cae V./20, 1826, S. 305–306; MaM-Z I/1, 6.10.1827, Sp. 3–7; MaM-Z, a. a. O. S. 3; MaM-Z, S. 5; MaM-Z, S. 6–7; MaM-Z I/23, 8.3.1828, S. 364b–365a.

3. Ein Satire-Kommentar der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ ließ es sich nicht nehmen, mit einem ironischen Artikel „Ankündigung einer neuen musikalischen Zeitung“ die Versuche zu verspotten, eine weitere Musikzeitung ins Leben zu rufen(1) [II,255]. Der Artikel erschien Mitte September 1829. Zu diesem Zeitpunkt war die Lieferung der Hefte der „Caecilia“ ins Stocken geraten, die Zeitung von Marx stand kurz vor dem Eingehen (was man intern sicherlich längst wußte), und alle sonstigen Unternehmungen waren bereits eingegangen: Häsers und Lobes „Musikalische Eilpost“ kam 1826 nicht über 25 Nummern hinaus, Stoepels „Allgemeiner musikalischer Anzeiger“ scheiterte 1827 nach zwei Jahrgängen, im selben Jahr Sollingers „Chronologisches Verzeichniß“, dann die „Allgemeine Musikzeitung zur Beförderung der theoretischen und praktischen Tonkunst“ 1828, Stoepels neuer Versuch mit der „Münchener allgemeinen Musik-Zeitung“ 1829, und im selben Jahr in Hamburg das „Musikalische Magazin“, von dem sogar nur ein einziges Heft erschien. Von den beiden 1829 in Wien beziehungsweise Breslau beginnenden spezialisierten Musikzeitungen „Allgemeiner Musikalischer Anzeiger“ und die auf Pädagogik ausgerichtete Schulzeitung „Eutonia“, die etwas länger liefen (bis 1840 beziehungsweise 1837), konnte die Redaktion der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ dasselbe vermuten. Die Satire beginnt im Stil der üblichen Vorankündigungen und Anpreisungen, nur bombastisch übertrieben, was und wie sie alles machen will, und endet mit dem ernüchternden Satz: „Was übrigens von unserm Institute sonst noch vorläufig zu sagen ist, das wird der Herr Verleger bekannt machen, sobald wir ihn haben.“ Und die „Signale für die musikalische Welt“ kündigten 1845 unter „Carnevals-Novitäten“

III. Abschnitt. Gescheiterte Konkurrenzen

231

das Erscheinen eines „Allergemeinsten europäischen Musikjournals“ mit entsprechendem Inhalt an(2) [II,510]. (1) AmZ XXXI/37, 16.9.1829, S. 608–611; (2) SfdmW III/9, 26.2.1845, S. 69–70.

6. KAPITEL: DIE ALLGEMEINE MUSIKALISCHE ZEITUNG 1818 BIS 1848 1. DIE ÜBERGABEN Im Jahre 1818 legte Rochlitz, damals erst 52 Jahre alt, die verantwortliche Schriftleitung seiner Zeitung nieder, blieb aber bis 1835 weiterhin Mitarbeiter mit nach außen hin gewichtiger Stimme. Wenn Verlag und Redaktionsleitung geglaubt hatten, die Zeitung verliefe weiterhin in ruhigen und gesicherten Bahnen, sah man sich bald eines Besseren belehrt. Rochlitz war nicht zu ersetzen. Die verschiedenen Übergaben blieben von Anfang an glücklos. Die Berufung von Fink im Jahre 1828 kam einer journalistischen Katastrophe gleich, die Jahre 1841 bis 1845 (die beiden Härtels, seit 1843 Moritz Hauptmann) änderten nichts in der Sache, und mit dem letzten Nachfolger Lobe seit 1846 geriet man zwar nicht vom Regen in die Traufe, dafür war Lobe doch zu gut; aber aufhalten konnte Lobe den Niedergang auch nicht, dazu war er wiederum nicht genial genug, und außerdem hatte er zu wenig Zeit. Bei Fink und Lobe handelte es sich um ehrenwerte Männer mit großem Wissen und ehrlichem Bemühen; aber sie beherrschten weder die Differenziertheit der neuen deutschen Sprache noch hatten sie zeitbewegende künstlerische Zukunftsvisionen. Vor allem verfügten sie nicht über ausreichende diplomatische Geschicklichkeit, in der konkurrierenden Gratwanderung der Journale die unbestrittene Sonderstellung des Härtel-Blattes zu erhalten (oder wieder herzustellen). Überspitzt ausgedrückt: an die Stelle der literarisch-kritischen Autorität Rochlitz mit seiner zeitangepaßten geschmeidigen Beweglichkeit war mit Fink ein Nachfolger angetreten, der in seinem Blatt in zum Teil verstaubtem Deutsch moralgespickte kunstprogrammatische Sonntagsreden hielt. Deren polemischer Unterton stand in Gegensatz zu dem, was die Zeitung an Wertbestimmungen tatsächlich noch vorweisen konnte. Alles das, was der weltkluge Rochlitz von seinem Blatt ferngehalten hatte, strömte im Übermaß ein. Jetzt brachte auch die Leipziger Zeitung zum jeweiligen Jahrgangsbeginn Vorworte und redaktionelle Programm-Bekenntnisse mit dem Ziel der schlackenlosen Eigenwerbung. Sie wirken, zumal in der lehrerhaft werdenden anschauungslosen Spracheinfalt, widerwillig abgefaßt, und sie lassen im späteren Verlauf unschwer erkennen, daß man der Not gehorcht und sich im Konkurrenzkampf mit den anderen Blättern einer journalistischen Mode anbequemt, um sich wenigstens zu behaupten, wenn man sich schon nicht mehr auszeichnen kann. Sie lassen erkennen, eigentlich überflüssig zu sein und enthalten außer der immer wieder abgegebenen Versicherung, sich nicht parteiisch binden zu wollen, wie in einer Schraube ohne Ende die Topoi vom Guten, dem man verpflichtet sei, von der Wahrhaftigkeit, um die es gehe, vom Wahren, dem man diene, von der Gerechtigkeit, die über alles stehe, und was dergleichen Redewendungen mehr sind, die, zu oft wiederholt, zu Redensarten werden. Das Verfahren läuft nur noch wenige Jahre. Dann beginnen

2. Gottfried Wilhelm Fink

233

die Abonnenten abzuwandern und schaffen den Markt für neue Blätter. Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ ist schon vor Fink unter Gottfried Christoph Härtel ab 1824 längst nicht mehr „die“ deutsche Musikzeitung, sondern nur noch eine unter anderen. Der Unmut äußert sich in temperamentvollen Angriffen, auf die Fink nicht diplomatisch oder einsichtig, sondern rechthaberisch-empfindlich reagiert und sein Blatt damit weiterhin schädigt. Leser sind zwar möglicherweise am Klatsch, nicht aber am Dauer-Streit in der eigenen Wohnung interessiert, und wenn der zu lange anhält, dann ziehen sie um. Zu diesem Zeitpunkt ist der kränkelnde Rochlitz längst mit seiner Zeitung zerfallen – nicht zuletzt als Folge der vielen redaktionellen Fehlentscheidungen Härtels. Nicht alles, was jetzt an Künstlerverkennung zu Tage tritt, sollte man daher Fink anlasten. 2. GOTTFRIED WILHELM FINK Gottfried Wilhelm Fink stand mit 44 Jahren in einem reifen Alter, als er 1827 die Schriftleitung der Allgemeinen musikalischen Zeitung übernahm (geb. 17.3.1783 zu Sulza in Thüringen). Von Hause aus evangelischer Theologe und Leiter einer Leipziger Erziehungsanstalt, arbeitete er noch unter Rochlitz schon seit 1808 an der Zeitung mit. Er dachte nicht daran, die gegen ihn und gegen seine Redaktion nach und nach von allen Seiten gerichteten Vorwürfe stillschweigend hinzunehmen, wobei der Tenor seiner Entgegnungen von Mal zu Mal gereizter wurde. Fink kannte sich im Handwerk aus, verfaßte Kompositionen vielfach auch auf eigene Texte, veröffentlichte Lehrwerke zur Tonkunst und zur Geschichte der Oper, gab Musik-Sammlungen heraus und arbeitete bis zuletzt an einem unveröffentlicht gebliebenen Handbuch der allgemeinen Geschichte der Tonkunst. Gegen Adolf Bernhard Marx hegte er einen tiefsitzenden (verständlichen) Groll, der mit den von der „Berliner allgemeinen musikalischen Zeitung“ ausgehenden oder veranlaßten Angriffen auf ihn zusammenhing. Fink war intelligent, fleißig, aber unbeweglich und ungeschickt und von einer steifen Würde, die sich in seiner häufig predigerhaften Schreibweise auch im redaktionellen Teil zur spottfeilen Unfreude seiner Gegner äußerte. Mochte er sich über den Untergang der Berliner Marx-Zeitung insgeheim noch freuen können, so erwuchs ihm in der Schumannschen Zeitschrift eine viel gefährlichere Konkurrenz und verstärkte mit Sicherheit seine Abneigung gegen alles, was man oder sich damals neuromantisch nannte oder so sah. Fink verschanzte sich hinter einer Boykott-Strategie, welche die Sache bloß noch schlimmer machte und seinen Ruf weiter verschlechterte. Bestimmte von Fink zunächst verweigerte, durch Marx eingeführte und vor allem durch Schumann standardisierte neue Journaltechniken mußte er gezwungenermaßen übernehmen. Sein Abgang von der redaktionellen Bühne 1841 geschah nicht freiwillig. Der Verlag versuchte zunächst vergeblich, Schumann als Schriftleiter zu gewinnen, und entschied sich nach einiger Zeit für Lobe. Den Zusammenbruch seiner Zeitung erlebte Fink nicht mehr, da er am 27. August 1846 in Leipzig im Alter von 63 Jahren starb.

234

6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848

3. DIE VORWORTE FINKS Fink übernahm die Redaktion zu Michaelis 1827 und gab anläßlich der dritten Nummer des neuen Jahres eine „Erklärung“(1) über die Vergangenheit der Zeitung und über sich selbst ab [II,203]. Der Stil ist zeitgenössisch normal, die Aussage klar, aber nicht unversöhnlich. Das wird sich später ändern. Zu diesem Zeitpunkt anerkennt er die Existenz weiterer Musikblätter noch ohne ersichtlichen Groll, spricht aber Angriffe auf die Zeitung an, die er „kleine Neckereyen und Häkeleyen“(2) nennt und für überflüssig hält. „Es ist Platz für uns Alle in der Welt“(3). Bislang habe man auf solche Bemerkungen nicht geantwortet. Inzwischen versuche man, die Zeitung auf alle mögliche Weise herabzusetzen, und das werde er nicht mehr unbeantwortet lassen. Finks Vorwort für 1829 hieß „Einleitung“ und erschien am 7. Januar 1829(4) [II,236]. Der Tenor der Einleitung zur „Einleitung“ ist der Dank an alle, die das Blatt vor ihm geleitet haben und es zur Zeit durch ihre Teilnahme unterstützen, und sein Versprechen, alles „redlich“ daran zu setzen, der Zeitung weitere ersprießliche Jahre zu bescheren. In der Sprache schlagen ein bereits schwülstiger Predigerton durch, der sich später unangenehm verstärken wird, und eine Ichbezogenheit, wie man sie von anderen Prologen in eigener Sache her kennt, hier aber in Verbindung mit den salbungsvollen Phrasen und den verschachtelten Sätzen beim Leser ein möglicherweise leicht beklemmendes Gefühl ausgelöst haben dürfte. „Wenn ich nun dennoch dabey nicht den Muth verliere: so gründet sich diess durchaus nicht auf irgend eine Ueberschätzung eigener Kräfte, die in Anmassung alsdann gewöhnlich nur sich um so schwächer zeigen, sondern zunächst auf das jedem rechten Manne nothwendige Selbstgefühl, des redlichsten Eifers in seinem Werke sich klar bewusst zu seyn, alle von Gott verliehenen Gaben in Fleiss und Liebe möglichst zu gebrauchen, zu erhöhen und zum Segen der Welt immer mehr und zweckmässiger zu verwenden. Und dieses ermuthigende Selbstbewusstseyn (ich darf es, Gott sey vor Allem dafür Preis! wohl bekennen) ist mir nie ein Fremdling gewesen, und seine erquickende, hebende Kraft hat sich mir auch in der kurzen Führung dieses Werkes bereits deutlich offenbart durch nachsichts- // volle, sehr freundliche Theilnahme, durch ehrendes Vertrauen und tüchtige Beyhülfe vieler durch Kunst, Wissenschaft und Redlichkeit ausgezeichneter Männer, denen ich dafür öffentlich meinen wärmsten Dank abzustatten und Sie(5) um fortgesetzt thätige Unterstützung angelegentlichst zu ersuchen habe“(6). Die Kritik an den Korrespondenzen, die man an einer nicht genannten Stelle als „leere Neuigkeitskrämerey“ bezeichnet hatte, weist er zurück. Fink widerspricht, ohne die Korrespondenzen höre eine Zeitung auf, Zeitung zu sein, und man werde das Nachrichtenwesen noch erweitern. Wofür Fink spaltenübergreifend seitenbreite 85 Druckzeilen benötigte, hätte sich leicht in 20 zusammenfassen lassen: daß ein neuer Jahrgang beginnt (ohnehin selbstverständlich), daß er stolz ist, das Institut leiten zu dürfen, daß sich am Redaktionsplan nichts ändert, daß er den Helfern dankt, daß er trotz Kritik daran das Korrespondenzwesen erweitern werde. Weil Fink die von ihm gemeinte kritisierende Quelle nicht nennt, läßt sie sich nicht nachprüfen. Möglicherweise richtete sich die Kritik

3. Die Vorworte Finks

235

nicht gegen das Korrespondenzwesen an sich, sondern gegen die Art, wie es in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ inzwischen gehandhabt wurde. Fink eröffnete 1835 seine Jahres-Tätigkeit mit einer längeren prologartigen Erklärung „Was wir sollen, wollen und nicht wollen“(7) [II,305], bei der es sich eher um eine protestantische Predigt als um ein redaktionelles Vorwort handelt. „Ist etwa das Sollen in unsern jüngsten Tagen auch neu geworden? Wir sind des Glaubens, dass es seit Christo unerschütterlich steht bis der Welt Ende. Rechtschaffen, treu, vernünftig, christlich sollen wir sein; dazu klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben. Das ist die Summa. Nur der Antichrist, der angenehme Teufel, beliebt eine andere Methode“, so beginnt seine Abhandlung, die wie jede gute Predigt aus einer Einleitung, 3 Hauptteilen und einer Konklusion besteht. Die drei Hauptteile sind durch „das Motto unsers Wollens“, einem „von allen Rechtlichen anerkannten und unerschütterlichen Spruch“ bestimmt, den er lateinisch und vorsorglich auch deutsch mitteilt und dann durchführt (Im Notwendigen Einheit, im Ungewissen Freiheit, in Allem Liebe). Notwendig ist die Grammatik, beim Ungewissen geht es um den Geschmack, und bei der Liebe darum, das ‚Schlechte‘ zu ‚hassen‘. „Erhebung der Wahrheit und des Rechts ist unser Ziel. Bei gewissenhafter Parteilosigkeit soll fortwährend jene Humanität in unsern Blättern gefunden werden, die stets eine Gefährtin der Gebildeten“(8). Solches und weiteres edles Wollen steht in diesem Prolog. Finks Prolog „Einigung“ vom Januar 1836 ist nicht weniger predigerhaft(9) [II,312]. „Indem wir abermals ein neues Jahr beginnen, drängt es uns mehr noch, als an jedem gewöhnlichen Tage, zum Danke gegen den, der aller Menschen Leben in seiner Vaterhand hält, dass er uns führe zu seinem Heil.“ Fink fließt vor lauter christlicher Liebe fast auseinander und begegnet dem Vorwurf, „wir sprächen theologisch, was nicht hierher gehört, da wir doch nur menschlich sprechen, wie sich’s für Jedermann gebührt“. Und „Nur Wahrheit und Beweis der Wahrheit gibt im Reiche des Geistigen ein Recht: das Uebrige ist eitel Kinderei“. Was bei diesen und ähnlichen Sentenzen ein so unangenehmes Gefühl hinterläßt, ist die Realität der Zeitung selbst. Die Gewißheit, im Besitz der Wahrheit zu sein, der ständige, nur noch rhetorisch wirkende Einwand, man könne sich irren, erschüttert die Glaubwürdigkeit des Verfassers bei denen, die als unter dem Dach des Unwahren lebend verstanden werden, also Chopin oder Schumann oder alle diejenigen, die sich zum Kreis der Neuromantiker gehörig betrachteten, denen unter dem Vorwand der Verteidigung des Wahren und Guten und Redlichen nur noch Haß entgegenschlägt. Die achtungswerte Frömmigkeit, die aus dem Prolog spricht, erkennt man in der Alltäglichkeit der Zeitung nicht wieder, und der Anspruch auf Unparteiligkeit wird im Kampf gegen das Neue in der Musik unter dem Vorwand, das Schlechte bekämpfen zu müssen, ins Gegenteil überführt. Man versteht unter diesen Umständen, daß der Verleger mit seinem Redakteur, vor allem dieser aber mit seinen Konkurrenten Probleme bekam und ihm die Abonnenten in Scharen wegliefen. Sein Aufsatz von 1836 „Flüchtiger Schattenriss der Parteiung der Zeit auch unter Tonkünstlern und ihren Liebhabern“(10) [II,314] war zwar bilderreich, aber wenig inhaltsvoll, wenn er die „vielköpfige Hyder aufgeregter Parteiung, die mit giftgeschwollener Wuth aus heimlichem Versteck alles

236

6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848

Lebendige anfällt und niederzüngeln möchte“ beschwört. Fink versucht sich als Dichter und erreicht ein seltsam stagnierendes Pathos, das der bilderreichen Sprache Schumanns nicht gewachsen ist. Auch im nächsten Jahr blieb Fink diesem Stil treu(11) [II,328]. Fink sah sich selbst keineswegs in der Rolle eines zeitfernen Polemikers, sondern in der eines Vermittlers, wie man der „Einleitung“ zum Jahrgang 1838 entnehmen kann.(12) [II,348]: „Man hat mich ‚den Vermittelnden‘ genannt; ich nehm’ es als Ehrenwort und will es bewahren. Das hindert aber nicht, dass wir uns stellen, wo es noth ist. Der Kampf für das Recht ist ein Gesetz des Friedens und ein Opfer der Liebe“. Dann geht es im allgemein gehaltenen Fink-Stil gegen die vielen Feinde und die erlittenen Ungerechtigkeiten weiter. Was sich Schumann und die anderen gehaßten Neuromantiker wohl denken mochten, wenn sie diese Verbindung von „Opfer der Liebe“ und von Wahrheit und Recht und von Redlichkeit mit den gezielten Schmähungen lasen, die den Hauptteil dieses und der anderen Fink-Texte ausmachten! Daß er es auch anders halten konnte, zeigt seine „Einleitung“ zum Jahr 1840 [II,368], die vom geschwollenen Pathos überwiegend frei ist, aber immerhin noch Pathos genug enthält(13). „Seitdem wir Frieden haben, ist der Krieg ausgebrochen“(14). Fink meint den Gegensatz zwischen dem derzeit äußeren Frieden und dem „Kampf der unbeendeten Aufregung“, der sich „in das tiefere Reich des innern Wesens“ zieht. Fink spricht bilderreich und allgemein, und jeder mag daraus verstehen, was er will. In Wissenschaft und Kunst heiße es, sich doppelt zu rühren, oder „du bist verloren“. Der Friede von außen und eine „gewisse Bewegungsliebhaberei für parziellen St. Simonismus haben eine Ueberfüllung geboren, das nirgend Mangel ist an edlen Kindern, die Ehre und Reichthum lieben, deshalb rüstig sind und einander zu überbieten suchen.“ In solchen Zeiten sieht Fink nur zwei Dinge von Gültigkeit. Das eine ist „auffallend Neues“, das andere ist „das wahrhaft Solide, Nährende, reich Gediegene“. Dem ersten widmet Fink den Großteil seiner Abhandlung, dem zweiten gerade einmal einen Abschnitt. Es müsse immer etwas gemacht werden, was noch nicht da gewesen sei, gleich ob es besser oder schlechter als das Frühere ausfalle. Es muß nur anders sein. Das ist nicht Finks Sache, deshalb widmet er ihm auch so viel Raum. „Nur sehe ich nichts Neues in diesem Neuen“. Für Fink ist das nicht mehr als die „Liebe zur Veränderung, die selbst im Paradiese lustig war“(14). Er will sagen, daß der Mensch damals des Paradieses verlustig ging. Einer wolle den Anderen überbieten, das Auffallende auffallend zu machen, bis es durch „zu häufigen Gebrauch ermüdet, weil es weder mehr auffällt noch etwas Neues mehr ist“. Er teilt nicht die Meinung, diese Anstrengungen seien der Kunst schädlich gewesen. Sie hätten vielmehr der Kunst eine weitere Verbreitung geschenkt. Wenn sich Fink dann mit dem Neuen in Wort und Schrift beschäftigt, schlagen die Zeitungsstreitigkeiten durch. Heute könne sich niemand mehr äußern, ohne nicht seinen Gegner vorher niedergemacht, und wenn ihm das nicht gelinge, „doch mindestens in aller Unschuld vor den Leuten ein Bischen schwarz oder klein geschmäht“(15) zu haben „und wird sich so lange wie ein Goliath geberden, bis ihn der Stein trifft und sein Auffallendes den letzten Auffall feiert“ und zeige, „dass nicht Alles gross ist, was gross thut“. Natürlich meint Fink mit Goliath seinen Angst-

3. Die Vorworte Finks

237

gegner „Neue Zeitschrift für Musik“. Man hebe damit aber nur den Scharfsinn der Freunde. Man „schweige von den Andern, die man nicht gern sieht, als wären sie gar nicht da“. Das „Geschrei wirkt Mitschreier“, bis die Besinnung eintritt. „So hat denn das auffallend Neue immerhin auch seinen guten Nutzen, nicht blos für Unterhaltung der Leerheit und zur Begünstigung des Scheines, sondern auch selbst zur Erhebung des Besseren und Rechtlichen“(16). In dieser verblümt-diffusen Ausdrucksweise muß man sich darauf rückbesinnen, daß Fink Chopin und Schumann meint und sich selbst als den Besseren und Rechtlichen. Fink stellt dem im kurzen Schlußabschnitt, der dem ‚Zweiten‘ gewidmet ist, nur die Sentenz entgegen „Der Menschen Natur ist einmal so ausgerichtet, dass sie nicht von Schaum leben kann, sondern von gesunder Speise“. Dafür tritt Fink mit seiner Zeitung ein. Man will „ferner treu und aufwärtsstrebend“ tun, „was recht ist und wie wir es für das Beste erkennen zum Vortheil der Kunst, der wir dienen“(16). Ein Vergleich des Finkschen Textes mit dem Vorwort-Text Schumanns, der unter demselben Datum, 1. Januar 1840, in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ erschien(17), läßt die Welten erkennen, die zwischen beiden Männern und ihren Kunstvorstellungen lagen und dem zeitlich zu verstehenden Titel-Adjektiv ‚neu‘ eine Qualitätscharakteristik verliehen. Finks „Einleitung“ zum Jahrgang 1841 ist eine abgespeckte Wiederholung vom Vorjahr(18) [II,384]. Er greift den aus dem Mittelalter abgenommenen Begriff von der „fröhlichen Wissenschaft“ auf und überträgt ihn auf die Musik der eigenen Zeit. Weil die Freude unterschiedlich verstanden wird, rechtfertigt sich die Vielseitigkeit der Kunst. „So wäre denn auch jede Musik, die irgend einer Lebensstufe die Freudigkeit schafft und vermehrt, recht und gut, so dass keine Art verdammlich wäre, als die unerquickliche und die verderbliche“(19). Damit ist Fink wieder bei seinem Lieblingsthema angekommen. Was ist verderblich? „Verderblich ist, was nach dem Genusse nicht das Leben fördert, nicht höher hebt, sondern erniedrigt und zum innern Tode führt“. Wer Fink in den vergangenen Jahren gelesen hat, weiß, wen und was er meint. „So hat denn Jeder zu wählen, was ihn wahrhaft ernährt und seine Kräfte fördert.“ Dazu braucht es nur „ehrliche Gesinnung“(20). Die Schlußfolgerung liegt nahe – Fink verteidigt die Lauheit der Ornamentisten-Besprechungen, die ja irgendjemanden „fröhlich“ machen, und boykottiert wie eh und je alles, was nach neuromantischer Musik aussieht, vor allem Robert Schumann. „Soll man widerlegen, wo im voraus von Recht und Grund nicht die Rede sein kann, sondern von Einbildung und Eitelkeit? – Es bleibt nichts übrig, als dass das Urtheil Kunstbefähigter über Werke der fröhlichen Kunst nur um so frischer und fröhlicher im Dienste des Rechts und möglichst begründeter Wahrheit stehe, dabei mit aller Heiterkeit sich über unvermeidliche Anfechtungen hinwegsetze, um so gerade und freudiger wandele und sich nicht in die Zwangsjacke vernunftloser Parteiung schmieden lasse, die weder Billigkeit noch Recht vor Augen haben kann“(21). Die „Einbildung“ und „Eitelkeit“, die „vernunftlose Parteiung“, das weder „Billigkeit noch Recht vor Augen“ und all die anderen plumpen Beschimpfungen („ohne dass der oben stehende Kopf auch nur das Geringste vom Gesetze der Kunst gelernt hat, dessen ganze Weisheit in zusammengesetzten Phrasen besteht, die bunt und klingend, wie hübsch farbige Steinchen zu einem Bilde, äusserlich schimmernd zusammengereiht

238

6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848

werden“(20)) geht natürlich in Richtung Schumann und „Neue Zeitschrift für Musik“ – die ‚ehrliche Gesinnung‘ samt Unparteilich- und Redlichkeit auf ihn, Fink. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15) (16) (17) (18) (19) (20) (21)

Fink: Erklärung, AmZ XXX/3, 18.1.1828, Sp. 33–35; Fink, Erklärung, a. a. O. Sp. 33; Fink, Erklärung, Sp. 35; Fink: Einleitung, AmZ XXXI/1, S. 1/2q–3/4q; Originalschreibung; Fink, Einleitung, a. a. O.; Fink: Was wir sollen, wollen und nicht wollen, AmZ XXXVII/1, 7.1.1835, Sp. 1/2q–5/6q; Fink, Was wir sollen, a. a. O. Sp. 3/4q; Fink: Einigung, AmZ XXXVIII/1, 6.1.1836, Sp. 1/2q–3/4q; Fink: Flüchtiger Schattenriss, AmZ XXXVIII/15, 13.4.1836, Sp. 233–235; Fink: Neues zum Alten, AmZ XXXIX/1, 4.1.1837, Sp. 1–3); Fink: Einleitung, AmZ XL/1, 3.1.1838, Sp. 1–2; Fink: Einleitung, AmZ XLII/1, 1.1.1840, Sp. 1–3; Fink, Einleitung, 1840, Sp. 1; Fink, Einleitung, 1840, Sp.2; Fink, Einleitung, 1840, Sp. 3; NZfM XII./1, 1.1.1840, S. 1q – s. Kapitel 6, Abschnitt 6, Unterabschnitt c (Zum Vergleich Fink-Schumann); Fink: Einleitung, AmZ XLIII/1, 6.1.1841, Sp. 1–3; Fink, Einleitung, 1841, Sp. 1; Fink, Einleitung, 1841, Sp. 2; Fink, Einleitung, 1841, Sp. 3.

4. NIEDERGANGSSYMPTOME. GESCHMACKSVORSTELLUNG ALS PARTEIUNG Nach Meinung eines Mitarbeiters der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ sollen sich um 1829 drei Geschmacksrichtungen gegenüber gestanden haben, einmal die Anhänger der neuen italienischen Musik, sodann die Anhänger der alten italienischen Musik, und schließlich die Anhänger der deutschen Musik(1) [II,244]. Der anonyme Autor erkennt richtig, daß es sich um Parteien handelt, die einseitig für ihre Richtung eintreten und alles andere verteufeln. Aufschlußreich ist die vom anonymen Autor vorgenommene soziologische Zuordnung. Zur neuen italienischen Musik neigt die „sogenannte feine und vornehme Welt“, die gar nicht fein und vornehm auftritt. Die Damen und Herren, denen die Musik an sich gleichgültig ist, kommen rücksichtslos lärmend und schwatzend ins Konzert oder Theater, wenn das Stück schon begonnen hat, unterhalten sich ungeniert und gehen, ebenso lärmend, noch vor dem Finale wieder ab. Sie würden dasselbe bei lappländischer Musik machen, sollte der Fürstenhof ein lappländisches Theater errichten(2). Die zweite Kategorie nimmt „von der Theater- und Kammermusik gar keine Notiz, sondern hat es allein mit der Kirchenmusik zu thun“(3). Ihre Anhänger betrachten die neuere Kirchenmusik als Profanation, und sie wollen nichts als „Fugen, Canones und Motetten“. Der Autor bezeichnet sie als „unverständig“; aber man solle ihnen ihren „Allegri, Lotti, Feo, Durante, Händel und wie die alten Herren alle heissen“ lassen. Sie seien zu

5. Das kritische Prinzip. Wertungsneutralität als Stillstand

239

ihrer Zeit trefflich gewesen, aber „auf ihren Schultern haben sich die Nachkommen zu der Höhe emporgeschwungen, auf der sie jetzt stehen.“ Die dritte Kategorie der Enthusiasten schwört auf die Gelehrsamkeit und habe sich deshalb den Deutschen angeschlossen. Da gibt es denn keine Melodie, sondern ein „Überladen mit Modulationen und Vorzeichnungen, das Gesanglose, Abgebrochene in den Fortschreitungen.“ „Glaube doch niemand, dass dem Publicum, selbst dem musikliebenden, ein Satz deshalb besser gefällt, weil er sechs Be oder sieben Kreuze vorgezeichnet hat“(4). „Dass aber die sechskreuzigen und siebenbeigen Tonarten nie musikalisches Gemeingut werden, dafür bürgt uns schon die Eigenthümlichkeit unserer Blasinstrumente“(5). Der Autor bewegt sich in diesem Stil noch zwei Seiten lang weiter und meint, „um endlich zum Schlusse zu kommen“: Wenn die Italiener ihren Melodien mehr Charakter und ihrer Instrumentalbegleitung mehr Kraft und Korrektheit gäben, die Deutschen dagegen mehr auf schöne Melodien dächten und „den unnützen Krimskrams von barocken Modulationen und halsbrechenden Vorzeichnungen“ abschüttelten, so „wäre doch Hoffnung da zu einer allgemeinen, allen gebildeten Nationen verständlichen und angenehmen Tonsatzweise“(6) zu gelangen. Ein solch historisch falscher und inhaltlich unreifer Artikel zwei Jahre nach Beethovens Tod weist auf den unausweichlich bevorstehenden Niedergang hin, sofern es einem Redakteur nicht gelingt, noch rechtzeitig Ton und Inhalt zu ändern. (1) (2) (3) (4) (5) (6)

Ueber den heutigen Geschmack in der Musik, AmZ XXXI/18, 6.5.1829, Sp. 285–294; s. Kapitel 3, Abschnitt 4 (Rochlitzens Vier-Klassen-Theorie), Anmerkung 6; Ueber den heutigen Geschmack, a. a. O. Sp. 288; Ueber den heutigen Geschmack, a. a. O. Sp. 291; Ueber den heutigen Geschmack, a. a. O. Sp. 292; Ueber den heutigen Geschmack, a. a. O. Sp. 294.

5. DAS KRITISCHE PRINZIP. WERTUNGSNEUTRALITÄT ALS STILLSTAND Mehr noch als die zerstreuten Aufzeichnungen in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ zeigen deren Musikkritiken den geistigen Stillstand. Es gibt keine Normierung, darin ist man sich einig. Es gibt das Kunstwerk als Lebensäußerung, das sich der Kritik vom lebendigen Geist her entzieht, und das nur noch gewürdigt, nicht analytisch verstanden werden kann, weil es durch die Analyse vernichtet wird. Analyse ist ein aus der griechischen Medizin stammender Begriff der Chirurgie und bedeutet auflösen, um etwas daraus zu lernen. Auflösen heißt aber, den Gegenstand unwiederbringlich zu zerstören – im 19. Jahrhundert war ‚auflösen‘ ein Synonym für sterben. Was nach einer Analyse übrig bleibt, nannten die Germanisten den ‚irrationalen Rest‘, und genau der ist mit keiner Analysetechnik zu greifen. Analyse wird dadurch selbst wieder zum Zeitsymptom. Die Folgen solchen Denkens lösen auch die Finksche, später Lobesche Zeitung auf. Es gibt keinen Komponisten von Rang, der in der Musikzeitung nicht gewürdigt worden wäre. Angriffe auf nachher berühmt gewordene Komponisten fehlen fast ganz, und wenn überhaupt, stehen sie isoliert und werden vom Lob überlagert, ausgenommen (unter Fink, nicht un-

240

6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848

ter Lobe), die Neuromantiker, obwohl die erste dreigespaltene Davidsbündlerkritik Schumanns 1831 in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ erschien und Chopin würdigte. Aber zu diesem Zeitpunkt war der junge Schumann für Fink noch kein ernst zu nehmender Konkurrent. Mozart, Haydn und Beethoven erfahren höchste Gerechtigkeit, soweit das im Trubel einer auf den Tag bezogenen Kritik überhaupt möglich ist. Selbst der so gar nicht ins System passende Richard Wagner wird, wenn auch überwiegend notizenhaft, noch durchaus wohlwollend abgehandelt, ausgenommen dort, wo Schladebach (Wise) das Wort führt. Man verfährt nach dem Goethesche Motto aus der Erzählung „Die guten Weiber“, das Lobenswerte lobend zu erwähnen und das Schlechte stillschweigend zu übergehen. Aber damit wurde das Blatt zur Rangwertung unfähig – und gerade das warf man ihm vor. Weil alles gelobt wurde, wurde in Wirklichkeit nichts mehr gelobt. Da steht Genie neben Epigone, als bestünde zwischen ihnen nicht der geringste qualitative Unterschied. Was fehlt, ist unter der deprimierenden Überzeugung, man weiß ja sowieso nicht, was richtig ist, die sprühende Begeisterung für eine Sache. Das Blatt beginnt zu vergreisen. Nach der kritischen Konzeption der Zeitung ist Kunst Ausdruck einer Individualität und gleichzeitig einer Zeitströmung, die sich gegenseitig verschränken und bestätigen. Das erkannte man bereitwillig für jedermann an und glaubte, damit die Aufgabe erfüllt zu haben. Jegliches Feuer brannte aus, nachdem der Jubelrausch der Gründer über ihre Entdeckung der Klassiker einem sicheren Besitz gewichen war. Ganz eindeutig hat die Leipziger diesen Standpunkt im Streit um die Ornamentisten-Schule vertreten, und nirgends wird ihr journalistisches Versagen deutlicher als hier. Die Ornamentisten, also die Potpourri-, Phantasie- und Sonaten-Komponisten en Gros, vertreten durch Männer wie Hünten, Kalkbrenner, Herz, Thalberg, und andere, die mit ihren Opuszahlen mitunter bis an eintausend heranreichten und gefällige Musik in unvorstellbarer Masse und Geschwindigkeit hervorbrachten, komponierten eine Salonmusik, die den europäischen Markt überschwemmte und dabei in der Fassung durch die minderrangigen Nachahmer auf die Druckprivilegien der ehrlichen Verleger zu deren Schaden keine Rücksicht nahmen, wenn man beispielsweise aus anderweitig kostenträchtig gedruckten Opernpartituren fremder Eigentümer eine sogenannte „Opernperle“ herausbrach, einige Akkorde ausschließlich in Tonika und Dominante unterlegte und mit ein paar Takten vollgriffigem Vor- und Nachspiel versah. Das Produkt ist beim zahlenden Publikum beliebt. Musik ist ein Marktartikel, und wo verkauft werden kann, gleich, was es ist, sind die Verkäufer und die Belieferer zur Stelle. Diese Leute waren nach und nach bevorzugte Angriffsobjekte seriöser Kritik – nur die ‚Leipziger‘ machte eine Ausnahme, weil sie bei der klavierspielenden Bevölkerung ein Bedürfnis nach Musik dieser Gattung festgestellt hatte und demzufolge die Befriedigung des Bedürfnisses nicht mit Schelte verweigern konnte. Die in Frage kommenden Komponisten seien immerhin gute Musiker (ein Topos, der bald einen verhängnisvollen Beigeschmack gewinnen sollte), die man schon aus diesem Grunde nicht übermäßig negativ kritisch behelligen dürfe. Aus diesem Umfeld bezog die erst Schumannsche, dann Brendelsche Zeitung ihre Durchschlagskraft. Dort wollte man in erster Linie nicht etwas verstehen, sondern etwas bewegen, übte daher auch nicht mehr Kritik am neuen, sondern Kritik

6. Definitionsprobleme

241

am alten Werk, vor allem dann, wenn es sich zeitgenössisch tarnte. Man definierte die Musik nicht mehr, wie die Konkurrenz, als Funktion, sondern als gesellschaftlich verbindliche Ästhetik vom Neuheitsstandpunkt aus und ignorierte, was, ohne alt zu sein, trotzdem mit den aufgestellten Prinzipien jedenfalls nicht übereinstimmte. Was sich vollzog, war der Übergang in eine neue Welt, fast schon ein Jahrhundertbruch, der seine Berechtigung aus dem Stillstand des Vorangegangenen ableitete und sich daher vor allem nach 1845, nennt man Namen, immer stärker auf Mendelssohn und vorangig auf Meyerbeer konzentrierte, auf Mendelssohn, weil die nie bestrittenen Schönheiten seiner Musik keine Entwicklung mehr zulassen und somit zum Symbol des Stillstandes an sich werden, auf Meyerbeer, weil man seine Kunst als Effekt mit zeitpolitischem Verweis ohne eigene künstlerische Handschrift wahrnimmt, dem die seelische Tiefe und die säkular-religiöse Hintergründigkeit fehlen. Nicht Marx oder Weber, wohl Schumann und Brendel fegen die jetzt „alte“ Leipziger Zeitung hinweg. 6. DEFINITIONSPROBLEME a) Altklassisch – klassisch – romantisch – biedermeierlich – neuromantisch – neudeutsch Um 1800 gibt es im musikkritischen Bereich noch keine allgemein gültigen Begriffe von Klassik oder Romantik. E. Th. A. Hoffmann beschreibt mit Eigenschaften, die man später der Wiener Klassik zuordnen wird, Beethoven als romantischen Komponisten. Oberbegriffe mit Doppelbedeutung sind auch außerhalb der Musik gängig. Bei Kant ist „Vernunft“ ein Unterbegriff unter Vernunft als Oberbegriff. Begriffsinhaltsverschiebungen erfolgten in teilweise geringem zeitlichem Abstand. Mit dem Aufkommen der historischen Forschung wird „Klassik“ zu einem Epochenbegriff, wie „klassisch“ zu einer Eigenschaft. Eine Oper wie Webers „Freischütz“ ist in diesem Sinne romantisch und klassisch gleichzeitig: als Werk ist sie der Epoche „Romantik“ zuzuordnen, sofern man sie überzeugend begründen und vom Biedermeier abgrenzen kann, und sie ist gleichzeitig „klassisch“ in dem Sinne, als sie die Epoche, der sie angehört, in besonders charakteristischer und von anderen nicht mehr übertroffener Weise darstellt, somit ein „klassisches“ Werk der „Romantik“. Daß die Oper zudem ein „Jahrhundertwerk“ ist, weil sie über sich hinaus in die Zukunft weist und Stilmomente freilegt, die von künftigen Komponisten übernommen werden, hat mit dem Definitionsproblem zunächst nichts zu tun. Robert Schumann, der literarisch in der Nachwirkung von Jean Paul und E. Th. A. Hoffmann steht, fand eine Begriffswelt vor, in der er sich von der überwiegend romantisch genannten Klassik, aber auch von der unter dem Einfluß der Literatur allmählich erkennbaren Romantik wie deren gut auszumachender abgesunkener Nebenerscheinung, dem Biedermeier, abgrenzen mußte. So nannte er sich einen „Neuromantiker“ und seine Bewegung „neuromantisch“ und die Vertreter der wenig geschätzten Abspaltung „Philister“. Sein Nachfolger Franz Brendel paßte die auslaufende neuromantische Begriffswelt nach 1850 unter Bezug auf Franz Liszt

242

6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848

an die neue Strömung an, für die er den Begriff „neudeutsch“ prägte, der sich in Verbindung mit dem Substantiv „Schule“ bei aller Problematik in der Sache als „Neudeutsche Schule“ durchsetzte. Die deutsche Musikwissenschaft wird später noch den Begriff „altklassisch“ in Verbindung mit „Polyphonie“ einführen („altklassische Polyphonie“) und darunter die mehrstimmige Musik bis Palestrina verstehen, die in besonderem Maße stilbildend wurde. b) Zur Opposition. Fink und die neuromantische Schule 1838 Fink muß Schumann geradezu gehaßt haben, und erst die Ablösung Finks durch Lobe ließ Schumann wenigstens noch ganz zuletzt von dieser Seite aus freundlichere Töne hören. Zu seiner Zeit waren Marx und Weber im wahrsten Sinne des Wortes ‚ausgesessen‘. Die „Berliner allgemeine musikalische Zeitung“ bestand nicht mehr und die „Caecilia“ hatte sich von den Tagesereignissen zurückgezogen. Aber die Probleme, deretwegen Finks Schriftleitung in die Kritik geriet, waren nach wie vor ungelöst und von einer Natur wie Fink auch nicht zu lösen. Der Verleger wußte das, und vermutlich mußte sich Fink unter vier Augen einiges anhören. Aber er besaß weder die Beweglichkeit, einen neuen Zeitungstyp zu schaffen, wie es Schumann gelungen war (und Senff später gelingen wird), noch die Einsicht in die Notwendigkeit einer redaktionellen Erneuerung. Er sah nur, wie ihm Schumanns Blatt die Abonnenten abspenstig machte und suchte die Ursache nicht bei sich, sondern in einer seiner Meinung nach irrigen Entwicklung, der die Seriosität fehlte. So nahm er im Oktober 1838 die Gelegenheit wahr, seinem ungeliebten Konkurrenten (von dem er sicherlich wußte, daß der Verleger lieber ihn statt der Notlösung Fink an der Spitze der Redaktion gesehen hätte) in einem Leitartikel „Die neuromantische Schule“ entgegen zu treten, ohne dessen Namen zu nennen(1). Anlaß dafür boten ihm drei neue Kompositionen Chopins (Op. 29 bis 31, ein Impromptu, die 4. Mazurka, das Scherzo), die, für Fink sicherlich unglücklicherweise, bei Breitkopf & Härtel, also dem Verleger seiner Zeitschrift erschienen waren. Das band ihm die Hände und nötigte ihn zu einer halbwegs freundlichen Besprechung. Daß es nicht seine Welt ist, mit der er sich gezwungenermaßen beschäftigen muß, und daß er sich jedes Wort herausquält, konnte dem aufmerksamen Leser nicht verborgen bleiben. Schon ein Satz wie „Der Mann bleibt bei allem Widersprechenden, was von ihm gesagt wird, immerhin eine sehr anziehende Individualität“ – der „Mann“, nicht der Komponist oder der Künstler oder einfach Chopin –, verrät Finks Widerwillen. Diese Art von Formulierung ist um so mehr eine Herabwürdigung, als sich Finks Rezension um eine klare Aussage herumdrückt. Er wird sich auch daran erinnert haben, daß es sein Konkurrent Schumann war, dem er 1831 seine Zeitung öffnete, um zum ersten Mal Chopin, und zwar sehr günstig, vorzustellen. Finks Artikel ist zweiteilig. Der 1. Teil richtet sich gegen die neuromantische Schule, der 2. Teil besteht aus einer Art von Vorwort und der eigentlichen Rezension. Die Rezension ist mit 21 Zeilen (+ 4 Zeilen Werkaufzählung) nicht einmal halb so umfangreich wie das Vorwort dazu (52 Zeilen + 1 Zeile Überschrift) und das Vorwort nicht einmal halb so umfangreich wie der gegen Schumann gemünzte

6. Definitionsprobleme

243

Artikel (118 Zeilen + 1 Zeile Überschrift). Natürlich bestreitet Fink die Existenz einer neuromantischen Schule und stellt in Frage, „ob aber der Sache selbst ein gesunder Begriff zum Grunde liegt“. Natürlich wird Goethes Mephistopheles-Zitat vom Wort angeführt, das sich einstellt, wenn die Begriffe fehlen. „Was für einen Begriff will man aber von einem Dinge haben, das gar nicht vorhanden ist?“ Finks Vorwort offenbart seine innere Not, nicht das schreiben zu dürfen, was er gerne möchte. Da ist von der Partei die Rede, deren „Gefühl in den mondbeglänzten Wogen seines Tonmeeres“ ‚schwimmt‘ (karikiert Fink hier Schumanns Pathos?), und andere, „nicht ungebildete“, wie sich Fink hinzuzufügen beeilt, die sich billig wähnen, „wenn sie es wüst und graus nennen“. Fink lobt weise das mittlere Maß, obwohl offenkundig ist, daß er sich zu denen zählt, die alles „wüst“ und „graus“ finden: die einen sollen nicht so enthusiastisch sein, die anderen etwas weniger absprechen. „Beide Theile überspannen sich selbst, indem sie ungerechter Weise verlangen, es sollen alle Menschen empfinden wie sie, wenn sie ihnen ihren Antheil schenken sollen“. Am Ende steht ein Ausflucht-Topos, der in das Prinzip der negativen Anerkennung mündet: „Hätte man Geduld und wäre man in solchen Stimmungen oder Verstimmungen gewilligt, auf Gründe und Auseinandersetzung zu hören: so wäre es wohl an der Zeit, ausführlich über Wesen und Einfluss der Neuromantiker zu sprechen“. Fink leugnet das Vorhandensein einer neuromantischen Schule, nicht aber die Existenz von Neuromantikern. Er sieht darin offensichtlich keinen Widerspruch. Schumann ließ im April 1839 anfragen, wo denn eigentlich die „Teufelsromantiker“ steckten, nachdem sich Mosevius in Breslau wie die „Allgemeine musikalische Zeitung“ als entschiedene Gegner erklärt hatten. Ob sie Mendelssohn, Chopin, Bennett, Hiller, Henselt, Taubert meinten! „Was haben die alten Herren gegen diese einzuwenden? Gelten ihnen Wanhal, Pleyel, oder Herz und Hünten mehr?“ Man möge sich doch deutlicher ausdrücken. „Spricht man endlich gar von einer ‚Qual und Marter dieser musikalischen Uebergangsperiode‘, so gibt es Dank- // bare und Weitsichtige genug, die anderer Meinung.“ Man solle aufhören, alles durcheinander zu mengen, aufhören wegen dessen, was in den Compositionen der deutsch-französischen Schule, wie in Berlioz, Liszt und anderen „tadelnswerth erscheinen mag, das Streben der jüngern deutschen Componisten zu verdächtigen. Behagt euch aber auch dieses nicht, so gebt uns doch selbst Werke, ihr alten Herren – Werke, Werke!“(2) [II,359]. c) Zum Vergleich Fink-Schumann Den Unterschied zwischen Schumann und Fink läßt sich besonders gut an den Vorworten beider Redakteure zum Jahrgang 1839 zeigen(3) [II,356, 357]. Für die „Allgemeine musikalische Zeitung“ war das der 41. Jahrgang, für die „Neue Zeitschrift für Musik“ der zehnte Band. Der Umfang ist ebenso bezeichnend wie der Stil. Finks Text ist mehr als fünfmal so lang wie derjenige Schumanns, der nicht einmal eine eigene Überschrift besitzt [II,369]. Schumann verliert kein polemisches Wort. Er schreibt nüchtern bis begeistert und nur mit ganz leichtem Pathos. Aber

244

6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848

etwas wird in seinem Text zum Bekenntniß, die ausdrückliche Erklärung nämlich, „vor allem deutsche Kunst zu hegen und zu pflegen.“ Das ist die Absage an Meyerbeer und die Französische Große Oper, die Absage an die minderrangigen italienischen Spielopern, und die Hoffnung auf Erweiterung des klassischen Erbes. Gegen die von Fink vertretene Auffassung erklärt Schumann „Was nützt es, eine Kunst zu treiben, in der man nichts mehr zu erreichen sich getraute?“ Schumanns „Zum neuen Jahr“ beschäftigt sich ausschließlich mit der Zeitschrift und seinen eigenen Hoffnungen, Finks „Einleitung“ verbraucht den gesamten Text mit versteckter Polemik gegen Schumann. Es ist ein Sticheln nach Art eines Hintenherum, das um so unangenehmer wirkt, als damit auf drei Spalten nichts gesagt wird. Schumann gibt Schwankungen zu, spricht von ‚fröhlichem, kräftigem Leben‘, das man jetzt noch spüre, wenn man die früheren Bände durchblättere, von jüngeren Musikern, die sich verbunden hätten, und „wer nicht mitwollte, wurde mit fortgerissen.“ Es sei eine „Künstlerbrüderschaft zur Verherrlichung deutscher tiefsinniger Kunst“. Das Blatt habe sich schnell verbreitet. Schumann bringt mit der Erinnerung an den Tod Schunkes ein besinnliches und rührendes Moment in seine auch von der Farbe her frische Darstellung. Dann sei aus der Not die Redaktion auf einen einzigen übergegangen, womit Schumann sich selbst meint. Er spricht von den Davidsbündlern, die alle innerlich ähnlich seien. „Einen Damm gegen die Mittelmäßigkeit aufzuwerfen, durch das Wort wie durch die That werden sie auch künftighin trachten.“ Sie schrieben nicht, um Kaufleute reich zu machen, sie schrieben, den Künstler zu ehren, heißt es weiter. Die wachsende „Verbreitung der Zeitschrift ist nur ein Beweis, daß sie in ihrer Strenge gegen ausländisches Machwerk, in ihrem Wohlwollen gegen die höher strebenden der jüngern Künstler, wie in ihrem Enthusiasmus für Alles, was uns die Vorzeit an Meisterlichem überliefert, die Gesinnung Vieler ausspricht und daß sie sich im Publicum gebildet hat.“ Die Zeiten sind anders geworden. Auch wenn man den älteren Meistern nicht gleichkomme, „so wollen wir ihnen nicht im Streben nachstehen. Und somit sei Allen ein glückliches neues Jahr zugerufen!“ Fink beginnt seine „Einleitung“ gleich mit Spott, der den Neuromantikern gilt: „Vielleicht ist uns in den letzten Zeiten der grosse Glaube gesungen worden, es sei in unserer Gegenwart ein neues Morgenroth für unsere Kunst aufgegangen …“ Fink spricht von der angeblich „neuen Licht-Epoche“. Der ganze erste Abschnitt dient mit blumig-sarkastischen Worten diesem Ziel. Im zweiten Abschnitt wird er noch deutlicher: „Sind dies Wahrheiten und nicht blos Tiraden sanguinischer Jugendhoffnungen, die oft schon täuschten, so ist es an der Zeit, dass sie sich endlich durch Thaten und Werke wahrhaft neuer und ausdauernder Art Glück-spendend bewähren.“ Der lange dritte Abschnitt besteht aus einer Mischung von Überheblichkeit und Herablassung. Warum dauere die Gährung so lange, fragt Fink, und gibt sofort die Antwort: „Die Herren der neuen Richtung sind nicht so tapfer, als sie nach einigen Windmühlenbekämpfungen und nach dem Geschrei vor irgendeiner wirklichen Schlacht zu sein scheinen; kommt nur ein tüchtig Gewappneter, so ziehen sie sich kindlich zurück, sind so lange seiner Meinung, bis Jener vorüber ist; dann aber geht das kaum verschollene Lied wieder von vorn an und ärger als zuvor.“ Fink spricht von „Bramabarsirerei“ und das Schlimmste ist für ihn das Schweigen der „Berufenen“. Deshalb mischten sich zu viele Unberufene ein, „die

7. Der Dorn-Fink-Streit

245

keine Idee von der Kunst haben und gerade darum Mirakel schreien, wo keine sind.“ Dann wird Fink nach seiner Art wieder salbungsvoll. Von Liebe, Milde, Gerechtigkeit und Wahrheit ist die Rede. „Wäre es möglich, dass Liebe zum Wahren ohne parteisüchtige Unredlichkeit der Harnisch Aller würde und Gerechtigkeit das Schwert: so wäre die Hilfe schon vor der Thür, ohne dass man nöthig hätte, die Milde zu verleugnen, die der Mensch gegen den Menschen der Irre und der Verblendung schuldig ist. Nur gegen grobe Anmaassung und hinterlistige Böswilligkeit sei Schonung verbannt; sie wird dann Schwäche.“(4) Man muß bei solchen Worten immer wieder rücküberlegen, gegen wen und gegen was sie eigentlich gerichtet sind, gegen Berlioz, Chopin, Schumann, Liszt. Fink hat kein Gespühr mehr dafür, in was er sich verrennt. Die Schlußsätze fassen seine selbstgerechten Sentenzen noch einmal zusammen: „… nach möglichster Erreichung des Zieles, das jedem redlichen Kunstgenossen, wie uns, am Herzen liegen muss, in welchem Bestreben wir uns am zuversichtlichsten die Gunst und Liebe aller Vernünftigen und Edeln zu erhalten, ja zu erhöhen Hoffnung haben dürfen. Der Trug der Selbstsucht sei entlarvt, und die Wahrheit, die nie schimpft, nur würdigt, stehe frei in ihrer Schöne. Damit und dafür sei das neue Jahr von uns begrüsst zum Segen des Echten.“ Brendel wird in seiner Rede vor dem Leipziger Tonkünstlerverein vom 28. Juli 1849 der Finkschen Kunstauffassung „jedwede Tiefe“ absprechen. Redaktionspolitisch gesehen wundert man sich, warum die Verlagsleitung den ‚redlichen‘ Redakteur erst zu einem Zeitpunkt ablösen ließ, als das Blatt schon so weit von ihm heruntergewirtschaftet worden war, daß es eines Rochlitz, Schumann, Senff oder Brendel bedurft hätte, den Untergang zu vermeiden. (1) (2) (3) (4)

G. W. Fink: Die neuromantische Schule, AmZ XL/41, 10.10.1838, Sp. 665–668; NZfM X./33, 23.4.1839, S. 131b–132a; NZfM X./1, 1.1.1839, S. 1a–2a; AmZ XLI/1, 2.1.1839, Sp. 1–3; Fink: Einleitung, a. a. O. Sp. 3.

7. DER DORN-FINK-STREIT a) Dorns Rezension von 1828 Mit einer Attacke auf Fink eröffnete der damals 24jährige Heinrich Ludwig Egmont Dorn den Reigen seiner namensgezeichneten polemischen Arbeiten, die am Ende seines Lebens – er starb knapp 88jährig am 10. Januar 1892 in Berlin – in wahre Haßtiraden auf Richard Wagner einmündeten. Dorn, der sich nach einem juristischen Studium der Musik zuwandte, errang als Opernkomponist künstlerische und als Dirigent organisatorische Erfolge, gründete in Köln eine Musikschule, aus der das Kölner Konservatorium hervorging, und war zuletzt einer der Theaterkapellmeister am Berliner Königlichen Opernhaus, wurde aber zeitlebens vom Schatten Wagners verdunkelt und antwortete darauf mit beleidigtem-beleidigendem Zorn. Vordergründig ging es bei der Rezension um eine Besprechung der seit einigen Jahren von sich redenmachenden Marxschen „Berliner allgemeinen musikalischen Zeitung“, die Dorn für Webers „Caecilia“ verfaßte. Er beließ es dabei nicht, son-

246

6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848

dern betrieb vergleichende Werbung zu Ungunsten Finks, ob aus Abneigung gegen Fink, ob im Auftrag Webers, ob Marx zuliebe oder aus Überzeugung wurde nie thematisiert, möglicherweise spielte von allem etwas hinein – Fink behauptete beiläufig, aus gekränktem Stolz einer nicht aufgenommenen Arbeit wegen. Jedenfalls traf er sich in der Staatsanwaltsmentalität mit Weber und benutzte seine Darstellung der Berliner Zeitung zur Verkleinerung der Leipziger Konkurrenz. Es dürfte keine Frage sein, daß daran sowohl Weber wie Marx gelegen sein mußte. Anders als Fink, der einen sichernden Leserstamm vorfand, hatten beide Mühe, für ihre Blätter eine ausreichende Zahl an Abonnenten zusammenzubringen, obwohl sie sich selbst für unvergleichlich besser hielten. Dorn, der gut mit der Schriftsprache umzugehen wußte, entwickelte in dieser Jugendrezension schon alle die Strategien, die er auch in den späteren Artikeln beibehielt. Dazu zählt die Taktik, dem Gegner vorab Eigenschaften zuzuschreiben, die es nach einhelliger Meinung zu bekämpfen gilt. Wenn er beispielsweise den Tenor seiner kritischen Bemerkungen gegen die alte Leipziger Zeitung auf deren unverdrossenen Kanteinfluß abstellte, so drückte er aus der Perspektive des Jahres 1828 etwas ziemlich Banales aus. Er folgte damit der Mode einer Fehleinschätzung der Bedeutung Kants. Durch seinen Verweis auf einen in der Meinung der Zeit veralteten und damit für indiskutabel erklärten Philosophen wollte Dorn das Blatt, das ihn weiterhin zitierte, ebenfalls als indiskutabel und veraltet abfertigen, machte es aber trotzdem dem beleidigten Fink leicht, ihm zu entgegnen. b) Der Artikel Der Artikel erschien unter der Überschrift „Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung“ mit „Heinrich Dorn“ gezeichnet im 31. Heft des VIII. Bandes der „Caecilia“ frühestens im April 1828, möglicherweise aber, worauf der Zeitpunkt der Entgegnungen hindeutet, einige Monate später, und war, wie bei Dorn nicht anders zu erwarten, logisch und wohl proportioniert aufgebaut(1) [II,220]. Dorn verweist zunächst auf die Umfeldnachteile, sodann auf die Umfeldvorteile der neuen Gründung. Zu den Nachteilen zählt er den Unbekanntheitsgrad des Redakteurs Marx, dessen Namen man bislang nur in Juristenkreisen kannte, die Unbeliebtheit des Verlegers Schlesinger, dem in der Tat ein schlechter Ruf vorausging, die entmutigende Katastrophe des Stöpelschen Versuchs, dessen geplante Musikzeitung nach der 5. Nummer, angeblich auf Druck der preußischen Staatsregierung, einzustellen war, und die gleichzeitige Ankündigung einer im Schott-Verlag angesiedelten periodischen Publikation ‚Cäcilia‘ „unter des berühmten Gottfr. Webers Leitung“(2); zu den Vorteilen das dringende Bedürfnis des Berliner Musiklebens, in der öffentlichen Berichterstattung einen angemesseneren Platz zu erhalten. Von den bestehenden Zeitungen sei nichts Erfreuliches zu erwarten. Dorn liebt Wortspiele. Die Flachheit des „Gesellschafters“ werde womöglich noch flacher, die Gedrängtheit des „Freimüthigen“ noch gedrängter, und die Tageszeitungen hätten andere Aufgaben zu erfüllen. Da blieb nur noch die Leipziger „Allgemeine musikalische Zeitung“ übrig; aber gerade die versagte, weil der „Repräsentant in diesem Blatte“ seine

7. Der Dorn-Fink-Streit

247

Monatsberichte schrieb, „wie ein Rendant seine Jahresrechnung revidirt“(3). Allerdings glaubt Dorn inzwischen einen neuen Mitarbeiter zu erkennen, was ihm Fink bestätigen wird. Jetzt ist ausschließlich die „Allgemeine musikalische Zeitung“ im Fadenkreuz, und man gewinnt den Eindruck, als hätte es Dorn lieber gesehen, wenn dank Fink ihm statt einem anderen die Aufgabe einer Berichterstattung über Berlin zugefallen wäre. Die Zeitung stünde unter Kanteinfluß, die Kritik deshalb unter veränderlichen Geschmacksvorbehalten, die man in Regeln kodifiziert habe und dies bis auf den heutigen Tag. Dorn fehlinterpretiert den Philosophen wie die Zeitung. Deren Tätigkeit besteht nach Dorn aus einer „Unzahl von Unterlassungssünden“ und nicht die geringste davon sei die Nichtberichterstattung über Beethovens jüngste Sinfonie. Das steht ausgerechnet in der „Caecilia“, die sich gerade erst mit den Folgen der Woldemar-Pamphlete auseinandersetzen mußte. Nach dieser Introduktion, die etwas weniger als ein Drittel des Gesamtberichtes ausmacht, kommt Dorn zu den Forderungen, die an das neue Blatt zu stellen sind. Seine rhetorische Frage, ob die Erwartungen in Erfüllung gegangen sind, bejaht er geradezu enthusiastisch: „Freudig müssen wir diese Frage mit Ja beantworten; sie hat sie noch übertroffen“(4). Natürlich, Weber ist „berühmt“, das muß gesagt werden (er ist es wirklich), schließlich erscheint in seiner Zeitung sein, Dorns, Bericht; Marx hat alles Dagewesene übertroffen, schließlich ist (war) Dorn dort Berichterstatter, und er braucht vor allem ein extrem lobendes Moment, um die bittere Pille, die er am Ende Marx zu schlucken gibt, zu verzuckern; und Fink hat einen Artikel von ihm, Dorn, abgelehnt, also spiegelt man den Einen negativ im positiven Anderen. Dorn freut sich über die „weit über 600 Abonnenten“, die das Blatt mit Beginn des V. Jahrgangs zählt. Die Leistungen von Marx zu begründen fällt Dorn nicht schwer. Marx ist der erste gewesen, der Beethoven richtig zu würdigen verstanden hat und übrigens auch Spontini. Nun stimmt das Eine so ein klein wenig nicht wie das Andere. Die Popularisierung Beethovens war eine der Leistungen der von Dorn gerade erst beinahe verächtlich gemachten „Allgemeinen musikalischen Zeitung“, und wie Marx Spontini mitgespielt hat, dazu muß man nur die Jahrgänge III und IV und darin die Berichte von Frank und Rellstab lesen. Für Dorn ist das weder Widerspruch noch Problem. Denn Marx selbst, dem man übergroße Parteilichkeit vorwirft (selbstverständlich nur von Spontini-Verehrern, die sein amtliches Ansehen und nicht sein künstlerischer Wert fesselt), hat in den Bänden I und II gut über Spontini geschrieben, und die negativen Berichte sind eben die zulässigen Meinungen anderer Kritiker im Rahmen der von Marx geforderten Meinungspluralität. „Herr Spontini, der Ausländer, wird ein solches Verfahren freilich nicht begreifen können …“(5). Marx holt die Musiker an den Schreibtisch, um Fachleuten das Wort zu geben, nicht Musikfreunden und Musikkennern, die über Musik wie über Malerei oder über Dichtung gleicherweise zu schreiben verstehen. Da die Älteren das nicht wollen, geht er auf die Jüngeren, sprich: Dorn, zu. Um dem „alten Schlendrian ein Ende zu bereiten“(6) (das geht wieder gegen Fink), muß man entschieden auftreten. Natürlich kann alles das zum Mißbrauch führen, aber nicht in der „Berliner allgemeinen musikalischen Zeitung“ von Adolf Bernhard Marx. Das galt es festzustellen, „nirgends ist ein Mangel an reellen Kenntnissen hervorgetreten, überall wurden Gründe angeführt, und eben desswegen durfte eine falsche Ansicht

248

6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848

vernünftigerweise bestritten und widerlegt werden“(6). Die Marx-Zeitung nannte zum Jahrgangsbeginn nicht die Namen ihrer Mitarbeiter, woraus sich Zuordnungsprobleme ergeben. Dorn läßt daher ein aus dem Register der bislang erschienenen vier Bände gewonnenes Verzeichnis berühmter Namen folgen, und zeichnet diejenigen mit einem Asterisk aus, die sich zurückgezogen haben. Merkwürdigerweise ist auch Dorns Name darunter, was immer das zu bedeuten hat. Oder ging es nur darum, dem Leser einzuprägen, daß der Verfasser der lobenden Marx-Kritik nicht (mehr) zum Mitarbeiterstab der Marxschen Zeitung gehört und daher über sie urteilen darf – ein wenig gut, weil man dort Mitarbeiter war, ein wenig schlecht, weil man es nicht mehr ist? Oder hat er wortwörtlich seinem Namen, Dorn, alle Ehre gemacht und mit Marx Streit bekommen? Oder zog er sich, wie andere, aus finanziellen Interessen zurück? Dorn versichert, Marx werde „mehr und mehr thätige Theilnehmer“(6) gewinnen, eine Prognose, die sich nicht erfüllte. „Neuerdings hat ein hohes Ministerium der geistlichen Unterrichts- und Medi- // cinal-Angelegenheiten die dem gemeinnützigen Wirken für Kultur und Tonkunst gewidmete Zeitung der Beachtung und des erwünschesten Antheils gewürdigt, und mittelst hohen Rescripts vom 19. Mai 1827 die Mitteilung der über musikalische Angelegenheiten ergehende Verfügungen, insoweit sie sich zur allgemeinen Kenntnissnahme eignen, zur Insertion in der Zeitung hochgeneigtest zugesichert“(7). Dorn beherrscht, wie man lesen kann, anders als der grob-liberale Heinrich Marschner, der es zu spüren bekommt, die devote Höflingssprache perfekt. Dorn ist klug genug, die Einschränkung gleich mit zu liefern, daß die „Ausbeute in diesem Felde“ bislang gering gewesen ist (das Rescript ist noch druckfrisch) „und fernerhin seyn wird“, daß aber die Anerkennung als solche durch die höchste Staatsbehörde für Marx eine neue Anregung bedeutet, „obwohl es deren bei ihm nicht bedarf“, seine Zeitschrift „zur möglichsten Stufe der Vollendung zu führen“(8). Dorn hat bis dahin zwei Drittel seines Raumes verbraucht. Das letzte Drittel dient dreifach unterteilten Vorschlägen zur Verbesserung des Blattes, an dem er ebenfalls Mängel feststellt. Und Mängel hat das Blatt tatsächlich, und Marx wird sie nicht abstellen können. Da ist einmal der mangelhafte Korrespondenzenteil und zum anderen die Zahl jener Korrespondenzen, in denen, natürlich als Fachleute, Musikdirektoren ihre eigenen Produkte loben und als Sonderfall übrigens nach Schiller-Art auch tadeln. Dorn schließt diesen ersten Punkt mit der Forderung: „Also keine Musikdirektoren zu Referenten über ihre eignen Theater, und keine Autokritiken!“(9) Dorn nimmt das Problem ernst und widmet dem Einwand mehr Raum als den beiden anderen. Dorn wirft ihm in der ständigen Betonung von Bach und Beethoven Einseitigkeit vor, „an welcher Herr Marx noch scheitern kann“(10) und erklärt, nicht alles könne von diesen beiden Komponisten stammen; man müsse auch andere Künstler gelten lassen. Das zielt auf die von Marx seit Isouard verworfene, und, das ärgert Dorn, ignorierte neuere französische Opernmusik, namentlich auf Auber und Herold, dessen „Verborgene Liebe“ Dorn (selbst Komponist) für „ganz ausgezeichnet“ hält. Es tue den Werken keinen Eintrag, wenn sie in der Zeitung getadelt würden. Er versteht allerdings die Maßstäbe nicht mehr, nach denen sich Marx richtet. Dorn scheint in der Beobachtung des Redakteurs unruhig geworden zu sein und fragt „welchen Geschmack er für den einzig wahren anerkennen

7. Der Dorn-Fink-Streit

249

wird, da er z. B. dem Königstädter Theater bereits mit der Aufführung Händelscher Opern einen Versuch zu machen vorgeschlagen hat“(9). Dorn sieht richtig. Marx bewegt sich ganz allmählich rückwärts und verliert damit den Zusammenhang mit der realen Musikkultur seiner Zeit. Merkwürdigerweise gilt das auch für Dorn, der in seinem künftigen Verhältnis zur neuen deutschen Opernmusik das Maß verliert. Der dritte Punkt ist redaktioneller Art und musikkritisch belanglos. Marx hat den „Tabellarischen Nachweis von erledigten Stellen und Anstellung suchenden im Musikfache“ aus dem Intelligenzblatt, wo sie dem Herkommen nach hingehören, heraus- und in die Zeitung selbst hineingenommen und Dorn hält das für einen schwerwiegenden Fehler, der keinen Nutzen, sondern der Redaktion nur undankbare Arbeit bringe. Die Frage bleibt unbeantwortet, warum Marx das so gemacht hat. Benötigte er Füllmaterial, weil nicht ausreichend genug Berichte vorlagen? Auf der letzten Seite wiegelt er seine Einwände unmotiviert und unlogisch ab. Punkt 3 sei ‚indifferent‘, Punkt 2 werde, da Marx ja nicht allein darin schreibe, dem Journal an sich „keinen wirklichen Schaden bringen“, nur Marx selbst an seiner Bildung, und Punkt 3 liquidiert er mit den tätigen Bemühungen in der Zukunft. Am Schluß steht die begütigende Allerwelts-Schnörkel-Phrase, mit der Dorn seine Verbundenheit im Optionalis zum Ausdruck bringt: „So möge denn die berl. Allg. mus. Zeitung rüstig fortschreiten auf der einmal begonnenen Bahn, und immer mehr Eingang finden in der musikalischen Welt. Die Ausstattung des Blattes ist vortrefflich, und der jährliche Preis für einen, oft anderthalb Bogen wöchentlich sehr mäßig.“ c) Webers Nachwort Weber schloß, dem Artikel zugehörig, eine „Nachschrift“ genannte eigene Stellungnahme an, die sich dadurch auszeichnet, daß sie keine ist(11). Sie besteht nur aus zwei, auch noch seitengetrennten langen Sätzen, die sich gegenseitig aufheben, und die ebenfalls wieder aus Inhalten bestehen, die sich widersprechen. Er ist eben ein Jurist, der Texte formulieren kann, die gut klingen, aber keinen Inhalt haben und daher in jeder Hinsicht unbrauchbar sind. Demnach hatte sich Weber „vorgenommen“, der kritikbedingten „Herabsetzung der, in so mancher Hinsicht höchst ehrenwerthen Leipziger Allg. Mus. Ztg. und ihrer höchst verdienstvollen Redactoren durch einige unserseitige Anmerkungen ei- // niges Gegengewicht entgegenzusetzen“. Weber findet es „nach näherer Erwägung, gerathener“, diese Anmerkungen „jedem Leser selbst zu überlassen“, weil sie sich „eben so handgreiflich darbieten werden, als diese Motive, welche uns bestimmen, dieselben unserseits unausgesprochen zu lassen“. Das ist wahrhaft juristisch mit dem Hintergedanken verklausuliert, im Streitfall dem angenehm-unangenehmen Text jede Interpretationsmöglichkeit offen zu halten und selbst in Ruhe gelassen zu werden. Schließlich ist Dorns Text auffallend, und ein Redakteur wäre schlecht beraten gewesen, ihn in einem (nicht ganz) unbetroffenen Blatt nicht abzudrucken. Webers Meinung ist trotzdem zu erkennen. Er findet die Rezension gut, wenn auch, was der Außenstehende leicht zu bemerken hat, etwas vorlaut und streckenweise korrekturbedürftig. Die Leipziger Zeitung taugt wirklich nicht mehr viel, aber Herr Fink ist ein eh-

250

6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848

renwert tüchtiger Mann, und um herauszufinden, was nun wirklich gilt, muß man nur die Rezension sorgfältig lesen, und wer das tut, weiß ohnehin Bescheid und versteht, warum Weber schweigt. Ob ihm das enthusiastische Lob für den Berliner Konkurrenten wirklich gepaßt hat, sei dahingestellt. Außerdem hatte er sich Dorn angedient, als er dessen Op. 5, eine Sonate für Klavier und Violoncello oder Geige „par Henri Dorn“ unter französischem Titel mit einigen Sätzen wertete und dabei von „sprudelnder Genialität“(12) sprach, was Dorn sicherlich sehr gern gelesen hat. Redaktionspolitisch gesehen befand sich Weber in keiner beneidenswerten Situation. Die Dorn-Marschner-Auseinandersetzung von einem Jahr zuvor, in die Marx verwickelt war(13), mochte für diesen, als eher etwas komisch, ja noch hingehen. Für Weber dagegen war das Jahr 1828 mit erheblichen Prestigeverlusten verbunden. Der Streit um die Echtheit des Mozart-Requiems war eskaliert, die Polemik Woldemars gegen den gerade erst verstorbenen Beethoven löste Empörung aus, und im Falle der Besprechung der Marxzeitung wäre es ohne weiteres möglich gewesen, die negativen Momente der ja keineswegs unberechtigten Dornschen Kritik positiv auszudrücken und damit dem vorhersehbaren Streit zwischen den Verlagen auszuweichen. Hinter Weber stand der Schott-Verlag, hinter Fink Breitkopf & Härtel, und auch wenn die Verlagsherren in Leipzig intelligent genug waren, inzwischen die Schwächen ihres Blattes zu erkennen, konnten sie doch nicht gewillt sein, die tätigen Angriffe aus Mainz unbeantwortet zu lassen und durch Untätigkeit Gesicht und möglicherweise auch noch Geld zu verlieren. Wenn sich Weber mit seinen 1828-Aktionen zusätzliche Attraktivität versprochen haben sollte, so ging seine Rechnung nicht auf. Wir wissen aus dem Briefwechsel, daß Breitkopf & Härtel in dieser Zeit die Lieferung von Freiexemplaren ihrer Zeitung an Weber einstellte. Für Weber war das unangenehm, weil er, bedenkt man die Informationsprobleme jener Zeit, von einer besonders schnellen und mühelosen Belieferung mit aktuellen Nachrichten ausgeschlossen wurde, die er von nun an einzukaufen hatte. Es war ja richtig, wenn Dorn, möglicherweise mit einem gewissen Ingrimm, feststellen mußte, daß das Korrespondenzwesen der Leipziger Zeitung immer noch unübertroffen war. Wer über das Musikleben Bescheid wissen wollte, konnte nicht anders als die „Allgemeine musikalische Zeitung“ aus Leipzig zu lesen. Marx hatte dem wenig, Weber nichts entgegenzusetzen, und die anderen Zeitschriften kamen ohnehin nicht in Betracht. Ende 1828 erleidet die „Caecilia“ einen ernstzunehmenden Abonnentenverlust, der, anders als im Jahre 1848, keinen politischen Hintergrund hatte. Es gab einfach zu viele Leser, die sich über den Ton ärgerten, zumal sie ihn gar nicht gewöhnt waren. Die „Caecilia“ hätte mit linderen Mitteln ihr Ziel, das sie jetzt verfehlte, besser erreichen können. d) Das Marschner-‚Vorspiel‘ In der 4. Nummer der „Berliner allgemeinen musikalischen Zeitung“ vom 24. Januar 1827 erschien eine fast belanglose Kleinkritik aus 4 Sätzen über Marschners neues Klavierquartett Op. 36 [II,179]. Verfasser war eine Nummer „4.“. Dahinter verbarg sich Heinrich Dorn. Vermutlich ergibt sich die 4 aus den vier Buchstaben

7. Der Dorn-Fink-Streit

251

des Namens (oder aus dem musikalischen Alphabet 4 = d), und die 4 Sätze nehmen den Zahlenbezug vier auf. So klein die Notiz war, so spitzig wirkte sie(14). Der 1. Satz erkennt dem Quartett eine nirgends zügellos werdende Fröhlichkeit zu, aber auch eine Durchführung „womit es eben nicht sehr genau zu nehmen ist“. Der 2. und 3. Satz stellt jeweils einen Orthographiefehler auf den Seiten 20 und 26 fest. Der 4. Satz handelt von der Ähnlichkeit Marschnerscher Kompositionen mit denen Carl Maria v. Webers, „welche schon vielfältig aufgefunden und getadelt wor- // den ist“, die in diesem Quartett allerdings „nur an sehr wenigen Stellen“ hervorträte. Belangloser, treffender und den Autor verletzender ging es nicht mehr, kein Wunder, daß der beleidigte Marschner mit einem „Eingesandt“(15) reagierte, das, von der Sache her berechtigt, mehr als siebenmal länger als die Kritik ausfiel, auf die es sich bezog, die aber ebenfalls von der Sache her berechtigt war; denn Marschners Bedeutung liegt in seinen (1827 noch unbekannten Erfolgs-) Opern, nicht in seinen Kammermusikwerken, die in einigen Stücken salonmusikalische Einschläge zeigen. Dazu kam eine fast genau so lange Nachbemerkung von Marx und zu guter Letzt eine „Entgegnung“ von Dorn (doppelt so lang wie seine die Sache auslösende Kritik), der bei dieser Gelegenheit seinen Namen nannte. Marschner erklärte in der 10. Nummer vom 7. März [II,179], gerade dieses Quartett sei sein Lieblingsstück und seiner Meinung nach auch in der Durchführung besonders gelungen. Dorn habe nur die Klavierstimme durchgespielt und die Zuordnung der Streicherstimmen nicht erkannt. Er spricht vom „kritischen Unwesen“(16) und regt eine Musikzeitschrift an, in der Komponisten ihre Werkintentionen niederlegen könnten, um dadurch einer Kritik den ihr notwendigen Standpunkt anzugeben. Die abschließenden biographischen Hinweise sollen die Dornsche These von der Beeinflussung durch C. M. v. Weber entkräften. Dorn sei es (hier nennt er den Namen), der in einigen Rezensionen diesen Standpunkt vertreten habe, und er, Marschner, wüßte gerne, um welche Stellen es sich handele, damit auch er und andere sie aufzufinden vermöchten. „Ungegründetes Lob läßt eben so kalt als ungegründeter Tadel ohne Beweisführung und Belehrung empört und derlei Modekritik verachten lehrt“(17) – Marx wird durch den Marschnerschen Schlußsatz von der „Modekritik“ herausgefordert. Aus der gleich anschließenden Marxschen „Bemerkung hierzu“(18) spricht Verärgerung. Nummer 4 habe den geistigen Inhalt bezeichnet. „Will man übrigens das Dringen auf den geistigen Inhalt Modekritik nennen, zum Unterschied von jener Beurtheilungsweise, die an einem Kunstwerke nur zu untersuchen weiss, ob gewisse grammatische (noch dazu übel begründete) Regeln und Formulare (…) beobachtet sind, so hat d. R. dabei nur den Wunsch, dass die Mode bald allgemein verbreitet und vervollkommnet werde“(19). Darüber hinaus bleibt er allgemein, will zum Thema selbst nicht Stellung nehmen, wenn sich auch sein Allgemeines in Wirklichkeit auf Marschner rückbezieht, und wiederholt lediglich seine aus den Leitartikeln bekannten Vorstellungen von Musikzeitung und Musikkritik – in diesem Falle das Raumproblem, das es verbiete, alle neuen Sachen mit derselben Ausführlichkeit abzuhandeln; das Begründungsproblem, das eine im Bericht nicht vorgenommene Begründung im Einzelfall nicht heißen lasse, innere Grundlosigkeit anzunehmen; das Mitarbeiterproblem, das in dieser Weise auch für die „Caecilia“, die Leipziger „Allgemeine musikalische Zeitung“ und den „Mu-

252

6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848

sikalischen Anzeiger“ gelte, daß nämlich niemandem eine Beurteilung anvertraut werde, „der sich nicht als ausübender Künstler, oder als kompetenter Kunstrichter in eigenen Werken oder mindestens in freien Aufsätzen“ gezeigt habe. „Auch der Beurtheiler 4, hat sich als Tonsetzer und in freien Aufsätzen, wie // in ausführlichen Beurtheilungen als Kunstrichter öffentlich vielfach bewährt und damit gegen die Anschuldigungen des Herrn Einsenders sicher gestellt“(20). Dorn wiederum zeigt sich empört, weil sich Marschner Dorns ‚Freundlichkeiten‘ nicht gefallen läßt und schlägt unter die Gürtellinie zurück. Sein kurzer Text erscheint in der 11. Nummer vom 14. März 1827(21). Marschner hat nach der Sitte der Zeit den Autor so benannt, wie er zeichnet, in diesem Falle als die Nummer 4. Das war üblich. Es galt vor allem der suchenden Zensur wegen geradezu als unsittlich, Pseudonyme öffentlich zu lüften oder auch nur den Namen anzusprechen, wenn man ihn kannte. Dorn dagegen schreibt im zweiten Teil seiner „Entgegnung“: „Wie es übrigens mit der Haltbarkeit der Marschnerschen Antikritik stehe, geht schon allein aus dem Umstande hervor, dass er das Publikum glauben machen will, er sei durch einen ihm (dem Komponisten des Quartetts) Unbekannten so vornehm abgefertigt worden; während er doch ganz gut weiss, wer die 4 ist, deren persönliche Bekanntschaft er bei seiner vorjährigen Anwesenheit in Berlin machte.“ Das war mehr als arrogant, das war frech, aber selbst auch wieder begründet. Marschners nur aus der politischen Situation vor 1848 zu verstehendes bewußtes Verschweigen zeugte vordergründig von einer ehrenwerten Gesinnung. Die Rezension war mit der Ziffer 4 gezeichnet und Marschners Antwort verzichtete auf die Nennung des Klarnamens. Daraus Unhaltbarkeit seiner Argumentation abzuleiten, schlug auf den Kritiker zurück. Wohl hat Dorn die geschickte Taktik Marschners durchschaut und anders, vermutlich sogar richtig ausgelegt und nennt deshalb seinen bürgerlichen Namen. Versetzt man sich in die Rolle des Lesers ohne Hintergrundkenntnisse, so weiß dieser nur, daß sich ein Kritiker namens Dorn mehrfach über zu stark durchschlagende Einflüsse Webers auf Marschner geäußert hat und daß sich Nummer 4 nunmehr auf diesen als Autorität beruft; er weiß (noch) nicht, daß Nummer 4 mit Dorn identisch ist. Wird das offenbar, dann beginnt der Zweifel. Dann sieht es nämlich so aus, als ob Dorn unter seinem Klarnamen Kritiken gegen Marschner schrieb, auf die sich Nummer 4 als Beweismittel bezieht, und das ist der nicht mehr redliche Topos der Herkunftsverschleierung. Dorn war auf einen ihm ebenbürtigen Gegner gestoßen, der mit der Schriftsprache umzugehen verstand – schließlich schrieb Marschner selbst Rezensionen für die Marx-Zeitung. Auf Marschners Einwände ging Dorn nicht ein. Er sei über Marschners Antikritik und der Marxschen Entgegnung vom Redakteur nicht unterrichtet worden, „ich würde sonst unfehlbar selbst auf die mir durch Herrn Marschner gemachten Anschuldigungen geantwortet haben, und wahrscheinlich ganz in derselben // Art, wie es jetzt geschehen ist, mit Hinweglassung der sub No. 2 gemachten Relation“. Nun hatte sich Marx gerade nicht über die angesprochenen künstlerischen Einzelheiten geäußert, so daß Dorns Hinweise Luftschläge waren und Marschners Vorhaltungen unbeantwortet blieben. Marx konnte sich das erlauben. Marschner war damals noch wenig berühmt, seine Erfolgsopern nicht aufgeführt, er selbst hatte gerade erst (1826) Dresden grollend verlassen, weil man ihm die Nachfolge des verstor-

7. Der Dorn-Fink-Streit

253

benen Carl Maria v. Weber als Kapellmeister verweigerte. So erscheint Marschner als einer unter den allzu vielen Betroffenen, die sich über Kritiken aufregen, wenn sie anders als erwünscht ausfallen. Schon fünf Jahre später wäre Marx vermutlich vorsichtiger gewesen und hätte den Komponisten nicht mit einer Viersatzkritik abgetan. Denn genau darüber hat sich Marschner besonders aufgeregt, „von einem Unbekannten [das war doppeldeutig, möglicherweise nicht mehr redlich, oder aber auf jemanden gemünzt, der tatsächlich (noch) unbekannt war] so entsetzlich vornehm – obenhin“, wie er schreibt, „abgefertigt“ worden zu sein(22). e) Finks erste Antwort Fink antwortete mit zwei Entgegnungen. Die erste erschien am 3. September 1828 in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“(23) [II,222], die zweite in der 35. Nummer der „Caecilia“, vermutlich also Ende November desselben Jahres(24) [II,231]. Die für solche Auseinandersetzungen vorgesehene übliche Schlußantwort des ersten Rezensenten, also Dorns, fehlt. Es kann nicht daran gelegen haben, daß Dorn oder Weber von Fink überzeugt worden wären. Das hätte beider Charakter widersprochen, zumal die inhaltliche Schwäche der Finkschen Darstellung eine Widerlegung leicht gemacht hätte. Vermutlich ist Weber, noch gezeichnet von Woldemars Beethoven-Polemik, die überflüssige Auseinandersetzung zu gefährlich geworden, um sie mit einem Schlußwort Dorns auszustatten, das möglicherweise noch polemischer hätte ausfallen können. Dorns Vorwurf einer ausschließlich kantianischen Haltung seines Blattes weist Fink als objektiv unrichtig nicht zuletzt damit zurück, daß er den Schellingschen Einfluß auf die Zeitung betont. Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ sei ganz im Gegenteil immer wieder Kant in allen Punkten entgegengetreten, wo dieser sich über Musik ausgelassen habe, heißt es. Natürlich ist das ein rhetorischer Trick Finks, denn Kants Unmusikalität, bewiesen oder nicht, steht in dieser Zeit bei allen Musikkundigen fest und seine unmittelbaren Äußerungen über Musik werden nicht ernst genommen. Aber darum ging es nicht. Es ging um Kants tiefer reichende erkenntnistheoretische Kritik an einer apriorischen Regel für künstlerische Urteile nach Begriffen, die er überzeugend als nicht möglich nachgewiesen hatte und damit die Kunstkritik allgemein, also nicht nur die Musikkritik, in den Bereich des nicht zu reglementierenden Geschmacks verwiesen hatte. Fink wollte und konnte das in dieser Situation nicht zugeben, wird es aber gewußt haben, schließlich war er als ausgebildeter Theologe ein auch philosophisch unterrichteter Mann. Dorn wiederum, der dem Typ des polemisierenden Weltanschauungskritikers nahe stand, meinte natürlich den Kanteinfluß im urteilskritischen Allgemeinen, der die in die Zukunft hinein normierende Kritik in Zweifel zog und damit auch seine, Dorns kritische Existenz berührte. Dorn war Komponist, Lehrer, Organisator und Dirigent; aber er war auch Kritiker, der sich streitlustig und mit spitzer Zunge gern zu Wort meldete. Diese Welt sah er durch Kant bedroht. Fink interpretierte Dorn vermutlich bewußt an der Oberfläche und stellte sich gradlinig auf, was ganz zu seinem lauten, polternden Ton paßte.

254

6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848

Seine Entgegnung ist vierfach aufgebaut. Zuerst wendet er sich allgemein gegen die verächtliche Art, mit der Dorn ein so verdientes Blatt wie das seinige gleichsam über die linke Schulter abfertigte: wenn „Herr Dorn“ wirklich keinen Dank für die „herrlichen Leistungen so Vieler der Besten“ fühle (auch darum ging es nicht), so habe man ihn zu beklagen. Wisse er den Wert der „mannigfaltigsten Belehrungen“ nicht zu schätzen, so sei er zu bedauern. Natürlich, Dorn hatte wirklich nicht ausgewogen berichtet. Eine Musikzeitung besteht noch aus etwas anderem als Musikkritiken, und Dorn hatte den Teil fürs Ganze genommen. Seine Rezension hätte an Glaubwürdigkeit gewonnen, wenn er die erwiesenen Nachteile mit den ebenso erwiesenen Verdiensten neutralisiert hätte. Es wäre auch dann noch genug an kritischer Substanz übrig geblieben, um dem Leser klar zu machen, was er meinte. Daran konnte wieder Weber nicht gelegen sein, schließlich ging es um die Konkurrenz. Marx mochte er loben lassen. Marx liefen ohnehin die Mitarbeiter davon, deshalb mußte Dorn die großen Namen ja auch aufzählen. Fink erkennt die Tendenz und wehrt sich seinerseits nur zu steif. Habe Dorn irgendwelche unlauteren Absichten (Absichten hatte er ganz gewiß, ob sie unlauter waren, mag offen bleiben) „bey dem gänzlichen Verschweigen des ausgebreitet hohen Verdienstes“ jener Männer, so verdiene er „unser Mitleid seiner Versündigung“ wegen. Fink spielt den verzeihenden Kirchenmann und darf sich sicher sein, den jungen Dorn damit bis aufs Blut zu reizen. Und dann folgen die üblichen Versatzstücke, mit denen nun seinerseits der Ältere den Jüngeren über die linke Schulter abzufertigen sucht: „Auf alle Fälle hätte Hr. Dorn besser gethan, wenn er sich erst durch irgend etwas Tüchtiges vor der Welt gezeigt hätte, bevor er sich erlaubte, solche verdiente Männer so geringschätzig zu behandeln. Wie klug sich jetzt manche Leutchen dünken, wissen wir wohl: aber es ist doch arg, wenn man seine Anmaassung bis zu solchem himmelschreienden Undanke treibt“(25). Er hoffe, Dorn habe darin nicht „Viele seines Gleichen“. Dann sucht er Dorn die Verbundenheit seiner Zeitung mit dem Schellingschen Denken nachzuweisen und macht ihn darauf aufmerksam, daß er zwar die „Allgemeine musikalische Zeitung“ wegen ihrer angeblich kantischen Fundierung angegriffen und die „Berliner allgemeine musikalische Zeitung“ über alles gelobt, es aber säuberlich unterlassen habe, den neuen Berliner Grundsatz gegen den überalterten seiner Leipziger herauszustellen, die sich auf „Wahrheit und Schönheit“ beziehe. Damit trifft Fink in der Tat den Nerv; denn die Marxsche neue Richtung einer sich gegenseitig aufhebenden Meinungspluralität war ja schon den Lesern der Marxzeitung selbst schwer zu vermitteln, geschweige denn Außenstehenden, wie etwa den Lesern der „Caecilia“, die darin keine Richtung, sondern nur ein Durcheinander von Meinungen sehen mußten. Ein Blatt, das „alles herunterriß“, wie sich der Hallenser Musikdirektor bitter beklagte, ließ vordergründig nach dem Sinn eines solchen Unternehmens fragen, auch wenn Marx noch so lange und noch so dringende apologetische Einführungsartikel schrieb. Finks Entgegnung sollte Dorn unglaubwürdig machen und es so aussehen lassen, als spiele Dorn mit Karten zweierlei Formats. Fink war jetzt so weit, das Blatt zu wenden, indem er das von Dorn Gerügte ins Zentrum der eigenen Auffassung rückte. „Klarheit des Verstandes und

7. Der Dorn-Fink-Streit

255

innige Reinheit des Gefühls sind es, wornach wir streben. Die strengste Moralität, möglichste Billigkeit und gute Gründe haben wir stets für die unerlässlichsten Anforderungen gehalten und thun das noch. In so fern sind wir allerdings bei dem Alten geblieben und werden es fortthun und haben gar nicht Lust, uns viel um die zu kümmern, die da draussen sind. Nie werden wir uns zu Unbilligkeiten, zu anmaassenden Überhebungen unserer eigenen wer- // then Person, nie zu schaalen Witzeleyen, noch viel weniger zu giftiger Persiflage (einer so unteutschen Höllengeburt dass der Teutsche nicht einmal ein Wort für sie hat), es wäre denn das Laster zu züchtigen, erniedrigen. Wir ehren die Mässigung, und ist das alt, so rühmen wir uns des Alten“(26). Von den Worthülsen dieses Textes und der Berufung auf Moralität und Billigkeit einmal abgesehen, blieb bei Fink so viel Besonnenheit zurück, den eigenen Irrtum als möglich zugeben zu wollen. Diese Fähigkeit haben viele der führenden späteren mit Lust polemisierenden Kritiker, zu denen ja auch Heinrich Dorn zählen wird, weitgehend verloren. Sie hatten ausreichendes musikalisches Rüstzeug und waren damit fachlich ausgewiesen. Sie konnten philosophische, zeitgenössisch einsehbare Begründungen abgeben und glänzten mit einer Rhetorik, die ihren Vorgängern fremd war. Sie waren entschieden, schnell mit dem Urteil bei der Hand und bei an den Problemen der Welt gemessen belanglosen ästhetischen Nebensächlichkeiten von einer niedermetzelnden Rücksichtslosigkeit, die, wie Fink richtig anmerkte, sich auch der Mittel der Witzeleien bediente, um dem Gegner selbst dann noch sein Recht abzusprechen, wenn er tatsächlich im Recht war. Fink spricht von Eitelkeit und von Selbstüberschätzung, den Konkurrenzgedanken läßt er nur zwischen den Zeilen erkennen, weil er den ihm weitgehend unbekannten Dorn nicht für kompetent hält. Das wird sich bald ändern und derbste Realität werden. Die späteren Jahrhundert-Komponisten stoßen auf zungenfertige Musikkritiker, die aus der Kategorie der sogenannten guten Musiker stammten und auf die Dauer erfolglos bleibende Komponisten waren oder, wie im Falle Dorn, mit dem Komponistendasein auch noch die lokal begrenzte Machtfülle des Dirigenten verbanden. Fink deutet an, daß der wirkliche Grund für Dorns Attacke auf seine Zeitung die Ablehnung eines bei ihm eingereichten Artikels gewesen sei. Mag man Fink im nachhinein vorwerfen, kein selbständiges künstlerisches Urteil gehabt zu haben, wie Einstein es 1929 in seinem Lexikon-Artikel feststellte, so hatte Finks Empörung doch einen Grund. Fink sah damals richtig, wenn er in seiner schwerfälligpathetischen Ausdrucksweise die Meinung vertrat, Kritik habe etwas mit Charakter zu tun (was dann auch für Fink gelten mußte) und werde nicht allein vom Fachwissen her bestimmt, wenn er vom „im Übermuhte sich für untrüglich haltend“, von der unbefriedigten Eitelkeit spricht, der „nicht der ersehnte Weyrauch angezündet“ worden sei, von der Rachsucht eines abgelehnten Aufsatzes wegen, von Neid, Mißgunst und schleichendem Eigennutz. Fink war tief getroffen und feuerte buchstäblich aus allen Rohren auf den jungen Dorn, der vermutlich selbst nicht mehr wußte, wie ihm geschah. „Sich aber allein Geschmack zuzutrauen, oder, wie Herr Dorn es hier gethan hat, ihn einem ganzen Institute und zwar ohne alle Begründung abzusprechen, ist und bleibt eine leere Arroganz. Wie leicht ist es doch, nach oberflächlichem Hören und Sehen irgend eines Kunstwerkes ein Urtheil, wie im Fluge, in die

256

6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848

Welt hineinzuschicken und sich gross zu dünken, wenn es nur nach etwas klingt. Ob das etwas Gutes oder Unfug ist, das scheint doch noch die Frage“(27). Im dritten Abschnitt seiner Entgegnung beschäftigt sich Fink mit Dorns Behauptung, die ‚Leipziger‘ habe sich Unterlassungssünden zuschulden kommen lassen. Dorn denkt hier an die angeblich noch ausstehende Besprechung der 9. Symphonie von Beethoven. Dorn verdreht an dieser Stelle die Tatsachen oder er weiß es nicht besser; denn die 9. Symphonie ist bis dahin in der Leipziger Zeitung schon mehrfach erwähnt worden, sogar von Fink selbst, wenn auch nicht unter der eigenen Rubrik der Rezensionen. Sodann empört sich Fink, und auch hier mit Recht, über die Dornsche Feststellung, Beethoven sei überhaupt erst durch die „Berliner allgemeine musikalische Zeitung“ richtig gewürdigt worden. Dasselbe erklärt er im Hinblick auf Spontini. Fink nennt die Dornsche Behauptung eine „Lächerlichkeit“(28). Daß er größere Sachen noch nicht habe besprechen lassen, habe mit seiner Sorge für die kleineren Komponisten zu tun, die sich allein nicht helfen könnten und auf die Kritiken angewiesen seien. Dorn messe mit zweierlei Maß, bausche bei dem Einen alles auf, beschönige alles bei dem Anderen(29). Natürlich ist Beethoven seinerzeit schon unter Rochlitz durch die „Allgemeine musikalische Zeitung“ popularisiert worden. Ob Rochlitz damit auf Beethovens Publikumserfolg reagierte, ob der Publikumserfolg durch die Zeitungserwähnung stieg, ob das Eine mit dem Anderen im Rückkopplungsverfahren zu tun hatte, ist in diesem Zusammenhang nebensächlich, auch die Frage, ob Rochlitz nachher selbst dem späten Beethoven kritisch gegenüber stand. Ein Beethoven-Artikel nach Art Woldemars, wie ihn Weber in seine „Caecilia“ aufnahm, wäre allerdings weder unter Rochlitz noch unter Fink und auch nicht später unter Lobe in die „Allgemeine musikalische Zeitung“ eingerückt worden. Ganz im Gegenteil, anders als Weber, hatte Fink persönlich gerade erst in den Ausgaben vom 12. und 19. März 1828 [II,211] in wirklich liebevoller Weise des vorjährig verstorbenen Beethoven gedacht(30) und bei dieser Gelegenheit Fétis wegen seiner üblen Beethoven-Charakterisierungen an den Pranger gestellt. In der Ausgabe vom 14. Mai [II,219] empörte er sich über „Ein Londoner Urtheil über Beethoven’s letzte Symphonie“(31), regte sich aber nur über den Stil des Engländers auf, nicht über dessen Beurteilungsergebnis – schließlich gehörte Fink selbst nicht zu denen, die sich für Beethovens letzte Sinfonie begeisterten. Darüber hinaus war Dorn nun auch wieder nicht so parteiisch, wie Fink es darstellte. Der Dornsche Artikel enthält Informationen über die Berliner Situation, die man anderswo vergebens suchen würde, und so bildet er auf seine Weise ein gut lesbares Dokument. Dorn hat die Schwächen der Marxschen Zeitung richtig erkannt und richtig benannt. Wären da nicht die zu scharf geschliffenen Spitzen gegen Fink, müßte man den Aufsatz, gerade im Verhältnis zu anderen Artikeln, sogar als sehr gut bezeichnen. Der vierte und letzte Abschnitt der Entgegnung ist von der Sache her der schwächste, weil Fink sich selbst und seine Redaktionspolitik gegen den Dornschen Fazit-Satz „In diesem verkehrten Sinne wurde die Leipz. musik. Zeit. bis auf die jetzige Zeit fortgesetzt“(32) verteidigen muß. Der Satz war angesichts von Dorns Jugend tatsächlich eine Anmaßung, selbst dann, wenn man unterstellen muß, daß Dorn nicht falsch lag. Er war es allerdings nur der Form nach; es war die rücksichts-

7. Der Dorn-Fink-Streit

257

lose Art, wie er sich äußerte, nicht das Inhaltliche selbst. Fink wiederum reagierte psychologisch falsch. Er spielt den Empörten, poltert, beleidigt seinerseits, wo er mit spöttischer Gelassenheit seinen Gegner weit wirkungsvoller hätte treffen können. Er wirft Dorn vor, seine Ausführungen geschähen nur, weil sie ihm so beliebten, also aus Willkür, und nicht, weil er im Recht sei. Fink hat Dorn auf seine Weise richtig gesehen. Dorn wird später, 1874, als der musikkritische Prinzipienstreit längst vorbei ist, in einem „Introduction“ überschriebenen Aufsatz der „Neuen Berliner Musikzeitung“(33) Geschmacks- und Parteikritik fordern, allerdings nicht mit der Maßgabe des damals schon verstorbenen Brendel, sondern tatsächlich im Sinne einer streitbaren, man kann auch sagen streitsüchtigen Bekämpfung neuerer Kunststile ohne Verweis auf eine historische Legitimation, gemeint ist natürlich Wagner und das, was sich um Wagner abspielte und was Dorn in einem späteren Aufsatz den „Wagnerschwindel“ nennt(34). Das Ende ist für Dorn tragischer als für Fink, der, ließ man ihn in Ruhe, durchaus wohlwollend denken konnte. Er rückte sogar einen freundlichen Hinweis auf die „Caecilia“(35) [II,299] ein und tat nach bestem Wissen, was er für richtig hielt. „Ich möchte doch wissen, ob sich Herr Dorn aus Berlin nicht vor sich selbst schämte, von einer Zeitung so herabwürdigend zu urtheilen, die Belehrungen der tüchtigsten Musikkenner Teutschlands aufzuweisen hat“(36) und „Mit für meine Person, der ich eben so wenig unter die Anmaassenden als unter die lügenhaft Demüthigen gehöre, ist es schlechthin ein Räthsel, wie irgend Jemand, ohne vor sich selbst zu erröthen, bey einer solchen Anzahl gediegener Arbeiten, wie wir in diesem Jahrgange zu liefern so glücklich gewesen sind …“(36). Finks eigener Schlußgedanke, irgendwelchen Leuten seien die Trauben „bitter“(36), bezieht sich ohne Namensnennung auf Marx, auf Gottfried Weber, auf Dorn und auf alle die Gegner seiner Zeitung, die sich über den erfolgreich ausgebreiteten Korrespondenzenteil ärgern, weil sie selbst trotz ihrer Bemühungen nicht im Stande waren, einen solchen aufzubauen. Noch ein paar predigerhaft vorgebrachte Sprichwörter, unter anderem vom „Maul“ halten, weil reden gleichzeitig Ehre und Schande bringen könne, ein unausgeführter Hinweis, was er alles noch dank Dorn vorzubringen die Gelegenheit hätte, aber nicht vorbringe, weil er schon so viel Zeit und Papier aufgewendet habe, dann folgt Finks Schlußsatz: „Ich liebe den Frieden, ohne irgend einen Vertheidigungskampf zu scheuen, was mir, als dem Redacteur, gewiss Niemand verdenken wird“(37). f) Finks zweite Antwort Die zweite Entgegnung Finks am Ort des Angriffs selbst, also in der „Caecilia“(24) [II,231], ist weniger aufschlußreich, weil sie auf das hinausläuft, was man in der Sprache des 19. Jahrhunderts eine ‚Klopffechterei‘ nannte, also ein unerfreuliches und sachundienliches Gestreite auf der Grenze zur Beleidigung. Dorn sei „bei voller Anerkennung seines nur noch nicht gebildeten musikalischen Talentes, eine sehr schonende Zurechtweisung in unserer Zeitung zu Theil geworden“, da es eine ihrer Aufgaben sei, „Anfänger gebührend zu beachten und ihnen so viel Billigkeit ange-

258

6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848

deihen zu lassen, als sich nur mit den Gesetzen der Gerechtigkeit und Wahrheit“ (38) vertrüge. Fink weiß offensichtlich über Dorns Lebensumstände Bescheid und auch, daß es sich um einen noch jungen Mann handelt: „Wenn wir uns auch darüber nicht im Entferntesten beklagen, daß Hr. Dorn wohlmeinende Freundlichkeit, wie fast alle noch in halber Bildung Begriffene, nicht vertragen kann: so würde es uns doch unmöglich sein, solche Jugendverirrungen einer erstaunenswerthen Zügellosigkeit unser Mitleid zu entziehen; und wir haben dabei nichts zu beklagen, als daß wir es öffentlich thun müssen“(38). Was Fink keinem anderen jemals zuerkannt hätte, nämlich eines kritischen Abschnitts wegen einen Wirbel von zwei Artikeln mit über 15 Spalten Umfang zu entfesseln, das nimmt er in seinem gekränkten Stolz für sich in Anspruch und zeigt, wie tief er leidet, aber auch, wie wenig er Herr der Lage bleibt. „Das Geringste, was wir ihm hier zu erwiedern haben, ist, dass wir ihn der uns ganz unbegreiflichen Dreistigkeit anklagen, in leeren Machtsprüchen über etwas zu reden, wovon er auch nicht die kleinste Kenntniss besitzt. Wäre dem nicht so, so müssten wir ihn eines viel härteren, eines unverzeihlichen Verbrechens beschuldigen, dass er nämlich geflissentlich das heilige Recht der Wahrheit gemisshandelt, absichtlich verdreht und zur Unwahrheit herabgewürdigt habe, um einen Theil des Publicums zu hintergehen. Da wir nun das letzte von Niemand in der Welt eher glauben wollen und dürfen, als bis wir ohne alle mögliche Ausweichung dazu gezwungen sind: so bleibt uns nichts übrig, als ihn der Unwissenheit zu zeihen“(39). Fink wiederholt seine Argumente der ersten Entgegnung, bestätigt den Wechsel in der Berliner Vertretung, immer verbunden mit Ausfällen auf Dorn: „Wir wissen Alle, dass es leider eine gewisse Anmaassungs-Verbrüderung gibt, die, über Zucht und Ordnung erhaben, Alles besser weiss, ohne etwas Tüchtiges gelernt zu haben; die im phantastischen Gefühl hoher Herrscherkraft platonische Republiken an die Stelle alter Gewalten einzuführen // sich im Stande dünkt: aber eine Art Ehrfurcht vor dem Vergangenen, eine Art Dankbarkeit gegen Leistungen früherer Zeiten ist ihnen doch noch übrig gebliebenen. Hr. Dorn erhebt sich auch über diese Ueberbleibsel weichlicher Unkraft, und zur Erleuchtung der Welt deutet er wenigstens die Scheiterhaufen an, die er errichten würde, wenn er Wälder dazu besässe. / Was Hr. Dorn bis jetzt geleistet hat, kennen wir wohl: … “(39). Das Gehacke der zweiten Entgegnung schließt ebenso martialisch wie das der ersten: „Darum auch kein Wort mehr gegen ihn, es wäre denn, er selbst schlüge unsere Hoffnungen nieder, wozu wir noch viel zu günstig von seinem Herzen und Verstande denken. Dem Schlechten und keck Zufahrenden aber werden wir uns offen und ohne alle Hinterlist nach besten Kräften entgegenstellen, um der Pflicht und um der Rechtschaffenen willen, nach deren Beifall uns allein verlangt und zu dessen Erringung unsere redlichste Mühe nie fehlen wird“(40).

7. Der Dorn-Fink-Streit

259

g) Fazit In diesem Streit dürfte lediglich der Dornsche Bericht von größerem Belang sein, weil er Einblicke in die Hintergrunddiskussionen der ausgehenden zwanziger Jahre liefert. Finks Antworten gehen am Kern vorbei, weil er das eigentliche Problem nicht ansprechen will. Vergleicht man die Sache mit dem, was über die Sache gesagt und wie es gesagt wird, müssen schon dem zeitgenössischen Leser die ständigen Wiederholungen von Wahrheit und Gerechtigkeit und Tüchtigkeit und Ordentlichkeit unangenehm aufgefallen sein, zumal fast alles, was er gegen Dorn vorbringt, mehr Fink als Dorn charakterisiert. In minderem Maße gilt das auch für den Dornschen Bericht. Es sind ja nur Kleinigkeiten, die ihn peinlich machen und das nicht nur in den Teilen, die Fink betreffen, der das erkannt hat. Das meiste von dem, was Dorn gegen die „Allgemeine musikalische Zeitung“ kritisch anmerkt, war für die mit den Verhältnissen Vertrauten und Unzufriedenen – Schumann und seine Neuromantiker, mit Dorn bestens bekannt, werden bald dazu gehören – nichts Neues. Aber hätte Dorn beispielsweise „In diesem Sinne wurde die Leipz. Zeitung bis auf die jetzige Zeit fortgeführt“ statt „In diesem verkehrten Sinne wurde die Leipz. Zeitung bis auf die jetzige Zeit fortgeführt“ geschrieben, das „verkehrt“ also weggelassen(41), wäre der Sachverhalt ebenso treffend und genau so scharf, aber ohne den besserwisserisch-polemischen Unterton umrissen gewesen und Dorn, tatsächlich erst 25 Jahre alt und noch ohne weitergehenden Ruf, besser aufgestellt gewesen. Der Zusammenstoß des unbelehrbar-selbstüberzeugten, intelligent-streitlustigen agilen Dorn mit dem ebenso unbelehrbaren, sehr klugen, aber intellektuellschwerfälligen umständlichen Fink mußte auch im historischen Ergebnis unerfreulich ausgehen. (1) Heinrich Dorn: Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung, Cae VIII./31, [April] 1828, S. 178– 188 [II,220]; (2) Dorn: S. 178; (3) Dorn: S. 179; (4) Dorn: S. 181; (5) Dorn: S. 182; (6) Dorn: S. 183; (7) Dorn: S. 183–184; (8) Dorn: S. 184; (9) Dorn: S. 185; (10) Dorn: S. 186; (11) D. Red.: Nachschrift der Redaction der Cäcilia, Cae S. 187–188; (12) Cae VIII./30, [nach Februar]1828, S. 124; (13) s. Abschnitt d (Das Marschnervorspiel); (14) 4.: Quatuor pour le Pianoforte, BamZ IV/4, 24.1.1827, S. 29b–30a; (15) H. Marschner: Antikritisches. (Eingesandt.), BamZ IV/10, 7.3.1827, S. 74b–76a; (16) Marschner, S. 75b; (17) Marschner, S. 76a; (18) M.: Bemerkung hierzu, BamZ IV/10, 7.3.1827, S. 76a–77a; (19) Bemerkung, S. 76b; (20) Bemerkung, S. 76b–77a;

260

6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848

(21) Heinrich Dorn: Entgegnung, BamZ IV/11, 14.3.1827, S. 81a; (22) Marschner, S. 75a; (23) G. W. Fink: Antwort auf einige Punkte der Recension der Berliner allgem. musik. Zeitung, von H. Dorn, im 31sten Hefte der Cäcilia, AmZ XXX/36, 3.9.1828, Sp. 585–592; (24) G. W. Fink: Zweite Antwort auf des Hrn. Dorn Recension der Leipziger Allgemeinen Musikal. Zeitung, im 31sten Hefte der Cäcilia, Cae IX./35, 1828, S. 147–159; (25) Fink: Antwort, S. 586; (26) Fink: Antwort, S. 587–588; (27) Fink: Antwort, S. 588; (28) Fink: Antwort, S. 589; (29) Fink: Antwort, S. 589–590; (30) G. W. Fink: Urtheil über Beethoven aus der Revue musicale, verbunden mit unsern Ansichten, AmZ XXX/11+12, 12.+19.3.1828, Sp. 165–170, 181–185; (31) Ein Londoner Urtheil über Beethovens letzte Symphonie, AmZ XXX/20, 14.5.1828, Sp. 329– 330; (32) Dorn: S. 180; (33) Heinrich Dorn: Introduction, NBMz 1874/1, S. 1–2; (34) Heinrich Dorn: Ein neuer Wagnerschwindel, NBMz 1874/10, S. 73–74; (35) AmZ XXXVI/28, 9.7.1834, Sp. 458–460; (36) Fink: Antwort, S. 591; (37) Fink: Antwort, S. 592; (38) Fink: Zweite Antwort, a. a. O. S. 150; (39) Fink: Zweite Antwort, S. 153; (40) Fink: Zweite Antwort, a. a. O. S. 155; (41) Dorn: a. a. O. S. 180.

8. BEDRÄNGNISSE VON ALLEN SEITEN Im beflissenen Eifer anderer Blätter, die Würdigung klassischer und vordem verkannter Komponisten sich selbst zuzuschreiben, übersah man gerne die Leistungen der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ unter Rochlitz. Fink beschwerte sich ziemlich bissig, aber berechtigterweise. Da war der Fall der Urveröffentlichung von Mozarts „Requiem“ um die Jahrhundertwende durch Breitkopf & Härtel. Dazu erschienen damals Kommentare von Gottlieb Schwenke für den theoretischen und von Rochlitz für den ästhetischen Teil. Ein Franzose griff für das „Journal de Paris“ das dankbare Thema auf, allerdings war der Urtext um ein Drittel gekürzt und überdies vielfach mißverstanden worden. Die Übersetzung kam als original französische Arbeit nach Deutschland zurück. Die Berliner Zeitung, so Fink, habe ein großes Lobpreisen darüber angestellt und der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ angelegentlich empfohlen, doch nach solchen Vorbildern Ausschau zu halten, und andere Blätter hätten sich angeschlossen und die „guten Lehren“ noch verstärkt. Fink benutzte im März 1828 den Vorfall zu einem kleinen Artikel unter der charakteristischen Überschrift „Wie es mitunter in Teutschland geht. / (Eine wahrhafte Anecdote.)“(1) [II,212]. Fink wußte um die Vorwürfe, sein Blatt sei langweilig, und er wies sie in einem Dialog-Artikel „Aufrichtig!“(2) [II,269] zurück. Es sei die Gründlichkeit, die man langweilig nenne, und „hätten dieselben Leutchen nur halb so Vortreffliches in einem französischen oder englischen Journale gelesen: was für ein Hallo würde

9. Topos Unparteilichkeit und andere Phrasen

261

man uns davon vormachen! Ein Muster, würden sie sagen, sollten wir // uns daran nehmen! Nun es aber in Teutschland geschieht –“(3). Inzwischen wurde Fink von allen Seiten angegriffen und setzte sich nicht nur mit seinen Vorworten zur Wehr. Wenig weltklug nannte er mit der Überzeugung, im Recht zu sein, und im festen Glauben, jedermann werde sich auf seine Seite stellen, die Quellen seines Ärgers. In seinem verklausuliert ironischen Stil, der ihm eigen war, verfaßte er Gegenartikel. „Nota bene“ und „Ueberflüssiges“ gehören dazu, zwei Kleintexte vom Ende 1833, die sich mit Angriffen aus dem Umfeld der belletristischen sächsischen Literatur, hier einem Beiblatt zum „Kometen“, beschäftigen [II,279; II/280]. Dabei blieb es aber nicht. Die öffentlichen Angriffe nahmen an Heftigkeit zu, zumal konkurrierende Blätter im Kampf um Abonnenten nichts unversucht ließen, auf die wirklichen oder vermeintlichen Schwächen der Zeitung hinzuweisen. Schlesingers Sohn Moritz beispielsweise hatte in Paris eine französische Musikzeitung „herauszugeben angefangen“ [II,286], wie Fink spöttisch vermerkte(4), und Schlesinger selbst betrieb in Berlin die Zeitschrift „Der Freymüthige“. „Da fehlt nun in der Geschwindigkeit nach dem Freymüthigen gleich // allen unseren musikalischen Zeitschriften etwas; eine ist zu dünn, die andere zu langsam, und unsere? ja die hat einen sehr bedeutenden Fehler, sie hat zu lange gelebt. Derohalben metamorphosirt sich nun der Herr Freymüthige zu einem kläglichen Käuzlein, schwingt sich kühn auf den Hut seines Hutten und will der Welt etwas vom ‚langsamen Dahinsterben der Leipziger allgemeinen musikalischen Zeitung‘ vorkrächzen, natürlich blos aus Freymüthigkeit und reiner Menschenliebe; was könnte denn sonst die Sache wohl für einen anderen Grund haben? Sie ist zu klar.“ Es kam aber noch schlimmer. Im April desselben Jahres mußte sich Fink mit einer „Erklärung“, der, um besondere Aufmerksamkeit zu erregen, noch ein Piktogramm ☞ vorgesetzt wurde(5) [II,293], gegen vielerorts aufkeimende Gerüchte wehren, seine Musikzeitschrift „werde zu Johannis oder Michaelis aufhören“(6). (1) (2) (3) (4) (5) (6)

AmZ XXX/13, 26.3.1828, Sp. 209; AmZ XXXIII/30, 27.7.1831, Sp. 490–492; a. a. O. Sp. 491–492; AmZ XXXVI/11, 12.3.1834, Sp. 178–180; AmZ XXXVI/17, 23.4.1834, Sp. 284; Johannis = Johannistag, der 24. Juni; Michaelis = Michaelistag , der 29. September.

9. TOPOS UNPARTEILICHKEIT UND ANDERE PHRASEN Eine bestimmte Gruppe von Kritikern spricht unentwegt von Unparteilichkeit, Redlichkeit, Ernst und führt noch viele andere ehrenwerte Eigenschaften im Munde, die man in ihren Berichten nicht wiederfindet. Es sind überwiegend zeitfeindliche Schreiber, die dem Leser gegenüber ihre negativ gefärbten Berichte rechtfertigen müssen oder wollen. Der auf diese Weise verschwiegen angedeutete Umkehrschluß, anders urteilenden Kollegen diese guten Eigenschaften abzusprechen, wirkt in der ständigen Wiederholung (bei Schladebach oder Fink beispielsweise

262

6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848

besonders ausgeprägt) nicht nur ermüdend, sondern peinlich. Mit der behaupteten, aber nie zustandegebrachten Selbstobjektivierung werden Charaktereigentschaften offen gelegt, die der Schreiber bei sich nicht wahrhaben will. Die musikkritische Phrase widerlegt gegen den Willen ihres Verfassers die Richtigkeit des mit ihr verbundenen Urteils. Fink erklärt den Irrtum als allgemeinen Fehler und nimmt für seine Zeitung das Recht in Anspruch, nicht die einzige zu sein, die auch irre(1). In einem nicht sehr langen, mit Fried. Aug. Fink gezeichneten Artikel „Zur Kritik der Musik“ brachte die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1833 in einer Extrabeilage eine prinzipielle, aber wenig aussagekräftige Stellungnahme(2) [II,278]. Der Autor schreibt Bandwurmsätze in einem verschrobenen Verschachtelungsmuster, das im ersten Abschnitt (der aus einem einzigen Satz besteht) auf 8 Druckzeilen 11 Kommata und 3 Gedankenstriche verbraucht, im 4. Abschnitt (ebenfalls ein Satz) auf 19 Druckzeilen 29 Satzzeichen. Die Person soll milde, die Sache streng beurteilt werden, heißt es da. Bislang wären diejenigen, die nichts Bedeutendes zu sagen hätten, vornweg und die Fachleute still gewesen. Das müsse anders werden. Man befinde sich in einem Übergang von einem „periodischen“ in ein „methodisches Weltalter“. Unvermittelt wird die Behauptung aufgestellt, die gesamte heutige Musik stamme im Guten wie im Schlechten von der Kirchenmusik ab, und insbesondere in der reformierten Kirche habe sich die „Kirchen- und Choralkunst reiner und unvermengter, als irgendwo erhalten“. Die Kirchentöne werden bemüht und die griechische Theorie, was zur Zeit „auf eine noch keinesweges ganz lichtvolle Weise … benannt worden ist“. Das ist für den Autor „jenes grosse, kritisch-musikalische Fragzeichen“, das „auf eine wissenschaftlich, gar nicht auseinander zu bringende Weise sich anschliesst.“ Am Ende des letzten der insgesamt sieben Abschnitte (Abschnitte 1 bis 5 bestehen aus einem, die Abschnitte 6 und 7 aus 2 Sätzen) stellt er klar, „dass er in diesem Bezuge wohl Etwas mittheilen, jedoch, seiner Schwäche wohl bewusst – im Hervortreten nicht gern einer der Ersten seyn, vielmehr mit dieser kritischen Entherzigung seinen Standpunct im Allgemeinen voransichtlich bezeichnen, Beyträge bescheiden anbieten, und eine Veranlassung seyn – möchte zur weitern Verbreitung des a. a. O. so kräftig und gründlich gegebenen kritischen Anstosses.“ Unter all den vielen mehr oder weniger wichtigen Bemerkungen über Musikkritik, Unparteilichkeit, Redlichkeit und was da mehr ist, worüber sich ästhetische Geister und Betroffene streiten mochten, findet sich in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ 1829 in einer Zusammenstellung von Aussprüchen Friedrichs des Großen(3) [II,241] ein Schlußwort, welches alle ästhetische Diskussion, alles mehr oder weniger wütende Streiten in die Realität der Gewichtungen zurückholt. Es geht um die Frage, ob eine bestimmte Sexte an einer bestimmten Stelle falsch oder richtig sei. Der König spielt die Flöte, Fasch begleitet am Klavier. Friedrich der Große beendet die Diskussion mit dem Satz: „Es ist doch keine verlorne Schlacht!“ (1) Ein nothwendiges Wort der Redaction auf Veranlassung einer Stelle dieses trefflichen Aufsatzes [II,270], AmZ XXXIII/40, 5.10.1831, Sp. 660–661; (2) F. A. Fink, XXXV/16, 17.4.1833, Sp. 269–270 Extrabeilage; (3) AmZ XXXI/13, 1.4.1829, Sp. 216.

11. Johann Christian Lobe

263

10. FINKS ABGANG Finks kurzer, aber inhaltsreicher „Abschied des Redakteurs“ vom Dezember 1841 [II,402] ist so verklausuliert gehalten, daß man nicht so recht herausfinden kann, ob er freiwillig oder gezwungen, mit Freuden oder mit Tränen gegangen oder gegangen worden ist(1). Tatsächlich hat sich der Verlag von Fink und nicht umgekehrt getrennt. Daß er sich Freunde erworben hat und ihnen dankt, ist selbstverständlich, und daß er sich Gegner ‚verdiente‘, bereut er nicht, sieht es vielmehr „für einen wesentlichen Theil der Menschenwürde an, auf die ich Anspruch mache, der Ehre rechtlicher, aufrichtiger und fester Gesinnung“. Es sei jetzt Krieg im Reiche der Harmonie. „Da tritt kein Mann zurück; ich gewiss nicht. Es ist also kein Scheiden von der Kunst“. Rechtlich, aufrichtig und fest, so sah Fink sich selbst. Und seine Schlußankündigung „Darum auf baldiges Wiedersehn!“ machte er wahr, als er seine ganze Verbitterung und seine Wut über Marx noch im folgenden Jahr in sein Buch vom ‚neumusikalischen Lehrjammer‘ legte. (1) AmZ XLIII/52, 29.12.1841, Sp. 1135–1136.

11. JOHANN CHRISTIAN LOBE a) Zur Person Lobe (1797–1881) war über fünfzig Jahre alt und bereits pensioniert, als er 1846 ab der 26. Nummer des 48. Jahrgangs die Redaktion der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ übernahm. Anders als Fink war er hauptberuflich praktischer Musiker (Bratschist) mit einer autodidaktisch erworbenen hohen Bildung. Er stand dem Weimarer Goethekreis nahe und kannte die meisten der damals bedeutenden zeitgenössischen Komponisten. Lobe galt als glühender Berlioz-Verehrer und schätzte auch den neuromantischen Schumann-Kreis, so daß von einem Schumann-Boykott, wie zu Zeiten Finks, nicht mehr die Rede sein konnte. Er selbst komponierte nicht mehr, machte sich aber mit seinen schriftstellerischen und musiktheoretischen Arbeiten, insbesondere mit seinem „Lehrbuch der musikalischen Komposition“ einen geschätzten Namen, der ihm den Professor-Titel einbrachte. Seine Kritik galt als ebenso sachlich wie eigenwillig. In den einschlägigen Fachkreisen wurde er ernst genommen. Sein Pseudonym „der Wohlbekannte“ gewährt einen Blick auf den ihm eigenen Leistungsstolz. Schon in seiner Weimarer Zeit hatte sich Lobe 1826 zusammen mit A. F. Häser glücklos als Redakteur einer Musikzeitschrift „Musikalische Eilpost“ versucht.

264

6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848

b) Zur Sache Lobe sah das, was er zu machen hatte, nüchtern. Sein Prolog für 1847 „An den geneigten Leser“(1) [II,594] besteht nur aus fünf Sätzen und enthält keine Phrasen. Nach Aufmachung und Sprachstil ist er mit den Finkschen nicht zu vergleichen. Seine Forderungen an die Zeitung seien höher als er sie bisher habe erfüllen können – er habe Hoffnung, im laufenden Jahrgang Besseres anzubieten – er habe neue Verbindungen angeknüpft und die besten bisherigen Mitarbeiter blieben der Zeitung erhalten – am „Eifer“, den Anforderungen der Zeit nach Möglichkeit zu genügen, solle es nicht fehlen – „Weitere und ausführlichere Versprechungen zu machen, halten wir für überflüssig, denn nicht Versprechungen wollen die Leser, sondern Thaten“. Die Erwartungen erfüllten sich nicht. c) In der Kritik. Fehleinschäzungen, Enttäuschungen Lobe geriet bald in die Kritik. In der Gaillardschen „Berliner musikalischen Zeitung“ erschien Anfang Januar 1847 ein ziemlich langer Bericht „Ein Wort über die Concertkritik in der allgemeinen musikal. Zeitung. / (Eingesandt.)“(2) [II,597], in dem „Ein Freund des musikalischen Fortschrittes in Leipzig“ Beschwerde über die Art der Gewandhaus-Konzertkritiken sowohl in den „Signalen“ wie in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ führt. Die in den „Signalen“ taugten nichts und die in der Lobe-Zeitung (die Lobe selbst schrieb) hätten jetzt eine Richtung genommen, die sie bald denen in den „Signalen“, „wo sie bereits unter der Kritik sind, gleichstellen wird“. Mit dem Redaktionsantritt Lobes „versprach man sich fast allgemein einen Aufschwung der Zeitung, welche von ihrer früheren Höhe ganz herabgesunken war. Auch hatte es, als Prof. Lobe die Redaktion übernahm, den Anschein, als lebe die Abgestorbene wieder auf; doch war die Freude nur kurz. Die Zeitung begann wieder in ihre frühere Mattheit zu versinken und trägt in der jüngsten Zeit durchaus ihr früheres Gepräge.“ Der Einsender kritisiert den Stil der Berichte, „sie sind überwiegend im Lehrtone geschrieben und der Berichterstatter scheint blos Schüler vor sich zu haben.“ Die Berichte seien trocken, verzopft, die Urteile schief. Lobe ist in der weiteren Beschwerde nur noch „der Herr Professor“. Lobe sieht sich mit seinen Urteilen über Schubert, Beethoven und Mozart in die Pflicht genommen. Man erkennt in Lobes Berichten den ehemaligen Berlioz-Enthusiasten nicht mehr wieder. Von einer Schubertschen Symphonie behauptet er, sie zeige, was aus Schubert hätte werden können. Es seien Gedanken darin, die ihn teils hingerissen, teils abgestoßen hätten. Beethovens Achte Symphonie habe ungleiche Wirkung und ungleichen Wert, die beiden ersten Sätze seien schwächer als die beiden letzten. Das 1. Thema der „Eroica“ erklärte er „an und für sich als ganz unbedeutend“, Mozarts „Idomeneo“ „höre man die Zeit an“. Nach Meinung des Einsenders hat sich Lobe nicht in die neue Zeit hineingelebt, die er beurteilt, eine Einschätzung, die in dieser aggressiven Formulierung zu weit geht („dass der Herr Professor den Geist der Neuzeit, insbesondere die Fülle der Romantik, wie sie sich in jener Sinfonie wiederspiegelt, noch nicht erfasst hat“(3)). Um weder mit Lobe noch mit Senff in

11. Johann Christian Lobe

265

Streit zu geraten und trotzdem zwischen den Zeilen erkennen zu lassen, was man selbst von dem Bericht (den man ja auch hätte ablehnen können) hält, setzt Gaillard eine Asterisk-Anmerkung dazu: „* Unseren Grundsätzen gemäss verweigern wir keiner Ansicht das freie Wort in unserer Zeitung. Artikel, die uns eingesandt werden, in denen sich Ansichten aussprechen, die wir nicht vertreten können oder wollen, bezeichnen wir mit ‚Eingesandt‘. Die Signale sind unserer Ansicht nach ein interessantes, mit Geist redigirtes Blatt; natürlich können wir nicht über den Werth ihrer Kritiken über die Leipziger Musikaufführungen urtheilen. Die Leipziger allg. Musikzeitung lesen wir nur ab und zu.“ d) Modell Vollkommenheit Lobe befaßte sich 1830 in einem längeren Dialog „Wie muss ein Kunstwerk beschaffen seyn, wenn es einen vollkommenen Kunsteindruck hervorbringen soll?“(4) [II,262] mit den Anteilen Gefühl und Verstand. Er vertrat darin die Meinung, im Mittelpunkt allen Komponierens stehe das Gefühl. Als der Gesprächspartner Zweifel anmeldet, erklärt er: „mit den paar Benennungen, die unsere armselige Sprache für die nächsten gewöhnlichsten, auf der Oberfläche sich bewegenden Regungen unserer Brust gefunden hat, wäre die ganze wunderbare in unergründliche Tiefen sich verlierende Welt der inneren Gefühlserscheinungen erschöpft? – Wir fühlten nicht mehr als wir mit Worten benennen und aussprechen können? – Gibt es weiter keine Welten und Sterne am Himmel, als die wir sehen können mit dem Fernrohre und benennen? – So tief aber und unerforschlich der Himmel über uns, so tief und unerforschlich ist der Seelenhimmel in uns. Seine nächsten Erscheinungen allenfalls mögen wir unbestimmt erfassen mit Begriffen und ausdrücken durch Worte. Aber je tiefer und ferner es geht, je mehr bleibt unsre Wortsprache zurück“(5). Der zweite Teil des Dialogs führt in die Kompositionslehre und beschäftigt sich mit der Rolle des Verstandes(6). Ein Gedanke = Thema, mehrfach wiederholt, aber ständig verändert, dadurch „immer derselbe und doch immer ein anderer“ – der Musiker nenne das thematische Arbeit. Der dritte und letzte Teil geht auf den Zuhörer ein. Nur der Kenner kann das so gestaltete Kunstwerk erfassen, aber es kann dem Nichtkenner trotzdem gefallen. Die Ansprüche eines Menschen an ein Kunstwerk stehen im Verhältnis zur Bildung, die er mitbringt. Es genügt, jedem das zu geben, was er fassen und begreifen kann. Dann unterteilt Lobe die Werke dreifach. Es gibt einmal die melodiösen, die den Verstand nicht befriedigen, aber den meisten Hörern gefallen. Dann gibt es die Werke, in denen das „Mathematisch-Künstliche“ vorherrschend ist, denen aber das Melodiöse fehlt. Diese ziehen den Kenner an, stoßen aber die große Masse ab. Schließlich gibt es die Werke, die beides verbinden. Sie befriedigen sowohl die Kenner wie die „Layen“. Und nach Lobe ist es Mozart gewesen, der diese dritte Gattung am besten beherrschte. Lobe räumt ein, äußere Umstände könnten den Eindruck vermindern oder gar zerstören. Wenn die Seele ergriffen werden soll, muß sie sich der Sache ganz hingeben. Diese Hingabe kann unterbrochen werden. Er bringt ein Beispiel. Die „herrliche B-dur-Symphonie von Beethoven hatte eben begonnen…“ Mitten im Allegro ging die Türe auf und der

266

6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848

neue Gesandte trat in blendender Uniform herein und zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Die Stimmung war dahin(7). e) Funktion Rezension „Was ist die Aufgabe einer Rezension?“, fragte 1848 in Verbindung mit einer Antikritik in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ ein Pfarrer Kraussold(8) [II,689], jedenfalls nicht, so Kraussold, eine Darlegung des Eindrucks, den das zu rezensierende Werk auf den Rezensenten gemacht habe. Das sei unerheblich. Er antwortet auf seine rhetorische Frage: „Denn das ist ja doch offenbar der Zweck einer Recension, das Buch nach seinem Inhalte und seiner Form so darzustellen, dass die Wissenschaft selbst, und in specie der wissenschaftliche Gegenstand in seiner Erkenntnis dadurch gefördert wird. Durch Letzteres unterscheidet sich die Recension von der blosen Anzeige.“ Damit das geschehe, müsse der Rezensent des Gegenstandes selbst kundig sein und nicht zum ersten Male davon hören. Er müsse ihn historisch erfassen. „… er muss im Stande sein, das Werk nach seiner ganzen Anlage aus seinem Grundgedanken nachzukonstruiren und so zu sagen vor dem Publikum zu reproduciren.“ Nur auf solche Weise erfülle die Rezension ihre Aufgabe, das Publikum mit dem Werk so bekannt zu machen, „dass die Wissenschaft dabei Gewinn hat“. f) Lobes Fortschrittsbegriff Auch die „Allgemeine musikalische Zeitung“ kann und will sich der vielfach modischen Fortschrittseuphorie nicht entziehen. Im Vorwort zum letzten Jahrgang 1848 „An den geneigten Leser“ schreibt „D. R.“ (die Redaktion), also Lobe: „Das grosse Wort unserer Zeit heisst: Fortschritt. Es ist das Wichtigste was es gibt, denn es liegt in ihm unsere höhere Bestimmung, es ist der Marschbefehl Gottes für die ganze Menschheit“(9) [II,644]. Wenn alle, die davon redeten, „auch wüssten, was es bedeutet“. Die längst fällige Korrektur kam ebenfalls durch Lobe. Wer sonst hätte sich zu dieser Zeit der ausufernden Berliner Phraseologie vom Fortschritt in den Weg stellen sollen außer vielleicht Brendel, der es aber nicht tat? Lobes Auseinandersetzung unter der Überschrift „Fortschritt“(10) [II,648] erschien vierteilig Anfang Februar bis Ende Mai 1848 und dürfte eine der besten Arbeiten sein, die er für die Musikzeitung verfaßt hat. Logisch gegliedert, sachlich geschrieben und ohne Abschweifungen vom Thema übertrifft sie Langes Darstellung bei weitem. Zu beginn des 1. Artikels bestätigt er den Fortschritts-Enthusiasmus seiner Zeit. „Alle, die diese Phrase aussprechen, zählen sich zur Fortschrittspartei“(11). Wer sie dagegen nicht täglich ausspreche, „der wird … kurz abgethan durch das Anathem: er ist ein Zopf“(11). Damit hat Lobe sein dankbares Thema „Fortschrittspartei also und Zopfpartei!“ gefunden, das er jetzt, vergleichbar dem Mittelstück einer herkömmlichen Sonatenhauptsatzform, richtiggehend ‚durchführt‘. Für Lobe ist

11. Johann Christian Lobe

267

das Streben nach Fortschritt keine Angelegenheit der Jetztzeit. Er zitiert Goethes bekannten Mephistopheles-Spruch von den Worten, die sich einstellen, wenn die Begriffe fehlen. Lobe will erkunden, worin der Fortschritt in der Tonkunst bestehen könnte. „Fortschritt kann zunächst in Bezug auf den einzelnen Tonkünstler gemeint sein“(12). Der junge Mensch bildet sich, wird älter und reifer. Aber die Geisteskräfte nehmen mit der Zeit wieder ab, und er will wissen, in welchem Jahre. Das ist rhetorisch gemeint. Jetzt belegt er mit Beispielen, daß bedeutende Komponisten in jungen wie in späten Jahren große Werke geschaffen haben. Und so geschehe es auch in allen anderen Gebieten des menschlichen Lebens. Wieder bringt er zeitgenössische Beispiele mit der Schlußfolgerung, „dass, wenn nicht jeder Junge darum, weil er jung, ein Gelbschnabel, auch nicht jeder Alte, weil er alt, ein Zopf sein muss.“ Vermutlich spielt Ärger mit. Die Rechtfertigung am Ende des vierten Artikels zeigt, daß man ihm oft genug sein Alter vorgeworfen hat. Im 2. Artikel bezieht Lobe den Begriff (Lobe schreibt immer: ‚Phrase‘) Fortschritt auf den Verlauf der Musikgeschichte. Wenn man ihn so versteht, muß die Musikgeschichte als Ganzes in eine vollkommenere überführt werden. „Soll die Phrase: unsere Zeit ist die Zeit des Fortschritts, etwa heissen: nach Beethoven und bis in die Gegenwart hinein wimmelt es von Tongenien, die diesen Meister übertreffen …?“(13). Die Antwort versteht sich von selbst. „Wenn mancher Schreiber der Jetztzeit nach Betrachtung einer Erstlingscomposition sich zu sagen getraut: ihr Verfertiger hat keine Zukunft, warum dürfte ich nicht hinschreiben: die Tonkunst hat keine Zukunft mehr? Jener spricht dem Geiste des Individuums ab, was ich dem Geiste der Kunst wegdisputirte: die Fortschrittsfähigkeit. / Aber dass mich Gott behüte vor dem Einen wie vor dem Anderen. Ich habe zu viele Propheten der Zukunft sich schon blamiren sehen, um nicht einiges Misstrauen in die Wahrsagekunst zu setzen. Ich habe von früheren Kritikern, die auf der Höhe ihrer Zeit standen oder zu stehen glaubten, gelesen: aus diesem oder jenem Componisten kann nichts werden, in unserer heutigen Sprache, er hat keine Zukunft; oder: die Kunst geht bereits mit weiten Schritten abwärts, während die also bewahrsagten Künstler und die also bewahrsagte Kunst rüstig vorwärts schritten – “(14). Er selbst sei in ein Alter eingetreten – Lobe ist nicht ganz 52 Jahre alt – „wo man an seiner eigenen Unfehlbarkeit sehr // zu zweifeln pflegt“(15). Die Bemerkung ist biographisch zu verstehen, sie erklärt jene Vorsicht im kritischen Urteil, die von vielen Lesern nicht mehr gewollt wird. Der 3. Artikel könnte dem Sinne, nicht der Sprache nach von Brendel stammen und widerlegt die Langeschen Thesen vom Primat der Musikkritik. Lobe behandelt die Frage, wer den Fortschritt in der Tonkunst befördere, die Praxis oder die Kritik. „Wenn ich aber vom Kritiker rede, meine ich nicht die Papageien, denen das Wort eingelernt worden, und die nun jeden Vorübergehenden mit: ‚Fortschritt! Fortschritt!‘ anschreien, ohne mehr dabei zu denken als jeder andere Papagei“(16). Lobe macht sich auf seine Weise über das „kritische Genie“ lustig, das er dem Leser imaginär vor Augen führt und von dem niemand weiß, um was es sich dabei handelt. Dieser amüsanteste Teil seiner Betrachtung endet mit dem Nachweis einer Nachrangigkeit des Kritikers in seinem Verhältnis zum Künstler. Ohne das Kunstwerk gibt es auch keine Kritik daran. „Ich fürchte nicht, wegen des bisher Gesagten

268

6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848

für einen Feind aller Kritik gehalten zu werden. Nur ihre anmaassende Selbstlobhudelei und Ueberschätzung wollte ich in’s Licht setzen. In einem folgenden Artikel werde ich den Schaden auseinanderzusetzen haben, welche diese Anmaassung auf das Gedeihen der Kunst ausüben muss. Dann endlich wollen wir um uns blicken und zu erkennen trachten, wo nützlicher Fortschritt sich zeigt“(17). Der 4. Artikel beginnt mit einer Selbstrechtfertigung. Leser der ersten drei Artikel konnten in Verbindung mit der Art seiner Redaktion auf die Vermutung kommen, Lobe sei ein zeitfeindlicher alter Mann, der mit den Erfordernissen der Zeit nicht mehr zurechtkomme und überfordert sei. Lobe erinnert daran, daß er es war, der Berlioz mit einer kaum noch zu steigernden Lobeshymne zu einer Zeit empfing, als der französische Komponist überwiegend als Wirrkopf angesehen wurde, und daß er sich deswegen einen bösen Kommentar seitens Zuccalmaglios einhandelte. In den „Signalen für die musikalische Welt“ konnte noch Mitte 1847 eine höhnische Berliner Nachricht „Berlioz ist in Berlin angekommen, um dort Geräusch zu machen“ erscheinen(18). Es war Lobe, der den Boykott gegen die neuromantische Schule beendete, den Fink verhängt hatte. In der Aufzählung der von ihm rückhaltlos anerkannten Genies der eigenen Zeit nennt er neben Berlioz auch Schumann und Gade, und er wirft Griepenkerl vor, in seinen Vorlesungen Haydn („Abgethaner Standpunkt“), Mozart („überlebter Standpunkt“), Mendelssohn („nur klassisch, nicht romantisch“), Schumann („leider zurückgewendet zum Klassischen“), Gade („noch nichts Entschiedenes, erst im Werden“) in einer Weise abzufertigen, die jeden noch suchenden jungen Menschen in die Irre führe. Lobe will damit nichts zu tun haben. Er anerkennt die Meister der Gegenwart, aber er anerkennt auch die Meister der Vergangenheit und sieht in ihnen lebendige Gegenwart. „Kurz, ich gehe in Leben und Kunst nicht unter in der Gegenwart, so theuer sie mir ist; für mich ist auch das Schöne und Herrliche der Vergangenheit noch da, so wie ich mich vorahnend gern in die Zukunft zu schwingen suche“(19). Lobe wendet sich gegen die „Fortschrittsmänner“ nach Art eines Griepenkerl und versucht, die Schädlichkeit ihrer Lehren auf junge Gemüter nachzuweisen. „Ohne diese Urtheile hier einer Prüfung unterwerfen zu wollen, frage ich nur im Hinblick auf die der Muster bedürftigen Kunstjünger: wo sollen sie ihre Kunst studiren, wenn ihnen die Kritik alle ihre besten Muster mit einigen allgemeinen Aussprüchen zertrümmert vor die Füsse wirft?“ Die verneinende Fortschrittskritik ist für Lobe eine vernichtende Kritik, die vor allem für den Nachwuchs gefährlich sei, „wo die lebensvollen begeisternden Anschauungen der Werke fehlen, und er nichts dagegen empfängt als philosophische Phrasen, allgemeine Ansichten u. s. w., die die schaffende Kunstkraft eher lähmen als fördern“(20). Lobe schließt den Artikel mit einem Ausschnitt aus Koßmalys Vorrede zur Übersetzung des Ulibischeff-Buches über Mozart. Koßmaly, nach Lobe „gewiss kein Rückschrittsmann oder Konservativer“, will, wie Lobe meint, dem „Ueberlegenheitsgefühl“ der „gegenwärtig den Mund so voll nehmenden – sogenannten ‚Fortschrittspartei‘, die Mozart nur noch ein historisches Interesse zugestehen und … seine Opern für ‚Schablonenmusik‘ zu erklären beliebt“, einen „Dämpfer“ aufsetzen(20).

12. 1848. Das Ende der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15) (16) (17) (18) (19) (20)

269

AmZ XLIX/1, 6.1.1847, Sp. 1a; BmZ IV/4, 23.1.1847, S. [Ba-Cb]; Ein Wort über die Concertkritik, a. a. O. S. [Bb]; AmZ XXXII/17, 28.4.1830, Sp. 261–269; Lobe, a. a. O. S. 264; Lobe, a. a. O. S. 266; Lobe, a. a. O. S. 269; AmZ L/46, 15.11.1848, Sp. 744–745; An den geneigten Leser, AmZ L/1, 5.1.1849, Sp. 1; Lobe: Fortschritt, AmZ L/4+5+11+21, 1.2. + 2.2. + 15.3. + 24.5.1848, Sp. 49–51, 65–69, 169– 173, 337–341; Lobe, Fortschritt, a. a. O. Sp. 49; Lobe, Fortschritt, Sp. 50; Lobe, Fortschritt, Sp. 65; Lobe, Fortschritt, Sp. 67; Lobe, Fortschritt, Sp. 67–68; Lobe, Fortschritt, Sp. 169; Lobe, Fortschritt, Sp. 173; SfdmW V/27, 16.6.1847, S. 212; Lobe, Fortschritt, Sp. 339; Lobe, Fortschritt, Sp. 341.

12. 1848. DAS ENDE DER „ALLGEMEINEN MUSIKALISCHEN ZEITUNG“ Das Vorwort zum letzten, dem 50. Jahrgang der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ [II,644] wirkt bereits verdächtig zurückhaltend, wenn nicht gar resignierend. Man habe einige Erwartungen erfüllt. Die gebliebenen Mängel brauche die Redaktion nicht eigens herzuzählen, weil die Leser sie ohnehin sähen. Der Redakteur allein wisse von den Schwierigkeiten, sie zu beseitigen. Mit dem Ende des Jahrgangs 1848 stellte die „Allgemeine musikalische Zeitung“ ihr Erscheinen ein. Die Begründungen, die Verlag [II,699a] und der vermutlich selbst überraschte Redakteur Lobe [II,699b] gaben(1), sind eigentümlich und auch nur teilweise glaubwürdig. Die Zeit, heißt es, sei so weit auseinander gerissen, daß für eine allgemeine Zeitung kein Raum mehr bleibe, sondern nur noch für ein Blatt, das sich nach Art der Tageszeitungen und der Zeitschriften für Geschichte und Wissenschaft spezialisiere. Deshalb stelle man, unerwartet für Leser und Redakteur, das Erscheinen ein. Richtig daran dürfte sein, daß die Nachfrage nach der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ schon seit längerem in offensichtlich gleichmäßigen Dosen viel zu stark zurückgegangen war, um nicht im Interesse des Verlages daraus Schlußfolgerungen ziehen zu müssen. Offensichtlich drohte das Blatt für den Verleger und sein Verlagsprogramm zur Belastung zu werden, und es besaß zusätzlich angesichts des Abonnentenschwundes nicht einmal mehr den Wert eines hauseigenen Werbeträgers. Das ist wenigstens dem Vorwort zu entnehmen, mit dem Selmar Bagge rund anderthalb Jahrzehnte später die „Neue Folge“ der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ beginnen ließ. Das Argument von der Allgemeinheit der Zeitung ist nicht nachvollziehbar; denn weder die Brendelsche Zeitung noch die Senffschen „Signale“ noch Langes „Neue Berliner Musikzeitung“ waren wirklich spezialisierte

270

6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848

Zeitungen, es sei denn, man sähe das Eintreten Brendels für und das Kämpfen Langes gegen etwas bereits als Spezialisierung an. Überdies wäre es für den potenten Verlag ein Leichtes gewesen, die Zeitung in ihrem Sinne neu zu organisieren. Aber man hatte den richtigen Zeitpunkt verstreichen lassen. Die Zahl weitblickender Schriftleiter, die fähig sind, seriös und gleichzeitig erfolgreich Zeitung zu machen, ist zu allen Zeiten gering gewesen. Es bedarf eines unternehmerisch offenen Blicks für die Bedürfnisse. Wird Zeitung nicht markt-, sondern projektorientiert geleitet, muß viel Kapital zur Verfügung stehen und die Zeitung zu einem der Lieblingskinder dessen werden, der sie bezahlt, wie etwa die „Caecilia“, die jahrzehntelang ausschließlich durch Schott gehalten wurde. Rochlitz war zum richtigen Zeitpunkt gegangen, hatte aber, 1844 verstorben, zusehen müssen, wie sein Zeitungswerk schuldhaft seinen Glanz verlor. Mit der Wahl Finks zum Redakteur verpaßte Härtel die fällige Modernisierung und verübte für sein Blatt so etwas wie journalistischen Selbstmord auf Raten. Lobe konnte den Absturz nicht mehr aufhalten. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß Fink sowohl wie mehr noch Lobe durchaus kenntnisreich waren. Daß sie beide in die falsche Richtung blickten und die Zeitung dadurch in eine falsche Richtung lenkten, geriet allen Beteiligten zum Verhängnis. Vielleicht ist es überinterpretiert, aber das Verlagsabschiedswort läßt sich so lesen, als ob der Unternehmer Härtel sehr wohl gesehen hat, daß seine Zeitung an den Bedürfnissen vorbei abdriftete und daß er Brendels immer deutlicher werdende Tendenz nach einer von Lobe abgelehnten Parteiung für die neue Musik seiner Zeit erkannte und dagegen keine Opposition mehr betreiben lassen wollte, deren Erfolg er als nutzlos begriff. Schließlich war er ein Unternehmer, der in die Zukunft hinein planen mußte und die Gegenwart daher nicht einfach ignorieren oder boykottieren konnte. Durch den befolgten Ratschlag Mendelssohns, die angebotenen vier Opern Wagners („Rienzi“, „Fliegender Holländer“, „Tannhäuser“, „Lohengrin“) nicht in Verlag zu nehmen, war Härtel schon geschädigt genug. Es wäre die im Musikaliengeschäft vermutlich gewinnträchtigste Investition des ganzen Jahrhunderts gewesen, was der Verleger zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht ahnen konnte(2). Ganz sicher aber erkannte er seine Zwangslage, durch die auf Fink zurückgehende Redaktionspolitik in seiner verlegerischen Entscheidungsfreiheit gehemmt zu sein. Mit Wagner oder Liszt hatte das noch nichts zu tun. Eine verschworene Leserschaft besaß die Lobe-Zeitung allenfalls noch in einem kleinen Kreis sicherlich gebildeter Musiker und Musikgelehrter mit einem historisch ausgerichteten Geschmack. Als dann 1847 auch noch die Konkurrenz der marktagressiven „Neuen Berliner Musikzeitung“ dazukam, ging es mit dem traditionsreichen alten Breitkopf & Härtel-Blatt, das einmal Musikgeschichte geschrieben hatte, binnen Jahresfrist zu Ende. Gerechterweise muß eingeräumt werden, daß Lobe mit nur wenigen Jahren Redaktionsarbeit nicht viel Zeit hatte, reorganisierende Pläne umzusetzen, und daß er weiter als Fink dachte und dessen Feindseligkeiten abstellte. Im Gegenteil, Lobe hatte dem jungen Berlioz 1837 in Schumanns (nicht in Finks) Zeitung eine glühende Huldigung entgegen gebracht, die alles überstieg, was Schumann selbst hätte dem jungen Franzosen werbend als Hilfe angedeihen lassen können(3). Schumann bekam auch sofort Schwierigkeiten mit Zuccalmaglio. Der dachte nämlich anders

12. 1848. Das Ende der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“

271

und hielt die Vehmrichter-Ouvertüre, um die es ging, für ein verfehltes Werk. Das hatte er wohl auch in einem eigenen Artikel geschrieben, doch Schumann zeigte keine Lust, ihn abzudrucken. Offensichtlich kam es zu Auseinandersetzungen. Auf der einen Seite dachte Schumann nicht daran, Lobes Urteil zurückzunehmen, auf der anderen Seite konnte er nicht auf Zuccalmaglio verzichten, der ihm unter dem Decknamen „Dorfküster Wedel“ viele gute Einsendungen brachte. So erschien im Dezember desselben Jahres ein großangelegter Dreiteiler, in dem Zuccalmaglio mit zahlreichen Notenbeispielen seine These von der Ungekonntheit der Ouverture begründete. Schumann ist der Rückzug sicherlich peinlich gewesen. Er zog sich mit einem „Nachwort“ aus dem leidigen Disput heraus. Alle drei müßten Zugeständnisse machen: Lobe habe die Mängel verschwiegen, Wedel, also Zuccalmaglio, habe ein Urteil abgegeben, ohne die Partitur gesehen und das Stück „von einem großen Orchester in Vollkommenheit“ gehört zu haben, Berlioz, der wisse, daß sein Stück kein Meisterstück sei. „So hätten wir es denn mit dem Werk eines achtzehnjährigen Franzosen zu thun, der wenn auch etwas weniger Genie hat, als der Eine, doch auch mehr Schöpferkraft, als der Andere will“(4) [II,345]. Zuccalmaglio hatte sich schon ein Jahr zuvor in seinen „Aufzeichnungen Wedels“ unter dem ironisch durchgeführten Stichwort „Veralten“(5) [II,325] gegen die Ansicht gestellt, echte alte Musik könne je veralten. Aus dem Aufsatz spricht Abneigung gegen Rossini, der mit Händel verglichen wird. Lobe war Schumann verpflichtet. Schumann hatte seinerzeit Lobe mehrfach rezensieren und persönlich zu Wort kommen lassen. Jetzt ist es Lobe, der ihm endlich auch die „Allgemeine musikalische Zeitung“ öffnet und seine 2. Symphonie ausführlich besprechen läßt. Die unerwartete Einstellung der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ löste Überraschung aus und führte zu entsprechenden Reaktionen. Die aufschlußreichste findet sich in den „Signalen für die musikalische Welt“, die scharfsichtig zwischen dem zeitgleichen Untergang anderer Blätter und dem der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ unterscheidet und an die vorgegebenen zeitpolitischen Gründe nicht so recht glauben will(6). Mit typischer Signale-Ironie kommt Senff zu dem Schluß, diese Einstellung sei längst fällig gewesen. Abgesehen von dem Untergang der gesamten belletristischen Presse jener Zeit und dem schon vorher eingestellten „Kritischen Repertorium“ Hermann Hirschbachs verschwanden ja mit der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ auch die ebenfalls seit längerem kränkelnde „Allgemeine Wiener Musik-Zeitung“ August Schmidts, die zu diesem Zeitpunkt von Luib redigiert wurde, die Männerchor-Zeitung „Teutonia“, die im Schott-Verlag erscheinende Musikzeitschrift „Caecilia“ (an deren Stelle seit 1850 die breiter und zeitgebunden journalistischer und beweglicher angelegte „Süddeutsche Musik-Zeitung“ trat) und die „Berliner musikalische Zeitung“ Carl Gaillards, die in die „Neue Berliner Musikzeitung“ aufging. Ähnliche Vorgänge vollzogen sich in Frankreich und Italien. Mit den Ereignissen schon vor 1848 fielen die Konzessionen. Dadurch konnten die zensurfreien politischen Zeitungen belletristische Elemente aufnehmen, sich zusätzlich über Anzeigen finanzieren, ein Feuilleton aufbauen und damit vom typischen ‚Eingesandt‘ lösen, ohne es aufzugeben. Die „Signale“ nennen die „Allgemeine musikalische Zeitung“ „unser aller Großmutter“(7). „Waren unsere Sympathien für diese Heilige auch nicht gerade sehr warm, unser Glaube an ihre

272

6. Kapitel: Die Allgemeine musikalische Zeitung 1818 bis 1848

journalistische Wunderthätigkeit nicht gar groß, so haben wir doch ihr Alter respectirt, sie für unvergänglich, für unendlich gehal- // ten. Und doch müssen wir uns jetzt sagen, sie hatte Recht, ihren Lebenslauf zu beschließen, so sehr wir auch dadurch überrascht sind, so große Klage wir auch vernehmen von Leuten die sie niemals lasen und jetzt lesen möchten, da sie eingegangen; sie hat ihr Tagewerk mit Ehren vollbracht, ihre Zeit war um. Die Verleger mögen dies schon früher gefühlt und nur das 50. Jahr abgewartet haben. Das Jahr 1848 ist daher wohl unschuldig an dem Ende dieser Gerechten, wir wollen sie ihm nicht auch noch aufladen, es hat zu tragen schon genug“(8). Die drei anderen, besser geführten Musikzeitungen, „Neue Zeitschrift für Musik“ (Brendel), „Signale für die musikalische Welt“ (Senff), „Neue Berliner Musikzeitung“ (Lange) blieben von den Ereignissen weitgehend unberührt, außer daß sie aus dem Abonnentenstamm erbten. Schwieriger war es für die Mitarbeiter, von denen viele ihr Betätigungsfeld verloren und nicht beim Haupterben, der „Neuen Berliner Musikzeitung“ ankamen. (1) Breitkopf & Härtel: An die Leser, AmZ L/52, 27.12.1848, Sp. 859/860q; J. C. Lobe: Abschied des Redakteurs, a. a. O.; (2) Helmut Kirchmeyer: Richard Wagner und Felix Mendelssohn-Bartholdy, Programmheft III, Bayreuther Festspiele 1981, 11. S.; (3) NZfM VI./37, 9.5.1837, S. 147–149; (4) NZfM VII./50, 22.12.1837, S. 199a; (5) NZfM V./35, 28.10.1836, S. 139a–140b; (6) Die allgemeine musikalische Zeitung, SfdmW VII/2, 3.1.1849, S. 9–10; (7) SfdmW, a. a. O. S. 9; (8) SfdmW a. a. O. S. 9–10.

7. KAPITEL: DIE NEUE (LEIPZIGER) ZEITSCHRIFT FÜR MUSIK 1834 BIS 1845. ROBERT SCHUMANN 1. MARKTSITUATION Die Voraussetzungen für die Gründung der Schumannschen Zeitschrift im April 1834, die erst „Neue Leipziger Zeitschrift für Musik“ und ein halbes Jahr später „Neue Zeitschrift für Musik“ hieß, waren im Prinzip dieselben wie diejenigen, die zehn Jahre zuvor bei der Gründung der Berliner und der Mainzer Zeitschrift eine Rolle gespielt hatten. Die neuen Gründer, vornweg Schumann selbst, wußten ebenso, daß sie ihr Blatt anders als bislang üblich würden führen müssen, wollten sie die Konkurrenz zur „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ durchstehen und vor allem ihre neuartige Botschaft über den Tag hinaus in die Zukunft hinein verkünden. Schumann fand in Deutschland bzw. im deutsch sprechenden Raum von Deutschland und Österreich fünf Blätter vor: die „Allgemeine musikalische Zeitung“, an deren Spitze jetzt Fink stand, die Mainzer „Caecilia“ unter Gottfried Weber, Ludwig Rellstabs bei Trautwein in Berlin seit 1830 erscheinende Ein-MannZeitung „Iris im Gebiete der Tonkunst“, den in Wien herauskommenden „Allgemeinen musikalischen Anzeiger“ von Castelli, und schließlich den „Allgemeinen musikalischen Anzeiger“, der in Frankfurt erschien und dessen Redakteur, Herausgeber und Verleger in einer Person Fischer hieß. Zu all diesen Zeitungen, bei denen es sich im heutigen Sinne um Zeitschriften handelte, bezog die Schumannsche Gründung Stellung(1). (1) Näheres bei Imogen Fellinger: Verzeichnis der Musikzeitschrtiften des 19. Jahrhunderts, Bosse-Verlag Regensburg 1968.

2. STRUKTUR Schumanns neue Zeitschrift zählt nicht nach Jahrgängen, sondern nach Halbjahresbänden. Sie behält bewährte Zeitungsstrukturen bei und unterscheidet sie in der äußeren Form nicht von deren Mustern. Sie bringt theoretische und historische Aufsätze, kunstästhetische, grammatische, pädagogische, biographische, akustische Abhandlungen, Nekrologe, Beiträge zur Bildungsgeschichte bedeutender Künstler, Berichte über neue Erfindungen oder Verbesserungen, Beurteilungen besonderer Virtuosenleistungen und Operndarstellungen. Unter der Rubrik ‚Zeitgenossen‘ finden sich Skizzen über mehr oder weniger berühmte Künstler, unter der Rubrik ‚Journalschau‘ Nachrichten über andere Blätter, auch Auszüge aus ihnen und anderen ausländischen Periodika und alten Zeitungen, daneben Antikritiken.

274

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

Die Journalschauen stellten etwas Neues dar, das man in dieser Systematik weder in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“, noch in der „Berliner allgemeinen musikalischen Zeitung“ noch in der „Caecilia“ kannte. Schumann war keineswegs der erste, der neben Werken auch Musikzeitungen kritisch aufführte. Stoepel begann damit 1828 in seiner Frankfurter „Allgemeinen Musikzeitung“ und zitierte dabei auch seine eigene Münchner Nachfolgezeitung. Es handelte sich nicht um eine eigentliche ‚Journalschau‘, wie man sie später entwickelte, in der man die Aufsätze und besonderen Meldungen anzeigte, die in anderen Blättern erschienen waren, sondern um eine Aufzählung von fünf Musikzeitungen in Verbindung mit kritischen Würdigungen. Stoepel nahm dabei Gelegenheit, eine nicht besonders günstige Bemerkung Webers in der „Caecilia“ gegen seine Offenbacher Musikzeitung etwas ironisch zurückzuweisen. Im Übrigen war die „Übersicht“ mit etlichen Fortsetzungen viel zu freundlich gehalten, um kritische Gegenbemerkungen befürchten zu müssen(1) [II,204]. Die belletristische Abteilung bringt kürzere Erzählungen, Phantasiestücke, Szenen aus dem Leben, Anekdoten und Humoristisches sowie Gedichte, die sich besonders zur Komposition eignen. Korrespondenzen werden nur aufgenommen, wenn sie Musikleben schildern. Zu Beginn des Blattes stand die Zeitschrift mit Paris, London, Wien, Berlin, St. Petersburg, Neapel, Frankfurt, Hamburg, Riga, München, Dresden, Stuttgart, Kassel und einigen anderen Städten kleineren Formats in Verbindung. Es gibt eine Abteilung Miszellen, in der für einen eigenen Artikel zu kurz erscheinende gemischte, humoristische wie nachdenklich stimmende Arbeiten abgedruckt werden. Eine Chronik dient dazu, die Namen von Künstlern möglichst oft in Erinnerung zu bringen. Sie besteht aus Nachrichten, referierenden Artikeln, Verlautbarungen über Reisen und Aufenthalt der Künstler, Konzertanzeigen und Mitteilungen über besondere Vorfälle. Dazu kündigt man für den Fall wachsender Teilnahme verlegerischerseits an, einen Preis auf die beste eingesandte Komposition auszusetzen. Eine den anderen Blättern unbekannte Neuerung war die Idee, einer jeden Nummer ein literarisches Zitat voranzustellen, das als eine Art von Motto zu betrachten war (Bernhard Schuster hat in seiner seit 1900 erscheinenden Halbmonatschrift „Die Musik“ Schumanns Technik vorangestellter Verse oder Sprüche nachgeahmt; anders als bei Schumann stehen sie allerdings mit den nachfolgenden Hefttexten nur hin und wieder in einem Sachzusammenhang). In den früheren Bänden überwiegen Werkbesprechungen. Die „Neue Zeitschrift für Musik“ kündigte ihre Richtung, wie bei Neuerscheinungen üblich, in ihrer ersten Nummer an, die das Datum 3. April 1834 trägt [II,290]. Die Sprachform unterscheidet sich grundlegend von derjenigen der bisherigen Blätter. Es fehlt das Pathos, die Klobigkeit, das Theatralische, der Zeigefingerstil und das Schulmeisterliche; es fehlen im Abschnitt, der sich über die Kritiken verbreitet, der Hinweis auf besondere Schärfe (darauf wird später abgehoben) und die Vokabel von der ‚Unparteilichkeit‘. Man will sich überwiegend der Klaviermusik widmen, sowohl auf schätzbare, aber übergangene oder vergessene ältere Musik wie auf talentvolle, aber unbekannte Komponisten, die ihre Manuskripte eingesandt haben, aufmerksam machen. Besondere Arbeiten sollen doppelt besprochen, zur selben Gattung gehörende als Einheit zusammengestellt werden. Die Leistung, nicht der

3. Leipzig gegen Leipzig. Konkurrenzwertungen

275

Einsendetermin bestimmt die Schnelligkeit, mit der die Besprechung erfolgt. Der Schlußabsatz war geeignet, für das neue Objekt einzunehmen: „Künstler sind wir denn und Kunstfreunde, jüngere, wie ältere, die wir durch jahrelanges Beisammenleben mit einander vertraut und im Wesentlichen derselben Ansicht zugethan, uns zur Herausgabe dieser Blätter verbunden. Ganz durchdrungen von der Bedeutung unsers Vorhabens legen wir mit Freude und Eifer Hand an das neue Werk, ja mit dem Stolz der Hoffnung, daß es als im reinen Sinn und im Interesse der Kunst von Männern begonnen, deren Lebensberuf sie ist, günstig aufgenommen werde. Alle aber, die es wohl meinen mit der schönen Kunst der Phantasie, bitten wir, das junge Unternehmen mit Rath und That wohlwollend zu fördern und zu schützen. – / Die Herausgeber“(2). (1) AMz -/7–9, 23., 26., 30.1.1829, Sp. 53–56, 61–64, 65–68); (2) NLZfM 1/1. 3.4.1834, S. 1q–2q.

3. LEIPZIG GEGEN LEIPZIG. KONKURRENZWERTUNGEN Das für Schumann gefährlichste Blatt, gegen das es sich zu behaupten galt, war natürlich Finks „Allgemeine musikalische Zeitung“, die in derselben Stadt erschien. Deren Rezensionswesen betrachtete man als stereotyp und veraltet. Schon in der ersten Journalschau stand sie in Schumanns Kritik, verwandelte Konkurrenz in Gegnerschaft und brachte die Tendenz auf den Nenner „höchste Toleranz, gleich weit entfernt vom Lob der Begeisterung und vom Tadel der Verwerfung; ihr Wahlspruch: leben und leben lassen“(1). Mit Achtung hingegen beobachtete man die Mainzer „Caecilia“ Webers im Verlagshaus Schott. Man sah in ihr jedoch ein Organ „mehr für die, welche es mit der Kunst wohl meinen … als gegen jene, die derselben gefährlich sind“(2). Gebrochen war die Haltung zu Ludwig Rellstabs Privatblatt „Iris im Gebiete der Tonkunst“. An sich grollte man der seinerzeit berühmten Zeitung nicht, weil Rellstab nach Meinung der Schumann-Redaktion als Erster gegen die „verkühlte kritische Sprechweise, gegen den Geist der Unentschiedenheit, der sich den Schein von Unparteilichkeit gab, um seine Charakterlosigkeit zu verbergen“(3), gekämpft habe, was nicht richtig ist. Schumann war zu jung, um die Marxsche Zeitung und ihre Angriffslust bewußt erlebt zu haben. Daher konnte er deren Bedeutung nicht richtig würdigen, vermutlich auch nicht nachprüfen. Man stieß sich allerdings an den vielen Fehlbeurteilungen, die sich Rellstab zu Schulden kommen ließ und die Künstlerpersönlichkeiten betrafen, denen man im Kreise um Schumann höchste Wertschätzung entgegenbrachte, wie beispielsweise Chopin. Aber einem Chopin wurde, wie Schumann, aus Feindschaft gegen die Neuromantiker auch von Fink übel mitgespielt. Für Schumann war das insofern arg, weil er es ablehnte, seine eigenen Kompositionen in der eigenen Zeitung heraustellen zu lassen. Dadurch blieb er in beiden führenden Blättern ohne Echo. Schumann hätte das voraussehen müssen, schließlich war er es, der den Krieg eröffnet hatte. Er durfte sich nicht wundern, wenn sich Fink auf seine Weise wehrte. Schumann wird es eingerechnet und seiner Idee folgend in Kauf genommen haben. Ganz außer Diskussion stand der in Wien

276

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

im Hause Haslinger unter J. F. Castelli erscheinende „Allgemeine musikalische Anzeiger“, zu dessen harmlos friedfertiger Nachrichtenübermittlungs-Tendenz man nicht allzuviel zu sagen hatte. „Sie ist durchweg naiv, bescheiden, so nach Art der ‚Dorfzeitung.‘ Zu Zeiten guckt aber auch eine Faust heraus, der man es ansieht, daß sie derber anfassen könnte, wenn sie sonst wollte“(4). Überaus feindlich hingegen stellte man sich dem in Frankfurt herauskommenden (gleichbetitelten) „Allgemeinen musikalischen Anzeiger“ entgegen, dessen Urteile unbedingt falsch seien, weil, so klingt es heraus, die Verantwortlichen nichts von der Sache verstünden. „Aber, Wiener Anzeiger, du bist mir in deiner schlichten Weise um vieles lieber, als der Frankfurter mit seiner matten Klarheit, mit seinem Haschen nach Epitheten, die alle daneben schießen und mit seinem Holz-Arm, der nach dem Land der Schönheit hinstarrt“(5) und ein ganz und gar verkehrtes Bild der musikalischen Lage gebe. Der Frankfurter Anzeiger hat historisch kaum eine Rolle gespielt. Dagegen fielen zwei französische Blätter sehr ins Gewicht, die in Deutschland mangels eigener Unterrichtungsquellen Verbreitung gefunden hatten und die man in den verschiedensten Journalschauen der damaligen Zeit immer wieder besprochen findet: die Pariser „Revue musicale“ und die Pariser „Gazette musicale“. Beide konnten in ihrer schein-spirituell verschleiernden Darstellungsweise den neuen Schumannschen Vorstellungen nicht genügen (6). Schon der 2. Absatz der ersten Journalschau 1834 geht von der Existenz verschiedenartiger Urteilssequenzen aus: „Durch Zusammenstellung entgegengesetzter Urtheile über dieselbe Sache glauben wir dem Gegenstand ein besonderes Interesse zu geben“(7). (1) (2) (3) (4) (5) (6)

Journalschau, NLZfM I./46, 8.9.1834, 182a–183b, Z:183a; Journalschau, NLZfM I./48, 15.9.1834, S. 190b–191b, Z:190b; Journalschau, NLZfM I./50, 22.9.1834, S. 198a–199b, Z:198b; Journalschau, NLZfM I./53, 2.10.1834, S. 210b–211a, Z:210b; NLZfM I./57, 16.10.1834, S. 226b–227a, Z:226a; Journalschau, NLZfM I./58, 20.10.1834, S. 230a–232b + NLZfM I./67, 20.11.1834, S. 266b– 268a + NLZfM I./68, 24.11.1834, S. 270a–272a; (7) Journalschau, NLZfM I./46, 8.9.1834, S. 182a.

4. ZIELOBJEKT KLAVIERMUSIK Mußte schon die „Berliner allgemeine musikalische Zeitung“ in der für ihr Verständnis verzweifelten Situation zusehen, wie das Salonvirtuosentum zum Unwesen wurde, sich unkrautartig vermehrte und den aus Berufung und Beruf wirkenden Künstler in eine immer schwieriger werdende soziale Lage drängte, so galt das für Schumanns Zeit in noch höherem Maße. Man kann nicht sagen, daß die Leipziger Zeitung mit dem Bestreben gegründet wurde, sich nur um Klaviermusik zu kümmern und sich dadurch aus weiser Erkenntnis auf ein einziges künstlerisches Gebiet in einem Gesamtrahmen beschränken zu wollen, der sonst nicht mehr zu überblicken gewesen wäre. Das läßt sich vordergründig aus der Erstankündigung der Zeitung ableiten. Möglicherweise muß man die Schlußfolgerung überdenken. Der

5. Das Programm

277

Schlendrian, um mit Schumann zu sprechen, fand seinen Nährboden überwiegend auf dem Klavierfelde. Eine Zeitschrift, die sich als Kampfblatt gegen die Mittelmäßigkeit und die allzu vielen Unberufenen verstand, mußte den Gegner im eigenen Lager aufsuchen. Für die Mitarbeiter hieß das, sich dem verheerten Gebiet der Klaviermusik zuzuwenden. Wer um 1834 auf billige Weise schnell zu Ansehen, besser, zu Geld zu kommen wünschte, der komponierte keine Lieder oder Streichquartette oder Symphonien, sondern machte Rondos und Potpourris und Variationen und Charakterstücke und Sonatinen für Klavier. Dazu gesellte sich die beliebte Form der Opernparaphrasen, denen die Verfertiger oder die Verleger schön klingende und dabei inhaltslose Titel gaben und sich dabei recht gern bei den nicht rechtlich geschützten Originalverlegern bedienten. Es fanden sich Leute genug, die das, was längst in die Subkultur abgesunken war, als zeitgenössische Kunst kritischwissenschaftlich vertraten. Was dagegen Schumanns neue Zeitschrift wollte, vielmehr, was sie nicht wollte, um sich von den anderen zu unterscheiden, das drückte unmißverständlich das mottoartige Shakespeare-Zitat aus, das der ersten Nummer vom 3. April 1834 vorangegeben wurde: „Die nur ein lustig Spiel, Geräusch der Tartschen / zu hören kommen, oder einen Mann / Im bunten Rock, mit Gelb verbrämt, zu sehen, / Die irren sich. Shakspeare“(1). (1) NLZfM I./1, 3.4.1834, S. 1 (Tartsche = Schildform ab Mitte 14. Jahrhundert mit einer Aussparung für Lanze oder Degen). Der deutsche Text beruht auf der Shakespeare-Ausgabe (1775– 1782) von Johann Joachim Eschenburg und befindet sich im Schauspiel über Heinrich VIII.

5. DAS PROGRAMM Wer den Künstler erforschen will, so heißt es im Vorspruch der ersten Nummer, der besuche ihn in seiner Werkstatt. Es sei notwendig geworden, auch ihm ein „Organ zu verschaffen, das ihn anregte, außer durch einen direkten Einfluß, noch durch Wort und Schrift zu wirken, einen öffentlichen Ort, in dem er das Beste von dem, was er selbst gesehen im eigenen Auge, selbst erfahren im eigenen Geist, niederlegen, eben eine Zeitschrift, in die er sich gegen einseitige oder unwahre Kritik vertheidigen könne, soweit sich das mit Gerechtigkeit und Unparteilichkeit überhaupt verträgt“(1). Dieses Programm ist von Schumann mit schnell wachsendem Erfolg beibehalten worden. Die überschäumende, teilweise fast beschwörende Begeisterung der Herausgeber sticht von der würdevollen Steifheit des Finkschen Traditionsunternehmens scharf ab und wirkt antipodisch. (1) NLZfM I./1, 3.4.1834, S. 1q–2q, Z:1.

278

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

6. GUSTAV NAUENBURGS „RATIONELLE“ KRITIK Die angekündigte Stellungnahme zum Verfahren Kritik folgte schon am 15. Mai 1834 mit einem Aufsatz Gustav Nauenburgs. Für Nauenburg ist Kritik Philosophie. Deshalb nennt er seine Auseinandersetzung mit dem Thema „Kunstphilosophische Skizzen“(1) [II,294], gemeint ist Musikkritik. Es war ja ohnehin eine Eigentümlichkeit des neuen Organs, sich philosophisch und nicht nur, wie bei Marx und Weber, pragmatisch zu begründen. Die beanspruchte Vertiefung des kritischen Handwerks sollte wieder von der Philosophie ausgehen, nachdem Formalistik und Gefühlsurteil ihre negativen Ergebnisse gezeitigt hatten. So beginnt auch Nauenburg mit dem Nachweis der Unmöglichkeit einer formal-philologischen Kritik des 18. Jahrhunderts und ihrem ungenügenden Regelwesen, befehdet aber noch stärker jene Kritikergruppe, die aus Abwehr der Formalistik im Bewußtsein, ein Kunstwerk könne der Regel nach richtig und doch ästhetisch unschön sein, nur noch die Schönheit als das Maß aller Urteile gelten ließ. Denn gerade diese Leute seien ohne positive Sachkenntnis aufgetreten, seien Schöngeister und hätten Schöngeister als Kritiker bestellt und dadurch die Kritik stärker als die formalistischen, aber doch bieder strengen Kritiker der alten Schule herabgewürdigt, „denn sie vergaßen ganz und gar, daß selbst die schönsten Redensarten, die wohlgemeintesten Huldigungen, die geistreichsten Phantasieen über ein Kunstwerk eben so wenig ein gründliches Urtheil ausmachen als apodiktische Verdammungsfloskeln“(2). Wenig später wird man diese Art von Gefühlsschreiberei abwertend mit in die Kategorie des bloß Journalistischen einstellen, und noch später wird Franz Gundolf sie kurz und grob schlichtweg als ‚Edelquatsch‘ bezeichnen. Jetzt denkt man den Kritiker als Vermittler zwischen den Kategorien des Bewußten und des Unbewußten. Er soll beide Stadien durchlaufen. Weder die formalistische noch die geschmacksästhetische Kritik wird als Ideal der künftigen Kritik angesehen, sondern nur eine geschmacksästhetisch empfundene und formalistisch abgeklärt überprüfte Kritik. Die Betrachtung läuft folgerichtig auf eine Kritikeranalyse hinaus – die Inhalte von Bührlens Aphorismen leben neu auf. Die dank eines ausgebildeten Regelwesens apriorischen Urteile der vorkantischen Zeit sind unstatthaft, unstatthaft noch mehr die aus deren Gegnerschaft immer übertreibender auftretenden Geschmacksurteile. Kant zerstörte die Verbindlichkeit, die Geniezeit führte den Regelbruch ins Absurde. Mit dem geschwundenen Kunstkodex verband sich schwindendes kritisches Selbstbewußtsein. Man erkannte die mentale Gebundenheit des Kritikers, enthüllte seine vorgebliche Objektivität als fein verschleierten Subjektivismus und zerstörte damit endgültig den Glauben an eine Urteilsverbindlichkeit. Daraufhin und weil Kritik trotzdem notwendig war, bemühte man ein anderes philosophisches System und interpretierte es als Forderung, Subjekt und Objekt zur Deckung zu bringen, um mit der Darstellung des Künstlers auch sein Kunstwerk darstellen zu können. Ein Kritiker, der sich den Künstlern und deren Kunstwerken auf eigener Ebene zu nähern verstehe, werde im Sinne dieser Identität auch über das Kunstwerk bindende Aussagen machen können. Erneut begann die Suche nach dem kongenialen Kritiker, um mit dem soliden Kritiker endlich auch wieder ein solides Urteil zu erhalten. Das Urteil aber wird zum Urteil gleichzeitig

6. Gustav Nauenburgs „rationelle“ Kritik

279

über Kunstwerk und dem Kunstkritiker selbst. Schelling wirkt auf Schumann-Nauenburgs Bewertungsvorstellungen nachhaltig ein. Um den systembedingten Schwierigkeiten zu entgehen, konstruierte Nauenburg das, was er ‚rationelle‘ Kritik nannte, die weder formal noch geschmacksästhetisch allein, sondern beides gleichzeitig sein sollte. Damit führte er den Gedankengang zum Kunstwerk zurück, um das sich alle Kritik zu drehen hat. Der rationelle Kritiker verfolgt ein psychologisches Rezept, wie das ganze Nauenburgsche System psychologisch ausgelegt ist. Der Kritiker hat sich als Gefühlsmensch ohne Vorurteil oder Vorverständnis einem vom Kunstwerk ausgelösten künstlerischen Eindruck und Erleben hinzugeben und sich dabei so zu verhalten, wie ein Dilettant oder ein einfacher unausgebildeter Musikfreund es tun würde. Wenn er dann den „Kunstgenuß“ an sich selbst erfahren hat, muß er den Zustand erlebnisgesättigter Trance durch einen Gewaltakt abbrechen und jetzt, ins rationale Bewußtsein zurückgekehrt, durch Selbstzergliederung ausfindig machen, warum er einen solchen Kunstgenuß gehabt hatte. Die Lösung dieses psychologischen ‚Warum‘ setzt ihn in den Stand, die künstlerischen Mittel zu rekonstruieren, ihre Zweckmäßigkeit und Wirkungsweise zu untersuchen, weil der Eindruck ja nur vom Kunstwerk ausgehen konnte und es dann lediglich eine Frage der Genauigkeit der Selbstüberprüfung ist, die wirklichen Ursachen aller künstlerischen Wirkungsfolgen zu ermitteln. Später erkannte man dieses System, das bis Ende der vierziger Jahre herrschte, als einen eigenen kritischen Abschnitt im Verlauf der Kritikgeschichte und nannte das Verfahren ‚psychologische Kritik‘. Ihre Grenze ins eigene Jahrhundert hinein ließ man mit dem Beginn der historischen kritischen Methode verlaufen. „Der Zustand der künstlerischen Inspiration ist nie dauernd; die Vernunft geht bald zum hellen Gefühl ihrer selbst zurück. Galt es im Zustand des Genusses Vergessen aller Warums, aller Principien, so gilt es im Zustand des rationellen Kritisirens über die Gründe und den Werth der Kunstgenüsse, die deutlichsten und festesten Principien“(2). Nauenburg spricht vom Kritisieren „en gros“, das preisgegeben werden müsse. Er versteht darunter die schönflächigen Redensarten, die keine musikalischen Begründungen mitteilen und sich nur hinter einer guten Stilistik verschanzen; es geht um jene Kritiker, die man später einmal im Zeitungsjargon die ‚guten Schreiber‘ nennen wird, die das gewünschte ‚Lesefutter‘ liefern können. Der rationelle Kritiker dagegen muß „en detail“ urteilen. Er muß erleben und dann das Erlebnis im Kunstwerk und in dessen Analyse sachgemäß und terminologisch richtig begründen. Nauenburg beschwört Lessing: „Der wahre Kunstrichter folgert (mit Lessing) keine Regeln aus seinem Geschmack, sondern hat seinen // Geschmack nach den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache erfordert; er weiß, daß er als Einzelwesen eben so wenig im Besitz aller Schönheiten, als im Besitz aller Wahrheiten sein kann“(3). Das Recht auf Gleichzeitigkeit vieler künstlerischer Aussagen, das Marx aus praktischen Erwägungen aposteriorisch entwickelt hatte, erfährt seine tiefste Begründung. Der Parteilichkeit wird abgeschworen. Noch einmal wird versucht, aufgrund natürlicher Vorgänge oder solcher, denen man Natürlichkeit zuschreibt, eine künstlerische Allformel auszuarbeiten; sie dient nicht dazu, aus ihr eine Ideologie abzuleiten und sie mit einem Ausschließlichkeitsanspruch auszustatten. Jeder

280

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

möge seinen eigenen Kunstgeschmack haben, und es sei rühmlich, sich von ihm Rechenschaft zu geben. „Aber den Gründen, durch die man ihn rechtfertigen will, eine Allgemeinheit ertheilen, die, wenn es seine Richtigkeit hätte, ihn zu den einzig wahren Geschmack machen müßte, heißt sich zu einem eigensinnigen Gesetzgeber aufwerfen. Richter ist in der Kunst Republik – Niemand; zum Beurtheilen glaubt jeder berechtigt zu sein“(4). Nauenburg bestimmt den Begriff des Musikverstehens als einen Akt der stilkritischen Analyse: „Man kann nur dann sagen, daß man ein Kunstwerk verstehe, wenn man den Gang und Gliederbau nachconstruiren kann. Dieses gründliche Verstehen nun, welches, wenn es in bestimmten Worten ausgedrückt wird – Charakterisiren – heißt, ist das eigentliche Geschäft und innere Wesen der Kritik“(4). Der Todeskeim, der in dieser Vorstellung vom rationellen Kritiker und seiner vermittelnden Kritik liegt, sollte erst nach einer Inkubationszeit von zwei Jahrzehnten spürbar werden, dann aber nicht in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ sondern in der erst 1847 gegründeten „Neuen Berliner Musikzeitung“ ausbrechen; denn die Nauenburgschen Thesen schließen die Möglichkeit einer Umwendung des Kritikers als eines psychologisch selbstanalysierenden Betrachters zum produktiven Kritiker, der Wege weist und Postulate stellen kann und dem Künstler glaubt Anweisungen erteilen zu dürfen oder sogar zu müssen, nicht aus. Die Schwierigkeiten der späteren Kritik in der Zeit zwischen 1848 und 1854 sind mit Nauenburgs Vorstellungen aussagekräftig umrissen: „Die Kunstkritik soll aber nicht allein der Commentar zu schon vorhandenen, vollendeten, vielmehr das Organon zu neuen Kunstwerken sein. Ein Organon der Kunst überhaupt; also eine Kritik, die nicht blos erklärend und erhaltend, sondern die selbst producirend ist, wenigstens indirect durch Lenkung, Anordnung, Erregung; sie gleicht einem Piloten, der nach sicheren Principien der Steuermannskunst, die aus der Kenntniß des Globus gezogen sind, mit einer vollständigen Seecharte und einem Compaß versehen, das Schiff sicher führt, wohin es ihm gut dünkt. /// Die Kunstkritik ist somit ein ganz wesentlicher Theil der Kunsttheorie überhaupt und im eigentlichsten Sinn praktische, angewandte Kunstwissenschaft“(5). Macht man aus Kunstkritik Kunstwissenschaft, so wird aus Musikkritik Musikwissenschaft. Nauenburg erklärt die künstlerischen Regeln als „nothwendige praktische Folgen aus einer nicht willkürlichen, sondern in der Natur der Künste gegründeten Theorie“(6). Nur dürfe man nicht Theorie nennen, was in Wirklichkeit nur „Schulfuchserei und willkürliches Geschwätz“ sei(6). Damit ist die richtige Kunsttheorie als Kunstkritik diejenige, die zu entwickeln versteht, wodurch ein Kunstwerk in seiner Art und nach seinem Endzweck vollkommen wird. Solange nur immer „echte philosophische Köpfe“ die Werke der Kunst in der Absicht untersucht haben, die Ursachen zu entdecken, „worauf denn wohl der Eindruck beruhe, den sie auf das Gemüth machen“, meint Nauenburg in seinen kunstphilosophischen Skizzen weiter, „so lange haben auch immer Vernünftige dafür gehalten, daß durch dergleichen Untersuchungen Regeln entdeckt werden, deren Kenntniß auch dem genialen Künstler nützlich sein kann“(6). Nach einer Epoche, die die Regeln verwarf, geht der Sinn nun dahin, neue zu finden, die man nach Naturgesetzen glaubt aufstellen zu können. Die Nachteile einer Nau-

6. Gustav Nauenburgs „rationelle“ Kritik

281

enburgschen Kunsttheorie bekamen die stilbildenden Komponisten der zweiten Jahrhunderthälfte zu spüren, die mittels solcher Vorstellungen nicht be-, sondern abgeurteilt wurden. Nach Nauenburg unterscheidet sich der Kunstverstand vom gewöhnlichen gesunden Menschenverstand wie das musikalische Gehör vom gewöhnlichen Gehör. Es setzt umfassende Bildung voraus, muß angeboren sein und ständig geübt werden. Die Funktion der Kritik besteht darin, kunsttheoretische Regeln zu finden, die zu Postulaten erhoben werden können, sofern sie sich als übertragbar erweisen. Die allmähliche Hinwendung der Kritiktheorie auf eine Vormachtstellung des Kritikers vor dem Künstler ist bei Nauenburg in mehr als bloßen Ansätzen erkennbar, auch wenn sie sich noch so vorsichtig als Gleichgewicht zwischen Künstler und Kritiker versteht. Zur Schumannzeit bestand die kritisch tätige Personengruppe fast ausnahmslos aus praktizierenden Künstlern und nicht aus Journalisten, die irgendwann ihre Liebe zur oder ihr Geschäft mit Musik entdeckt hatten. Darauf war man ja seit Marx besonders stolz. Nauenburg muß sich mit dem möglichen Einwand beschäftigen, daß es Kunstwerke vor einer von ihnen abgezogenen Theorie geben könnte. „Allein dieser Satz beweist nicht, daß die Kunstwerke überhaupt ohne Theorie und Regeln zu Stande gekommen sind; denn am Ende ist’s ganz gleichgiltig, ob der Künstler nach Regeln verfährt, die vom abstracten Kunsttheoretiker aufgestellt sind oder nach Regeln, die er sich als Autodidakt selbst // gibt und abstrahirt, gleichviel ob aus eignen oder fremden Productionen. Oder meint man etwa, der geniale Künstler vollbringe sein Werk nach blindem Instinct, wie die Biene ihre künstliche Zelle macht?!! – “(7). Die Vorstellung von einer Theorie, die der Praxis immer vorangehe und nicht umgekehrt, ist natürlich kantischer Herkunft. Sie ergibt sich bei Kant aus der Unterscheidung zwischen technischer Praxis als Folgebestandteil der Theorie, und dem Freiheitsbegriff. Nauenburg stellt das Genie außer Frage, aber er beschwört die romantische Besonnenheit, wenn er zwischen einem berauschten unechten und einem begeisterten echten Genie unterscheidet. Was man auch immer von „genialen Zöglingen der Natur ohne Kunst und Schule schwatzen“ möchte, sei nichts als eine „fabelhafte Sage“, die den „Menschengeist entwürdigt“. In gewissem Sinne sei das Genie allerdings untrüglich und habe nichts zu lernen, wohl sei die Technik der Kunst erlernbar und müsse sogar erlernt werden. Jeder Künstler habe seine Lehrjahre hinter sich zu bringen, und das vollends in einer Epoche, in der er sich nicht einer schon gebildeten Kunstschule anschließen könne, sofern er nicht zurückstehen wolle(8). Nach dieser Auffassung wird die Kunst nicht allein durch das Kunstwerk vertreten, sondern auch durch die Theorie, weil beides Erscheinungsformen derselben Sache sind: „Die Construction eines in sich vollendeten Kunstwerks kann ohne Theorie und Regel gar nicht als möglich gedacht werden. Das Genie kann, als solches, ohne Studium, ganz verfehlte Kunstproducte hervorbringen; ja es kann ohne erworbene Bildung zur genialen Rohheit absinken, die der echten Kunst ein Gräuel ist. / Der wahre Genius ist geweiht – nicht berauscht; durch Geist begeistert – durch Verstand geläutert; durch Natur befähigt – durch Studium gereift… . / Durch das Kunstwerk soll die Kunst empfunden, durch die Theorie begriffen werden. Die praktischen Künstler können es den geistvollen und kunstsinnigen Theoretikern nur

282

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

Dank wissen, wenn sich diese bemühen, das Wesen der Kunst in allen Theilen klar vor Augen zu legen. Ein deutliches Wissen, was ich zu thun und zu lassen habe, ist sicherer und besser als ein dunkles, instinctartiges Gefühl. Jenes ist fest und unwandelbar; dieses oft mancherlei Zufällen und Veränderungen unterworfen. / Wahre entwickelte Theorie und Regeln lehren den Künstler bestimmt beurtheilen, was zur Vollkommenheit seines Werks gehört und was nicht; sie sind die sicheren Wegweiser im Gebiet der Kunst, und es verräth unleidlichen Stolz, einen Wegweiser nicht hören zu wollen, der die Gänge so mancher früheren Genies beobachtet, alle Fehltritte bemerkt, alle Abwege erkundet, und schon so Manchen glücklich bis auf die ersteigliche Höhe der Vollkommenheit hingewiesen hat“(8). Die Kritik dient der Bereinigung der Theorie. Die Theorie ist der Wegweiser, und es verriete unleidlichen Stolz, einem Wegweiser nicht zu folgen. Weiter geht Nauenburg noch nicht. Die Konsequenzen werden erst 15 Jahre später gezogen. Dann ist die Kritik Wegweiser wie bei Nauenburg, aber der Künstler der ausdrücklich von ihr Gewiesene; denn wenn die Kritik die Theorie läutert und die geläuterte Theorie den Künstler leitet, dann kann sich der Künstler auch unmittelbar von der Kritik und nicht auf dem Umweg über die Theorie leiten lassen. Das sind Folgerungen, die sich Ende der vierziger Jahre beinahe zwangsläufig ergeben. Die nächste von Nauenburg zu beantwortende Frage ergibt sich aus der naheliegenden Überlegung, ob der Künstler durch die Regelbildung und die theoretische Weisung nicht in seinem ursprünglichen Schaffensimpuls und vor allem in seiner Originalität gehemmt werden müsse. Nauenburg verneint dies. Die Lösung aber, die er anbietet, ist keine andere als die, mit der Schiller in seiner Abhandlung „Anmut und Würde“ die Problematik des kantianischen kategorischen Imperativs auszuräumen suchte. Wer das Sittengesetz erfüllt, aber unter dem Druck steht, es erfüllen zu müssen, um nicht sittenwidrig zu handeln, der lebt in Würde. Wer sich aber mit dem Sittengesetz so vermählt hat, daß er das Gesetz als nahezu eigene Natur erfährt und somit gar nicht mehr anders als sittlich handeln kann, sofern er nicht seine Natur vergewaltigen will, der erst handelt in Anmut als dem eigentlichen Endzweck menschlich-geistiger Selbstverwirklichung. Die Forderung, sich einem Gesetz zu unterwerfen und darüber hinaus das Gesetz so zu vergeistigen, daß seine Erfüllung nicht bloß aus dem Geist der Würde, sondern aus dem der Anmut erfolge, wird in Ableitung auch für alle Komponiermethoden jeweils aufs neue erhoben werden müssen, weil es dem Komponisten nur darum gehen kann, sich bei einem Höchstmaß an regelhafter Strenge mit einem Höchstmaß an kompositorischer Freiheit zu bewegen, sich der Regel also so zu bedienen, daß sie nicht mehr als Fessel, sondern als heilsames Regulativ vor Ausweitung ins Grenzenlose empfunden wird. Ob Nauenburg die Schillerschen Thesen gekannt hat, geht aus seinen kunstphilosophischen Skizzen nicht hervor, doch muß dies angesichts der damaligen Schiller-Verehrung angenommen werden, zumal er Schiller mit einer Betonung zitiert, die auf dasselbe hinausläuft: „Die Kritik muß mir jetzt selbst den Schaden ersetzen, den Sie mir zugefügt hat. Und geschadet hat sie mir in der That; denn die Kühnheit, die lebendige Gluth, die ich hatte, ehe mir noch eine Regel bekannt war, vermisse ich schon seit mehreren Jahren. Ich sehe mich jetzt erschaffen und bilden, ich beobachte das Spiel der Begeisterung und meine Einbildungs-

6. Gustav Nauenburgs „rationelle“ Kritik

283

kraft beträgt sich mit minderer Freiheit, seitdem sie sich nicht mehr ohne Zeugen weiß. Bin ich aber erst so weit, daß mir Kunstmäßigkeit zur Natur wird, wie einem wohl gesitteten Menschen die Erziehung, so erhält auch die Phantasie ihre vorige Freiheit wieder zurück, und setzt sich keine anderen als freiwillige Schranken“(9). Kunstmäßigkeit wird zur Natur selbst und löst damit als Zwang gleich Freiheit die Gebundenheit als Zwang ab. Schiller wird als geschichtliche Norm ausgespielt – und der Artikel verwahrt sich am Ende noch einmal gegen die manipulierte künstlerische Inspiration, die ja als Hauptgegner aller künstlerischen Kritik aufzutreten pflegt: „Jener Begriff von der künstlerischen Begeisterung, den manche Dichter in Umlauf gebracht haben, als wären sie außer sich, und erhielten wie die Pythia von einer fremden Gottheit ergriffen, ihnen selbst unbewußte Inspirationen: jener Begriff (selbst nur eine leere Erdichtung) paßt am allerwenigsten auf die complicirten Schöpfungen der Tonkunst. Die musikalische Ensemble- und Fugen-Kunst ist eine der besonnensten Hervorbringungen des menschlichen Geistes. / Kunst kommt her von können oder von kennen. Wer kennt ohne zu können, ist ein Theorist, dem man in Sachen des Könnens kaum traut; wer kann ohne zu kennen, ist ein bloßer Praktiker oder Handwerker; der echte Künstler verbindet beides“(10). Wenige Wochen später folgte in einer Korrespondenz aus Wien vom 3. Juni 1834 die erste wissentlich erhellte praktische Anwendung der neuen kritischen Thesen. Nauenburg wünschte die Hingabe und das Kunsterlebnis durch Hingabe und anschließende wissenschaftliche Erkennung, warum ein solches Erlebnis stattfand. Die Frage bleibt offen, was geschieht, wenn kein Kunsterlebnis eintritt. Dann muß der Grund aufgesucht werden, der das Erlebnis verhinderte. Wieder steht man vor einem Dilemma; denn ebenso gut kann es statt am Kunstwerk an der mentalen Gebundenheit des Kritikers liegen, wenn das Kunsterlebnis ausbleibt und eine statthafte Zergliederung unterbleibt. Man dreht sich erneut im Kreise, weil also doch mentale Maßstäbe vorausgesetzt werden müssen. Auf dieser Grundlage beginnt die „Neue Leipziger Zeitschrift für Musik“ ihren Dauerkrieg gegen die Ornamentistenschule(11), die dank einer Übertragung der französischen Salonidee nach Deutschland ihre Geschäfte machte. Er ging auch unter Lorenz weiter [II,502], der als Interims-Redakteur zwischen Schumann und Brendel wirkte und sich am Ende des XXXI. Bandes am 26. Dezember 1844 von seinern Lesern mit einem Artikel „Zum Beschluß“ verabschiedete [II,503]. (1) Gustav Nauenburg: Kunstphilosophische Skizzen / aufgestellt von / Gustav Nauenburg, NLZfM I./10, 11, 5., 8.5.1834, S. 37a–38a, 41a–43a; (2) Nauenburg, Skizzen, a. a. O. S. 37b; (3) Nauenburg, Skizzen, a. a. O. S. 37b–38a; (4) Nauenburg, Skizzen, a. a. O. S. 38a; (5) Nauenburg, Skizzen, a. a. O. S. 38a /// 41a. Diesen Absatz hat Nauenburg 13 Jahre später, 1847, in einem mit „Dramaturgische Paraphrasen über die Oper“ überschriebenen Aufsatz, diesmal in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ (AmZ XLIX/15, 14.4.1847, Sp. 241) orthographieverändert wörtlich wiederholt [‚ ‘ = original kursivgedruckt]: „Die Kunstkritik soll nicht blos der Commentar zu schon vorhandenen, vollendeten, sondern vielmehr das ‚Organon‘ zu ‚neuen Kunstwerke‘ sein. Ein Organon der Kunst ‚überhaupt‘; also eine Kritik, die nicht blos erklärend und erhaltend, sondern die selbst ‚producirend‘ ist, wenigstens indirect durch ‚Lenkung, Anordnung, Erregung‘; sie gleicht einem Piloten, der nach sicheren Principien der Steu-

284

(6) (7) (8) (9) (10) (11)

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845 ermannskunst, die aus der Kenntniss des Globus gezogen sind, mit einer vollständigen Seekarte und einem Compasse versehen, das Schiff sicher führt, wohin es ihm gut dünkt [II,615]. Offensichtlich begriff Nauenburg zu diesem Zeitpunkt, wohin seine Thesen führen können und daß er sich mit ihnen sowohl zu Brendel wie zu Lobe in einen Gegensatz brachte; denn er beruft sich auf Lessing: „Ich bin nicht verpflichtet, alle Schwierigkeiten aufzulösen, die ich mache“; Nauenburg, Skizzen, a. a. O. S. 41a; Nauenburg, Skizzen, S. 41b–42a; Nauenburg, Skizzen, S. 42a; Nauenburg, Skizzen, S. 42b; Nauenburg, Skizzen, S. 43a; †: (Die musikalische Kritik – die Rücksichten.), Korrespondenz aus Wien vom 3. Juni 1834, NLZfM I./21, 12.6.1834, S. 83b–84a, Z:83b.

7. DAS NEUE MUSIKKRITISCHE VOKABULAR. DER SALON Die Abspaltung einer stärker subkulturell werdenden Unterhaltungsmusik aus dem Komplex der Salonmusik stellte die Musikkritik zur Schumannzeit vor ehedem unbekannte Herausforderungen. Bis dahin konnte Musik gut oder schlecht gemacht sein, behielt aber immer einen Grad von Anspruch. Doch längst begann der Ruf des französischen Salons als einer Einrichtung von Gleichgesinnten außerhalb des Hofzeremoniells zu sinken. In Deutschland vor allem verlor er seine politische Bedeutung und führte zu Entwicklungen, denen sich mit französischen Salon-Kriterien nicht mehr begegnen ließ. Musik war Bestandteil des Bildungslebens geworden, die Zahl der Kunstverständigen hatte sich aber keineswegs erhöht. Wohl entstand das Bedürfnis nach einer Notenliteratur, die sich auch ohne große Begabung und ohne größere Anstrengung spielen ließ. Der Salon diente nicht mehr der geistigen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung, sondern ganz banal der Zerstreuung einer sich langweilenden oder sich selbst darstellenden Gruppe, für die jede „egalité“ des ehemals französischen Salons als überholt aufgehoben war. Diese nachfranzösisch-deutschen Salons sind mit den wöchentlichen Zusammenkünften gebildeter oder Bildung suchender Menschen etwa im Hause Brendels oder im Hause Wagners oder im Hause Billroths nicht zu verwechseln. Im deutschen Salon vor allem nach 1850 sind tiefsinnigere Gespräche überwiegend verpönt. Der Salon ist nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck. Die schlimmsten Auswüchse hat Schumann nicht mehr kennengelernt. Jede der reichen Familien, die ein ‚Haus machten‘, wie es damals hieß, waren bemüht, möglichst hoch gestellte und reiche Personen bei sich anwesend zu sehen, darunter auch berühmte Künstler, die man vorstellen wollte. Das äußere Verfahren, uns aus einer Fülle von Romanen der Zeit nicht nur aus dem Bereich der Populär- und Kolportageliteratur bekannt, ist immer dasselbe: der Herr erscheint in bürgerlicher oder militärischer Galakleidung samt Orden, die Dame in Balltoilette mit ihren kostbarsten Preziosen geschmückt. Man trinkt Tee oder Kaffee, spielt vornehmlich Whist oder Bridge, unterhält sich schleppend. Nach etwa einer Stunde muß Musik gemacht werden. Die Hausfrau oder ihre mehr oder weniger musikalische Tochter (später wird sie ‚Höhere Tochter‘ heißen) oder irgendeine andere Dame wird, aus was für Gründen auch immer, von ihren Verehrern zum Singen oder Spielen aufgerufen. Man

7. Das neue musikkritische Vokabular. Der Salon

285

versammelt sich um das Piano, und „mag sie auch falsch singen, daß die Katzen auf dem Dach rebellisch werden, oder auf dem Claviere herumwettern, dass die Milch in den Töpfen gerinnt“(1) – so heißt es in einer bissigen zeitgenössischen Schilderung aus dem Jahre 1862, die unter dem doppeldeutigen Titel ‚Inneres und äußeres Musikleben‘ steht – so wird sie anschließend gewaltigen Beifall erhalten. Der anwesende Berufsmusiker nun, den man in einem solchen Salon als berühmten Mann vorführt (oder als bezahlter Unterhaltungsgast im Nebenzimmer auf seinen Einsatz zu warten hat und nachher nicht zur gemeinsamen Tafel gebeten wird), muß natürlich auch spielen, ohne daß er mehr als die zu einer Zerstreuung notwendige Aufmerksamkeit erfährt. Der ernstere Musiker kann sich nicht wehren. Entweder gibt er Konzerte, dann muß er im Salon die Abnehmer seiner Billets suchen, oder er lebt als Musikerzieher, dann braucht er Verbindungen, seine Klientel zu erweitern. Diese Art Salon erzwang eine eigene Notenliteratur. Sie mußte leicht zu spielen, brillant anzuhören sein und einen hohen Wiedererkennungswert haben. So entsteht eine Überfülle leichter Stücke, über die man die Nase rümpfen kann, die aber ihren Markt hatten, gespielt und gehört und nach Gebrauch entsorgt wurden. Sie half der Dame oder dem Herrn, mit möglichst wenig technischen Kenntnissen im Salon zu brillieren(2). Aus demselben Grund brachten die vom Salon als einem konzentrierten Kern eines Teils der Gesamtgesellschaft ausgehenden Bedürfnisse technisch überaus anspruchsvolle Kabinettstückchen für das Berufsvirtuosentum hervor, die beim Salon- oder dem zahlenden Publikum bestens ankamen und bei denen man sich ebenso überrascht und begeistert zeigte wie beim Salto mortale eines Seilkünstlers im Zirkus. Der Salon entwickelte die Mode einer Sucht nach immer pikant Neuem, das für den Augenblick keineswegs so verlogen gemeint war, wie man es aus der Entfernung eines Jahrhunderts gerne darstellen möchte, auch wenn das Verfahren nach Meinung der Zeitgenossen den musikalischen Geschmack der besseren Gesellschaft zersetzte. Aber das ist nur ein Topos. Der Geschmack der Mehrheit hat sich nie anders reguliert, weder im 18., noch im 19., noch im 20. Jahrhundert. Die moralischen Vorstellungen sind aufgesetzt. Will man zudem eine Gesellschaft demokratisch organisieren, entscheidet über das Fortkommen eine Mehrheit, die immer den Weg der geringsten Anstrengung gehen wird. Am Ende des Weges stehen Kriterien, die aus Verkaufszahlen gebildet werden. Wer das kauft, was ‚gerne genommen‘ wird, gehört dazu. Schumann führte den Sisyphus-Kampf gegen diese Entwicklung an, die gar keine Entwicklung war, sondern die zu Tage tretende Offenlegung einer immer schon bestehenden Realität, die nur jetzt erst ‚salonfähig‘ wurde und dafür einen Namen benötigte. Aus diesen Gründen muß man mit einer pauschalierenden Beurteilung des ‚Salons‘ sehr vorsichtig sein. Die Angehörigen des Schumann-Kreises sahen in den salonmusikalischen Ornamentisten nicht bloß künstlerische Gegner, sondern geradezu Feinde, die es zu bekämpfen galt, wo immer man sie antraf. Für eine künstlerische Bewegung, die dabei war, Musik zu sakralisieren, waren Komponisten, die sich ganz ordinär dem Geschmack der künstlerisch anspruchslosen Leute unterwarfen und den Erfolg und den Gelderwerb über alles stellten, nicht nur widerwärtig, sondern als schon unmoralisch geradezu verdammenswert. Ihrer Meinung nach war im Sinne Schillers dem Künstler die Aufgabe zugeteilt, den Menschen auf eine höhere Ebene des

286

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

Kunstbewußtseins zu bringen, nicht aber, sich anbiedernd, auf eine geschmacklich niedrigere herabzuziehen, um, den eigenen Vorteil im Sinn, dem Unverstand zu schmeicheln. Daß sie den sich selbst als seriös empfindenden Komponisten mit der breiteren öffentlichen Sofortanerkennung auch das Brot wegnahmen, spielte zunächst eine untergeordnete Rolle. Kritik wurde auf breiterer Ebene zu einem ‚Kampf gegen‘, und man erwartete, daß sich jeder, der sich in den Kreis der ernsten Künstler einzureihen gedachte, an diesem Kampf beteiligte, und so verachtete man mit starken Worten diejenigen, die ihre Stimme zurückhielten, obwohl sie nach Meinung des Schumann-Kreises längst begriffen hatten, in welchem Ausmaß diese Art von Musik den allgemeinen Kunstgeschmack korrumpierte(3). Der Einfallsreichtum, mit dem man in den Einzelrezensionen die Ornamentisten bloßzustellen begann, ist bewundernswert. So viele dieser Kritiken es im Laufe der Zeit auch gegeben hat, sie zeigen sich immer wieder anders eingefärbt, sind ideenreich mit neuen Worten gestaltet, bleiben somit stilistisch originell, folgen außer in ihrer Negation des Sachverhaltes keiner sprachlichen Norm und werden daher trotz des vorauszusehenden Ergebnisses selbst im Abstand von Jahrzehnten nicht langweilig. So situationsgeschichtlich gerechtfertigt der Aufbruch sein mochte, mit dem die neue Redaktion freudig in der Hoffnung begrüßt wurde, dem kritischen ‚Schlendrian‘ zu Leibe zu rücken, so blieb die Frage offen, mit welchen Methoden und mit welcher Rechtfertigung ein Angriff auf die Salonmusik werde gelingen können. Schließlich durften sich die besseren Vertreter dieser Gattung sowohl auf technische Qualität wie auf die Akzeptanz durch ihr Publikum berufen. Die einfachsten musikkritischen Mittel, eine Musik nämlich als schlecht oder als gut gemacht zu bezeichnen, oder von Erfolg oder Mißerfolg beim Publikum zu sprechen, versagten in diesem Fall. Also wurde die neue Kritik genötigt, mit Begriffen zu arbeiten, die geschmacksästhetischer Natur waren und die Kontroverse gleich mit heraufbeschworen. Diese neue Kritik mußte Musik gegen Musik ausspielen, mußte sie einmal tief gedacht, ein anderes Mal seicht oder oberflächlich nennen, ohne dies im Materialgrund zwingend nachweisen zu können. Einen Begriff wie Seichtheit als Kunstkriterium hatte die Musikkritik bislang nicht gekannt. Sie war genötigt, sich umzugewöhnen. Daß man es im Schumann-Kreis sehr schnell konnte, zeugt von dessen Schlagkraft. Die Virtuosenmusik hatte ja nicht nur alle Hoffnungen auf ein allmählich seriös erblühendes Konzertleben zerstört, sondern sie hatte vor allem dank ihrer Artistik den Publikumsgeschmack dermaßen verändert, daß die Hörgemeinde von 1834, im Salon und durch den Salon geschmacklich groß geworden und außerhalb des Salons ohne künstlerische Information, der Musik als Kunst die gedankliche Tiefe absprach und dazu sehr schnell die Schützenhilfe unmusikalischer oder sogar musikfeindlicher, jedenfalls inkompetenter Schreiber bekam – andererseits die Musik im System einzelner Philosophen genau diese Stellung angewiesen erhielt, die sie zur Zeit in der Salongesellschaft tatsächlich zu spielen begann. Noch eine Publikation wie das Schillingsche „Jahrbuch des deutschen Nationalvereins für Musik und ihre Wissenschaft“ bietet dafür eine bezeichnende Quelle. Die offizielle Musikkritik quälte sich deshalb auch gar nicht mehr so sehr mit Verfahrensfragen ab,

8. Sinnfragen. Vom Streit über eine begriffslose Musik. Sobolewski

287

mit denen sie über sich selbst nachgedacht hätte, sondern sah ihre wesentliche und beinahe plakativ-moralische Aufgabe in der Rehabilitierung einer gedankenträchtigen Musik im Kreise der guten Gesellschaft. Deshalb gewann auch die „Neue Zeitschrift für Musik“ bei den Gebildeten so schnell Einfluß. Sie traf in einem für die Musikgeschichte gefährlichen Augenblick die richtige Entscheidung, die ihrer Ansicht nach wahre Musik als Gedankenkunst herauszustellen und ihre Tiefsinnigkeit und ihren Inhaltsreichtum den anderen Künsten nicht nur gleichzuordnen, sondern sie wegen ihrer unmittelbar emotionalen Wirkung im Rangsystem sogar höher als die anderen Künste anzusiedeln, und dabei am Beispiel der Salonmusik zu beweisen, wie Musik nicht sein dürfe, um Musik zu sein. Man forderte mehr, als möglich zu erwarten war, um wenigstens das Mögliche zu erreichen. Vor solchen Begründungen hatte die Musikkritik noch nie gestanden. Sie bezog sich bis dahin immer auf eine Kunst, die aristokratisch oder kirchlich oder städtisch blieb, und somit auf eine zahlenmäßig geringere Hörgemeinde stieß. Was in dieses System nicht hineinpaßte, wurde ignoriert, oder stand jedenfalls außerhalb der seriösen Diskussion, die ohnehin nur in den geistig gebildeten Schichten stattfand. Nach 1810 demokratisierte sich jedoch das Kunstleben in einem Prozeß der Öffnung zum Mittelfeld hin, der zwangsläufig auch den Musikkritiker groß werden ließ. Diese Musikkritik mußte nun erleben, daß mit der verbreiterten Bildungsgrundlage und einer allmählich käuflich werdenden Teilnahme am Musikgeschehen nicht mehr nur aristokratische Zirkel über Kunst entschieden, sondern neben geistig hochstehenden auch tiefer nivellierte Gesellschaftskreise, auf die zumindest ein Teil der Komponisten Rücksicht nahm, zumal gerade diese Schichten im Laufe des Jahrhunderts immer bestimmender wurden. Damit ist die vordem unbekannte Spaltung der Musik in eine schwere und eine leichte Musik angebahnt und die Musikkritik vor die Aufgabe gestellt, geistesgeschichtliche Klärungen herbeizuführen, die, wie man erst viel später erkennen sollte, aus der Struktur der Sache heraus nicht herbeizuführen waren: „Eigentlich ist nur die Musik zu kritisiren, die keine ist, und die erste Aufgabe der Kritik daher: was ist Musik!“(4). (1) – Inneres und äußeres Musikleben. I. Salon, Salon und Musiker im Salon, Neue Berliner Musikzeitung 1862/48, S. 379a; (2) Debussys „Le Petit Nègre“ von 1909 zeigt, wie ein leicht zu spielendes Stück dem Laien durch äußere Brillanz technische Schwierigkeiten vortäuschen kann; (3) s. Kapitel 7, Abschnitt 11 (Kritik und Kritik der Kritik); (4) J. Feski: Musikalische Kritik, NZfM VI./1, 6.2.1837, S. 5a.

8. SINNFRAGEN. VOM STREIT ÜBER EINE BEGRIFFSLOSE MUSIK. SOBOLEWSKI Was ist Musik – eine solche These an den Anfang einer Abhandlung über Musikkritik zu stellen, verrät den Musikspekulanten der dreißiger Jahre, der Tiefe begründen will und zur eigenen Selbstbewertung auch begründen muß. Musik, die keine ist – deutlicher lassen sich Anliegen und Schwierigkeiten des Schumann-Kreises nicht umreißen. Musik den Charakter des Musikseins durch die Errichtung von Schranken abzusprechen, innerhalb derer nur das sich abspielen darf, was als Musik zu

288

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

gelten hat, wird bis hin zu den skandalträchtigen und eher dilettantischen Schriften über die Musik des 20. Jahrhunderts zum Topos werden. Dasselbe gilt für die Verfestigung der Vorstellung von Kritik als in erster Linie negativer Auseinandersetzung mit Musik. Damals hatte es einen Überlebensgrund. Was Feski, ein Pseudonym für Sobolewski, in seinem Aufsatz unter dem schlichten Titel „Musikalische Kritik“(1) [II,329] versucht, beginnt mit einer Abkehr von Thesen älterer Philosophen, sprich: Kant oder Michaelis, weil, um Tiefe in der Musik zu begründen, eine inzwischen weitverbreitete philosophische Lehrmeinung erst zerstückelt werden muß, nämlich Musik könne als angeblich reines Tonspiel keine logischen Gedanken entwickeln. Eine Kunst ohne Gedanken ist ohne Sinn und damit ohne Tiefe, das war die unangenehme Kehrseite solch philosophischen Denkens. Deshalb ist die Musik schon von der bloßen Überlegung her auf die Befriedigung einer nur noch akustisch unterhaltenden Wahrnehmung verwiesen. Schlimmer konnte man den Idealen des Schumann-Kreises nicht widersprechen. So stellen sich dem spekulativen Musikkritiker der dreißiger Jahre zwei Aufgaben: er muß gegen alle diejenigen angehen, die sich in dieser Weise über Musik geäußert haben, und er muß die Philosophen im eigenen Lager aufsuchen, um durch sie die Musikkritik selbst als eine Sparte der Philosophie nachweisen zu lassen. Das erklärt die mitunter ironisch scharfe Sprache, die sich so sehr von der entweder ruhigen oder auch polternden Darstellungsweise des älteren Kritikers unterscheidet. Sobolewskis überwiegend spöttischer Kommentar zur Kantschen Musikauffassung bildet dafür ein bezeichnendes Zeugnis. Sobolewski, selbst alles andere als ein philosophischer Kopf, macht sich vor lauter Empörung über Kant geradezu lustig: „Jeder Philosoph kühlt sein Müthchen an der edlen Musica; sogar Kant, dieser Kant, der nichts Widerlicheres kannte, als eine Sonate und ein Frauenzimmer, würdigt sie in seiner Kritik der Urtheilskraft eines Wortes, welches man in folgende Kategorie bringen könnte: 1. Ton, Grundbegriff. / 2. In verschiedener Höhe und Tiefe nacheinander; Melodie. / 3. In verschiedener Höhe und Tiefe nebeneinander; Harmonie. / 4. In verschiedener Höhe und Tiefe neben-, nach-, in- und durcheinander; / jetzige französische Oper, höchstes Ziel der Kunst. Doch Scherz beiseite, …“(2). Nicht viel anders ergeht es Wienbarg, der, wie andere auch, die Musik als „gedankenloses, schwelgerisches Tonspiel“ abtat. Von dieser Auffassung ist der Schumann-Kreis vom eigenen Selbstverständnis her weit entfernt, und die Salonmusik wird so gnadenlos angegriffen, weil sie das Vorurteil unmusikalischer Philosophen und ihrer Nachbeter zu bestätigen scheint. Es ist eine Neuauflage des alten Streites zwischen Noetikern und Hedonisten in der Antike, zwischen musicus und cantor im Mittelalter, zwischen musicus poeticus und einfachem musicus zur Bachzeit. Nur darum geht es in Sobolewskis Aufsatz. Die neuen jungen Komponisten sehen sich in einer Zeit propagierter Gedankenkultur nicht als Tonspieler, sondern als vollwertige Bildungsträger ihrer Zeit und verteidigen mit Eifer und Empörung ihre Kunst gegen jene Leute, die von der Musik als von einer sinnentleerten Kunst sprechen(2). Wäre die Musik, so argumentiert Sobolewski, ein Tonspiel, das „ohne Begriffe, durch lauter Empfindungen, die von außen erzeugt werden, spreche, bloß vorübergehend, und mehr Genuß als Cultur sei (das Gedankenspiel, was nebenbei dadurch erregt wird, ist bloß die Wirkung einer gleichsam mechanischen Association), daß

8. Sinnfragen. Vom Streit über eine begriffslose Musik. Sobolewski

289

sie also durch Vernunft beurtheilt weniger Werth habe, und daher, wie jeder Genuß, öfteren Wechsel verlange, und mehrmalige Wiederholung nicht aushalte, ohne Ekel zu erregen“(2), dann wüßte der Musiker nichts mehr zu sagen. Der Musiker bezweifele aber derartige Lehrmeinungen und bedauere, daß jeder „arme Teufel von Philosoph“ dazu verurteilt sei, über Kunst seine Meinung abzugeben, auch wenn er nichts davon verstehe. Den Begriff „Tonspiel“ will Sobolewski anerkennen, wenn man gleichzeitig und gleichwertig von der Dichtung als von einem „Wortspiel“ spreche. Da die Dichter das aber nicht möchten, sondern von ihrem Wort behaupteten, es sei nur ein Mittel, den Gedanken darzustellen, so behaupte der Musiker das vom Tone auch. Zwar bedeuteten c und des nicht Hunger, d und es nicht Durst, as und fis nicht Mondschein, wohl aber verhält sich die Musik zur Poesie wie die Poesie zur Prosa: „Dieser Ende ist ihr Anfang. Wenn die empfindungsreichsten Worte nicht mehr auslangen, beginnt sie. Darum bedarf die Tragödie zur Darstellung der höchsten lyrischen Empfindung den Sington, und das Lied tritt ein; nie aber wirkt das Fortschreiten vom Sing- zum Redeton steigernd. Diese Vergleichungen mögen die Stellung der Worterklärung vertreten, denn fand man keine Definition der Poesie, so wird man der Musik ihre gewiß umsonst suchen“(3). Begnüge man sich aber mit einer Erklärung des Übersinnlichen durch das Übersinnliche selbst, so ist die Musik ein Teil des unbegreiflichen Geistes, der Töne wie Welten ordnend und belebend durchwehe. Sobolewski biegt die Philosophenfrage geschickt ab. Er bringt ein Musikbeispiel, das falsch akzentuiert ist, und fragt, was die Musik hier ausdrücke. Er gibt zu: keine Gedanken, wohl aber die Tonakzente, die durch den Gedanken wie durch den einzelnen Begriff gegeben werden. Wenn man einen Charakter musikalisch ausdrücken wolle, dann stelle man seine Art dar, sich auszudrücken(4). „Und wird dies Alles zugegeben, müßte man denn nicht eigentlich aus einer guten Musik ohne Worte, nicht blos die Empfindung im Allgemeinen, sondern selbst den Gedanken, ja den einzelnen Begriff, und endlich sogar denjenigen, von welchem solche Töne ausgehen, entziffern können? – Und darf man nach solchen Erörterungen die Musik ein bloßes Tonspiel nennen? – –“(4). Und doch gibt es auch nach Sobolewski eine Musik als Tonspiel – und diese Argumentation gehört zum merkwürdigsten, was unter den kunstphilosophischen Erörterungen jener Jahre zu finden ist. Es klingt wie einem Musiklehrbuch des 20. Jahrhunderts entnommen, wenn er trotz allem Kant zu rechtfertigen sucht, weil Töne wie Farben schon an sich selbst, ohne daß sie etwas Bestimmtes ausdrücken, einiges Interesse erregen(5). Sobolewski verweist auf die Zimmertapete: „Der Maler hat eine Figur, die aus grün, violet, braun und weiß zusammengesetzt ist, hingekleckst, sein Carton dem Ganzen eine bestimmte Form gegeben, und indem er dieselbe aufs Neue mehreremale wiederholt, auch eine gewisse Einheit erlangt. Das Ganze ist nicht übel, es macht sich, wie man zu sagen pflegt; aber, so viel ich mein Gehirn auch anstrenge, diesen Hieroglyphen eine Bedeutung abzugewinnen, das vermag ich nicht. Es ist für mich ein bloßes Linien- oder Farbenspiel“(5). Von einer ästhetischen Würdigung dieses Phänomens ist Sobolewski weit entfernt, ja er spöttelt, es gäbe gewiß Leute, deren Phantasie in „diesem Farbenkleckse das Bild einer ägyptischen Pyramide, oder einen Teil der Alhambra von Granada,

290

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

oder gar einen Haifisch“ erkennen würden – es käme im Leben eben viel auf eine reiche Imagination an(5). Er widmet sich einer zweiten Aufgabe der Musikkritiker, wenn die erste in der Rechtfertigung der Musik als Gedankenkunst gesehen wird, nämlich zu verhindern, daß man in das Tonspiel oder in den Farbenklecks irgend etwas hineinphantasiert. Sobolewski bringt einen in diesem Zusammenhang eher journalistisch entgleisend wirkenden, in späterer Zeit in der Art zum polemischen Topos werdenden Vergleich von einem Mann, der einem Stück schwarzen Papiers die Unterschrift „Neapel bei Nacht“ gab und damit die Bewunderung der Außenstehenden erreichte. Alles Mögliche wurde nun dem Bild untergeschoben: der eine wollte den Vesuv, ein anderer einen bestimmten Palast wiedererkennen und so fort, und schließlich sei das Interesse an Gemälden dank dieses Papiers so gewachsen, daß man jahrelang über eine Gemäldegalerie debattierte. Als man schließlich anstelle einer eingefallenen Kirche eine neue habe bauen wollen, sei dies mit dem Argument sehr getadelt worden, die Stadt brauche vorrangig eine Bildergalerie usw … Sobolewski hofft, der Leser werde sich nicht durch ein Stück schwarzes Papier begeistern lassen: „… Sie werden nicht in dem Muster, welches meine oder vielleicht auch Ihre Zimmerverzierung ausmacht, große Dinge erblicken, mit mir von der Musik mehr als Tonspiel verlangen, und nicht daran glauben, daß ihr Culminationspunct bereits erreicht sei“(5). Jaspers würde von einer Pareidolie sprechen. Er ist der Meinung, gerade die Verwechslung einfacher Töne mit Interesse erheischenden Gebilden, die nichts Bestimmtes ausdrückten, habe das Voranschreiten der Kritik verhindert. Die gesamte Generation müsse eine Richtung zum Besseren nehmen. Er definiert die seiner Meinung nach eigentliche Aufgabe der Musikkritik: „… die Mehrzahl muß den Farbenklecks von einem Gemälde, das Tonspiel von einer Tondichtung unterscheiden können. Dieses zu bewirken, ist die zweite Hauptaufgabe der Kritik“(6). Jetzt müßte als Krönung der Abhandlung eigentlich die Frage nach dem ‚Wie‘ stehen und beantwortet werden. Auch Sobolewski stellt sie, beantwortet sie aber nicht, sondern täuscht seine Leser mit einer verblüffenden und nichtssagenden Scheinreprise über das Wesentliche hinweg: „Wie? Das ist eure, der Kritiker, Sache. Wer kritisirt, sollte wohl füglich wissen, was er will, und – was er kann“(4). So explosiv Sobolewskis Artikel begann, so banal verpufft er. Der Kritiker muß Schönheitsgefühl besitzen, er muß das Technische in der Kunst verstehen und dergleichen Forderungen mehr sind 1837 längst zu Phrasen geronnen. Zwischendurch spielt er auf das ästhetisch Ungenügende einer mehrsätzigen Symphonie an, weil deren Abfolge zu heterogen und das „Springen der Empfindung unnatürlich“ sei, um am Ende zu der Selbsterkenntnis zu gelangen, drei Fortsetzungen lang über Kritik geschrieben, ohne dabei irgend welche handwerklichen Informationen vermittelt zu haben(6). Trotzdem ist ihm das Dilemma bekannt, warum Musikkritik in eine Sackgasse geraten ist. Man könne nämlich, so heißt es, nicht kritisieren, was man nicht einmal in seiner eigenen Substanz zu begreifen vermöchte. Der klassische Bildungsbegriff von der Unerkennbarkeit des Geistes wirkt offensichtlich auch bei Sobolewski weiter. Das ästhetische Ausweichen in Bilder, die also die Kritik selbst zum Kunst-

8. Sinnfragen. Vom Streit über eine begriffslose Musik. Sobolewski

291

werk literarischer Nachempfindung mache, sei der Situation angemessen, habe aber nichts mit eigentlicher Kritik zu tun. Robert Schumanns Versuch, in den Gestalten von Eusebius und Florestan das Schöne im Schönen zu erkennen, sei das Äußerste, das sich verlangen lasse. Aber eine Kritik „kann und will“ auch das nicht sein(4). Geyers „Gedanken in der Tonkunst“ von 1849 [II,705] richteten sich gegen Versuche, einzelnen Tonzeichen bestimmte Gedanken zu unterlegen. Vermutlich hatte er Berlioz- oder auch Liszt-Interpretationen im Blick(7). Darauf bezieht sich sein Reflexions-Begriff, der in diesem Falle nicht mit dem deckungsgleich ist, was man damals Reflexionsmusik nannte. Gedanken sind für Geyer musikalische Gedanken, wie immer sie aussehen mögen. Der Begriff ‚Musikalischer Gedanke‘ ließ die unterschiedlichsten Interpretationen zu. Kahlert hatte 1846 eine Arbeit herausgegeben, mit der sich Krüger befaßte. Dessen „Beiträge für Leben und Wissenschaft der Tonkunst“ wiederum wurden von Kahlert in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ einer Kritik unterzogen, so daß Kahlert auf sich selbst zu sprechen kommen mußte(8) [II,638]. Im Mittelpunkt stehen die Hegelsche Ästhetik und die darin enthaltene Kategorientafel. Kahlert pflichtet der Krügerschen Einwendung grundsätzlich bei, „nur muss ich bemerken, dass man bei der Redaktion jenes Werkes die Hegel’sche Kategorientafel auf die Musik hier und da auch hätte anders, als es geschehen ist, anwenden können. Hegel selbst war, was Musik betrifft, ein Laie, …“ Kahlert wehrt sich gegen den Krügerschen Vorwurf, „aus philosophischem Hochmuth“ die Musik der „Gedankenarmuth“ beschuldigt zu haben. „Denn dieses Wort, wenn es in dem Sinne, worin ich es, der Nothwendigkeit meiner systematischen Eintheilung aller Kunstthätigkeit gemäss gebraucht habe, wirklich verstanden wird, giebt eben der Musik ihre Selbstständigkeit gegenüber den andern Künsten.“ Das Wort Gedanke müsse genau bestimmt werden, weil manche sagen, es gäbe auch musikalische Gedanken. Untersuche man diesen Vorgang, so stelle sich heraus, „dass nichts anderes gemeint ist, als eine Melodie, d. h. eine Tongestalt, die wir durch das innere Ohr empfangen und als hörbares Bild festgehalten haben.“ In einer früheren Veröffentlichung erklärte August Kahlert das Problem mit dem Materialbefund. „Die Werke der Tonkunst zu beurtheilen, ist darum so schwer, weil in keiner Kunst das bloße Material eine so große Gewalt über den Menschen hat, als bei ihr. Ein einziger Ton wirkt oft Wunder. Weil nun die Musik aus diesem Grunde immer etwas Mehrdeutiges an sich hat, so darf es uns nicht befremden, wenn der Unverstand ihr allen Inhalt abspricht.“(9) [II,311]. Für einen pseudonym in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ schreibenden Autor ist der Inhalt der Musik ausschließlich die „Stimmung“(10) [II,666]. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8)

J. Feski: Musikalische Kritik, NZfM VI./1, 6.2.1837, S. 5a; J. Feski: Musikalische Kritik, S. 5b; Feski, S. 6a; Feski, S. 11a; Feski, S. 11b; Feski, S. 13a–13b; NBmZ III/2, 18.3.1849, S. 9a–10b; NBMz I/50, 8.12.1847, S. 406a;

292

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

(9) Kahlert: Aphorismen, NZfM IV./2, 5.1.1836, S. 7b-8; (10) Romantik in der Musik, NZfM XXIX./1, 1.7.1848, S. 1a–2b.

9. DAS VIELGESPALTENE KRITIKER-ICH a) Doppelkritiken Möglicherweise ist vom Jurastudium Robert Schumanns die Erkenntnis von der in Anklage-Verteidigung-Urteil dreigeteilten Lebenswelt des Menschen übrig geblieben. Bei Hegel wurde daraus These-Antithese-Synthese. Die Aufspaltung des Einzelkritikers in drei oder auch mehr Personen ist die äußerste Bestätigung einer sich ausweglos fühlenden Standpunktskritik, die aus der Erkenntnis der Richtigkeit verschiedener, nebeneinander möglicher künstlerischer Betrachtungsweisen ihre Konsequenzen zog. Daß man zu einem künstlerischen Gegenstand (auf Schumann bezogen: sofern er tatsächlich künstlerisch ist!) in verschiedener, aber berechtigter Weise Stellung nehmen könne, hatte Marx immer wieder deutlich gemacht. Seiner Erkenntnis durfte man sich nicht mehr entziehen. In der Marxschen Zeitung schilderte man künstlerische Tatbestände aus vielfältiger Sicht. Kritiker verschiedenartiger und sogar gegnerischer Anschauungen wirkten nebeneinander und produzierten die unterschiedlichsten und widersprechendsten Artikel. Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ folgte dem nach ihrer Art etwas schwerfälliger. Sie ließ widersprechende Meinungen nicht organisch aus dem Ganzen der Zeitung herauswachsen, sondern bestellte sie gleich im voraus als Kontrastkritiken, die sie dann hintereinander abdruckte. Die Redaktion war auf dieses Verfahren sehr stolz. Als besonders markantes Beispiel sei an die beiden Kritiken über Meyerbeers „Robert der Teufel“ in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ 1832 auf Spalte 473 bis 488 erinnert. Sie widersprechen sich unverbunden, und die Redaktion schreibt im „Vorwort der Redaction“ dazu, „Wir können unsere Unpartheylichkeit schwerlich besser beweisen“ [II,275]. Der Redaktion waren bis dahin nur Bruchstücke der Oper bekannt. „Im Fall uns der Auszug eingesendet wird, werden wir unser eigenes Urtheil mit gewohnter Freymüthigkeit kürzlich(1) in unserern Blättern niederlegen.“ Schon ein Jahr zuvor hatte man in einer „Vorbemerkung“ angekündigt, „Wir geben hier einmal über Ein Werk zwey Beurtheilungen; die eine von einem jungen Manne, einem Zögling der neusten Zeit, der sich genannt hat, die andere von einem … würdigen Repräsentanten der ältern Schule, der sich nicht genannt hat“(2) [II,271]. Wiederum anders gedachte die „Caecilia“ zu verfahren. Auch sie druckte Doppelkritiken gegensätzlichen Charakters hintereinander ab, ging aber von einem redaktionellen Kommentar aus, damit der Leser wisse, woran er mit der Redaktion sei. Über Michael Haydns Jubelmesse, über Beethovens Missa solemnis und über seine Chorsymphonie beispielsweise sind jeweils drei Rezensionen erschienen. In der „Caecilia“ ging es aber nicht darum, Unparteilichkeit zu mimen, sondern ein bedeutendes Werk durch mehrere Kritiken aus unterschiedlichen Betrachtungswinkeln besser zu begreifen. Es ging um die „Mehrseitigkeit der Darstellung“(3), nicht um deren Gegensätzlichkeit. Daß man auch das jedenfalls theoretisch eingeplant hat, ergibt sich aus der Ankündigung zum Erscheinungsbeginn des Blattes [II,108].

9. Das vielgespaltene Kritiker-Ich

293

Dort erklärte die Redaktion, also Weber, in Fällen verschiedener Ansichten über denselben Gegenstand möglicherweise zu versuchen, durch übergreifende redaktionelle Bemerkungen „einen Standpunkt zur Würdigung der Sache festzustellen“(4). Dieser Fall ist eingetreten – erinnert sei an die Woldemarsche Beethovenpolemik und die mitgegebene Redaktionsanmerkung. In der Schumann-Zeitschrift wird das Problem bereits im zweiten Absatz der ersten Journalschau vom September 1834 angesprochen, die von der Existenz verschiedenartiger Urteilssequenzen ausgeht: „Durch Zusammenstellung entgegengesetzter Urtheile über dieselbe Sache glauben wir dem Gegenstand ein besonderes Interesse zu geben“(4). Schumanns Technik, die zum ersten Mal 1831 in Verbindung mit der Chopinkritik in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ Finks (mit zwei, nicht mit drei Urteilen: „einem Zöglinge der neusten Zeit, der sich genannt hat“ – gemeint ist Schumann, geschrieben „K. Schumann“ – und einem „angesehenen und würdigen Repräsentanten der ältern Schule, der sich nicht genannt hat“) vorgestellt wurde(5), ist nicht die der These mit Gegenthese und Synthese, auch nicht die der modifizierten juristischen Einzelung in Anklage, Verteidigung und Spruch. Schumann unterscheidet zwischen einer kritikwürdigen und einer kritikunwürdigen Musik. Auf die kritikunwürdige Musik richtet sich seine Dreispaltung nicht. Eine kritikwürdige Musik dagegen kann getrennt analytisch und emotional und schließlich in beiderlei Richtung abgestuft begriffen werden. Das als Davidsbündlerkreis mystifizierte Verfahren kleidet Schumann überwiegend in Eusebius, Florestan und Raro ein, nominiert aber auch andere Pseudonyme und nimmt wie ein guter Jurist, der gegen sich selbst entscheiden kann, aus der Erfahrung der Standpunkte alle drei und je nach Fall noch mehrere selbst ein und formuliert sie aus. b) Schumanns Modell Eusebius-Florestan-Raro Die Leser der „Neuen (Leipziger) Zeitschrift für Musik“ lernten das Schumannsche kritische Modell gleich im 1. Jahrgang 1834 kennen. Schumann besprach dort Hummels Studien für Pianoforte Opus 125(6). Erst läßt er Eusebius zu Wort kommen, dann Florestan, schließlich Raro. Raro eröffnet seine Meinung mit der unwirschen, aber charakteristischen Bemerkung: „Jünglinge, ihr irrt beide!“(7). Die Trennung der Standpunkte geschieht nicht in der Form gegensätzlicher Doppelkritiken, sondern in der Form einer Betrachtung von einem jeweils anderen Bewußtheits-, Emotions- oder auch Vorverständnisgrad aus. Der Eine tritt nüchterner, der Andere emphatischer, und der Dritte als der offensichtlich älter und reifer gedachte Betrachter überlegener auf. „Florestan und Euseb ist meine Doppelnatur“, heißt es in seinem Brief an Heinrich Dorn, „die ich wie Raro gern zum Mann verschmelzen möchte“(8). „Florestan ist rasch, eifrig, feurig im Lieben wie im Hassen, Eusebius mild, weich, bemüht nicht zu verletzen, wo er nicht loben kann“, charakterisierte Heinrich Simon als Herausgeber der „Gesammelten Schriften über Musik und Musiker von Robert Schumann“ 1889 die beiden Gestalten(8). Ob es sich um sprechende Namen handelt, ist ein Thema der Schumann-Forschung. Die

294

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

Gestalten in diesem Kritikkomplex widersprechen sich niemals so, daß der eine das grundsätzlich gut nennt, was der andere grundsätzlich schlecht nennen würde; denn die Schwierigkeit der neuen Kritik lag in den von Natur aus unpräzisen, weil nicht definierbaren Klärungsbegriffen von Tiefe und Oberflächlichkeit. Als Musiker wußte man genau, wogegen man kämpfte, nämlich gegen die gleich in welcher Form auftretende Mittelmäßigkeit, die man im diffusen zeitgenössischen Studentenjargon als ‚Philistertum‘ bezeichnete. Sobald nach Meinung der Betrachter ein Kunstwerk die Ebene der Mittelmäßigkeit verließ und damit ästhetisch diskutierbar wurde, wurden auch die Maßstäbe in Richtung einer bei allen Vorbehalten eher zustimmenden Bewertung, umfassend aus verschiedenen Blickwinkeln, verschoben und jegliche uneingeschränkte Abwertung unmöglich. Daß sich ein Mensch in sich selbst teilen und dabei gleichzeitig Lehrer und Lehrling sein kann, wußte schon die „Allgemeine musikalische Zeitung“, als sie sich 1816 auf Shaftesbury berief [II,39]. Schumann übernahm mit seinem Verfahren nicht nur ein juristisches Modell, sondern auch bekanntes philosophisches Gedankengut. c) Literarischer Anspruch Schumanns Schreibweise ist nicht die einer herkömmlichen Musikkritik, wie man sie bis dahin kannte. Schumanns Kritiken sind im Umfeld von damals sprachlich ungewöhnlich. Es sind nicht bloß Rezensionen, sondern Texte mit literarischem Anspruch. Die Aussagen werden in ein ornamental angeordnetes Rankgerüst aus poetischen Wortblumen eingehüllt und sind ohne gediegene Kenntnisse der zeitgenössischen Vorgänge nicht verständlich. Es braucht seine Zeit, sich in diesen Stil einzulesen, und es war gewiß eine redaktionelle Leistung Finks, in seinem Blatt damals eine solche Außenseitersprache zuzulassen(9). Es ist ja auch bei diesem einen Objekt geblieben. Die literarischen Vorbilder sind neben Jean Paul bei E. Th. A. Hoffmann zu suchen. Schumann will als Musikkritiker kongenial sein und dem Kunstwerk ein poesievolles literarisches Gegenbild liefern, das gleichzeitig über dessen Stärken und Schwächen Auskunft erteilt. Daß ein solches Verfahren in seiner Originalität und damit leicht abnutzbaren Außenseiterschaft nicht allzulange aufrechterhalten werden konnte, ohne Gefahr zu laufen, zur Manier zu werden, hat Schumann wohl selbst bemerkt und nach einiger Zeit sowohl den blumenreichen Stil wie die Mehrfachinterpretation zurückgesetzt. (1) ‚kürzlich‘ = in Kürze [der Begriff ist inhaltsverschoben]; (2) AmZ XXXIII/49, 7.12.1831, Sp. 805; (3) Beurtheilungen in der Caecilia betreffend. An die Herren Autoren und Verleger, Cae XII./47, 1830, S. 235; (4) AmZ XXXIII/49, 7.12.1831, Sp. 805–811; (5) NLZfM I./46, 8.9.1834, 182a; (6) NLZfM I./19, 5.6.1834, S. 73a–75a; (7) a. a. O. Z:75a; (9) Fink war, glaubt man seiner „Vorbemerkung“, von Schumanns Arbeit damals angetan, „die zu viel Anziehendes hat, als dass sie irgend einem denkenden Musikfreunde anders als höchst

10. Projekt Stereotyp-Rezension

295

willkommen seyn könnte“. Wurde Fink mit der zweiten Meinung, der des „würdigen“ Repräsentanten, mystifiziert, oder machte er mit, weil er darin einen unwiederholbaren Spaß sah?

10. PROJEKT STEREOTYP-REZENSION „Zur Eröffnung des Jahrganges 1835“(1) [II,303], so lautet die Überschrift, klärte die Schumann-Redaktion über ihre kritischen Grundsätze auf. Das Zeitalter der „unnützen Complimente“ ginge nach und nach zu Grabe, heißt es, und man gestehe, zu seiner Neubelebung nichts beitragen zu wollen. „Wer das Schlimme einer Sache sich nicht anzugreifen getraut, vertheidigt das Gute nur halb“(2). Wenn ein auf Komplimente bedachter nur vordergründig kritischer Stil einen guten Künstler, dem man von Herzen eine gute Kritik schreiben möchte, in der gleichen Weise wie einen schlechten Künstler komplimentiere, so nutze ihm in einem solchen Umfeld auch die gute Kritik nichts mehr, behauptete Schumann oder die SchumannRedaktion. In allen anderen Künsten stünden sich die Parteien offen gegenüber und man wisse, woran man sei. Die Musik habe dem nichts voraus. Drei Erzfeinde benennt Schumann: 1. die Talentlosen, 2. die Dutzendtalente, 3. die talentvollen Vielschreiber. Gegen diese drei Gruppen soll von nun an vorgegangen werden (3). Dazu schlägt die Redaktion beispielsweise zur Charakterisierung neuer Lieder eine Art Versatzstückbewertung nach Maske vor, die sie ‚Stereotyp-Recension‘ nennt und aus drei unterschiedlichen Textschablonen A bis C besteht. Sie sollen, textlich unverändert, den Arbeiten der Laien (genannt werden Dobeneck, Mangold, Neukäufler, Schaarschuch = „Sie wollen dem Adler folgen, der zur Sonne auffliegt und ihre Strahlen trinkt, und umflattern doch nur wie Mücken das Licht, ihre Flügel versengend.“), der Dutzendtalente (genannt werden Kalkbrenner, Jähns, Möhring = „Die dem Formellen mit natürlicher Leichtigkeit genügen, ohne es mit Meisterschaft zu beherrschen“ und „Die noch in offenbarem Kampfe zwischen innerer Anschauung, Stoff und Form begriffen sind“) und der talentlosen Vielschreiber (genannt werden Reissiger und Marschner = „… hat die Worte mehr zu Dolmetschern seiner musikalischen Sprache gemacht, deren Geläufigkeit er für Beredsamkeit hält. Er umhüllt die strahlenden Blicke seines Geistes mit dem Nebel des Gleichmuths, gibt statt dichterischer Gedanken poetische Floskeln.“) formularartig zugeordnet werden(4). Man muß für die Veröffentlichung dann nur noch die für die abzuwertende neue Komposition passende Schablone heraussuchen und mit dem Namen des betroffenen Komponisten und dem Titel seiner Komposition versehen. Das an sich einleuchtende Verfahren wurde offensichtlich nur einmal angewendet, vermutlich, weil es als literarische Erfindung dichterische Qualität besaß und somit nicht wiederholbar schien. Es mag offen bleiben, ob nach Schumann-Art nicht auch hintergründige böse romantische Ironie mit im Spiel war, seichte und wie am Fließband hervorgebrachte Musik zu charakterisieren. In der Brendelzeit findet man eine Rubrik „Modeartikel, Fabrikarbeit“, deren Funktion auf dasselbe hinausläuft. Über den tragischen Hintergrund solcher Vielschreiberei äußerte sich Hieronymus Truhn Jahre später gegenüber Hermann Hirschbach.

296

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

Ihre Kampfstellung hat die Schumann-Zeitung nie aufgegeben und sie später an Brendel vererbt. Die Entschiedenheit und Frische sowie die Neuartigkeit des Zeitungstyps in Verbindung nicht zuletzt mit der sprachlichen Sonderstellung der Schumannschen Schreibweise verschafften dem Unternehmen schnell Respekt. Aufsätze nach Art Sobolewskis sind charakteristisch nur für die Konzeption der neuesten Kritik, nicht für die Technik des kritischen Handwerks an sich, das im Sinne Nauenburgs einen neuen Gipfelpunkt erreichte. (1) (2) (3) (4)

Zur Eröffnung des Jahrganges 1835, NZfM -/1, 2.1.1835, S. 2a–4a; Eröffnung, a. a. O. S. 3a; Zur Eröffnung, a. a. O. S. 3b; NZfM II./23, 20.3.1835, S. 91–93.

11. KRITIK UND KRITIK DER KRITIK BEI SCHUMANN UND ANDEREN. BLOSSSTELLUNGEN Schumann beließ es nicht bei Worten. Eine Korrespondenz aus Wien(1) [II,297] verurteilte die dortigen nach Meinung des Korrespondenten charakterlosen Referate, die man nicht als Kritiken bezeichnen könne. Das überschwengliche Lob selbst bei mangelhaftesten ersten Versuchen habe den Sinn fürs Gediegene verloren gehen lassen. „Ich appellire an die Redlichkeit eines jeden wahren Künstlers, er beantworte mir ehrlich und offen die Frage: ist man bis jetzt ernsthaft in Deutschland damit umgegangen, das Schlechte in der Musik zu bekämpfen?“ Das ‚Schlechte‘ wird mit Namen genannt: die moderne italienische Schule, insbesondere Bellini, den der Korrespondent einen Plagiator nennt. Nähme man jemandem den Stock weg, so stecke man den Dieb in ein Gefängnis. Ein musikalisches Gefängnis gebe es leider nicht, das solche ‚Attentate‘ bestrafe. Dann werden die Ornamentisten angeklagt. „Um auf Claviercomponisten zu kommen, hat man es bis jetzt gewagt, Herz, Czerny, Hünten und die Legion ihrer Nachäffer in ihrem wahren Licht darzustellen? Lebhaft erinnere ich mich noch des tiefen Unwillens, der mich beim ersten Durchspielen dieser Compositionen erfaßt. Und doch kam gar nie, oder von nicht competenten Stimmen, diese Sache zur Sprache – Woran lag es also bis jetzt?“ Der Grund seien „Rücksichten – Rücksichten – und wieder Rücksichten“, und ‚Rücksichten‘ ist jedesmal gesperrt gedruckt. „Rücksichten – Rücksichten – und wieder Rücksichten // waren die gewichtigen Hindernisse“. Es fehlt nicht an einem pathetischen Intelligenz-Schluß-Schnörkel: „der Umstand, daß höchst selten Künstler oder wahre Kunstverständige ihre Stimme öffentlich dagegen erhoben, eine in ihrem innersten Wesen entweihte Kritik durch so viele unberufene, durch Eigennutz geleitete, oder in Wahn befangene Referenten, die Scheu sich mit Leuten solcher Kategorie auf den Kampfplatz zu stellen, Alles dieses ließ das Unkraut so üppig gedeihen und wuchern, daß nur eine sehr scharfe, kräftig geführte Sichel die Ausjätung bewirken können wird – mögen Sie daher, wie Cato bei jeder noch so heterogenen Gelegenheit gegen seine Erzfeinde donnerte: ‚Caeterum censeo, Carthaginem esse delendam‘, bei diesem gewichtigen Anlaß dem Römer in seinem Haß gleichen, in der Liebe zur Kunst ihn übertreffen!“(2)

11. Kritik und Kritik der Kritik bei Schumann und anderen. Bloßstellungen

297

Glaubt man einem (verdächtigerweise) spöttisch aufgemachten Bericht in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“, so soll es 1834 in Paris sogar zu einem Pistolenduell zwischen dem Verlegersohn Moritz Schlesinger und einem Herz-Schüler namens Billard gekommen sein, das glimpflich verlief, aber leicht für einen der beiden hätte tödlich enden können(2) [II,292]. Schlesinger war demnach in einem Herz-Konzert von Anhängern des Komponisten beleidigt worden und forderte daraufhin den schlimmsten unter ihnen, eben Herrn Billard, zum Duell, wobei Billard als der Geforderte den ersten Schuß hatte. Der Einfallsreichtum bei der Abwehr mittelmäßiger Produkte brachte allerlei Besonderheiten hervor. Gleich im Mai 1834 erfuhr der Leser in Schumanns Zeitschrift von einem ‚Psychometer‘, einem mechanischen Gerät, das man nur mit Noten zu füttern hat, um von dem Apparat eine Antwort über deren Wert zu bekommen(3) [II,296]. Die Maschine stellt immer vier Fragen: „I. Zeigt der Componist hervorstechendes Talent? – / II. Hat er seine Schule gemacht? / III. Hätte er mit seinem Werk zurückhalten sollen? / IV. Neigt sich selbiges zu den / 1) Classikern, / 2) Juste-Milieuisten, / 3) Romantikern?“. Die Maschine beantwortet jede dieser Fragen mit einer von vier Formeln: „a) nein (absolut negativ), / b) ich weiß nicht (relativ negativ) / c) ich glaube (relativ affirmativ) / d) gewiß (absolut affirmativ).“(4) Ärger noch als Schumann verwarf Hirschbach die Potpourri-Literatur. Es habe zu allen Zeiten schlechte Kompositionen gegeben, aber noch nie so viele wie jetzt, „und die Musikalienverleger beeilten // sich der Geschmacklosigkeit gefällig zu seyn, wie ihnen als Kaufleute nicht zu verdenken.“ Hirschbach behauptet, das Gute könne nicht aufkommen, weil es vom Schlechten verdrängt werde. Die Verleger irrten, wenn sie meinten, „gewisse erbärmliche Compositionen seien nothwendig für eine Klasse des Publikums.“ Hirschbach hofft auf die Hilfe der Musiklehrer. Es gäbe inzwischen anders als früher unter den Musiklehrern „viele niedergedrückte Menschen … , die dadurch nur ihr kümmerliches Leben zu fristen trachten“. „Kann doch selbst der beste Lehrer sich kaum den Anforderungen des seichten Dilettantismus erwehren“. Und alles ist Schuld der Musikverleger. Hirschbachs eigene Not schlägt überdeutlich durch. „Die Musikalienhändler wollen den Verlag als ein blosses Geschäft betrachtet wissen, als wenn Noten Kaffee oder Zucker wären, und wünschten die künstlerische Seite desselben ganz ignorirt“(5) [II,464]. Im Jahre 1826 erschien in der „Musikalischen Eilpost“, eine Art Kritikerverulkung „Brief eines alten Kritikers an einen jungen Componisten“(6) [II,176]. Der ‚alte Kritiker‘ empfiehlt dem jungen Komponisten, möglichst unverständlich zu schreiben, weil der Mensch und also der Kritiker „das, was er nicht versteht, für etwas Absonderliches, Tiefes, vielleicht Großes und Erhabenes“ hält. Ferner möge er die Stücke so lang machen, daß die Hörer ermüden, er möge alle paar Takte die Tonart und den Rhythmus wechseln. Er möge alles vermeiden, was klar überschaubar ist. „Auch mit der Modulation müssen Sie dergestalt umspringen, daß Sie in kurzer Zeit alle 24 Tonarten durchlaufen.“ Daß gegen Rezensionen Antikritiken geschrieben wurden, ist selbstverständlich. In der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ wurden sie in das Intelligenzblatt verwiesen, ausgenommen bei Einsendungen von allgemein wissenschaftlichem Interesse. Als im März 1830 eine Antikritik von offensichtlich überdimensionaler

298

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

Länge eintraf, die von der Redaktion für die Zeitung nicht angenommen wurde und für einen Abdruck im Intelligenzblatt möglicherweise zu teuer gekommen wäre, den Lesern aber auch nicht vorenhalten werden sollte, erbat man vom Autor einen Hinweis auf den Ort der Veröffentlichung, um diesen den Lesern in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ anzeigen zu können(7) [II,261]. Die Antikritiken betrafen sowohl die zu guten Berichte, die man „Lobhudeleien“ nannte, wie mehr noch die zu schlechten, die im Sprachjargon erst viel später „Verrisse“ hießen. Bührlen beschwerte sich 1819 über die ausufernde Mode, Stücke, die man als nicht ganz und gar schlecht befand, mit einem übermäßigen Lob zu bedenken. „In diesem Sinne kann man behaupten, dass in der grössten Stadt den ganzen Tag hindurch nicht so viel geheuchelt und gelogen wird, als während des Theater- oder Concert-Abends“(8) [II,58]. Es ist derselbe Bührlen, der erkannte, daß eine mäßig ausgleichende Kritik den meisten Widerspruch erfährt, weil sie es niemandem recht machen kann. „Die Menschen wollen Entschiedenes, Einseitiges, Parteyisches, Uebermässiges … . Im Urtheil sind die Menschen viel weiter auseinander, als im Geniessen“(9) [II,53]. Die Bloßstellung unmusikalischer, inkompetenter, unseriöser oder bestechlicher Kritiker (wobei das Eine das Andere nicht ausschließt) wird zu einem Anliegen aller Blätter, auch der „Signale für die musikalische Welt“, die es mit ihrem Spottsystem besonders leicht hatten, das Thema amüsant aufzubereiten. Die Methoden waren unterschiedlich und reichten vom mitunter kommentierten Nachdruck besonders anfälliger (dümmlicher) Berichte oder Berichterstattungsmanieren [II,191 (Ein Enthusiast für neuere Wilden-Musik …); II,199; II,446; II,474; II,511; II,519; II,522, II,524; II,548; II,550; II,552; II,567; II,584; II,608; II,619; II,643; II,649; II,694; II,744; II,745; II,767] über eigene Artikel [II,396; II,696], ironische Geschichten [II,287; II,504; II,557; II,631; II,633], Fabeln und Gleichnisse [II,361; II,313; II,499; 517], Sprüche- oder Zitatsammlungen [II,440; II,500], Gedichten (etwa von Rückert [II,258]), („Kritiker werden toben / Und um Bezahlung loben.“[II,304; II,332; II,610], allgemeinen Vergleichen [II,307; II,558], („Des Recensenten Busspredigt wider manche schreibende und singende Operisten“ [II,317]), Offenlegung von Mißständen und Bestechlichkeiten [II,469; II,470; II,571; II,585; II,599; II,642; II,741] und mehr oder weniger ernsthaften Darlegungen [II,163; II,239; II,250; II,437; II,466 (Geyer); II,481 (Koßmaly); II,653/654; II,715], Namens-Nennungen mit Einzelvorwürfen [II,709 (Vorgang August Berberich in Kassel), II,323 (Dresden), II,371, II,374, II,375 (gegen Carl Banck), II,373 (gegen Rellstab und seine Anhänger), II,518; II,636 (gegen Rellstab)]. Allerdings wird und würde sich ein Pseudo-Kritiker nie dazu bekennen, unmusikalisch, inkompetent oder gar bestechlich zu sein. In Wien machte das Malheur des Hofrats Dr. Rousseau die Runde, der eine Darbietung besprach, die nicht stattgefunden hatte(10) [II,470], und in Paris bestrafte man angeblich aus demselben Grund einen Redakteur mit 500 Francs Geldstrafe(11) [II,741]. Ein längerer, überwiegend ironisch verfaßter Artikel „Die moderne Musikkritik und ihre Repräsentanten“(12) [II,443] behauptete, zur Abfassung einer Kritik bedürfe es keiner Fachkenntnisse. Der Verleger oder Herausgeber lasse jeden, der

11. Kritik und Kritik der Kritik bei Schumann und anderen. Bloßstellungen

299

wolle, Rezensionen schreiben, sofern er kein Honorar verlange. Die Überschrift des Artikels verspricht mehr als sie hält. Lewinsky will zeigen, wie man Musikkritiker, und zwar ein schlechter Musikkritiker wird. Derselbe zum Spott neigende Ignaz Lewinsky legte Vorschläge vor, wie man am besten einen interessanten Journalartikel verfaßt(13) [II,532]. Man müsse über etwas schreiben, was allen schon bekannt sei, und eine harmlose Begebenheit mit allerlei Erfindungen ausstatten, die nicht stattgefunden hätten. Er macht es den Lesern an einem Beispiel vor. Als dem „Frankfurter dramaturgischen Wochenblatt“, das als Beiblatt zum „Allgemeinen musikalischen Anzeiger“ erschien, 1827 eine Warnung zuging, man wolle handgreiflich gegen den Theaterkritiker der „Didaskalia“ vorgehen, benutzte die Redaktion den möglicherweise vorgeschoben-erfundenen Vorfall, um ganz allgemein die Theaterkritik als überflüssig zu bezeichnen [II,183]. Wenn in der von Anton Gubitz in Berlin verantworteten „Monatsschrift für Dramatik, Theater, Musik“ im Januarheft 1847 „Ueber die Stellung der dramatischen Kunst zur Kritik“ gesprochen und die Kritik als „die Freundin alles Wahren, Großen und Schönen“ dargestellt wird, „das sie mit Heftigkeit und Bitterkeit gegen alles Falsche, Kleine und Häßliche vertheidigt“, so sind das undefinierte Allerweltsbegriffe. Der Verfasser benötigt sie, um sein vermutlich eigentliches Anliegen, nämlich die Anprangerung der schlechten Kritik, besser ins Licht rücken zu können(14) [II,598]. Um so mehr überrascht der Schlußteil „Was heißt heut zu Tage Kritik? Was will die heutige Kritik?“ Betrachte man die geschriebenen Kritiken, so käme man leicht in Versuchung, „sich des Namens eines Kritikers zu schämen.“ Wenn die „grundlosen und faden Lobhudeleien, … oder die brutalen, witzig seyn sollenden ‚Herunterreißereien‘, denen man noch weit öfter in gewissen ‚Organen der öffentlichen Meinung‘ begegnet, für Kritiken gelten wollen, dann muß es mit der Bildung der Kritiker jämmerlich genug aussehen.“ In der „Neuen musikalischen Zeitung für Berlin“ ließ Otto Lange 1847 einen längeren Aufsatz unter dem Titel „Nöthige Worte für unnöthige Leute“ veröffentlichen, die sich gegen eine vagabundierende Kritik richten(15) [II,628]. Mit den unnöthigen Leuten meint er Kritiker. Das Unglück wolle es, daß sich die Kunst zum Himmel erhebe, der Künstler jedoch des vermittelnden Urteils bedürfe. „Die Kritik aber vermittelt das Verständniss der Kunst, sie soll der zur Kunst sich heranbildenden Menge ein Wegweiser sein, sie soll in ihrem Thun das Urtheil der Geschichte vorbereiten. Geschieht das? Keine Literatur besitzt so viel unnützes Gesindel, so viel vagabundierende Scribenten, als die musikalische“(16). Der Artikel ist janusköpfig. Es gibt die guten und die schlechten Kritiker. Die guten folgen den ‚wahren‘ Idealen, die schlechten nicht. Und dann sind da die Künstler, die erst an die Erde und dann an den Himmel denken. Schließlich ist noch die ‚Zeit‘ verantwortlich zu machen, die nur auf Amüsement aus ist. Alles was Lange schreibt, ist richtig, aber kein Symptom seiner Zeit allein. Es ließe sich in jedes Jahrhundert übertragen und ist in seiner pauschalierenden Einseitigkeit intellektuell wertlos. Es ist ein gut geschriebener Artikel und die Zeitgenossen werden ihn so auch beurteilt haben. Trotzdem ist er nichtssagend, weil Lange, wie alle vorsichtigen Redakteure, im Allgemeinen bleibt. Er nennt keine Namen, stellt keine Bezüge her. Das unterscheidet ihn und andere Redakteure etwa von Hirschbach.

300

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

Hirschbach nannte die Namen, nannte die Journale, nannte die Städte, nannte die Ereignisse. Gaillard verfuhr ähnlich, machte sich aber in der Überzogenheit seiner Polemik gegen Schmidt beinahe unglaubwürdig. Hirschbach ging aufs Detail ein und sah sich mit einem solchen Haß bedacht, daß er aufgeben mußte und nicht mehr als ehrenwert angesehen wurde. Langes Artikel ließ sich ohne Mühe ins Gegenteil verkehren: es gibt die guten Kritiker, es gibt die guten Künstler, es gibt Zeitgenossen, die nicht zuerst ans Amüsement denken. Lange beherrscht die Kunst, mit vielen wohl klingenden Worten, denen sich jeder anschließen wird, konturenlos nichts zu sagen und darf sich der Zustimmung seiner Leser sicher sein. Es sind markantschöne Worte, die blenden sollen. Lange will „die Kritik“ als Kompetenzinstitution einrichten und ihr die Aufgabe zusprechen, das Urteil der Geschichte vorweg zu nehmen und den Künstler als unter dem Kritiker stehend zu bestimmen. Das nebulöse Beschimpfen von Kritikern, ohne deren Namen zu nennen, dient als Staffage einer Autoritätsbildung in eigener Sache. In anderem Zusammenhang hat Lange einen der von ihm verabscheuten Kritiker benannt, nämlich ausgerechnet Carl Gaillard. Langes Theorien und die von ihm geschriebenen Kritiken sind ihrer Schlußfolgerungen wegen selbst mehr als nur problematisch. Lobe sowohl wie Brendel haben das erkannt und seine Thesen mit unterschiedlicher Heftigkeit abgelehnt. (1) †: (Die musikalische Kritik – die Rücksichten.), Korrespondenz aus Wien vom 3. Juni 1834, NLZfM I./21, 12.6.1834, S. 83b–84a, Z:83b; (2) Unterhaltung, AmZ XXXVI/16, 16.4.1834, Sp. 265–267, Z:265/266; (3) F-n.: Der Psychometer. Erster Versuch, NLZfM I./16, 26.5.1834, S. 62a–64a; (4) Psychometer, a. a. O. S. 62b + 63a; (5) H. H.: Aus einem Briefe an einen Musikalienhändler, Rep I/1, Januar 1844, S. 50–52, Z:51; (6) MEp I./15, 1826, S. 113a–114a; (7) AmZ XXXII/11, 17.3.1830, Sp. 178; (8) F. L. B: Aus den Papieren eines Musikfreundes, AmZ XXI/6, 10.2.1819, Sp. 94–95; (9) F. L. B.: Bemerkungen, AmZ XX/27, 8.7.1818, Sp. 495–496; (10) AWM-Z IV/29, 7.3.1844, S. 115b; (11) SfdmW VIII/5, 30.1.1850, S. 39; (12) AWM-Z III/57, 13.5.1843, S. 237a–239a; (13) WAMZ V/118, 2.10.1845, S. 469b–471a; (14) Dr. S. .... r.: Monatsschrift, a. a. O. S.4a–5b; (15) Lange: Unnöthige Worte, NmZfB I/35, 1.9.1847, S. 289a–291b; (16) Lange, Unnöthige Worte, a. a. O. S. 290a.

12. WIDER DIE ‚MÄKLER‘. APORIEN Die Tatsache, daß zu jeder begründeten Position eine anders begründete Gegenposition eingenommen werden kann, macht Beurteilung über das Fachliche hinaus zu einer Charaktersache, wenn nicht gar zu einer Sache der Moral. Zu diesem Ergebnis kam schon Bührlen. Ihr folgen die Parteiung und auch der Starrsinn, unbelehrt bleiben zu wollen. Das Thema ist keine Angelegenheit der Schumann-Zeit allein gewesen, sondern läßt sich durch die gesamte Geschichte der Musikkritik verfolgen. „Schreibt ein Deutscher eine Oper im deutschen Style, flugs sind die Aristarchen hinter ihm drein und klagen über Mangel an Melodien. Schreibt er eine Oper,

12. Wider die ‚Mäkler‘. Aporien

301

die reich an Melodien ist, jammern sie über Mangel an Styl. Wie soll denn nun ein Deutscher eine Oper schreiben?“(1) [II,654]. Rochlitz sprach in der Einleitung zum Jahrgang 1821 abwertend von den „Mäklern“, die meinten, sie „wüssten’s besser“(2) [II,61]. Derselbe Rochlitz zitierte 1828 „Aus einem Schreiben an den Redacteur“: „Es ist eben so schwer, mithin eben so selten, dem // heiss aufflackernden Enthusiasmus und der kalt zergliedernden Reflexion über dergleichen Gegenstände recht zu predigen, als es beyden ist, die Predigt nicht aufzunehmen“(3) [II,214]. In einer Rezension aus dem Jahre 1809 in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ werden mit einem Bild Kritiker kritisiert, die „den höchsten Massstab für Kunstwerke überhaupt“ anlegen: „Ist’s nicht Affektation und Pedantherey, mit Geschmack geformte, gut ausgetriebene, zierlich verarbeitete Bronzen zum Hause hinaus werfen zu wollen, weil sie kein Gold sind?“(4) [II,21]. Bührlen stellte 1822 fest: „Die strengsten Kunstrichter und rechte Gross-Inquisitoren … sind diejenigen, denen der Himmel bei viel Scharfsinn und Verstand das Hauptorgan für die Kunst, z. B. die Musik – Ohr und Gemüth versagt hat“(5) [II,76]. Und im selben Jahr heißt es bei ihm: „Das gewöhnliche Absprechen und Verdammen ist beleidigend. Nur der ist zum Tadel, zur scharfen Kritik berechtigt, der zuvor ausspricht, was erreicht und geleistet worden ist“(6) [II,78]. Drei Jahre später warnt er: „Weise sind mild, aber fürchte die klugen Leute“(7) [II,127]. Und um noch einmal Bührlen zu zitieren, so erinnerte er 1829 an eine Stelle aus Goethes „Westöstlichem Diwan“. Alle gehen mit Abscheu an dem toten Hund vorbei und reden „ihm alles Ueble“ nach, nur Christus nicht, der „nach seiner milden Art bemerkt, dass er herrliche Zähne habe“(8) [II,96]. Die Verdienste anderer zu würdigen, sie vor der Unwissenheit, der Arroganz und den ‚Convenienz-Ansprüchen‘ derjenigen zu schützen, „die sich in der Welt entsetzlich breit machen“, gilt einem unbekannten Aphorismenschreiber im „Museum der eleganten Welt“ als das „edelste Verdienst“. Er ist weltklug genug, um hinzuzufügen, „wenn man mächtig genug ist, dies zu können“(9) [II,321]. Wieder war es Bührlen, der 1826 die Folgen einer bösartigen Polemik erkannte: „Eine einseitige, negative, malitiöse Kritik hat das Aergerliche, dass wir uns im Stillen immer mit ihrer Widerlegung abgeben, dadurch viele Zeit für positives Wirken verlieren, und wenn wir mit Apologieen auftreten, gegen sie nichts gewinnen, weil sie, wie ein Rabulist, schon im Voraus gegen Alles mit ihrem ‚Nein‘ gefasst ist“(10) [II,169]. Anderthalb Jahrhunderte später wird es Karlheinz Stockhausen etwas anders ausdrücken: man vergeude an seine Gegner mehr Zeit als man für seine Freunde erübrige. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8)

AWM-Z VIII/36, 21.3.1849, S. 139a; AmZ XXIII/1, 3.1.1821, S. 3/4q; AmZ XXX/15, 9.4.1828, Sp. 239–245, Z:239/240; AmZ XI/15, 11.1.1809, Sp. 234–240, Z:235 + 236; F. L. B.: Bemerkungen, AmZ XXIV/38, 18.9.1822, Sp.626; AmZ XXIV/43, 23.10.1822, Sp. 705–706, Z:706; AmZ XXVII/5, 2.2.1825, Sp. 83; AmZ XXV/52, 24.12.1829, Sp. 871;

302

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

(9) Aforisme*, Museum der eleganten Welt, I/57, 16.7.1836, S. 903; (10) AmZ XXVIII/40, 4.10.1826, Sp. 656–658, Z:157 [* Originalschreibung].

13. ZIELSCHEIBE PHILISTER Die Ausdrücke ‚Philister‘, ‚philiströs‘ und ‚Philistertum‘ wurden nicht von Schumann geprägt, sondern als Topos aus der Studentensprache übernommen. Schopenhauer definierte die ‚Philister‘ im X. Kapitel des mit „Aphorismen zur Lebensweisheit“ überschriebenen Schlußteils seiner „Parerga et Paralipomena“ von 1851 als innerlich leere Menschen ohne geistige Interessen mit einem Schwergewicht außerhalb ihrer eigenen Person, die sich nur für Mode, Klatsch und Reisen interessierten. Allerdings ist der neuromantische Philisterbegriff, wie ihn etwa Schumann benutzte, auch auf den Bereich der formalistisch denkenden Musikerschaft gemünzt, also weiter und tiefer als bei Schopenhauer genommen. Möglicherweise hat Schumann in diesem Sinne sogar in seinem Schwiegervater Friedrich Wieck eine Art von Philister gesehen. Der musikkritischen Terminologie nach ist der Philister kein Mensch ohne geistige Interessen, wohl aber in der geistigen Weite eingeschränkt. Er liebt die Musik der Vergangenheit und will von der Musik seiner Gegenwart nichts oder nicht viel wissen, hält sich aber für einen Kenner. Sein Musikverständnis ist geschmacksorientiert und ohne Tiefe. Die Parallelbezeichnung für Philister ist Spießbürger, und häufig werden beide Begriffe nebeneinander gebraucht. Eine halbwegs amüsante Darstelllung eines Philisters ließ sich 1828 in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ nachlesen(1) [II,221]. Eigentlich ging es in diesem anonym erschienenen Aufsatz um „Gedanken und Meinungen bezüglich auf Musikfeste und Oratorien“, doch beginnt der Artikel mit der Schilderung eines jungen Mannes, der sehr kluge Bemerkungen über Musik zu machen weiß. Mozart schätzte er sehr merkwürdig ein: „Mozarty sey gross, grösser als alle, aber man höre ihn doch stets heraus, und desshalb sey er bisweilen einseitig.“ Dem unbekannten Autor blieb zuletzt kein Zweifel mehr: „der feine Mann war ein musikalischer Philister“. Dann werden Eigenschaften aufgezählt, an denen man einen Philister erkennen soll. Er schimpft über ein zeitlich zu kurz geratenes Konzert, weil er für sein Geld eine längere Musik verlangt; er sitzt mit Kennermiene in der Ecke und studiert eine Partitur, die er nicht lesen kann; er kennt nur zwei Musikgrößen, nämlich Johann Sebastian Bach und Rossini; im Vorstand eines Musikfestes intrigiert er so lange, „bis der Gegenstand seines Willens als ein nothwendiges Erfordernis durchgesetzt ist“; er hält sich selbst für groß u. s. w. In der Gaillard-Zeitung wurden 1847 der Spießbürger und sein ebenso schädliches Gegenstück charakterisiert. Dort schrieb O. K. F. Schulz in einem essayartigen Artikel „Ein Wort über die musikalischen Ultra’s“(2) [II,612]: der musikalische Spießbürger halte unwandelbar am Hergebrachten fest und betrachte in seinem „Verknöchertsein in der Kunst“ die Musikgeschichte als abgeschlossen. „Bei ihnen heisst es bei einem neuen Ton-Kunstwerk weniger, ob dasselbe dem idealen Schönen im Allgemeinen sich nähert, und durch welche Originalität es überrascht

14. Musikphilosophie als kritische Propädeutik. Carl Ferdinand Becker

303

und erquickt, sondern: wie und wodurch es abweiche von dem heiligen Canon der überkommenen Form, und wie und worin gegen diese Perücken-Schulweisheit gefrevelt sei.“ Das Gegenteil davon nennt er ‚Sanscülottismus‘. Hier berührten sich die Extreme, weil beide Erscheinungen die wahre Kunst zerstörten. Der Sanscülottismus erweitere zwar die Fesseln, die der Spießbürger der Kunst anlege, „aber bis in’s Bodenlose. Bei jener würde doch wenigstens eine Art Gerippe der Kunst bleiben, durch diesen würde sie in Vandalismus ausarten; dessen Panier der zügellosen Freiheit in’s Verderben führt.“ Da weder Namen noch Werke genannt werden, ist das, wie üblich, im Allgemeinen richtig gesagt, ohne daß man es im Besonderen anwenden könnte. Lediglich der Nationalcharakter wird angesprochen. Der „sinnende Deutsche“ neigt eher dem Spießbürgertum zu, der „heißblütige Franzose und der ihm verwandte Italiener“ mehr zum Sanscülottismus. Wer oder was ist im Jahre 1847 in Frankreich oder Italien so wild, daß es alle Formen sprengt? Meinte Schulz etwa Berlioz? Oder Verdis „Ernani“, falls er ihn überhaupt gekannt hat? Der Schlußsatz spielt auf die „Virtuosen- und Opernregion“ an: „da wir aber so gern Fremden nachäffen, so haben wir von beiden Nationalitäten, besonders in der Virtuosen- und Opernregion ein recht artiges Päckchen.“ (1) AmZ XXX/33, 13.8.1828, Sp. 548–550; (2) BmZ IV/14, 3.4.1847, S. [Aa-Ab].

14. MUSIKPHILOSOPHIE ALS KRITISCHE PROPÄDEUTIK. CARL FERDINAND BECKER Auf diesem Stand ist die Kritik bis etwa 1842 stehen geblieben. Aber so, wie Gustav Nauenburg von kunstphilosophischen Skizzen und nicht mehr nach alter Art einfach von Kritik sprach, tragen viele der Aufsätze, um dem Bildungsbegriff der Zeit zu huldigen, schon im Titel eine philosophische Benennung. Die gnadenlosen Absagen an die Italiener und Franzosen und die Kritiken gegen die Salonvirtuosen bezeugen die Schärfe im einzelnen Fall – man ist sich aber bewußt, auf einem in den Grundlagen schwankenden Boden zu stehen. Die bissigen Bemerkungen täuschen darüber nicht hinweg, auch nicht die Literaturwürdigkeit zahlreicher Rezensionen. Mit immer neuen sprachlich eleganten Formulierungen kommentierte man längst bekannte Tatbestände. Es geschieht keineswegs, wie einstmals vorgeschlagen, nach stereotypem Muster in Schablonenform, im Gegenteil, man ist unerschöpflich an Ironie, satirischen Intermezzi und anderweitigen Einfällen – das ist die viel gerühmte Frische der Schumann-Zeitschrift. Der Künstler bemächtigte sich der für seine Zwecke veränderten philosophischen Begriffe, und wenn man schon den Seinsgrund der Kritik nach philosophischem Selbstverständnis nicht ausmachen konnte, so konnte man doch wenigstens denjenigen Künstler bloßstellen, der aus Eitelkeit der Musikkritik die Existenzberechtigung nur deshalb absprach, weil man ihre Existenzberechtigung nicht nachweisen konnte, getreu dem Theologenstreit, einen Gegenstand der Theologie abzustreiten, wenn man seine Existenz nicht beweisen kann. „Wie kommt denn auch

304

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

so ein Pedant, Rigorist und musikalischer Klauber dazu, Kunstwerke zu kritisiren und öffentlich über Werke, die Hans und Kunz als vollendet und göttlich schön der Welt übergeben haben, Tadel auszusprechen? Wie kann nur ein solcher Wahnsinn den kunstrichterlichen Kopf umnebeln, zu glauben, daß das Interesse für Kunst und Wahrheit dem Künstler höher stände, als seine werthe Person? O wie weit ist so ein Kritiker in der Cul- // tur zurück! Er verdient wahrhaftig Mitleid. Was ist denn aber überhaupt die Kritik? – Allem Anschein nach etwas sehr Überflüßiges, ja sogar, was noch mehr sagen will, etwas sehr Unangenehmes und Beschwerliches. Soll es denn den Componisten kümmern, ob ein Kunstwerk so oder anders beschaffen sein müsse, um diesen Namen zu verdienen! was liegt denn an den innern Gründen der Schönheit und an allen Regeln? Ein Genie, dies ist längst ausgemacht, bedarf keiner Regeln; es gibt wohl welche, aber es empfängt keine, sonst wäre es kein Genie. Daher alle ihr großen und kleinen Lichter, die ihr all das Unstatthafte und Widerliche der Kritik, wie sie so getrieben wird, beobachtet und vielleicht gar hart empfunden habt, . . “(1) [II,331]. Der Verfasser dieser sarkastischen Bemerkungen – hinter dem Kürzel C. F. B. verbirgt sich der damals 34-jährige Carl Ferdinand Bekker – proklamiert schließlich bissig ein neues Motto ‚D. R. M. S.‘, aufgelöst: ‚Die Rezensionen machet selbst!‘ (1) C. F. B.: An manche Componisten. Ein Vorschlag, der Beachtung verdient. In einer Gesellschaft vorgetragen von Obscurus, NZfM VI./7, 24.1.1837, S. 25a–26a, Z:25a–25b.

15. [ZWISCHENTEXT IV]: DER SCHUMANN-SCHILLING-STREIT(1) Die Auseinandersetzung zwischen Gustav Schilling und Robert Schumann ist im Blick auf musikkritische Systemgeschichte eigentlich belanglos, beleuchtet aber die Alltagsrealität einer heftiger auftretenden, moralisch würdebetonten neuen Musikkritik auch gegen die sich im Rahmen der Popularisierung ausbreitende pseudowissenschaftliche Allerweltsschriftstellerei von sich wissenschaftlich gebenden Journalisten, mit der eine seriöse, sich in einer Verantwortung fühlende Berufsgruppe nichts zu tun haben wollte. Schilling war ein geschickter, unternehmungslustiger, öffentlichkeitszugewandter, und viel gescholtener Mann und auf seine Weise nicht besser oder schlechter als viele andere Musikschriftsteller der Zeit auch, die ungeniert aus fremden Büchern abschrieben, sich interessenbezogenen Leitbildern verpflichteten (in diesem Falle der Methode Logier) und es an der nötigen Sorgfalt im Detail fehlen ließen. Immerhin erhielt er mancherlei Auszeichnungen und schaffte es bis zum Hofrat. Er war der Sohn eines Pfarrers und hatte evangelische Theologie und Philosophie studiert und in Philosophie promoviert. Er schrieb über theologische, philosophische und politische Themen, überwiegend aber, und das gleich im Dutzend, Bücher über Musik. Daß er sich im Alter von über fünfzig Jahren mit erheblichen persönlichen Schulden einem polizeilichen Zugriff erst in Richtung New York, dann, als man ihn dort aufspürte, in Richtung Kanada absetzen mußte und schließlich 1881 in Nebraska auf der Farm seines Sohnes starb, verleiht seinem Leben, das bislang

15. [Zwischentext IV]: Der Schumann-Schilling-Streit

305

nicht ausgeleuchtet worden ist, einen Anflug von Tragik. Vermutlich wäre es nie zu einer dermaßen feindseligen Kontroverse zwischen Schumann und ihm gekommen, wenn sich Schilling nicht Schumanns Braut Clara Wieck in zu eindeutiger Weise genähert hätte. Die Auseinandersetzungen verliefen mit zunehmend polemischem Unterton in drei Phasen. Schilling hatte mit der Herausgabe eines „Universallexikon der Tonkunst – Enzyklopädie der gesamten musikalischen Wissenschaften“ begonnen. Die ersten beiden Bände wurden von Carl Ferdinand Becker besprochen. Schilling gehörte zu den, wenn auch eher „faulen“ Mitarbeitern der Zeitschrift (der Ausdruck stammt von ihm selbst). Die Rezension fiel kritisch, aber nicht persönlich oder gar bösartig aus, was ohnehin nicht zu Becker gepaßt hätte. Becker war ein ausgewiesener Fachmann, Schilling war es nicht. Becker hielt einiges für ‚ausgezeichnet und durchdacht‘, bemängelte aber zu flüchtige Nachforschungen und als deren Ergebnis Unrichtigkeiten und Unvollständigkeiten, daneben Ungleichgewichtigkeiten der Artikel, zu viele stehen gebliebene Druckfehler und allem voran die Übernahme von Textauszügen ohne Quellenangabe und ohne Textkritik. Schumann räumte Becker mit zwei Fortsetzungen erstaunlich viel Raum ein und brachte alle Teile als Kopfartikel(2). Schilling fühlte sich angegriffen und antwortete am 27. Dezember 1835 „An den Herrn Organist(3) C. F. Becker in Leipzig. / (Mehr als Antikritik.)“. Der Artikel-Brief wurde im Februar 1836 zusammen mit Beckers Antwort „An den Herrn Doctor Gustav Schilling / in Stuttgart. (Mehr als Entgegnung auf das „Mehr als Antikritik“)“ abgedruckt(4). Er war aufgeregt und verletzend bis beleidigend gehalten, sprach Becker die Kompetenz ab und berief sich darauf, nicht für Fehler in Anspruch genommen werden zu wollen, die von den Artikelschreibern, etwa Fink, gemacht worden seien. Zu den Plagiaten bekannte er sich ganz ungeniert. Kein „ehrlicher Mann“, hieß es da, könne ein Unrecht darin sehen, die Biographie eines abgeschlossenen Lebens so nachzuerzählen, wie sie schon anderswo, etwa bei Gerber, erzählt worden sei. Gleichwohl offenbarte sich Schilling noch deutlicher sowohl als Wissenschaftler wie als Charakter; als Wissenschaftler, wenn er es für nebensächlich hielt, ob ein Künstler nun ein Jahr früher oder später als bei ihm angegeben geboren worden sei – als Charakter, wenn er Becker, den er einen „unwissenden, blinden Organisten“ von „mittelmäßiger Bildung und musikalischen Fähigkeiten“ nennt, der Eitelkeit beschuldigte, die Rezension nur deshalb in dieser kritischen Weise geschrieben zu haben, weil er im Schillingschen Lexikon nicht namentlich erwähnt worden sei. Becker ging auf die Angriffe nicht ein, sondern brachte in derselben Nummer im Anschluß an Schillings Antikritik weitere Beweise für die vorher schon angeführten Mängel und bot Schilling Zusammenarbeit unter der Bedingung an, daß dieser sich einer etwas gemäßigteren Ausdrucksweise befleißige. Die zweite Phase wurde 1837 durch Schumanns Wunsch ausgelöst, in Schillings Universallexikon als Person aufgenommen zu werden. Finks „Allgemeine musikalische Zeitung“ boykottierte ihn, und eine dritte namhafte Musikzeitung gab es damals nicht. Schilling zeigte sich vordergründig einverstanden, lehnte aber Schumanns Autorenvorschläge ab. Er wollte, mit sicherlich heimtückischem Hin-

306

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

tergedanken, Fink als Verfasser benannt wissen, Fink, von dem bekannt war, daß er zu den leidenschaftlichsten Gegnern Schumanns zählte und Schumann geradezu haßte. Schumann sah in dieser Zumutung nicht zu Unrecht eine Beleidigung. Ein Jahr später ließ Schilling eine „Musikalische Ästhetik – Versuch einer Philosophie des Schönen in der Musik“ erscheinen, schwamm also auf einer Trendwelle. Das Buch verdiente die Bezeichnung Machwerk, war unsystematisch und inkonsequent und streckenweise nach schillingscher Art aus Büchern anderer Autoren ohne Quellennennung zusammengeschrieben. Die Besprechung durch Schumanns Hausphilosophen August Kahlert im Januar 1839 fiel dementsprechend deutlich aus(5). Für den Dilettanten könne das Buch trotzdem „bis zu einem gewissen Grade“ nützlich sein, schrieb Kahlert, da Schilling „gute und praktische Einfälle“ erkennen lasse. Der Nachdruck geistigen Eigentums allerdings sei in einem Werk, das für ein System gelten wolle, noch schlimmer als Plagiate in einer Enzyklopädie. Wie seiner Zeit Becker enthielt sich Kahlert persönlicher Angriffe. Die dritte und letzte Phase der Auseinandersetzung hatte nichts mehr mit Musikkritik oder gar Wissenschaft zu tun. Für seriöse Leser war Schilling längst keine saubere Quelle mehr, aus der man schöpfen konnte, und Schweigen darüber hätte näher gelegen als immer wieder die gleichen Argumente vorzubringen. In demselben Monat Januar 1839 aber kam Clara Wieck, seit drei Jahren mit Schumann verlobt und durch ihren Vater noch an der Heirat gehindert und darob bedrückt, anläßlich ihrer ersten Konzertreise mit Gustav Schilling persönlich in Berührung. Schilling nutzte Claras Vertrauensseligkeit aus, ließ sie glauben, alles tun zu wollen, um ihr Bemühen um die Heiratserlaubnis zu einem guten Ende zu bringen, was nach dem Rechtsverständnis jener Jahre überwiegend vom Einkommensnachweis des künftigen Ehegatten abhing. Damals ging Schilling mit dem Plan zur Gründung eines neuen Periodikums „Jahrbücher des Deutschen Nationalvereins für Musik und ihre Wissenschaft“ um, das ja zu Stande kam und in der Wagnerpolemik eine unrühmliche Rolle spielte. Das Periodikum sollte alles übertreffen und ‚niederdrükken‘(6), was es bis dahin gegeben habe, und Schumann war angeblich ausersehen, daran mitzuwirken. Clara schrieb begeisterte Briefe an ihren Robert, sich dem Unternehmen doch anzuschließen. Schumann war verärgert. Er empfand Schillings Ansinnen als Anmaßung, ihm, „der schon 10 Bände einer Zeitung (erfolgreich) redigierte“(7), ein solches Angebot zu unterbreiten. Er sah in Schilling inzwischen einen „ausgezeichneten Wind- und Courmacher“, der „ein schlechtes Buch nach dem anderen ediert“, und einen ‚Spekulanten‘, wie er am 6. Februar 1839 schrieb(8). Vermutlich um Clara nicht vor den Kopf zu stoßen, milderte er seine Antwort mit dem Hinweis, „das weitere abwarten“ zu wollen. Natürlich werden bei Schumann, auch wenn er es nicht aussprach, Konkurrenzgefühle geweckt worden sein; schließlich war seine Zeitung eine seiner wichtigsten Einnahmequellen, die jede erfolgreiche neue Musikzeitung schmälern mußte. Dann geschah das Unerwartete. Clara legte ihrem nächsten Brief an Schumann einen Brief Schillings an sie bei, der offenkundig machte, daß der verheiratete Schilling der ungewöhnlichen Wiecktochter ungeniert ein schmutziges Verhältnis anbot. Er schrieb ihr darin, daß er „durchaus über das Geld verfüge, auch zwei Frauen zu ernähren“ und daß ihr „sein Haus und Arm“ offenstünden. Schumanns Wut kannte keine Grenzen mehr, „noch zit-

15. [Zwischentext IV]: Der Schumann-Schilling-Streit

307

tere ich am ganzen Körper von solch unerhörter Frechheit“, schrieb er am 23. Februar an Clara zurück und verbot ihr jeglichen weiteren Umgang mit dem, wie sich Schumann ausdrückte, „gemeinen Heuchler“ Schilling. Jetzt machte Schumann auf Schilling regelrecht Jagd. Während er bislang bestrebt gewesen war, persönliche Anspielungen zu vermeiden, stellte er sie nun in den Mittelpunkt. Er wollte Schilling, den er als ölig-schmierig wahrgenommen hatte, geradezu schlachten. Am 14. April 1839 schrieb er an den ohnehin streitlustigen Heinrich Dorn, er möge sich irgendeines der jüngst erschienenen Schillingbücher heraussuchen und besprechen. Er habe „Schilling privatim kennen gelernt“ und halte ihn „für einen vollständigen Lump“. Knapp einen Monat später, am 10. Mai, schrieb er an Becker, er möge doch die weiteren Bände des Universallexikons besprechen. „Im übrigen ist Schilling … ein wahrhaft miserabler Mann, um den wir uns eigentlich gar nicht kümmern sollten, der aber dem Publikum Sand in die Augen zu streuen versteht – und das muß einmal gesagt werden. Denken Sie darüber nach.“ Becker dachte darüber nach, folgte Schumann aber nicht. Becker war und blieb ein sachlicher Mann und verzichtete weiterhin auf alles Persönliche. In seiner Rezension, die im September 1839 erschien, unterließ er weitere Plagiatnachweise, weil es zu viele würden, lobte einige Bereiche der Arbeit, betonte aber die ausufernden Mängel der Darstellungen im biographischen Teil, „die mit allen Irrthümern nur nach- oder abgeschrieben, andere unverantwortlich erstellt würden“. Auch die große Zahl sinnentstellender Druckfehler wird in seiner zurückhaltenden Kritik angemerkt. Man müsse das Buch mit Verstand lesen, um die „Spreu vom Weizen“ zu sondern, hieß es(9). Anders folgte Dorn den unverhohlen gegebenen Schumannschen Weisungen, zumal es zwischen ihm und Schilling schon ein Jahr zuvor zu einer öffentlich ausgetragenen Rangelei gekommen war(10). Schumann hatte am 15. April und am 15. Dezember 1840 an Becker geschrieben, er wolle Schilling „noch unters Messer nehmen“ und die weiteren Maßregeln gegen diesen „Wicht“ besprechen. Wie diese Maßregeln aussahen, die Schumann bei weniger günstigem Verlauf hätten Gefängnismauern sehen lassen können, las man unter der Chiffre ‚4‘ im Januar 1841 in 4 Artikeln, dessen erstem Schumann noch als Motto einen Plagiatshinweis voranstellte: „Die Plagiarier allein, die ohne neues Hinzuthun aus fremden Werken ein anderes zusammenstoppeln, haben Ursache, ihre heimlich benutzten, oft gar wörtlich abgeschriebenen Quellen sorgsam zu verbergen. / C. Seidel im Charinomos“ (11). Hinter der Chiffre 4 verbarg sich Heinrich Dorn. Bei ihm konnte es sich Schumann sogar erlauben, in den Text einzugreifen, um zusätzliche Schärfen anzubringen. Austragungsort war Schillings „Polyphonos, oder die Kunst in 36 Lektionen sich vollständige Kenntnis der musikalischen Harmonie zu erwerben“. Natürlich ging es um die nach Schillingscher Manier reichhaltig anzutreffenden Plagiate, eigentlich aber darum, Schilling dem Spott der Leser auszusetzen. Man nennt ihn einen „Johann Ballhorn“, einen „literarischen Don Quixotte“ und verfolgte mit dem zu diesem Zeitpunkt längst überflüssigen Nachweis von Schillings Weitschweifigkeiten, Plagiaten und offenkundigen Ungereimtheiten und Fehlern das Ziel, den Autor „öffentlich der Schande aller Gebildeten zu übergeben“.

308

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

Für Schumanns Wut spricht das Ausmaß des Artikels. Er zog sich, jedes Mal als Kopfartikel, über vier Nummern hin. Die 3. und 4. Nummer waren ausschließlich mit der Kritik an Schilling gefüllt, und zur 4. Nummer (Nr. 6) mußte noch eine zweiseitige Beilage hinzugenommen werden. Schumann war auf das Erschienene stolz und schrieb anschließend an Becker: „Der Aufsatz ist deutlich, denk’ ich und hat nebst Ihrem dem Manne den garaus gemacht.“ Im März 1841 kam es zu einem kurzen Artikel „Die Plagiate des Dr. Schilling in Stuttgart betreffend“, in dem verschiedene Institutionen angeführt wurden, die vor Schilling warnten(12). Die Redaktion, also Schumann, führte darin aus, man habe sich verpflichtet gesehen, „auf das marktschreierische Treiben dieses Pfuschers aufmerksam zu machen“. Dem von Schilling angekündigten „strafenden Gericht“ wolle man in Ruhe entgegensehen. Zu diesem Zeitpunkt war Schumann noch wohlgemut. Die Freude hielt nicht lange an. Schilling machte am Leipziger Stadtgericht eine Injurialklage anhängig, die Schumann in 1. Instanz sechs Tage Gefängnis und in 2. Instanz mit Urteil vom 25. Juni 1841 durch den Stadtrichter Dr. Winter eine Abmilderung auf fünf Taler (25 Neugroschen) Geldstrafe einbrachte. Zusätzlich wurde das Urteil im Intelligenzblatt der „Neuen Zeitschrift für Musik“ veröffentlicht(13). Schilling ließ bereits am 5. Februar 1841 im Beiblatt zu seinen Jahrbüchern unter der Überschrift „Die Neue Zeitschrift für Musik und ich – Ein Wort an das musikalisch-literarische Publikum“ eine Stellungnahme erscheinen, deren Tenor in der Behauptung bestand, die Kritiken seien nur vordergründig sachlich abgefaßt worden, weil es in Wirklichkeit darum gehe, ihn als einen unliebsamen Konkurrenten auszuschalten und dadurch zu verhindern, daß seine Jahrbücher Schumanns „Neue Zeitschrift für Musik“ und damit das Organ der Neuromantiker vom Markt verdrängten. Man habe als Beweise gegen ihn nur aus dem Zusammenhang gerissene Zitate gebracht, und den Vorwurf des Plagiats stritt er ab. Nun war Schumann nicht der einzige, der die Plagiate anmerkte. Auch in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ Finks waren die Schillingschen Plagiate thematisiert worden. Dort hatte der Jenenser Hofrat F. Hand, selbst Verfasser eines Aesthetik-Buches, in Nr. 48 des Jahrgangs 1838 unter dem Titel „Warnung“ Schillings Schrift scharf abwertend besprochen(14), und mit Nachweis vieler Textstellen konnte man etwas vom „zusammenschreiben“ des Buches lesen. Es paßte zur inkorrekt-oberflächlichen Schreibart Schillings, hinter dem Dornschen Artikel Adolf Bernhard Marx zu vermuten und diesem nach bekanntem Muster gleich wieder gekränkte Eitelkeit zu unterstellen. Marx, der gerade den Professortitel erhalten hatte, habe nur deshalb so geschrieben, weil er, Schilling, dessen Biographie anders abdruckte als von Marx gewünscht. Marx verfaßte sowohl gegen Schilling wie gegen Fink eine „Erste und letzte Erklärung“, die Mitte Juli in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ abgedruckt wurde(15). Nur der Vollständigkeit wegen sei auf das Ende der in eine Klopffechterei ausgearteten Polemik hingewiesen. Noch vor dem Urteilsspruch verhöhnte Schilling Schumann mit dem possenartigen Artikel „Bericht des chinesisch-neuromantischen Oberinspektors Schuh-Wah-Kah-Man“, dessen Titel für sich spricht. Schumann

15. [Zwischentext IV]: Der Schumann-Schilling-Streit

309

wolle alle nicht neuromantisch Denkenden bloßstellen. Schilling bezeichnet die Schumann-Anhänger als „Erzmandarine der höchsten Anbetungsstufe“ und als „Generalgeistinspektoren“, die alle Komponisten, Virtuosen und Schreiber so lange demütigten, „bis ihre Finger verstrickt in dem Saume von dem Schleppkleide des hohen und erhabenen Willens“ seien. Schumann verfolge das Ziel, in der Musikwelt die Alleinherrschaft zu erlangen, und Schilling will mit seinen chinesisch getarnten Formulierungen seinerseits die Schumannsche Richtung lächerlich machen. Schlimmer war der zweite Artikel mit dem nicht näher zu kommentierenden Titel „R. Tartuffe“. Jetzt war es Schumann, der gegen Schilling Klage einreichte, aber abgewiesen wurde. Schumann beendete die Auseinandersetzung, die längst ihren wissenschaftlichen Ernst verloren hatte, ähnlich Schilling mit einer satirischen Humoreske „Die Verschwörung der Heller. / Romanze in Prosa. / Von Florestan“ die am 21. September 1842 erschien(16). Er verarbeitete darin alle bislang auch in den Briefen schon benutzten Motive. Aus Schilling wird Heller (die kleinste damals im Umlauf befindliche Münze), Clara ist die „schöne Dukatin“, der in unerwiderter Liebe der Heller verfällt. Die Hellermünze zeigt auf der einen Seite einen Don Quichotte, auf der anderen die Aufschrift „Bösewicht“. Aus dem „Deutschen Nationalverein“ wird der „Verein gegen das Betteln“, dessen Ziel es ist, alle Goldstücke, also die Neuromantiker, aus der Welt zu schaffen. Der Heller kämpft wie ein Rabe, um sich sein „Universal-Zentral-Lexikon“ zusammen zu stehlen. Am Ende gelingt es der Masse der Kupfermünzen nicht, die wenigen Goldstücke zu besiegen und verliert sich, bedeutungslos wie zuvor, unter „Tischen und Stühlen“. Die Nachrichten, mit denen man 1857 den Lesern Schillings Flucht mitteilte(17), haben Schumann nicht mehr erreicht. Er starb ein Jahr zuvor. Wenn Schumann Schilling einen Heuchler nannte, mögen ihn auch äußere Dinge gestört haben. Insbesondere werden religiöse Sentenzen dann übel vermerkt, wenn man ihnen aus der Realität heraus keinen Glauben schenken kann. Schilling stellte seine „Jahrbücher“ unter den in diesem Zusammenhang eher peinlich wirkenden und die Persiflage geradezu herausfordernden Wahlspruch „Omnia ad majorem Dei gloriam“ („Alles zur größeren Ehre Gottes“). Er wurde im Prolog zum 2. Jahrgang 1840 „An das Publikum“ sogar fett gedruckt und im Text noch eigens darauf hingewiesen [II,370]. Mit sich selbst ist Schilling sehr zufrieden. Fast der halbe Text wird durch Sperrdruck ausgezeichnet. Das Selbstlob ist größer noch als das, womit sich Fink bedachte. Seine Jahrbücher fördern die „wahrhafte, ächte Kunst“, sie bekämpfen die „rücksichtslose Anmaßung“, die „seichte Oberflächlichkeit“, sie stellen die Dinge mit „ungeschminkter Offenheit“ dar, zeichnen sich durch „Gründlichkeit“ aus und durch „Lossagen von allem Parthei- und Faktionenwesen“, durch „Verachtung aller kleinlicher Persönlichkeit“ und durch „felsenfeste Treue dem, was eigentlich Kunst ist“. Die Realität stand dazu in einem krassen Gegensatz. So stichelte Schilling am 26. März 1840, also vor dem Erlöschen des Streites, gegen eine Schumann zugeschriebene vereinfachende Erläuterung des Begriffes ‚Cantate‘ in einem Damenkonversationslexikon [II,376]. Schumann stellte den Vorgang in seiner Zeitschrift am 21. April richtig [II,377].

310

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

(1) Unter Benutzung einer unveröffentlichten Düsseldorfer Seminararbeit von C. Katharina Goldberg (1993); (2) NZfM III./45, 4.12. 35, S. 177a–178b; ~ 46, 8. 12. S. 181a–182a; ~ 47, 11. 12. 185a–186b; (3) Originalschreibung; (4) NZfM IV./12, 9.2.1836, S. 49a–52b. Schillings Gegenbrief wurde bereits am 27. Dezember 1835 geschrieben, sollte (konnte) aber erst nach Beckers Antwort vom Januar 1836 veröffentlicht werden (S. 52b–54b); (5) Kahlert, NZfM X./6, 18. Januar 1839, S. 21a–23a; (6) Berthold Litzmann: Clara Schumann – Ein Künstlerleben, Breitkopf und Härtel, Leipzig 1902, I. Band, S. 276); (7) Litzmann: (5.2.39); (8) nach Litzmann; die Orthographie ist nicht original; (9) NZfM XI./20, 6.9.1839, S. 78b–79b; (10) Schreiben an Herrn Dr. Schilling, in Stuttgart, NZfM III./35, 30.10.1835, S. 140a–b; An Herrn Heinrich Dorn in Riga, NZfM IV./3, 8.1.1836, S. 12b (geschrieben mit Datum 20. November 1835); (11) NZfM XIV./3, 8.1.1841, S. 9a–11b; ~ 4, 11.1.41, S. 13a–14b; ~ 5, 15.1.1841, S. 17a–20b; ~ 6, 18.1.1841, 21a–24b + Beilage 25a–26b; (12) NZfM XIV./21, 12.3.1841, S. 86b; (13) Bekanntmachung, Intelligenzblatt Nr. 1, Juli 1842, S. [Aa]; (14) F. Hand: Warnung, AmZ XL/48, 21.11.1838, Sp. 807–808; (15) Marx: Erste und letzte Erklärung, NZfM XVII./5, 15. Juli 1842, S. 20b; (16) Die Verschwörung der Heller, NZfM XVII./26, 27.9.1841, S. 108b–110b; (17) „Der bekannte musikalische Vielschreiber G. S. in Stuttgart, der einiges Leidliche und viel Schlechtes geliefert hat, sah sich durch eine Schuldenlast, deren Betrag sich nach der D. Allgem. Ztg. auf 100,000 fl. belaufen soll, veranlaßt, das Weite zu suchen. Er hatte zugleich falsche Wechsel gemacht und escamotirt. Jetzt schwimmt er bereits auf dem Ocean, hat sich aber auf die längste Reise vorbereitet, indem er ein Paar Pistolen mitnahm“ (NZfM 46./5, 30.1.1857, S. 52b).

16. ERGEBNIS HISTORISCHE KRITIK. EDUARD KRÜGER a) Zur Person Im Jahre 1841 taucht zum ersten Mal der Name Eduard Krüger auf. Dr. Eduard Krüger, mit 23 Jahren in Göttingen über ein altphilologisches Thema promoviert, ist einer der geistreichsten, scharfsinnigsten und kenntnisreichsten Autoren jener Jahre gewesen. Er sitzt (noch) in Emden, ist Hegelianer, überspringt mit seinen Anschauungen die später liegenden Vorstellungen der Berliner und schließt sich nach dem Redaktionswechsel zunächst Brendel an, dessen unmittelbarer geistiger Vorläufer und zeitweise Weggenosse er wird. Er ist 34 Jahre alt, zählt zu den sachlichsten Musikkritikern des Jahrhunderts und steigt vom Gymnasiallehrer und Seminardirektor in Emden und Aurich 1861 zum Universitäts-Bibliotheksdirektor und Professor für Musik in Göttingen auf. Er wird 1848/49 die Hannoversche Zeitung redigieren, und seine Musikkritiken sind u. a. in den Göttinger Gelehrten Anzeigen, in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“, in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ und später in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ nachlesbar. Noch 1838 erscheinen (in Emden) sein „Grundriß der Metrik antiker und moderner Sprachen“, 1847

16. Ergebnis Historische Kritik. Eduard Krüger

311

die „Beiträge für Leben und Wissenschaft der Tonkunst“ (man wird an Brendels späteren Zeitschriftentitel erinnert), 1866 ein „System der Tonkunst“. Er stirbt 1885 nicht ganz 78jährig in Göttingen. Seine „Betrachtungen über Kritik und Philosophie der Kunst“(1) [II,390] zeigen, warum gerade Krüger bei der Neuorientierung zur historischen Kritik hin eine führende Rolle zukam. Der Aufsatz wurde im Februar 1841 abgeschlossen und fünfteilig in den Monaten April und Mai in Schumanns Zeitung veröffentlicht. b) Der Aufsatz Der Begriff ‚Philosophie‘ erscheint schon im Titel. Er gibt die Antithetik seiner Zeit wieder. Charakteristischer Weise redet Krüger von Kunst allgemein und nicht bloß von Musik. Während der Philosoph der Musik die „Fähigkeit oder die Würde tieferer Gedankenentwickelung“ abzusprechen scheine(2), drehten die Musiker die Frage einfach um, indem sie ihrerseits die Fähigkeit des Gedankens in Zweifel zögen, das Wesen der Kunst zu ergründen. Es scheine ihm so, als sei der Friede zwischen Dichter und Musiker auf dieser Welt unmöglich. Und doch zeige die klassische Kombination zwischen Dichter und Kritiker, wie sie Goethe und Schiller entwickelt hätten (Krüger nennt tatsächlich Goethe und nicht, wie bis 1850 vielfach üblich, Schiller zuerst), daß das eine zum anderen gehöre, daß eine Lösung möglich sein müsse, und die bequeme Art, das Schlachtfeld zu verlassen, um den Feind nicht zu beachten und einfach für tot zu erklären, sehr der Feigheit ähnlich sehe und keineswegs glücklich sei. Es dürfe geraten sein, im Haß gegen „Kritik, Recension, Gedanken und was wir sonst auf philosophischer Seite zusammenfassen“ nicht allzu deutlich seine Furcht zu verraten, „die Furcht des bösen // Gewissens, das seine kümmerlichen Gebilde vor dem ernsten Auge des Gedankens nicht rechtfertigen, sondern verbergen“(3) möchte. Denn diesen Ernst habe der Genius nie gefürchtet, vielmehr sich ihm von jeher verwandt gefühlt und ihn immer in sich getragen. Musikkritik wird grundsätzlich als Teil der Philosophie gesehen. Krüger stellt im Laufe seiner raumgreifenden Abhandlung vier kritische Fragen in der Nachfolge Manzonis und Goethes zusammen. Von deren Beantwortung hängt für ihn ab, ob die Kunst nicht geistlos und die Wissenschaft nicht herzlos werde: 1. Was will die Kritik? 2. Ist, was sie will, vernünftig, ersprießlich, förderlich für Kunst und Menschheit? 3. Leistet sie, was sie will? 4. Durch welche Mittel ist sie dazu in den Stand gesetzt? Zunächst räumt Krüger die landläufige Meinung aus, jedes Urteil über ein Kunstwerk sei schon Kritik, zumindest ein Embryo davon. In diesem Falle würde man das triviale, unbewußte Urteil über Gefallen oder Nichtgefallen im Prinzip dem durchgebildetsten wissenschaftlichen Deduktionsbeweise gleichstellen, was natürlich nicht gehe. Krüger läßt als Kritik nur ein seiner selbst bewußtes wissenschaftliches Erkennen gelten und kreist von da aus ihre Tendenzen ein. „Wir folgen aber dem herkömmlichen Sprachgebrauch, welcher die Kritik als gelehrte Wissenschaft auffaßt, und demnach von ihr das selbstbewußte vernünftige Erkennen nicht getrennt wissen will, – und finden in diesem Bestreben sogleich die Absichten und

312

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

Zwecke derselben eingehüllt, nämlich zunächst zu belehren, also den Unkundigen in die niederen Regionen ihres Gebietes // einzuführen, oder dem Kundigen Nachricht über Unbekanntes zu geben, hiermit zugleich für die einzelnen erscheinenden Kunstwerke die allgemeinen Gesichtspuncte nachzuweisen und ihre Gesetze zu entwickeln, um endlich auf diesen Grundlagen zum Höchsten aufzusteigen, zur freien Erkenntniß der Schönheit, welche zugleich, als Vermittlerin zwischen diesem und den übrigen Geistesgebieten, ihre Stellung, ihr Verhältniß zum universellen Geistesleben überhaupt, also ihre Wirksamkeit, Würde, nationale und historische Bedeutung nachzuweisen Absicht und Verpflichtung ist. Hierin sind die Arten und Fächer der Kritik sämmtlich begriffen: die einfache Belehrung und Betrachtung giebt die Recension, die Entwickelung der Gesetze zeigt das Lehrbuch, die freie Erkenntniß erstrebt die Philosophie der Kunst, die Ästhetik“(4). Bereits Sobolewski vertrat die Ansicht, erst die Kritik bereite den Boden für Lehrbücher und Ästhetik vor. Umgekehrt vermag kein Kritiker seines Amtes zu walten, ohne hinterhaltende Ästhetik zu berücksichtigen. Daraus schließt Krüger, daß Kritik, Lehrbuch über die Entwicklung der Kunstgesetze und die Philosophie der Kunst, also die Ästhetik, sogar ein und dasselbe, nur in verschiedener Ausfaltung seien, in demselben Sinne, wie Allgemeines, Besonderes und Einzelnes einander nicht ausschlössen, sondern gegenseitig forderten(5). Zu prüfen ist, in welchem Verhältnis die kritischen Vermögen zum allgemeinen Kunstleben stehen. Mit dieser Prüfung sieht Krüger neue Fragen aufgeworfen, die weitere ungelöste Rätsel aufgeben und geradewegs zur Kardinalfrage führen, ob das, was die Kritik will, auch vernünftig ist. Warum gerade diese Frage die Kardinalfrage sein soll, ergibt sich aus der Art, wie Krüger das Thema anfaßt – denn zwischen den tiefsinnigen Philosophen und jenen Musikfreunden, die dem reinen, heiteren Sinnengenuß zugetan sind, sieht er keine Brücke. Krüger bezieht sich auf die Auseinandersetzung zwischen tiefer veranlagten Musikern und den Salonmusikern und begibt sich auf eine größere geschichtliche Erkundung, weil er die Frage vom eigenen Standort aus nicht glaubt lösen zu können. Natürlich fängt er bei den alten Griechen an und verfolgt die Linien bis zur Gegenwart, nur um allenthalben, wie er glaubt, nachweisen zu können, daß die wahrhafte ästhetische Kritik niemals darauf ausgehen kann, die Kunst „etwa als hülfsbedürftige nur in Schutz zu nehmen oder ihr den Rang einer zweckmäßigen Dienerin anzuweisen; dagegen den wahren Zweck derselben, den die Kunst in sich selbst trägt, zu enthüllen und zum Bewußtsein zu bringen, welche Seite des Geisteslebens und auf welche Weise sie sie offenbare, das ist der Wissenschaft edelster Beruf“(6). Für Krüger stellt sich die nächste Frage, ob denn die Wissenschaft zu einer solch großen und schwierigen Aufgabe fähig sei und welcher Mittel sie sich dazu bedienen könne – nach Krüger eigentlich „die uralte Streitfrage“(7). Selbst wenn man nicht wüßte, daß Krüger in Berlin Hegel gehört und nur ein Jahr später, ebenfalls in der „Neuen Zeitschrift für Musik“, einen ebenso raumgreifenden Aufsatz über den Hegelianismus in der Kunst geschrieben hat, würde man an dieser Stelle den von Hegel beeinflußten Kritiker erkennen können. Hier ist die Wissenschaft bestrebt, das „Gesetz der Erscheinungen zu begreifen und also vorerst dem rohen Kampfe bewußtloser Urtheile ein Ende zu machen, oder vielmehr sie zum wahren

16. Ergebnis Historische Kritik. Eduard Krüger

313

siegfähigen Kampfe vorzuüben, ist ihre erste Pflicht, von welcher sie sich zu der höheren erhebt, die Stellung der untergeordneten Kunstgattung zu höheren, zum Kunstganzen auszumitteln“ und „noch höher hinauf steigend weist sie die Stellung der einen Kunst zu den übrigen, endlich der Kunst überhaupt zum gesammten Geistesleben nach“(8). „Die Wissenschaft antwortet … mit der Erfahrung, daß alles Menschliche subjectiv-beschränkt sei, und der Einzelne wohl im Stande, den richtigen Weg zu finden, aber eben so sehr dem menschlichen Irren ausgesetzt, den richtig gefundenen stellenweise zu verfehlen. – Das Angegebene aber ist die ächte versöhnende Aufgabe der Wissenschaft, der Polemik sieghafte Waffen in die Hand zu geben, um den besonderen Kunstgeschlechtern ihre Bedeutung nachzuweisen, ihren Rang zu geben und ihre Wirksamkeit auf das geistige Leben der Völker aufzuspüren“(8). Krüger begreift die Musik als ästhetischen Selbstzweck und entwickelt eine Musikanschauung, die der kommenden realen Musikgeschichte entgegengesetzt ist. Es erklärt, warum Krüger zum Wagnergegner wurde und damit trotz aller Klugheit seinen Einfluß verfehlte, und warum die zunächst aus gemeinsamen Grundüberzeugungen so vielversprechende Weggenossenschaft zu Brendel an dieser Stelle endete. Es hieß ferner, sich mit der überkommenen Meinung von der Sittlichkeitsbeförderung der Musik anzulegen, die bislang den Mittelpunkt der allgemeinen Musikspekulation gebildet hatte. Krüger dreht die Verhältnisse um. Die Musik dient nicht der Sittlichkeit, überhaupt keinem außermusikalischen Zweck, sondern sie ist selbst ein Ergebnis der Sittlichkeit. Das sind romantische Nachklänge, die sich mit denen Wagners, der nie Romantiker war, nicht vertragen, gleichgültig, welche dieser Meinungen richtig oder irrig sein könnten. „Die Kunst ist Zeugniß des sittlichen Volksgeistes, nicht dienendes Förderniß“(6). Von diesem Ergebnis aus gelangt Krüger zu einer jetzt musikalischen Ästhetik, die mit der dritten Frage, ob die Kritik auch leisten könne, was sie will – nämlich den in ihr selbst liegenden wahren Zweck der Kunst zu enthüllen –, angesprochen wird. Der einfache Kritiker sieht in dieser dritten Frage und nicht in der mehr den Philosophen angehenden zweiten Frage das Schwergewicht der Abhandlung, denn das ‚wie‘ und ‚was‘ sind diejenigen kritischen Tatbestände, die am leichtesten in Zweifel gezogen worden sind. Den hier bemerkbaren alten Widerspruch benennt auch Krüger: es werde ein bestehendes Kunstwerk aus Gründen und Voraussetzungen gelobt und getadelt, die der schaffende Künstler nicht anerkenne(9). Denn weder die Schönheit der Melodie noch der universelle Charakter eines Tonstückes ließen sich mathematisch demonstrieren: „… es bleibt immer ein Letztes zurück, ein Unerreichbares, Unbegreifliches, ein luftiges Wesen, das der treffenden Hand entflieht, ein göttlich Geheimniß, das nur dem Glauben zugänglich ist“(9). Auf die Frage nach den Möglichkeiten, die unter diesen Umständen dem Kritiker verbleiben, gibt Krüger eine Antwort, die schon Bührlen gegeben hat: nichts als die Ehrlichkeit in subjektiver wie objektiver Hinsicht – subjektiv nach bestem Verstehen und Gewissen und ohne Hintergedanken seine eigenen Erlebnisse und sein individuelles Gefühl über das Kunstwerk zu äußern – objektiv im Gegensatz dazu nur den reinen Tatbestand im Abriß zu berichten. Das erste ergibt das Kunstwerk neben dem Kunstwerk in der Art E. Th. A. Hoffmanns und Schumanns, vorausge-

314

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

setzt, man verfügt über genügend poetische Begabung, eine lyrische Reproduktion eines künstlerischen Gegenstandes in einen anderen künstlerischen Ausdrucksbereich vornehmen zu können, und gleichwohl über so viel einschlägige Fachkenntnisse, um die Transformation sinnvoll gelingen zu lassen. Krüger meint dazu einschränkend, eine derartige Betrachtung sei mehr bei historischen Kunstwerken angebracht, nicht bei modernen, die besser eine objektiv-referierende Darstellung vertrügen. Beide Formen der Kritik, subjektive wie objektive, forderten als Voraussetzung Ehrlichkeit, beide zeigten sich aber auch einseitig und beschränkt und verwiesen gerade deshalb auf ein Höheres, das „über jener schwülen, immer prekären Subjectivität und der kalten sich selbst entfremdeten Objectivität als wahres Ziel hinaus und vorerst noch jenseits zu liegen“ scheine(10). Dieses höhere Ziel zu suchen, ist das Lehrbuch bestimmt. Auch das Lehrbuch wird zunächst aus subjektiver Regelbildung und objektiver Werkabstraktion zusammengestellt. Beide wirken Gutes, sofern sie sich auf Einzelnes, Gegebenes und das unter günstigen Verhältnissen berufen können. „Die objective Art ist die jetzt fast verrufene der französischen Ästhetik, welche sich einfältiglich mit ihrem Aristoteles und Quintilian und Horaz begnügten und den jahrtausendealten Unrath unermüdet breit traten; das Resultat war natürlich der Unrath der französischen Perücken- und Drahtpuppenpoesie – und doch darf man nicht verkennen, daß diese Apothekerbüchsen das damals kümmerliche Kunstleben wenigstens künstlich solange conservirten, bis die neue Morgenröthe des geistigen Lebens von Osten aus diese westlichen Nebel zerstreute, und jene künstliche Kunstlehre einem anderen Lichte weichen mußte“(10). Der Umsturz alles Bestehenden habe sich keineswegs bloß auf die politischen Kronen erstreckt, sondern mit dem Aufkommen der Genieperiode habe das Kunstleben seine Ehre darin gesetzt, auch alle überkommenen Kunstregeln für nichtig zu erklären. Im Laufe der Zeit habe sich der frühere Radikalismus gemäßigt und die eingependelten Verhältnisse die subjektive Sentimentalität aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts geschaffen, als man begann, sich wieder einzurichten. „Die Antwort, welche jene Fragen damals erhielten, liefen großentheils auf das subjective Ergebniß hinaus, daß man psychologische Betrachtungen über den Eindruck und Aus- // druck eines Kunstwerkes anstellte und an den Künstler die Forderung richtete, sich möglichst in diesen Ideengang hineinzuarbeiten, oder wie Hoffmann es ausdrückt, den Künstler inständigst bat: ‚sei doch gefälligst ein Genie!‘ – Diese Ansicht sprach doch wenigstens eine Forderung aus, die an Freiheit erinnerte, war aber selbst nicht frei, weil sie sich in zufälligen Eindrücken eigner oder fremder Kunstwerke herumtrieb“(11). Diese Zeit sei in der Rochlitzschen Zeitung bis 1818 widergespiegelt worden. Ein Lehrbuch, so wie Krüger es sich vorstellt, das „diese Beschränktheit eben so sehr wie die Einseitigkeit der bloß objectiven oder passiven Lehrbücher vermiede, das im Sinne der neuesten Zeit die Musik aus dem Geiste deducirte und nur auf diesem Grunde ein höheres Gebäude aufzuführen wagte, das die einseitige Halbwahrheit der älteren Kunstlehre überschritte und also der wahren Wissenschaft zustrebte, indem es jene beschränkten Standpuncte zwar historisch in sich aufnähme, aber doch eben so sehr bezwänge und dem wahrhaften schöpferischen und empfan-

16. Ergebnis Historische Kritik. Eduard Krüger

315

genden Kunstgeiste dienstbar machte“(12), ein solches Lehrbuch habe die Zeit nicht hervorzubringen vermocht. Es sei erst jetzt mit dem Anspruch einer neuen wissenschaftlichen Periode möglich geworden. In diesem Zusammenhang verweist er auf Marx, den damals hoch berühmten Theoretiker. Aber gerade sein Buch – gemeint ist die Kompositionslehre – zeige deutlich, daß auch das Lehrbuch das Letzte nicht zu geben vermöchte, sondern immer noch über sich hinausweise. Nur wer sein subjektives egoistisches Belieben eben so abgetan habe wie die „fromme Einfalt rücksichtsloser Hingebung an ein unerkanntes Höheres“ sei in dieser Zeit würdig, über die höchsten Interessen des Geistes eine Stimme abzugeben. „Nur auf diesem Wege ist es möglich, die geistigen Fähigkeiten der Schüler organisch umzubilden und ihnen die freie Gewandtheit der Glieder zu geben, welche zu jeder Kunstschöpfung befähigt und // für die höchsten unerläßlich ist“(13). Die Art und Weise, wie die Wissenschaft das gewünschte Ziel erreicht, ist eben die Wissenschaft selbst, und Teile daraus sind nichts als „amputirte und gefühllose Fingerspitzen der göttlichen Hand, welche siegend durch Wahn und Irrthum leitet“(14). Um die Fähigkeit der Ästhetik zu beweisen, zeigt Krüger zuerst ihre Wirksamkeit. Damit beginnt er einen neuen Abschnitt. Zwei Möglichkeiten des Einwirkens hat die Ästhetik. Sie bildet einmal ein Regulativ für werdende Kunst, sodann ein Heilmittel gegen Absinken der Kunst. So sei die gesamte Lehrbuchtheorie vor Schelling beschaffen gewesen. Die Folgezeit habe das Versagen derartiger Abhilfen der Genialität gelehrt, indem auf diese Weise kein Künstler zu machen gewesen sei. Es habe sich vielmehr das Bedürfnis des Geistes gezeigt, selbst zu denken, „unbekümmert um die Ergebnisse, sorglos gegen das blühende Leben der Gegenwart, gleichgiltig gegen die sinnliche Existenz, die auf diesem Wege vielmehr erst zerstört und dann von Neuem erobert d. h. begriffen werden sollte“(15). „Es wird der Begriff der Schönheit überhaupt gesucht und seine Gliederung dargestellt, nachgewiesen aus dem Bedürfnisse des vorstellenden Geistes, die innerlich schlafenden Ideen in sinnlicher Gestalt vor Augen zu stellen. Das wie giebt die vernünftige Betrachtung der Geschichte, welche erst auf diesem neu gefundenen Wege möglich wird. Die zeit- // liche Entwickelung jenes Schönheitsbegriffes zeigt, wie die fortschreitende Menschheit immer höhere Ideen mit gesteigerten Mitteln darstellen lernte, wie die Interessen mannichfaltiger und damit die Kunst vielgestaltiger ward, wie jene allgemeinsten dumpfen und dunklen Anfänge zu immer greiflicheren Bestimmungen sich ausbildeten; nach einem beliebten Bilde, wie zuerst der Tempel gebaut, dann die belebende Göttergestalt hineingestellt wird, um welche sich endlich die lebendige Gemeinde sammelt“(16). Krüger spielt an dieser Stelle die verschiedenartigen Biographietypen gegeneinander aus. Die objektiven böten ein äußerlich getreues, aber innerlich unverstandenes Bild der Gegenstände, die subjektiven hingegen würden durch zuviel drückende Polemiken und andere Eigenheiten belastet. Vor die Wahl gestellt, entscheidet er sich denn doch für die objektiven Muster, weil sie wenigstens im äußeren Umriß das Leben der in Frage stehenden Persönlichkeit nicht verschleierten und es niemandem abnähmen, sich sein eigenes kritisches Urteil zu bilden. Man müsse hier zwar zwischen den Zeilen lesen, werde aber nicht durch „die schlüpfrige Zunge eines anmaßlichen Cicerone“ darin gestört, das Geschehene mit eige-

316

7. Kapitel: Die Neue (Leipziger) Zeitschrift für Musik 1834 bis 1845

nem Sinne aufzufassen(17). Es ist ihm damit wie mit großen Gedichten, die durch keine frevelnde Hand, solange diese die objektive Reproduktion nur festhält, jemals völlig zerstört werden können. Es klingt ihm zwar alles „wie die Erzählung einer Großmutter“, von der Wiege bis zum Grabe, als Cantor, Ehemann, Komponist, Gesellschafter – gemeint ist Forkels Darstellung des „alten Magus“(18) – , nur von der geistigen Entwicklung sei keine Rede. Krügers Anschauung von Kritik und Musikkritik gipfelt in einer Apotheose des Geschichtlichen nach Hegelianischem Muster: die biographisch-bibliographischen Speicher, so meint er, würden immer seltener werden, je mehr das Licht des Gedankens „die düsteren Rumpelkammern verrosteter Geschichtchen-Erzählung“(19) durchleuchten will. „Von den wissenschaftlichen Bestrebungen unserer Zeit dürfen wir wohl bald ein Werk erwarten, daß sich den neueren Geschichtsdarstellungen von griechischer und deutscher Literatur als ebenbürtig anschließt: in dem der Geist der Kunst seiner zeitlichen Entwickelung nach gedankenvoll lebendig dargestellt, und eben so der einzelne Künstler als Spiegelbild seiner Zeit, die er dennoch zugleich beseelt und überstrahlt, gefaßt werde“(19). Diese von ihm des weiteren noch ausführlich nahegebrachte Betrachtungsart nennt er die historische Ästhetik, und sie ist nach Krüger genau das, was den objektiven und subjektiven Gesichtspunkt der ästhetischen Wirksamkeit, diese vereinigend, überschreitet, und zugleich mittelbar die Frage löst, wie die „uralt feindlichen Brüder“ Theorie und Praxis endlich zum „Frieden der Wahrheit“(19) gelangen könnten. Der dritte Standpunkt jenseits von Objektivität und Subjektivität, wie er sie versteht, der beide übersteigt und auf den beide im vorhinein schon hinzuweisen schienen, ist ihm also die historisch orientierte Ästhetik. Mit dieser abschließenden Zusammenfassung krönt Krüger seine Abhandlung über die Musikkritik. Der Gedanke ist dann wahr, wenn er mit dem historischen Geschehen übereinstimmt. Der Entwicklungsgang der Geschichte gibt eine Aufeinanderfolge von Begebenheiten, die durch den Begriff auf eine gemeinsame Größe gebracht werden. Dieser Entwicklungsgang in seiner Darstellung und Begründung ist Gegenstand der Kunstphilosophie und gleichzeitig das Kriterium einer die alten formalistischen und psychologischen Methoden überfangenden modernen Kritik: Krüger ist der erste, der dies in einem Musikperiodikum systematisch darstellt und wird somit zum Begründer der historischen Musikkritik. „In diesem Sinne beziehen sich Geschichte und Wissenschaft ewig aufeinander: die Wissenschaft zeigt den Weg des Gedankens, der sich als wahrer nur bestätigt, indem er mit dem Geschehenen übereinstimmt; die Geschichte giebt die Aufeinanderfolge der Begebenheiten, die ohne die lebendige Seele des organisch entwickelten Begriffs nur als ein wüstes Meer von Geburt und Grab erscheint. – … // … Dieser Entwickelungsgang ist das Wie der Kunstphilosophie, der einzig unerläßliche Weg, auf dem sowohl dem Aesthetiker, wie dem Kunstlehrer und dem Recensenten das schwierigste Geschäft gelingen kann, das Unbegreifliche dem Begriffe zu unterwerfen; zugleich der Weg zur Versöhnung zwischen Dichter und Denker, den wir von Anfang gesucht haben“(20). Der Krügersche Artikel in Verbindung mit seinem nachfolgenden über den Hegelianismus in der Musik bildet ein Teil von Schumanns Vermächtnis an seine Nachfolger. Daß Krüger bei modernem Ansatz in der Realität der Werkbeurteilung

16. Ergebnis Historische Kritik. Eduard Krüger

317

die postulierte Deckungsfähigkeit von Gedanken und tatsächlich verlaufender (Musik-)Geschichte selbst nicht gelingt, werden die Jahre nach 1850 zeigen. (1) Eduard Krüger: Betrachtungen über Kritik und Philosophie der Kunst, NZfM XIV./33, 23.4.1841, S. 131a–133a; ~ /34. 26.4.1841, S. 135a–137b; ~ /35, 30.4.1841, S. 139a–141a; ~ /36, 3.5.1841, S. 143a–144b; ~ /37, 7.5.1841, S. 147a–148b; (2) Krüger, S. 131a; (3) Krüger, S. 131b–132a; (4) Krüger, S. 132a–132b; (5) Krüger, S. 132b; (6) Krüger, S. 137a; (7) Krüger, S. 137b; (8) Krüger, S. 136a; (9) Krüger, S. 139a; (10) Krüger, S. 140a; (11) Krüger, S. 140a–140b; (12) Krüger, S. 140b; (13) Krüger, S. 140b–141a; (14) Krüger, S. 141a; (15) Krüger, S. 143b; (16) Krüger, S. 143b–144a; (17) Krüger, S. 147b; (18) Krüger, S. 148a, 147b; (19) Krüger, S. 148a; (20) Krüger, S. 148a–148b.

8. KAPITEL: ZWISCHENGRÜNDUNGEN I. DIE SIGNALE FÜR DIE MUSIKALISCHE WELT 1843. BARTHOLF SENFF 1. Markt-Voraussetzungen Bei aller Bedeutung, die die „Allgemeine musikalische Zeitung“ wie die „Neue Zeitschrift für Musik“ für die Kritik und die Kunst und die Höhe des musikalischen Pressewesens hatten, so war doch keine von ihnen geeignet, sich einen besonders großen Leserkreis zu sichern. Beide Blätter verstanden sich als gruppenorientierte Fachorgane. Dabei wirkte die „Allgemeine musikalische Zeitung“ zu ernst, und vor allem später zu steif, zu weitschweifig, zu fachlich, zu gelehrt – die „Neue Zeitschrift für Musik“ auf viele Zeitgenossen zu modern, zu polemisch, zu drängend und zu didaktisch. Zwischen beiden Positionen fehlte ein ausgleichendes Organ, dem sicherlich ein Markterfolg beschieden sein mußte, sofern es ihm durch richtige Führung gelang, die ‚Mitte‘ für sich zu gewinnen, gleichgültig nun, ob die Versprechungen gehalten wurden oder nicht. Die „Allgemeine Musikzeitung“, also Stoepel, erkannte das bei der Musterung der damaligen Musikzeitungen (neben der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ die Musikzeitungen von Marx und Gottfried Weber) schon 1828: „Es ist eine ziemlich allgemeine Klage, dass die Musikzeitungen zu einförmig und trocken seien; ganz natürlich, da das Feld des Wissens hier sehr beschränkt ist, und sich über Sachen des Gefühls, wozu doch die Musik ihrem Wesen nach gehört, sich nicht so vielfältig sprechen lässt, wie über eine eigentliche Wissenschaft“(1) [II,205]. So seltsam Stoepels Begründung erscheint, so richtig ist seine Feststellung. Aber Stoepel war kein Senff. Senff besaß nicht nur den nötigen Instinkt, sondern auch die Fähigkeit, aus der Unzufriedenheit sowohl mit der „Allgemeinen musikalische Zeitung“ und der „Neuen Zeitschrift für Musik“, wie aus einer Leserschaft, die sich umstrukturiert hatte, die publizistischen Schlußfolgerungen zu ziehen. Der damals dreißigjährige Bartholf Wilhelm Senff (1813–1900) arbeitete zunächst als Angestellter in der von Probst gegründeten Friedrich Kistner’schen Musikalienhandlung und trug sich mit Vorarbeiten für ein „Vollständiges Verzeichniß der im Jahre 1842 erschienenen musikalischen Schriften und Abbildungen, nach den verschiedenen Classen sorgfältig geordnet, mit Angabe der Verleger, der Preise, der Tonarten u. s. w. nebst einem alphabetischen Register“, das für die Musikalienhandlungen das werden sollte, was für den Buchhandel das Hinrichs’sche Bücher-Verzeichniß darstellte. Es war in erster Linie dazu gedacht, das mühsame Aufsuchen von Musikwerken in den verschiedenen Monatsberichten – es handelte sich damals um etwa vierzig – unnötig zu machen und nicht nur den Musikalienhändlern, sondern auch

I. Die Signale für die musikalische Welt 1843. Bartholf Senff

319

allen Freunden von Musikliteratur ein willkommener nützlicher und belehrender Wegweiser zu sein – praktisch also ein vorweg genommener Hofmeister. Der Plan wurde unter dem Titel „Jahrbuch für Musik“ im Jahre 1842 Wirklichkeit und hielt sich bis 1852 einschließlich. Senff gründete 1847 seinen eigenen Verlag und entwickelte eine ganze Reihe verlegerischer Ideen, die sich bewährten(2). (1) AMz -/9, 30.1.1828, Sp.68/69, Z:69; (2) dazu Ernst Pasqué: Vierzig Jahre aus dem Leben einer musikalischen Zeitung, SfdmW XLI/1– 6, [1.–6. Heft, jeweils Kopfartikel] Januar 1883, S. 1–3, 17–20, 33–36, 50–54, 65–68, 81–83.

2. Prinzip unterhaltende Kürze Dieser junge Mann mit einem Hang zu statistischer Reportage (man könnte ihn einen der ersten fachwissenschaftlichen Statistiker nennen) erkannte den Mangel einer Art von Zwischenblatt im Sinne einer weniger anspruchsvollen, dafür aber unterhaltenden Musikzeitung, die einfach, ohne gerade oberflächlich zu sein, über alles, was sich im Musikleben ereignete, den Interessierten rasch und mit wenigen Worten unter Verzicht auf wissenschaftliche Abschweifungen oder raumgreifende Begründungen die Tatsachen zu melden hatte, gleichviel, ob sie dem Bereich der klassischen oder der neueren Musik angehörten. Das alles dachte sich Senff knapp, ohne Prätention, wahr und ungeschminkt, besonders ohne allzu gelehrtes oder wortreiches kritisches Beiwerk. Die Ereignisse sollten nur kurz angedeutet, gleichsam ‚signalisiert‘ werden – und damit stand der Titel des Blattes fest, eben „Signale für die musikalische Welt“, das auch in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ eine Ankündigung erfuhr(1) [II, 434]. Es wurde das Klatschblatt des Jahrhunderts und zwar das erste überhaupt und eine Fehlinformationszeitung für Zeitgenossen, die über Musik unterrichtet zu werden wünschten, ohne nachher unterrichtet zu sein. Das Format Lexikon-Oktav (8°) war, wie die „Caecilia“, verglichen mit anderen Blättern, eher klein und entsprach dem Oettingerschen „Charivari“. Senff gab mögliche Irrtümer als unvermeidbar schon im Vorfeld zu. Bei so vielen Nachrichten und der Schnelligkeit, mit der sie zusammengestellt werden müßten, seien Fehler unvermeidbar, und sein Blatt sei nun einmal für den Tag bestimmt. Und natürlich kamen Irrtümer vor. Eingereichte Manuskripte waren immer handgeschrieben, und Redakteur und Setzer standen je nach Art der Handschrift vor schwierigen Entzifferungsproblemen. So hieß es beispielsweise in einer Korrespondenz aus Amsterdam, die französischen Schauspieler hätten keinen besonderen Erfolg gehabt und „Die Italiener werden mit Jammer verachtet“. Tatsächlich hatte der Amsterdamer Korrespondent „Die Italiener werden im Januar erwartet“ geschrieben. Die Sache wurde wenige Nummern später berichtigt und der Korrespondent versprach, seine Berichte künftig besser lesbar einzureichen. Das Problem blieb bis zum Aufkommen der Schreibmaschine ungelöst. In der Zeitschrift „Die Musik“ findet man als letzten Text der 5. Nummer des 17. Bandes (5. Jahrgang 1905, S. 376) den Satz „schwer lesbare Manuskripte werden ungeprüft zurückgesandt.“ Trotzdem bleibt im zitierten Fall der Verdacht einer bewußten Mystifikation

320

8. Kapitel: Zwischengründungen

bestehen; denn um 1844 stoßen die italienischen Gesellschaften allenthalben auf Ablehnung(2). Daß Senff seiner Gründung die richtige Fassung zu geben verstand, beweist schon die Tatsache, daß sich die „Signale“ während des ganzen 19. Jahrhunderts nicht umzustrukturieren brauchten. Wenn auch im Laufe der Jahrzehnte die Überschriften mancher Rubriken geändert wurden, so blieb doch der Inhalt als Sache. Er bestand aus knappen Kopfartikeln, schnell fließenden Berichten über alle namhaft werdenden Künstler oder auch nur einigermaßen interessante Vorkommnisse, aus kurz gehaltenen Kritiken über Kunst und Künstler und vor allem deren private Verhältnisse, sodann als Zugabe aus kleinen Charakterbildern und Anekdoten aus dem Kunst- und Künstlerleben. Es gab aufzulösende Musikrätsel, eine wöchentliche Zusammenstellung neu erschienener Musikalien, Verlagswerbungen und Gedichte, darunter solche von hochgestellten Personen, etwa der Herzogin von Orleans (Jahrgangseröffnung 1846) oder des Prinzen Albert (Jahrgangseröffnung 1847). Am Schluß standen Anzeigen, deren Zahl im Verlauf der Jahrzehnte zunahm. Die „Signale“ wurden bald zu einem Sammelsurium aller möglichen und vor allem auch überflüssigen Nachrichten, von Jahr zu Jahr erfolgreicher und entsprechend bandmäßig immer dicker [der 1. Jahrgang 1843 zählte 416 Seiten, der 2. Jahrgang 420, der 8. Jahrgang (1850) wuchs auf 504, der 18. Jahrgang (1860) auf 656, der 28. Jahrgang (1870) auf 952, der 39. Jahrgang (1881) auf 1192 Seiten. Im Todesjahr Wagners 1883, dem 41. Jahrgang, war die Seitenzahl 1208 erreicht]. Wer mit wem tatsächlich oder vermeintlich ein ‚Verhältnis‘ hatte‚ wer wen heiratete oder nicht heiratete, und anderes auf dieser Ebene, ließ sich bei Senff nachlesen, immer mit der Maßgabe, nicht zu wissen, ob die Mitteilung stimmte oder nicht, bei sehr großer Bewußtheit und genauer Kenntnis der tatsächlichen Vorgänge doch mit einem Augenzwinkern im Hintergrund. Das war vor allem die Rubrik „Dur und Moll“, die als Panorama musikalischer Zeitgeschichte bis heute eine der wichtigsten historischen Quellen geblieben ist, sofern man sich geschult genug zeigt, die Realität von der Mystifikation, in der sich die „Signale“ als Meister erwiesen, zu unterscheiden. Auf ein Programm wurde bewußt verzichtet, um nicht, wie es hieß, ruhmredig zu erscheinen. Eine vorherige Ankündigung verspreche, so Senff, doch wieder mehr, als eine Redaktion am Ende leisten könne – wie überall. Die Probenummer erschien 12 Seiten stark im November 1842. Theodor Drobisch, ein damals vielgelesener und vor allem als Humorist bekannter Schriftsteller (1811–1882) eröffnete das Blatt mit einer Betrachtung über ‚Operntexte‘. Es folgte mit 29 Artikeln und Artikelchen die berühmt gewordene bunte Rubrik ‚Dur und Moll‘. Verdeutscht für das nach und nach übliche ‚Novitäten‘ schließen sich ‚Neuigkeiten‘ an. Die Rubrik ‚Familiennachrichten‘ ging bald in ‚Dur und Moll‘ auf‚ und die letzte Rubrik ‚Nipptisch‘ änderte später ihren Titel in ‚Foyer‘. Erst am Ende der ersten Jahrgangs-Nummer vom 1. Januar 1843, der echten ersten Nummer des neuen Blattes, spricht Bartholf Senff unter dem Titel „‚Zu allerletzt“ einige Worte über sich und sein Unternehmen [II,435]. Sie sind in ihrer pessimistisch-nüchternen Art, die sich über das eigene Biedermeiertum und die Kunstrealität wie den Idealismus von Künstlern keiner Illusionen hingibt und den Spott über das ‚Große‘ schon in sich trägt, bezeichnend genug: „Wir haben diese erste Nummer unseres Blättchens nicht mit einer breitspu-

I. Die Signale für die musikalische Welt 1843. Bartholf Senff

321

rigen Ankündigung eröffnet‚wie dies der Journalistenbrauch erfordert. Niemand liest derartige Ankündigungen und wer sie liest, glaubt nicht an die edelmännischen Versprechungen darin. Die Zeit mag es lehren, was wir zu bieten vermögen; Viel wird es nicht sein, aber doch Etwas. Wir haben keinen Platz für große Abhandlungen, und unsere paar Octavseiten wöchentlich werden der Kunst eben auch nicht auf die Beine helfen, aber sie werden dem Publicum getreulich signalisiren, wie sie sich befindet aller Orten; sie werden stets die jüngsten Bülletins enthalten. Unser Blatt gehört dem Tage; es fehlt nicht an Zeitungen für die Ewigkeit bestimmt; möchte man uns deshalb auch heute einige Theilnahme schenken und nicht damit warten bis – in Ewigkeit“(3). Die „Signale“ waren zum Ärger des Herausgebers ein bevorzugtes Opfer für Text-Plünderer, die ohne Quellenverweis nachdruckten. Man ließ sich manche ironische Attacke einfallen, ohne das Unwesen abstellen zu können [II,706]. Später setzte man bewußt Fehler hinein, um Raubdrucker zu entlarven, die Texte aus den „Signalen“ als Quelle für unter eigenem Namen veröffentlichte Meldungen benutzten. Das Aufsuchen von Nachdrucken ohne Herkunftsangabe ist eine Aufgabe für sich. Alle seriösen Musikzeitungen befleißigten sich einer sorgfältigen Quellennennung. Auch die „Signale für die musikalische Welt“ waren peinlich darauf bedacht, die Herkunft ihrer Fremdnachrichten kenntlich zu machen. Kleinere Unternehmungen zeigten sich auf diesem Gebiet sorgloser. So brachte der von Stoepel redigierte Frankfurter „Allgemeine musikalische Anzeiger“ gleich im ersten Jahrgang 1826 eine Anekdote „Der grosse Herr und der Musiker“(4) [II,282], die anderthalb Monate zuvor unter der Überschrift „Der Meister als Lehrling“ in der Wiener belletristischen Zeitschrift „Der Sammler“ erschienen war. Da Senff Textstellen aus anderen Blättern nachdruckte – immer mit Quellenangabe – und häufig mit suffisant-stichelnden und selbstbewußt-kritischen Kommentaren versah, hat er sicherlich viel zur Verschärfung der einsetzenden Zeitungskriege beigetragen. Senffs Kunstgeschmack war rückwärts gerichtet. Als Person könnte man ihn im Schumannschen Sinne mit seinem gebrochenen Verhältnis zu Wagner und Brahms durchaus als einen gebildeten Philister bezeichnen. Das hat wohl auch seine Entscheidung beeinflußt, ausgerechnet Eduard Bernsdorf zum Hauptkritiker zu machen. (1) (2) (3) (4)

AmZ XLIV/49, 7.12.1842, S. 989–991; SfdmW II/45, 6.11.1844, S. 356; Berichtigung SfdmW II/52, 24.12.1844, S. 412; SfdmW –/1, 2.1.1843, S. 6; AmA -/5, 20.7.1826, S. 39–40.

3. Humor und Satire als musikkritische Methode Der Erfolg des neuen Blattes übertraf alle Erwartungen (und Befürchtungen) und bekundete, daß die „Signale“ den Nerv eines Jahrhundert-Bedürfnisses getroffen hatten. Diese Meinung schlug sich in zahlreichen Organen nieder, bis hin in die wenn auch nicht gerade bedeutenden „Hamburger Blätter für Musik“. Vierzehn

322

8. Kapitel: Zwischengründungen

solcher Stimmen, natürlich in Nr. 14 des ersten Jahrgangs 1843, genüßlich abzudrucken, ließ sich Senff nicht nehmen(1). Mit dem äußeren Erfolg kam dem Redakteur, Verleger, Besitzer und Hauptmitarbeiter Bartholf Senff auch der Mut zu schärferen Tönen. Er errichtete ein ‚Musikalisches Geschworenen-Gericht‘‚ dessen Präsidium er natürlich ebenfalls inne hatte und das er auch sehr entschieden führte. Die kritische Methode der „Signale“ bewegte sich im Rahmen des zeitgeschichtlich Gebundenen – mit einem Unterschied, oder besser‚ mit einer besonderen Nuance: dem Humor, der Ironie, dem Sarkasmus‚ der Satire. Der Humor war es, der die „Signale“ von allen anderen Zeitschriften plakativ unterschied und den Berichten und Kritiken Licht und Farbe gab. Vermutlich mußte deshalb auch Theodor Drobisch den ersten Artikel schreiben. Humor und Satire bedeuteten‚ die schärfsten und härtesten Kritiken, sofern man es wollte, humoristisch mildern oder satirisch noch schärfer machen zu können. Unter dem Schutze eines erklärten Schelmentums durften die gröbsten Wahrheiten und doch wie in Silberpapier eingewickelt gesagt werden. Das wirkte nach Meinung der „Signale“ mehr als alles Analysieren, als „griesgrämliches gelehrt-pedantisches Kritisiren, was höchstens nur von den direct Betheiligten und – deren Gegnern gelesen“ würde(2). Bezeichnend dafür sind schon die Titel, unter denen aus aller Welt die Berichte einliefen. Da gab es ‚Piccolo- und Bombardon-Signale‘ von ‚Odoardo Mundstück‘ und als Gegensatz dazu ‚solide‘ Signale aus Wien, dann Klänge eines ‚Unterfagotts‘, ‚Musikalischer und anderer Wiener Unsinn‘, ‚Wiener grüne Erbsen‘ – neben ‚Pfefferkörnern‘ – sodann ‚Wiener Signale von Cdur‘, von ‚Fis‘, von ‚Des‘, ‚Kunst-‚ Literatur- und LebensSignale‘. Andere Städte blieben nicht zurück. Dresden sandte die skurrilen Signale des ‚Cantors von Kuhschnappel‘, worauf sofort ein ‚Cantor zu Schlampersdorf‘ durch ‚gemüthlich-confuse musikalische‘ Berichte antwortete. Prag hatte seine ‚Camera obscura‘; Dr. H. Schiff schrieb ‚Grüneberger Freischützbriefe‘; aus Chemnitz kamen ‚Noth-Signale‘, und der Herausgeber steuerte die Listen der ‚Novi- und Raritäten der Hofmusikalienhandlung von Stimmgabel‘ bei; es gab ‚explodirende Baumwolle‘ und ‚Schwefel-Aether‘. Da schrieben der ironische ‚Modestus‘ aus Wien, ‚Butterbrodt‘ (Theodor Hagen(3)) aus London, ‚Nanté‘ (Richard Wüerst(4)) aus Berlin. Journalgeschichtlich gesehen übertrug Senff die Technik bestehender Satireliteratur auf die Betrachtung des Musiklebens. Die Ironie wirkt wie Witzeerzählen am Stück oft fad und gekünstelt, vor allem, wenn sie fehl am Platze war. Das mochte beim einzeln zu lesenden Bericht noch hingehen. Liest man die Texte bandweise, was ja nicht beabsichtigt ist, wird es unerträglich, wie bessserwisserisches Kabarett um des Kabaretts willen. Der systematisch betriebene Unernst schlug beim Leser gut an. Der Erfolg des Blattes, der sich in Zahlen ausdrückte, wird zum Auftakt der kommenden, mit dem Revolutionsjahr endgültig besiegelten Katastrophe der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ und aller belletristischen Blätter. Denn während die „Signale“ der Natur der Sache nach vermutlich kaum Leser aus dem längst zu einer eigenen Art von Gemeinde gewordenen Kreis der Schumannzeitschrift herausbrechen konnten, mußten sie als seriös erscheinendes Informations-, Unterhaltungs- und Klatschblatt, das den aus der Belletristik abgeleiteten Typ der Kurzliteratur mit der sächsischen Satireliteratur verband und in die Musikzeitschriftenlandschaft einführte, jene Leser aus der Klientel der jetzt Lo-

I. Die Signale für die musikalische Welt 1843. Bartholf Senff

323

beschen Zeitung ansprechen, welche die alte Leipziger nur deshalb (noch) hielten (und vermutlich gar nicht mehr ganz durchlasen), weil sie die neuromantischen Bestrebungen Schumanns nicht mochten, und also dahin nicht ausweichen konnten. Außer der Schumannzeitung war keine namhaft andere, für die sich ein Wechsel gelohnt hätte, auf dem Markt. (1) Was der Leser eigentlich an den „Signalen“ hat, SfdmW I/14, [erste von 4 Nummern] April 1843, S. 102–104. Angeführt werden die Blätter ‚Telegraph‘ (Gutzkow), ‚Die Rosen‘, ‚Preßzeitung‘ (Dr. Hitzig), ‚Charivari‘ (Oettinger), ‚Unser Planet‘ (Keil), ‚Europa‘ (Lewald), ‚Eisenbahn‘ (Binder), ‚Hamburger Blätter für Musik und Literatur‘, ‚Jahreszeiten‘ (Ludwig Lenz), ‚Rheinland‘, ‚Der Komet‘ (Herlossohn), ‚Der Pilot‘ (Dr. Saß), die ‚Allgemeine Wiener MusikZeitung‘ (Schmidt) und die ‚Allgemeine Modenzeitung, Literaturblatt‘ (Dr. Diezmann). Bis zur letzten März-Nummer, der Doppelnummer 13–14, führte die Redaktion in der Kopfzeile ein Tagesdatum. Es entfiel für alle weiteren Nummern des Jahrgangs. Das blieb so bis einschließlich der letzten Juni-Nummer 26 des zweiten Jahrgangs 1844. Ab der ersten Juli-Nummer (Nr. 27) 1844 gab man für die nächste Zeit auf der letzten Heftseite oberhalb des Impressums ein Ausgabedatum an; (2) Pasqué, a. a. O. S. 36; (3) Hagen ging 1854 nach Amerika und lebte in New York als Musiklehrer, Musikkritiker, Musikschriftsteller und Redakteur und schrieb für die „Signale“ bis zu seinem Tode (21.12.1871) amerikanische Korrespondenzen, jetzt unter seinem Klarnamen. Sein als Leitartikel gebrachter und als Serie gedachter Beitrag „Reise-Skizzen. / I. / Chicago“ (SfdmW XXX/3, [3. von 4 Heften] Januar 1872, S. 33–34) erschien posthum; (4) Die Berliner (seriösen) Berichte verfaßte bis Ende August 1846 ein Autor mit den Initialen C. G. Es dürfte sich dabei um Carl Gaillard gehandelt haben, der von der Mentalität her kaum zu Senffs „Signalen“ paßte, aber sehr scharf schrieb. Der letzte mit C. G. gezeichnete Artikel erschien in der 34. Nummer vom 19. August 1846. Die Nummern 35 bis 47 enthalten keine Berlin-Korrespondenzen. Das ist deshalb ungewöhnlich, weil die Berlin-Berichte in den „Signalen“ vorranging behandelt wurden und häufig sogar den ersten Artikel einer Nummer bildeten. Dadurch waren sie den Leipzig-Berichten gleichwertig gestellt. Von einem so wichtigen Platz wie Berlin keine Mitteilungen zu bringen, konnte sich Senff nicht erlauben. Der erste Nanté-Bericht erschien am 21. Oktober 1846 in der 48. Nummer. Aus der Wuerst-Biographie, so weit sie bekannt ist, wissen wir, daß Wuerst 1845 bis 1846 eine Studienreise machte und dann in Berlin blieb. Er wird zum Herbst 1846 wieder zurück gewesen sein und konnte seine Berichterstattung für Senff aufnehmen. Wuerst war damals 22 Jahre alt (22.2.1824–9.10.1881). Als Journalist genoß er schnell hohes Ansehen. Seine Berlin-Korrespondenzen wirken seriös. Als Mendelssohn-Schüler war er ein leidenschaftlicher Wagner-Gegner und seine Ausfälle nahmen zum Ende seines Lebens schlimme Formen an. Für ihn als gebürtigem Berliner lag sein Pseudonym „Nanté“ nach einer in Berlin bekannten Gestalt nahe.

4. Prinzip ohne Deutung Senff hat das Musikleben über Jahrzehnte hin kritisch begleitet, sich aber so gut wie nie auf musikkritische Grundsatzauseinandersetzungen eingelassen oder (außer kleinen Ansätzen) bedenkenswerte Beiträge dazu geliefert. Für die Methodengeschichte der Musikkritik sind die „Signale“ nur im Vollzug der Kritiken von Bedeutung, nicht als Ort kunstphilosophischer Überlegungen. Senff war seiner diffusen Verlagspolitik wegen nie unumstritten. Sein Blatt richtete sich vor allem unter Eduard Bernsdorf, eine Art Schladebach mit ebenfalls wissenschaftlichen Interes-

324

8. Kapitel: Zwischengründungen

sen (die Neudeutschen sahen in ihm einen ‚musikkritischen Hampelmann‘) zeitfeindlich ein, lobte aber, keineswegs sonderbarerweise, Liszt über alle Maßen. Es machte dem Eigentümer der Zeitung nichts aus, Liszt und auch Rubinstein preisen und Richard Wagner abwerten zu lassen, obwohl Wagner und Liszt kaum noch zu trennen waren. Doch Liszt wurde (wie Schumann) von Senff verlegt, Wagner nicht. Also förderte er im Interesse seines eigenen Geschäftes Liszt mit blendenden Kritiken und kümmerte sich um Wagner nur mit negativen Vorzeichen. Es ist nicht einmal auszuschließen, daß der geschäftstüchtige Verleger persönlich den einen Komponisten so wenig mochte wie den anderen. Diese Vermutung wird durch Senffs Verhalten nach der Leipziger Uraufführung des 1. Klavierkonzertes von Brahms gestützt(1). Die „Signale“ bekamen auf diese Weise zusätzlich noch eine etwas seltsame Note. Selbst Eduard Bernsdorf mußte sich dem trotz seiner Abneigung gegen Liszt beugen. So konnte Bernsdorf, den Senff seit Mitte der fünfziger Jahre schreiben ließ, seinen Widerwillen gegen Wagner zwar voll ausleben, mußte Liszt aber in Ruhe lassen. Senff behielt die Redaktion der „Signale“ bis zu seinem Todesjahr 1900 bei. Seine Tochter verkaufte das Blatt 1907 an Simrock und dort wurde es 1933 wie alle anderen Musikblätter nationalsozialistisch deformiert und ging mit dem Jahrgang 1945 ein. (1) s. Kapitel 11, Abschnitt 8 (Zerriebener Zwischenstand. Johannes Brahms).

II. PERSONA INGRATA. HERRMANN HIRSCHBACHS MUSIKALISCHKRITISCHES REPERTORIUM 1. Standpunkt, Maßstab, Wertung, Parteiung Es gibt in Kunstsachen nichts Einfacheres als Standpunkte, vorausgesetzte Maßstäbe, Meinungen und Parteien, an die man sich halten kann, weil sie das Urteil so einleuchtend einfach machen – auch wenn es unrichtig oder falsch ist. Der sogenannte feste Standpunkt erlaubt es dem Kritiker, Unbeweglichkeit und Uneinsichtigkeit als Tugend einer im bleibenden Wert verankerten Anschauung auszugeben, die von den unaufhörlich neu einströmenden Erscheinungen nicht überflutet wird. Der jederzeit veränderbare Maßstab läßt es wie eine im Sport benutzte Meßlatte zu, Höhenunterschiede nach eigener oder fremder Regel oder nach Gutdünken verschiebbar festzulegen. Je höher ein Kritiker diese Latte ansetzt, um so einfacher wird die Kritik. Läßt der Kritiker am Ende nur noch Bach, Mozart und Beethoven gelten, haben es schon Komponisten wie Schubert und Schumann schwer, wertgerecht gewürdigt zu werden – von den anderen, die wie die Fundamente eines Gebirges die Gipfel erst ermöglichen, kann dann überhaupt keine Rede mehr sein. Und die Parteizugehörigkeit sichert ihm so lange ein treues Auditorium, wie er sich nicht vom festgelegten Hauptanliegen seiner Partei entfernt. Wenn ein Haus aus einer glänzenden Vorder- und einer weniger anheimelnden Rückseite besteht – wem will man es verdenken, daß er die Rückseite zum Gegen-

II. Persona ingrata. Herrmann Hirschbachs Musikalisch-kritisches Repertorium

325

stand seiner Betrachtungen nimmt? Wem kann man verbieten, es prinzipiell bei allen Häusern so zu machen? Selbstredend läßt sich, unter Hinweis auf das schon von Rochlitz beigebrachte Beispiel vom Schuster und seiner Beurteilung der Statue aus dem Blickwinkel des falsch gebundenen Schuhs, einwenden, eine Ganzheit könne man nicht aus einer Teilansicht begreifen, wenn man sich grundsätzlich auf die Teilansicht beschränkt. Wenn der Kritiker es trotzdem tut, läßt sich nichts dagegen sagen, mehr noch, man kann ihm nicht einmal absprechen, in diesen von ihm selbst gewählten Grenzen Richtiges zu sagen, auch wenn er das Ganze, um das es doch immer gehen sollte, nicht erkennen will, weil, wer grundsätzlich am grundsätzlich-Nebensächlichen ansetzt, das grundsätzlich-Hauptsächliche nicht in den Blick bekommt bzw. bekommen will. Diese Realität zwingt zur Forderung, nicht nur die Begründung zu untersuchen, sondern auch den Standpunkt, von dem aus die Begründung erfolgt, weil stimmige Begründungen von einem unstimmigen Standpunkt aus abgegeben werden können. Daß ein Maßstab abhängig vom Kunstprodukt sein muß, wird in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ schon 1812 anläßlich einer Prag-Korrespondenz ausgesprochen(1) [II,771]. Liebhaberbestrebungen müßten anders gewertet werden als Virtuosenkonzerte oder ein „jahrelang eingeübtes Orchester.“ „Mein Urtheil gehört mir allein, ich kann es für jetzt oder Zeitlebens in meinem Innern verschliessen. Wenn ich es aber laut-werden lasse, so ist es eine That, und hat Folgen“(2) [II,130]. Der anonym unter dem Titel „Licht und Wärme im Urtheil“ erschienene längere Dialog aus erfundenem Anlaß mündet in die Zusammenfassung: „Das strenge kritische Urtheil mag da am rechten Orte seyn, wo die Zeit ihr Augenmerk auf eine interessante Erscheinung richtet, wo ein Freygeschaffenes auftritt, ein Neues Bahn bricht, wo ein Muster-Institut begründet werden soll, insbesondere …, wenn ein Werk um Classizität ringt, Meisterschaft verkündet, der Nation zur Lust und Erhebung gereichen soll, ihren Geschmack zu bestimmen verspricht; das milde, menschen- und kunstfreundliche Urtheil wird da erwartet, wo das Leben gleichsam einen Abschnitt bildet, einen Ruhepunkt feyert, wo dann ein Akt die Gegenwart zeit-ort-stimmung-gemäss erfüllen soll, wo Individualität, menschliche, sächliche, zweckmässig wirkt, wo unter gegebenen Umständen aus den bereitliegenden Mitteln das Bestmögliche gemacht werden soll. Dort wären individuelle Rücksichten tadelnswerth, hier wären absolute Forderungen grausam“(3). (1) AmZ XIV/14, 1.4.1812; (2) AmZ XXVII/9, 2.3.1825, Sp.141–146, Z:141; (3) a. a. O. S. 146.

2. Hirschbach vor der Gründung des Repertoriums Hirschbach hat seine ersten Arbeiten in Schumanns „Neuer Zeitschrift für Musik“ veröffentlicht. Sein Aufsatz aus dem Jahr 1840 „Antiphiliströses“ prangert zunächst die Klagen über den derzeitigen Verfall der Musik an: „Zu allen Zeiten hat es Leute gegeben, die über den Verfall der Kunst jammerten. Erst war ihnen Gluck, dann Haydn, Mozart, Beethoven Verderber. Aber diese Schmähung traf immer nur Gei-

326

8. Kapitel: Zwischengründungen

ster ersten Ranges; denn nur große Eigenschaften haben große Feindschaft und große Verkennung. Jetzt, wo alles sich zu einer neuen Zeit heranübt, lärmen diese Tadler über Virtuositätsunfug u. dgl.“(1) [II,381]. „Die ärgsten Philister in Urtheilen über Kunst und Künstler waren von jeher schöne Geister und unschöne Geister: Kunst- // gelehrte.“ Hirschbach fragt an, warum sich so wenige Komponisten der reichen Mittel neuerer Orchestervirtuosität bedienten. Die Alten führen fort, aus alten Mauersteinen neue Gebäude zu errichten, „wobei die Menge des Schuttes sich immer mehr anhäuft“. Die Violinkomponisten brächten höchstens ein paar zufällige Flageolettöne und Pizzicati und con arco hinein, „die man ebenso gut weglassen kann“. Die Komponisten bewegten sich nur in ewigen Kreisen. Für Klavier sähe es dank Beethoven anders aus, Tanz- und Variationenmusik sei ein „Giftstrauch“. Sonst grüne es überall. Aber der Vulkan werde sich endlich Bahn brechen. „Eine neue Morgenröthe wird der Kunst erscheinen, und sie wird zunächst über Deutschland aufgehen, davon ausgehen …; ich möchte … die Geschichte meines Vaterlandes (der Künstler hat kein anderes als seine Kunst) in dem erhebenden Gefühl von dessen bisheriger Herrlichkeit, und in der entzückenden Ahnung seiner künftigen Wunder erzählen.“ Das ist eine Schluß-Apotheose, die mit dem Vorherigen in Kontrast steht, aber die Realitäten vorausahnt. Rund zweieinhalb Jahre später äußerte er sich, ebenfalls in der „Neuen Zeitschrift für Musik“, nicht eben programmatisch über „Musikalische Kritik“(2) [II,441]. Er beklagt darin die zeitgenössische Kritik, die überwiegend in die Hände von „Schöngeistern“ ohne handwerkliche Kenntnisse gefallen sei, „die wie über alles, so vorzüglich über musikalische Dinge sprechen, als verständen sie was davon.“ Seiner Meinung nach werde über keine Kunst so schnell geurteilt, wie über Musik, obwohl sie doch am schwersten zu verstehen sei. „Fast sämmtliche Feuilletons der politischen Zeitungen sind voll von solchen Raisonnements ohne irgend eine Grundlage des Wissens.“ Hirschbach bezieht so gut wie alle politischen Zeitungen und deren Feuilletons in diesen Vorwurf ein. „Es ist unglaublich, wie hartnäckig die Menge den Urtheilen solcher Unwissenden da(3) Vertrauen schenkt, mögen sie sich noch so oft Blößen gegeben haben“(4). Die Kritik richtet sich vor allem gegen Berlin. Die Zerrüttung der Berliner Musikverhältnisse führt Hirschbach auf den verderblichen Einfluß der dortigen Presseleute zurück, denen der Berliner kritiklos glaube, dagegen die Darstellungen in der belletristischen Presse dank deren gesunkenem Ansehen vom Leser ohnehin als „Lüge“ empfunden werde. Hirschbach spricht von „boshaften Schwätzern“. Der Künstler werde von diesen Urteilen nicht berührt. Zeitungsartikel haben keinen Einfluß „auf den schöpferischen Künstler“, meint Hirschbach. Er kenne sie meist nicht oder läse sie aus Grundsatz nicht. Vermutlich hatte er sich selbst dabei im Blick. Hirschbach will den Komponisten zum Schreiben veranlassen, als Beispiel dient ihm C. M. v. Weber, und daß Haydn, Mozart oder Beethoven öffentlich nichts über ihre Kunst haben verlauten lassen, gilt für ihn nicht als Beweis, daß sich ein echtes Genie aufs Komponieren beschränken sollte. Als falsch erklärt er die Ansicht, „der Musiker, der über seine Kunst schreibt, verstehe überhaupt nur mit dem Verstande zu produciren.“ Möglicherweise war im Jahre 1843 der Hinweis notwendig, ein Genie schreibe nicht so einfach etwas hin, sondern lege sich selbst Rechenschaft über seine Vorgehensweise ab, mit der Kon-

II. Persona ingrata. Herrmann Hirschbachs Musikalisch-kritisches Repertorium

327

sequenz, daß er auch als derjenige zu gelten hat, der über die Zusammenhänge am besten Bescheid weiß. Die Kritik sollte daraus Vorteile ziehen, meint Hirschbach in seinem Rundumschlag(5). Mit einem weiteren Artikel „Ueber den vermeintlichen Verfall der Musik“ setzte sich Hirschbach knapp drei Wochen später im Mai 1843 mit der zum Schlagwort gewordenen Klage auseinander, die Zeit befände sich in einem musikalischen Verfall oder sei unproduktiv(6) [II,442]. Es tauchte nach Beethovens Tod immer wieder in Berichten und Artikeln auf und war Menschen zuzuordnen, die ihre Blicke nur nach rückwärts richten und die Existenz großer Musik in der eigenen Zeit leugnen, ein Topos übrigens, der nicht nur in der Journalphraseologie zwischen Schumann und Wagner verwendet wurde. Dieser Artikel, in dem auch Hirschbachs Bach-Verehrung zu spüren ist, erschien in der „Neuen Zeitschrift für Musik“, die in seinem Sinne dachte. (1) (2) (3) (4) (5) (6)

NZfM XIII./30, 10.10.1840, S. 119b–120b; NZfM XVIII./32, 20.4.1843, S. 127a–128a; original; a. a. O. S. 127b; a. a. O. S. 128a; NZfM XVIII./37, 8.5.1843, S. 147a–148a.

3. Gründung des Repertoriums Hirschbach ging vom Höchststandpunkt aus und machte sich dadurch schnell verhaßt. Im Prospekt des „Musikalisch-kritischen Repertoriums“, den die „Allgemeine musikalische Zeitung“ unter dem 27. September 1843 bekannt machte(1) [II,453], klang die Absicht des neuen Unternehmens zunächst gut. Es seien so viele neue Musikalien auf dem Markt, daß der Musikfreund irre werden müsse und daher Sachen bevorzöge, die einen bekannten Namen tragen. Dabei übersähe man bessere Arbeiten. Hirschbach will nicht nur alle gedruckten Erscheinungen mit gedrängter Besprechung verzeichnen, Aufsätze bringen, Überblicke über die musikalische Literatur geben, sondern auch ungedruckte Manuskripte, wenn sie „wirklich Neues und Eigenthümliches“ enthielten (aber nur dann) „(natürlich gegen Erstattung der Kosten)“ besonders besprechen, „nachdem sie, wenn ihre Beschaffenheit es irgend zulässt, vor Künstlern und Kunstfreunden aufgeführt worden“ seien. Der Anspruch war hoch. Hirschbach verstand sein Organ als Sammelstelle für alle neu erscheinenden Musikalien, die angezeigt und kritisch besprochen werden sollten – deshalb auch der Titel „Repertorium“. Bücher rezensierte er nur, wenn sie ihm eingesendet wurden, und bei Musikalien verzichtete er grundsätzlich dann auf eine Rezension, wenn es Komponisten betraf, „deren an Werth gleichgültige Sachen schon öfter Gegenstand der Besprechung gewesen sind, und die also der Leser hinlänglich kennt“(2) [II,533]. Hirschbach war sich der Schwierigkeiten bewußt, die sich seinem Unternehmen stellen würden – seine Kritiker erkannten schneller als er selbst die Undurchführbarkeit, weil es in dieser Form die Möglichkeiten schon einer kleinen Gruppe, geschweige denn einer Einzelperson überforderte.

328

8. Kapitel: Zwischengründungen

Mit dem zweiten (titelumbenannten) Jahrgang nahm Hirschbach einige organisatorische Verbesserungen vor. In der Sache selbst änderte sich nichts, weder an der Sprache noch an der Überzeugung von der eigenen Aufgabe. Er hat inzwischen Anfeindung über Anfeindung erfahren und stellt sich seinen Gegnern: „Es ist uns ganz gleichgültig, ob ein Componist unser Freund oder Feind ist, es kümmert uns nicht, ob eine Musikalien-Handlung von einer Waare mehr oder weniger absetzt; wir haben es nur mit den Werken, nicht mit deren Verfassern und Verlegern zu thun. Also rechne man nicht auf unsere Freundschaft, wir kennen dies Wort nicht in der Kritik, und uns ist ein Meisterwerk unseres Feindes eben so lieb, wie ein schlechtes unseres Freundes abscheulich“(3) [II,509]. (1) AmZ XLV/40, 27.9.1843, Sp. 703; (2) II/30, nach 8.11.1845, S. 357; (3) II/1, Januar 1846, S. 1/2.

4. Persona Unter allen Kritikerpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts bildet Herrmann(1) Hirschbach den Außenseiter und sein „Musikalisch-Kritisches Repertorium“ im Zeitungsalltag der Musikberichterstattung einen Fremdkörper. Hirschbach wurde am 29. Februar 1812 in Berlin offenbar als einziger Sohn einer jüdischen Kaufmanns-Familie geboren. Er sollte ebenfalls Kaufmann werden, war dazu aber, wie er selbst sagte, nicht zu gebrauchen, weil er nur habe musizieren und dichten können. Als Zwanzigjähriger begann er in Berlin ein Medizinstudium. Er trat zum evangelisch-lutherischen Glauben über und wandelte sich allmählich zum Freidenker. Unter ständigem Zweifel an sich selbst wechselte er endgültig zur Musik und machte das früh begonnene Violinspiel und die Komposition zum Hauptberuf. Das meiste seines sehr umfangreichen Gesamtwerkes (9 Symphonien, 13 Streichquartette, viele Schauspielmusiken und Ouverturen etc.) darf heute als verloren gelten. Er beeinflußte Schumann und wurde trotzdem aus guten Gründen von Schumann nicht in der Anmerkung seines Artikels über Brahms mit erwähnt. Schumann charakterisierte ihn als faustisch und schwarzkünstlerisch, erkannte Mängel im Satztechnischen, bescheinigte ihm aber ein genialisches Streben. Hirschbach bewunderte die Musik des späten Beethoven, vor allem seine Streichquartette, beurteilte jedoch die 9. Symphonie zwiespältig, so daß es Probleme mit Schumann gab. Er war seit 1838 Mitarbeiter an Schumanns Zeitung, löste sich von ihr nach deren Übergang an Lorenz und gründete 1844 mit dem „Musikalisch-kritischen Repertorium“ sein eigenes Organ, das, in „Kritisches Repertorium“ umbenannt, schon 1845 wieder eingestellt werden mußte. Er verließ die kritische Bühne, komponierte jedoch mit einer tragisch anmutenden Erfolglosigkeit weiter und erfuhr in der Kritik über sich ein Echo, das in seiner Gnadenlosigkeit genau dem Stil entsprach, den er selbst 1844 und 1845 gepflegt hatte. Noch zu Brendels Zeiten wird er wieder Mitarbeiter der „Neuen Zeitschrift für Musik“, ohne nennenswert in Erscheinung zu treten. Er galt als bester Leipziger Schachspieler(2) und gründete 1846 die erste deutsche Schachzeitung. Ein bestimmter eröffnender Schachzug wird heute noch

II. Persona ingrata. Herrmann Hirschbachs Musikalisch-kritisches Repertorium

329

nach ihm benannt, und der Leipziger Schachklub „Augustea“ ernannte ihn zum Ehrenmitglied. Außerdem verfaßte er ein „Lehrbuch des Schachspiels“, das 1864 erschien. Durch eine mißlungene Börsenspekulation verlor er sein Vermögen. Er ging als Redakteur nach Hamburg, schrieb Börsenberichte und ein Buch über Börsengeschäfte. Völlig verarmt kam er nach Sachsen zurück und lebte in Gohlis in der Nähe von Leipzig zur Miete bei der Industriellenfamilie Fromme, die Schokoladenware produzierte. Vergessen und menschenscheu, war er, wie Pessenlehner(3) schreibt, zu Lebzeiten schon tot. Da er nie geheiratet hatte, blieb er ohne familiäre Bindung; lediglich eine Nichte kümmerte sich in den letzten Jahren um den alten Mann. Als der Siebenundsiebzigjährige seine Bleibe verlor, weil die Kaufmannsfamilie in ihre Fabrik umzog und ihn nicht mitnehmen konnte, beging er, ausweglos verzweifelt, im Drei-Kaiser-Jahr, am 19. Mai 1888, durch Einnahme von Blausäure Selbstmord. (1) eigentlich Hermann, er schrieb sich aber Herrmann; (2) Schumann war ebenfalls Schachspieler. Auch auf diesem Wege kamen sich die beiden näher; (3) Robert Pessenlehner: Herrman Hirschbach. Der Kritiker und Künstler. Ein Beitrag zur Geschichte des Schumannkreises und der musikalischen Kritik in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts, Kommissionsverlag Gustav Bosse Verlag Regensburg, 1932, 500 Seiten.

5. Ingrata Kein Kritiker jener Zeit hat die Schumannsche Losung von der Bekämpfung der Mittelmäßigkeit mit solch gnadenloser Rücksichtslosigkeit betrieben wie Herrmann Hirschbach in seinem nur zwei Jahre erscheinenden „Repertorium“. Er schrieb nach eigener Aussage darin nicht allein, obwohl die Zeitschrift doch so etwas wie eine Ein-Mann-Zeitung in der Art der Rellstabschen „Iris“ blieb. Es waren fünf Mitarbeiter, die für Hirschbachs Unternehmen Beiträge verfaßten, Anton Schindler und Julius Becker, der spätere Brendel-Gegner A. F. Riccius, sowie Julius Knorr und der Pianist Gustav Martin Schmidt. Hirschbachs Stil war beinahe grausam, sein Blatt eher eine journalistische Hinrichtungsstätte als eine Plattform für kritische Auseinandersetzungen. Zur System- oder Methodenfrage hat es kaum etwas beigetragen. Das System bestand in ihm selbst, die Methode in seiner eigenen Kunstanschauung, beziehungsweise in der seiner Mitarbeiter, deren Meinung er teilte. Das „Repertorium“ spielte allerdings für die Darstellung der kritischen Handhabe vor Wagner und in der Dresdner Wagnerzeit(1) eine kleine Rolle, zumal er Berlioz wie Wagner schätzte(2). Als Kritiker, nicht als Komponist, beherrschte Hirschbach das Handwerk. Er war kenntnisreich und von sich selbst überzeugt und auch davon, daß die Mehrheit seiner komponierenden Zeitgenossen nichts konnte. Er kritisierte nicht nur Komponisten, sondern mit derselben Schärfe auch die konkurrierenden Musikblätter, was für diese neu und ärgerlich war. Hirschbach brachte Auszüge aus besonders widersinnigen Berichten und hatte dabei österreichische, vor allem Wiener Verhältnisse im Blick. Deren Schriftleiter und Verlagsherren ließen sich das erwartungsgemäß nicht gefallen und antworteten. Wie viele überkritisch auftretende Kritiker war Hirschbach äußerst empfindlich, was ihn selbst anbetraf, und so verwickelte er sich in überflüssige Journalstreitigkeiten. Er handelte sich Antworten

330

8. Kapitel: Zwischengründungen

ein, die von mal zu mal schärfer wurden und ihn zuletzt als eine nicht mehr ernst zu nehmende „lächerliche“ Person bezeichneten. Die war er nicht, allenfalls ein kunstpuristischer Fanatiker(3). „Es fehlt nur noch, dass man mich als einen Räuber und Mörder bezeichnet“, schrieb er bitter in der August-Nummer 1844 seiner Zeitung(4) [II, 494]. Ein Bericht im „Repertorium“ behauptet, Hirschbach sei nach einer Absprache zwischen den österreichischen Verlagshandlungen noch vor Mitte Januar 1844 boykottiert worden [II,465]. Nach dem Weggang Schumanns nach Dresden machte er kein Hehl aus seiner Abneigung gegen die von dem Interims-Redakteur der „Neuen Zeitschrift für Musik“ Oswald Lorenz eingeschlagene Richtung. Hirschbach pickte sich seiner Meinung nach angreifbare Berichte in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ heraus und stellte seine (negative) Beurteilung und Berichtigungen dagegen [II,513; II,514; II,515; II,516]. Sofort bekam er auch von dort ein Echo, das verletzender kaum noch zu denken war. Da konnte er über sich etwas von „maßlosem Dünkel“ und „widerlicher Eitelkeit“ nachlesen, von „Herzlosigkeit und Grobheit, die alles hinter sich läßt, was seit lange(5) in dieser Art geleistet wurde. Humanität ist für H. H. ein Vorurtheil, Bescheidenheit Schwäche“, und weiter: „Er meint scharf zu sein, wenn er herzlos ist(6). Lorenz erwidert zudem mit gleicher Münze, indem er seinerseits Auszüge aus dem „Repertorium“ bringt, die für sich allein stehend ebenfalls mehr als seltsam wirken. Die „Unabhängigkeit und vollkommene Unparteilichkeit“ sei so groß, daß Hirschbach „ihr Vorhandensein fortwährend versichern muß“(7) [II,486]. Die Angelegenheit „beweist aber aufs Neue, wie es etwas weit Andres sei, tadeln, und Tadel ertragen.“ Rücksichtslose Strenge, wegwerfende Geringschätzung bessere nichts, verbittere nur, heißt es in der „Neuen Zeitschrift für Musik“, zumal wenn „Unbedeutendes mit auffallender Milde behandelt wird; die aber beim geringsten Tadel ihrer selbst außer sich geräth und dem kühnen Tadler eher alle möglichen Bosheiten, Dummheiten, Laster zuschreibt, als den geringsten Zweifel an ihrer heiligen Unfehlbarkeit gelten lassen will“(8) [II,487]. Hirschbach legte sich auf die Dauer mit allen Musikzeitungen an und verschonte selbst Gaillard nicht. Allerdings hatte der mit Bemerkungen gegen Hirschbach angefangen. Gaillard schrieb jetzt ironisch: „Keine von allen deutschen Zeitschriften hat in H.s Augen Werth, keine zeugt nach seiner Meinung von tiefer musikalischer Bildung und musikalischem Geist, deren Mangel bekannterweise das Repertorium so sehr auszeichnet“(9) [II,495]. Gaillard verweist auf Hirschbachsche Stereotyp-Rezensionen und trifft Hirschbach an seiner vermutlich verwundbarsten Stelle: „Ueberhaupt scheint H. H. nur darum sein Repertorium gegründet zu haben, um an andern Künstlern seinen Verdruss darüber auszulassen, dass Niemand von seinen tiefsinnigen, musikalischen Kompositionen, Faust-Quartetten u. s. w. etwas hören will. Indessen sind seine neusten Recensionen (!?) doch schon sehr zahm geworden, und es scheint, … als ob seine Muse sich sehr bald ihre kritischen Hörner abgelaufen hätte.“ So lange das Repertorium sich nicht ändere, werde man es in dieser Zeitung nicht mehr erwähnen. Als das Repertorium einging, wurde Hirschbach mit Hohn geradezu überschüttet. Das „übelberüchtigte“ Repertorium sei „zum Wohl der Kunst und der Künstler eingegangen“, läßt der von Hirschbach in der Vergangenheit mehrfach arg gezauste

II. Persona ingrata. Herrmann Hirschbachs Musikalisch-kritisches Repertorium

331

Schmidt in seiner österreichischen Musikzeitung schreiben und kündigt an, Hirschbach wolle eine Schachzeitung herausgeben. „Jedenfalls besser eine Schachzeitung als ein Kunstblatt für Hrn. Hirschbach“(10) [II, 572]. Schon vorher hatte er gemeldet, Hirschbach, die „Belustigung seiner Leser“, habe „leider“ angezeigt, „daß er die Rolle aufgibt, den musikalisch-kritischen Spaßmacher zu spielen“(11) [II, 559]. Die letzte Ausgabe des „Repertoriums“ wird von der gedruckten Datierung her mit 1845 angegeben. In Wirklichkeit erschien sie erst Mitte 1846. (1) Kirchmeyer: Wagner in Dresden, a. a. O. S. 206–207, 421; (2) Wagner war von seinen Berichten angetan. Daher schickte er ihm eines der Druckexemplare des Tannhäuser-Klavierauszuges. Hirschbach erklärte aber, das Konvolut sei ihm zu dick und er lasse es vorerst unbesprochen. Hintergrund war die verfehlte Aufführung der TannhäuserOuverture unter Mendelssohn in Leipzig, die Hirschbach besucht hatte und die ihm, wie auch Brendel, nicht gefiel; (3) s. [II,472, 473, 482, 486, 488, 491, 493, 494, 495, 497]; (4) Repertorium I/8, August 1844, S. 372; (5) original; (6) NZfM XXI./15, 19.8.1844, S. 60a–b; (7) NZfM XXI./4, 11.7.1844, S. 16b; (8) NZfM XXI./8, 26.7.1844, S. 32b; (9) BmZ -/33, 7.9.1844, S. [Da–b]; (10) AWM-Z VI/97–98, 13./16.8.1846, S. 392a; (11) AWM-Z VI/69–70, 9./11.6.1846, S. 280a–b.

6. Zwischenträgerei und Intrigen. Zur Realtät des kritischen Handwerks Nur an wenigen herausragenden Kritiker-Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts läßt sich das Verhältnis von Idealität und Realität der Musikkritik als Handwerk so anschaulich darstellen wie an Hirschbach. Dazu genügt seine Korrespondenz mit Hieronymus Truhn, die durch Pessenlehner bekannt gemacht worden ist. Auch Hirschbach war nicht in der Lage, mentalen Bedrückungen auszuweichen. In jeder Gegenwart besteht neben dem künstlerischen Werk auch eine unmittelbare oder eine mittelbare über Hörensagen oder Zwischenträger erfolgende Bekanntschaft mit dem Autor. Sie beeinflußt in mehr oder minderem Ausmaß das Urteil, je nachdem, wie diese Bekanntschaft verläuft. Pflicht läßt sich vorschreiben, nicht aber der Wärmegrad, mit dem man sie ausübt. Ohne Wagners Schrift über das Judentum in der Musik hätte die Wagnergegnerschaft einen sicherlich menschlicheren Verlauf genommen. Ohne persönlich begründete Rücksichtnahme wären manche Hirschbach-Kritiken schärfer ausgefallen, und ohne einen ungenannten Zwischenträger hätte sich Hirschbach beispielsweise Truhn gegenüber gewiß anständiger benommen. Der intrigierende Zwischenträger gehört mit zur schlimmsten Sorte moralisch verkommener Menschen. Er erzählt mit überzeugender Glaubwürdigkeit dem Einen etwas vom Anderen, was der gesagt haben soll, aber nicht gesagt hat, und dem Anderen etwas vom Einen, was der gesagt haben soll, aber ebenfalls nicht gesagt hat, und bringt damit selbst Freunde oder Gleichgesinnte in einen Gegensatz, der sich vielfach erst dann auflöst, wenn es zu spät ist. Nur wenige Menschen

332

8. Kapitel: Zwischengründungen

sind innerlich frei und gleichzeitig kritisch geschult genug, um ein solches Spiel zu durchschauen. Was Truhn anbelangt, so gehörte er in Berlin zu den RellstabGegnern, was ihn außerhalb Berlins empfahl, innerhalb Berlins, wie Gaillard oder Kossak, zum Außenseiter machte. Er schrieb ganz im Schumannschen Sinne gegen das sogenannte Philistertum und gegen Kompositionen an, die, um einer Rezension von 1841 in der Schumann-Zeitschrift zu folgen, „am besten ungedruckt geblieben“ wären(1). Schlimmster existenzieller Druck nötigte ihn, für den stadtbekannten Berliner Ausbeuter-Verleger Schlesinger Werke untersten Niveaus zu liefern, deren mindere Qualität er selbst eingestand, und versuchte seinen Ruf mit Kompositionen besseren Stils zu retten, die dann vor allem bei Hirschbach unter den schlechteren zu leiden hatten. Truhn war kein Genie, aber gutes talentiertes Mittelmaß, und er wäre eigentlich ein passender Gesprächspartner für Hirschbach gewesen. Aber da war der Zwischenträger, der Hirschbach private Äußerungen Truhns einredete, die dieser nie gemacht hatte, die aber Hirschbach kränken mußten, was die Absicht des Zwischenträgers gewesen war. Wie erwartet, reagierte Hirschbach trotz vieler sehr freundlicher Briefe Truhns mit besonders scharfen Kritiken, und er mäßigte sich erst, als ihm klar geworden war, getäuscht worden zu sein. Wollte man moralisch werden, so bekam Truhn von Hirschbach das angetan, was er selbst von Berlin aus lebenslang anderen Komponisten antat. Nach Brot gehen zu müssen, thematisierte ein Mitarbeiter der „Allgemeinen Wiener Musik-Zeitung“, R. v. Adlerstein. Es bliebe ihnen deshalb nichts anderes übrig, als sich unter ihrem Niveau zu verkaufen(2) [II,635]. Sie brauchen den Erfolg bei einem Publikum, das wie üblich schlecht dargestellt wird. Der Autor unterscheidet den Erfolg dreifach, eine Wahrheit, die sich von selbst versteht: Erfolg beim Publikum mit Mißerfolg bei den Kritikern und umgekehrt, und, was heute sehr selten sei, Erfolg bei beiden. (1) NZfM VI./41, 1837 S. 163–165 Z:164a; (2) WaM-Z VII/136, 13.11.1847, S. 546b–547a.

7. Hirschbachs Dreier-These Nur einmal, in seinem Aufsatz „Etwas über meine Stellung zum Repertorium“(1) [II, 484], hat sich Hirschbach in seiner eigenen Zeitung zum Prinzip der Kritik grundsätzlich geäußert. Es sind nur wenige Sätze. Er unterscheidet drei Arten von möglichen Ausarbeitungen, deren sich der Kritiker bedienen könne, einmal ein „Gesammturtheil“ abgeben, oder eine „Analyse der Werke“ vorlegen, „oder zugleich schöpferisch auftretend, eigene Erfindung dem zu besprechenden Werke entgegensetzen“. Die dritte Art ist nach Hirschbach die „vorzüglichste von allen“, aber nur für die große Instrumentalmusik passend und nie angewendet worden. Man muß davon ausgehen, daß er demnach Hoffmanns Beethoven-Aufsätze nicht gekannt oder nicht bedacht hat oder nur die Kritiken im „Repertorium“ meint. Die zweite Art erscheint ihm „langweilig“. „… alle Beschreibungen können keine Anschauung ersetzen und nur die erste summarische Art darf als Norm dienen“. Für das

II. Persona ingrata. Herrmann Hirschbachs Musikalisch-kritisches Repertorium

333

„Repertorium“ wird er die erste oder die zweite Art benutzen. Für das, was er die „höchste“ Art nennt, meldet er gleichwohl auch Bedenken an. „Sie lässt eine zu ungeheuere Mannigfaltigkeit zu, und man würde sich da in Weitläufigkeiten vertiefen, die wohl in den höhern musikalischen Unterricht gehören, aber nicht in ein Alles besprechendes Repertorium, und die zu weiter nichts führen würden, als die Erfindungskraft des Kritikers darzulegen.“ Er wolle trotzdem eine Kritik nach dieser Art liefern, „sobald ich nur die nöthige Zeit erlangen kann“. Das „ich“ hat Hirschbach gesperrt drucken lassen. (1) Rep I/6, Juni 1844, S. 254.

8. Ansichten Hirschbach wollte eine sowohl system- wie einflußfreie Musikkritik, gewissermaßen eine Realität ohne Anschauungskategorien. Eine solche Kritik gibt es nicht einmal als mündliche Äußerung. Der Kritiker bringt immer seine mentalen Komponenten mit, er ist außerdem, auch wenn er es nicht wahrhaben will, in die Systemgewalt seiner eigenen Zeit eingebunden. Aus ihr vermag er sich nicht zu lösen. Ihr ist er verpflichtet, selbst wenn er sich gegen sie ausspricht. Darüber hinaus ist Kritik nicht nur Meinungsäußerung, sie ist auch ein Geschäft, bei dem es um Einfluß, Erfolg und damit um Geld geht. Die Äußerungen erfolgen in Zeitschriften, für die irgendjemand, meist ein Verleger, zahlt. Der zahlt aber nicht mehr, wenn sich die Äußerungen gegen seine Interessen, also gegen sein Geschäft wenden, von dem er lebt und von dem er auch die Zeitung finanziert; denn keine Musikzeitung (ohne Werbung) trägt sich finanziell selbst. Redakteure, wenn sie stark sind, reizen ihre Grenzen aus, und müssen zurückweichen, wenn diese enger gezogen werden. Gottfried Weber hat das erfahren, und unter den Verlegern hat insbesondere Senff in seiner Musikzeitung seine Verlagsinteressen rücksichtslos durchgesetzt. Und Fink mußte sich in seiner Abneigung gegen die neuromantische Schule zügeln, wenn er Kompositionen von Chopin zu besprechen hatte, die bei Breitkopf & Härtel erschienen, dem Verleger der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“, an der er die Schriftleitung inne hatte. Um an all diesen Klippen unbeschadet vorbei zu kommen, hätte es der Wendigkeit eines Rochlitz bedurft. „Was man nicht mit vollkommner Freiheit und Ueberzeugung thun kann, muss man als ehrlicher Mann nicht thun. Man mag schweigen; aber spricht man einmal, so muss man auch die volle Wahrheit sagen“(1) [II, 520]. Das ist gut gesprochen, in der Realität aber nur dann durchzusetzen, wenn der Schreiber gleichzeitig derjenige ist, der das Produkt bezahlt. Hirschbach ist ein so scharfsinniger Mann, daß er erkennt, wie er sich selbst widerlegt: „Der Ernst, die drohenden Verhältnisse der Gegenwart haben unser Herz eisern gemacht, und lassen uns keine Zeit, unsere Blicke anderswohin zu richten, als auf den Feind, den wir bekämpfen. Wir sind innerlich alt geworden von finstern Gedanken und Erlebnissen.“ Und: „Das fantastische Auffassen der Kunst und ihrer Verhältnisse wie es sich in den frühern Jahrgängen der neuen Zeitschrift für Musik kund gab, kommt nicht wieder. Der eisige Wind der Kritik lässt die zarten Blumen

334

8. Kapitel: Zwischengründungen

der Phantasie nicht aufkeimen, und unsere eigenen Zustände absorbiren unsere ganze Aufmerksamkeit“(2) [II, 538]. Was Hirschbach hier, offensichtlich schon resignierend, ausspricht, gilt für das 18., wie für das 19., wie für das 20. Jahrhundert. Es ist im herkömmlichen Sinne richtig, wird aber von der Realität überholt, der Realität der Kunst, der Künstler, des Publikums, der Verhältnisse. Wer so leben und handeln will, wie es der junge Hirschbach fordert – er ist 33 Jahre alt –, muß für sich selbst in Kauf nehmen, zum Opfer der eigenen Idee zu werden. Er muß wissen, daß er in die Isolation gerät und in eine Lebenslage, die, wenn er nicht großes Glück hat, so endet, wie sie für den alten Hirschbach mit 77 Jahren tatsächlich endete. Hirschbachs Lebenslauf ist auch von daher ein Lehrstück eigener Art. Schumann nannte in seinem Brief an Clara Wieck Hirschbach faustisch. Er war von ihm offensichtlich angetan, trotz der unterschiedlichen Deutung der 9. Symphonie und der unerbittlichen Gegnerschaft Hirschbachs zu Mendelssohn und vor allem der Mendelssohn-Nachahmer und -Anhänger – warum auch nicht, war doch Hirschbach die bis zur letzten Konsequenz zu Ende gelebte journalistische Gedankenwelt Schumanns. Auch Schumanns Zeitung war bereits eine Parteizeitung, weil sie sich kämpferisch gegen etwas aussprach, was andere als durchaus angenehm empfanden. Auch Schumann geriet in Dresden in die Isolation. Aber man kann nicht eine Gesellschaft oder eine ihrer Gruppen für ihr Verhalten anklagen und gleichzeitig erwarten, daß die also zu Recht oder zu Unrecht Gescholtenen den Kläger willkommen heißen. In seiner letzten Repertoriums-Erklärung spricht Hirschbach von dem, was er machen will. Er spricht von Satire: „Der Humor macht ja überhaupt allein das Dasein erträglich“(3) [II, 539]. Ob der allzeit als scheu beschriebene Hirschbach wirklich Humor besessen hat, müßte erst noch bewiesen werden. Das geschichtliche Moment, das Brendel programmatisch in die Musikkritik einbrachte, hatte Hirschbach schon 1844 als zwingend erkannt. In seiner „Aphorisme über Veralten“(4) [II,468] schreibt er: „Aber die Beurtheilung eines Kunstwerks muss stets von geschichtlichem Standpunkte aus abgefasst werden, denn es ist kein frei hingestelltes Gebäude, sondern mehr oder weniger eine Aeusserung der Zeit, in welcher es entstanden.“ Er behandelt das Problem des Veralterns von Musik. Die Meister des 15. und 16. Jahrhunderts fände man auf einer Stufe stehend, „dass sie fast unsere Kritik nicht zulassen.“ Er vergleicht Händel mit Bach zu Bachs Gunsten. Bei Händel sei vieles veraltet. Erst für die Musik seit Gluck lasse sich ein „kritischer Masstab nach unsern Begriffen daran legen“. Der „Zahn der Zeit“ werde nie einer erhabenen Tonsprache etwas antun können. Bei Haydns und Mozarts Instrumentalwerken beklagt er zu häufig „Anmuth und Schönheit ohne Tiefe“. Tiefe mußte errungen werden. Erst Beethoven verwirklichte sie. Mendelssohn sei mehr Gelegenheitskomponist „im edlen Sinne“, aber er sei fertig. Er werde noch viele schöne Kompositionen liefern, „aber nichts eigentlich Grösseres, Vorgerückteres“. Ein solcher Komponist müsse mit frühem Veralten vieler seiner Schöpfungen rechnen. Alles Formelle, Aeusserliche veralte immer, „denn jede Zeit richtet es sich nach ihrem Geschmacke zu.“ Man trenne zu sehr Form und Inhalt, „das Eine bedingt gewöhnlich das Andere“. Mit der idealistisch-zweifelhaften Sentenz, „Nicht sich, sondern seiner Kunst zum Ruhme schafft ja der Künstler“, schließt Hirschbach seine Betrachtungen.

II. Persona ingrata. Herrmann Hirschbachs Musikalisch-kritisches Repertorium

335

(1) Repertorium II/11, 24.5.1845, S. 157; (2) Notizen, Rep II/31, 1845, S. 368–369, Z:369; (3) Erklärung, Rep II/36, letzte Nummer, S. 409, angeblich 1845, tatsächlich erst Mitte 1846 erschienen; (4) Rep I/2, Februar 1844, S. 58–60.

9. Mißerfolge ohne Aussicht Schumann hat die satztechnischen Schwierigkeiten Hirschbachs gesehen, konnte und wollte aber sicherlich dem befreundeten Mann nicht mehr als nötig wehtun. „Lieber zwischen Feinden Schiedsrichter sein, als zwischen Freunden. Dort gewinne ich einen Freund, hier kann ich einen verlieren“ heißt es in einem Aphorismus, der im August 1836 im „Museum der eleganten Welt“ erschien und sicherlich hier hinpaßt [II,324]. Schumanns Kikeriki-Kanon ist auf Hirschbach bezogen, der sich darüber geehrt-vergnügt äußerte. Die Untertöne schlagen trotzdem durch, so vorsichtig man sie auch anklingen läßt. Fast ist man versucht, sich Hirschbach als einen neu erstandenen hoffmanesken Baron von B. vorzustellen: als Kunstkenner ein Genie, als Künstler ein Dilettant, der sich noch dazu über seine ihm von der Natur gesetzten Grenzen hinwegtäuscht. Seine harten Kritiken sind unvergessen. Unter Schumanns Redaktion heißt es 1842 fast drohend(1): „Man wird das Höchste von ihm verlangen, man wird ihn mit dem Maße messen, mit dem er gemessen.“ Gemünzt ist das auf ein Streichquartett, dem Hirschbach den Titel „Lebensbilder“ gegeben hat und das eine Nähe zu Berlioz sucht. Und gleich wird besänftigt – wie Berlioz habe der Komponist erst Medizin studiert, und sich dann, gemeint ist: spät, mit 20 Jahren für die Musik entschieden. Daher fehle es noch am Handwerk. Der Kritiker vermag sich mit diesem Hinweis herauszureden, ohne sich etwas zu vergeben. „Gewiß, der Componist schrieb aus seiner Seele; ein heftiger Drang zum Schaffen spricht sich in allen Nummern seines Quartettes unverkennbar aus. Den flüchtigen Bestrebungen anderer junger Componisten gegenüber haben die seinigen jedenfalls etwas Großartiges und Achtunggebietendes. Man sieht es, er will ein Dichter genannt sein. Er möchte sich überall der stereotypen Form entziehen; Beethoven’s letzte Quartette gelten ihm erst als Anfänge einer neuen poetischen Aera, in diese will er fortwirken; Haydn und Mozart liegen ihm weit zurück. So hat er in der That manches mit dem französischen Berlioz gemein: kühne Schaffenslust, Vorliebe für große Formen, poetische Anlage, theilweise Verachtung des Alten“ (2). Unter der Redaktion Brendels werden alle Rücksichten fallen gelassen. Alfred Dörffel, Schumann ergeben, bespricht erstmals 1847 eine Hirschbachsche Komposition, eine nicht vom Komponisten für Klavier eingerichtete OrchesterPhantasie, wobei sich Dörffel auch einen Seitenhieb auf die Kompositionen von A. B. Marx nicht versagen kann. Die Hirschbachsche Phantasie trägt programmusikalische Anmerkungen, rückt sie also in die Nähe der Berlioz-Nachfolge. Dörffel redet viel herum; aber das Fazit ist eindeutig: „So giebt das Werk abermals ein sprechendes Zeugniß, daß unter der Zahl derer, welche der Kunst leben und sich durch die unsterblichen Meisterwerke, in denen sie sich offenbart, beglückt

336

8. Kapitel: Zwischengründungen

fühlen, nur wenige // Auserwählte sind, die das innerste Lebensmark derselben so durchdringen, daß sie neue Schätze ihr zu entheben und an das Licht zu fördern vermögen“(3). Nur ein halbes Jahr später spricht er Hirschbachschen Klavierstücken allen Wert ab: „Seine überwiegende Reflexion läßt es zu keinem lebendigen Erguß des Schaffens kommen und hindert ihn, von innen heraus zu wirken“(4). Für Dörffel sind die Stücke „kahl und dürftig“ und sie „befriedigen nicht“. Der für Klavier arrangierten Symphonie geht es, wiederum ein halbes Jahr danach, nicht besser. Auch bei ihr wird die zu starke Reflexion bemängelt(5). Nur scheinbar erstaunlich ist es, daß Dörffel den Begriff Reflexion negativ besetzt, der doch gerade als Ausdruck der Selbstbespiegelungsbereitschaft der frühen deutschen Romantik zum klärenden Fachbegriff für die Musik zwischen Berlioz und Wagner-Liszt zu werden beginnt und auch Schumann einschließt. An dieser Formulierung wird der Riß erkennbar, der sich zwischen Dörffel und Brendel bald zur Kluft erweitert. Dörffel erkennt die Schwächen Hirschbachs, was sicherlich nicht schwer war, begreift aber trotzdem nicht das, was die Zukunft der Musik ausmachte. Hirschbach wiederum mochte glauben, man werte ihn seiner früheren Kritiken wegen aus Rache ab und veröffentlichte in späteren Jahren zwei Kompositionen, eine Ouverture und eine Symphonie, unter dem Pseudonym „Henry Largo“. Das Echo, das er bekam, war geradezu vernichtend. Im „Musikalischen Wochenblatt“ konnte er 1886 etwas von „musikalischer Naivität“ eines „Dilettanten“ lesen, der offenbar in „pekuniärem Überfluß“ lebe und seine „Schreibübung“ gedruckt sehen wolle(6). Hirschbach war 75 Jahre alt. Zwei Jahre später begeht er Selbstmord. (1) (2) (3) (4) (5) (6)

NZfM XVI./40, 17.5.1842, S. 159–160, Z: 159a; a. a. O. S. 159b; NZfM XXVII./39, 11.11.1847, S. 230–231; NZfM XXVIII./41, 20.5.1848, S. 246; XXIX./17, 26.8.1848, S. 93; Pessenlehner, a. a. O. S. 109.

III. CARL GAILLARD UND DIE „BERLINER MUSIKALISCHE ZEITUNG“ 1844 1. Zur Gründung. Anfang und Ende Ob Carl [Umstellung auf Schreibweise ‚Karl‘ innerhalb der Nummer 25 vom 20. Juni 1846 des II. Jahrgangs] Gaillard aus eigener Überlegung handelte oder durch das Programm der „Signale für die musikalische Welt“ beeinflußt wurde, bleibe offen. Er stellte jedenfalls seine neue, ohne Seitenzählung erscheinende Musikzeitung unter dem Titel „Berliner Musikalische Zeitung“ in der vierten Nummer 1844 zu Beginn des zweiten Abschnitts mit dem Satz vor: „Es war keineswegs unsere Absicht, nur eine dem tiefsten Ernste gewidmete musikalische Zeitschrift an das Licht treten zu lassen“ [II,467]. Davon gäbe es bereits genug, und er fragt sich, „ob sie Glück machen?“ Sein Blatt wurde doch eher ernst als im Stile der „Signale“ gehalten. Dann beklagt er sich über den Geiz deutscher Musiker, die lieber

III. Carl Gaillard und die „Berliner musikalische Zeitung“ 1844

337

ausliehen als kauften, so daß auf 20 Abonnenten 600 Leser kämen. „Das Feld unserer Wirksamkeit ist das große musikliebende und musikverständige, d. i. das ganze gebildete Publikum, … Diese unsere Leser lieben keine trockenen theoretischen Abhandlungen, die meisten verstehen sie nicht, und würden sie deshalb ungelesen lassen“(1). Es gäbe eben Fälle, wo man das Gute, das man zu erreichen wünsche, mit dem Angenehmen verbinden müsse. Aber die neue Musikzeitung wäre nicht einseitig und man brächte auch tiefere Gegenstände berührende Aufsätze. Gaillard sucht eben nach allen Seiten hin zu werben. Vor allem geht es ihm darum, eine Chronik der Berliner Vorgänge zu bieten. Gaillards „Vorwort“ ist, gemessen an dem anderer Periodika, nicht übermäßig lang, nicht von ihm selbst geschrieben und, was das Pathos angeht, gerade noch erträglich. Man lebt in einer musikalischen Zeit, selbst beim Landmann hörte man Flöten-, Geigen- oder Klavierspiel. Wenn da nur nicht die Lüge wäre, „welche überall ihr Reich zu begründen sucht“, und dann wird die Lüge, die sich bis „zum Helikon hinauf“ windet und dem „Göttertrank“ etliches Schlimme antut, bilderreich beschrieben, bis er zur Sache kommt. „Dieser Lüge entgegen zu treten auf würdige Weise, ihren Fortschritt, so viel an uns ist, zu hemmen, ist mit die Aufgabe unseres Strebens“(2) [II,461]. Man fühlt sich frei von Vorurteilen und Rücksichtnahmen, frei von verschiedenen anderen Hemmnissen, die alle aufgezählt werden, weil sie das Urteil umstricken. Er will „das Unrechte und Unwahre angreifen, wo wir es finden, und unsern Baustein herbeibringen zur Aufrichtung des Tempels der Wahrheit.“ Man weiß, daß man den Feind „nicht durchaus besiegen“ kann, aber wenn niemand jätet, nimmt das Unkraut überhand. Aber hin und wieder wird ein Samenkorn aufgehen, „und das ist schon ein großer Gewinn.“ Man erklärt, keine gelehrtunverständliche Sprache sprechen zu wollen und so weiter und so fort, man kämpft mit „männlichem Ernst“, mit Satire und mit „offenem Visier“. Die immer wieder nachzulesende Schluß-Phrase fehlt ebenfalls nicht. Hier lautet sie: „So beginnen wir unser Werk mit dem Bewußtsein, das Rechte zu wollen, mit dem Glauben, berufen zu sein, und sehen dem, was wir schaffen und wirken werden, getrost entgegen.“ Die Zeitung ging nicht gut. Das „Vorwort“ zum dritten Jahrgang schrieb Flodoard Geyer. Es klingt ziemlich verhalten(3) [II,540]. Geyer beruft sich auf die Verhältnisse. Wer von einer neuen Zeitung Wunder erwartet hätte, der möge bedenken, „dass die Zeiten der Wunder vorüber sind“. Anderthalb Jahre später wird Gaillard sein Unternehmen an den stärkeren Konkurrenten Bock abgeben. Woran es gelegen hat, wird nicht gesagt, man kann es sich aber denken. Der Schlußteil des Vorwortes befaßt sich mit dem Phänomen Kritik nach Ansicht Geyers. Er spricht von konstruktiver Kritik. „Gehässigkeit, Neid, Missgunst und alle Furien des Egoismus sind nicht im Stande, auf irgend einem Gebiete, auch auf dem der Kunst nicht, Erspriessliches zu Tage zu fördern.“ Das Ungeschick der Kritiker habe manchen Lebenskeim erstickt. Was Geyer konstruktive Kritik nennt, ist das Verfahren, Anfängerarbeiten milder zu beurteilen als Meisterwerke, also die Kritik gleitend nach dem Anspruch zu handhaben, mit dem das Werk auftritt. Ziel ist die Kritik am Virtuosentum. Virtuosität ist Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck. Es darf nicht in „Kunststück-Machen“ ausarten. Leider seien es die Journalisten, die sich als erste an die Spitze „aller Enthusiasten und Virtuosennarren“ stellten.

338

8. Kapitel: Zwischengründungen

Das sind die musikkritischen Prinzipien der Zeitung, die Geyer hier noch einmal zusammengestellt hat. Nach der Übernahme durch Bock wird er nur noch eine kurze Zeit einer der wichtigsten Mitarbeiter der von Lange redigierten „Neuen Berliner Musikzeitung“ bleiben. Flodoard Geyer schrieb unter dem Titel „Ueber die Richtung und den Standpunkt dieser Zeitung“ auch das Vorwort zum vierten (und letzten) Jahrgang 1847 der „Berliner musikalischen Zeitung“(4) [II,592]. Es ist von Geyer als Rückblick gedacht. Vermutlich ahnte man schon, daß sich die feindliche Übernahme durch die werbeaktive „Neue Berliner Musikzeitung“ nicht mehr lange werde verhindern lassen. Es ist richtig, daß Berlin zur Gründungszeit keine eigene Musikzeitung hatte. Es ist nicht richtig, die Leipziger Zeitungen, also „Allgemeine musikalische Zeitung“ und „Neue Zeitschrift für Musik“ als „Lokalblätter“(5) zu bezeichnen, wobei ‚Lokalblätter‘, um die Aussage zu verstärken, gesperrt gedruckt wurde; denn das waren sie sowohl vom Gedanken wie von der Realität her gerade nicht. Es schlägt ein polemischer Unterton durch, wenn Geyer den Leipzigern vorwirft, nur sich selbst „allgemeine Urheilsfähigkeit und Vollkommenheit“ zuzutrauen. Den Berlinern sei das ‚drückend‘ gewesen. Berlin ist eine große Stadt und sieht sich in den Leipziger Zeitungen nicht genügend berücksichtigt. Ein weiterer Impuls zur Gründung sei der Wunsch gewesen, ein nach allen Richtungen hin praktisches Blatt ins Leben zu rufen, das von ausübenden Musikern gestaltet wird. Es galt zu beweisen, „dass Musiker geistig eben so durchgebildet sein können, ja bei dem jetzigen Standpunkt der Kunst sein müssen, als andere wissenschaftlich Gebildete, und dass sie sich von ästhetisirenden Gelehrten oder von unmusikalischen Philosophen nicht mehr bevormunden zu lassen brauchen“(6). „In Sachen der Musik nützen uns selbst die Fichte, Hegel, Schelling nicht. – Das sind bei uns die Haydn, Mozart, Beethoven. Ich habe selber Hegel gehört und aus seinem Munde vernommen, dass er, völlig Laie, sich in Betreff der Musik für incompetent halte.“ Kritik ist für Geyer ein Teil der Kunstlehre. Er will damit sagen, „Je mehr der Kritiker musikalisch durchgebildet, je mehr er selber als Musiker schaffend vermag, desto mehr Gewicht hat sein Urtheil“(7). Die Geschichte der Fehlkritik widerlegt ihn allerdings. Kommt man bei selbstbewußten Kritikern auf dieses Thema zu sprechen, so erhält man in der Regel immer dieselbe Antwort: Fehlkritiken unterliefen nur den ‚schlechten‘ Kritikern, Leuten also, die ernsthaft nicht in Betracht kämen. Die Realität wird falsch gesehen, weil die Wirkung der Kritik einbezogen werden muß. Geyer schließt aus dem Vorherigen auf die Notwendigkeit einer von Berufsmusikern gestalteten Zeitung. Der Musiker müsse „von Seinesgleichen und nicht von Fremdlingen oder gar Laien beurtheilt“ werden. Geyer ist von dieser Vorstellung wie berauscht. Er redet vom besseren Künstler, der die Ehrenhaftigkeit einer Beurteilung durch einen anderen Künstler zu schätzen wisse – auch hier sieht die Wirklichkeit der Kunst anders aus. Sie ist von Feindseligkeiten, Häme und Unverständnis durchsetzt. Das Bild, das Geyer erzeugen will, ist ein Phantom. Nach Geyer ist es „eine strafbare Indolenz, es ist Feigheit oder Unvermögen, da, wo es dem Kampfe der Meinungen, dem Austausche der Ideen gilt, zu schweigen oder sich zurückzuziehen“. Nach Geyer soll der eine Künstler dem anderen „zur Seite stehen, helfend, lehrend, fördernd“. Geyer verliert kein Wort über das Publikum. Für ihn ist die Kritik eine Institution

III. Carl Gaillard und die „Berliner musikalische Zeitung“ 1844

339

von Künstlern für Künstler. Den (berechtigten) Einwurf, warum man die Kritik dann drucken soll, würde er vermutlich mit der Erklärung zurückweisen, eine Musikzeitschrift sei eine Fachzeitschrift für Fachleute und nicht für Laien. Ein solches Argument ist widerlegbar und würde im Streitfall nur für den technischen Bereich einer Kunst gelten, nicht für ihre psychologische Wirkung in der Öffentlichkeit. Geyer wird wenige Jahre später mit seiner Argumentation zu seinem eigenen Schaden scheitern; denn die bereits neu in die Welt eingetretene „Neue Berliner Musikzeitung“ vertritt den gegensätzlichen Standpunkt. Deren Redakteur Lange wird verkünden, gerade die Komponisten müßten wegen ihrer berufsbedingten Befangenheit von jeder kritischen Tätigkeit ausgeschlossen werden. Carl Gaillard machte sich schnell Feinde, weil er das Einvernehmen störte. Gaillard war Mitbesitzer der Musikalienhandlung C. A. Challier & Co. Andere Musikalienhandlungen suchten sein Blatt in Mißkredit zu bringen, indem sie hinter vorgehaltener Hand die Ehrenhaftigkeit der neuen Zeitung in Zweifel zogen. Gaillard nennt sie „Spinnen“. Man hatte erkannt, welchen Einfluß (Vorteil) eine Musikalienhandlung durch die Herausgabe einer Musikzeitung gewinnen mußte(8) [II,485]. In Berlin war der ehemalige Husarenoffizier mit Neigung zur Kunst Karl Theodor von Küstner Generalintendant geworden. Über dessen Feindseligkeiten beschwerte sich nicht nur Wagner. Soziale Neuerungen im Theater gingen auf ihn zurück, doch die ihm zugeschriebene Einführung des Tantiemerechts kam unter dem Druck Meyerbeers zustande. Die künstlerische Seite Berlins, verglich man sie etwa mit Dresden, war für aufgeweckte Zeitgenossen erschreckend. Als Gaillard auf die Mittelmäßigkeit der königlichen Oper hinwies, entzog ihm Küstner ohne Angabe von Gründen den freien Eintritt. Küstner hatte sicher nicht damit gerechnet, daß Gaillard daraus einen keineswegs kurzen Artikel machte „Herr von Küstner und sein Verfahren mit den freien Entrées für die Kritiker“ und sich an die Oberbehörde wandte(9) [II,605]. Im Zusammenhang mit diesem Verfahren erfährt man Einzelheiten, auf die man ohne diesen Vorfall nicht gekommen wäre. Gaillard hatte keine Freikarten vom zweiten Berliner Theater, dem Königsstädter Theater, angenommen, wohl von der königlichen Bühne und zwar auf Drängen Küstners, aber nur unter der Bedingung, nicht zum Lobreden verpflichtet zu werden, was eine Privatanstalt erwarte. Nur wenige Tage später erschien in der „Vossischen Zeitung“ eine Erklärung Küstners, die von den „Signalen für die musikalische Welt“ nachgedruckt wurde(10) [II,609]. Darin heißt es: „Von mehreren Verfassern neuer Dramen ist mir die Mittheilung geworden, daß, nachdem die von ihnen eingesandten Manuscripte nicht angenommen worden, sie sich veranlasst sähen, in Broschuren und öffentlichen Blättern gegen mich und meine Verwaltung zu Felde zu ziehen. Eine gleiche Drohung ist mir von Correspondenten und Redactionen auf den Fall geworden, daß ich ihnen den gewünschten freien Eintritt verweigern oder wieder entziehen würde.“ Küstner sieht darin eine „Kriegserklärung“ und will, sollten entsprechende Inserate oder Broschüren in Umlauf kommen, die Briefe und die Namen der Briefschreiber veröffentlichen, „insofern die Verfasser der Broschüren und Inserate sich nicht hinter dem Visier der Anonymität, wie es jetzt gebräuchlich, verbergen …“ Die

340

8. Kapitel: Zwischengründungen

Berlin verbundene „Neue Berliner Musikzeitung“, deren Tenor darauf abgestimmt war, Berlin als die kunstsinnigste Stadt Deutschlands zu preisen und die Hofbühne entsprechend devot auszuzeichnen, hatte mit Schwierigkeiten dieser Art nicht zu rechnen. Das sollte sich bald an einem ihrer Artikel beweisbar machen. Carl Gaillard meldete seinen Abonnenten und Lesern am 19. August 1847 die Übernahme durch den Verleger Bock(11) [II,625]. Er spricht darin von einer „freundlichen Uebernahme“. Vermutlich ist die Zeitung ausgeblutet worden, oder die politischen Interessen Gaillards überwogen, die ihn 1848 zum Berliner Stadtverordneten und zum Fachmann für Auswanderungsfragen machten, oder die tödliche Krankheit, an der er litt, warf ihre Schatten voraus. Als Grund für die Vereinigung mit der Bock-Zeitung, die jetzt ihren alten Namen wieder annahm, nennt Gaillard die zu große Zahl der Musikzeitschriften. Publikum und Zeitschrift gewännen durch eine Konzentration. Da die „Neue Berliner Musikzeitung“ künstlerisch geleitet werde, habe er keine Hindernisse gesehen, in die Vereinigung einzuwilligen. „Sind doch ihre Mitarbeiter zum Theil schon dieselben.“ Gaillard geht davon aus, in Berlin und in anderen Periodika weiter schreiben zu können und entschuldigt sich bei den Künstlern: „Bin ich irgend Jemandem im Eifer der Rede oder im Eifer für das, was ich als Recht erkannt habe, zu nahe getreten, bin ich dabei gegen Einzelne ungerecht gewesen, so thut mir das aufrichtig leid. Ich habe in den Personen nie den Menschen, sondern nur die Richtung bekämpfen wollen.“ Ein Kritiker sei eben so wenig unfehlbar wie jeder andere Mensch auch. Dann bedankt er sich bei den Mitarbeitern, deren Namen er aufzählt. Vor allem dankt er Flodoard Geyer, den er seinen Freund nennt. Die Hoffnungen, die ihn bewegten. erfüllten sich nicht. Gaillard starb 1851 im Alter von noch nicht 38 Jahren an Tuberkulose. Otto Lange folgte der Gaillardschen Ankündigung mit einem „Vor- und Nachwort“ im September 1847(12) [II,629]. Er schildert etwas ausführlicher als Gaillard die Übernahmesituation und auch die Verpflichtung, in die Verbindlichkeiten der Gaillard-Zeitung einzutreten. Er schreibt einige freundliche Worte über die ehemalige Konkurrenz und ihren Redakteur und betont, in ihrer Zeitung werde es zu keinen Änderungen kommen. Er bedauert, daß es in Berlin noch keine richtigen Parteiungen gebe, und das sei ein Nachteil, und hebt den Nachteil wieder auf, um das, was er gesagt hat, auch den anderen Städten zuzuweisen, in denen Musikzeitungen bestehen. Ohne es auszusprechen ist damit vor allem Leipzig gemeint. Es folgen Ausflüge in die derzeitige allgemeine politische Situation. Bemerkenswert ist, daß die Zeitung zwar ihren alten Namen führt, aber die Jahrgangszählung wie seit der erzwungenen Umbenennung beibehält. Bei der freundlichen Anerkennung Gaillards dürfte es sich um eine nur halbernst gemeinte Höflichkeitsfloskel aus vorgetäuschtem Anstand gehandelt haben. Das geht aus einer bereits angedeuteten Asterisk-Anmerkung hervor, die Lange ohne thematische Not und daher zielgerichtet gegen den namentlich nicht genannten Gaillard in seinen ausgerechnet „Kritik und Humanität“ betitelten Aufsatz vom Mai 1849 (also nach der niedergeschlagenen Revolution) anbrachte [II,721]. Die Anmerkung bezieht sich auf den Freikarten-Entzug durch Küstner. Da hätte doch kürzlich, so schreibt Lange, ein „sogenannter geistreicher Kritiker über ein Kunstinstitut sich fortwährend in den schandlosesten Ausdrücken“ ergangen, woraufhin

III. Carl Gaillard und die „Berliner musikalische Zeitung“ 1844

341

die Direktion ihm den freien Eintritt entzog. Er habe sich dann nach einiger Zeit brieflich an die Direktion gewandt, ihm wieder den freien Eintritt zu gewähren, „damit ihm Gelegenheit werde, über die ‚vortrefflichen‘ Leistungen des Instituts“ berichten zu können. Ob Gaillard wirklich einen solchen Brief geschrieben hat, ist derzeit ungeklärt, ebenso, ob er tatsächlich die vorgesetzte Behörde Küstners einschaltete und Lange das eine mit dem anderen verwechselte. Gaillard betätigte sich nach der Aufgabe seiner Zeitung politisch und hatte, da er geschätzt war, gewiß politische Verbindungen, die er nutzen konnte, und von kritischen Arbeiten ist nicht mehr die Rede. Daß es sich bei Langes Anmerkung um einen katzbuckelnden Akt von anbiedernder Liebedienerei gehandelt hat, muß nicht eigens betont werden, ebenso nicht, daß sie Langes Charakter in einem unguten Licht zeigt. Schließlich war er selbst einmal Mitarbeiter an Gaillards Zeitung, bevor er zur Konkurrenz abwanderte. Möglicherweise war die Anmerkung nötig geworden, möglicherweise suchte Lange nur eine Gelegenheit, um zurückgehaltenen Ärger über einen ehemals gefährlichen und durch Flodoard Geyer immer noch wahrnehmbaren Konkurrenten auszudrücken, möglicherweise spielten auch persönliche Dinge nach Art einer zerbrochenen Freundschaft mit. Es könnte ein Gehässigkeitsakt Langes in Erinnerung an Gaillards Polemik gegen einen Aufsatz in Langes Zeitung sein, hinter dem Gaillard den sich selbst lobenden August Schmidt unter dem Decknamen Dr. Maleno vermutete. Die Anmerkung ist zu scharf, um neutral gewertet werden zu können. Kurze Zeit später wird sich Lange ja auch seiner beiden bedeutendsten Mitarbeiter, Flodoard Geyers und Ernst Kossaks, entledigen. Die „Signale für die musikalische Welt“ begleiteten den Übergang, der am 1. Oktober 1847 vollzogen wurde, ihrer Art entsprechend hellsichtig ironisch(13) [II,626]. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13)

An den Leser, BmZ -/4, 17.2.1844, S. [Aa–ba], Z: [Ab]; -/1, 27.1.1844, S. [Aa–ba]; BmZ III/1, 2.1.1846, S. [Aa–bb]; BmZ IV/1, 2.1.1847, S. [Aa–bb]; a. a. O. S. [Aa]; a. a. O. S. [Ab]; a. a. O. S. [Ba]; BmZ -/24, 6.7.1844, S. [Ab]; BmZ IV/9, 27.2.1847, S. [Aa–b]; SfdmW V/13, 10.3.1847, S. 103; BmZ IV/43, S. [Aa–bb]; NBMz I/39, 29.9.1847, S. 321a–322a; SfdmW V/34, 16.8.1847, S. 271.

2. Otto Langes Vorwort Das „Vorwort“ zum 2. Jahrgang schrieb nicht Gaillard, sondern Dr. Otto Lange(1) [II,506], der noch während der Laufzeit der „Berliner musikalischen Zeitung“ zur Konkurrenzgründung des Bock-Verlages abwanderte und dort für viele Jahre die bestimmende Persönlichkeit blieb. Mit Sicherheit wird es Streit zwischen den beiden Männern gegeben haben. Anders läßt sich der beinahe bösartige Seitenhieb

342

8. Kapitel: Zwischengründungen

Langes auf Gaillard in seinem angesprochenen Aufsatz von 1849 „Kritik und Humanität“ [II,721] kaum erklären. Bisher habe sich die Tendenz der „Berliner musikalischen Zeitung“ noch nicht genügend feststellen lassen, beginnt Lange seinen Text. „Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Zeitschrift, die im Entstehen begriffen ist und deren mitarbeitende Kräfte mehr oder weniger isolirt dastehen, sich erst im Laufe der Zeit dessen bewusst wird, was zu leisten ihre Aufgabe sein soll“(2). Das war indirekt eine Kritik an Gaillards Planung. Alle Mitarbeiter seien unabhängig, so daß es keine äußeren Einflüsse auf ihre Urteile gebe. Das Gedeihen einer Zeitschrift setze mehrere Kräfte, gemeint sind Mitarbeiter, voraus, eine Bemerkung, die sich gewiß gegen Rellstabs im Dezember 1841 eingestellte Ein-Mann-Zeitschrift „Iris im Gebiete der Tonkunst“ richtete. Lange legt die Gesichtspunkte offen, nach denen sich die Zeitschrift künftig richten will. Schon hier beginnt Lange mit dem für seine Schreibart später typischen Verfahren, Feststellungen, die nicht begründet sind, durch Feststellungen, die es auch nicht sind, wieder aufzuheben. Bis „in das Einzelnste“ gehende Erörterungen und systematische Entwicklungen gehörten nicht in eine musikalische Zeitschrift, sondern in eine Broschüre. Da aber die Zeit nicht außerhalb der Wissenschaft steht, muß eine „gediegene“ Zeitschrift auf die „gehaltvollen Erscheinungen ihrer Zeit eingehen, sie verfolgen in ihrem Fortschritt und auf ihren Irrwegen. Die Erörterungen in einer Zeitschrift unterscheiden sich von den rein wissenschaftlichen besonders dadurch, dass sie unmittelbar practisch sind, in das Leben der Gegenwart eingreifen und diesen Charakter ganz besonders durch eine verständliche und eingängliche Form an den Tag legen“(3). Die Darlegungen, gemeint sind die musikkritischen, sollen „durch Hinweisung durch die in der Kunst geltenden Gesetze ein Einlenken in die richtige Bahn“ ermöglichen(3). Die Zeitung wird keine „partikuläre Kunstrichtung, eine sogenannte Schule“ vertreten. Eine Allerweltsphrase in Reimform sorgt für die nötige Autorität: „Aeltestes bewahrt mit Treue, / Freundlich aufgefasst das Neue“(3). Es ist deshalb eine Phrase, weil sich der Inhalt von selbst versteht, er aber undefiniert bleibt; denn über das, was beispielsweise „neu“ ist, dürften die Meinungen etwa zwischen Gaillard, Lange, Lobe und Brendel weit auseinandergehen. Doch Lange erklärt den Reim als „Unser Wahlspruch“. Anschließend teilt er mit, die Zeitung werde so bleiben wie im letzten Jahr. Eigentlich hätte er sich mit dieser Feststellung den vorhergehenden Text sparen können; doch der aufhebende Widerspruch folgt auf dem Fuße. Einzelne Gegenstände seien sogar in theoretischen Werken „noch nicht zur Genüge erörtert, weil eben jene Werke nur von allgemeinen Gesichtspunkten ausgehen und für die Aufstellung der Gesetze sich meist an die klassischen Kunstformen halten“(3). Jedes Gesetz sei aber einer Erweiterung fähig. An dieser Stelle verwirft er das, was er später als verantwortlicher Redakteur unentwegt betreibt, nämlich die Beurteilung neuerer Werke nach den „ewigen Gesetzen“, die allemal aus vergangenen Werken abgeleitet werden. Ausgeschlossen sind „Ästhetische Aufsätze“ [Lange meint natürlich Aufsätze zur Ästhetik], ausgenommen dann, wenn der Autor etwas von Ästhetik versteht. Die verschiedenen Gebiete der Kunst kann er hier „natürlich nicht aufführen. Die gegebenen Andeutungen mögen genügen“(4).

III. Carl Gaillard und die „Berliner musikalische Zeitung“ 1844

343

Der zweite Teil der „Berliner musikalischen Zeitung“ wird sich mit der Musikkritik befassen. Wieder erkennt man Langes Handschrift an der aufgehobenen Infragestellung der Behauptung: „Kritik in der Kunst zu üben scheint leicht, ist aber sehr schwer“(4). Im Unterschied zum „reinen Kunstgefühl“ entzieht sich das „gediegene Kunsturtheil“ jeder „Halbheit, Willkühr und Parteilichkeit“ und hält sich von „aufgeblasener Anmaassung“ fern. Das Kunsturteil habe es mit dem Werk zu tun und deshalb könne man nicht alles besprechen, weil man sich sonst zerstreue. Am Ende würde es nur „zur Willkühr und Ungründlichkeit“ führen. Nun erhält der längst aus der Öffentlichkeit verbannte Hirschbach mit dem Verweis, man wolle nicht polemisieren, einen polemischen Nachtrag: „Auch wollten wir kein Repertorium schreiben. Was daraus entsteht: – – Doch schweigen wir, um nicht gleich mit Polemik zu beginnen“(4). Nach dieser Nichtpolemik im Verständnis Langes folgen die einzigen, einen neuartigen Standpunkt ankündigenden Sätze des Artikels: „Wir gedenken in unsern Beurtheilungen von allgemeinern Gesichtspunkten auszugehen, indem wir bestimmte Gesetze der Melodik, der Harmonik, des Styls u. s. w. an Kunstwerken grösserer und kleinerer Art erläutern. Durch diese analytische Form der Beurtheilung läuft der Kritiker nicht Gefahr, sich vom Boden der Kunst zu entfernen“(4). Das ist einer der Kerngedanken, auf den sich Langes Wirken insgesamt, auch für seine spätere Tätigkeit in der „Neuen Berliner Musikzeitung“, zurückführen läßt. Es kündigt die von Lange eingebrachte Stilfiktion an, von der er nie lassen und mit der er den historischen Größen seiner Zeit nicht gerecht werden konnte. „Wir glauben aber auch insonderheit den ausübenden Künstlern ein Organ in die Hand geben zu müssen, nach welchem sie den Werth der eigenen Kunstleistung zu prüfen im Stande sind“(4). Lange erkennt ein Auseinanderdriften und den Widerspruch von gediegener Komposition und Virtuosität und beendet den Gedanken mit der Selbstverständlichkeit und der sich daraus ergebenden Schlußfolgerung „dass eine musikalische Zeitung in ihren Arbeiten die ausübenden Künstler und Künstlerinnen zu berücksichtigen habe“(5). Sie werde aber nicht alles beurteilen, was sich in einer so großen Stadt wie Berlin an Musikereignissen zutrage. „Sprechen wir es unumwunden aus: wir streben dahin, dass der ausübende Künstler auf unser Urtheil etwas gebe“(5). Lange entfernt sich immer mehr von der Funktion einer das Lesepublikum unterrichtenden Zeitung. Das Publikum = die Leserschaft ist ihm Mittel zum Zweck, sein Blatt zu finanzieren. Er will, wie in früherer Zeit, den produzierenden Künstler erreichen, ihn und damit den Verlauf der Musikgeschichte beeinflussen. Später wird er zu der nicht nur von Lobe als Anmaßung bezeichneten Formulierung vom Kritiker kommen, der angeblich über dem Künstler steht. Dann soll es in der Zeitung Berichte geben, bei denen man „durchaus nicht pedantisch“ verfahren will. Schließlich will der Leser ja auch unterhalten werden. Lange beendet seinen Aufsatz mit der bedachtsamen Vorwegnahme eventueller Kritik am Verfahren: „Dass wir es dabei nicht Allen recht machen werden, wissen wir im Voraus; auch wird unser Streben manchen Angriffen ausgesetzt sein, weil noch nie eine Zeitschrift unangefochten geblieben ist und weil auch wir den Irrthum von uns nicht abwenden können. Doch soll es an einem Eingehen auf gerechten Tadel nicht fehlen; wir wollen ihn sogar dankbar anerkennen und nur Ungründ-

344

8. Kapitel: Zwischengründungen

lichkeit und Anmaassung entweder nicht berücksichtigen oder einer gemüthlichen Feuilletons-Laune preisgeben. / Dr. Lange.“ Die Musterung aller historischen Musikzeitungen läßt keinen „Tadel“ erkennen, der nach Meinung der Getadelten eben nicht „anmaassend“ gewesen wäre – Fink in Leipzig oder Schmidt in Wien lieferten anschauliche Musterbeispiele. (1) (2) (3) (4) (5)

Dr. Lange: Vorwort, BmZ II/1, 4.1.1845, S. [Aa–bb]; Vorwort, S. [Aa]; Vorwort, S. [Ab]; Vorwort, S. [Ba]; Vorwort, S. [Bb].

3. Flodoard Geyers Forderungen Für Flodoard Geyer ist ein kritisches Urteil ohne Begründung unnütz, und das ständige Klagen über den Verfall der Tonkunst beweise nur die Schwäche einer Kritik(1) [II,507]. Sein 1845 für die „Berliner musikalische Zeitung“ geschriebener Artikel „Ein Wort zu seiner Zeit“ spricht vom „Gemeinplatz“, weil von jeder Vergangenheit immer nur das Gute übrigbleibe und das Schlechte vergessen werde und somit jede Zeit vor demselben Problem stehe. Vergleicht man Geyer mit Schladebach, so lassen sich kaum größere Gegensätze im Bewußtheitsprozeß denken. Schladebach sprach von sich selbst immer nur als „die Kritik“. Geyer sagt vom Kritiker das Gegenteil: „Weil er sich einen Kritiker nennt, muss er nicht wähnen, er sei die Kritik“(2). Geyer fordert Kenntniß in der Wissenschaft, Kenntniß der Formen, Kenntniß der Kunstgeschichte. Die Kritiker würden dann der Kunst einen größeren Dienst erweisen „als durch blosse Grobheiten, Schimpfworte, allerlei Unziemlichkeiten oder Lobhudeleien.“ Geyer hat Hirschbach im Sinn. „Selbst das kritische Repertorium, was mit so grosser Verheissung zur Welt kam; – ist es mehr als ein Aggregat von Witzeleien, Grobheiten und Fadaisien?“(3) Der Kritiker muß die Kompositionslehre beherrschen und auf den besonderen Fall übertragen. Ohne diese und ohne den geistigen Zusammenhang des Einzelwerkes mit der Kunst herzustellen „kann sie nur den subjektiven Geschmack des Kunstrichters aufweisen und hat nur das Interesse des Persönlichen, welches von vorne herein gleich Null ist“(3). Jedes Jahrhundert habe seine „Helden“ gehabt und jedes Jahrhundert habe sie für die letzten gehalten, so als ob die Kunst damit zu Ende gegangen sei. „Wir glauben indessen,“ – Geyer spricht in der Mehrzahl – „dass die Entwickelung des Geistes und somit auch der Kunst unendlich“ sei. Man solle mit dem Klagen aufhören. Geyers Schlußsatz mag einem Otto Lange schrill in den Ohren geklungen haben: „Sonst denken wir von euch, weil ihr zum Schaffen nichts tauget, ihr seid zu einem Dinge gut genug, was ihr Kritik zu nennen beliebtet, die es aber nimmermehr ist.“ Es dürfte kaum Spekulation sein, zwischen Geyer und Lange Gesprächs-Auseinandersetzungen über diesen Gegenstand zu vermuten. (1) Geyer, BmZ II/3, 18.1.1845, S. [Aa–bb]; (2) Geyer, a. a. O. S. [Ab]; (3) Geyer, S. [Ba].

IV. Die Teutonia oder Dr. med. Julius Schladebach

345

4. Banalitäten am Rande. Jul. Weiss und die drei Klassen Jul. Weiss teilte 1845 die Kompositionen in drei Klassen ein(1) [II,527]. Zur 1. Klasse zählte er die gediegenen Kompositionen oder solche mit „rühmlichem Streben“, zur 2. Klasse diejenigen, die dem Geschmack der Menge huldigen, sich aber weniger durch Eigentümlichkeit als durch Sangbarkeit oder melodische Vorzüge auszeichnen, in die 3. Klasse solche Kompositionen, die 1. und 2. Klasse in sich vereinen. Um im Jahre 1845 einen solchen Text aufzunehmen, muß ein Redakteur an guten Beiträgen Mangel leiden oder jemandem verpflichtet sein. Es forderte eine bessere Konkurrenzzeitung geradezu heraus (1) BmZ II/33, 16.8.1845, S. [Aa].

IV. DIE TEUTONIA ODER DR. MED. JULIUS SCHLADEBACH 1. Die Teutonia 1846 Die „Teutonia“ war eine dem Männergesang gewidmete Musik-Zeitschrift, deren erste Nummer im Januar 1846 herauskam. Sie nannte sich „Literarisch-kritische Blätter für den deutschen Männergesang“ und hielt sich bis zum dritten Jahrgang 1848–1849. Redigiert wurde sie von dem damals namhaften Komponisten Julius Otto und von Julius Schladebach. 2. Julius Schladebach alias Wise Schladebach gehörte zur Kategorie der vorurteilsvollen Nörgelkritiker mit technischen Spezialkenntnissen. Ihm ging ein ungewöhnlich schlechter Ruf voraus. Seine Lebensdaten liegen weitgehend im Dunkeln. Er stammte aus Kiel, wo er 1810 geboren wurde und 1872 auch starb. Von Hause aus war er Mediziner (Dr. med.). Wo er studiert hat, wie er zur Musik fand und aus welchen Gründen, und wann er nach Dresden kam, ist ungeklärt. Schladebach schrieb in Dresden Musikkritiken in der Beilage zur „Abend-Zeitung“. Der Stil dieser Kritiken ist schwerfällig, klobig, streckenweise schwülstig, aber technisch sachkundig. Er lebte wohl als Musiklehrer, komponierte, stand dem Männerchorwesen sehr nahe und verfaßte unter anderem eine Zeit lang für Schmidts „Wiener allgemeine Musik-Zeitung“ die DresdenKorrespondenzen. Er war ein erklärter Gegner der Musik des späten Beethoven und ließ keine Gelegenheit aus, dies auch energisch kund zu tun. So polemisierte er gegen Wagners Aufführung der 9. Symphonie am Palmsonntag 1846. Journalistisch gesehen saß Schladebach spätestens zu dieser Zeit, um ein Bild zu gebrauchen, ‚zwischen allen Stühlen‘. Für die „Allgemeine musikalische Zeitung“ war er schon seines Stiles, seiner Wertvorstellungen und seiner den Zeitschriftenrahmen sprengenden, überlangen Korrespondenzen wegen auf Dauer untragbar, so daß sich Lobe Anfang August 1847 von ihm trennte. Lobe fand wohl keinen neuen

346

8. Kapitel: Zwischengründungen

Berichterstatter, so daß von dieser Zeit an bis zu ihrem Eingehen die „Allgemeine musikalische Zeitung“ ohne Nachrichten aus Dresden blieb. Mit Sicherheit hat es mit Lobe schon vorher Auseinandersetzungen gegeben, in deren Mittelpunkt die 9. Symphonie stand(1). Ein Gleiches galt für die „Allgemeine Wiener Musik-Zeitung“, deren Redakteur Schmidt trotz aller seiner Ecken und Kanten ein glühender Beethoven-Verehrer war. Für die „Neue Zeitschrift für Musik“ Brendels kam der devote Meyerbeer-Anhänger und wütende Wagnergegner seines einseitig schmähsüchtigen Stils wegen erst Recht nicht in Frage, und die „Neue Berliner Musikzeitung“, wo er allenfalls noch hätte Fuß fassen können, begann für ihn zu spät; denn das schlimmste Pamphlet, das im 19. Jahrhundert je über eine Stadt und ihre Bewohner geschrieben worden ist, „Dresden und die Dresdner“, war 1846 zwar anonym erschienen, doch raunte man sich in Dresden den Namen Schladebach als Verfasser zu. Schladebach hat das immer bestritten, und seiner pathologischen Natur wäre es zuzutrauen, sich zur Verfasserschaft zu bekennen, selbst wenn ihm daraus Schwierigkeiten erwachsen wären. Aber die Musikteile in diesem Buch dürften von ihm stammen, oder sind ihm auf jeden Fall nachgeschrieben. Auch das weitere ist nur zu vermuten. Schladebach verließ, möglicherweise des negativen Ansehens wegen, das er sich erworben hatte, möglicherweise auch um einer besseren Existenz willen, vermutlich um 1850 Dresden in Richtung Deutscher Osten, wo er in Posen die Redaktion einer politischen Zeitung übernahm. Er muß anschließend über Hannover in seine Geburtsstadt Kiel zurückgekommen sein(2). Er betrieb musikhistorische Studien und hat wohl auch weiterhin Verbindungen nach Sachsen unterhalten; denn 1854 erschien in Dresden der 1. Band eines von ihm stammenden (?) oder nur entworfenen (?) Nachschlagewerkes „Neues Universal-Lexikon der Tonkunst / Für Künstler, Kunstfreunde und alle Gebildeten“, dessen weitere Bände II und III sowie der Nachtrag (1857, 1861, 1865) von dem Marxschüler Eduard Bernsdorf herausgegeben wurden. Wie die Verbindung Schladebach-Bernsdorf zustande kam, scheint ungeklärt. Auf jeden Fall verband beide ein irrationaler Haß auf Wagner. Engere Verbindungen scheinen aber nicht bestanden zu haben – eher ist das Gegenteil anzunehmen; dafür spricht die nüchterne, im Verhältnis zu vielen anderen fast lieblose Todesnachricht, die am 25. September 1872 in den „Signalen“ erschien und nicht einmal den Todestag mitteilt(3). Schladebach schrieb unter dem Pseudonym „Wise“ oder „WJSE“. Seine wirtschaftlichen Verhältnisse dürften nicht besonders gut gewesen sein. Im Jahre 1849 traf sich Schladebach mehrmals mit Meyerbeer, dessen Oper „Der Prophet“ 1849 in Dresden erstaufgeführt wurde. Schladebach lobte die Oper über alle Maßen und ließ seine enthusiastischen Aufsätze 1850 als Broschüre erscheinen. Nicht nur in Posen muß er sich in Geldverlegenheiten befunden haben. Wie aus den von Becker herausgegebenen Meyerbeer-Tagebüchern hervorgeht, schrieb er Meyerbeer um ein Darlehen in Höhe von sechshundert Talern an, das Meyerbeer nicht gewähren konnte. Die Summe entsprach in etwa einem Drei-Monats-Gehalt eines Königlich-Sächsischen Hofkapellmeisters. Meyerbeer schickte ihm statt dessen zwanzig Taler nach Posen. Wie ein Brief Meyerbeers bezeugt, hatte er ihm schon in Dresden mit Geld ausgeholfen. Schladebach verfaßte zudem eine Darstellung der Dresdner Maiereignisse „Dresden’s Barrikaden-Kampf. Thatsächliche Darstellung der Ereignisse vom 3. bis zum 9. Mai 1849“, die noch

IV. Die Teutonia oder Dr. med. Julius Schladebach

347

1849 in einer umgearbeiteten und erweiterten 2. Auflage bei H. H. Grimm in Dresden erschien. Sie gibt einen kalendarisch genauen Überblick über die politischen und militärischen Vorgänge. Seine Darstellung wirkt ausgewogen und ist sprachlich zwar nicht elegant, aber doch gut lesbar. Auf Schladebach geht zudem eine frühe Biographie König Friedrich August II. von Sachsen zurück (1854). (1) Die für eine aktuelle Musikzeitschrift auf Dauer nicht hinnehmbare überproportionale Herausstellung Dresdner Ereignisse dürfte finanzielle Gründe gehabt haben. Mit der betulichen zeitlupenartigen Berichterstattung stieg das Honorar. Wir wissen, daß Schladebach Geld brauchte, und je mehr Zeilen er lieferte, um so mehr Zeilenhonorar bekam er. Schladebachs Berichte hören Ende 1845 zunächst auf und setzen erst am 22. Juli mit der Nr. 29 des Folgejahres wieder ein. Schladebach gibt eine glaubwürdige Entschuldigung und holt die Aufführungsberichte nach. Nur ein Ereignis, nämlich das wichtigste, Wagners Palmsonntagskonzert mit der 9. Symphonie, überspringt er unter dem Vorwand, er würde gerne, aber er hätte ja schon in der „Abend-Zeitung“ (er nennt die Nummer), und das wäre jetzt zu lang, und wenn sich die Gelegenheit böte, wolle er das Thema in einem eigenen Artikel gesondert behandeln. Von seinem Bericht in der „Abend-Zeitung“ bleibt nichts als ein Satz, die „sehr missliche Zusammenstellung“ des Programms, übrig (AmZ XLVIII/35, 2.9.1846, Sp. 590–597, Z:592). Natürlich bot sich die Gelegenheit nicht. Seine Beethoven-Polemik des Jahres 1846 mochte einem Schmieder gefallen, der nicht viel davon verstand, aber nicht einem Musikzeitschriften-Redakteur vom Rang eines Lobe, der ihm das Manuskript mit einer entsprechenden Weisung zurückgegeben haben wird. (2) (unbestätigt) nach einer Todesmitteilung in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ „Der Musikschriftsteller Dr. Schladebach ist in Kiel gestorben. Er lebte früher in Dresden und hierauf in Hannover“, NZfM LXVIII./40, 27.9.1872, S. 395b; (3) „In Kiel starb der Schriftsteller Dr. Schladebach, bekannt als Theater- und Musikkritiker“ (SfdmW XXX/41, 25.9.1872, S. 650). Die Titeleien der Bernsdorfschen Ausgaben des Universallexikons enthalten keinen Verweis auf Schladebach. Das gilt auch für den I. Band, der auf der Außentitelseite nur Bernsdorf vermerkt und eine Reihe von (berühmten) Mitarbeitern (Liszt, Marschner, Reissiger, Spohr) vortäuscht. Wohl behält sich Schladebach auf der Rückseite des Innentitels mit Datum 15. April 1855 das Recht der Übersetzung in die englische und französische Sprache vor, gefolgt von einem vierzehnseitigen Vorwort (S. 5–18), das mit dem Datum April 1855 versehen ist. Im Lexikon selbst wird er nicht genannt. Denselben Rechtsschutzvorbehalt schreibt sich, ohne Vorwort, für den II. Band mit Datum Mai 1857 Bernsdorf zu.

3. Schladebach in der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung Wie Schladebach den Weg in die „Allgemeine musikalische Zeitung“ gefunden hat, läßt sich nur spekulativ aus den publizistischen Vorgängen des Jahres 1845 erschließen. Mit Sicherheit war es noch Fink, der ihn holte, weil ein im Januar 1845 erscheinender Artikel vorbereitet gewesen sein muß. Sein kleiner, unter seinem Pseudonym Wise veröffentlichter apodiktischer Aufsatz „Die musikalische Kritik“ in der vierten Nummer des Jahres 1845 liest sich, als schreibe Robert Schumann um ein Jahrzehnt zeitversetzt persönlich, aber in einem selbstbewußt-überheblichen, fast könnte man sagen: verächtlichen Stil, der Schumann fremd war und der eine Veröffentlichung in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ ausgeschlossen hätte(1) [II, 508]. Der Musikkritik wird dieselbe Aufgabe wie

348

8. Kapitel: Zwischengründungen

in der Schumannschen Zeitung gestellt, eine Aufgabe, der man Undankbarkeit und Schwierigkeit nachrühmt. Im selben Zusammenhang wird die „sogenannt wohlmeinende … d. h. … flache, nichtssagende Feder mit Glacéhandschuhen führende“ Kritik gebrandmarkt, die waschen, aber nicht naß machen soll(2). Auch das ist eine Äußerung, die man in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ nicht vermuten würde. Und vollends trifft sich Schladebach mit den Kritiktheorien der „Neuen Zeitschrift für Musik“, wenn er die Gründung der Musikkritik auf Musikwissenschaft in ihrem gesamten Umfang einschließlich Ästhetik und Philosophie fordert und dabei feststellt, sie müsse „selbst zur Wissenschaft erhoben werden“, sei ebenfalls der geschichtlichen Umbildung unterworfen, und habe auf „allgemeine Principien, objectiv unumstösslich festgestellte Grundsätze“ zu fußen(3). Schladebach schließt Bemerkungen über die notwendigen Kritikereigenschaften wie Selbstverleugnung und Aufopferungsfähigkeit an(4), spricht von der Anerkennung der nun wieder eine Macht gewordenen Musikkritik(5). Sie habe als „Wächterin an der Pforte des Tempels der Kunst“ ihre Aufgabe zu erfüllen(6). Der Autor schreibt sich mit Bandwurmsätzen von Phrase zu Phrase, von Behauptung zu Behauptung und von Polemik zu Polemik weiter. Der Artikel nimmt fünf Spalten in Anspruch und besteht doch nur aus wenigen Sätzen: „Es erscheint das um so nothwendiger, als die Kritik – an und für sich häufig sehr unbequem, da sie die schwierige und undankbare Aufgabe hat, dem Schlendrian, der talentlosen Mittelmässigkeit, dem hochfahrenden Dünkel und anderem, auf dem Felde der Kunst weit umher wuchernden Unkraute ernst entgegenzutreten – auch in der dem Besseren zustrebenden Gegenwart nicht selten, leider, in einer Art geübt wird, welche gegen sie einzunehmen wohl berechtigt, da oft nur zu deutlich hervortritt, wie ihr die Grundlage ächten Wissens gänzlich abgeht, wie sie nach den wechselnden Eingebungen des Augenblicks, ohne Grundsätze, ja wohl gar nach Gunst oder Missgunst, aus persönlichen Rücksichten geübt wird, während sie es doch lediglich mit der Sache, mit dem Kunstwerke als solchem, mit der künstlerischen Idee und deren Ausführung zu thun hat“(7). Schladebachs pseudoreligiös-hymnisches Vokabular („Weihe zum Priester der Kunst, die stets von den Genien der Bescheidenheit und Demuth sich begleitet zeigt“(2)) wird mit literarischen Plattitüden durchsetzt. Was er von einem Musikkritiker verlangt, ist hypertroph, und all dies von ihm geforderte Wissen und Können sich selbst zuzuschreiben, spricht für einen von Minderwertigkeitskomplexen gejagten, mehr als nur eigentümlichen, nämlich pathologischen Charakter: „Die wahre musikalische Kritik muss auf gründliche Kenntnis der Musikwissenschaft in ihrem ganzen Umfange und aller einschlagenden philosophischen Disciplinen, sonderlich der Aesthetik, dann aber nicht minder der Musterwerke der bedeutenden Tonschöpfer aller Zeiten und Völker basirt sein (wozu denn auch bei etwaiger Beurtheilung von Opern eine specielle, gründliche Kenntniss der Dramaturgie überhaupt, und des practischen Bühnenwesens insonderheit treten muss), und durch ein theoretisch und practisch gebildetes Urtheil, durch einen geläuterten Geschmack gehoben und getragen werden, was um so nothwendiger ist, als sie nirgend auf rein subjectiver Ansicht beruhen darf, sondern auf allgemeine Principien, objectiv unumstösslich festgestellte Grundsätze fussen, mit einem Worte, selbst zur Wissenschaft erhoben werden muss, die allerdings selbstredend

IV. Die Teutonia oder Dr. med. Julius Schladebach

349

einer allmäligen Fortbildung, gleich jeder anderen, fähig und bedürftig ist, daher nimmer als eine in sich durchaus stabile, durch unumstössliche Canones längst abgeschlossene betrachtet werden kann, sondern mit der wahren Fortbildung der Kunst, vor jeder starren Einseitigkeit sich bewahrend, gleichen Schritt zu halten hat“(3). Er schreibt gegen die „verblendeten“ Leute an, die sich für Kritiker halten, ohne über das alles zu verfügen, was er voraussetzt, und Schladebachs Tiraden gegen die Schein-Kollegen, denen er alles Mögliche an Schlechtigkeiten nachsagt, werden in eben solche Bandwurmsätze eingekleidet. Das alles verliert den Ernst, wenn man es mit der von ihm geübten alles andere als unparteiischen Kritik am Einzelwerk und dem persönlichen Leben des Kritikers Schladebach vergleicht. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7)

Wise: Die musikalische Kritik, AmZ XLVII/4, 22.1.1845, Sp. 49–54; Wise, a. a. O. S. 50; Wise, Sp. 51; Wise, Sp. 52; Wise, Sp. 53; Wise, Sp. 54; Wise, Sp. 49.

4. Schladebach in der Teutonia In der neugegründeten „Teutonia“ erschien in ihrer zweiten Nummer 1846 ein Aufsatz von Julius Schladebach (J. S.) unter dem apodiktischen Titel „Die Kritik“(1) [II,546]. Die „Teutonia“ sei gegründet worden, um den Männerchören eine Auswahl der Stücke nach gut und schlecht zu erleichtern. „Das ist der Standpunkt, von welchem aus die Kritik der Teutonia sich betrachtet zu sehen wünscht.“ Es folgen die typischen Floskeln von der Strenge und der Unparteilichkeit, mit der das zu geschehen habe. „Dass aber jener Standpunkt nur inne gehalten werden kann, wenn die Kritik sich strengste Unparteilichkeit und Wahrheit zur Richtschnur wählt, leuchtet ein. Das Anfassen mit Glacéhandschuhen sind wir nicht gewöhnt. Zweizüngige oder nichtssagende Salonphrasen sollen unserm Blatte fern bleiben, die weltmännische, gallische Höflichkeit, die irgend ein Product, irgend eine Leistung vortrefflich zu finden sich abmüht, während sie im Innersten ihres Herzens von dem Gegentheil sehr lebendig überzeugt ist, kennen wir nicht; auch lassen wir uns nicht durch Namen bestechen.“ Daß der Geschmack verschieden sei, will er nicht gelten lassen. „Aber die Kritik beruht ja nicht auf subjectivem Meinen und Dafürhalten, sondern auf unwandelbaren Principien“, und es ist die Aufgabe der Kritik, „die Auffassungsgabe, den Geschmack, das Urtheil“ derer heranzubilden und zu fördern, denen ihre Verhältnisse ein tieferes Eindringen nicht gestatten. Jetzt müßte Schladebach eigentlich die ‚unwandelbaren Principien‘ erläutern; statt dessen umgeht er die Aussage mit einer Phrase: „So soll auch unsere Kritik nicht eine subjective, sondern eine principielle sein, wenn wir auch keineswegs gemeint sind, es müssten nun diese Principien allemal lang und breit dargelegt werden – der Verständige wird sie bald herauslesen zwischen den Zeilen.“ Was sich aus den Zeilen der Schladebachschen Kritiken herauslesen läßt, sind nicht Prinzipien, sondern eine

350

8. Kapitel: Zwischengründungen

in Grobheit eingekleidete Selbstüberschätzung, denen die Zeitgenossen mit Ablehnung und nach dem Dresden-Pamphlet mit Wut begegneten. „Motivirter Tadel verleiht den Berichten erst den höheren und allgemeineren Werth, da doch überall noch Dies oder Jenes noch besser zu machen bleibt“, heißt es an anderer Stelle, ein Text, der gewiß von Schladebach stammt und nicht von Julius Otto, der von Natur aus friedfertiger und auch feiner als Schladebach war(2) [II,573]. In einer Redaktions-Notiz Winter-Frühjahr 1846/47 erklärte man, ein „freies, strenges, unparteiisches Urtheil“ zu wollen. Höre die Kritik auf, „wahr und offen, frei und ehrlich“ zu sein, so begehe sie Selbstmord. Anlaß war wohl eine richtig stellende Zuschrift, die der Redaktion nicht paßte, „dass wir künftighin solchen unerquicklichen und aus persönlicher Zu- oder Abneigung hervorgegangenen, weitere Kreise durchaus nicht in- // teressirenden Berichtigungen die Aufnahme im Interesse unserer Leser schlechterdings versagen müssen“. Der Stil läßt auf Schladebach als Verfasser schließen. Alle partei- und interessengebundenen Kritiker auf der Ebene Finks bezeichneten sich damals als wahr, offen, redlich, ehrlich, unparteiisch, und ihre Berichte bezeugen das Gegenteil. „Auch der Trefflichste und Tüchtigste kann irren und fehlen; soll man desshalb seine Irrthümer – Wahrheiten, seine Fehler – Tugenden nennen?“ [II,590]. (1) Teutonia I/2, 1846, S. 26–30; (2) Teu I/11, 1846, S. 252–255; (3) Teu I/25, S. 399–400.

V. SONDERFALL „ALLGEMEINE WIENER MUSIK-ZEITUNG“ 1841 1. Österreichs Musikzeitungen bis 1841 und Schmidts Vorbild Vor der Gründung der „Allgemeinen Wiener Musik-Zeitung“ 1841 durch August Schmidt hatte es im österreichischen Kaiserstaat wenigstens sieben Gründungsversuche mit unterschiedlichen Laufzeiten gegeben: 1806 die „Wiener TheaterZeitung“ (50 Jahre), 1810 die „Thalia“ (2 Jahre), 1812 die „Musikalische Zeitung für die österreichischen Staaten“ (2 Jahre), 1813 die „Wiener allgemeine musikalische Zeitung“ (1 Jahr), 1817 die „Allgemeine musikalische Zeitung mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat“ (8 Jahre), 1829 den „Allgemeinen Musikalischen Anzeiger“ (11 Jahre), 1832 die „Mittheilungen aus Wien“ (6 Jahre). Der „Monatsbericht der Gesellschaft der Musikfreunde des österreichischen Kaiserstaates“ in Bandform seit 1829 (2 Jahre) war ebenso wenig eine Musikzeitung wie 1840 das von August Schmidt ins Leben gerufene Taschenbuch „Orpheus“ (2 Jahre) oder der „Rechenschaftsbericht der Direction der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien“ seit 1841 (bis 1937). Die Einzelheiten der Laufzeiten lassen sich bei Freystätter und Fellinger nachlesen. Dort finden sich titelbedingt allerdings keine Mitteilungen über Schmidts Redaktion des „Leopoldstädter Taschenbuches“, das er später in „Thalia“ umbenannte oder seine zweijährige Herausgabe der periodischen Zeitschrift „Der Novellist“.

V. Sonderfall „Allgemeine Wiener Musik-Zeitung“ 1841

351

Vom Markt her gesehen war August Schmidt ohne österreichische Konkurrenz, als er 1841 die „Wiener allgemeine Musik-Zeitung“ gründete; denn die Theaterzeitung von Adolf Bäuerle hatte ausschließlich Bühneninteressen im Sinn. Schmidt folgte in der äußeren Gestaltung dem Vorbild der Leipziger „Allgemeinen musikalischen Zeitung“(1), die noch von Fink redigiert wurde, verwirrte aber mit dem sich selbst widersprechenden Titel. Eine „Wiener“ Zeitung behandelt die Vorkommnisse in Wien, eine „allgemeine“ Zeitung ist nicht ortsgebunden, eine „Wiener allgemeine“ Zeitung dagegen müßte sich auf Wien beschränken. Schmidt hatte aber den Ehrgeiz, eine Art von Zentralblatt für ganz Österreich zu schaffen, was ihm ja auch gelang. (1) unter Benutzung einer ungedruckten Hausarbeit „Typologie der Wiener Allgemeinen MusikZeitung 1841“ von Britta Kungney-Klossow, Düsseldorf 1992.

2. August Schmidt Schmidt war ein gebürtiger Wiener (geb. 9.2.1808). Er erhielt Geigen-, Klavierund Gesangunterricht. Von der Stimmlage her war er ein Baß. Schon mit 17 Jahren gründete er seinen ersten Verein. Nach der Militärzeit wurde er 1834 „Cassaoffizier“, worunter man in Österreich einen Finanz-Beamten verstand. Gleichzeitig verfaßte er Novellen, Gedichte, Reiseberichte, die auch gedruckt wurden. Seine erste Frau verlor er durch Cholera sechs Wochen nach der Hochzeit, seine zweite Frau starb im Juli 1848. Nach dem mehr oder weniger erzwungenen Rücktritt von der Redaktion seiner Zeitung widmete er sich vermehrt der Vereinstätigkeit. Schon 1843 hatte er nach dem abgeschwächten Vorbild Zelters(1) den „Wiener Männergesang-Verein“ gegründet, dessen Direktor er bis 1845 war. Auch an der Gründung der Philharmonischen Konzerte (1842) war er beteiligt. Schmidt wurde berühmt. Seiner Vorstellung einer Verbindung von Geselligkeit und Kunstförderung folgte man allenthalben. Er erhielt viele Ehrenmitgliedschaften und Ehrendoktorwürden. Für das Männerchorwesen, oder, wie es damals hieß, der Liedertafeln, galt er weit über Wien und Österreich hinaus als Autorität. Schmidt war dem Biedermeier verpflichtet, eckte aber seiner politischen Gedanken wegen bei den Behörden an. Anläßlich der Wiederherstellungsfeier von Glucks Grabmal äußerte er in seiner Rede sehr kritische Bemerkungen gegen die österreichischen Zensurmaßnahmen. Während der Revolution wurde er Hauptmann der Nationalgarde und stand auf der Seite der Aufständischen. Er mußte sich deshalb später vor einem Gericht verantworten, wurde aber freigesprochen. Schmidt zog sich auf seine schriftstellerischen Arbeiten zurück, half bei der Gründung weiterer Liedertafeln und Vereine und deren Organisation (unter anderem im November 1864 als Gründungsmitglied des ersten allgemeinen Beamtenvereins der österreichischen Monarchie) und widmete sich der Obstbaumzucht (auch darüber hat er Abhandlungen verfaßt). Schmidt ließ sich im Juni 1869 pensionieren, verkaufte 1873 sein Anwesen in Habersdorf und erwarb ein Haus in der Nähe von Wien. Dort schrieb er seine Memoiren. Schmidt starb am 13. Oktober 1891 im Alter von 82 Jahren. Die Einzelheiten sind bei Wurzbach nachzu-

352

8. Kapitel: Zwischengründungen

lesen, dessen Darstellung wahrscheinlich unter dem Einfluß von Schmidt entstand. Schmidt wurde auf dem Wiener Zentralfriedhof bestattet. Die dort aufgestellte Büste zeigt ein martialisches Gesicht mit vollem Schnauzbart, hinter dem man eher einen säbelschwingenden Infanteriehauptmann als einen vergeistigten Schriftsteller und Musikredakteur vermuten würde. Um Schmidt zu charakterisieren, genügt ein kleiner Abschnitt aus seiner „Epistel an die hiesigen Künstler und Musikalienhändler“(2) [II,456], die sich gegen Kritik an der Wiener Presse aus dem ‚Ausland‘, gemeint sind Leipzig und in erster Linie Hirschbachs „Repertorium“, wendet. Da ist ein „Pamphlet“ aufgetaucht, „welches das verächtliche Gewerbe eines journalistischen Krakeelers treibt“. Den Namen dieses „Winkelblattes“ will er nicht nennen. Es hat sich zur Aufgabe gestellt, „nicht nur alle in Österreich erschienenen musikalischen Werke zu verunglimpfen, dasselbe hat es auch versucht, unsere Kunstleistungen und die Kunstzustände Österreichs zu schmähen und die Ehre österreichischer Künstler mit dem schmutzigen Geifer der Verlästerung zu besudeln“. Gleichzeitig fordert Schmidt die österreichischen Künstler auf, sich zu vertragen und nicht „die heiligsten Interessen der Kunst dem Egoismus und der Selbstsucht“ zu opfern. „Ruft nicht selbst das Ausland in euren Privathändeln zum Schiedsrichter auf, entehrt euch nicht durch erkaufte Lobartikel in auswärtigen Zeitungen“ schreibt er, und gibt in einem noch pathetischeren Tonfall den Verlagen gute Ratschläge „zur Emporbringung der vaterländischen Kunst“. Daß er damit den Kritikern aus dem ‚Ausland‘ Recht gibt, ist Schmidt wohl kaum bewußt geworden. In ihrer Derbheit und Anzüglichkeit schreckte Schmidts Ausdrucksweise vor keiner Injurie zurück. In einem Artikel „Fluch über die obscuren Correspondenzler“(3) [II,475] regte er sich über einen ihm unbekannten Wiener Korrespondenten auf, wobei ihn wohl am meisten ärgerte, nicht in Erfahrung bringen zu können, wer er war – ein Beispiel für die Wichtigkeit der Geheimhaltung von Namen. „Das elendeste Gewerbe in der journalistischen Literatur ist gewiß das der verkappten Correspondenzler in auswärtige Zeitungen.“ Nicht nur hier redet er von der „stummen Verachtung“, mit der man solche Artikel eigentlich übergehen solle, um sich dann mit vielen Worten auf eine Entgegung einzulassen, so daß nun alle Leser über etwas informiert werden, von dem sie ohne Schmidts geharnischtem Protest nie etwas erfahren hätten. „Abgesehen davon, daß es schon des ehrlichen Mannes nicht würdig, seine Meinung über vaterländische Zustände in Aufsätzen auswärts zu veröffentlichen, zu welchen er als Verfasser sich zu nennen schämt …“ Der unbekannte Korrespondent hatte im „Kometen“ einen Artikel „Neues und Altes aus Wien“ erscheinen lassen, mit dem Schmidt gar nicht einverstanden war. Der Anonymus würdigte seiner Meinung nach die Zeitschrift zum „Reservoir seines eben so böswilligen als unwahren Geschreibsel“ herab. Der englische Komponist John Liptrot Hatton hatte 1844 im Wiener Hofoperntheater seine Oper „Pascal Bruno“ herausgebracht, die der Korrespondent „erbärmlich“ nannte. Schmidt reagierte: „Wer bist du Erbärmlicher, der du es wagst, diese Oper erbärmlich zu nennen?“ Dann schrieb der ungeliebte Korrespondent weiter: „Wir haben seit zwei Jahren schon genug italienischen und deutschen Schund gehört, wozu noch diesen englischen Unsinn.“ Schmidt vermerkt, in diesem Zeitraum seien als Novitäten die Opern „Mara“ von

V. Sonderfall „Allgemeine Wiener Musik-Zeitung“ 1841

353

Netzer, „Zar und Zimmermann“ von Lortzing, „Catarina Cornaro“ von Lachner und „Die Heimkehr des Verbannten“ von Nicolai gespielt worden. Mit sich und seiner Zeitung ist er äußerst zufrieden, wie besonders sein jahresbedingtes „Abschiedswort an die Leser“ 1843 bezeugt(4) [II,457]. Selbstverständlich kann seine Zeitung die „Gewissensfrage“, ob sie den „ehrenvollen Titel eines Centralblattes für die heiligen Interessen der Tonkunst“ zu Recht verdient, nur mit einem Ja beantworten. Da stehen dann wieder alle Phrasen hintereinander, die „vermehrte Theilnahme des intelligenteren Publicums“, der „redliche Wille“, die „ehrenhafte Gesinnung“, die „unbestechliche Wahrheitsliebe“, die „strenge Rechtlichkeit“, das „unwandelbare Festhalten an dem Guten und Wahren“, die „redlich erfüllte Pflicht“, die Verachtung „aller Winkelzüge und Umtriebe“, unbeirrt „von den Anfeindungen der Verleumdung und der Böswilligkeit“. Der Spötter aus dem Ausland könnte umformulieren: Wer Schmidts Zeitung nicht liest, gehört zum unintelligenten Teil des Publikums, Schmidts Gesinnung ist ehrenhaft auch dann, wenn er auswärtige Kritik als schmutzigen Geifer der Verlästerung darstellt, die der Böswilligkeit entspringt, und gleichzeitig seine Künstler und Verleger auffordert, sich nach außen hin besser zu benehmen, damit man keinen Anlaß zur Kritik gleich böswillige Verleumdung gleich schmutziger Geifer der Verlästerung bietet. Schon der Epilog „Abschiedswort an die Leser“, mit dem Schmidt seinen ersten Jahrgang beschließt, fiel entsprechend theatralisch aus(5) [II,403]. „Sie hat gehalten, was sie versprach“, jubelt Schmidt. All die betäubende Überschwenglichkeit, die Lewinsky nur einen Monat später als der Wiener Kritik nachteilig herausstellen wird, findet sich hier auf engstem Raum zusammengedrängt wieder. Vom „unparteiischen Wächteramt“ und der „unbestechlichen Strenge“ ist die Rede, vom Kampf gegen den „Schlendrian“, vom guten Geschmack, von der „Sichel des Tadels“, die man „unerbittlich gebrauchen“ will, und von anderem mehr. Selbst die kleinste Kritik an seiner Zeitung beantwortete Schmidt mit grobschlächtigen Beschimpfungen. Ein Dr. Gröbner hatte aus Innsbruck in der Wiener Theaterzeitung Dinge geschrieben, die Schmidt nicht hören wollte. Schmidt begegnet dem „anmaßenden und leidenschaftlichen Ausfall“ auf ‚seine‘ Zeitung nach Schmidt-Art, indem er „diesen unartigen jungen Menschen, der in seiner Vermessenheit gewagt, ein öffentliches Kunstinstitut öffentlich anzugreifen“ auf den Standpunkt „der Unbedeutendheit“ verweist. „Ein junger Mann, dessen Name in der Kunstwelt ein unbekannter [unbekannter wird gesperrt gedruckt], kaum die Peripherie seines Kanzleitisches überschritten hat, kann kein würdiger Gegner meiner Zeitung sein … // … weil ich … mit diesem Herrn Ignotus nicht in die Schranken treten kann.“ Schmidt äußert sich tatsächlich nicht zur Sachlage. Er ist nur empört(6) [II,512]. Es gibt Stellen, die blitzlichtartig die Wirklichkeit der Befangenheit erkennen lassen. Als die „Signale“ 1843 einen Prager Korrespondenten der Wiener Musikzeitung bloßstellen, greift Schmidt das Thema in für ihn typischer Weise auf. Zunächst nennt er den Korrespondenten einen „zeitweiligen“, distanziert sich also von seinem Mitarbeiter, sodann ist der Schlußsatz der kurzen Mitteilung charakteristisch: „Behauptungen ohne Begründung heißen mindestens – Arroganz; und das Verdächtigen befreundeter Blätter, – mindestens Thorheit, denn man vergißt dabei

354

8. Kapitel: Zwischengründungen

das Wörtchen Revanche.“(7) [II,445]. Das drohende Wort ‚Revanche‘ ist nicht nur gesperrt, sondern auch mit einer anderen Schrift gedruckt, damit der Betroffene nur ja erkennt, daß Schmidt sich rächen will. In seinem wütenden Artikel „Zur Beleuchtung der Urbanität musikalisch-literarischer Kritiken letzten Ranges. (In Handschuhen geschrieben.)“(8) [II,620] hebt Carl Gaillard ausdrücklich auf Rachsucht ab, mit der Schmidt in Wien gegen Gegner auftrete. „Der Kritiker soll Recht üben, aber keine Rache“(9), heißt es in herausgehobenem Sperrdruck bei Gaillard, der bei dieser Gelegenheit (es ist sein letzter großer Artikel) selbst alles andere als unpolemisch-zimperlich verfährt. Er ließ an Schmidt kein gutes Haar. Der ziemlich lange Artikel erschien an demselben Tag, an dem Schmidt in Wien seinen Lesern seinen Rücktritt bekanntgab. Er beschäftigte sich ausschließlich mit Schmidt und war nicht nur polemisch, sondern streckenweise beleidigend zu nennen. „Solche Leute streben in der Regel durch Skandale, schmähsüchtige Verfolgung derer, die sich ihrer angemassten Autorität nicht unterwerfen wollen, durch Ausbeutung fremder Ideen, in Vereinsstiftungen u. s. w. durch das Selbstlob, das sie über sich drucken lassen, ein gewisses Ansehen zu erwerben. Hr. Schmidt namentlich scheut sich nicht, die grösste Lobeserhebung über sich als Mensch und Kritiker in seiner eigenen Zeitung abdrucken zu lassen, und wir können ein solches Verfahren nur aus einer geistigen Beschränktheit herleiten, die immer mit einer bodenlosen Eitelkeit verbunden ist.“ Ein Dr. Maleno hatte in Langes Konkurrenzblatt Schmidt über alle Maßen gelobt und ihn der kaiserlichen Oper in Wien als Direktor empfohlen. Gaillard vermutet, Schmidt und Maleno seien eine Person. Da ist dann bei Gaillard von „literarischen Erbärmlichkeiten“ die Rede, von „kindischen, künstlerischen Eitelkeiten und die innere Hohlheit“, von „literarischen Schmutzereien und Gemeinheiten, in denen sich eine gewisse Art von Tagesschriftstellern ergeht.“ Gaillard wundert sich, daß Lange einen solchen Bericht abdruckte, weil sich die Konkurrenzzeitung doch stets eines anständigen Tones befleißigt habe. Er fragt an, wie die Redaktion „ihre Spalten einem Geschimpf eröffnen konnte, wie es nur in den allergewöhnlichsten Kneipen geduldet wird und wie es nur unter der niedrigsten Schicht der Gesellschaft an der Tagesordnung ist.“(10) Gaillard fügt eine Anmerkung an: „Aehnliche Correspondenzen habe ich auch aus Wien erhalten, jedes Schimpfwort aber gestrichen.“ In der Hauptsache greift Gaillard zeitgenössische Vorkommnisse auf, die Affäre Löffler, bei der es um geistigen Diebstahl ging, um die Auseinandersetzungen um den englischen Komponisten Manstein, der unter dem Pseudonym Pierson auftrat. In allen diesen Fällen hatte sich Schmidt ungebärdig verhalten. Gaillard schließt seine Polemik mit dem Absatz: „Soviel wir wissen, ist Hr. Ag. Sch. früher Trompeter in einem ungarischen Husarenregiment gewesen; von seiner dieser vorangehenden Carriere wissen wir Nichts, und in seiner späteren hat er sich nicht die menschliche und geistige Bildung anzueignen gewusst, die für die Aufgabe, die er sich gestellt, nothwendig ist. Er erwerbe sich die Bildung oder verlasse eine Laufbahn, für welche seine jetzige nicht ausreicht. Es wäre nothwendig, dass sich auch im Journalismus ein Ehrenrath zur Ausscheidung aller unreiner Elemente bildete.“ Stellt man Wurzbachs besonders ausführliche und dabei liebevolle biographische Darstellung dagegen, die er Schmidt widmet, kommt ein anderes Bild zustande.

V. Sonderfall „Allgemeine Wiener Musik-Zeitung“ 1841

355

(1) Zelters Verein war elitär organisiert. Die 25 Mitglieder mußten als Künstler ausgewiesen sein. Schmidts Vorstellungen gingen in Richtung Kunst als Geselligkeit; (2) WaM-Z III/149, 14.12.1843, S. 630a/b; (3) WaM-Z IV/42, 6.4.1844, S. 167b–168a; (4) WaM-Z III/156, 30.12.1843, S. 657a–b; (5) WaM-Z I/156, 30.12.1841, S. 649a–b; (6) AWM-Z V/34, 20.3.1845, S. 136a–b; (7) WaM-Z II/67, 6.6.1843, S. 284b; (8) Gaillard, BmZ IV/26, 26.6.1847, S, [Ca-Db]; (9) Gaillard, a. a. O. S. [Da]; (10) Gaillard, a. a. O. S. [Cb].

3. Wiener Musikkritik vor 1850 Dabei war es Schmidt selbst, der 1847 den Tiefstand der Wiener Tageskritik in einem zweiteiligen Aufsatz von A. F. Draxler mit dem Untertitel „Hyperkritische Dissonanzen aus unserer musikalischen (?) Tagskritik“ feststellen ließ [II,607]. „Die Kritik war nie so geistgespickt, doch auch nie so kenntnißarm, nie so erfahrungsreich, doch auch nie so gesinnungslos wie in der letzten Periode; es fehlt das besonnene Maß bei der übersprudelnden Fülle des Witzes, es fehlt der ruhige Ernst bei der schlagendsten Dialektik, die ihre Pfeile fast immer gegen die Person, selten gegen die Sache richtet, es fehlt vor Allem die konsequente Haltung. Was heute schwarz erscheint, das ist gestern weiß gewesen; morgen wird es blau u. s. w., bis es alle Farben des Regenbogens spielt. Das ist die Scala der Gesinnung, die alle Tage ihre Farbe wechselt, das ist das Chamäleon unserer Tageskritik.“ Wie weit Wiener Kritik hinter der aktuellen Entwicklung zurücklag, zeigen die Aphorismen von Albert Tonitz, die Schmidt noch 1841 in der „Wiener allgemeinen Musik-Zeitung“ veröffentlichte(1) [II,401]. Tonitz stellte für die ‚Erfindung‘ drei, für die ‚Ausführung‘ sieben Kriterien auf, die erfüllt sein müßten, solle eine ‚Tondichtung‘ Wert haben. Dazu zählten „Festhaltung an der gebräuchlichen Eintheilung, wenn nicht das Genie eine neue schafft“, Deutlichkeit in Führung von Melodie und Harmonie, naturgemäße Anwendung der Instrumente, und „auf die Wirkung für die Zuhörer, nicht für das Überblicken auf dem Papiere berechnete Instrumentirung und Führung der Modulationen“. Der Wiener Kritik wurde zwar nicht wie einem Rellstab Bestechlichkeit nachgesagt, wohl aber besondere Anmaßung, die in dem Anspruch zu erkennen war, vom Künstler hofiert zu werden. Kein Debütant konnte in Wien eine günstige Besprechung erwarten, der nicht vorher bei den maßgeblichen Kritikern vorgesprochen, also ‚antichambriert‘ hatte. Das war bekannt und galt noch zur Brahms-Zeit. In den besseren Brahms-Biographien läßt sich nachlesen, welche Mühe Brahms hatte, die von ihm geschätzte Hermine Spies wiengerecht einzuführen. Brahms bat damals seinen berühmten Freund Billroth, diese Aufgabe für ihn zu übernehmen. Anders als der Junggeselle Brahms führte Billroth einen angesehenen Musiksalon, zu dem eingeladen zu werden in Wien als Ehre galt. Ein Komponist wie Wagner dagegen handelte gegenteilig. So, wie er sich weigerte, Verbindung zur Pariser Claque zu suchen, so ließ er sich weder in Berlin von Rellstab Gesangunterricht erteilen

356

8. Kapitel: Zwischengründungen

noch machte er in Wien oder anderswo bei irgendeinem Musik- oder Theaterkritiker einen Antrittsbesuch. Die Claque zahlte es ihm in Paris, Rellstab in Berlin, Davison in London und die Kritiker an der „Neuen Freien Presse“ in Wien und zwar nicht nur deshalb heim. Man zahlte es aber auch einer Clara Wieck heim. Sie hatte 1847 vergessen, einigen Musikkritikern Freikarten zuzustellen, wie die „Neue Zeitschrift für Musik“ mitteilte. Daraufhin riefen Wiener Zeitungen ihre Presseleute zum allgemeinen Boykott Wiecks auf(2) [II,599]. Ein prinzipiell gedachter Aufsatz von Ignaz Lewinsky knapp zwei Monate später „Ueber musikalische Recensionen und unmusikalische Recensenten“(3) [II,404] enthält trotz seiner vielversprechenden Überschrift nur Allgemeinheiten und allenfalls Hinweise und Bestätigungen der von Leipzig und Berlin aus gegen den Zustand der Wiener Musikkritik geäußerten Bedenken und ihre überschwengliche („göttlich, herrlich, entzückend“) Ausdrucksweise, die Lewinsky als „abgeleierte Phrasen“ bezeichnet. Sollten Musiker vom Fach die Kritik übernehmen, werde es auch nicht viel besser, weil viele von ihnen eine einseitige Richtung verfolgten, „woraus Vorurtheile und Pedantismus“ entstehen. Lewinsky äußerte sich als Liebhaber der italienischen Oper und des Wiener Walzers. Die inneren Widersprüche sind unausgleichbar. Luibs „Allgemeine Wiener Musik-Zeitung“ druckte einen Artikel der „Sonntagsblätter“ nach, der über die „Protection der Mittelmäßigkeit“ handelt(4) [II,617]. Der Originaltitel der „Sonntagsblätter“ lautete „Ein Wort in den Wind gesprochen“. Thematisiert wird das Machen von „Zelebritäten“ durch die Journalistik. „Die Mittelmäßigkeit wird gehätschelt, denn sie hätschelt wieder.“ „Der Tod der Kunst ist die Mittelmäßigkeit.“ „Aus dem Irrthume eines Genies kann die Welt lernen …, seine Fehler sind tausendmal mehr werth, als die Tugenden der Mittelmäßigkeiten.“ Die Mittelmäßigkeit wird aber nie aufhören, auch wenn man ihr entgegentritt. „Man soll Alles in seinem Kreise gelten lassen, aber nur als solches, die Mittelmäßigkeit als solche bezeichnen, aber das Prinzip, die Idee, die hohe Kunst sollte gerettet und der Mittelmäßigkeit entgegengehalten werden.“ Das sind eben so schöne wie richtige Worte des mit E. zeichnenden Verfassers. Die Anwendung scheitert an der Realität. Wer bestimmt, was mittelmäßig ist, wenn die Mittelmäßigkeit überwiegt? Und niemand wird glauben, daß sich je ein Künstler bezichtigt, mittelmäßig zu sein und sich nicht dagegen wehrt, als mittelmäßig bezeichnet zu werden. Für die Definition müssen überzeugende historisch abgeleitete Kriterien entwickelt werden. Es gibt sie ja, wenn man das als Mittelmaß definiert, was bei beherrschtem Handwerk in ausgetretenen Pfaden einhergeht. „Das Publikum, Schauspieler und vorzüglich Theaterunternehmer lassen sich in keiner Hinsicht, wenigstens nie auf Dauer, einen blauen Dunst vormachen, und eine Herausstreichung, die nichts ist, wirkt eben so nachtheilig auf den, der sie für sich heilsam glaubt, wie umgekehrt eine unverdiente Herabsetzung.“ Das schrieb Theodor Drobisch 1847 in einer Theaterzeitung, und Luib druckte die Stelle in der „Allgemeinen Wiener Musik-Zeitung“ nach(5) [II,640]. Der Drobisch-Text ist im sattsam bekannten botten Stil Schmidts mit überstarken Ausdrücken gegen „Feile Federn“ und „Gedungene oder freiwillige Lobsalbaderer“ etc. gespickt.

V. Sonderfall „Allgemeine Wiener Musik-Zeitung“ 1841 (1) (2) (3) (4) (5)

357

Tonitz: Aphorismen, WaM-Z I/145, 4.12.1841, S. 607b; NZfM XXVI./11, 5.2.1847, S. 44b; WaM-Z II/12, 27.1.1842, S. 47b/48a; AWM-Z VI/65–66, 1./3.6.1847; AWM-Z VII/151, 18.12.1847, S. 607a.

4. Das Ende Man geriet außer Fassung, als eine „vielverbreitete“ Zeitung Mitte April 1847 behauptete, die „Allgemeine Wiener Musik-Zeitung“ hätte keine Leser. Die Zeitschrift spricht empört von „Arroganz und Unverschämtheit“ und behauptet seinerseits, die „vielgelesene Zeitung“ brächte Dinge zur Sprache, die sie in ihrem eigenen Interesse besser verbergen sollte(1) [II,614]. Man spielte damit auf üble Werbemethoden und anderweitige problematische Verhaltensweisen an. Schmidts „An die Leser dieser Zeitung“ gerichtetes Abschiedswort ist in Wirklichkeit eine Art von Rechenschaftsbericht, der sechs Spalten in Anspruch nimmt. Schmidt hinterließ mit ihm das historisch aufschlußreichste Schlußwort im Musikzeitschriftenwesen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit ihm verabschiedete er sich im Juni 1847 von den Lesern seiner Zeitung (2) [II,621]. Es ist deshalb unter seinesgleichen so einzigartig, weil Schmidt eine Auflistung aller Jahrgänge und Mitarbeiter vornimmt und mit vielen Einzelheiten beschreibt, was sich in jedem Jahr in seiner Zeitung an Besonderem zugetragen hat. Bei der Namensnennung gibt er Pseudonyme nicht preis (er bleibt beispielsweise bei GroßAthanasius statt von Karl Maria Groß zu sprechen). Er zählt an die 70 Mitarbeiter auf. Merkwürdigerweise fällt dabei nicht der Name Hanslick. Schmidt nennt ausdrücklich den Grund seines Zurücktretens nicht. Wir wissen aber von Wurzbach, daß Schmidt von dem österreichischen Polizeiminister Graf Joseph von Sedlnitzky, dem Präsidenten der obersten Polizei- und Censurhofstelle, schlimm bedrängt (schikaniert) wurde(3). Es blieb ihm zuletzt nichts anderes mehr übrig, als die Leitung der Zeitung aufzugeben. Daß er mit dem Abschied von seiner Zeitung keinen Abschied von der Literatur zu nehmen gedachte, „wird wohl jeder begreifen, der überhaupt begreifen kann, daß ein gesunder Geist in einem gesunden Leibe sich nicht mit einemmale der trägen Ruhe hingeben wird wenn er an eine so große Thätigkeit gewohnt war“(4). Schmidts Zeitung ging an Ferdinand Luib über und behielt ihren, seit Januar 1845 von „Wiener allgemeine Musik-Zeitung“ in „Allgemeine Wiener Musik-Zeitung“ ausgetauschten Titel. Luib mußte sie nach nicht einmal zwei Jahren mit der 79. Nummer 1848 einstellen. In seiner Mitteilung und seinem Dank an die Leser vom 4. Juli 1848 spricht er von „vorläufig und mindestens für dieses Jahr“(5) [II,667]. Das ausgesprochene „herzliche Lebewohl“ war aber nicht mißzuverstehen. Es blieb bei der Einstellung. In derselben Nummer erscheint die „Anzeige“ des Schott-Verlags, mit der als Folge der politischen Zeitverhältnisse der Verlag die Einstellung der „Caecilia“ bekannt gab. Auch der Schott-Verlag spricht von einer vorläufigen Aussetzung (als Folge der politischen Zeitverhältnisse) und hofft auf ein folgendes Heft „mit einem Jubelruf und einer Dankeshymne auf die zum Heile

358

8. Kapitel: Zwischengründungen

unseres Vaterlandes und zur Begründung des Volksglückes getroffene Neugestaltung der Dinge in die Oeffentlichkeit treten zu lassen“ [II,668]. Auch dazu kam es nicht. Die vermutlich als Ersatz gedachte, von Johann Joseph Schott zunächst selbst redigierte und im Januar 1852 ins Leben tretende „Süddeutsche Musik-Zeitung“ stand im Schatten Senffs und Brendels und hörte mit dem 18. Jahrgang 1869 auf. (1) AWM-Z VII/44, 13 4.1847, S. 180b; (2) AWM-Z VII/76–77, 26./29.6.1847, S. 305a–308b; (3) Sedlnitzky wurde „Minister der Allerweltspionerie“ genannt und als „ein der höheren geistigen Bildung ermangelndes, ja sittlich wie geistig niedriges Subjekt“ bezeichnet (Wilhelm Zimmermann: Geschichte der Jahre 1840 bis 1860, Stuttgart 1861, S. 125). Er war einer der gehaßtesten Politiker Österreichs und soll als des Kaisers Erfüllungsgehilfe mächtiger als Metternich gewesen sein. Man sah in ihm einen der Hauptverantwortlichen für den Ausbruch der österreichischen Revolution von 1848; (4) a. a.O, S. 308b; (5) AWM-Z VIII/79, 4.7.1848, S. 309a/bq.

VI. SONDERFALL „BERLINER MUSIK-ZEITUNG ECHO“ 1851 1. Ernst Kossak Kossak war einer der bedeutendsten Kritker Berlins mit vielseitigen Interessen und einem unglücklichen Schicksal. Er wurde am 4. August 1814 in Marienwerder geboren, war musikalisch gebildet und gab im Laufe seiner kurzen Wirksamkeit mehrere Berliner Zeitschriften heraus, darunter Satireblätter. Er war (wie Schumann und Hirschbach) Schachspieler und Mitherausgeber der ersten Berliner Schachzeitung. Kossak erlitt 1857 einen Schlaganfall, der ihn weitgehend erwerbsunfähig machte. Er starb am 3. Januar 1880 nach zehnjährigem Leiden. 2. Kossaks erkenntnistheoretischer Ansatz Ernst Kossak veröffentlichte 1847 in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ dreiteilig ausgedehnte „Betrachtungen über musikalische Kunst und Kritik“(1) [II,595], die mit einem neuen, man könnte vielleicht sagen, erkenntnistheoretischen Ansatz verbunden waren. Daß ein Kritiker immer einen Standpunkt, eine Sichtweise, ein Vorverständnis, eine Erwartungshaltung mitbringt, war zu diesem Zeitpunkt unumstritten. Die Forderung, die Kossak vor aller Kritik erhob, war neu. Kossak verlangte vor dem künstlerischen Urteil eine Kritiker-Selbstkritik, um solche Vorabvorstellungen zu neutralisieren. Der Musikkritiker hat einen ungleich schwierigeren Stand, ähnlich einem Vortragenden. Der Literaturkritiker kann einen Text vorlegen und an ihm seine Beurteilungsgründe sichtbar machen. Der Kunstkritiker vermag Bilder zu zeigen. Das ist einfach. Der Musikkritiker dagegen steht vor einem Laienpublikum und redet über Orchestermusik. Selbst dem Fachmann fällt es schwer, eine vorgelegte Partitur innerlich klingend zu hören, geschweige ein Musikliebhaber, der möglicherweise nicht einmal Noten lesen kann. Nach dieser

VI. Sonderfall „Berliner Musik-Zeitung Echo“ 1851

359

Einleitung, deren Gedanken nicht neu sind, sucht Kossak einen anderen Ansatz. „Wir kommen von diesen allgemeinen Gedanken hier auf ein versteckter gelegenes Gebiet, gleichsam an einen verzauberten Ort, wo der kritischen Auffassung zahlreiche Versuchungen drohen; wir meinen die Persönlichkeit“(2). Die Beschreibung dieses Elementes, sagt Kossak, falle schwer. Der Künstler habe ein Naturell – Kossak versteht darunter das, was wir heute eigene Handschrift nennen. Es ist das dem Kunstwerk beigemischte „so und nicht anders“ Gestaltete. Kossak benutzt den Ausdruck „Emanation“. „Dieses Element nun wieder aufzunehmen, ist kein Organ geeigneter, als das unserer eigenen Persönlichkeit, und hier ist der Punkt, wo selbst beim besten Willen, bei strenger Rechtschaffenheit und warm erstrebter Unpartheilichkeit, Jeder mit einem bestochenen Richter, mit seinem besonderen Naturell zu kämpfen hat“(2). Wir vermischen unser Urteil mit unserem eigenen Naturell, und das darf nicht sein, weil dadurch die unterschiedlichsten und dabei ehrlich gemeinten Urteile über denselben Gegenstand entstehen. Von diesem „verführerischen Einfluss“ muß sich der Kritiker selbst reinigen, bevor er seine Kritik äußert. Später wird man von der Selbst-Objektivierung des Kritikers sprechen. Das ist Kossaks Haupt-Botschaft. Dann bestreitet er den allgemein als gültig betrachteten Lehrsatz, eine Kunst könne nur so weit gelehrt werden als sie Handwerk sei. Der Kunstprozeß bestehe nicht aus den beiden Kategorien Kunst und Handwerk. Zwischen beiden stehe die Wissenschaft, „die mit ihrer realen Seite das Handwerk trägt, während ihre ideale Seite sich mit der Kunst assimilirt und in den Schöpfungen des Genius gleichsam verklärt auftritt“(3). Er will Kunst künftig nicht mehr von können, sondern von Kunde abgeleitet wissen, und sucht das mit vielen auch historischen Beispielen zu belegen. Schließlich greift er das Form-Inhalt-Problem auf. Wenn man ein Stück als formell gelungen, aber inhaltlich als nicht gelungen bezeichne, unterliege man einem Irrtum. Kossak bringt als Vergleichsbeispiel das Verhältnis zwischen Steinmetz und Bildhauer und erläutert daran die Gleichwertigkeit von Form und Inhalt eines Musikstücks. Er schließt mit Lessings Laokoon und dessen Versuch, die Grenzen der Malerei zu bestimmen. „Möchte uns ein Genius in unserer Kunst und Kritik geboren werden, der mächtig in eigenen Schöpfungen und philosophisch gediegen in seiner Kritik, der heutigen Musik auch die Grenze bestimmt, die sie namentlich der Malerei gegenüber einzuhalten hat“(4). (1) (2) (3) (4)

NBMz Probenummer I/1b, I/4, I/26, 6.1., 27.1., 30.6.1847, S. 11a–13a, 37a-38b, 217–218b; Kossak, a. a. O. S. 11b; Kossak, S. 12a; Kossak, S. 218a.

3. Die Gegengründung Die Konzentration auf ein einziges Musikblatt war für eine so große Stadt wie Berlin angeblich nicht gut. Dies und vermutlich ein Streit zwischen Lange und Kossak(1) führten 1851 zur Gründung der von Kossak zwei Jahre lang redigierten „Berliner Musikzeitung Echo“, die bis 1879 Bestand hatte und (unter Kossak) das modernere Blatt wurde. Später richtete es sich nach Berliner Grundmuster zeitfeindlich ein.

360

8. Kapitel: Zwischengründungen

Zwischen den gepanzerten Vorworten zu den Jahrgängen der Langeschen wie der Brendelschen Zeitung nimmt sich das „Präludium“(2) [II,763] der neu ins Leben tretenden „Berliner Musik-Zeitung Echo“ geradezu harmlos aus. Der Titel wurde gewählt, um „allem klangvoll Lebendigen eine rasche Antwort zu geben“. Man verspricht wenig in der Hoffnung, viel erfüllen zu können. Dieses und das Versprechen, sich kurz zu fassen, erinnern an die Programmatik der „Signale für die musikalische Welt“. (1) s. Kapitel 9, Abschnitt 11 (Schutzmaßnahmen. Ehrengericht); (2) Echo I/1, 5.1.1851, S. 1/2.

9. KAPITEL: STILFIKTION ALS KRITISCHES PRINZIP. DIE NEUE BERLINER MUSIKZEITUNG 1847 1. PROGRAMM FORTSCHRITT Schon die zu Ende des Jahres 1846 herausgekommene Pränumerations-Einladung der sich künftig „Neue Berliner Musikzeitung“ nennenden neuen Fachzeitschrift betonte als grundsätzlichen redaktionellen Standpunkt die Handhabung ihrer Musikkritik nach Prinzipien des Fortschritts. Doch der vorab mit so viel Energie proklamierte Fortschritt erhielt gleich im Vorwort der ersten Nummer des Blattes so viele und dabei so höchst weise Einschränkungen, daß der Stoßkraft der Schwung genommen und erkennbar wurde, wie ein werbewirksam angekündigtes Programm zum Wort verkümmerte, hinter dem sich die unterschiedlichsten Vorstellungen verbergen konnten. 2. DER TYP Die „Neue Berliner Musikzeitung“, die von Gustav Bock nach einem zeitgenössischen Topos „im Verein theoretischer und praktischer Musiker“ herausgegeben wurde, enthielt als Frucht der Revolutions-Journalistik erstmals leitende Artikel, darüber hinaus auf Berlin bezogene Opern- und Konzertberichte, Korrespondenzen aus den führenden europäischen Musikstädten, mit denen man einen „fortlaufenden historischen Bericht über die Entwickelung des Musiklebens in der Gegenwart“ zu gewährleisten gedachte, ein teils referierendes, teils humoristisch-kritisches Feuilleton in Form von Musiknachrichten, einen musikalisch-literarischen Anzeiger, der die Musikerzeugnisse des In- und Auslandes verzeichnen sollte, sofern sie öffentliches und allgemeines Interesse beanspruchen durften, und natürlich einen Rezensionenteil, unter den Buch- wie Notenbesprechungen fielen. Die „Neue Berliner Musikzeitung“ mußte auf Einspruch Gaillards ihren Titel ändern. Gaillard war beim Ministerium mit der Begründung vorstellig geworden, der gewählte Titel ähnele zu sehr dem Titel seiner Musikzeitung, und die Möglichkeit der Verwechslung bringe ihm Schaden. Er erreichte ein Ministerialreskript und die Bocksche Zeitung änderte ihren Titel in „Neue musikalische Zeitung für Berlin“ (1) [II,603]. Gaillards Zeitung konnte sich nicht halten und ging bereits Ende des Jahres 1847 in die Bocksche Zeitung über. Daraufhin kehrte diese zu ihrem ursprünglichen Titel zurück. Die „Signale für die musikalische Welt“ nahmen die am 10. Dezember 1846 herausgekommene Probenummer mit Spott auf(2) [II,593], weil der Verleger Bock jedem Abonnenten Musikalien im Wert von 5 Talern versprochen hatte. Präsente

362

9. Kapitel: Stilfiktion als kritisches Prinzip

dieser Art werden häufig als Lockspeise angeboten, um liegengebliebene Produkte (Ladenhüter) auf einigermaßen vornehme Art los zu werden. Da der Jahres-Abonnementpreis für 1847 ebenfalls 5 Taler betrug, glichen sich die Kosten aus, und es ist kaum anzunehmen, daß der geschäftstüchtige Verleger Gustav Bock andere als inzwischen unverkäuflich gewordene Musikalien abgab. Die „Signale“ durchschauten natürlich den Verlegertrick. Sie behaupteten, es sei eben schwer, gerade das musikalische Publikum zum Lesen zu bringen. „Es sollte uns nicht wundern, nächstens eine Zeitung erscheinen zu sehen, wo der Verleger den Abonnenten hält, während der Redakteur sie ihm vorliest.“ Die Wörter ‚hält‘ und ‚vorliest‘ sind gesperrt gedruckt. (1) SfdmW V/11, 24.2.1847, S. 97; (2) SfdmW V/2, 4.1.1847, S. 15.

3. OTTO LANGE Der beherrschende Redakteur hieß Otto Lange, dessen Name nicht im Impressum erscheint. Über ihn ist wenig zu sagen und wenig zu erfahren. Er wurde 1815 geboren und starb 1879. Lange kam von der Philologie her, trug einen Doktor-Titel und war vermutlich Lehrer. Seit 1844 arbeitete er als augenscheinlich angesehener Musikkritiker an der „Vossischen Zeitung“. Bis dahin hatte er mehrere schulpädagogische Arbeiten veröffentlicht, die in Berlin erschienen, 1841 unter dem Titel „Die Musik als Unterrichtsgegenstand an Schulen“, und 1842 „Goethe’s und Schiller’s Sentenzen und sentenziöse Gedichte“. Fink hielt das Schulbuch für so wichtig, daß er es als Kopfartikel in der 45. Nummer der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ vom 10. November 1841 mit der ungewöhnlichen Länge von 14 Spalten (Sp. 913– 926) mit vielen (erfahrungsgestützt glaubhaften) Einwendungen besprach. Lange begriff Musik als Mittel der sittlichen Veredlung von Menschen, weil Musik den Menschen anrege und man diese Eigenschaft nutzbar machen müsse. Fink hielt dagegen, Anregung könne auch Anregung zum Schlechten sein. Langes Feststellung reiche nicht aus. Das bis dahin im Unterricht übliche bloße Singen müsse durch einen anderen Musikunterricht ersetzt oder erweitert werden, zum Beispiel durch Klavierspielen, Forderungen Finks, die unrealistisch waren. Lange übernahm für mehrere Jahrzehnte die Redaktion der „Neuen Berliner Musikzeitung“ und legte sich als Kritiker ein Regelwerk zurecht, mit dem er nach Art einer negativen Lehrer-Mentalität versuchte, aus älteren anerkannten Meisterwerken der Tonkunst Gesetze für neuere Kompositionen zu entwickeln. Die Folge waren Fehleinschätzungen sowohl der zeitgenössischen Musiksituation wie der aus diesem Umfeld hervorgebrachten neuen künstlerischen Erscheinungen. Nach dem Ausscheiden Langes geriet das Blatt zeitweise in die Hände vor allem von Dorn und Wuerst und wurde zum prinzipiellen Anti-Wagnerblatt umgestaltet.

4. Zur These von der vergleichenden Kunstkritik

363

4. ZUR THESE VON DER VERGLEICHENDEN KUNSTKRITIK Lange beherrschte die Technik der Anregung genannten Andeutung mit Pauschalierungen, die sich gegenseitig aufheben. Sein Aufsatz „Das Verhältnis vergleichender Kunstbetrachtung zur musikalischen Kritik“(1) [II,660], der sich über drei Zeitungsseiten = sechs Spalten hinzieht, zeigt die Methode. Alles in diesem Aufsatz ist richtig und gleichzeitig halbwahr. Das Vokabular steht in der Tradition der sich ausbreitenden Sakralisierung von Kunst und ist rationalistisch eingefärbt. Im „Tempel der Kunst“ erfolgt der „Musikgenuss“, dessen sich aber nur die „Eingeweihten“ erfreuen können. Sie sind die „Genießenden“. Sein Aufsatz will eine „comparative“ Kunstwissenschaft begründen helfen, da alle „Künste … untereinander in innerem Zusammenhange“ stehen. „Alles dieses beruht auf Gesetzen, die nur dem Eingeweihten genau bekannt sind.“ Die meisten von denen, die sich „an Kunstgenüssen betheiligen“, gehören zum Kreis der „Nichteingeweihten“. Alle aber vereinigt der Sinn für Kunst. Doch „niemals dringt der Laie, wenn auch mit musikalischer Empfänglichkeit reichlichst ausgestattet, so tief in das innere Wesen einer Composition ein, wie es der Musiker vermag“(2). Das wird von Lange gleich wieder aufgehoben, weil es Musiker gibt, denen das „innere Heiligthum der Kunst sich nie erschliesst“. Sie können sich nur „mit zersetzendem Verstande“ zur „Symmetrie“, nicht aber zur „Harmonie“ erheben. „Diese trockenen Seelen“ beherrschen die äußeren Mittel der Kunst. Andere sind „jene schwülstigen, kraft- und saftlosen Naturen, die fortwährend empfindeln, krankhaft seufzen, deren Kunstwerke … gänzlich ohne Mark und Structur auftreten“, die sich seine Zeitung „zur Zielscheibe schwerer, kritischer Schusswaffen auserkoren“ hat. Er dreht wieder zurück: „Die Auffassung eines Laien ist oft viel natürlicher und nimmt eine // höhere Stellung ein, als das Urtheil eines Musikers, der dem einen oder dem andern Extreme zugethan ist“(3). Bis jetzt hat Lange nichts anderes als die Selbstverständlichkeit vom gleichzeitigen Vorhandensein guter und schlechter Musiker und einsichtsvoller und uneinsichtiger Laien ausgebreitet. Nun bezieht er das Publikum ein, das ja vornehmlich aus Laien besteht und dessen Beifall dem „Kunstkenner“ bedeutungsvoller sein muß. An dessen Geschmack hat der Künstler anzuknüpfen, um die Auffassungsfähigkeit zu heben. Jetzt beginnt ein Vergleich mit anderen Künsten. Und weil das Schwerste „in gewissem Sinne“ auch das Leichteste ist, so bietet keine Kunst „in dem Maasse eine Gallerie jämmerlicher Beurtheiler … dar, wie die Musik“(4). Lange zitiert die Autoritäten seiner Zeit, Rochlitz, Schubart, Thibaut, Schiller, Goethe. Er versteht Albrechtsberger, Kirnberger, Marpurg und andere nicht mehr, natürlich nicht, woher sollte auch der Journalist Lange im Jahre 1849 noch etwas von Figurenlehre, der ars poetica oder der ars inveniendi wissen. Die Theorie wurde erst mit A. B. Marx lebenskräftig. Die Marxsche Theorie hat einen Weg eingeschlagen, den Lange für den methodisch allein „richtigen“ hält. Marx hat die Aufgabe gelöst, den Gedanken einer „comparativen Musikwissenschaft“ auszuführen. Der denkende Mensch suche immer ein übergreifendes Gesetz. „Was wir bisher in wenigen Zügen angedeutet haben, würde weiter ausgeführt die Grundlage zu einer comparativen Musikbetrachtung bilden“(5). Weiter ausgeführt wird von Lange nichts mehr, er erhebt nur noch Forderungen, was in dieser vergleichenden Kunstbetrachtung nach-

364

9. Kapitel: Stilfiktion als kritisches Prinzip

gewiesen werden müßte. Der vorletzte Abschnitt dient der Überlegung, welchen Nutzen die vergleichende Kunstbetrachtung bringt. Nach Lange ist die Kunst sich selbst Zweck. Der Künstler schafft, „weil er nicht anders kann“. Der Geist denkt, weil das Denken sein eigentliches Wesen ist. „Worin besteht denn aber der Genuss, den das Kunstwerk bereitet anders, als in der Befriedigung und Sättigung der durch das Werk angeregten Geisteskräfte? … Es hat etwas ungemein Trübseliges, bei der Beurtheilung einer Musik immer wieder von Neuem auf grammatische Regeln, auf die schulmeisterliche Doctrin trockener Theorie zu verweisen. Ja, ich möchte am liebsten, dass man derlei Beurtheilung gänzlich von der Hand wiese“(6). Es lasse sich alles viel besser in ein Bild fassen als „unserm Gefühle eine Sprache zu geben“, indem man vergeblich nach Begriffen sucht. Mit „Genug des Allgemeinen“ leitet er den kurzen letzten Abschnitt ein und bleibt noch allgemeiner. „Es liegt uns nun ob, die Verwandtschaft der Künste unter einander nachzuweisen und darüber Andeutungen zu geben, wie eine vergleichende Kunstbetrachtung eine Hauptstütze der musikalischen Kritik werden kann.“ Bei den „Andeutungen“ ist es geblieben. Der phrasengefüllte Aufsatz verdeutlicht die Richtung, in die Lange die von ihm verantwortete „Neue Berliner Musikzeitung“ zu lenken gedenkt, und warum Lange, anders als Brendel in Leipzig, im musikkritischen Alltag nur eine oppositionelle und keine produktive Rolle spielen konnte, obwohl sich die Zeitung als solche neben der Brendelschen und der Senffschen Zeitung als ein ernstzunehmendes und gewichtiges Organ zu behaupten verstand. (1) (2) (3) (4) (5) (6)

Lange, NBMz II/19, 10.5.1848, S. 137a–139b; Lange, a. a. O. S. 137a; Lange, S. 137b–138a; Lange, S. 138a; Lange, S. 139a; Lange, S. 139b.

5. LANGES VORWORTE Die von Lange geschriebenen Vorworte unterrichten über die Grundsätze, nach denen sich das Periodikum zu richten gedenkt. Das Vorwort zum ersten Jahrgang 1847 ist mit der Probenummer schon Ende 1846 erschienen und versteht sich als Akt der Werbung, den möglichen Kunden mitzuteilen, was sie erwartet. Langes „Vorwort“ zum zweiten Jahrgang seiner Zeitung gleicht neuerlich einer Grundsatzerklärung mit viel Text(1) [II,645]. Nach der üblichen Einleitung werden alle Mitarbeiter aufgezählt. Es ist eine stattliche Zahl und es sind bekannte und berühmte Namen darunter. Wenn sich so viele Kräfte vereinigten, sei der Fortgang der Zeitung gesichert. Dann geht er dazu über, wie die Kritik gehandhabt werden soll. Die „richtige“ Kritik darf nicht nach einer Schablone verfahren. „Fremdartige, ungehörige Einflüsse von der Kunst und den Künstlern fern zu halten ist die Aufgabe der richtigen Kritik“(2). Um was für Einflüsse es sich handelt, sagt Lange nicht. Er weicht der Frage aus. „Sollen wir darauf antworten, so würde sich eben so viel wie

5. Langes Vorworte

365

wenig darüber sagen lassen“. Es ist bei Lange immer dasselbe Verfahren, Probleme als Fragen anzustoßen und die Fragen dann so zu beantworten, daß sich die Antworten gegenseitig aufheben, oder überhaupt nicht zu antworten. Er definiert nicht das angesprochene Fremdartige, sondern umschreibt es mit dem Bleibenden. Das Bleibende ist das Göttliche. „Das Göttliche also, das absolut Reine ist von Geltung, von ewiger Dauer“. Wie ein Kritiker das finden soll, wird nicht gesagt. Wohl fragt er, „ob der geneigte Leser erkenne, dass wir uns in einem Kreislauf bewegen.“ Am Ende des Abschnitts kommt er zu dem Schluß: „Und siehe da, wir verharren in dieser Unbestimmtheit, wie wir es auch versuchen mögen, unsern Gegenstand anzufassen“(3). Nur sind die Künstler im Irrtum, wenn sie meinen, die Kritik sei überflüssig. Die Kritik habe nur die Aufgabe der Berichterstattung, sie ginge den Künstlern hinterher, und die kämen, nicht damit sie (durch die Kritik) „den richtigen Weg gehen lernen.“ Lange fragt, was damit bewiesen sei. „Dass es freilich sehr jämmerliche Kritiker giebt, dass in dem Wesen der Kritik eine gewisse Halbheit begründet ist, dass ihr Princip kein aprioristisches genannt werden kann“(3). In einem großen Bogen von Mathematik, Astronomie und Philosophie über sich widersprechende Sentenzen bei Schiller und Goethe gelangt er zur Gemütsergriffenheit durch Töne, deren Ursache nicht zu ermitteln sei. „Die musikalische Kritik als Kunstwissenschaft mag sich abmühen wie sie wolle, für diese Wirkungen ein bestimmtes Gesetz, eine Erklärung aufzufinden, es wird ihr nicht gelingen.“ Kritik hat eine pädagogische Funktion. „Die Kritik soll die Wirkungen der Kunst dem musikalischen Sinne zugänglich machen und dadurch fördern und aufbauen; sie soll das Interesse an der Kunst rege erhalten, das Vestafeuer der Kunst nie verglimmen lassen u. s. w.“(4). Man wird gegenfragen müssen, wieso die Kritik die Wirkungen der Kunst dem musikalischen Sinne zugänglich macht und nicht das Kunstwerk selbst? Lange will auf seine Lieblingsthese von der Kritik als einer weisenden Institution hinaus. Nun macht er wieder einen Sprung. Er behauptet, aus dem bisher Gesagten ergäbe sich, weniger der Inhalt als die Form sei als die „fremdartigen, störenden Elemente der Kunst“ zu betrachten und er verweist auf seinen Melodie-Aufsatz, den er im Jahrgang zuvor in den Nummern 29 und 30 hat abdrucken lassen. Also wird sich die Kritik in erster Linie mit der Form befassen. „Hier sind auch die Gesetze durch die Theorie der Musik bestimmter vorgezeichnet. Den Mangel an Form aufzudecken, die Gehaltlosigkeit derselben nachzuweisen, vor Oberflächlichkeit, unkünstlerischer Effecthascherei zu bewahren, wollen wir uns bemühen“(4). Dieser Satz ist eine zentral bleibende Grundsatz-Äußerung der Langeschen Redaktion. Er verursachte in seiner Konsequenz zahllose Fehlurteile, indem die Kritik der „Neuen Berliner Musikzeitung“ genau das wurde, was sie bestritt, nämlich Kritik nach Schablone. Der Rest des Aufsatzes betrifft den organisatorischen Aufbau des Blattes. In Leipzig und Wien, aber auch andernorts wird man eine Bemerkung in diesem Artikel mit Hohn aufgenommen haben. Lange bezeichnet Berlin als die „grösste, intelligenteste Stadt Deutschlands“(4). Daß in Berlin zwischen 1819 und 1919 nur wenige, noch dazu unbedeutende Opern uraufgeführt wurden und sich das gesamte moderne Musikleben der Opern- und Konzertmusik, gemessen an den Uraufführungen, in Sachsen, Bayern und Wien abspielte, konnte Lange damals nicht wissen,

366

9. Kapitel: Stilfiktion als kritisches Prinzip

zeigt aber, was die Oper anbetrifft, deren Provinzialität. Immerhin führte Berlin den „Tannhäuser“ erst als 47. und damit als beinahe letzte deutsche Bühne auf. Lange meinte seine Thesen ernst. Nur zwei Monate später, nach der Berliner Märzrevolution, erscheint sein Artikel „Freies Wort und freie Musik“(5) [II,655], ein vor Begeisterung übersprudelnder manifestartiger Text im gehobenen Pathos, wie gut und wie schön jetzt alles wird, nun, wo man schreiben und singen darf, was man will. Es hat zwar auf die Komposition einer Symphonie keinen Einfluß; aber diejenigen, die es mit der Musik unredlich meinen, das heißt die „FantasieComponisten, die Salon-musicirenden Notenschreiber“(6), die lassen sich jetzt besser packen. „Im Namen der Freiheit kämpfen wir gerade auf dem freisten Gebiete der Tonkunst gegen die Willkühr, gegen entkörperte und entgeistigte Musik. Erkennen wir den Fortschritt der Kunst nicht in der Formlosigkeit, sondern in der strengsten Beachtung der Form, die aus sich immer neue Bildungen erzeugt, die unerschöpflich ist“(6). Wogegen Langes Zeitung im Namen der Freiheit wirklich kämpft, zeigen im historischen Abstand die Fehlurteile, die das Blatt hervorbringt. Sein Lokalpatriotismus gleich im zweiten Satz des Artikels sprengt die Grenzen des für andere Staaten dieser Zeit noch Zumutbaren: „Berlin ist seit Jahrzehnten der Thronerbe deutscher Intelligenz, deutscher Wissenschaft und Kunst gewesen.“ Langes Vorworte enthalten in der Regel viel Text bei wenig Inhalt. Das „Vorwort“ zum vierten Jahrgang(7) [II,740] beginnt er mit großer Freude darüber, den 4. Jahrgang 1850 erreicht zu haben. Er gedenkt der vielen im Trubel der Revolutionen von 1848 und 1849 untergegangenen Musikblätter, vor allem der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“, der er großes Lob spendet. Den Geschichtsverlauf legt sich Lange so zurecht, wie er es zwar nicht weiß, aber zu wissen glaubt. Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ habe es einfacher gehabt als die Zeitungen von heute; denn damals stand das Musikleben in voller Blüte. Die „höchsten Höhen des musikalischen Olymps“ waren erstiegen. „Sie schuf sich ihr Dasein aus jenen Meistern, an deren Brüsten wurde sie gesäugt und von ihnen auferzogen“(8). Alles war so „abgerundet“, so „gross“, so „schön“ und „trug ein so klares Gepräge, dass es der Kritik, der Kunstwissenschaft eine Freude war, Förderin des Edeln und Schönen zu sein. Kritik und Wissenschaft in der Kunst hatten eine ehrenvolle, lohnenswerthe Stellung.“ Danach kam die Romantik. „Auch ihr fehlte in der ersten und ursprünglichen Tendenz der neuen Leipziger Zeitung für Musik nicht die kritische Stütze.“ Wer aber ist fähig, in der heutigen Zeit die Probleme zu lösen? Man brauche keinen wissenschaftlichen Apparat und keinen Aufwand von Gelehrsamkeit. Das sei alles reichlich vorhanden. „Wir verlangen bestimmte, scharf ausgeprägte Andeutungen, characteristisches Erfassen der Zeit in ihren Productionen … kurz eine Allseitigkeit, zu deren Bewältigung die grösseste Umsicht, der humanste Sinn und wahre Unparteilichkeit nöthig sind.“ Unparteilichkeit sei um so schwieriger, „als sich die Kunst gewissermaassen in einem Zustande der Anarchie befindet.“ „Wir haben die Aufgabe, unsern Blick überall hinzuwenden, damit die Kunst nicht untergehe, und uns Klarheit und Unbefangenheit zu erhalten, damit man von der vielen Spreu den Waizen sondere“(9). Was Lange unter Spreu und was er unter ‚Waizen‘ versteht, läßt sich in der jeweils aktuellen Tageskritik seines Blattes nachlesen.

6. Noch einmal Flodoard Geyer

367

Im „Vorwort“ zum fünften Jahrgang zieht Lange eine ihn zufrieden stellende Bilanz(10) [II,761]. Nach Lange hat die Theorie der Kunst „in der Kritik ihren eigentlichen Schwerpunkt“(11). Das Prinzip der Kritik läßt sich seiner Meinung nach am besten aus den klassischen Schöpfungen herleiten. Deren Grundsätze sind an den zeitgenössischen Werken zur Geltung zu bringen. „Die Kritik schöpft aus den Werken der ausübenden Kunst und diese empfängt die Regel und das Gesetz von jener“(11). Lange muß ein umfangreiches Vorwort mit Text füllen. Vieles wird anders ausgedrückt, also wiederholt, etliches widerspricht sich und manches wirkt pathetisch lehrerhaft, obwohl es ernst gemeint ist: „Die Edleren unter den Kunstjüngern der Gegenwart, welche zu den angeborenen Gaben, zu den Talenten von Gottes Gnaden noch ernsten Sinn und tüchtigen Fleiss fügten, welche es nicht verschmähten in Wahrheit zu lernen, welche noch Gesetz und Regel in der Kunst kennen – haben Werke geschaffen, der Achtung und Anerkennung aller Edeln werth“(12). Einige Sätze davor hatte es noch geheißen: „Wir sind nicht der Meinung, dass die Zeit, in der wir leben, grosse und seltene Werke zur Vollendung bringen werde.“ Was er selbst für wertvoll hält, ergibt sich aus der Alltagspraxis der Langenschen Zeitung. Lange weist den Künstlern ihre Aufgabe an: „Im Grossen und Ganzen strebe der Künstler zu den Leistungen der Altmeister hinan, im Einzelnen und Kleinen suche er sie zu überflügeln“(12). Der Sperrdruck bezeugt die Wichtigkeit, die er dem Satz beimißt. Lange will die Grenzen, „innerhalb deren sich die schaffende Kraft bewegen darf“, keineswegs zu eng ziehen. Seine Phraseologie ist unerschöpflich. Lange fühlt sich als kompetenter Richter, der weiß, wo die Grenzen zu ziehen sind. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12)

NBMz II/1, 5.1.1848, S. 1a–3b; Lange: Vorwort, S. 2a; Lange, Vorwort S. 2b; Lange, Vorwort, S. 3a; Freies Wort, NBMz II/12, 22.3.1848, S. 89a–90a; Freies Wort, S. 90a; NBMz IV/1, 2.1.1850, S. 1q–3q; NBMz, a. a. O. S. 2q; NBMz, a. a. O. S. 3q; Vorwort, NBMz V/1, 1.1.1851, S. 1a–3a; Vorwort 1851, S. 1; Vorwort 1851, S. 2.

6. NOCH EINMAL FLODOARD GEYER Auch Flodoard Geyers Aufsätze werden immer länger, ohne daß sie dadurch gültiger oder besser würden. Selbst ein sehr guter Autor ist irgendwann ausgeschrieben und kann sich nur noch wiederholen, wenn er sich genötigt fühlt, statt aufhören zu dürfen zum abgearbeiteten Thema erneut gefordert zu werden. In „Allgemeinheit und Besonderheit“(1) [II,651] benötigt er 12 Spalten mit allerlei rhetorischen Abschweifungen journalistisch-poetischen Stils für den Nachweis, die Musik sei keine „gedankenlose Kunst“ und somit vom Allgemeinen und Besonderen gleich weit entfernt. Da erfährt man denn in der Mitte der vierten Spalte, daß das „Beson-

368

9. Kapitel: Stilfiktion als kritisches Prinzip

dere in der Kunst das Nicht-Allgemeine“ ist. Für Geyer besteht das Allgemeine in der Lehre vom Tonsatz, und das Besondere in dem, womit sich jemand „vor der Allgemeinheit hervorthut“. Die ältere Schule hat nur das Allgemeine unterrichtet und „dem Talente, dem Genie des Einzelnen das Besondere anheim gestellt.“ Für Geyer läuft die Beweisführung darauf hinaus, das Harmonische dem Allgemeinen, und das Melodische dem Besonderen zuzuordnen. Er überträgt diese Kriterien ausführlich auf die Kirchenmusik wie auf die Modekomposition. Beides sei einseitig. Der Verstand trenne, was in Wahrheit nicht getrennt werden dürfe. Die Beweisführung endet zu Beginn des zweiten Teils mit der Erkenntnis, „dass Harmonie und Melodie, das Allgemeine und das Besondere, einander durchdringen.“ Bei den Beispielen geht es um die angesprochene Gedankenlosigkeit. Von ihrer Darstellung schwenkt er plötzlich zur Kritik über, die seiner Meinung nach – wir sind in Berlin – die Kunst überwacht. „Es ist wahr, zu keiner Zeit haben sich lautere Klagen über solche Gedankenlosigkeit und Armuth in der Kunst erhoben, als neuerdings. Und was nützen sie, wenn wir nicht erkennen, worauf es ankommt? Wenn überhaupt die Kritiker die Künstler überwachen sollen, so müssten jene erst selbst zu Gedanken kommen, um diese zu Gedanken zu bringen. Ein paar hochtrabend, aber flüchtig hingeworfene Worte, ästhetische Gemeinplätze, thun es nicht mehr, seien sie auch sogenannten Musikern von Fach abgehorcht. Eine Kunst, die eben so formell wie ideell ist, bedarf Kritiker, die nach beiden Seiten gebildet sind, um nicht im Finstern herumzutappen und sich nicht zwar vor dem grossen Haufen, aber vor den Kunstverständigen Blössen zu geben“(2). Für Geyer erstreckt sich der Vorwurf der Gedankenlosigkeit „auf das Nichtvorhandensein von wirklichen Themen, im weitern Sinne auf ungenügende Durchführung derselben …“ So könne es wirkungsvolle Kompositionen geben, die dennoch gedankenleer seien. „Wie durch sich selber widerlegt sich die Behauptung, als sei die Musik nur die Kunst des Klanges, als solle sie durch Tönen(3) Empfindungen hervorbringen“(4). Die Musik sei vielmehr „eine tiefe bedenkliche und nachdenkliche Kunst“. „… nicht weniger muss die Kritik beflissen sein, das Kunstwerk von eben dieser Seite anzuschauen“(4). Der heranzubildende Künstler müsse schon als Anfänger entsprechend erzogen werden. Geyer verweigert den Schulzwang und steht gleichzeitig auf dem Standpunkt, Melodie könne gelehrt werden. Er wird auch bald zum Lehrer werden; aber man muß kein Prophet sein, um vorauszusagen, wie er zu den Komponisten stehen wird, die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Musikgeschichte bestimmen. Geyer erklärt, nichts von Physik oder Metaphysik zu verstehen. Was er ausführt, wird knapp zwei Jahre später Eduard Krüger in seinem Aufsatz „Wissenschaftliche Gespenster“ auf der Grundlage der Hegelschen Ästhetik, jetzt nicht als den Scheingegensatz Harmonie-Melodie, sondern an den allenthalben modisch diskutierten Gegensätzen, wie alt und neu, Rationalismus und Mystizismus und ähnlichen untersuchen. (1) (2) (3) (4)

Geyer: Allgemeinheit und Besonderheit, NBMz II/9+10, 1., 8., 3.1848, S. 65a–67b, 73a…75b; Geyer, a. a. O. S. 74b; Originalschreibung; Geyer, S. 75a.

7. Definition Fortschritt als kritisches Prinzip oder Rückschritt als Fortschritt

369

7. DEFINITION FORTSCHRITT ALS KRITISCHES PRINZIP ODER RÜCKSCHRITT ALS FORTSCHRITT „Wie die Zeitung überhaupt den Standpunkt des Fortschritts einzunehmen gedenkt, wird es in diesem Theile ganz besonders ihr Streben sein, zwar alle Leistungen, welchem Gebiete der Musik sie angehören mögen, anzuerkennen, nichts desto weniger aber diejenigen Werke, welche als eigenthümliche, schöpferische Producte der Kunst auftreten, auch mit dem Maasstabe der Kunst zu messen. Die Kritik soll nicht willkührlich, sondern nach Principien gehandhabt werden“, wurde den Lesern versprochen. Dieser Fortschrittsankündigung im Rahmen einer zweiseitigen „Pränumerations-Einladung“ vom 16. Dezember 1846 standen allerdings die Einschränkungen gegenüber, die man im „Vorwort“ sogleich zu machen für nötig hielt und mit denen die Redaktion die Erwartungen derjenigen dämpfte, die sich aus Berlin eine weitere Stimme für zeitgenössische neue Musik zu erheben hofften(1) [II,586]. Was Fortschritt ist, so meinte hier Dr. Otto Lange, sei eine sehr schwer zu entscheidende Frage. In den meisten Fällen müsse wohl richtiger von „Neuschritt“ oder „Andersschritt“ statt von Fortschritt gesprochen werden, und in gewisser Hinsicht sei vielfach sogar der „Rückschritt“ ein „Fortschritt“. Möglicherweise hat er die entsprechenden Passagen in der Beethovenbeurteilung Gottfried Webers gelesen und behalten und für sich nutzbar gemacht. Es käme nicht darauf an, neue Gebiete zu erobern, als vielmehr „auf den vorhandenen Neues“(2) zu gestalten. Für den mit der zeitgenössischen Situation auch nur einigermaßen vertrauten Leser mußte damit klar sein, in welche Richtung hin sich das neue Blatt bewegen werde. Was hieß das denn: „Neue Formen sind das eigentliche Zeichen der Originalität in der Kunst“(2), wenn man gleichzeitig den Rückschritt als Fortschritt definierte und den aus der politischen Terminologie übernommenen Fortschrittsbegriff in ein geistreiches Wortspiel abgleiten ließ, das zum einen Auseinandersetzungen in der Sache möglicherweise als terminologischen Gelehrten- und Kritikerstreit zu führen erlaubte, zum anderen den Freiraum schuf, bei Bedarf gerade das Neue in der Musik zu Gunsten der Verbreitung und Erhaltung des Überholten oder gar Zweit- und Drittklassigen in der Musik in Frage zu stellen oder gar zu bekämpfen. Damit bekam die „Neue Berliner Musikzeitung“ gleich zu Anfang den für Berlin typischen restaurativen Zug, der Neuheiten in der Kunst zu erkennen verhindert und den wohlgemut-selbstbewußten Kritiker im eigenen System abfängt, oder die kommenden Größen zwar nahen sieht, ohne ihnen gerecht werden zu können. Ihr „Stimmungsbarometer“, eine zeitgenössische Charakterisierung, wird für Jahrzehnte der durch Festungshaft geadelte ehemalige Artillerieoffizier, Mathematiklehrer, Romancier und spätere Kunstkritiker Ludwig Rellstab werden. Hier liegt der Grund, warum sich die Berliner Zeitung trotz aller selbstdeutenden Anstrengungen über die Realität ihrer wirklichen kritischen Position weniger Klarheit zu verschaffen wußte als die Brendelsche Zeitung, die, vom Selbstverständnis her zeitzugewandt eingestellt, sich dem Neuen nach kurzen Geburtswehen ohne weitere meditierende Hemmungen bedingungslos zugesellte. Bereits die ersten kritischen Kommentare der neuen Berliner Zeitung geraten in dieses scheindialektische Wechselspiel. Trotzdem versucht das Blatt, seine kri-

370

9. Kapitel: Stilfiktion als kritisches Prinzip

tische Konzeption abzugrenzen: „Unsere Kritik sei positiv, scharf und bestimmt, kein referirender Theaterzettel, überall selbständig, individuell, so daß man in der Meinung die Person des Kritikers achte und // ehre. Der Kritiker spreche Ansichten aus, und zwar seine eigenen, er begründe sie, er verfahre prinzipiell. Läßt sich das Prinzip seines Urtheils nicht halten, so wird mit diesem das Urtheil von vorn herein fallen“(3). Fortschritt, so behauptet Lange, ließe sich nachvollziehen, so daß die auf den Fortschritt abgestellten kritischen Prinzipien unschwer umrissen werden könnten. Ein Komponist möge Ausdruck und Grammatik vollständig beherrschen, und doch erkläre sich der Kritiker gegen ihn, „nicht, weil sein Werk schlechthin tadelnswerth ist, sondern weil es unter dem gegenwärtigen Standpunkte der Kunst stehe“(4). Sein Werk biete eben in der Erfindung der Melodie nichts Neues, seine harmonischen Kombinationen seien bekannt, die Rhythmik gewöhnlich, die Instrumentenzusammenstellung unoriginell. „Kann man dies nachweisen, kann man die Anknüpfungspunkte, die Schule der Vorzeit auffinden; tritt uns ein entschiedener Mangel an Selbstverständlichkeit entgegen, so sind wir mit dem Werke fertig, die Schärfe und Bestimmtheit des Urteils erscheint hinlänglich motivirt“(4). Ausnahmen ließ Lange lediglich bei Anfängern oder bei Tendenzkompositionen zu, worunter er zweckbestimmte Kompositionen wie Etüden oder Unterrichtswerke versteht, die nach ganz anderen Maßstäben beurteilt werden müßten. Das waren überzeugende Ansätze, aus denen falsche Schlüsse gezogen wurden, wie sich bald herausstellen sollte. (1) Otto Lange: Vorwort, NBMz I/1a, Probenummer, 16.12.1846, S. 1a–3b; neben der „Pränumerations-Einladung“ vom 16. Dezember 1846 beginnt die Zeitung mit demselben Datum ihren 1. Jahrgang als Probenummer 1a, S. 1–10. Eine [2.] Probenummer 1b, S. 11–18, schließt sich an. Die Nummer I/2 trägt das Datum 13. Januar 1847, S. 19 ff.; (2) Vorwort, a. a. O. S. 1a; (3) Vorwort, a. a. O. S. 2a–b; (4) Vorwort, a. a. O. S. 2b.

8. ABGLEICH BERLIN-LEIPZIG BRENDEL-LANGE Unter Prinzipien verstand man im Kreise der Berliner etwas erheblich anderes als im Kreise der Leipziger. Für Brendel war Prinzipienkritik eine Handhabe, die Einordnung eines Kunstwerks in seinen historischen Zusammenhang zu ermöglichen und von dort aus begreifen zu lassen. Das Kunstwerk erhält auf diese Weise einen kulturgeschichtlichen Stellenwert und wird damit dem einzelnen unverbindlichen Geschmacksurteil entzogen. Dieser kritischen Methode gehörte die Zukunft, weil sie die meisten Erfolge nachweisen konnte. Auch Lange arbeitete zunächst wenigstens in seiner theoretischen Argumentation ähnlich. Aber anders als Brendel, der streng bei seiner Theorie der Kritik blieb und seine Methode unbeirrt ver- und befolgte, konnte Lange die theoretisierende Spekulation nicht lassen und konstruierte Idealfälle, die ihn die Prinzipien anders verstehen ließen. Bei Lange werden Teilaspekte von Komposition und Technik auf ihre grenzmögliche Idealität hin untersucht. Sie bilden das Maß, das anschließend das Urteil über die vorgelegte Kom-

9. Stilfiktion als Beurteilungsmaßstab. Die neue Apriorität

371

position bestimmt. Lange drückte das so aus: „Und dafür ist eben die Kritik, dass sie die Erscheinungen sondere und sichte, nicht mit eklektischem Auge eine Ansicht bilde, sondern auf die Höhe des Ideals sich erhebe und so in Wahrheit über den Erscheinungen stehe“(1) [II,586], nachdem er noch einmal die Meinung vertreten hat, der schöpferische Standpunkt der musikalischen Gegenwart als Fortschrittsstandpunkt sei nirgendwo absolut verwirklicht und finde sich nur zerstreut in den verschiedensten Elementen der Kunst. Wie Lange kennt auch Brendel einen Fortschritt als Rückschritt; er definiert ihn aber anders(2) [II,688]. Lange sieht den Rückschritt unter bestimmten Umständen als einen echten Fortschritt, Brendel sieht ihn als einen verfehlten Fortschritt, als ein Weiterschreiten in eine falsche Richtung. Für Brendel ist Geschichte ein unentwegtes Fließen, das man weder aufhalten kann noch aufhalten darf. Wie Lange ist Brendel weder Komponist noch ausübender Künstler. Beide können zur Kunstentwicklung nur ihre kritischen Gedanken beisteuern. Es liegt in der Natur der Sache, daß ihre Gedanken besonders um die Wertstellung der Musikkritik kreisen. Lange kommt zu dem Schluß, die Musikkritik gehe der Kunst voraus und am Ende stehe der Kritiker zukunftsweisend über dem Künstler; Brendel gesteht der Musikkritik im äußersten Falle eine Gleichwertigkeit zu. Der Vorgang ist bei Brendel vielschichtiger als bei Lange. Nach Brendels Denken kann der Fortschritt sowohl vom Kritiker als vom Künstler kommen, vom Kritiker aber nur dann, wenn sich die Kunst tatsächlich in die vom Kritiker angedeutete Richtung entwickelt. Ohne den Künstler ist der Kritiker ein Nichts. Am Ende steht der Künstler immer über dem Kritiker. Was Brendel dem Kritiker im Rahmen seiner Wissenschaftstheorie allerdings zuspricht, ist eine Wirkung über die Lehre. Indem der Kritiker das Publikum (nicht den Künstler) richtig belehrt, macht er dem Künstler die Bahn frei, läßt aber auch den Künstler unter Umständen seine eigene Richtung besser verstehen. So beeinflußt nach Brendel der Kritiker den Künstler. Das nennt Brendel „schöpferische“ Kritik, die „productiv dem Neuen Bahn zu brechen vermag“(3) [II,611]. (1) Otto Lange: Vorwort, NBMz I/1a, Probenummer, 16.12.1846, S. 1a–3b, Z:3a (2) Fr. Brendel: Der Fortschritt, Fragen der Zeit IV, NZfM XXIX./37, 4.11.1848, S. 213a–217b; (3) Brendel: Ueber musikalische Recensionen, NZfM a. a. O. S. 108b, s. Kapitel 10, Abschnitt 5 (Standortsbestimmung. Geschichtstheoretische Kritik), Anm. 5.

9. STILFIKTION ALS BEURTEILUNGSMASSSTAB. DIE NEUE APRIORITÄT Prinzipien waren für Lange wissenschaftliche Prinzipien, genauer: musikwissenschaftliche Prinzipien und letztlich nichts anderes als eine verfeinerte Regelbildung, die insbesondere in der von Lange geübten Form situationsblind werden mußte. Um beispielsweise ein Libretto zu beurteilen, werden zunächst alle Voraussetzungen eines guten Librettos theoretisch untersucht und aus dem Ergebnis Maßstäbe aufgestellt, die als absolute Maßstäbe überzeitliche Gültigkeit erhalten sollen und selbst keiner weiteren Einschränkung und darum auch keiner weiteren Diskussion

372

9. Kapitel: Stilfiktion als kritisches Prinzip

mehr unterworfen sein können. Ihnen müssen neue Operntexte mit literarischem Anspruch zum Opfer fallen, weil sie sich als Dichtungen im poetischen Sinne mit an Scribe oder gar Metastasio abgenommenen Maßstäben nicht erkennen lassen. Hatte Lange eine dramatische Gesangskomposition vorliegen, so galt es zunächst zu untersuchen, was dramatischer Gesang sei und ob es ihn überhaupt gebe, und wenn ja, wie er aussehen müsse, um wirklicher dramatischer Gesang zu sein. Das Ergebnis war eine historisierende, schon zeitfeindliche Stilfiktion, die aus Formanalysen, systematischen Überlegungen und Werkvergleichen gewonnen wurde. Sie bildete die für unangreifbar gehaltene Plattform, von der aus nun neue Kunst be-, das heißt in der Mehrheit der Fälle abgeurteilt wurde. J. A. Becher unterscheidet zwischen Regeln und Gesetzen. Regeln seien Kinder der Zeit, die Gesetze der Kunst gälten immer(1) [II,716]. Becher sagt aber nicht, worin sich Regeln und Gesetze der Kunst unterscheiden und wie sie aussehen sollen. So bleibt seine apodiktische Aussage ohne klärenden Wert. Die Werkanalyse führe zu einem neuen Genuß, schreibt ein mit drei Sternchen zeichnender Autor in einem Zweiteiler ebenfalls in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ unter einer Überschrift, die dem Thema einer Klassenarbeit für Höhere Schüler ähnelt „In wie fern ist die Analyse musikalischer Kunstwerke dem Genusse desselben förderlich oder nachtheilig?“(2) [II,714]. Gilt die These vom ‚Genuß‘, der durch die Analyse herbeigeführt werden soll, auch dann, wenn die Analyse die Schwäche eines Werkes nachgewiesen hat oder wenn die Analyse des älteren Werkes dazu benutzt wird, ein neueres Werk in eine Art von Streckbett zu verstümmeln? Lange schafft systemverfangen mit bestem Willen, aber ohne Einsicht in das, was er auslöst, die Voraussetzungen für eine Kunstbeurteilung, die es möglich macht, mit wissenschaftlicher Begründung, unter zwingender Ableitung von Werken der Vergangenheit, alles Geniale und in die Zukunft weisende zu verwerfen, und alles Zweit- und Drittklassige und Epigonale hochzuloben. Bezeichnenderweise stehen in diesen frühen Jahrgängen der „Neuen Berliner Musikzeitung“ zwei Aufsatztypen nebeneinander: einmal Prinzipienaufsätze der genannten Art, also systematisch angelegte musikwissenschaftliche Stiluntersuchungen mit der Zielsetzung, überzeitlich geltende Bewertungsmaßstäbe zu erhalten, zum anderen Rezensionen von teilweise ungewöhnlichem Ausmaß, in denen gleichfalls solche Prinzipien aufgesucht, aber am Einzelwerk zur Anwendung gebracht werden. Im Rahmen der deutschen Musikzeitschriftengeschichte sind Arbeiten dieser Art etwas Neues gewesen. Man ist versucht, von einer Begründung der Musikwissenschaft aus dem Geiste der Musikkritik zu sprechen und erhält dabei einen weiteren Schlüssel für die Zeitfeindlichkeit großer Teile der späteren deutschen Musikwissenschaft, die ebenso vorgeht. An diesem Verfahren, das eine neue, in Wirklichkeit seit Kant unmögliche Apriorität in die Kritik hineinbringt, läßt sich beobachten, wie sich die Kritiker dieses Blattes trotz, besser: wegen ihrer musikwissenschaftlich-formanalytischen Bemühungen sehr schnell im eigenen System verheddern: Indem sie beispielsweise vor einer Symphonie-Kritik erst zu untersuchen haben, was eine Symphonie überhaupt ist, müssen sie zu Konstruktionen gelangen, die selbst schon wieder umstritten sind, weil sie beinahe willkürlich einen bestimmten historischen Formenzustand

9. Stilfiktion als Beurteilungsmaßstab. Die neue Apriorität

373

als die Form schlechthin behaupten. Gibt es auf diese Weise schon keine Entwicklung gleichwertiger Typen in der Vergangenheit, so erst recht nicht in der Zukunft. Unter Anwendung eines solchen Prinzips begeben sich Kritiker jeder Möglichkeit, neuen Typen der Symphonie, sofern es sie geben sollte, gerecht zu werden. Dasselbe praktizierte man mit der Oper, der Sonate, dem Konzert und allen anderen Musikformen. Der hier so plakativ herausgestellte Fortschritt ist in Wirklichkeit Stillstand und damit geistiger Rückschritt, weil die Stilfiktion, sogar ohne realen historischen Hintergrund, in eine Zustands-Ideologie ohne Entwicklung einmünden muß, mit der sich das, was die Zeitgenossen in Leipzig unter Fortschritt verstehen, für die Berliner von selbst erledigt. Anläßlich seines Aufsatzes „Rechtfertigung Mozart’s gegen H. G. Nägeli“, den August Kahlert 1843 für die „Neue Zeitschrift für Musik“ schrieb, verwirft der Autor jede wissenschaftliche Kritik an einem bedeutenden Kunstwerk, die mit „fertigen Prinzipien“ erfolgreiche, große Kompositionen untersuche „und nun davon ausgeht, diese in jenen nachzuweisen“(3) [II,452]. Im gewöhnlichen Leben nenne man ein solches Verfahren „schlechthin Vorurtheil“. Eine Regel sei leicht aufgestellt, die Anwendung aber das Schwierigste. Wenn die Regel sich als unpassend herausstelle, sei das noch nicht Schuld der Regel, sondern Schuld dessen, der sie angewendet hat. „Die ästhetische Forschung ist längst so weit vorgeschritten, daß sie die Regelmäßigkeit als das Untergeordnete, die Freiheit, die sich in der Regel dennoch zu behaupten weiß, als das Höchste betrachtet. Das Genie giebt die Gesetze, und beweiset dadurch, daß es selbst ohne Gesetze nicht bestehen kann.“ Die Kritik darf nach Kahlert, der seit 1840 Philosophie-Professor in Breslau war, diese Grenze zwischen Freiheit und Notwendigkeit (gemeint ist Regelmäßigkeit im Sinne von Regelbeachtung) nicht aus den Augen verlieren. „Es soll nun hier in einem einzelnen kritischen Falle, wo dies unterlassen und dadurch eine unsinnige Behauptung erreicht worden ist, diese Wahrheit nachgewiesen werden.“ Nach dem Hamburger Dichter Carl Christern stehen dem „freien Geiste“ der Musikkritik vorzüglich die beiden Erscheinungen des Dilettantismus und des Pedantismus im Wege, wie er in seinem Aufsatz „Die musikalische Kritik“ meint(4) [II,409]. Dabei setzt er überraschenderweise den Dilettantismus mit der Melodie, den Pedantismus mit der Harmonie gleich. Die Urteilsbemessung lasse sich immer auf eine dieser beiden „Kategorien“ zurückführen. Jetzt vertauscht er die Zuordnungen. Zum Dilettantismus stellt er die Natur, zum Pedantismus die Kunst, so daß er ein Schema erhält. „Der Dilettantismus correspondirt mit der Natur durch das Medium der Melodie, wie der Pedantismus mit der Kunst durch das Medium der Harmonie“(5). Die Begriffe müssen seiner Meinung nach nicht weiter definiert werden, da sie sich durch die Anschauung gegenseitig selbst erklären und bestimmen. „Jener hält eine Musik für schlecht, weil er nach der Melodie urtheilt, dieser hält sie hingegen für gut, weil er nach der Harmonie urtheilt, und Beide haben in gleichem Maße entweder Recht oder Unrecht“(6). Beides ist nach Christern einseitig und beschränkt. Also bedarf es eines Vermittlers, welchen der Verfasser mit „Geist der Kritik“ benennt. Das sei nun alles sehr schwer zu erklären. „Denn im Grunde ist die echte Krtitik nichts anderes, als die Wahrheit selbst, diese innigste, klarste, reellste wie ideellste Uebereinstimmung des Subjectiven und Objectiven, diese

374

9. Kapitel: Stilfiktion als kritisches Prinzip

seelenvollste und gegenwärtigste Verbindung von beiden“(7). Das erste Erfordernis einer Kritik müsse darin bestehen, zu sehen, „wohin der Sinn sich wendet.“ Das erste Gesetz der Kunst ist das Streben nach Freiheit. Bei Bach „tobte“ das Element „in wilder, geniereicher Gährung“, bei Beethoven „verklärte es sich zum stolzen, farbigen Regenbogen“. Beethoven „fing ihre Strahlen in dem Spiegel seines Geistes auf“(8). Das Symbol der Freiheit und des Lichts, der Kraft und der Seele soll die Kritik der modernen Musik „als ihr heiliges Palladium“ anerkennen. Es folgt der Satz: „Um zu richten, soll sie nicht auf fertige Muster zurückblicken, sich einen Autoritäts-Canon bilden, sondern mit dem Werdenden werden, mit dem Wollenden wollen, mit dem Strebenden streben“(8). Was da wird, will und strebt ist das, was im Geiste der Zeit liegt. „Stillstand ist schon Rückstand. Der freie deutsche Geist soll in der Kritik, in der musikalischen Kritik vor Allem leben!“(8) Aber die Kritik muß auch eine Form haben, die sie nur bei den Meistern der Vergangenheit findet. Die Kunstform wird durch den Geschmack bestimmt. „Wer wird denn alten Most in neue Schläuche gießen?“ Als ob der neue Geist sich nicht selbst „seine eigene Fessel und Regel erfinden könne“(8). Schließlich wird noch Marx im Zusammenhang eines Kampfes der alten Form mit dem modernen Prinzip lobend erwähnt. Diesen Kampf soll die „gestaltende Kritik“ mitkämpfen. „Denn ihr Geschäft ist es, eine neue Theorie mit dem ewig wandelnden Geiste zu erfinden“(8). Was er sonst noch dazu zu sagen hat, muß unter „dem Begriff der höheren ästhetischen Kritik“(9) einem besonderen Kapitel vorbehalten bleiben. Dieser unbedarfte Aufsatz ist mit Sicherheit nicht von Schumann autorisiert worden, der schon früher Arbeiten von Christern zurückgewiesen hatte. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9)

NBMz III/13, 28.3.1849, S. 102b; NBMz III/11, 12, 14., 21.3.1849, S. 86b–86b, 93b–95b; NZfM XIX./25, 25.9.1843, S. 97a; Christern, NZfM XVI,/23, 24, 18, 22, 3, 1842, S. 89a–90a, 93a–94b; Christern, a. a. O. S. 89b; Christern, S. 93a; Christern, S. 93b; Christern, S. 94a; Christern, S. 94b.

10. ÜBERSCHLAGENDES SELBSTBEWUSSTSEIN Je sicherer man sich jetzt auf dem kritischen Boden fühlte, um so größer wurde das Selbstbewußtsein der Kritikerschaft. Der Leser steht in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ einer fast schon unbegreiflichen Überschätzung der eigenen Rolle gegenüber, mit der Männer zu charakterisieren sind, die über ausreichende philosophische, musikalische und literarische Bildung verfügen – und die doch als Musikkritiker ihrer Systemverfangenheit wegen in den entscheidenden Augenblicken vor der Geschichte versagen. Darin spiegelt sich die Hilflosigkeit eines regulierten kritischen Systems, das wenige Jahre später schon wieder beseitigt gewesen ist,

11. Schutzmaßnahmen. Ehrengericht

375

als es sich in der Ideologie der Hintansetzung der künstlerischen Realität selbst ad absurdum führte. Was damals in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ über den Kritiker und seine Verhaltensweisen zur Kunst geschrieben und gedacht wurde, ist als Vorbild exakter musikwissenschaftlicher Stiluntersuchungen und seiner scharfsinnigen Beobachtungen wegen aktuell geblieben. Aber neben diesen so stark ethisch betonten Aufsätzen stehen die ablehnenden Kritiken über Größen der Zeit – und alle die flammenden Rufe, mit denen man eine allgemeine Erstarrung der Kunst beklagt und sich über journalistische Kollegen empört, weil sie die wesentlichsten Erscheinungen der künstlerischen Moderne nicht richtig würdigten, nehmen sich angesichts der eigenen Fehlurteile seltsam aus. 11. SCHUTZMASSNAHMEN. EHRENGERICHT War vorauszusehen, daß man sich zu Schutzmaßnahmen für den Künstler zusammenschloß, um die Würde der eigentlichen, also prinzipiellen Musikkritik wissenschaftlicher Herkunft erhalten zu wissen? Dr. Otto Lange, der 1849 selbst einen Aufsatz über das Verhältnis von Kritik und Humanität verfaßte [II,721], druckte unter dem 22. November 1848 eine Ansprache ab, die Flodoard Geyer vor dem Tonkünstler-Verein in Berlin gehalten hatte und die sich mit der Stellung des Tonkünstlers dem Kritiker gegenüber beschäftigte. Als Inhaber der kritischen Macht Möglichkeiten zu versuchen, sich selbst in Frage zu stellen – diese Tatsache allein schon weist auf den Idealismus und die Idealität der Berliner Zeitung hin. Jedenfalls ist dieser Geyersche Aufsatz der erste Versuch größeren Stils gewesen, ungerecht angegriffenen Künstlern außerhalb der ordentlichen Gerichte Hilfe zukommen zu lassen. Geyer forderte eine Art Kommission, die vom kritisierten Künstler angerufen werden könne, wenn er sich in seiner Ehre verletzt fühlen sollte. Die „Neue Berliner Musikzeitung“ möge sodann das Kommissionsurteil, das einem Ehrengerichtsurteil gleichzustellen war, abdrucken und dadurch dem Künstler Genugtuung verschaffen(1) [II,691]. Das Erstaunliche an dem abenteuerlich anmutenden Unternehmen war, daß es tatsächlich, jedenfalls zeitweise, zustande kam. Dem Historiker bleibt es überlassen, den Ideengeber auszumachen. Hat Geyer die Forderung Gaillards vom Jahr zuvor nach einem „Ehrenrath zur Ausscheidung aller unreiner Elemente“ in eine organisatorische Form gebracht, oder hat Gaillard in seiner Schmidt-Polemik von 1847 Geyersche Gedanken über- oder vorweggenommen. Gaillard und Geyer waren Freunde. In die Statuten des Tonkünstlervereins zu Berlin hatte man nämlich unter dem Paragraphen 3 eine Art von Genugtuungsklausel eingefügt. Auf sie konnten sich Komponisten, die von nun an als Tonkünstler bezeichnet werden, berufen, weil da von einer Förderung „durch Vertheidigung gegen ungerechte Angriffe, öffentlich ausgesprochene Urtheile“ die Rede war(2). Der erste, der die Vereinsleitung in die Pflicht nahm, war der in Stettin lebende Organist und Kleinmeister Gustav Flügel, der kurz vor seiner Ernennung zum Seminardirektor in Neuwied stand. Er hatte einen mehrteiligen Liederzyklus unter dem Titel „Neue Nachtfalter“ Werk (nicht

376

9. Kapitel: Stilfiktion als kritisches Prinzip

mehr Opus) 24 geschrieben, der in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ (30. Band Nr. 46) von Dörffel, in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ (3. Jahrgang Nr. 27) von Koßmaly unterschiedlich besprochen worden war. Schon früher seien über seine Kompositionen die widersprechendsten Urteile abgegeben worden, schreibt er, und insbesondere Krüger sei ein, wie er ihn nennt, ‚Verunglimpfer‘. Jetzt forderte er den Präsidenten des Berliner Tonkünstler-Vereins, Flodoard Geyer, auf, die angesprochene Kommission zusammenzurufen und ein verbindliches Urteil über seine „Neuen Nachtfalter“ aussprechen zu lassen [II,728]. Das geschah auch, und zwar sehr schnell. Flügel hatte Anfang Juli 1849 aus Stettin geschrieben, seine „Aufforderung und Bitte an den Berliner Tonkünstler-Verein“ erschien am 1. August in der 10. Nummer der „Neuen Zeitschrift für Musik“. Die Entscheidung des TonkünstlerVereins erfolgte mit Datum 5. August und wurde am 15. August unter dem Titel „Oeffentliches Urtheil“ mit der Maßgabe wohl formuliert und verklausuliert in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ bekannt gemacht [II,730], so daß sich jeder der Beteiligten bestätigt fühlen konnte. Brendel ließ es sich nicht nehmen, noch einmal darauf zurück zu kommen und mit dem Kommissions-Urteil Dörffels Meinung, die auch die seinige sei, als gestützt zu betrachten [II,732]. Die „Signale für die musikalische Welt“ waren mit einem solchen Verfahren ganz und gar nicht einverstanden. Vorausgegangen war ein am 17. Januar 1849 in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ veröffentlichtes offizielles Votum des Berliner Tonkünstlervereins gegen Ernst Kossak, der in einer nicht näher bezeichneten Kritik jüngere Komponisten beschuldigte, ihm „schon die schönsten Momente meines Lebens gestohlen“ zu haben. Ob ein Antrag vorlag, ist nicht ersichtlich; jedenfalls nahm „Der Tonkünstler-Verein“ unter Berufung auf ihre Erklärung „dass derselbe die Kunst im Allgemeinen, so wie insbesondere die ihm angehörenden Künstler vor erfahrungsmässig laienhaften Kritikern verwahre, dass er ferner solche, welche ungerecht oder anstandswidrig angegriffen zu sein glauben, auf deren Hülferuf durch gewissenhafte Prüfung und Zurechtweisung der vermeintlichen Kritik schützen wolle“ die Gelegenheit wahr, Kossak einen „unpassenden und unstatthaften“ Ton vorzuwerfen und ihm anheimzugeben, „dass es des unterzeichneten Vereins Wunsch ist, Herr Kossak möge, wenn er in seinem sonst anerkennenswerthen kritischen Streben fortfahre, in einem Tone reden, wie er sich gebildeten Männern den Künstlern und der Kunst gegenüber geziemt“ [II,707]. Kossak Unbildung vorzuwerfen war mit Sicherheit falsch. Der Affront gegen einen der besseren Berliner Kritiker jener Zeit deutet auf schwerste redaktionelle Machtkämpfe hin. Offensichtich war Lange dabei, sich seiner Konkurrenten zu entledigen. Er schaffte es mit Geyer und vertrieb jetzt Kossak, der nur knapp zwei Jahre später mit der „Berliner Musikzeitung Echo“ seine eigene Zeitung aufmachte, die als musikkritisches Blatt in Kossaks Zeit der „Neuen Berliner Musikzeitung“ jedenfalls nicht unterlegen war. Der Vorgang bekam durch die „Signale für die musikalische Welt“ am 23. Januar ein Nachspiel, mit dem man in Berlin sicher nicht gerechnet hatte. Die „Signale“ zitieren zwar nicht richtig und schreiben auch den Namen Kossaks falsch (Kossack statt richtig Kossak), wehren sich aber gegen „diese philisterhafte Tonkünstler-Preßpolizei“ [II,708] und sprechen von „tonkünstlerischer Katzenmusik“. Als Kossak seinerzeit Rellstab „zersäbelte, freuten sich die Herren königlich,

12. Der Geyer-Lange-Streit

377

das war ihnen recht, nun er aber der Clique an die Kehle geht, schreien sie“. Die Journale, so schließen die „Signale“ spöttisch, würden sich beeilen, „künftig dem Tonkünstlerverein ihre Berichte vor dem Druck zur geneigten Censur vorzulegen.“ Mit Sicherheit stammt ein amüsanter Artikel, den die „Signale“ am 31. Januar 1849 als Nachdruck aus der „Deutschen Reform“ brachten und der mit ‚K.‘ gezeichnet ist, von Kossak. Gretry sei ein Balken auf den Kopf gefallen, und dieser Unfall habe seine Musikalität ausgelöst. Den „jüngsten Componisten“ fehle nur ein solcher Balken, der in ihre Hirnschale dringen müsse. Der Artikel ist böse ironisch und offensichtlich gegen eine bestimmte Berliner Gruppe gerichtet, vermutlich diejenige, von denen die „Signale“ kurz vorher noch von „Clique“ sprachen [II,710]. Natürlich ist eine Ehrenerklärung der gewünschten Art vom Standpunkt des kritischen Gegeneinanderspiels aus gesehen ebenfalls nichts als eine Kritik, die gegen eine andere gesetzt wird, die, wenn sie sachliche Dinge vortragen kann, auch ohne Ehrengerichtsurteil in Form einer einfachen Richtigstellung ihre Wirkung tut. Die politische Begründung, die Geyer zu geben wußte, hatte ihre Ursache im Gedankengut der Revolution. Mit der Zeit des politischen Absolutismus sei auch die Zeit des kritischen Absolutismus vorbei, argumentiert Geyer. Der einzelne Kritiker könne in einer bestimmten Sache nicht allein als kompetent angesehen werden, sondern er müsse sich entweder von anderen Kritikern im Sinne eines demokratischen Prinzips bestätigt finden, oder aber solche Beweise von Fachstudien vorbringen können, daß er glaubwürdig erscheine – eine Beweisführung, die vor allem in ihrem zweiten Teil von der Handwerksgeschichte der Musikkritik widerlegt wird. Auf diesem Feld ist, wie die Geschichte zeigt, keine Schwarz-Weiß-Verallgemeinerung möglich. Die größte Gelehrsamkeit schützt nicht vor groben Fehleinschätzungen – und Flodoard Geyers Überlegungen zeitigten gerade für ihn selbst, vermutlich zu seiner eigenen Überraschung, unangenehme Folgen: man drängte ihn aus der Redaktionsarbeit hinaus. (1) Flodoard Geyer: Ueber die Stellung des Tonkünstlers dem Kritiker gegenüber, NBMz II/43, 22.11.1848, S. 335a–337b; (2) NZfM XXXI./10, 1.8.1849, S. 51a–b.

12. DER GEYER-LANGE-STREIT Der verantwortliche Redakteur der „Neuen Berliner Musikzeitung“ nämlich, also Otto Lange, stellte im Anschluß an Geyers Spekulationen in einem langen Artikel „Kritik und Humanität“(1) [II,721] die Frage, wer denn kritisch kompetent sei, und kam dabei zu dem merkwürdigen, wenn auch aus seiner Sicht nicht unlogischen Schluß, Kompetenz könne denjenigen nicht zuerkannt werden, die von Natur aus im Urteil befangen seien, weil sie Anschauung gegen Anschauung setzen müßten. Lange zielte auf die Gruppe der Komponisten. Ihnen dürfe nicht das Recht eingeräumt werden, über Arbeiten ihrer Kollegen zu Gericht zu sitzen: „Offen und unumwunden gesagt: Wir halten die Stellung eines Kritikers mit der eines Componisten oder ausübenden Künstlers für unvereinbar“(2). Es ist der einzige in Sperrdruck gehaltene Satz, der auf diese Weise ein besonderes Gewicht erhält.

378

9. Kapitel: Stilfiktion als kritisches Prinzip

Langes Aufsatz zählt zu den stärksten, die er damals verfaßt hat. Die Kritik wird von ihm als „Feld der Musikwissenschaft“ bezeichnet. Sie müsse mit der realen Kunstentwicklung Schritt halten. „Ihr Terrain ist aber eben deshalb so umfassend, weil Subjectivität und individuelle Anschauung des Kritikers mit dem objectiven Gehalt des Kunstgegenstandes oft in Kampf gerathen und das bewegende Moment in ihr als Wissenschaft darin besteht, diese Gegensätze zu vermitteln und aufzulösen“(3). Die veränderten Zeiteinflüsse veränderten auch die Stellung des Kritikers. Nachfolgend beleuchtet Lange die Kritik nicht von ihrem Wesen her, sondern „aus ihrer zufälligen Form in der Gegenwart“(4). Lange spielt auf die „Volkssouveränität“ an (die Berliner Revolution ist gemeint), in deren Gefolge sich künftig „jeder Narr“ für berechtigt halten werde, sein Urteil abzugeben, und jede Halbheit werde eine gewisse Geltung erlangen, vor allem dann, wenn sie mit „dem eitlen Flitter sogenannter Geistreichheit angethan ist“(4). Die „leicht verständliche, populäre Gemeinheit“ werde „bei der Masse Interesse erregen“(4). Die Journalistik sei zum Handelsobjekt geworden, die Feuilletons müßten „interessant“ sein. Die politischen Zeitungen Berlins seien auf Theater- und Konzertkritik umgeschwenkt. „Damit es nun doch etwas Neues sei, wird mit sogenannter Geistreichheit ein ehrenwerther Künstler zu Tode gegeisselt, ein achtbares Institut mit Schmutz beworfen“(5). Man schreibe heute dagegen, morgen dafür, wie es gerade kommt. An dieser Stelle setzt Lange seine ohne Namensnennung gegen Gaillard gerichtete Anmerkung ein, von der schon die Rede war(6). Er spricht von den Künstlern, die um ihr Brot kämpfen und vielem anderen, und findet sich bei dem Satz wieder, „Jedenfalls steht der Kritiker, indem er sein Amt übt, über dem Künstler“(7). Dann behauptet er, es sei schlimm, daß sich Komponisten fänden, die als Kritiker aufträten, er behauptet weiter, nur solche Komponisten fänden sich dazu bereit, die als Künstler erfolglos geblieben seien. „Die Erfahrung hat gelehrt, dass einige in dieser kritischen Laufbahn sich an ihrem eigenen Schicksal rächen“(7). Aus der kritischen Tätigkeit „muss die vollkommene Befähigung, in den Entwicklungsgang der Kunst einzugreifen, hervorleuchten“(8). Nach Lange muß er sogar komponieren „können“. „Immer aber wird ein Musiker sein Leben entweder der Musikwissenschaft, oder der ausübenden Kunst zu widmen haben“(8). Dann endlich verlangt er neben der „erforderlichen technischen Befähigung“ vom Kritiker, „human“ zu sein. „Dass die Kunstwissenschaft durch die Kritik gefördert werde, dass sie etwas Dauerndes, für den Künstler Werthvolles gebe“(9) – Langes Thesen wird man an der Realität seiner Zeitung zu messen haben. Über diese Äußerungen mußte sich der am stärksten getroffen fühlen, der die Liga des Tonkünstlervereins gegen die Übergriffe von Kritikern gerade erst geschaffen hatte, nämlich Flodoard Geyer, ein zu seiner Zeit keineswegs unbekannter Komponist und vor allem angesehener Theoretiker (1811–1872), der in Berlin zwei Jahre später, seit 1851, am Kullak-Sternschen Konservatorium unterrichten wird. Der nun einsetzende Machtkampf zwischen dem Redakteur und seinem klügeren Mitarbeiter war unausweichlich und endete, wie man voraussehen konnte, mit dem Ergebnis, daß der Name Geyer in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ fürderhin keine maßgebende Rolle mehr spielte. Otto Lange dagegen blieb verantwortlicher Leiter der Musikzeitung.

12. Der Geyer-Lange-Streit

379

„Wer soll Kritik üben?“ – fragte Geyer während des Disputes öffentlich an(10) [II,723], und er beantwortete die rhetorische Frage sokratisch: Kein Trompeter werde beim Geburtshelfer Trompetenspiel lernen wollen, kein Kranker zum Trompeter gehen, um sich heilen zu lassen. So müsse auch der Jurist vom Juristen, der Theologe vom Theologen und demnach der Musiker vom Musiker beurteilt werden. Er will die Frage anders gelöst wissen: „… es ist nur dieser Satz haltbar: Mag Kritik üben, wer es kann!“(11), und dieses „Mag Kritik üben, wer es kann!“ ist im Original fett und punktgrößer gedruckt. Franz Brendel wird ihm, nicht Lange zustimmen. Wer ist musikalisch und wer ist unmusikalisch und wer hat das Recht, über Musik zu urteilen? In der „Allgemeinen Wiener Musik-Zeitung“ wurde das dankbare Thema schon 1845 in zwei Aufsätzen als ‚Fragment‘ und ‚Antifragment‘ blumig mit vielen Worten aufgegriffen [II,534, 535]. Das erste Fragment stellt die Urteilskompetenz von Leuten in Frage, die zwar Klavier oder Geige spielen können und deshalb ‚musikalisch‘ genannt würden, bei guter Musik aber einschliefen, weil ihr Geschmack auf Walzer gerichtet sei. Man stellt sie einer anderen Hörergruppe gegenüber, die man unmusikalisch nennt, weil sie kein Instrument spielt, aber für gute Musik aufgeschlossen ist. Der Autor ist mit dieser Zuordnung nicht einverstanden. Der Verfasser des zweiten Fragments stimmt mit dem Verfasser des ersten Fragments weitgehend überein, sieht aber einen Unterschied. Ihm geht es um das Recht, öffentlich Kritik zu üben, und das dürfe nur jemand haben, der eine Partitur auch lesen könne. Das Gewicht liegt auf dem Wort ‚öffentlich‘. Geyer läßt seiner Empörung freien Lauf, schließlich ist er Berufsmusiker und Lange ist es nicht. Er vergreift sich möglicherweise sogar im Ton, wenn er von Widersinn und anderem spricht und dabei keineswegs verhehlt, daß er sich durch Langes Aufsatz auch persönlich gekränkt fühlt. Er verweist auf Schumann und Carl Maria v. Weber, sogar auf Lessing, deren künstlerische Eigenart ihrer kritischen Tätigkeit keinen Abbruch getan hätte, was sicherlich nicht nur richtig, sondern in etlichen Fällen sogar umkehrbar ist, daß nämlich durch andere Werke veranlaßte kritische Überlegungen eigene Werke befruchteten oder sogar entstehen ließen. Lange hatte aber in seinem Aufsatz ausdrücklich Lessing als einen Kritiker definiert, der nicht „nach dem Lorbeer des Künstlers“ gestrebt habe(12). Eine Woche später antwortete Lange mit „Noch ein Wort über Kritik“(5) [II,724]. Er entzieht sich einem weiteren Streit, indem er ausweicht und bemerkt, seine Ansicht gelte nur in Rücksicht auf die Lokalblätter, sie gelte nicht für die Fachzeitschriften – damit fängt er Geyers Vorwurf ab, Lokalberichte gingen ohnehin nicht in die Annalen der Geschichte ein. Und wieder betont Lange die überragende Stellung der Musikkritik, wenn er meint, das eigentliche Zeitalter der Musikkritik sei erst im Herannahen begriffen. In dieser Hochblüte eines musikkritischen Selbstverständnisses wird der Kritiker als derjenige verstanden, der dem Künstler Bahn und Ziel anweisen will. Das Thema Fehlurteile von Komponisten über Komponisten ist immer aktuell geblieben, so lange man das Gewicht auf ‚Komponist‘ und nicht auf ‚fachkompetenter Kritiker‘ legte, zu dem der Komponist wird, wenn er sich kritisch äußert. Die Feindseligkeiten von Komponisten gegen Komponisten im unkollegialen

380

9. Kapitel: Stilfiktion als kritisches Prinzip

Interessen-Machtkampf sind nicht pauschal verwertbar. Im Zusammenhang mit der unerquicklichen Wolf-Richter-Auseinandersetzung schreibt Dr. Karl Grunsky 1906: „In Wirklichkeit ist die Ansicht eines Komponisten über Wert oder Unwert der Schöpfungen eines anderen in keiner Weise entscheidend oder von irgendwelchem Belang, wenn es sich um das Urteil über eine Komposition handelt“(14). Das ist in dieser Schärfe nicht richtig. Komponisten-Feindseligkeiten vollziehen sich im Allgemeinen, weil man sich nicht mag oder haßt oder fürchtet. Das detaillierte Urteil über eine bestimmte Komposition, zu der sich ein Komponist äußert, ist vom vorauszusetzenden Kenntnisstand her auf jeden Fall so bedenkenswert wie das von einem handwerklich erfahrenen Kritiker, der nicht komponiert. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14)

Dr. Otto Lange: Kritik und Humanität. NBMz III/19, 9.5.1849, S. 145a–147b; Lange, a. a. O. S. 146b; Lange, S. 145a; Lange, S. 145b; Lange, S. 146a; s. Kapitel 8, Unterkapitel III, Abschnitt 1 (Zur Gründung. Anfang und Ende); Lange, S. 146b; Lange, S. 147a; Lange, S. 147b; Flodoard Geyer: Wer soll Kritik üben?, NBMz III/23, 6.6.1849, S. 177a–179b; Geyer, a. a. O. S. 178a; Lange, S. 146b–147a; Dr. O. Lange: Noch ein Wort über Kritik, NBMz III/24, 13.6.1849, S. 185a–187a; Karl Grunsky: Antwort an Hans Richter, Mus VI/6, [Band 21, 2. Dezemberheft] 1906, S. 369– 371, Z:370.

13. DAS ENDE DER FIKTION: KRITIK ALS WEISENDES, KUNST ALS DAS GEWIESENE Der redaktionelle „Neujahrsgruss“ der „Neuen Berliner Musikzeitung“ vom Januar 1849 läßt keinen Zweifel daran, daß der Kritiker, nicht der Künstler im Mittelpunkt der Musikentwicklung stehen soll(1) [II,703]. Man fühlt sich wie ein Obergericht, das sich über alle anderslautenden Meinungen hinwegsetzt und festlegt, wie man sich künftig zu verhalten hat. Es ist in diesem Artikel viel von der Hoffnung auf einen neuen Aufbruch zu spüren. Auch die Berliner Zeitung war ins Strudeln geraten, hatte sich aber wieder gefangen. Das Nationalgefühl „beseeligt und kräftigt“. Die Zeitung jubelt: „Die Waage des Rechts und der Gerechtigkeit zieht über die Lebenszweige der Menschen dahin, die Connectionen und Protectionen – so will es die Zeit – werden es nicht mehr machen, wenn man auch nicht alle Schlupfwinkel der stillen Schleicher verstopfen kann.“ Gegen die Handwerker der Kunst wird gewettert, gegen die, die nicht „fortschreiten“. „Wer sich nicht wissenschaftlich im Gebiete der Kunst zu fördern versteht, wer namentlich der ernsten, aufbauenden Kritik nicht achtet … “ ist noch weniger als ein Handwerker. Zum Künstler gehöre mehr als ein Instrument zu spielen, eine Arie zu singen oder eine Paraphrase zu komponieren. Der Artikel enthält für heutige Vorstellungen viele schwülstige und

13. Das Ende der Fiktion: Kritik als Weisendes, Kunst als das Gewiesene

381

nichtssagende Phrasen mit pseudo-religiösen Anklängen („besinnet euch und wandelt die Strasse, welche zum Allerheiligsten des Kunsttempels führt!“). Bestimmte Vorstellungen Langes wurden von Gustav Nauenburg vorweggenommen, als er im Mai 1834 in der „Neuen Leipziger Zeitung für Musik“ [II,294] und, sich wiederholend, im April 1847 in seinen für die „Allgemeine musikalische Zeitung“ verfaßten „Dramaturgischen Paraphrasen über die Oper“(2) [II,615] von einer Kritik sprach, die Pilotcharakter habe und selbst produzierend sei. Auffallend ist auf zwei wesentlichen Feldern die Übereinstimmung mit der Wiener Kritik. Vor Lange war es der 1848 in Wien standrechtlich erschossene D. J. A. Becher, der die Meinung von der Weisungsbefähigung des Kritikers stützte. In einer seiner Xenien aus dem Jahre 1842, die ebenfalls in der „Wiener allgemeinen Musik-Zeitung“ erschienen, schrieb er: „Soll die Kritik uns nutzen, sie zeige mit Strenge den Irrthum, / Zeige die Wege zugleich, wie man zum / Wahren gelangt“(3) [II,418]. Auch Langes Behauptung über die Tätigkeitsverlagerung erfolgloser Komponisten auf das Gebiet der Musikkritik wurde schon vor ihm beispielsweise von Simon Sechter aufgestellt. Sechters Meinung nach werden gescheiterte Komponisten zu Rezensenten, und dadurch vermehre sich deren Zahl, schrieb er im April 1847 in Schmidts „Allgemeiner Wiener Musik-Zeitung“(4) [II,613]. Das ist keine neue Erkenntnis gewesen, weil sich viele Komponisten als Musikkritiker betätigten, die nicht eigentlich erfolglos waren, aber zur Gruppe der Kleinmeister gehören. Das galt für Heinrich Dorn ebenso wie für Truhn oder Wuerst, die ihr Amt parteiisch negativ ausübten, aber auch für Köhler oder Raff und andere Komponisten, die sich der neudeutschen Bewegung anschlossen. Und seit Carl Maria v. Weber sind bis Hugo Wolf mit nur wenigen Ausnahmen die meisten bedeutenden Komponisten, wenn auch nicht als Musikkritiker, so doch allgemein literarisch aufgetreten. Widerspruch erfuhr Lange vor allem von Lobe, der im 3. Teil seines Aufsatzes über den Fortschritt ausdrücklich die Versuche, den Kritiker über den Künstler zu stellen, als „anmaassende Selbstlobhudelei und Ueberschätzung“ bezeichnete(5). Ohne die Selbstüberschätzung der eigenen Urteilswertigkeit wäre die starke Affinität der Langeschen Redaktion zur Wiener kritischen Szene nicht denkbar. Auch Eduard Hanslick erhielt in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ eine Plattform für Berichte aus Wien und auch über Wagner. Langes Leitgedanke, der Kritiker stehe über dem Künstler, trennte Lange von den musikkritischen Vorstellungen in Leipzig. Im eigenen Blatt kam es zum Widerspruch. In Verbindung mit der Rezension der heftig umstrittenen Mozartveröffentlichung Ulibischeffs (die sich gegen Beethoven richtete; übersetzt wurde sie von Koßmaly), fand der Autor gleich auf der 1. Seite zu der Formel, „dass der schaffende Künstler mit der ganzen Totalität seiner Natur, den Kritiker gewissermaassen erzieht“(6) [II,759]. Das einzelne Kunstwerk könne „vielleicht zu einem allgemeinen theoretischen Lehrsatze anregen. Ein ganzer Meister wird einen ganzen Kritiker schaffen“. (1) NBMz III/1, 6.1.1849, S. 1/2q; (2) AmZ XLIX/16, 14.4.1847, Sp. 241, s. Kap. 7,6 + Anm. 5; (3) D. J. A. Becher: Musikalische Xenien, WaM-Z II/80, 5.7.1842, S. 326a;

382

9. Kapitel: Stilfiktion als kritisches Prinzip

(4) AWM-Z VII/42, 8.4.1847, S. 172b; (5) s. Kapitel 6, Abschnitt 11, Unterabschnitt f (Lobes Fortschrittsbegriff); (6) NBMz IV/42, 16.10.1850, S. 331b–332a, Z:331b.

10. KAPITEL: DIE NEUE ZEITSCHRIFT FÜR MUSIK 1845 BIS 1852 (DIE „BRENDELSCHE ZEITUNG“) 1. ZUR PERSON Einer mono- oder biographischen Darstellung hat man sich bislang entzogen, was überwiegend mit Wagners Aufsatz „Das Judenthum in der Musik“ zusammenhängen dürfte, den Brendel 1852 abdruckte. Die ausführlichsten Mitteilungen sind in dem von Boetticher verfaßten Stichwort ‚Brendel‘ in der 1. Auflage der Enyklopädie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ zu finden(1). Brendel wurde am 26. November 1811 als Sohn eines Bergwerk-Ingenieurs geboren und starb einen Tag vor seinem 57. Geburtstag am 25. November 1868 in Leipzig. Er promovierte 1840 mit einer Dissertation im Grenzgebiet Philosophie-Medizin. Brendel war Klavierschüler von Wieck, gehörte aber zu der kleinen Schar namhafter Kritiker, die nie komponiert haben. Verheiratet war er mit einer Pianistin, die zwei Jahre vor ihm starb. Über den Philosophen Chr. H. Weisse war er mit der Hegelschen Philosophie vertraut. Er brachte die Musikwissenschaft nach Leipzig und unterrichtete dieses Fach seit 1846 an dem von Mendelssohn gegründeten Leiziger Konservatorium. Seine musikgeschichtlichen Arbeiten fanden weite Verbreitung und einige von ihnen wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Seine 1852 in Buchform erschienene Geschichte der Musik erfuhr noch im 20. Jahrhundert eine Neuauflage. Brendels Interessen reichten über das Musikalische hinaus, daher gründete er 1856 die Monatsschrift „Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft“, die bis 1861 Bestand hatte. Er vertrat die Notwendigkeit einer verbandsmäßigen Organisation von Musikern und gründete 1848 den Leipziger Tonkünstlerverein. Später (1859) wurde er der erste Präsident des „Allgemeinen Deutschen Tonkünstlervereins“, zu dem, wohl erstmals in der deutschen Vereinsgeschichte, auch Frauen Zutritt hatten. Brendel erfuhr deswegen Kritik, änderte aber seine Entscheidung nicht(2). Die Schumannsche „Neue Zeitschrift für Musik“ redigierte er ab dem 22. Band (1. Januar 1845) bis zu seinem Tod. Brendel verband nüchterne Sachlichkeit in einer unpolemischen Sprache mit leidenschaftlicher Überzeugungstreue, die weder von Gegnerschaften noch von Freundschaften bestimmt wurde und daher keine engeren Bindungen an zeitgenössische Komponisten, auch nicht an Schumann, Liszt oder Wagner zuließ. Seine Bewertungen im Für und Gegen sind beinahe ausnahmslos von der Geschichte bestätigt worden. Brendels Bild wurde nach seinem Tod zeitweise von Arrey von Dommer bestimmt, der 1876 im 3. Band der von der Bayerischen Akademie herausgegebenen „Allgemeinen Deutschen Biographie“ einen feindseligverächtlichen Kurzartikel verfaßte. Der (angesehene) Bibliothekar v. Dommer, der auch komponierte, war Lobe-Schüler, Musikkritiker am „Hamburgischen Corre-

384

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

spondenten“ und als Verfasser einer Musikgeschichte Brendels Konkurrent. Die „Neue Deutsche Biographie“ hat das Brendelbild organneutral gezeichnet(3). (1) MGG II, Sp. 270–273; (2) Einer Statistik zufolge soll es im 19. Jahrhundert allein knapp zweihundert Opernkomponistinnen gegeben haben; (3) s. Georg von Dadelsen, Neue Deutsche Biographie II, Berlin 1955, S. 583a–b.

2. FRANZ BRENDELS DRITTER STANDPUNKT. DIE HISTORISCHE KRITIK a) Vorspiel Krüger Es begann mit dem Hegel-Aufsatz Eduard Krügers schon vor der Redaktion Brendels. Krüger untersuchte das Verhältnis der Hegelianischen Philosophie zur Musik und drang auf Maßstäbe, die sich von hier abnehmen lassen sollten. Der Artikel „Hegel’s Philosophie der Musik“ findet sich zehnteilig (und mit einer Ausnahme als Kopfartikel) zwischen dem 22. Juli und 23. August 1842 im 17. Band und ist der längste Text, der unter Schumanns Redaktion erschienen ist, ein Beweis für die Wichtigkeit, die Schumann sowohl dem Thema wie dem Autor zugestand. Er wurde unter Zuhilfenahme von zwei Beilagen untergebracht(1). Eduard Krüger geht von einer Entwicklungstendenz der Künste aus, die einmal aus primitiven Anfängen heraus aufbrachen und sich im Laufe der Jahrhunderte mehr und mehr vervollkommneten, bis jetzt, gerade zu seiner Zeit, die eigentliche Blüte der Musik begonnen habe. Romantisch heißt sie, und in ihr begreift Krüger seine eigene Zeit als den Gipfel einer jahrtausendealten Entwicklung. Krügers Aufsatz ist ein typisches Dokument für die Selbstanalyse und den Selbstvollendungsanspruch des 19. Jahrhunderts, der bald in einen Selbstvollendungswahn überging, ohne dessen stolzes Bewußtsein, den absoluten Gipfel aller geistigen und menschlichen Kultur erklommen und die Wahrheit unwiderruflich ein für allemal erkannt zu haben, sich die kommende Entgleisung auch der Musikkritik und ihre fast unwahrscheinlichen Forderungen an den Künstler nicht verstehen lassen. b) Das Brendel-Programm Als Brendel einige Jahre später das Blatt übernahm, begann er ebenfalls mit einem raumgreifenden und weit ausholenden Programm, das sich unter dem schlichten Titel „Zur Einleitung“ [II,505] methodisch als Kritik der Kritik gab(2). Nach Brendel ist die Kritik ein Reflex der Kunst. Einschränkend heißt es „auf der ersten Stufe ihrer Entwickelung“(3), eine für das Jahr 1845 immerhin erstaunlich zurückhaltende Feststellung, bei der Brendel nicht lange stehen bleiben wird. Jede Kritik ist vom musikalischen Material und von der Art abhängig, wie man es münze. Auf der Frühstufe der Musik, in der sich nach Brendel die ersten Anfänge der Musikkritik geregt hätten – das ist also Mitte des 18. Jahrhunderts –, sei die Musik vorwiegend

2. Franz Brendels dritter Standpunkt. Die Historische Kritik

385

technisch gewesen, auf Kontrapunkt, Fuge und andere Künste beschränkt, weswegen sich auch die Kritik vorwiegend technisch gegeben habe. Sie untersuchte analytisch, ob die Kunstwerke den technischen Ansprüchen ihrer Zeit Genüge leisteten. Auf den geistigen Gehalt des Kunstwerks sei die Kritik nicht eingegangen. Deshalb fände man heute diese Kritik „dürftig, kahl und öde“. Den großen Komponisten, die in dieser Zeit gewirkt hätten, sei der von ihnen in ihre Formen hinein gebrachte tiefe Inhalt „in höherem Sinne“ nicht bewußt gewesen, und deshalb hätten auch die Kritiker ihn nicht zu erkennen vermocht. Eine Möglichkeit, das Kunstwerk zum gegenständlichen Bewußtsein zu erheben, habe man nur in der ausführlichen technischen Beschreibung des Baus einer Komposition gesehen oder sich kurzerhand auch einfach damit geholfen, ein größeres Bruchstück der Komposition abzudrucken. Damit spielt Brendel auf die Praxis der in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts in Leipzig erscheinenden wöchentlichen Nachrichten an, die Johann Adam Hiller von 1766 bis 1770 herausgab. Inzwischen sei die Musik einer höheren Stufe zugeeilt, ohne daß die Kritik hätte zu folgen vermocht. So sei es zu der Verkennung von Meistern wie Gluck, Ph. E. Bach und Haydn gekommen. Erst unter dem Einfluß Kants und Goethes, in der Musikkritik von Reichardt und Rochlitz aufgenommen, sei ein geistreicheres Element in die Kritik hineingetragen worden. Jetzt habe sich die Tonkunst aus ihrer Abgeschlossenheit in Kirche und Schule in eine freiere Region begeben und die Kritik sich von der Prüfung technischer Korrektheit emanzipiert, so daß ihr „Erfassung des Inhaltes, der durch das Tonstück ausgedrückten Empfindung, des Geistes überhaupt“ als das Wesentliche einer jeden Kritik erschienen und die durch Rochlitz begründete und entwickelte psychologische Beschreibung und psychologische Analyse zum Zuge gekommen sei(4). „An die Stelle eines objectiven, durch feste Regeln bestimmten, auf Naturgesetze sich gründenden, aber geistleeren Urtheiles trat ein subjectives, schwankenderes, aber geistvolleres. Die in einem Tonstück enthaltene Empfindung rein in sich aufzunehmen und ohne alle Rücksicht auf das Technische sich zum Bewußtsein zu bringen und auszusprechen, war jetzt die Hauptsache; dem Empfindungswechsel der Composition beschreibend zu folgen, darin suchte man jetzt die Aufgabe der Kritik. Eine ganz andere Ansicht über den Contrapunct machte sich geltend, und es wurde geradezu ausgesprochen, daß dieser unwesentlich sei“(4). Dieses Verfahren nennt Brendel die psychologische Beschreibung und psychologische Analyse. Rochlitz habe das Verdienst, nach anfänglichen Irrtümern den Deutschen das Bewußtsein über die Heroen ihrer Musikgeschichte vemittelt zu haben. Jetzt sei Rochlitz allerdings überlebt, weil das meiste von dem, was er gesagt, inzwischen so selbstverständlich geworden sei, daß sich ein Eingehen darauf erübrige. Wohl sieht Brendel in Rochlitz den bislang einzigartigen Höhepunkt der Musikkritik, weil Rochlitz wie keiner mehr nach ihm in einer Person „Wohlwollen, Humanität, und zugleich Schärfe und Bestimmtheit des Urtheils“(5) vereinigt habe. Es ist eine Spitze gegen die zeitgenössischen Redaktionen vor allem Finks, wenn er erklärt, diese Rochlitzsche Humanität habe sich später in eine flache, auch das Gewöhnliche anerkennende Betrachtungsweise verkehrt, und dieser sei dann wieder eine herbe, rücksichtslose Kritik entgegengetreten. Das sind Hinweise auf die Strei-

386

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

tigkeiten zwischen der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ unter Fink und der „Berliner Allgemeinen musikalischen Zeitung“ unter Marx. Möglicherweise hatte er auch schon Hirschbachs bitteres „Repertorium“ im Blick. Die psychologische Kritik eines Rochlitz sei nach wie vor die herrschende kritische Methode, wenn auch um einiges modernisiert. Brendel nennt als Beispiele Fink, Rellstab und Marx. Im Zentrum seines Aufsatzes steht eine herbe Auseinandersetzung mit eben derselben psychologischen Kritik, deren Standpunkte er bei aller Anerkennung ihrer Verdienste nicht mehr zu teilen vermag. Die Gründe dazu hat er schon entwickelt, als es galt, den künstlerisch kritischen Standpunkt von Marx und Gottfried Weber aus der Situation der Zeit heraus zu bestimmen. Brendel selbst stand zu Weber in einer geistigen Beziehung. Der Fortschritt dieser Kritik sei gewesen, weit tiefer als sonst in den Geist des Kunstwerkes einzudringen, der Nachteil jedoch, daß „eine gute Kritik mehr von den zufälligen Eigenschaften, von der Empfänglichkeit des Kritikers, von seiner künstlerischen und allgemeinen Bildung, seiner Individualität, seinen Sympathieen und Antipathieen abhängig wurde, als früher, daß man die objective feste Grundlage des ersten technischen Standpunctes, die auch minder Befähigte in den Stand setzte, sicher zu urtheilen, die überhaupt weit weniger Schwankungen zuließ“(6). Der Kritiker „theilt noch die halbe Bewußtlosigkeit, das Empfindungsleben des Künstlers“, und er vermag wohl „den Inhalt des Kunstwerkes als Empfindung, nicht aber als Gedanken“ auszusprechen. „Alle objective Bestimmtheit und Schärfe der Auffassung fehlt, und die Kunstentwickelung als ein zusammenhängendes Ganze zu erfassen ist unmöglich. Die Erzeugnisse der Kunst erscheinen als ein gleichgiltiges, zufälliges Nebeneinander und Nacheinander, und es wird nicht erkannt, daß die gesammte Weltanschauung einer Zeit, der geistige Gehalt derselben, auch in den Werken der Tonkunst sich ausprägt“(7). Als die Kunst noch ein geschlossenes Gebäude darstellte, sei diese Form der Kunstauffassung ausreichend gewesen. Später jedoch, als die „heterogensten Subjektivitäten in der Kunstwelt“ auftraten, wo die Tonkunst in mehrfacher Hinsicht auseinander zu fallen begann, wurde die Kritik, die aus der Kunst erwachsen war, ebenfalls unsicher und schwankend und damit außerstande, „streng genommen und im höheren Sinne, ihre wahre Bestimmung zu erfüllen“(7). Im Einzelnen sei stets Gediegenes geleistet worden, aber im Großen und Ganzen fehlte es an einem sicheren Fundament. Zu Rochlitzens Zeiten habe es genügt, wenn eine bedeutende Persönlichkeit den Hintergrund bildete. Heute genüge das nicht mehr. Heute sei es Aufgabe, „ein bewußtes Geistesleben an die Stelle nur individueller Geschmacksbildung treten zu lassen“(7). Die unselige Entwicklung habe dazu geführt, der Kritik ihren Einfluß auf das Publikum zu nehmen. Das Publikum bilde sich sein eigenes Urteil und überließe das, was die Kenner meinten, denen selbst. Am Beispiel Rellstabs zeigt Brendel die Unfruchtbarkeit einer Verhärtung, die nichts mehr als Opposition betreibe und dadurch zur Passivität und Nullität zu versinken verdammt sei(8). Weiter beschäftigt sich Brendel mit dem Wandel der künstlerischen Geschmacksbilder im Urteil der Öffentlichkeit. Die Entthronung Mozarts und Händels zugunsten Bachs, die revolutionären Wirren, die Beethovens Ruhm auf Kosten Mozarts

2. Franz Brendels dritter Standpunkt. Die Historische Kritik

387

hochspielten, das Meyerbeer-Problem – und in allem habe es die Kritik nicht vermocht, eine befriedigende Ansicht aufzustellen und diese zur Geltung zu bringen. Die technische Bestimmung der früheren und die psychologische Beschreibung der neueren Kritik reichten offensichtlich nicht aus. So findet Brendel zur Forderung nach dem dritten Standpunkt. Er versteht darunter eine Musikkritik, die wie bisher auf den Inhalt der Kunst eingeht, gleichzeitig aber der Objektivität der früheren Kritik wieder zustrebt. Was Gustav Nauenburg zu Beginn der Schumannschen Neugründung verlangt hatte, bekommt praktische Gestalt. In der Praxis Brendels bleibt der Schumannsche Standpunkt weiter bestehen, wird aber, wie sich später herausstellt, durch historische Systembildungen schematisiert. Brendel behauptet, alle frühere Kritik habe die Musikkritik einseitig als musikalisches Phänomen gesehen und entsprechend abgeleitet. Das sei den Tendenzen der jetzigen Zeit nach falsch, weil die Gegenwart sich anschicke, die Enge der fachlichen Spezialität aufzugeben und die einzelnen Kategorien wieder von weiträumigen Oberbegriffen überspannen zu lassen. Musik und Musikkritik sollen gezielt als Gegenstand der allgemeinen Kulturgeschichte verstanden und entsprechend gewertet werden. Das wird zur Voraussetzung einer historischen oder doch historisch gesetzten Kritik. Brendel will die Kritik vom einfachen Empfindungsleben lösen, indem das Kunstwerk nicht von der Empfindung, der Wirkung auf den Einzelnen und seine Schule, sondern im größeren Zusammenhang verstanden wird, die Kritik also dem Kunstwerk einen historischen Stellenwert zumißt: „Wir müssen uns bemühen, festere Bestimmungen aufzustellen, die allgemeinen Entwickelungsgesetze, den Faden, der sich durch die Geschichte hindurchzieht, aufzufinden, das in neuester Zeit durch die Bestrebungen bedeutender Geschichtsforscher gewonnene Material in große Gruppen zu ordnen, die Höhepuncte der Entwicklung aufzusuchen, und Orientirung für die Gegenwart daraus zu schöpfen, die Geschichte hereinzuziehen in das Leben des Tages, endgültig den Versuch zu machen, das Publikum, welches sich von der schwankenden musikalischen Kritik zurückgezogen hat, wieder zu gewinnen“(9). Und einige Abschnitte vorher heißt es: „Die Werke der Tonkunst sind zwar in die Empfindung der Nation übergegangen, aber nicht in das denkende Bewußtsein, sie sind in die Empfindung übergegangen ohne höhere Einsicht und ohne Bewußtsein ihres Gehaltes. Gar seltsam muß es dem Kenner der Musik erscheinen, wenn in Darstellungen der Entwickelung des allgemeinen deutschen Lebens alle Zweige berührt werden, und der Tonkunst, einer der größten Seiten des deutschen Geistes, mit keinem Wort gedacht wird. / Die musikalische Kritik hat nicht vermocht, die Werke der Tonkunst aus der engen musikalischen Sphäre herauszurücken und so zu fassen, daß sie der allgemeinen Intelligenz zugänglich wurden. Jetzt ist es die Aufgabe, sollen die großen Werke der Vergangenheit in das denkende Bewußtsein der Nation aufgenommen werden, soll die Musik der Gegenwart sich ihrer wahren Bestimmung wieder nähern, daß Alle, welche über Musik zu schreiben vermögen, dahin wirken, daß die Kluft, die die Wissenschaft, Literatur und Musik trennt, überbaut wird. / Die Resultate der modernen Wissenschaft, die großen Fortschritte der Aesthetik, müssen auch der Tonkunst zu Gute kommen, und es ist der Versuch zu machen, über Musik so zu sprechen, daß der Inhalt derselben zum gegenständlichen Bewußtsein erhoben wird. Es muß dahin gewirkt werden, daß jede

388

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

Kunsterscheinung in ihrer relativen Berechtigung erkannt wird, um diese zahllosen subjectiven Liebhabereien, Sympathieen und Antipathieen zu verbannen, dahin gewirkt werden, daß eine Ansicht, welche die Möglichkeit der Allgemeingültigkeit in sich trägt, an die Stelle tritt“(10). Brendels besondere Fähigkeit, den Erscheinungen huldigen zu können, ohne ihnen zu verfallen, für Schumann, Wagner, Liszt und Brahms einzutreten, ohne jemals mit einem von ihnen in ein wirkliches Vertrauensverhältnis zu gelangen, distanzierend zu lieben und sich selbstkritisch zu sehen, erkennt man an einer anderen Stelle. Sie erklärt, warum gerade er in den später so hart aufeinanderprallenden Meinungsverschiedenheiten für und gegen Wagner gleichsam den Fels in der Brandung bildete, an dem sich die Musikkritiker eines halben Kontinents orientierten und von der „Brendelschen Zeitung“ statt von der „Neuen Zeitschrift für Musik“ sprachen, eine stillschweigende Ehrung, die weder Fink noch Lobe, weder Marx noch Weber, weder Senff noch Lange zuteil wurde: „Ich vermisse auf dem Gebiete der Tonkunst noch allzu sehr ruhige Besprechung, ruhiges und unbefangenes Gegenüberstellen der verschiedenen Ansichten, die Neigung zu Untersuchungen, zur Berichtigung der einseitigen Ansichten, welche die einzelnen oft hegen“(10). Daß er selbst es konnte, hat er sowohl Wagner wie Berlioz wie Brahms gegenüber bewiesen. Die ersten Rezensionen sowohl über Berlioz wie über Wagner fallen etwas unfreundlich aus; später berichtigte er. Im Falle von Berlioz ärgerte er sich vor allem über die unverblümte Anmaßung des Franzosen, quer durch Deutschland zu reisen und Huldigungen entgegen zu nehmen, ohne sich angeblich nicht ein einziges Wort Deutsch anzueignen; die Leipziger TannhäuserOuvertüren-Erstaufführung durch Mendelssohn gefiel ihm nicht, und erst später begriff er, daß sie falsch wiedergegeben worden war. Man glaubte sogleich „die Götter anflehen zu müssen“, wenn jemand eine andere Ansicht habe, während doch jede nicht grundlos ausgesprochene Ansicht mindestens eine einseitige Berechtigung in Anspruch nehmen dürfe. Der raumgreifende Einleitungs-Artikel schließt mit einer feierlichen Proklamation: „Die Zeitschrift wird jedoch der bezeichneten Richtung keineswegs ausschließlich huldigen; sie wird zugleich fortfahren, ganz in der bisherigen Weise mit vorzüglicher Rücksicht auf das Praktische Werke des Tages zu besprechen, möglichst schnell die Neuerscheinungen aller Gattungen anzuzeigen, überhaupt einen möglichst universellen Charakter anzunehmen suchen; Beiträge in dem bisherigen Sinne sind daher in gleicher Weise willkommen“(11). Brendel teilte zu Beginn des 23. Bandes Anfang Juli 1845 mit, Kompositionen, die nicht wesentlich Neues brächten, und solche von bekannten Komponisten, deren Wege, auf denen sie fortschritten, schon mehrfach besprochen worden seien, künftig nicht mehr im Hauptblatt ausführlich behandeln zu wollen, sondern in einem neu eingerichteten, vom Hauptblatt getrennten Beiblatt mit kurzer Beurteilung nur noch zu verzeichnen(12) [II,523]. Brendel, realistischer denkend als Schumann und die bisherigen Ornamentisten- und Potpourri-Jäger, erklärte, Kritik „in ihrer unmittelbaren praktischen Wirksamkeit“ zu betreiben und „wirklichen Talenten die Bahn zu ebnen“. Gegen die minderwertigen Arbeiten will er nicht mehr angehen. „Wir erkennen einen Kampf gegen Derartiges im Einzelnen als zwecklos, – Modeartikel sind unvermeidlich – und wenn daher der Standpunct im Allgemeinen bezeichnet ist, kann man dieselben in ihrer niederen Sphäre gewähren lassen.“

3. Chiffre 87. Feindbild Indifferentismus und Kriticismus

389

(1) Eduard Krüger: Hegel’s Philosophie der Musik, NZfM XVII./7, 22.7.1842, S. 25a–28b, ~/8, 26.7., S. 29a–32b, ~/9, 29.7., S. 35a–37a, ~/10, 2.8., S. 39a–40b, ~/11, 5.8., S. 43a–45b, ~/12, 9.8., S. 47a–51b [mit Beilage], ~/13, 12.8., S. 53a–56a, ~/14, 16.8., S. 57a–59b, ~/15, 19.8., S. 63b–64b [nicht als Kopfartikel], ~/16, 23.8.1842, S. 65a–69a [mit Beilage]; (2) Franz Brendel: Zur Einleitung, NZfM XXII./1–2, 1.1.1845, S. 1a–12b; (3) Brendel, a. a. O. S. S. 1b; (4) Brendel, S. 2b; (5) Brendel, S. 3b; (6) Brendel, S. 4a; (7) Brendel, S. 4b; (8) Brendel, S. 9; (9) Brendel, S. 12a; (10) Brendel, S. 11b; (11) Brendel, S. 12b; (12) NZfM XXIII./1, 1.7.1845, S.1aq–1bq.

3. CHIFFRE 87. FEINDBILD INDIFFERENTISMUS UND KRITICISMUS Brendel kommt auf den Standpunkt zurück, dem zufolge ein Kunstwerk schon das eigene Maß in sich trage und von da aus im Verhältnis zu seiner Umwelt gesehen werden müsse. Man kritisiert bereits in Ansehung historischer Schichten, ohne, wie kurze Zeit später, unmittelbar von historischer Kritik zu sprechen. Jedoch verändern die Kritiken in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ ihren Charakter. Für zahlreiche Mitarbeiter, die unter Schumann noch in abgestufter Wertung geschätzt gewesen waren, ist kein Platz mehr. Brendel schart einen neuen Mitarbeiterstab um sich. In diesem Zusammenhang mußte er sowohl den Pfuscher zurückweisen bzw. bloßstellen, wie den, der meist lau blieb, um nirgendwo anzuecken. So erscheint noch im selben Jahr ein Fortsetzungsartikel, der gegen den ‚Indifferentismus‘ und ‚Kriticismus‘ gerichtet ist [II,528]. Der anonyme Verfasser zeichnet mit der Chiffre 87. Der Artikel ist nicht sonderlich wichtig, weil er keinen Tiefgang hat; er bildet aber für seine eigene Zeit das, was man im Redaktions-Jargon von heute ‚Lesefutter‘ nennen würde. Der Autor macht sich über die Gleichgültigen lustig, die „grauenerregende“ Händelsche Chöre studieren, oder Beethoven und Mozart hören können, ohne dabei einzuschlafen, und so weiter, und er wettert im zweiten Teil des Artikels gegen die Kritizisten, gemeint sind die Ignoranten, die durch dumme Mienen und Redensarten ein falsches Urteil präjudizier(t)en. Der Artikel ist gemischt satirisch-ernst gemeint(1). In „Randbemerkungen zu Artikeln der Euterpe“ wird ebenfalls über „Indifferentismus“ und „Nicht-Antheilnehmen“ geklagt(2) [II,588]. Die „Euterpe“ war eine Monatszeitung für Volksschullehrer, die, 1841 gegründet, (mit Unterbrechung im Jahr 1856) bis 1884 erschien. Der Verfasser der „Randbemerkungen“, der mit ‚Wch‘ zeichnet, ist entrüstet, „weil gar viele Lehrer die Euterpe, diese jetzt einzige Zeitschrift, die ihnen Etwas bringt, gar nicht lesen“, und andere, die sie lesen, sich nicht um den Inhalt kümmerten. Dabei brächte sie doch so viele schöne Anregungen. Offensichtlich zielt der Autor auf eine bestimmte Gegend. Welche er meint, schreibt er nicht. Aber seine Klage über Indifferentismus, weil man sein Blatt nicht

390

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

liest, hat nichts mit dem Indifferentismus-Begriff in der Brendelschen Zeitung zu tun. Die Vermutung ist nicht von der Hand zu weisen, daß sich der Autor den Begriff von der „Neuen Zeitschrift für Musik“ ausgeborgt hat. (1) Ueber den Indifferentismus und Kriticismus auf dem Gebiete der Musik, NZfM 1845/II/15, S. 57–60, ~ /17, S. 65–67; (2) Euterpe VI/12, Dezember 1846, S. 184–188.

4. ADOLPH TSCHIRCH UND DIE FORDERUNG NACH NEUHEIT IN FORM UND INHALT a) Der erste Aufsatz Der erste, der in diesem Zusammenhang programmatisch vom ‚wahrhaft Neuen‘ sprach, war Adolph Tschirch. Von Hause aus Theologe mit überdurchschnittlichen künstlerischen Fähigkeiten, gehörte er zum Kreis der neuen Mitarbeiter. Der spätere Hauptpastor von Guben war damals 30 Jahre alt. Sein Aufsatz „Ein Blick auf deutsche Musik und deren Kritik“ erschien im zweiten Band 1845 der „Neuen Zeitschrift für Musik“ [II,530] und erhob die Forderung, der Komponist müsse „wahrhaft Neues in Form und Inhalt“ schaffen, um sich dadurch dem Publikum geneigt zu machen(1). Tschirch benutzt diese Begriffe gegen zeitgenössische Komponisten, die, unbekümmert um die Konstellation der Zeit, in den alten, sprich überalterten Kategorien weiter komponierten und mit den zeitgenössischen Ereignissen und, wie man meinte, Erfordernissen nichts zu tun haben wollten. Unter den zeitgenössischen Topoi vom ‚guten‘ oder ‚tüchtigen‘ Musiker bildeten sie eine zähe Oppositionsschicht künstlerischer Mittelmäßigkeit. Leute wie Dorn, Wuerst, Truhn, Lindpaintner, die Lachner-Brüder, und andere, zu ihrer Zeit als Komponisten, als schriftstellerisch begabte Musikkritiker, als Lehrer, als durchweg gute bis sehr gute Dirigenten in führenden Kapellmeisterpositionen und Lehranstalten unterschiedlich erfolgreich und unterschiedlich bedeutend, blockierten dank ihrer Schlüsselpositionen vielfach die Ausbreitung ihnen nicht genehmer Musik. In der Literatur kam es damals unter anderem zum Schlagwortbegriff von der „Süddeutschen Opposition“, gemeint war damit die Rolle vor allem Franz Lachners in München, der sich so vehement gegen neue Musikströmungen stellte, daß man öffentlich seine Abberufung als Kapellmeister forderte, weil, so lautete das Argument, das Münchner Musikleben durch ihn und seine verfehlte Spielplanpolitik einen nicht mehr duldbaren Grad von Rückständigkeit erreicht habe. Ihnen gibt Tschirch die Hauptschuld am Niedergang der zeitgenössischen Musik. Seine drastische Forderung, einen Komponisten für anachronistisch zu erklären, wenn er mit überlebtem Material arbeite, ist eine erste praktische Folge historisch kritischer Betrachtungsweise gewesen. Sie muß schon vor Kompositionsbeginn erfüllt sein, bevor ein Komponist gehört und besprochen zu werden erwarten darf(2). Drei Momente sind es nach Tschirch, die den nicht eben erfreulichen Zustand der Musik seiner Zeit verschuldet haben: einmal die alten Komponisten bzw. die Komponisten, die sich ohne Einsicht nach wie vor der alten Formen bedienen, dann

4. Adolph Tschirch und die Forderung nach Neuheit in Form und Inhalt

391

die Kritiker, die ohnmächtig seien, schließlich das Publikum, das dazu neige, nur zu genießen, ohne nach dem ‚was‘ zu fragen(3). Die Kritiker teilt Tschirch in zwei Klassen ein: die einen, die den alten Komponisten bedingungslos die Stange halten und nur das werteten, was beim Publikum zu gefallen niemals Aussicht haben werde, weil es ganz einfach antiquierten Geistes sei, und die anderen, die mit ihrer Meinung hin und her schwankten und selbst nicht wüßten, was sie wollten. Sie verfallen in ‚Rücksichten‘, wie Tschirch vorsichtig die Interessen- und Cliquen-Politik treibenden Kritiker bezeichnet, was man damals ‚Coterie‘ nannte. „Beide Classen sind für die Kunst nichts weniger als fördernd, da beider Stimmen wirkungslos verhallen. Soll die Kritik ihre wahre Bestimmung erfüllen und nicht nutzlos neben den Kunstschöpfungen und dem Publicum hergehen, so muß sie sich zwischen beide stellen, – sie muß Mißverständnisse, die sich eingeschlichen, beseitigen, und ihre apostolische Mission an das Publicum nicht verkennen. Dies wird sie nur dann, wenn sie in wahrer Popularität zurechtweisend und warnend überall in die in unsern Tagen zahlreichen Kreise eindringt, wo man sich einem musikalischen Kunstgenusse hingiebt. Hoffen wir, daß die Zeit, welche in der That dieses Bedürfniß geweckt hat, auch zur Befriedigung das ihrige beitragen werde“(4). Den Komponisten antiquierter Herkunft, die von den Kritikern der ersten Klasse unter allen Umständen fördernd beraten werden, empfiehlt Tschirch Akkomodation, Angleichung wenigstens in etwa an den Publikumsgeschmack. Erfolg können sie keinen haben, solange sie mit einem Publikum zerfallen sind, das etwas anderes als das hören will, was sie komponieren, worauf sich wiederum die Komponisten nicht einlassen wollen. Zum Abschluß dieser selbst wieder kritikwürdigen vermittelnden Kritik beschäftigt er sich mit dem Publikum und entwickelt dabei eigene Motive. Er spricht von der Rückwirkung des Hörers auf den Komponisten, ein Nexus, der nicht unterbrochen werden darf, was jederzeit der Fall sein kann, wenn beim Hörer Angst vor der Anstrengung aufkommen sollte. Tschirchs Aufsatz, der Brendels Abschlußpassus zitiert, liegt auf Brendels Linie, was Tschirch, wie sein eigener Schlußsatz zeigt, veranlaßte, Mitarbeiter der Brendelschen Zeitung zu werden (und an die zehn Jahre zu bleiben): „Uebrigens glauben wir uns im Sinne der Redaction dieser Zeitschrift ausgesprochen zu haben, weshalb wir auch gerade dieses Blatt zum Organ unserer Ansichten zu machen wünschten“(5). Tschirch erklärt Musikkritik zwar nicht für bedeutungslos, aber für ohnmächtig. Sie habe nichts bewirkt und sei ohne Einfluß [II,530]. b) Der zweite Aufsatz Nur wenige Wochen später, Anfang 1846, meldete sich Tschirch noch einmal in der Neuen Zeitschrift zu Wort, diesmal mit einem zweiteiligen Aufsatz über die „Accomodation“(6) [II,544]. Sein Ansatz ist die unterschiedliche Wertung bedeutender Kunstwerke durch Zeitgenossen und Nachfahren. Nur die Nachwelt vermöchte einen Komponisten richtig zu würdigen, weil dann alles Menschliche, das sich hemmend zwischen Kunstwerk und Urteil gestellt habe, keine Rolle mehr spiele. Allerdings könnten allein die Koryphäen des Geistes eine solche Anerken-

392

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

nung ‚post festum‘ erwarten. Die zweitrangigen Komponisten wären gut beraten, sich dem Zeitgeschmack anzupassen, weil sie mit späterer Anerkennung nicht zu rechnen hätten. Tschirch zielt nicht auf einen leichteren Musizierstil, den das Publikum bevorzuge. Er meint die vielen klassizistisch orientierten Komponisten, die in einem alten Stil schreiben und neuen Forderungen ausweichen. Tschirch vertritt keineswegs die Interessen einer geschmacksbetonten Unterhaltungsmusikliteratur, sondern die der rangmäßig abgestuften neuen Musik seiner Zeit, in der man einen wie auch immer ausgelegten Fortschritt in der Musik glaubte erkennen zu können. Ob seine die Philistrosität streifenden Vorschläge eine hintergründige Ironie erkennen lassen, ist eher zu verneinen als zu bejahen. (1) Adolph Tschirch: Ein Blick auf deutsche Musik und deren Kritik, NZfM XXIII./25, 23.9.1845, S. 97a–99a; (2) Tschirch, a. a. O. S. 97b–98a; (3) Tschirch, a. a. O. S. 97b; (4) Tschirch, a. a. O. S. 98b; (5) Tschirch, a. a. O. S. 99a; (6) Adolph Tschirch: Einige Gedanken über Accomodation auf dem Gebiete der musicalischen Composition, NZfM XXIV./5+6, 15. + 19.1.1845, S. 17a–19a, 21a–22a.

5. STANDORTSBESTIMMUNG. GESCHICHTSTHEORETISCHE KRITIK Brendel steuert im Jahrgang 1846 Aphorismen bei, die er „Polemische Blätter“ nennt(1) [II,541] und in denen er unter anderem auch private Bemerkungen zum kritischen Handwerk macht, etwa über den Sinn des Beifalls als Wertmesser. Natürlich schätzt er Beifall gering ein und beurteilt damit das Publikum anders, oder besser: er beurteilt ein anderes Publikum als Tschirch, der ein gebildetes Publikum meinte. Dann beschäftigt sich Brendel mit dem Sinn von Wertvergleichen zwischen zwei bedeutenden Künstlern. Er lehnt sie ab, weil jeder Komponist in seiner eigenen Situation steht und deshalb nicht mit anderen verglichen werden kann. In einem dritten Aphorismus fordert er erneut, die Beurteilung eines Kunstwerkes habe von der Geschichte auszugehen. Jetzt ist er auch bereit, für die Aufführung alter Musik einzutreten, mit der Einschränkung, dies dürfe nur in solchen Städten erfolgen, in denen die klassische Kunst bekannt sei. Damit will er ein Übergewicht der alten über die klassische und zeitgenössische Kunst verhindern. Dieses Verfahren deutet er als Fortschritt. Für Alte Musik tritt er ein, weil sich der zeitgenössische Geist, der nach wie vor Vorrang zu beanspruchen hat, über den Weg unterichten muß, den er in seiner Vergangenheit zurückgelegt hat. Noch deutlicher klärt der Anfang seines umfangreichen Zukunfts-Artikels vom Februar 1846, mit dem er den AufsatzZyklus „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper“ beendete [II,549], über seine Idee einer geschichtstheoretisch geschulten Kritik auf, die ihre Wertmaßstäbe dem Gesamtbild der Kunst und dem Stellenwert entnimmt, dem das Kunstwerk als Einzelkunstwerk darin zukomme: „Wie die Kritik sich heutzutage nicht mehr, so wie früher, auf Besprechung einzelner Werke beschränken kann, ohne den Zusammenhang derselben mit dem Entwicklungsgang der Kunst überhaupt zu erforschen,

5. Standortsbestimmung. Geschichtstheoretische Kritik

393

wie bei Beurtheilung einzelner Erscheinungen, wenn Principfragen in Anregung kommen, sich das Ungenügende zeigt, daß jene allgemeinen kunsthistorischen und philosophischen Fragen noch gar nicht erörtert sind, wie gerade der in diesen Blättern versuchte Fortschritt, das Ziel unseres Strebens, darin besteht, das Einzelne in seinem Zusammenhang mit dem Allgemeinen zu fassen, und der Tonkunst der Gegenwart jene ästhetische Basis, jene bewußte Orientierung zu geben, welche unserer Ansicht nach die wesentlichste Bedingung eines Fortschrittes ist, wie überhaupt die Kritik nicht mehr allein im Negativen verweilen darf, sondern sich selbst möglichst productiv gestalten muß, so habe ich … versucht, die Entwicklung der Oper … bis herab auf die Gegenwart zu verfolgen, die darin zur Erscheinung gekommenen Gesetze, die Wesenheit des gesammten Processes zu erkennen, und mir die Aufgabe gestellt, mit der Vergangenheit gewissermaßen Abrechnung zu halten(2). Damit ist die historische Kritik als dritter Standpunkt aus dem Zusammenfluß hegelianischer Geschichtsphilosophie und allgemeinem historischen Wertdenken jener Zeit festgestellt. Den Folgeleistenden blieb es vorbehalten, diese Art der Musikkritik zu aktualisieren, zum Teil auch zu banalisieren und zu verpolitisieren. Bereits am 12. September 1846 proklamierte Franz Brendel in der Reihe seiner polemischen Blätter „Aphorismen“ [II,577]: „Eine klare Orientirung über die verschiedenen Richtungen der Zeit und kräftiges Parteileben würde Kräftigung der Gesinnung überhaupt zur Folge haben. Diese aber ist der Tonkunst unserer Tage das Allerwesentlichste, sowohl auf dem Gebiet der Kritik, wie dem der Composition“(3). Sich einer Partei anzuschließen, wie Brendel es später fordert, heißt um diese Zeit noch nicht, ausschließlich Interessen für Künstler wahrzunehmen, die sich in Parteien zusammengefunden haben, sondern lediglich, sich für seine Kritik eines nachprüfbaren Standpunktes zu versichern und den zunächst auch nicht zu verlassen. Denn die Gefahren, die eine erhöhte Freiheit des Wortes mitbrachten, erkannte man sehr wohl, und es ist keineswegs zufällig, wenn die ersten großen Aufsätze über Musikkritik dieser Jahre zunächst eine Standortbestimmung des Kritikers aus dem Blickwinkel der neu gewonnenen Freiheit versuchen. Es geht dabei nicht zuletzt um das „Kritische Repertorium“ Hirschbachs, das kurz vor der Einstellung stand. Nach Meinung der besten Köpfe jener Zeit hatte Hirschbachs Entschiedenheit im Urteil zwar eine richtige Grundeinstellung vertreten, sei aber weit übers Ziel hinausgeschossen und habe damit das freie Wort mehr belastet als gefördert(4). Noch schärfer urteilt Julius Schäffer, an dessen fünfteiligem Grundlagenaufsatz „Ueber musikalische Recensionen“ [II,606] sich eine jahrelang anhaltende Kontroverse anschloß. Schäffer wendet sich gegen die überkommenen Praktiken der Musikkritiker, die doch „in der täglich mehr anschwellenden Sündfluth der musikalischen Literatur dem an der Uebersicht verzweifelnden Volke die rettenden Häfen ausfindig machen“ sollten, „wohin es sich flüchten kann“. Das erreiche der Rezensent nicht dadurch, daß er seinen persönlichen Sympathien und Antipathien Raum gebe; denn selbst wenn er zufällig recht haben sollte – „jene verzweifelte Lage und die alten traurigen Erfahrungen haben unsern kindlichen Glauben an die Recensionen für immer zerstört“(5). Das Geschäft des Kritikers könne somit kein anderes als das einer Charakterisierung des Künstlers sein.

394

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

Das sind nur einige der Thesen, die Brendel mit gutem Grund in seinem Blatt abdruckt, um sich anschließend generell mit ihnen einverstanden zu erklären oder sie in Einzelfällen zu widerlegen; denn die neue wissenschaftlich gegründete, historisch objektive Kritik bedingt und verträgt es gut, die alten, überlebten kritischen Methoden auf ihrem eigenen Altare zu opfern. Dagegen hat auch Brendel nichts, sofern nur die Kritik nicht als Prinzip angegriffen wird, was die Absicht Schäffers gewesen zu sein scheint. Wenn Schäffer erklärt, die „großen Heroen“ verdankten ihre Anerkennung nicht den Rezensenten, sondern der Geschichte, setzt Brendel eine energische Fußnote dazu: „Wir sagen: Nein! Und widersprechen aufs Bestimmteste“(6). Dieses höchste Prinzip der Kritik hat sich erst in dem Augenblick gebildet, in dem auch die Musik ihren höchsten Bildungen entgegen strebt. Für Brendel ist seine eigene Zeit der unbedingte künstlerische Höhepunkt der gesamten Musikgeschichte. Alles Bisherige läuft darauf zu. Über das, was danach kommen könnte, danach kommen muß, weil die Zeit weiter schreitet, ist Brendel zu sprechen verwehrt, weil er zu früh stirbt. Was er vorbereitend als dritten Standpunkt dachte, spricht Julius Schäffer direkt mit dem Begriff der ‚historischen Kritik‘ aus: „Man hat das sonst so gut zur Geltung gekommene historische Element in der musikalischen Recension fast ganz übersehen. Eine erschöpfende Recension muß allemal zugleich ein Stück Literaturgeschichte sein, weil sie unter anderm den Künstler in seinem Zusammenhange mit der musikalischen Welt betrachten muß – oder sie muß wenigstens ein Beitrag zur Specialgeschichte des Künstlers sein, dessen Persönlichkeit in ihrer Totalität eben nur aus der Gesammtheit seiner Leistungen gefunden werden kann. – Daß eine Recension in diesem Sinne aber auch unmittelbare Kritik und – wir setzen dreist hinzu – die einzig richtige ist, möchte Niemand leugnen, der unter Kritik nicht das subjective Urtheil eines Einzelnen versteht, sondern jenes Sichselbstrichten des Kunstwerkes, durch welches es entweder als Erscheinung einer einsamen, mithin unwahren Subjectivität auch einsam verkümmert, oder als allgemein in sich, auch zur allgemeinen Anerkennung gelangt. Nur durch jene Charakteristik der auftretenden Persönlichkeiten wird aber dem Volke selbst das Urtheil möglich gemacht, ob es sich mit dieser Persönlichkeit, als einer allgemein menschlichen, werde bereichern können, oder ob es dieselbe, als eine subjectiv wahnsinnige, sich selbst überlassen müsse. Wird dieser Weg eingeschlagen, so scheidet für die Recension alles Mittelmäßige, was nur Altes und das von Andern schon zum erschöpfenden Ausdruck Gebrachte giebt, völlig aus. Wo kein Charakter, keine Persönlichkeit, da kann der Recensent nur – schweigen: ein Verhalten, das beredter ist, als // tausend Worte“(7). Schäffers Ansicht bekräftigt Brendel unter Berufung auf Eduard Krügers Vorstellungen [II,611]. Zu diesem Zeitpunkt stimmen beide noch im Grundsätzlichen überein: “Wir müssen die Kunstentwicklung als ein großes Ganzes in ihrer inneren Gesetzmäßigkeit und Nothwendigkeit erfassen, und hieraus die Gegenwart und die hervorragenden Erscheinungen derselben begreifen; unsere Kritik muß in dem vom Vf. bezeichneten Sinne eine historische sein, und zugleich auf diese Weise eine objective Grundlage und einen wissenschaftlichen Hintergrund erhalten. Hat die Kritik diesen Punkt erreicht, so erhebt sie sich zur Selbstständigkeit, sie ist schöpferisch wie die Kunst, denn ihr Wesen ist das Schaffen im Reiche des Gedankens.

6. Hegel-Dämmerung

395

Zugleich tritt sie allen übrigen geistigen Bestrebungen der Zeit ebenbürtig auf, und widerlegt thatsächlich jene von Gegnern so oft gemachten Beschuldigungen, daß sie sich nicht aus dem Handwerksmäßigen herauszufinden wisse, und für draußen Stehende bedeutungslos sei“(8). Daß sich Brendel außer auf Schäffer und Krüger auch auf Ernst Kossak in Berlin berief, geschah nicht zufällig. Kossak war der Nachfolger Rellstabs, aber weltoffener und auch weniger eitel als dieser. Wie seine in Buchform erschienene und damals viel beachtete Würdigung Rellstabs beweist(9), stand er dem ehemals führenden Berliner Kritiker sehr kritisch gegenüber. Kossak, der in Berlin als Begründer des modernen deutschen musikkritischen Feuilletons gelten kann, verband gediegenes Fachwissen mit blitzend-ironischer Darstellungskraft und gemüthafter Schreibweise bei vorsichtigem Urteil. Neben Johann Philipp Schmidt war vor Tappert Kossak der einzige namhafte Berliner Musikkritiker, der sich in der berüchtigten Berliner Wagner-Kampagne an Wagners Seite stellte, wenn auch, um seine wirtschaftliche Position nicht zu gefährden, mit aller erdenklichen Vorsicht. (1) Franz Brendel: Polemische Blätter. Aphorismen, NZfM XXIV./2, 4.1.1846, S. 7a–8a; (2) Brendel: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper. III. Artikel, NZfM XXIV./15, 19.2.1846, S. 57a; (3) Brendel: Aphorismen, NZfM XXIV./21+22, 9.+12.9.1846, S. 83a–85a, 87a–89a, Z: 87a; (4) Brendel: Aphorismen, a. a. O. S. 87b; (5) Julius Schäffer: Ueber musikalische Recensionen, NZfM XXVI./19–21+23–24, 5., 8., 12., 19., 22.3.1847, S. 73a–75b, 77a–79b, 83a–85a, 91a–92b, 95a–96b, Z: 75a; (6) Schäffer, a. a. O. S. 75a; (7) Schäffer: Recensionen (1. Artikel), S. 77a–77b; (8) Brendel: Ueber musikalische Recensionen, NZfM 26./25–27, 36+38, 26.+29.3., 2.4., 3.+10.5.1847, S. 102b–104a, 106b–109a, 114a–116b, 153b–155a, 163a–164b, Z:104a; s. nächsten Abschnitt 6 (Hegel-Dämmerung); (9) Ernst Kossak: Aphorismen über Rellstab’s Kunstkritik, Berlin 1846; dazu: – r.: Aphorismen über Rellstab’s Kunstkritik, AmZ XLIX/51, 22.12.1847, Sp. 890–892.

6. HEGEL-DÄMMERUNG Es gab genügend Realisten, denen die immerwährende Betonung des Geistigen auch in der Musik zu viel wurde und die daran erinnerten, daß Kunst vor allem etwas mit Handwerk und zwar mit beherrschtem Handwerk zu tun hat. Kritiker wie Rochlitz, Marx, Weber, Fink, Schumann, Lobe oder Brendel setzten das natürlich voraus, auch wenn Brendel nach Hegelart auf den „Begriff“ dachte, den er im Vollzug der Kritik zu finden hoffte; aber die Gefahr bestand für die im Kunstbereich vielfach tonangebenden Inhalts- und Gefühls-Schwärmer dennoch. In diesem Zusammenhang ist ein ziemlich umfangreicher Aufsatz bemerkenswert, der 1830 unter dem Titel „Ueber das Handwerk in der Kunst“ [II,265] in der Marxschen Zeitung erschien(1). J. G. Kaestner fragt, was denn Kunst sei. Natürlich eine Idee, schreibt er, und natürlich sei sie damit etwas Geistiges; aber die Idee müsse verwirklicht werden, und das habe etwas mit äußerem Stoff, mit Handwerk zu tun, dessen verschiedenen Ausprägungen Kaestner nachgeht.

396

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

Hegel selbst gerät in die Kritik. Die Hegelianischen „Constructionen a priori sind eine Täuschung, wie dies an dem Hauptrepräsentanten derselben: der Hegel’schen Logik, längst nachgewiesen ist“(2) [II,656]. Krügers Aufsatz „Ueber der Zeit“ ist eine Mischung aus Ewigkeitsglauben und, was die Forderungen der eigenen Zeit angeht, Skeptizismus(3) [II,735]. Es ergibt einen Sinn, ihn in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ und nicht in der Brendelschen Zeitung veröffentlicht zu sehen, wo er unangebracht gewesen wäre. Das religiöse Moment ist ganz stark ausgeprägt, und der Skeptizismus bezieht sich auf literarische Forderungen, in die Kunst demokratische Elemente einfließen zu lassen. Krüger fragt, wie die aussehen sollen. „Wozu politische Categorien in die Musik einkeilen, die doch keine Mauer bauen zur festen Burg ewiger Schönheit?“ Er selbst zählt sich zu den „Freunden constitutioneller Fehlgeburten“(4), die sehr wohl unter den Demokraten die „Glasköpfe“ und die „Holzköpfe“ zu unterscheiden wüßten. Die Glasköpfe sind durchsichtig, weil sie kein Hirn enthalten, und die Holzköpfe „sind das Widerspiel der Glasköpfe und nach stabilen philosophischen Principien mit jenen innigst polarisch verbunden“(5). Ideen der Neuzeit auszusprechen, sei eine Forderung, die man sich von der Schar unkünstlerischer Gemüter hersagen lassen müsse. „Wer sich durch Vorspiegelung demokratischer Musiken in Ständekammern einzukaufen hofft, hat damit sein Sitz- und Stimmrecht in den Reihen gottbegnadeter Künstler schon aufgegeben.“ Krügers ständige Verherrlichung der „ewigen Schönheit“ wird ihn mit Brendel entzweien, weil ausgerechnet Krüger nicht bereit ist, die historische Betrachtung als maßgebliches kritisches Element gelten zu lassen. Krügers Artikel „Wissenschaftliche Gespenster“ erschien in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ und war vor allem gegen die Berliner Sophistik gerichtet(6) [II,760]. Seit etwa zehn Jahren, da die Hegelsche Philosophie angefangen habe, ‚welk‘ zu werden, habe man die wissenschaftlichen Ergebnisse von Hegels schwierigem System auf die Kunstkritik übertragen und sei nicht über das Denken in Gegensätzen hinweg gekommen. Hegels letztes Ziel sei aber die Bejahung gewesen. Krüger bezichtigt diejenigen, die nur in Gegensätzen zu denken vermöchten, des Halbwissens. Was sich zu bekämpfen scheine, seien in Wirklichkeit Teile desselben Gegenstandes, zwei Äußerungen derselben geistigen Bewegung. „Rationalismus und Mysticismus bekämpfen sich noch immer in der musikalischen Kritik, während sie draußen längst der höheren Einheit der Vernunft unterlegen sind. Blos Rechnen, blos fühlen – hilft beides nicht“(7). Krüger steht im System und kennt dessen Schwächen. Er überprüft Hegels Ästhetik und findet die Widersprüche, die wirkliche Widersprüche und nicht vom System als Thesis, Antithesis und Synthesis abgeleitet sind. Krüger ist Hegelianer, aber auch überzeugter evangelischer Christ: „‚Dem Verstande ist es unmöglich, die Schönheit zu erfassen, … weil das Schöne in sich selber unendlich ist und frei.‘ (Heg. Aesth. 1,144.) ‚Eine Beschreibung von dem was dichterisch sei, zu geben, ist – – höchst schwierig. Glücklicherweise können wir dieser Schwierigkeit ausweichen, da wir aus dem Begriffe die Realität entwickelt haben, – – und das Schöne, und das Ideal überhaupt im ersten Theile zum Bewußtsein gebracht.‘ (Heg. Aesth. 3,236.) – Dort aber ist wiederum für den Fall der Einzelkritik auf spätere concrete Erläuterungen hingewiesen! – Freilich heißt es fernerhin auch: ‚Aus dem Bereiche der Kunst sind die dunklen Mächte zu ver-

6. Hegel-Dämmerung

397

bannen, denn in ihr ist nichts dunkel, sondern Alles klar und durchsichtig‘ (Heg. Aesth. 1,311.) – Jawohl! Eben so sagt auch derselbe Hegel: ‚Die offenbare Religion ist dieses, offenbar und klar zu sein und ohne Rückhalt;‘ ferner: ‚Der Gedanke ist klar;‘ und so fort ist Alles in der Welt klar geworden – außer Hegels Philosophie selber“(8). Die Kritik Krügers an Hegel wird von Abschnitt zu Abschnitt schärfer. Krüger benutzt den Rhythmus-Begriff mystisch, wenn er vom Ur-Rhythmus spricht. „Jener Irrthum rührt leider von Hegel her, der Rhythmus und Symmetrie so sehr für blos verständig rationale Potenzen erkannte, daß er eben daran seinen Angriff gegen die ‚gedankenlose‘ Tonkunst zu knüpfen wußte“(9). Als weitere von Krüger bestrittene Gegensätze führt er an: „‚Alt und Neu, – Philosophisch und Historisch, – Mit der Vergangenheit brechen oder sie ehren, Demokratisch und Aristokratisch‘ und dergl.“ Krüger wehrt sich gegen einen kritischen Topos, einem Künstler „gutes Streben“ zuzuerkennen. In der Kunst zähle nicht, wohin jemand strebe, sondern was er tatsächlich geleistet habe. „Die Kunst fragt nicht: ‚was will er‘ sondern: ‚was kann er?‘“(10) Krüger zählt die Frage nach der Originalität, da es eigentlich Neuheit heißen müßte (was man viel später als Folge einer Materialerschöpfung darstellte), zu den schlimmsten Redensarten. Sie sei jetzt aus der Mode gekommen und gehöre dem vorigen Jahrhundert an (was nicht richtig ist). Hier ist endgültig der Punkt erreicht, von dem aus Krüger und Brendel andere Wege verfolgen. „Das Wissen tödtet die Gestalt, das Bewußtsein zerwittert das Leben“(11). Krüger geht von Voraussetzungen aus, die Brendel und seine Zeit nicht mehr anerkennen können. Krüger glaubte, auch in seiner Zeit könnte ein genialer Komponist Werke im Stile Mozarts schreiben und damit im Sinne des ewig Schönen Erfolg haben. Brendel dagegen erkannte, daß Stilmittel historisch einzugrenzen sind und des Künstlers Weiterleben von seiner Originalität abhängt. Am Ende seines Aufsatzes wird Krüger fast schon pathetisch: „Wer sich getroffen fühlt, den habe ich gemeint. Allen Gleichstrebenden, die in Demuth das Unendliche suchen, den alten freundbürgerlichen Gruß.“ Krüger meint die Hegelianische Linke(12) [II,765; IV,1393]. Man wolle ein neues Zeitgemäßes hervorrufen und den Bestrebungen, die im letzten Jahrzehnt „von der Hegelschen Linken in unsere Kunst eingedrängt sind, einen besseren Grund und festeres Ziel“ geben. Es sei Pflicht, „den kritischen Gespenstern auf den Leib zu gehen“, um zu sehen, „was sie Lebensfähiges bringen mögen“. Bei Bührlen konnte man schon 1826 und gewiß mit Zielrichtung Hegel nachlesen: „Es giebt Idealisten, die man Idioten(13) nennen möchte. Wenn sie sich einmal ihr System gemacht, ihre innere Welt dahin untergebracht haben, so befassen sie sich gar nicht mehr mit dem Realen… . Sie … mögen sich nicht von lebendiger Gegenwart nähren, ihre starre Meynung an frischem Daseyn berichtigen“(14) [II,159]. Ende 1848 wird auch in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ für die eingerissene nebulose Kritikersprache Hegel die Schuld gegeben. „Das Nebeln und Schwebeln in mystisch-philosophischen Floskeln, hinter denen kein deutlicher Sinn zu finden, war zu allen Zeiten vorhanden, hat sich aber erst in neuester Zeit, nach der Erscheinung Hegel’s , auch in der musikalischen Literatur eingefunden.“ Es verblüffe viele Leser, so daß sie „Einen, der so zu schreiben versteht, dass er nicht verstanden werden kann, nicht für einen unklaren, sondern für einen überlegenen

398

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

Geist und tiefen Denker halten“(15) [II,679]. „Besonders arg wirtschaften solche tiefe Geister mit allgemeinen Sätzen, weil sie dazu die in’s Einzelne gehenden gründlichen Kenntnisse nicht nöthig zu haben glauben“(16) [II,682]. Ein anonym gehaltener Artikel im „Echo“, der von Ernst Kossak stammen dürfte, spricht „Vom kritischen Rotwälsch“(17) [II,766]. Es handelt sich um eine Untersuchung über kritische Floskeln, die nichtssagend sind, hochtrabend, unzutreffend und nicht durchdacht und beschreibt Kritiker mit einem überhöhten Selbstbewußtsein, „welche eine ungeheure Anschauung von sich selber im Busen tragen und glauben, daß die ganze Kunst nur um ihretwegen da sei.“ Kossak war neben Lange und Geyer maßgeblich an der Ausarbeitung der kritischen Richtlinien der „Neuen Berliner Musikzeitung“ beteiligt. Sie vertrat eine Prinzipienkritik bei gemäßigtem Fortschritt und verwahrte sich gegen Zeitgenossen, die allzu subjektiv ihre nur im persönlichen Geschmack begründeten Urteile sprachen und damit das Schlimmste taten, was ein Musikkritiker auch nach Meinung der „Neuen Zeitschrift für Musik“ tun konnte: nämlich das Publikum zu bevormunden und damit die Kritik als solche in Mißkredit zu bringen. (1) J. G. Kaestner: Ueber das Handwerk in der Kunst, BamZ VII/38, 18.9.1830, S. 297a–300a; (2) O. Lindner, Beiträge zur Kunstwissenschaft, NZfM XXVIII./26, 28.3.1848, S. 155a–b (153a– 155b); (3) NBMz III/43, 24.10.1849, S. 337a–338b; (4) Krüger, a. a. O. S. 337b; (5) Krüger, a. a. O. S. 238a; (6) Krüger, NZfM XXXIII./39, 12.12.1850, S. 209a–212b; (7) Krüger, a. a. O. S. 209b; (8) Krüger, a. a. O. S. 210a; (9) Krüger, a. a. O. S. 210b; (10) Krüger, a. a. O. S. 211a; (11) Krüger, a. a. O. S. 212a; (12) Krüger: Zeitsinniges, NZfM XXXV./4, 25.7.1851, S.29a–b; (13) Vermutlich leitete Bührlen an dieser Stelle den Begriff nicht aus dem Lateinischen, sondern aus dem Griechischen ab, wo er Privatmann bedeutet, der sich als eine Art von Eigenbrötler nur um seine Angelegenheiten kümmert und für anderes nicht zu gewinnen ist. Die Griechen sahen im selbstbezogenen Idioten geradezu einen Staatsfeind, dem die Ausweisung drohte. Am Ende seines Abschnitts nennt Bührlen sie „Käuze“; (14) Mancherley, in Beziehung auf Musik und verwandte Kunst, AmZ XXVII/29, 19.7.1826, Sp. 479; (15) AmZ L/39, 27.9.1848, Sp. 638; (16) AmZ L/40, 4.10.1848, Sp. 655–656, Z:655; (17) Echo I/38+43, 21.9. + 26.10.1851, S. 289–290, 329–330.

7. Der Prinzipienstreit Schäffer – Brendel – Krüger – Dörffel

399

7. DER PRINZIPIENSTREIT SCHÄFFER – BRENDEL – KRÜGER – DÖRFFEL a) Die Schäffer-Thesen Der Streit über Sinn und Handhabung der Musikkritik, der jetzt zwischen Julius Schäffer und Franz Brendel in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ entbrannte und in den sich auch Eduard Krüger und Alfred Dörffel einschalteten, ist der wohl ausführlichste und wichtigste Prinzipienstreit gewesen, der im 19. Jahrhundert über Musikkritik geführt wurde. Schäffer war ein Hallensischer Komponist, dessen Ansichten über Musikkritik und Musikkritiker die denkbar schlechtesten waren und der das in einem fünfteiligen Aufsatz „Ueber musikalische Recensionen“ [II,606] auch unumwunden und teilweise ziemlich drastisch aussprach(1), um sich dann durch Brendel in die Opposition gedrängt zu sehen. Schäffer behauptete rundweg, die Musikkritiker taugten ohne Ausnahme allesamt nichts, sie hätten noch nie etwas getaugt, überhaupt nichts zur Bildung der Geschichte beigetragen, und ihre stets subjektiv gefärbten Wertungen seien lächerlich, uninteressant und darüber hinaus auch verantwortungslos. Fast möchte man meinen, Schäffer habe schlechte persönliche Erfahrungen gemacht. Brendel druckte den Aufsatz 1847, schon vorab mit eigenen Kommentaren durchsetzt, über fünf Nummern hinweg ab, um ihn in ebenfalls fünf Nummern möglichst zu widerlegen. b) Brendels Erwiderung Natürlich beruft sich Brendel in seiner eigenen Darstellung, die unter demselben Obertitel und gewiß mit Hintersinn ebenfalls fünfteilig ausfällt und mit größeren Zwischenabständen erscheint (schließlich muß er geschrieben werden)(2) [II,611], wie bei ihm selbstverständlich wieder auf den Entwicklungsgang der Tonkunst, die eben erst ihren Höhepunkt erreicht habe und deshalb auch noch keine Kritiker von Format stellen könne, weil sich Kritik – Brendel bezieht sich auf frühere Aufsätze – immer in der Nachfolge der praktischen Musik befinde und sich jetzt erst so weit emanzipiere, daß sie als eigenständige Wissenschaft auftreten könne und dabei die Bestimmung erhalte, „entschieden einzugreifen, dem Schlendrian und durch langjährige Befolgung geheiligten übeln Gewohnheiten entgegenzutreten, und immer mehr eine feste Selbstständigkeit zu behaupten“(3). Nur die Verkennung des historischen Entwicklungsganges der Kritik und die Ungerechtigkeit gegen deren erste Anfänge würden zu solchen Urteilen wie denjenigen Schäffers führen(4). Nach Brendel hat der Kritiker „das Bestehende zu vertreten, das Höchste, was bis dahin geleistet, als Maßstab festzuhalten, und das Neue daran zu messen“(5). Deshalb darf der Kritiker auch nicht jeder Neuerung einfach zustimmen, sondern erst dann, wenn sie begründet ist, weil er sonst in einen haltlosen Taumel gerate(6). „Damit läugne ich keineswegs, daß sie auch productiv dem Neuen Bahn zu brechen vermag; im Gegentheil ich erkenne darin die höchsten Lebensäußerungen derselben. Aber sie ist gleichfalls im Recht, wenn sie die frühere Errungenschaft vertheidigt, und sich

400

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

nicht eher für überwunden bekennt, als // das Neue sich nicht als ein größeres bethätigt hat“(6). Einen weiteren Vorwurf Schäffers, es gebe immer Komponisten, die sich um die Kritik überhaupt nicht kümmerten, fängt Brendel mit dem Hinweis ab, „daß jene Künstler nicht bloß von der musikalischen, sondern von der gesamten Presse sich abwenden, und an den Regungen der Zeit überhaupt nicht Theil nehmen, ja wohl in Opposition zu ihnen stehen“(7). „Die Lebendigkeit und Frische ist auf Seiten der Presse, Starrheit und Unlebendigkeit auf der anderen, – das Umgekehrte demnach von dem, was unser Verf. behauptet, muß ich als das Wahre bezeichnen. Es ist die Abneigung gegen freiere Bewegung, die Abneigung gegen die wachsende Macht der öffentlichen Meinung, Abneigung gegen die republikanische Selbstständigkeit der Geister, welche den früheren Autoritätsglauben beseitigt hat, Abneigung gegen das Princip der Neuzeit überhaupt bei einzelnen Tonkünstlern, die dann zugleich auch die musikalische Presse trifft“(7). Schließlich heißt es noch: „Der Mangel eines einigenden wissenschaftlichen Bo- // dens, der Umstand, daß in bezug auf Tonkunst immer noch Standpunkte sich geltend machen, welche im allgemeinen Leben gänzlich überwunden sind, die Polemik, die von solchen aus gegen längst abgemachte Sachen erhoben wird, alle diese Ursachen führen eine Urtheilsverschiedenheit herbei, wie sie, meinem Dafürhalten nach, auf anderen Gebieten gar nicht vorkommt“(8). Brendel versteht unter Prinzipienkritik die Einhaltung eines sogenannten ‚festen Standpunktes‘, auf dem der Kritiker zu stehen und von dem aus er zu urteilen hat, um selbst beurteilt werden zu können, ob er einen modernen oder einen überalterten Standpunkt vertritt, der sich aus der Zeitmeinung als modern oder überaltert ableitet. Damit erhält die Musikkritik ein weniger beschwerliches Gewicht, weil der ungünstig besprochene Künstler sich mit dem richtigen Argument trösten kann, der Standpunkt des Kritikers entspreche nicht den Voraussetzungen seines Kunstwerkes. Über das, was man unter gültiger Zeitmeinung zu verstehen hatte, waren neue Streitigkeiten voraussehbar; denn die Legitimation der Zeitmeinung muß bestimmt werden, weil sonst ihre Kriterien nicht als die Beurteilungskriterien für Kunstwerke Gültigkeit erlangen können. Für Brendel ist das der wissenschaftlich nachweisbare Fortschritt von Kunstwerk zu Kunstwerk, der sich ohne Ende ins Grenzenlose hinein weiter bewegen müßte; für Langes Fortschrittsvorstellung könnte es der stilistische Rückschritt in die Vergangenheit sein. Geht der Fortschritt mit veränderten stilistischen Mitteln einher, müßte der Fortschritt Ausdruck von etwas Neuem sein, das es bis dahin noch nicht oder nicht in dieser Form gegeben hat. Es erklärt jedenfalls, warum das Schlagwort vom ‚überwundenen‘ Standpunkt zu einer Art Zauberformel werden konnte und warum sich die Kritik nun schon gegen die eingenommenen Vorab-Positionen und vorrangig nicht mehr gegen die Werke richtet, die aus den Positionen abgeleitet werden. c) Der Fall Krüger. Utopien und Einlassungen. Verlust als Konsequenz Wieder war es der Scharfsinn Eduard Krügers, der den wunden Punkt in der Auseinandersetzung erkannte und mit einem luftig-fröhlichen, so als ob er die Sache

7. Der Prinzipienstreit Schäffer – Brendel – Krüger – Dörffel

401

nicht so ganz wichtig nähme, „Maigruß an die tonkünstlerischen Sommervögel“(9) [II,618] benannte. Seine eigene Lösung war aber noch fragwürdiger: „Im Uebrigen giebt es kein absolutes Kriterium der Wahrheit, wie Jeder weiß, der über den gemeinen Menschenverstand hinausgekommen ist. Neulich ist als Maß aller Kritik die Forderung aufgestellt, jedes Mal nach dem historischen Verhältniß zur Zeit, oder nach der Stellung zur Gegenwart zu forschen. Nicht übel, doch einseitig gedacht. Wenn z. B. Jemand heute im Style Mozart’s etwas wahrhaft Schönes erschaffen hätte, das wäre Alles nichts, sobald er die Linie – welche? wo ist sie? – die neuconstituirte mathematische Linie nicht erreicht hätte? – Oder wenn ein indisches Volkslied in unsere Gauen dränge voll alter Paradiesessüße – ‚ weg, weg mit dem, es erfüllt nicht die Zeit, es gehört einem Standpunkt an, dem wir nicht angehören?!‘ Das wäre mir ein sauberer Standpunkt, auf dem sich die Glasköpfe gar behaglich so lange tummeln würden, bis sie alle in Scherben zer- // sprängen. Die Geschichte in Ehren, aber die Schönheit ist noch mehr! Was hilft denn alle Gelehrsamkeit, wenn sie nicht endlich dem Herzen Frieden giebt?“(10). Krüger beschwört eine Utopie. Die Erfahrung mit der Musik sowohl des 19. wie des 20. Jahrhunderts, deren Produkte anders als im Bereich der Malerei in der Wertvorstellung nicht kommerziell mitgewogen werden, hat gezeigt, daß noch so gut gemachte Stilkopien keinen Bestand außer als Kuriositäten (und allenfalls als Nebenprodukte anerkannter Zeitgrößen) haben, und Krügers Beispiel vom außereuropäischen Lied dürfte für viele nicht überzeugend sein. Übernahmen bedingen in der Tat einen geistig vorbereiteten Boden. Jeder Sender ist nutzlos, so lange er nicht auf einen Empfänger mit derselben Wellenlänge trifft. Das meint aber Brendel. Und Schönheit, Krügers Hilfsbegriff, ist geschmacksbedingt. Krüger muß sich von seinen Kritikern vorhalten lassen, weit entfernt vom kulturellen Leben in Emden zu wohnen und die neue Zeit nicht mitbekommen zu haben. Das ist möglicherweise nicht ganz unrichtig gesehen; denn wenige Jahre später verläßt er seine moderne Linie, was ihm allerhand böse Kommentare einbringt. Er gehört zu jenen alten Mitarbeitern der „Neuen Zeitschrift für Musik“, die den neuen Geist nicht anerkennen wollen, weil sie Schumann verpflichtet sind und daher mit Wagner nicht zurechtkommen. Krüger geht in die Opposition und sieht sich als Mitarbeiter in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ wieder, ein Ort, an den er ganz zuletzt hingehörte. Für Brendel war der Verlust Krügers als Streiter in derselben Sache herb, doch hatte er sich keinen Feind erworben und keinen Mitarbeiter verloren. Brendel wird sich von dem Vorgang auch persönlich betroffen zeigen. Zuviel hatte die beiden Männer miteinander verbunden, als daß er über die Auseinandersetzung, die kein eigentlicher Bruch war, mit einem Achselzucken hätte hinweggehen können. Brendel wird es dann auch sein, der den Schritt Krügers mit seinem Leben in der Provinz zu erklären sucht. Es ist zu einfach. Krüger ist seiner Zeit trotz seiner Wagnerverkennung im informativen Bereich weit voraus gewesen, als er aussprach, daß es auf gute oder böse Kritiken, wie immer man sie definiert, weniger ankommt als auf die Anzahl, mit der sie auftreten, auf den Raum, den sie einnehmen und damit auf die Präsentation, die sie dem Besprochenen bietet(11): „die Kritik ist ein Gespräch zwischen dem Publicum und dem Autor“ sagt er, und dies Gespräch kann ausfallen, wie immer es will: entscheidend ist nur, daß es wichtig genug war, um überhaupt statt zu finden(11). Der ‚Fall‘ Krüger

402

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

nimmt schon die Opposition gegen Brendels kritische Methode auf, andere sollten sich bald anschließen. Der Vorwurf, so harmlos er erscheint und so sachlich falsch er sein mag, ist schwer zu widerlegen; doch erschüttert er den Anspruch einer auf Modernität gerichteten Musikkritik, will man ihn nicht bloß als Zeugnis einer um 1847 für viele noch ungewohnten Methode deuten. Krüger nennt das Thema „kitzlig“ und hält sich nicht allzulange bei ihm auf. Unausgeräumt bleibt es auch, zumal gerade Krüger die Standpunkts-Prinzipien-Fragen virtuos handhabt und mit ihnen fast artistisch spielt(11). d) Schäffers 2. Artikel. Differenzierungen. Fach- und Tageskritik Jetzt ist es wieder Julius Schäffer, der eine überraschende Wendung vornimmt. Er bringt eine zu dieser Zeit zwar bekannte, aber nicht durchformulierte Unterscheidung zweier prinzipieller kritischer Verhaltensweisen ins Spiel, um sich gleicherweise vor Brendel und vor Krüger zu retten. In seinem zweiten, unter derselben Überschrift stehenden Artikel(12) [II, 622] unterscheidet er nicht nur zwischen gutem und schlechtem Kritiker, sondern zwischen einer Kritik, die er ‚wissenschaftliche Kritik‘ nennt, und einer, die er ‚Tages-Kritik‘ genannt wissen will(13). Beide verhalten sich nach Schäffer zueinander wie Geschichtsschreibung und politischer Journalismus, obwohl sich beide auf dieselben Grundlagen berufen. „Wir sind darüber einig, daß jede Kritik eine historische Grundlage haben, daß sie sich in Verbindung mit dem Gesammtbewußtsein der Zeit erhalten muß“(13). Aber obwohl sie von denselben Voraussetzungen ausgehen, wird sie nach Schäffer kein vernünftiger Mensch mit demselben Maßstab messen: „Man kann unsere Historiker denen jeder anderen Nation ebenbürtig finden und gleichzeitig über unsere Publicisten betrübt die Achseln zucken, ohne sich dabei in einen Widerspruch mit sich selbst zu verwikkeln: dieses Recht nehme ich für meinen ersten Aufsatz durchaus in Anspruch“(13). Mit Brendel(14) [II, 637] ist sich Schäffer einig, daß echte Musikkritik erst nach Abschluß einer Kunstepoche möglich sei. Die eigentliche wissenschaftliche Kritik kann erst dann greifen, wenn der zu betrachtende Gegenstand keine Augenblicksbedeutung mehr besitzt(14). Die Kritik als Institution wird in eine Rezensententätigkeit und in das aufgeteilt, was wir heute Musikwissenschaft nennen. Insbesondere Stilkunde und Werkanalyse dürften unmittelbar aus der damals erörterten musikkritischen Situation hervorgegangen sein. Der aktive Musikkritiker war nach dieser Überzeugung zur wissenschaftlichen Betätigung zunächst nur zu dem einen Zweck angehalten, im Sinne des Brendelschen dritten Standpunktes der historisch-wissenschaftlichen Methode aus dem Studium der Geschichte und der systematischen Analysen anerkannter Kunstwerke in Verbindung mit dem Zeitwillen für seine tägliche Rezensententätigkeit tragbare Wertmaßstäbe zu gewinnen. Es war zweckbedingte oder angewandte Musikwissenschaft, und die größeren Artikel insbesondere in der weit weniger philosophisch ausgerichteten „Neuen Berliner Musikzeitung“ sind Leitartikel, die durch Grundlagenuntersuchungen strittige kritische Probleme lösen wollten. Überhaupt entsteht erst um diese Zeit das, was wir heute Leitartikel

7. Der Prinzipienstreit Schäffer – Brendel – Krüger – Dörffel

403

nennen; denn auch der Leitartikel ist in Nachahmung der Leitartikelpraxis der politischen Zeitungen eine Erfindung der revolutionären vierziger Jahre gewesen. Nach einhelliger Überzeugung sowohl der Berliner wie der Leipziger Zeitungsmacher sollen die Grundlagenuntersuchungen zwischen den Gegenständen und Gegensätzen der wissenschaftlichen und der Tageskritik vermitteln: „Sie versuchen das Material schon zu ordnen, wenden darauf allgemeine Gesichtspunkte an, sie versuchen die Kritik, die, wie Sie nach meiner Überzeugung sehr richtig ausführen, erst nach dem Abschluß einer Kunstepoche im wahren Sinne möglich ist. Sie sind ein glänzender Beweis des Bedürfnisses und Strebens unserer Zeit, auch die Gegenwart mit ihren Keimen der Zukunft schon principiell zu erfassen, zu begreifen, das Vereinzelte sofort nach seinem Entstehen in Zusammenhang zu bringen, in den Gang der Entwicklung einzugreifen, nicht blos demselben philosophisch zuzusehen. In ihnen hält sich also wissenschaftliches und praktisches Streben im Gleichgewicht, während in den ersterwähnten Formen der Kritik eines dieser Momente entschieden das Übergewicht hat“ heißt es bei Schäffer(15). Brendel wie Lange äußern sich ähnlich(16). Die Schäffersche Aufteilung entspricht der Forderung Brendels, Musikkritik dürfe nicht als Selbstzweck mit dem Ziel der besten aller möglichen Rezensionen verstanden werden. Gemeint ist, ein Blatt, das einer Richtung folgt, darf um der Selbsterhaltung willen nicht alles drucken, was wünschenswert wäre und den Tatsachen entspricht. Schäffer nennt das ‚praktisch‘. Gegen den Vorwurf, einseitig ideelI und ohne Rücksicht auf praktische Verfahrensfragen seine Thesen entwickelt zu haben, wehrt er sich mit spürbarer Empfindlichkeit. Ohnehin gewinnt die sachlich zu verstehende Auseinandersetzung in Streitform zunehmend auch an Schärfe im Ton. Gerade er, so meint er, habe das Wirtschaftliche am Blatt keineswegs aus den Augen verloren. So stellt er schließlich seine kritischen Gesichtspunkte zur Situation der Zeit in zwei Voten zusammen: „1. Die Tageskritik, die Recensionen haben als ihre nächste und darum bedeutendste Aufgabe, die Leistungen der Gegenwart mit dem Publicum zu vermitteln, diesem die Uebersicht zu geben, die es sich aus Mangel an Zeit, Lust, leichter Auffassungsgabe und sicherer Geschmacksbildung bei der Ueberfluthung des Marktes mit neuen Productionen nicht selbst geben will und kann. Lediglich diesem praktischen Bedürfnisse verdanken alle Zeitschriften ihre Existenz, und es ist die Pflicht und Schuldigkeit der letzteren, vor allem diesem praktischen Anspruche zu genügen. Beiläufig mögen sie höhere und meinetwegen die höchsten Zwecke verfolgen, mögen auch in einiger Selbstüberhebung ein solches Streben für ihr bestes Theil halten – das Publicum verlangt für sein gutes Geld nun einmal mit dem vollsten Rechte die größte Rücksicht auf jenes sein Bedürfniß, und fordert daher gerade in der Tageskritik besonderen Fleiß, besondere Gewissenhaftigkeit. / 2. Diesem Bedürfniß wird nicht genügt. Dem Publicum wird durch absprechende, factisch meist gar nicht motivirte Urtheile die Uebersicht nur verwirrt: aus den Recensionen erfährt es meist sehr viele Dinge, die es nicht interessiren, also besonders jene Pabsturtheile der Recensenten, selten das, was es sucht, nämlich eine materielle Angabe dessen, was die Autoren bieten. Die meisten Recensenten geben sich augenscheinlich keine Mühe, gerade dieser Forderung zu entsprechen, sie schreiben, als ob jenes Bedürfniß gar nicht vorhanden, als ob sie

404

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

sich nicht darum, sondern nur um sich selbst zu kümmern hätten. Es versteht sich, daß ich manche rühmliche Ausnahme statuire, und besonders das bessere Streben Ihrer Zeitschrift gebührend anerkenne, habe aber nicht zuviel behauptet, wenn ich sagte, unsere moderne Tageskritik laborire an einem Hauptfehler im Allgemeinen, nämlich der Unbekanntschaft der Recensenten mit ihrem Geschäfte. Dies ist eine kategorische Behauptung von mir, der sie keine gleich kategorische gegenübergestellt haben, wozu ich Sie hiermit aufgefordert haben will“(17). Unter einem dritten Punkt beruft sich Schäffer auf mögliche Abwehrmittel, die er nicht eigens bekannt macht, so daß man nicht genau erfährt, was er meint(18). Wie eine richtige Rezension aussehen soll, zeigt er mit seinen eigenen Kritiken. Die überraschen, weil das, was er betreibt und was er vorschlägt, auf eine wertungsfreie Information hinausläuft, die mit keinem Satz von einer verständlichen Darstellung im Augenblick gesicherter künstlerischer Tatbestände abweicht. Deren Bewertung bleibt dem Leser überlassen. Das Verhältnis Leser-Kritiker hat nicht immer eine bewußt wahrgenommene Rolle gespielt. Nach der Vorstellung Brendels solle der Kritiker seinen Standpunkt einnehmen und von seinem Standpunkt aus urteilen, und der Leser seinerseits feststellen, ob der Standpunkt des Kritikers mit seinen eigenen Vorgaben übereinstimmt. Schäffer dagegen wies das mit dem Hinweis zurück, eine solche Technik überfordere den Leser, der mangels Kenntnissen im Einzelnen gar nicht in der Lage sei, diese Unterscheidung zu treffen. Er läse ja schließlich die Kritik, um aus ihr zu erfahren, ob er dieses oder jenes Stück kaufen oder nicht kaufen solle. Der Leser wolle über das Kunstwerk informiert werden, sonst nichts, und er werde überfordert, wenn man von ihm verlange, auch noch Standpunktsuntersuchungen vorzunehmen, um gewissermaßen eine Kritik über die Kritik abgeben zu können(19). Daher forderte Schäffer eine unbedingt wertungsfreie Darstellung des Kunstwerks, zumal die endgültige wissenschaftliche Wertung auch der historischen Konzeption am lebenden Objekt ohnehin nicht möglich sei, sondern einer späteren Zeit überlassen bleiben müsse. Er selbst hält sich für zu schade, im Tagesstreit eine Rolle zu spielen. Julius Schäffers große Lohengrin-Rezension von 1852 beispielsweise ist eine der wenigen raumgreifenden Kritiken über Wagner, die nur Sachverhalte beschreiben. Es wird weder gewertet noch abgewertet, sondern allein Wagners Oper vorgestellt und mit seiner, Wagners, Schrift darüber verglichen. Was der Leser daraus macht, ist dessen Sache. Diese Kritik wurde zweiteilig mit mehreren Fortsetzungen überwiegend sogar als Kopfartikel und einer Berichtigung in den Monaten Mai bis Juli in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ veröffentlicht [IV,1597; IV,1610; IV,1613; IV,1615, IV,1634; IV,1642; IV,1648; IV,1656] und bildet in dem überwiegend wagnerfeindlichen Blatt so etwas wie ein Unikum(20). Referieren statt Kritisieren bedeutete für Schäffer die Lösung des kritischen Problems überhaupt. Referieren läßt nur den Fachmann zu Wort kommen, der Tatbestände analytisch ermitteln kann und damit von selbst den viel zitierten pseudo-kritischen Schwätzer mit seiner Privatmeinung verdrängt. Eben weil der Leser Geschmack, Bildung, Selbstständigkeit mitbringen müsse, ist Schäffer die alte Rezensiermethode verdächtig geworden. Sie hat sich überlebt. Solle sich der Leser aber selbst beteiligen, müsse man ihm die Beteiligung möglich machen und dies sei nur mit

7. Der Prinzipienstreit Schäffer – Brendel – Krüger – Dörffel

405

einem nüchternen Referat über das jeweils anstehende Kunstwerk möglich(21). Als politisch motivierte ‚Kunstbeschreibung‘ wird das Verfahren mit all seinen Nachteilen knapp ein Jahrhundert später von Staats wegen vorgeschrieben werden. Er habe, so heißt es an einer anderen Stelle, niemals aus einem Tageskritiker einen Lessing machen wollen, wohl müsse man jeder Rezension entnehmen können, daß „es kritische Wissenschaft“ gebe(22). Mit einem absprechenden Urteile sei niemandem gedient. Deshalb verlange er von jedem Kritiker die „Fähigkeit, sich wenigstens bis auf einen gewissen Punkt die Motive seiner Eindrücke klar zu machen und sich darüber auszusprechen“. Dies geschieht nach Schäffer in dem verlangten Referate, „wo durchaus nichts Objectives geboten werden kann, wo aber der Recensent die Motive seines Urtheils, wie er sie aus dem Kunstwerke entnommen, darzulegen hat“. „Das Referat soll Bürgschaft dafür gewähren, daß er sich mit Ernst und Liebe an das neue Product gewendet, sich hineinzuleben versucht hat – kurz, ich bin der Ansicht, daß jedes Urtheil vorgelegt werden muß, wie es entstanden ist, in seiner Entwicklung – das führt von selbst auf eine Reproduction des musikalischen Werks in dem Material der Sprache, und das ist es, was ich deutlich genug unter dem Referate verstehe. Wer das nicht kann, mag das Recensiren lassen. Ich trenne also Urtheil und Referat nicht willkürlich, verlange in dem letzteren auch nichts Objectives … behaupte aber unbedingt , , , daß selbst diesen durchaus nicht genügt wird, und daß man aus den meisten ‚Recensionen‘ so wenig jenes Eingehen auf das gebotene Object entnehmen kann, als darin eine Andeutung enthalten ist, daß es Kritik im höheren Sinne gegeben hat.–“(23). Daß Julius Schäffer der wissenschaftlichen Kritik alle Möglichkeiten einräumt, hat er nie bestritten. Es heißt, daß „der Kritiker durch wissenschaftliches Streben über jene rein empirischen Eindrücke, jenes ‚es gefällt mir‘ sich selbst hinausführen kann, daß es zwar kein absolutes Kriterium der Wahrheit, immer aber eine gewisse Objectivität des Urtheils giebt, die erstrebt werden kann und muß“(24). „Ich glaube, daß man die ersten unmittelbaren seelischen Eindrücke abklären, läutern kann, daß man seine Erlebnisse vor sich selbst rechtfertigen – kurz, daß man das blos Thatsächliche eines Eindrucks eben nicht als Thatsache, sondern als nothwendiges Resultat eines inneren Processes, den man belauscht hat, darlegen muß – nämlich, wenn man Kritiker sein will“(24). Mit dieser Begründung gibt es für Schäffer nur ein richtiges Streben und nur einen richtigen Standpunkt der Kritik: eben den Schäfferschen, den er gerade entwickelt hat(25). e) Antworten Dörffel und Krüger Schäffers Vorstellungen blieben nicht unwidersprochen, wobei die Empfindlichkeit der Betroffenen auffallend ist. Unter den Antworten sind nur die von Dörffel [II,624] und Krüger [II,630] bemerkenswert. Dörffels Artikel ist keine Widerlegung, nicht einmal eine wirkliche Auseinandersetzung mit Schäffer, sondern eine polemische Rüge(26). Krügers Artikel dagegen zielt mehr auf dessen Individualität als auf die Sache(27). Schäffer hatte Krüger ja Skeptizismus vorgeworfen. Krüger widerlegt diesen Vorwurf nicht. Er hätte es auch nicht gekonnt, weil der Skeptizimus eine

406

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

natürliche Folge der von Krüger eingenommenen philosophischen Positionen war. Krüger hat den Enthusiasmus der Musikkritik nie geteilt. Wohl ist bezeichnend: alle diejenigen, die das Brendelsche Programm, Kritik auf der Grundlage eines historisch verstandenen Fortschrittsbegriffs zu betreiben, gleich aus was für Gründen ablehnten, endeten in Zeitfeindlichkeit. Krüger verwarf nun einmal kategorisch die Möglichkeit, Kritik auf Prinzipien rückführen zu können, und versteifte sich weiter auf den Geniebegriff einer subjektiv-psychologischen Kritik, deren Aussagen allein dem Ermessen des einzelnen Kritikers überlassen blieben. Krüger ist alles andere als ein Fanatiker, der nur die eine Wahrheit gelten läßt. Für Krüger ist Kritik ein „Handwerk“, eine „Kunst“, die auf „Redlichkeit und Wissen“ gründet und nicht lehrbar ist. Wer sich ohne diese beiden Voraussetzungen auf Prinzipien beruft, renne sich fest(28). Krügers letzter Passus dient der Versöhnung und zeigt in diesem überhitzten und Freundschaften beschädigenden Streit eine ausgleichende Begütigung, die Dinge nicht so ganz ernst zu nehmen: „… sind alle bisherigen Kritiken schlecht? – Doch nein! ich schweige, um nicht wieder dummen Mißverstand einzuschwärzen, und schließe heiter, wie der Dichter, der so schön lehrte ‚Leben und leben lassen‘ – mit seinem Sinngedicht voll Verstand und Mißverstand: Wer wird denn alles gleich ergründen! Sobald der Schnee schmilzt, wird’s sich finden“(29). f) Schlußwort Brendel Es gab zwei Schlußworte. Das eine schrieb Brendel, das andere Schäffer. Brendel(30) [II,637] betont weitgehend seine Übereinstimmung in den Grundfragen, will aber die Tageskritik nicht preisgeben. Die von Schäffer verworfene ältere Tageskritik habe es in der früheren Zeit nicht gegeben, widerspricht Brendel. Die einflußreichen und erfolgreichen Kritiker von damals, zu denen er Reichardt, Gottfried Weber, Rochlitz und Fink zählt, hätten sich keiner wissenschaftlichen Methoden bedient, sondern, so meint Brendel, unsystematisch geurteilt.(31) Des weiteren führt er an, daß das wenige Große immer neben vielem Kleinen lebe. In den philosophischen Welten sei das nicht anders gewesen: neben der Halleschen und Jenaischen Literaturzeitung, so erinnert er, standen die ‚Kochbücherrezensionen‘, und gerade diese hätten doch überlebt(32). Brendel wehrt sich gegen eine Überbetonung der Schwächen jeglicher Musikkritik, wenn man nicht gewillt sei, gleichzeitig auch ihre Stärken anzuerkennen. g) Schlußwort Schäffer Schäffers Schlußwort(32) [II,641] ist umfangreich und beansprucht an die zehn Spalten Raum. Es richtet sich gleicherweise gegen Brendel und Krüger wie gegen Dörffel. Wieder betont Schäffer sein inzwischen bekanntes Motto „recensirt nicht mehr, sondern referirt“(33), dann polemisiert er gegen Krügers Überbetonung des Geniebegriffs, auf den Krüger alle kritischen Methoden reduzieren will. Umgekehrt habe Dörffel bei ihm die ausführlichen kritischen Methoden vermißt, und er ent-

7. Der Prinzipienstreit Schäffer – Brendel – Krüger – Dörffel

407

gegnet, nichts habe ihm ferner gelegen, als ein Schema aufzustellen, nach welchem man „nur lustig weiter“ rezensieren könne. Vielmehr sei es um eine andere Methode als die alte schlechthin gegangen(34). Auch das Genie – und das richtet sich wieder gegen Krüger, dessen Ironie ihn peinlich berührt! – habe Methode, selbst wenn ihm diese dank seiner glücklichen Natur nicht zum Bewußtsein gelange. Es habe aber noch keinem Genie geschadet, „dies in ihm selbst Ruhende sich zum Bewußtsein gebracht zu haben“(34). Schließlich bedürften auch „Liebe und Wahrheit“ einer Methode, also die beiden Lieblingsbegriffe Krügers, der darauf seine Argumentation aufbaute(34). Schäffers alles niederreißende Begründen ist weitgehend metaphysisch fundiert. Für ihn ist Musikkritik ein moralisches Anliegen, dem sein Bestreben diente, ein für ihn „verwerf- // liches Treiben als solches hinzustellen“(35). h) Brendels apologetische Krüger-Kritik Jetzt sah sich Brendel genötigt, Krüger gegen die massiven und vordergründig zunächst überzeugenden Argumente Schäffers in Schutz zu nehmen. Schließlich war Krüger einer seiner fähigsten Mitarbeiter, der sich aus Oppositionslust und angeborener Skepsis weiter vorgewagt hatte, als es für ihn und seine Meinung gut sein konnte; deshalb wohl auch seine ständig vom Thema wegführende Diskussionstaktik, die er Schäffer gegenüber anwandte. Den dadurch hervorgerufenen ungünstigen Eindruck zu verwischen, diente unter anderem eine Buch-Kritik Brendels vom 16. September 1848. Es handelt sich um eine Doppelkritik, in der Brendel Ulibischeffs (umstrittenes) Mozartbuch von 1847 (Verlag Ad. Becher, Stuttgart) mit der ebenfalls 1847 herausgekommenen Krügerschen Schrift (die überwiegend eine Sammlung bereits erschienener Aufsätze war) „Beiträge für Leben und Wissenschaft der Tonkunst“ (Breitkopf & Härtel) zusammen bespricht. Beiden Veröffentlichungen zollt Brendel höchste Anerkennung und deutlichen Tadel: Lob für Ulibischeff, weil er sich den herkömmlichen biographischen Auflistungen entzogen und geistige Zusammenhänge offen gelegt habe, und Tadel, weil er mit der ausschließlich auf Mozart bezogenen Darstellung unter anderem blind gegen die Nachfolger (Beethoven) geworden sei; Lob für Krüger, weil der mit ungleich größerem geistigen Fundus als Ulibischeff die philosophisch-wissenschaftlichen Grundlagen der Musik dargestellt habe, und Tadel wegen seiner jüngst noch in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ vorgetragenen Fehleinschätzung von Kunst und Zeitereignissen. Brendel entschuldigt Krüger, weil er sich (vom abgelegenen Wohnort begünstigt) deutlich von den künstlerischen Ereignissen der Zeit (des Tages) zurückgezogen habe und allmählich zu vereinsamen drohe. Brendel nimmt die bevorstehenden Auseinandersetzungen mit Krüger in der Wagnerfrage vorweg. Auch in diesem Artikel besteht Brendel auf der neuen standpunktbezogenen Wissenschaftlichkeit der Kritik. Dieses wissenschaftliche Element habe früher gefehlt, sei aber inzwischen zum Bedürfnis geworden, weil man „jenes willkührliche, standpunktlose Hin- und Herreden, wie es früher auf dem Gebiet der Tonkunst fast ausschließlich Mode war und zum Theil noch jetzt geltend zu machen sich versucht, jene Richtungen, die es nie über ein zufälliges Meinen hinausbringen, und ohne

408

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

höhere Klarheit von willkührlichen, zusammenhanglosen Ansichten und individuellen Meinungen sich leiten lassen“ einfach nicht mehr gebrauchen könne(36). Das Ende der Buchbesprechung ist fast beschwörend. Er bittet den „Freund“ Krüger um Verständnis, daß er so, wie er seine Leistungen herausstelle, auch sagen müsse, was seiner Meinung nach an seiner Auffassung unrichtig sei. i) Religiöse Polarisierungen. Moralvorstellungen Es wäre eine eigene, in diesem Zusammenhang vom Thema her nicht zu leistende, weil den einzelnen Musiker-Bildern zuzuordnende Arbeit, die in die musikkritischen Auseinandersetzungen hineinspielenden religiösen und pseudoreligiösen, aber auch die moralisierenden Momente zu verfolgen. Sie verdichteten sich zum Jahrhundertende hin im Gedanken der säkularisierten Kunst-Religion, von der sich viele abwandten, ohne die davon in Anspruch genommene Kunst zu verwerfen. Die Polarisierung zwischen Menschen, die im Musiker einen Heilsbringer sahen, und Menschen, für die Musik lediglich ästhetisch von Belang, allenfalls ein Mittel zur Welterkenntnis war, zieht sich seit der frühen Romantik durch das ganze Jahrhundert. Im Gegensatz zu Brendel, dem wie Hanslick metaphysische Gesichtspunkte fremd gewesen zu sein scheinen, machte Krüger aus seinem evangelischen Christentum kein Hehl, wenn er auch nicht so penetrant wie Fink seinen Glauben in einer Weise zur Schau stellte, die einen Widerspruch zwischen Reden und Handeln offenbarte. Koßmaly warf Brendel geradezu Atheismus vor und übertrug seinen Vorwurf auf die gesamte neudeutsche Bewegung. Die Äußerungen des Ehepaares Schumann nicht über, sondern gegen Wagner und Liszt gehen in dieselbe Richtung. Sie empfanden die umjubelte Entwicklung als unmoralisch. Selbst eine Oper wie Otto Nicolais „Die lustigen Weiber von Windsor“ (1849) ist nur nach heutigem Empfinden gesellschaftspolitisch harmlos. Noch Wieland soll als unzumutbar Shakespeares Schauspiel gar nicht erst übersetzt haben (wohl Wolf Heinrich von Baudissin in der Schlegel-Tieck-Ausgabe von 1832; die erste Übertragung im Jahre 1775 des bis Mitte des 20. Jahrhunderts umstritten gebliebenen Stückes stammt von Johann Joachim Eschenburg). Allein mit den Augen eines moralisierenden Bürgertums von 1850 gesehen waren trotz aller Beschwörungen des „Rein-Menschlichen“ (schon bei Brendel vor Wagner) die Vorgänge im „Tannhäuser“ und vor allem im „Ring des Nibelungen“ skandalös: Ehebruch, Blutschande, Mord, Raub. Es bedurfte nicht erst Piddes Wagnerbuch(37), um die strafrechtlichen Tatbestände und danach die mögliche Höhe der bei einer realen Verfolgung auszusprechenden Zuchthausstrafen zusammenzurechnen. Aus den Marschner-Tagebüchern (Marschner stand Wagner, der ihm den Tageserfolg nahm, reserviert gegenüber) wissen wir um die rhetorische Frage einer Madame Reymond „daß in Deutschland solche Szenen, wie die zwischen Venus und Tannhäuser wirklich geduldet und von Frauen oder gar von jungen Mädchen angesehen werden?“(38). Das betraf übrigens nicht nur Wagner. Auch Chézys Handlungsdurcheinander von Mord, Rache, Betrug und Täuschung in Webers „Euryanthe“ ließ das „Sittlichkeitsgefühl“ sich „erröthend und empört“ abwenden. Franziska Rheinberger notierte am 13. Juni 1874 in ihr

7. Der Prinzipienstreit Schäffer – Brendel – Krüger – Dörffel

409

Tagebuch: „13. Herrliches Zusammensein mit Ambros aus Wien. Beseligend, wenn die eigenen Kunstanschauungen, mit denen man einsam im modernen Strome steht, von einem gelehrten braven Manne vollständig bestätigt werden. Ambros brauchte sogar Kurts eigene Worte: ‚Der Teufel hole die ‚geistreiche‘ Musik, wenn sie nicht zugleich schön ist.‘ Über Wagners Walküre ist er eben so empört wie wir, vom sittlichen Standpunkte“(39). In diese Polarisierung schob sich eine weitere Kontroverse, die sich für die protestantische Führungsschicht aus den religiösen Tendenzen bei Wagner ergab. Das historische Problem bestand für alle diese Kreise im vergeblichen Versuch, Wagner einen Antipoden entgegen zu stellen, mit dem man ihn hätte überwinden können. j) Vom Standpunkt zur Partei Von der historisch untermauerten Standpunktskritik bis zur erklärten Parteikritik war es nur noch ein kleiner Schritt. Und auch er wurde noch im selben Jahr in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ getan, wenn Alfred Dörffel Ende Oktober 1848 mit Billigung Brendels offen „zur Partheinahme auf musikalischem Gebiete“ aufforderte(40) [II,685]. Der Artikel war zudem als Kritik an der kurz vor ihrem Ende stehenden „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ gedacht. Unter dieser Parteinahme ist keine Interessenkritik, sondern ein Bekenntnis zu einer vorschwebenden künstlerischen Idee zu verstehen, „Wahrheit gegen Freund und Feind, Unparteilichkeit im Urteil“ – versteht sich bei Parteinahme für einen bestimmten Kompositionsort – „richtiges Erkennen der Zustände des Kunstlebens, bewußtes Fortschreiten in demselben … bessere Organisation desselben, sie will, daß der Musiker mit der Bildung der Zeit Schritt halte. Sie will nicht den Schlendrian mehr, der überall eingerissen. Sie will bessere Gestaltung des Concert- und Bühnenwesens. Sie will nicht nur Anerkennung der früheren Meister, sie will Anerkennung der Lebenden. Sie will die Kunst mit dem Gesammtleben der Menschheit vermitteln, den Einfluß derselben auf die Bildung der Jugend fördern, diesem den Weg bahnen durch alle Hemmnisse, die vorhanden. Sie will, daß die Kunst eine nationale Stellung einnehme“ usw. usf. (41). Natürlich bezieht sich Dörffel vornehmlich auf die Oper, wenn er gegen den „Propheten des Stillstands“, gemeint ist der Verfasser eines Artikels „Parteiung auf dem Gebiete der Tonkunst“(42) [II,684] in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“, wettert: „Sie will u. a. keine Männerchöre, die die Geliebte ansingen: ‚O Holde, komm herunter an mein krankes Herz‘; sie will keine Textwiederholungen; sie will auf der Bühne kein halbstündiges Abschiedsduett, wenn’s heißt: ‚Flieht, flieht! schon an der Thüre Schwelle zeigt sich der Feind‘; sie will nicht, daß der Chor stumm stehen bleibt, wenn der Ruf erschallt: ‚Rettet die vom Stier Bedrohte‘, daß er klagt: ‚Wer hilft hier, ach! ist Niemand da?‘ Sie will keinen Unsinn mehr“(43). Die Parteidoktrin verlangt als Prinzip ein bewußtes Fortschreiten, wobei das ‚wohin‘ anscheinend nur als Veränderung an sich verstanden wurde. Es war das Ziel der Redaktion, alle ihre Fortschrittsargumente in den zeitgenössischen Kritiken nach dem Brendelschen Programm ausgerichtet zu sehen. Es führte zu einer

410

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

heftigen Reaktion, die angesichts der Art, wie sich Brendel äußerte, sogar zu verstehen ist. Auch ein Aufsatz wie der von Louise Otto „Parteien – Cliquen“(44) [II,623] wird Brendel recht gewesen sein, als er seine Vorstellungen von der Parteikritik formulierte. Otto versteht unter Partei das Zusammengehen von Menschen mit gleichem Standpunkt, und unter Clique das, was wir heute Zitationskartell oder Seilschaft nennen, die keine Organneutralität gelten läßt und sich bei unterschiedlichen Interessen zum eigenen Nutzen und, wenn es sein muß, zum Schaden anderer in einer bestimmten Sache verbündet. Der Begriff ‚Partei‘ als Vokabel wurde weder von Brendel, noch von Uhlig und schon gar nicht von Otto eingeführt. Er wurde Flodoard Geyer geläufig, als er in der „Berliner musikalischen Zeitung“ 1846 „Marpurg über musikalische Kritik“(45) [II,564] zitierte, um die Ausweglosigkeit unterschiedlicher Meinungen zu demselben künstlerischen Produkt einschließlich der mentalen Gebundenheit des Kritkers zu bezeichnen: „Da man fast über alle Meinungen in der Welt getheilt ist: so muss er nothwenig einer Partei zu nahe kommen. Die beleidigte Partei wehret sich. Man geht dem Kunstrichter zu Leibe. Der Graubart trotzt auf seine langwierige Erfahrung, die öfters nichts als ein tückischer Eigensinn ist. Es wäre ihm unmöglich, einem andern, als sich, Recht zu geben.“ k) Zusammenfassung Die Grundsatzstandpunkte der vier Autoren waren unvereinbar, stellt man die Voraussetzungen nebeneinander, von denen sie mit unterschiedlicher Streitlust ausgingen. Für Julius Schäffer war jede Art von wertender Kritik unnütz und alle Musikkritiker waren überflüssig. Für ihn hatte nur eine wertungslose Objektdarstellung Existenzberechtigung. Dieses von ihm als „informative Kritik“ bezeichnete eher wissenschaftliche Verfahren nannte er höhere Kritik und unterschied sie von der Tageskritik. Die Tageskritik besteht aus Meinungen, die mangels wissenschaftlicher Grundlegung bedeutungslos sind und nur die letztlich überflüssigen Anschauungen von einzelnen Schreibern wiedergeben. Sie wollen ihren persönlichen Geschmack anderen autoritär überstülpen und das Publikum somit betrügen, weil sie ihren Lesern eine Kompetenz vortäuschen, die sie nicht besitzen. Dieses Verfahren urteilt er als geradezu verwerflich ab. Die höhere Kritik stellt nur dar und überläßt es dem Leser, aus dem Dargestellten die für ihn persönlich zutreffenden Schlußfolgerungen zu ziehen. Einen allgemeingültigen Wertekanon gibt es nach Schäffer nicht. Schäffer war ein wissenschaftlich gebildeter Mann. In der Händelwiederbelebung wird er später an der Seite von Robert Franz maßgeblich die Opposition gegen Friedrich Chrysander verstärken. Dr. Eduard Krüger vertrat die Notwendigkeit, alle künftige Musikkritik wissenschaftlich zu fundieren, war aber nicht bereit, sich von der psychologisch-subjektiven Meinungskritik zu lösen. Er lehnte eine Wertung aus historischen Überlegungen, ein neu entstandenes Kunstwerk deshalb zu verwerfen, weil es mit alten,

7. Der Prinzipienstreit Schäffer – Brendel – Krüger – Dörffel

411

inzwischen als überholt geltenden Stilmitteln hergestellt war, bedingungslos ab. Er vertrat den Standpunkt einer zeitlosen Schönheit, die auch in der Gegenwart mit Stilmitteln und im Stile und Geiste vergangener Epochen zu erreichen sei. Nach Krüger läßt sich auch hundert Jahre nach Mozarts oder Beethovens Tod mit einem Tonstück à la Mozart oder à la Beethoven eine vollgültige und die Zeit überdauernde Komposition schreiben. Seine darauf zurückzuführende Skepsis gegenüber der Idee einer fortschreitenden Tonkunst machte es ihm unmöglich, Wagner und die anderen Komponisten im neudeutschen Umkreis seiner eigenen Zeit anzuerkennen. Krügers Haltung schien zunächst nicht logisch, worauf Brendel anspielte, als er Krügers Zurückhaltung auf sein Eingesponnensein in einer kulturell abseits liegenden Provinzstadt zurückführte. Krüger war, Brendel einmal ausgenommen, der einen ganz anderen Typ verkörperte, unter allen an diesem Streit beteiligten Autoren der wissenschaftlich bedeutendste Denker und überragte an historischen philosophischen Kenntnissen vermutlich auch Brendel. Wagners Aufsatz über das Judentum in der Musik, der in der Brendelschen Zeitung erschien, wurde von Krüger mit Zustimmung aufgenommen und entsprechend besprochen. Krügers in verschiedenen Organen aufzufindenden Rezensionen werden heute noch als vorbildlich angesehen. Sein Aufsatz „Wissenschaftliche Gespenster“ erschien am 12. Dezember 1850, also nach dem ausgetragenen Prinzipienstreit, in Heft 39 des 33. Bandes der „Neuen Zeitschrift für Musik“. Hier wird erkennbar, daß Krügers Denken keineswegs unlogisch war, sondern auf eigene Weise einen Weg zwischen dem Mystizismus der Neuromantik und dem Rationalismus der später neudeutsch genannten Brendelschen Bewegung suchte, weil er in all den Auseinandersetzungen das religiöse Moment vermißte. Alfred Dörffel ist in diesem literarischen Streit-Quartett die rätselhafteste Persönlichkeit. Auch er ist mit seinen erst 26 Jahren noch verhältnismäßig jung (geb. 24.1.1821 in Waldenburg in Sachsen), ist Musiker, Lehrer, Kritiker, Sammler, Herausgeber, Schriftsteller und Musikforscher. Dörffel lebte zuletzt in Leipzig, wo er am 22. Januar 1905 starb. Er gründete eine Leihanstalt für musikalische Literatur (1861) und lieferte mit ihr den Grundstein für die berühmt gewordene Musikbibliothek Peters. Seit 1860 war er als Nachfolger Karl Ferdinand Beckers Kustos der musikalischen Abteilung der Leipziger Stadtbibliothek. Daß er sich in seiner Entgegnung fast ausschließlich und sehr streitbar mit einer von Schäffer als negatives Beispiel herangezogenen Rezension auseinandersetzt, legt die Vermutung nahe, an dieser Rezension in irgendeiner Weise beteiligt gewesen zu sein. Daß ausgerechnet er es ist, der in seinem Intermezzo-Artikel so vehement für eine Parteiung eintritt, die Brendel 1852 zur Grundlage seiner weiteren Redaktionstätigkeit macht, ist deshalb verwunderlich, weil Dörffel Schüler sowohl von Fink wie von Mendelssohn und Schumann gewesen ist und sich trotzdem zunächst rückhaltlos den Brendelschen Ideen verschreibt, dann aber, nachdem er erkennt, daß die Brendelsche Kritik auch sein künstlerisches Vorbild Schumann nicht verschont, die Trennung einleitet. Über Schumanns Oper „Genoveva“ gerät er daraufhin mit Brendel in einen Streit, der ins Persönliche abgleitet. Als er sich dazu versteigt, die Verhältnisse geradezu auf den Kopf zu stellen, nämlich Brendel zum Vertreter einer ‚Stillstandspartei‘

412

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

zu erklären und Schumann als den Fortschritt zu preisen, gingen beider Wege fürs erste auseinander. l) Carl Gaillards Kommentar In den Streit mischte sich auch noch Gaillard mit einem schwer zu lesenden, streckenweise verschachtelten Fortsetzungsartikel „Erwiderung“ ein(46) [II,616]. Schäffers Forderung nach einer literargeschichtlichen Bildung des Kritikers weist er als für die Tageskritik nicht zulässig zurück, ohne die Beschränktheit und Geschmacklosigkeit, die in den Persönlichkeiten aufzufinden ist, abzustreiten. Jede Rezension beruhe notgedrungen auf der Subjektivität des Kritikers. Wenn das anders sein solle, müsse erst der Rezensent geändert werden, was nicht gehe. Der innerste Kern der Persönlichkeit sei das Gefühl und dieses sei vom eigenen Verstand nicht gekannt. Dabei sei es gleichgültig, ob das Urteil richtig oder falsch ist. In Übereinstimmung mit Schäffer gehe es bei der Tageskritik nicht um die Ermittlung der formalen Tatsachen, wie Textinhalt oder Aufbau, sondern um die Ermittlung des ‚Schönen‘. „Behüte uns nun auch der Himmel vor einer neu zu construirenden objectiven Beweistheorie und vor einer Verdrängung der freien subjectiven Ueberzeugung vom Richterstuhl, da der Geist der Zeit kaum die verknöcherte Orthodoxie von strengem Satz, Fuge, Contrapunkt von ihrem Thron gestürzt und gezeigt hat, was diese sind: – Formen“(47). Im zweiten Teil spricht Gaillard das Verhältnis an, das ein auf diese Weise subjektives Urteil zum Publikum eingeht. Da gibt es für ihn nur eine Antwort: Es kommt auf den an, der das Urteil spricht. Wer sich für Musik interessiere, kenne Persönlichkeiten, auf deren Urteil er etwas gebe. Er soll nun durch dessen Urteil nicht gelenkt werden, wohl eine Grundlage für ein eigenes Urteil erhalten. Je weniger aber der Einzelne Kenntnisse mitbringt, um so unbedingter ist das Vertrauen, das er dem fremden Urteil gegenüber hat. Deshalb kommt dem Rezensenten eine besondere vertrauensbildende Aufgabe zu. „Er soll vor allen Dingen seine Individualität zeigen, wie sie zur Musik in ihren verschiedenen Entwickelungsstufen und neuen Genres getreten ist, diese soll durch alle seine kritischen Erzeugnisse hindurchschimmern, die aphoristischen Erzeugnisse des Tages und der Gelegenheit mit deutlichen Faden nothwendig verbinden; er soll über sein ganzes musikalisches Sein und Denken öffentlich gleichsam Profess ablegen, Garantie gewährend, damit er nicht ein Herr X vor dem Leser stehn, sondern als eine Persönlichkeit, zu welcher der Leser in ein Verhältniss getrieben ist oder treten kann“(48). Der Kritiker wird damit als Vertreter einer Richtung erkennbar. Gaillards Auffassung entspricht hier derjenigen Gottfried Webers in dessen Darlegungen zum Thema Anonymität(49). Gaillards Einwurf spielte in dem Streit keine Rolle. Bei der geringen Verbreitung von Gaillards Blatt ist es durchaus möglich, daß die streitig miteinander beschäftigten Duellanten seinen Artikel nicht zu Gesicht bekommen haben, während Gaillard als ein den Zeitereignissen zugewandter Redakteur die Brendelsche Zeitung las.

7. Der Prinzipienstreit Schäffer – Brendel – Krüger – Dörffel

413

m) Noch einmal Schäffer. Ein verspätetes 2. Schlußwort Für alle unerwartet kam Schäffer zweieinhalb Jahre nach dem Streit noch einmal mit seinem Aufsatz „Die musikalische Kritik“ auf das Thema zurück(50) [II,747]. Brendel merkte dazu an, jetzt verstünde man Schäffers Vorstellungen besser als in dem Streitartikel selbst (Brendel: „Es ist dankenswerth, daß der Herr Verf. endlich, wenn auch einige Jahre später, mit der Sprache herausgeht, und deutlich sagt, was er eigentlich von der Kritik verlangt; denn damals konnte seine Forderungen Niemand verstehen.“(51)). Schäffers mit unübersetzten französischen Zitaten eingeleiteter Aufsatz ist philosophisch und keineswegs einfach zu lesen und setzt Kenntnis der Hegelschen Denkart voraus. Der Stil ist anders als Jahre zuvor. Möglicherweise hat sich Schäffer zwischen damals und jetzt seine neue Strategie erst erworben; denn sonst hätte er seine Begründung doch während des Streites selbst vorgebracht. Danach existiert die absolute Idee nur im philosophischen Begriff und verunreinigt sich, wenn sie Gestalt annehmen soll. Durch die Realisierung wird die Idee zum Prinzip. Sie erscheint in Form von Vereinzelungen und wird durch die Kritik wieder in ihre Urform zurückgebracht. Das Geschäft der Kritik besteht demnach darin, in den objektiven Gestaltungen „des Geistes in Kunst, Religion, Wissenschaft und Staat das Princip nachzuweisen“(52). Eine wirkliche Musikkritik kann es nur dann geben, wenn man die Musik als Erscheinung der Idee begreift. Das Folgende ergibt sich von selbst. Wer Musik gedankenlos abstrakt als Stimmung versteht, kann nicht über Kritik zur Idee kommen. Viele weichen in die Vergangenheit aus und werden ratlos, sobald es um die Gegenwart geht. Die Kritik ist in ihrem Wesen spekulativ „und hat es darum mit Begriffen zu thun, soll den Inhalt der Musik begrifflich wiedergeben.“ Die Musik bringt es aber gar nicht bis zu Begriffen, „diese fallen vielmehr außerhalb derselben; eben darum aber, weil sie Grenze an Grenze mit ihr liegen, machen sie die Musik zu etwas Bestimmten(53), fixiren sie dieselbe dem denkenden, systematisch erkennenden Geist“(54). Schäffer bezeichnet das Prinzip der gedankenlosen Stimmung als eine gewaltsame Abstraktion und macht dagegen die Immanenz des Gedankens geltend. Pflichtet man dem bei, so hat es auch die Musikkritik nicht mehr mit einem „von ihrem Wesen abgezogenen Inhalte zu thun, sondern nur ganz einfach die der Musik inwohnende Idee, so wie sie in dem Materiale des Tones Gestalt gewonnen hat, begrifflich wieder herzustellen – zu referiren“(54). Der Kritiker, der die Idee erkennen will, muß sich die Zusammengehörigkeit des Begriffs mit der Empfindung durch das eigene Erlebnis bewußt machen. „Darum nannte ich früher die Kritik selbst eine Kunst; sie verlangt Genialität von Seiten des Kritikers“(54), allerdings keine verwilderte Genialität, die sich nur auf eine subjektive Empfindung gründet. Im vorletzten Absatz kommt Schäffer noch einmal auf seine vernichtenden Äußerungen über die zeitgenössische Musikkritik zurück und verteidigt seinen Kampf gegen die Anhänger „theils eben jener verwilderten Genialität, theils der nichtsnutzigen Phrasendrescherei“(55). Er habe prophezeit, daß sich daran nichts ändern werde, und das sei eingetroffen. „Die Zeitungen gingen ihren Schlendrian weiter“. Eine Beherzigung seiner Ansichten über die Rezensenten alten Stils sei aber in den Blättern, die ihn bekämpft hätten, und selbst bei Gegnern, unverkennbar.

414

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

Schäffers Fragestellung taucht schon zu Zeiten der formalistischen Kritik auf. Carl Spaziers „Berlinische musikalische Zeitung“ brachte 1793 einen anonymen, also von Spazier selbst stammenden Aufsatz „Ist musikalische Kritik überhaupt nöthig, und was nützt sie?“(56). Die Beantwortung war salomonisch-weise, und sie läßt sich nach Punkten aufgliedern: 1. Eine [echte] Kritik nutzt nichts; 2. Eine echte Kritik hat es mit der Wahrheit zu tun, und die Wahrheit über einen eigenen Mangel hört kein Betroffener gern; 3. Über Wahrheit ärgern sich die Betroffenen, so daß der Kritiker, sofern er die Wahrheit spricht, nur Unannehmlichkeiten erfährt (hier wird aus dem niederdeutschen „Reinke de Voss“ zitiert); 4. Trotzdem ist es wichtig, daß irgendjemand die Wahrheit als ein „wohlthätiges“ und „nützliches“ „Geschäft für die Kunst und Litteratur“ ausspricht. Der Artikel diente als Fortsetzung (mit eigenem Titel) einer in der vorherigen Nummer (23. Stück) ausführlich erörterten Frage unter dem Titel: „Wer ist glücklicher: der musikalische Laie, oder der Kunstkenner und Kritiker?“(57). Der anonyme Autor, wieder Spazier selbst, benötigt mehr als 5 Spalten (die ganze Nummer besteht aus 3 Seiten = 6 Spalten und 1 Seite mit einem Strophenlied von G. C. Grosheim), um zu dem Schluß zu gelangen, daß derjenige beglückter sei und mehr vom Kunstwerk habe, der etwas von den inneren (kompositorischen) Zusammenhängen verstehe. Der letzte Absatz bildet die Überleitung zum Folgeartikel: „Aber wie ist es, wenn der Kenner und Kunstrichter seine Gedanken mittheilt? Diese Frage soll uns im nächsten Stücke d. Z. beschäftigen.“ Wen wird es nach Musterung derartiger, ernsthaft wichtig und raumgreifend vorgetragener Überlegungen, außer Spazier selbst, gewundert haben, daß die Zeitgenossen die zudem mit negativen Urteilen über Mozart durchsetzte „Berlinische musikalische Zeitung“, nicht abonnierten(58)! (1) Julius Schäffer: Ueber musikalische Recensionen, NZfM XXVI./19–21, 23–24, 5., 8., 12., 19., 22.3.1847, S. 73–75, 77–79, 83–85, 91–92, 95–96; (2) Franz Brendel: Ueber musikalische Recensionen, NZfM XXVI./25–27, 36+38, 26., 29.3. + 2.4. + 3., 10.5.1847, S. 102b–104a, 106a–109a, 114a–116b, 153b–155a, 163a–164b; (3) Brendel, S. 107a; (4) Brendel, S. 107b; (5) Brendel, S. 108b; (6) Brendel, S. 108b-109; (7) Brendel, S. 115a; (8) Brendel, S. 116a–116b; (9) Eduard Krüger: Maigruß an die tonkünstlerischen Sommervögel, NZfM XXVI./45, 4.6.1847, S. 191b–193a; (10) Krüger, S. 191b–192a; (11) Krüger, S. 192a; (12) Julius Schäffer: Ueber musikalische Recensionen, NZfM XXVII./5, 7, 9, 15., 22., 29.7.1847, S. 27b–30b, 39b–42b, S. 50b–53b; (13) Julius Schäffer: Ueber Recensionen (2. Art.), S. 28a; (14) Brendel: Herrn Julius Schäffer in Halle, NZfM XXVII./43, 25.11.1847, S. 254b–258b, Z: 254b; (15) Schäffer, (2. Art.), S. 28b; (16) Schäffer, (2. Artikel), S. 28b; Otto Lange: Über musikalische Leit-Artikel, NBMz VI/7, S. 49– 50; (17) Schäffer, (2. Artikel), S. 29a; (18) Schäffer, (2. Artikel), S. 29b; (19) Schäffer (2. Artikel), S. 40a;

7. Der Prinzipienstreit Schäffer – Brendel – Krüger – Dörffel

415

(20) Julius Schäffer: Über Richard Wagner’s Lohengrin, mit Bezug auf seine Schrift ‚Oper und Drama‘, NBMz VI/20, 12.5.1852, S. 153–155; ~ /21, 19.5.1852, S. 161–163; ~ /22, 26.5.1852, S. 169–171, 175; ~ /25, 16.6.1852, S. 193–196; ~ /26, 23.6.1852, S. 201–204; ~ /27, 30.6.1852, S. 209–211; ~ /28, 7.7.1852, S. 223b; (21) Schäffer, (2. Art.), S. 40a, 42b; (22) Schäffer, (2. Art.), S. 42a–42b; (23) Schäffer, (2. Art.), S. 42.b; (24) Schäffer, (2. Art.), S. 52a; (25) Schäffer, (2. Art.), S. 53a; (26) Alfred Dörffel: Ueber musikalische Recensionen, NZfM XXVII./13 + 15, 11. + 19.8.1847, S. 76a–78b, 88a–91b; (27) Eduard Krüger: The Comedy of Errors, NZfM XXVII./29, 7.10.1847, S. 170b–173a; (28) Krüger, S. 171a–171b; (29) Krüger, S. 172b–173a; (30) Franz Brendel: Herrn Julius Schäffer in Halle, NZfM XXVII./43, 25.11.1847, S. 254b–258b; (31) Brendel, a. a. O. S. 255a–255b; (32) Brendel: a. a. O. S. 255b; (32) Julius Schäffer: Ueber musikalische Recensionen (Schlußwort), NZfM XXVII./51, 23.12.1847, S. 301a–305b; (33) Schäffer, (Schlußwort), NZfM XXVII./51, 23.12.1847, S. 301b; (34) Schäffer, (Schlußwort), S. 302b; (35) Schäffer: (Schlußwort) S. 305a–305b; (36) (Rubrik „Bücher“) Fr. Br.: NZfM XXIX./23, 16.9.1848, S. 129a–131b, Z:130b. Der Krügersche Aufsatz über Politik und Kunst, auf den Brendel Bezug nimmt, erschien unter dem Titel „Beziehungen zwischen Kunst und Politik“ dreiteilig in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ AmZ L/25, 21.6.1848, Sp. 401–405 (aus Emden im Mai 1848 geschrieben), AmZ L/30, 16.7.1848, Sp. 481–488 (aus Emden mit Datum 8. Juli 1848 geschrieben), AmZ L/52, 27.12.1848, Sp. 842–843 (aus Hannover am 24. November 1848 geschrieben). Dieser 3. Teil ist als Antwort auf Brendels Buchkritik zu verstehen. Er kam noch rechtzeitig bei Lobe an, um in der überhaupt letzten Nummer der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ erscheinen zu können. Es sieht so aus, als habe Krüger die Lobe-Zeitung als neue Plattform gewählt, die ihm mit dem Zusammenbruch des Blattes allerdings verloren ging; (37) Ernst von Pidde: Wagners Musikdrama „der Ring des Nibelungen“ im Lichte des deutschen Strafrechts, Frankfurt 1968; (38) Edgar Istel: Heinrich Marschner beim Pariser Tannhäuser-Skandal. Mitteilungen aus Marschners ungedrucktem Tagebuch, Mus X/1. 1. Oktoberheft = 9. Wagnerheft [1. Quartal = Band 37] 1910, S. 42–52, Z:52; (39) zitiert nach: Jodocus Perger: Aus Josef Rheinbergers Leben und Schaffen, Mus V/24, 2. Septemberheft [4. Quartal = Band 20] 1906, S. 377–389, Z: 381; (40) A. Dörffel: Intermezzo, NZfM XXIX./36, 31.10.1848, S. 209a–210b; (41) Dörffel: Intermezzo, S. 210a; (42) Fr. S.: Parteiung auf dem Gebiete der Tonkunst, AmZ L/41, 11.10.1848, Sp. 657–659; (43) Dörffel: Intermezzo, S. 210a; (44) NZfM XXVII./9, 29.7.1847. S. 53b–54b; (45) Geyer: Marpurg über musikalische Kritik, BmZ III/27, 4.7.1846, S. [Ba–bb], Z:[Ba]; (46) Gaillard, Erwiderung, BmZ IV/22+23, 29.5.+ 5.6.1847, S. [Aa–bb, Aa–bb]; (47) Gaillard, S. [Bb]; (48) Gaillard, Schluss S. [Bb]; (49) [II,162], s. Kapitel 5, Unterkapitel II, Abschnitt 4, Unterabschnitt b (Webers musikkritische Ansätze); (50) Schäffer, NZfM XXXII./39, 14.5.1850, S. 201a–202b; (51) Schäffer, S. 202b; (52) Schäffer, S. 201b;

416 (53) (54) (55) (56) (57) (58)

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852 Originalschreibung; Schäffer, S. 202a; Schäffer, S. 202b; [Carl Spazier], Berlinische musikalische Zeitung I/24. Stück, 20.7.1793, S. 93a–95a; [Carl Spazier], Berlinische musikalische Zeitung I/23. Stück, 13.7.1793, S. 89a–91b; s. dazu Kapitel 2, Abschnitt 3, Unterabschnitt a (Standard-Verhalten).

8. ZAUBERFORMEL ‚ÜBERWUNDENER STANDPUNKT‘ Weil man im Laufe der Kritikgeschichte die Verbindung zwischen Standpunkt und Urteil erkannt hatte, geriet der Standpunkt selbst in die Kritik. Der Standpunkt richtet sich nach der Interessenlage wie nach der Erwartungshaltung, die der Urteilende mitbringt. Er erscheint somit als interessengebunden veränderbar. Die Auseinandersetzung ist eine Gratwanderung zwischen dem, was man von einem Genie erwartet, und dem, was der Hörer in der Vielfalt seiner Gruppe verlangt. Das Genie soll genial sein, was in diesem Falle keine Tautologie ist, weil sich mit den Vorstellungen der Zeit nach 1800 weder Genie noch genial definieren, sondern nur mit verschiedenen Interessenvorgaben umschreiben läßt. Die Erwartungshaltung des Hörers reicht von der hochkomplizierten Kontrapunkt- bis zur simplen Fiedler-Musik, vom ernsten Kunstwerk bis zur billigsten Unterhaltungsware, vom tiefsinnigsten bis zum dümmlichsten Vertonungstext, je nachdem, worauf sich die eigene Tendenz richtet. Hörer ist der Formalist, der Kenner, der Liebhaber, der Nichtkenner, der Musikhasser aller Bildungsstände, ist der Tiefsinnige wie der Oberflächliche. Da sich jedes mit jedem verschränken und wieder aufheben läßt, führt These zur Gegenthese, und auch eine Darstellung der Geschichte der Zusammenhänge läßt sich ohne Vereinfachungen nicht bewerkstelligen und gibt sich dadurch zwangsläufig Blößen, die leicht zu entdecken sind. In einem essayartigen Artikel in Gesprächsform „Verschiedene Interessen an Einem Orte“ aus dem Jahre 1824 ließ Bührlen auf amüsante Weise eine Reihe von Personen sprechen, die ein Konzert jeder von einem anderen Standpunkt aus beurteilen(1) [II,120]. „Die Kunstdarstellungen dienen den Leuten zu verschiedenen der Kunst fremden Absichten: Parteigängern, Kritikastern, zu Befriedigung der Neugier, Zeittödtung, Conversation, Kleiderausstellung, Töchtermarkt, Stelldichein, Lästerschule, Hausmachen, Sehen und Gesehenwerden etc.“ Bührlen gewinnt dabei 18 verschiedene Standpunkte, von denen aus seine Personen das Konzert beziehungsweise das Konzertumfeld bewerten: der Reisende, ein zweiter Reisender, der ‚Mädchenbeschauer‘, der Musikfreund, der ‚Zeittödter‘, der Schwätzer, der Korrespondent, der Parteigänger, ein zweiter Parteigänger, die ‚Puppe‘, der Sentimentale, die ‚Seelenverkäuferin‘, der ‚Partikulier‘(2), der Kritikaster, der Weltmann, der Pedant, der Autor, der Dichter. Der Text hätte ebenso gut in der Marx-Zeitung stehen können, wäre dort allerdings anders bewertet worden, weil es Marx nur um die Begründung ging. Der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ unter Fink dienten Standpunkte als Berechtigung, gegen keinen von ihnen Einwände zu erheben. „Man darf nur etwas entschieden behaupten, so kommt bald darauf eine Erfahrung, die den Satz wankend macht“(3) [II,90]. Das Ergebnis führt zu einer rela-

8. Zauberformel ‚überwundener Standpunkt‘

417

tivierten Wahrheit. „Es gibt wohl Wahrheiten, aber nicht die Wahrheit, auf dieser Welt“(4) [II,342], heißt es 1837 im „Museum für Kunst, Literatur, Musik, Theater und Mode“. In der „Monatsschrift für Dramatik, Theater, Musik“ wird „Ueber die Stellung der dramatischen Kunst zur Kritik“ gleich eingangs die grundsätzliche Forderung erhoben, daß ein Künstler, in diesem Falle der Dichter, das Recht habe, „von seinem Standpunkt aus begriffen und daß nach diesem sein Werk beurtheilt werde“(5) [II,589]. Umgekehrt sei damit aber auch eine Verpflichtung des Künstlers verbunden, der Kritik das Recht zuzugestehen, sein Werk zu beurteilen. Der letzte Abschnitt behandelt ausschließlich das historische Drama. Aus einigen Prämissen, die für die Wagner-Kritik der Nach-Rienzi-Zeit von Bedeutung sind und die sich mit dem Zeitbewußtsein befassen, zieht der Autor den Schluß, „daß es kein historisches Drama der Gegenwart giebt, weil jenes Bewusstsein über die Zeit nicht möglich ist“. Dieser Text stammt aus dem Jahre 1848 und dreht die Beziehungen um. Behauptet wird, nicht der Standpunkt, den der Kritiker zum Kunstwerk einnimmt, ist maßgeblich, sondern nur der, den der Künstler vorgibt. Folgt man dem, ist Kritik am Werk unmöglich geworden; denn von der Perspektive des Kunstschaffenden auszugehen würde keine Vorausforderungen mehr zulassen, die ein Kritiker oder eine Gesellschaft an den Künstler zu stellen berechtigt ist. Um 1848 ist der Standpunktstreit so weit gediehen, daß man bereit ist, ältere Standpunkte zu verwerfen, weil man sie als überholt bezeichnet. Im Brendel-Kreis sprach man nicht vom überholten, sondern vom überwundenen Standpunkt und bot damit eine den Gegnern willkommene Gelegenheit zur Kritik, die schnell in Polemik umschlug. Es war Koßmaly aus Stettin, der in der „Neuen Berliner Musikzeitung“, wohin er abgewandert war, „Ein Wort über den sogenannten ‚überwundenen Standpunkt‘“ veröffentlichte(6) [II,738]. Er will untersuchen, wie es sich mit dieser These (er selbst nennt sie „Phrase“, weil er eine gegenteilige Meinung vertritt) verhalte und welche „Erheblichkeit“ ihr beizumessen sei. Bekenner und Verfechter seien entweder „sogenannte ‚Musikgelehrte‘ und ‚kunstphilosophische Kritiker‘, … die der Kunst …nur eine wissenschaftliche, in Abstractionen von Systemen und Lehrsätzen sich bewegende Thätigkeit zu widmen im Stande sind; – dilettirende, so zu sagen: im Irrgarten von Theorieen, Problemen und Hypothesen herumtaumelnde Schöngeister und // ideologische Träumer, oder auch wohl jene aesthetischen ‚Gründlinge‘, die …“ und so weiter, oder jüngere Künstler, die ihre Zeit nicht erwarten können, sich über den ihrer Meinung nach übertriebenen Beifall, den die älteren „Kunstautoritäten“ immer noch bekommen, ärgern und „sich nicht entbrechen oder entblöden, diese Werke und ihre Verfasser der Welt mit allerlei hochtönenden Redensarten und dialektischen Schlangenwindungen der Sophistik als … beseitigt, kurz als ‚überwunden‘ darzustellen“(7). Nach dieser wenig versprechenden, weil überaus polemischen Einleitung prüft Koßmaly, ob man mit der These eine Epoche oder ein Werk meine und gleichzeitig damit ausdrücken wolle, selbst einen „höhern, bedeutendern Standpunkt“ einzunehmen. Über zu kommende Leistungen will er nicht urteilen, „nur so viel darf mit Fug behauptet werden, dass zur Zeit noch ein Vergleich der Gegenwart mit der Vergangenheit … eben nicht zum Nachtheil der

418

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

letztern ausfallen würde“(8). Eigentlich sollte das bis jetzt Vorgetragene schon genügen, „das völlig Chimärische des jeder eigentlichen Berechtigung und Begründung entbehrenden sogenannten ‚überwundenen Standpunkt’s‘ außer allen Zweifel und in’s hellste Licht“(8) zu setzen. Nach Meinung Koßmalys gibt es noch „schlagendere Gegenargumente“. Jede Zeit und jeder Künstler habe eine besondere Aufgabe. Es sei Verblendung zu behaupten, eine spätere Zeit könne früher gelöste Aufgaben zu einem überwundenen Standpunkt degradieren. Er zitiert Rückert, Schiller, Goethe. Etwas, das in früherer Zeit als Großes geleistet worden sei, behalte den Wert für alle Zeiten. Koßmaly bezieht sich auf den „zu häufig übersehenen Unterschied zwischen ‚alter‘ und ‚veralteter‘ Musik“(9). Weit in die Vergangenheit zurückreichende Kunstwerke seien heute noch frisch, zeitgenössische schon kurz nach ihrer Entstehung verwelkt. Man könne Kunstwerke nicht nach ihrer Entstehungszeit „taxiren“. Gluck sei nicht durch Mozart, Bach und Händel nicht durch Haydn, Haydn durch Beethoven beseitigt worden. Er warte auf die neuen Schöpfungen. Im letzten Abschnitt der gegen Brendel gerichteten Anklage erklärt er, die entsprechende „Parthei“ möge ruhig ihr ‚Steckenpferd‘ weiter reiten, „mögen sie sogar das Christenthum und … die bisherige Kirchenmusik … für veraltet, ja Gott selbst in die Acht des ‚überwundenen Standpunks‘ erklären, (auf etwas mehr oder weniger Atheismus … kommt es ja in unsern aufgeklärten Zeiten gar nicht an), dagegen sich selbst bescheiden als die Apostel und Heilande einer ‚neuen Zeit,‘ einer ‚neuen Kunst‘ proclamiren“ – – wer ruhig und unbefangen und auf den Grund der Dinge geht und die Sachen nicht einseitig, sondern von allen Seiten betrachtet“(10), dem werde es nicht lange zweifelhaft sein, wie es sich damit verhalte und was er davon zu denken habe. Mit ‚ruhig‘ und ‚unbefangen‘ meint Koßmaly sich selbst. Die „ganze Doctrin vom ‚überwundenen Standpunkt‘“ ist eine „Chimäre“, ist „eitles, leeres Phrasenwerk … womit man // die Schwäche und innere Haltlosigkeit einer Sache zu verdecken und zu beschönigen liebt“(11). Im Brief an Richard Pohl vom 6. Februar 1854 aus Düsseldorf lehnte auch Schumann sowohl den Begriff Zukunftsmusik wie den vom überwundenen Standpunkt ab und spöttelte bei dieser Gelegenheit über Liszt (den er nie gemocht hat): „Und wo sind denn die genialen Leistungen Liszts – wo stecken sie! Vielleicht in seinem Pulte?“(12). Das Verhältnis der beiden Schumanns zu Liszt ist nur noch irrational zu erklären, und Schumannfreunde wie Brendel sind entsetzt über die Wandlung, die mit Schumann vorgegangen ist. Zwanzig Jahre zuvor war er angetreten, um mit Hilfe (s)einer Zeitung die ‚Philister‘ zu bekämpfen; jetzt ist er selbst zum Philister geworden, hat sich, um mit Pfitzner zu sprechen, vom Genie zum Talent ‚heruntergearbeitet‘. Seine engsten Freunde bleiben ihm treu und lassen ihre Verzweiflung an Wagner aus; andere gehen auf Distanz und sehen in seinem erkennbaren Realitätsverlust die Vorboten der Krankheit oder beschuldigen seine Frau Clara, ihn durch ihr philiströses Denken auf einen falschen Weg gedrängt zu haben. Clara Wieck ist vom Neid auf Liszt beherrscht. Sie haßt ihn und Wagner. Ihre Briefe und Tagebucheintragungen sprechen eine beredte Sprache. Liszt weiß davon, und er hilft ihr trotzdem, wo es ihm möglich ist. Hinter seiner Lebensart bleibt die der Schumanns weit zurück. Nicht einmal Liszts Tod kann sie bewegen, etwas von dem

9. Die Brendel-Opposition. Opposition von außen

419

anzuerkennen, was er für sie und ihren Mann und sogar gegen seine eigenen Interessen getan hat. Sie fühlten sich beide von Wagner erdrückt und nahmen als letzte Schutzbehauptung für sich in Anspruch, einen moralisch besseren Weg verfolgt zu haben. Jedoch hat Robert Schumann schon früh in seiner Zeitung auf Liszt hingewiesen und ihn mit Fortsetzungsberichten vorgestellt. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12)

AmZ XXVI/40, 30.9.1824, Sp. 705–710; ohne Amt von seinem Vermögen (Renten) lebender Mann, gleichbedeutend mit Rentier; F. L. B., Bemerkungen, AmZ XXV/24, 11.6.1823, Sp. 390/391 Z: 390; Museum II/81, 11.10.1837, S.1295; Monatsschrift, -/3, Dezember 1848, S. 37a–41b; Koßmaly: NBMz III/52, 28.12.1849, S. 409a–412a; Koßmaly, a. a. O. S. 409a–409b; Koßmaly, S. 410a; Koßmaly, S. 410b; Koßmaly, S. 411b; Koßmaly, S. 411b–412a; F. Gustav Jansen: Ein unbekannter Brief von Robert Schumann, Mus V/20, [Band 20, 2. Juliheft] 1906, S. 110–112.

9. DIE BRENDEL-OPPOSITION. OPPOSITION VON AUSSEN a) Vorwort Es ist keineswegs so, als habe man um 1848 aufgejauchzt, als man in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ die historische Methode der Musikkritik entwickelte. Im Gegenteil, Franz Brendel sah sich einer mächtigen Opposition sogar aus den Reihen der eigenen Leute gegenüber. Der Streit Schäffer gegen Brendel, Krüger, Dörffel wurde mehr und mehr und nicht nur insgeheim zu einem Streit nach Art eines Zwei-Fronten-Koalitionskrieges mit wechselnden Bündnispartnern: Schäffer gegen Brendel, Krüger, Dörffel, und Schäffer, Brendel, Dörffel gegen Krüger. Mit Krüger wurde ausgerechnet der Mann zum eigentlichen Gegner der historischen Methode, der sie durch seine Hegelerkennung vorrangig mit zum Spruch gebracht hatte. Es dauerte lange, ehe sich die historische Musikkritik nach Brendelart einbürgerte. Die Methoden der „Neuen Berliner Musikzeitung“ suchten immer noch abseits der geschichtlichen Erkenntnis, wenn auch auf dem Boden eines gegenüber Brendel verschieden interpretierten Fortschritts, Musikkritik auf andere Weise zu gestalten. Wer sich am lautesten gegen Brendel empörte, war selbstredend die inzwischen als Erbfeind angesehene „Allgemeine musikalische Zeitung“, die seit 1846 von Lobe redigiert wurde. Deren bis zur Unerträglichkeit wiederholtes Schlagwort von der ‚Unpartheylichkeit‘ schien in unausgleichbarem Gegensatz zur von der Brendelschen Zeitung geforderten Parteilichkeit zu stehen. In Wirklichkeit deckten sie sich vom Ansatz her und unterschieden sich nur in den Interpretationen. Lobe wie Brendel erklärten, niemandem Unrecht tun zu wollen. Bei Lobe führte das zu einem Unterdrücken kritischer Anmerkungen, bei Brendel zu einer Hilfestellung für den Künstler von Zukunft und zu einer Abwertung als zweitrangig angesehener Kolle-

420

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

gen, aber auch zu einem Stillschweigen in den Fällen, in denen man die Leistung nicht absprechen konnte, sie jedoch aus Gründen der eigenen Fortschrittsdoktrin nicht unbedingt bewerben wollte. b) Fink und die Allgemeine musikalische Zeitung Was die „Allgemeine musikalische Zeitung“ unter Finks Redaktion zum Thema Musikkritik beisteuerte, war verwunderlich genug. Es gewinnt fast den Anschein, als habe sie nur noch aus bissiger Opposition gegen die jüngere Konkurrenz gelebt. Die predigerhaften Vorworte Finks, die bis zu seinem Ausscheiden nicht mehr fehlen sollten, sind nur verschiedenartige Variationen über dasselbe Thema: daß sein Blatt die Parteilichkeit verwerfe. Diese Einleitungen und Vorworte beginnen mit dem Jahrgang 1829 und ziehen sich bis zur Ablösung Finks hin. Zusätzlich gibt es noch Aufsätze aus der Feder Finks, die allein schon mit ihren seltsam verschraubten, von den Zeitgenossen als verzopft eingestuften Titeln aussagestark genug sind, etwa im Juli 1837 der Artikel „Noch ein Beweis, daß die jetzt weit verbreitete Parteiung im Fache der Tonkunst sich bis in die Ohren fortsetzt“ [II, 337], oder im Januar 1838 „Einiges über Verschiedenheit der Kunstansichten und Einsichten, sowie darüber, was für unsere Mittheilungen daraus folgt“(1) [II, 350]. Fink war schnell bereit, fremde Äußerungen parteiisch zu nennen. Eigentlich genügte ein erklärtes Eintreten für einen Künstler. Die sich dazu verstanden, waren in den Augen Finks parteiisch. Dabei war kaum jemand parteiischer als er selbst, der aus seiner tiefen Abneigung gegen die konkurrierende „Neue Zeitschrift für Musik“ kein Hehl machte und dabei nicht einmal ein richtiges Verhältnis zu Mendelssohn fand, dem doch nun wirklich keine umstürzlerisch künstlerischen Tendenzen nachgesagt werden konnten(2). Auf der anderen Seite zählte Fink zu den wenigen Musikern, die frühzeitig die letzten Quartette Beethovens verteidigten. Streckenweise läßt sich die Zeitung nicht mehr richtig zuordnen. Es erscheinen Arbeiten, die in ihr eigentlich nichts zu suchen haben, weil sie im Widerspruch zur Rezensionsrealität und zur Richtung stehen. Man kann daraus schließen, daß das einstmals so berühmte Korrespondenzwesen der Zeitung Einbrüche erlitten hatte und man daraus Konsequenzen ziehen mußte, die ungewollt zum inneren Widerspruch führten. Es hörte sich zwar gut an, wenn neue Mitarbeiter versprachen, frischen Wind in die Zeitung hinein zu bringen; aber das waren ja zunächst nur Worte. Fink bzw. nachher Lobe mochten in der Spätzeit ihrer Zeitung Korrespondenten wie Otto Kraushaar aus Kassel oder Julius Schladebach aus Dresden Einlaß gewähren; aber deren Kunstvorstellungen vertrugen sich ganz und gar nicht mit der bewährten Vorsicht der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ und deren redaktionellen Grundanschauungen.

9. Die Brendel-Opposition. Opposition von außen

421

c) Ludwig Bischoff und die Rheinische Musik-Zeitung für Kunstfreunde und Künstler Die im Juli 1850 von dem bereits im 57. Lebensjahr stehenden Ludwig Bischoff ins Leben gerufene „Rheinische Musik-Zeitung für Kunstfreunde und Künstler“ war trotz aller schönen Worte im ausgedehnten Prolog „Was wir wollen“(3) [II,750] eine gegen die zeitgenössische Musik gerichtete Parteizeitung, die noch im selben Jahr mit dem Brendel-Kreis in Streit geriet [II,751; II,752; II,753]. Bischoff stammte aus Dessau und war, bevor er 1850 nach Köln kam, 26 Jahre lang Gymnasialdirektor in Wesel gewesen (27.1.1794 bis 27.2.1867). An den Freiheitskriegen hatte er als Kavallerist teilgenommen. Sein Freund Ferdinand Hiller rühmte seine Freundlichkeit, sein gediegenes Wissen und verlor kein Wort über Bischoffs Rolle als gegen jede moderne Bewegung laut ankämpfender Musikkritiker. Bischoff spricht von der ‚Ideenrevolution‘, die stattgefunden, und vom Umsturz, der nunmehr das Volk zum wesentlichen Bestandteil des Musiklebens gemacht habe. Die Teilnahme des Volkes müsse weiter befördert werden. Bischoff begründet damit die Notwendigkeit einer neuen Musikzeitschrift, deren Sprache vor allem einfach sein müsse. Auch vom Wissenschaftler verlangt Bischoff Faßlichkeit seiner Aussagen. Bischoff gab die Redaktion der „Rheinischen Musik-Zeitung für Kunstfreunde und Künstler“ im Jahre 1853 ab und gründete im selben Jahr die „Niederrheinische Musik-Zeitung für Kunstfreunde und Künstler“, die er bis zu seinem Tod redigierte. Die Zusammenhänge sind nicht erforscht. Mit dem Verzicht auf die Redaktion der „Rheinischen Musik-Zeitung für Kunstfreunde und Künstler“ änderte sich deren Stil. Man begann mit einer neutralen Berichterstattung über Liszt und Wagner. Von Polemik war keine Rede mehr. Bischoff, ein Meyerbeer-Verehrer, der noch 1859 die gegen Beethoven gerichtete Mozart-Biographie Ulibischeffs ins Deutsche übersetzte, sah sein musikkritisches Lebenswerk in einer Bekämpfung aller Ideen, die von der sogenannten ‚Neudeutschen Schule‘ und inzwischen von der Mehrheit der seriösen Musikkritiker vertreten wurde. Vermutlich hat Bischoff durch seine ebenso laute wie grobschlächtig-wütende Polemik mit seinem Verleger M. Schloss Schwierigkeiten bekommen, so daß er die Redaktion abgab oder abgeben mußte. Seine Neugründung der „Niederrheinischen Musik-Zeitung für Kunstfreunde und Künstler“ erschien in der in Köln beheimateten M. DuMont-Schauberg’schen Buchhandlung. Dort setzte er seinen Kampf gegen die neudeutsche Schule fort. Für die System- und Methodenstreitigkeiten ist Bischoffs Blatt unergiebig, nicht aber für die Werkkritik in der beginnenden zweiten Jahrhunderthälfte. d) Der Schucht-Brendel-Gottwald-Streit 1) Lobes letzter Versuch Zweimal noch befaßte sich die „Allgemeine musikalische Zeitung“ mit musikkritischen Problemen grundsätzlich. Eduard Krüger hatte ein damals viel genanntes Buch „Beiträge für Leben und Wissenschaft der Tonkunst“ veröffentlicht, über das

422

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

Gustav Nauenburg 1847 berichtete(4) [II,632]. Die ausgedehnte Rezension breitet sowohl die bekannten Nauenburgschen wie die Krügerschen Überzeugungen aus. Lobe versuchte nun ein letztes Mal, gegen die übermächtige Konkurrenz und die Vorstellungen der „Neuen Zeitschrift für Musik“ anzukommen und das seinen eigenen Interessen und Nachfolgemöglichkeiten zuwiderlaufende kritische Programm Brendels in Frage zu stellen, der mit seiner Ideenfülle inzwischen auch in anderen, nämlich organisatorischen Bereichen den schwerfälligeren Lobe hinter sich gelassen hatte. Diesmal setzte er über Schucht bei Brendels Behauptung vom ‚überwundenen Standpunkt‘ an(5) [II,674]. Zwischen beiden Zeitungen bestand Krieg. Davon zeugen die Offenen Briefe, die gegenseitigen Angriffe aller Art und vor allem die nicht unbemerkt bleibenden heimlichen Sticheleien. 2) Schucht Der weitgehend unbekannte Schucht wurde zum Wortführer einer Auseinandersetzung, die sich, anders als gewöhnlich, nicht in einer Zeitung mit Rede und Gegenrede abspielte, sondern in zwei Blättern gleichzeitig. Schucht schrieb ausschließlich in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“, in der Brendel sich nicht äußern kann und sich vermutlich auch nicht äußern will. Brendel entgegnete selbst und durch Gottwald im eigenen Blatt, ohne daß dessen Leser zunächst original Schucht kennen lernen konnten. Schucht stößt sich am Brendelschen Begriff vom ‚überwundenen Standpunkt‘, der zum Modeschlagwort geworden war. Er begrüßt es zwar, daß die Musikkritik jetzt prinzipieller als früher verfahre, will aber einen ‚überwundenen‘ Standpunkt nicht gelten lassen. Er fragt, welcher Komponist denn wohl den errungenen Standpunkt der Neuzeit repräsentiere. In der Philosophie könne man wohl das eine System durch ein anderes überholen; derartige Begriffe aber auf die Tonkunst anzuwenden sei widersinnig, weil sich die eigentlichen substanziellen Inhalte der Musik als einer Sprache der Gefühle und des Herzens nicht änderten. Um so weniger vermöchten klassische Schöpfungen zu veralten, da sie ja das darstellten, was noch nie gealtert sei und auch niemals altern werde(6). Schucht war für Brendel kein ernstzunehmender Gegner, deshalb widmete er ihm auch keinen eigenen Artikel, sondern fing seine Argumente beiläufig in einem größeren Zusammenhang ab, ohne dabei Schuchts Namen zu nennen. Jean F. Schucht aus Holzthalleben in Thüringen war damals 25 Jahre alt (geb. 17.11.1822), Schüler von Otto Kraushaar, Moritz Hauptmann und Louis Spohr in Kassel, später Schüler von Wartensee in Frankfurt am Main, wurde Dr. phil. und lebte als Musiklehrer und populärer Schriftsteller zuerst in Berlin, seit 1868 in Leipzig, wo er am 30. März 1894 starb. Er war, wie alle Kraushaar-Schüler, gegen die neue Zeit voreingenommen, darüber hinaus keine Persönlichkeit mit selbständiger Meinung. Er zeigte die typische Verklemmtheit oder auch retrospektive Versponnenheit des sich selbst überschätzenden Theoretikers, der unbeirrbar und trotzdem unsicher bei seiner einmal entwickelten Meinung bleibt und, wenn er Widerstand erfährt, polemisch überzieht. Doch verstand er besser mit der Sprache umzugehen als Kraus-

9. Die Brendel-Opposition. Opposition von außen

423

haar, weil er vermutlich einen höheren Bildungsstand mitbrachte. Er widmete sich keineswegs ausschließlich der Musik, sondern verfaßte mancherlei Arbeiten nicht musikalischen Inhalts. Daß er 1869 eine Biographie über Meyerbeer veröffentlichte, zeigt zusätzlich die Richtung, in die er dachte, und warum er jener Schar zuzuzählen war, die sich modernen Gedanken verweigerte. Ohne seinen Streit mit Brendel beziehungsweise Gottschald und seine beiden Artikel in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ wäre er namenlos geblieben. Außer in diesem Zusammenhang hat er in der Geschichte der deutschen Musikkritik keine Rolle mehr gespielt. 3) Antwort Brendel Es ist nicht einmal sicher, ob es sich bei dem Brendel-Artikel „Die Forderungen der Gegenwart und die Berechtigung der Vorzeit“ vom 2. September 1848 um eine Antwort auf Schucht oder nicht eher um eine allgemeine Stellungnahme zum ausufernd umstrittenen Begriff vom überwundenen Standpunkt gehandelt hat(7) [II,677]. Eine so durchdachte Arbeit fast schon in Essay-Form entsteht nicht in wenigen Tagen, sondern setzt einen längeren Denk- und Reifeprozeß voraus. Vermutlich ist das der Grund gewesen, warum sich Brendel nicht ausdrücklich auf Schucht bezog, sondern seine Arbeit nur durch den Nebensatz „Erst kürzlich wurde in dieser Hinsicht, Nr. 33 der Allg. musik. Zeitg., eine Anfrage gestellt“ in eine wahrscheinlich nachträglich vorgenommene Beziehung zu Schucht brachte(8). Brendel hatte damals eine Serie ‚Fragen der Zeit‘ ausgearbeitet. Unter römisch III veröffentlichte er auf knapp 10 Spalten seine Überlegungen zum Verhältnis alter zu neuer Musik und definierte das Schlagwort vom überwundenen Standpunkt. Sie zählen, abgesehen vom aktuellen Anlaß, zu den treffsichersten Gedankengängen Brendels. Brendel spricht sich gegen die unhistorische Ansicht aus, Empfindungen unterlägen keiner künstlerischen Veränderung. Er sieht in den zahlreichen Theoretikern, die neben der Gleichheit den Unterschied nicht bemerken und damit die Weiterbildung eines Gegenstandes im Laufe der Geschichte leugnen, eine konservative Partei, weil sie meinen, Schönheit bleibe immer dieselbe, gleich ob sie vor tausend Jahren erschienen sei oder ihre Entstehung der Gegenwart verdanke. Dann weist er nach, daß die Mißverständnisse zum Begriff des überwundenen Standpunktes nicht in der Sache selbst lägen, sondern dem Unverständnis der Gegner zuzuschreiben seien. Brendels Aufsatz ist dialektisch angelegt. Er stellt die Berechtigung und die Gültigkeit einer jeweils alten Musik fest. Er stellt die Berechtigung und die Gültigkeit einer jeweils neuen Musik fest. Er kommt zu dem Schluß, die Berechtigung und die Gültigkeit einer jeweils alten Musik schließe die Berechtigung und die Gültigkeit einer jeweils neuen Musik nicht nur nicht aus, sondern das eine bedinge das andere. Geschichte ist für Brendel ein Fluß, dessen Strömen sich nicht aufhalten läßt. In diesem Aufsatz definiert Brendel auch seine Vorstellung vom Fortschritt, den er nicht als eine Verbesserung des Alten auf dessen Kosten versteht, sondern als eine Veränderung aus einem anderen, sich selbst immer wieder verändernden Lebensgefühl heraus. Brendel faßt zusammen: „Wir erblicken das dialektische Umschlagen dieser in ihrer extremen Beschaffenheit gefaßten Richtungen. Beide sind berechtigt, beide

424

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

zugleich einseitig, und fordern ihre Ergänzung durch den Gegensatz. Die Einheit, die Durchdringung beider ist das einzig Wahre, die Einsicht, wie die Kunst nur in dem lebendigen Flusse der Zeiten existirt, hocherhaben über der wechselnden Bewegung der Mode, und doch zugleich dieser unterworfen, und die mannigfachen Gestaltungen derselben durchlebend. In der flüchtigen Zuspitzung des Augenblicks erscheinen jene allgemeinen Mächte, und nur auf dem Grunde der Sympathie mit dem Augenblick ist der Aufschwung zu den Höhen der Zeit möglich“(9). Man versteht, warum sich Brendel wenige Jahre später zu Wagner hingezogen fühlen muß, wenn in eben diesem Aufsatz einer der späteren Wagnerschen Lieblingsbegriffe, das „Rein-Menschliche“ beschworen wird, „das sich stets Gleichbleibende, von den Schwankungen des Augenblicks unberührte“(10), dessen sich überzeitliche Kunst bediene. Brendels Warnungen vor den Gefahren einer Ausschließlichkeit rückwärts gerichteter Kunstbetrachtung sind fast schon prophetisch: „Der Künstler soll sich nicht abschließen gegen seine Zeit, und lediglich die Fäden seines Daseins an die Vergangenheit knüpfen; es ist grundfalsch, von der Vergangenheit aus eine oppositionelle Stellung gegen die Gegenwart einzunehmen. Wer heutzutage ausschließlich den großen Meistern der Vergangenheit huldigt, und was die Gegenwart leistet, schmäht und verachtet, der darf sich nicht beklagen, wenn auch diese Gegenwart ihn völlig unbeachtet läßt“(11). Brendel spricht von Parteibildungen, von den Konservativen, die ausschließlich der Vergangenheit huldigen, von den Reformern, die der Gegenwart ihr Recht lassen, ohne sie zu überschätzen. Überwundener Standpunkt heißt für ihn nicht, die Leistungen der Vergangenheit zu schmälern oder sie aus dem zeitgenössischen Kunstleben auszusondern, sondern Kunst aus einem Lebensgefühl heraus, das nicht mehr das zeitgenössische ist und das in neuen Kunstwerken unverändert neu zu beschwören keine Gegenwart und keine Zukunft haben kann, weil beide nach dem Fluß der weiterströmenden Geschichte längst ihrem eigenen Lebensgefühl folgen müssen. Für Brendel ist Griepenkerl, der nur die Gegenwart gelten lassen wollte und alles Überkommene ablehnte, ein negatives Beispiel, und er ordnet ihn entsprechend „der musikalischen äußersten Linken“ zu, mit der er nichts zu tun haben will(12). 4) Schuchts Replik Der Brendelsche Artikel ist voll visionärer Leidenschaft, aber ohne polemische Spitze, sogar ohne Arg geschrieben. Niemand wird mit Namen genannt, niemand wird angeprangert, es wird von Gruppen gesprochen, nicht von Einzelpersonen. Schucht dagegen fühlte sich angegriffen. Vermutlich von Lobe bestärkt, der sich immer wieder in die Opposition gedrängt sah, prasselte auf Brendel jetzt ein Donnerwetter nieder, das in dieser Form nicht vorauszusehen war. Bei Schucht war alle akademische Bildung plötzlich Illusion geworden. Da geht es in seinem als Replik zu verstehenden zweiten Artikel zum Thema „Der überwundene Standpunkt der Tonkunst“(13) [II,690] über „die Herren Brendel und Konsorten“(14) her, über deren „Phrasen“ als Folge „subjektiven Geschwätzes“(15). Möglicherweise sah Lobe in dieser vorletzten Nummer seiner Zeitung die wirklich letzte Gelegenheit,

9. Die Brendel-Opposition. Opposition von außen

425

seinem inzwischen verhaßten Widersacher noch einmal die Meinung zu sagen. Schucht fragt, wo denn die von Brendel erwähnte Partei existiere. Der Redakteur der „Neuen Zeitschrift für Musik“ habe sich ohne Zweifel eine solche nach seinem persönlichen Dafürhalten und seiner Phantasie geschaffen; denn in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ seien noch nie solche Ansichten geäußert worden, die Brendel ihr unterstelle. Derjenige müsse wohl blind sein, der in der Kunst keinen Fortschritt sehe, wenn auch eben nicht in dem Lichte, wie der Redakteur es meine. Schucht behauptet, daß „ein wirklich naturgemässer Fortschritt hinsichtlich des Ideals nach den Werken Mozart’s und Beethoven’s nicht mehr erreicht werden kann, wohl aber ein Formenwechsel, ein Umgestalten der verschiedenen Arten von Formen“(16). Fortschritt, wahrhafte Vervollkommnung sei nur damals möglich gewesen, als sich das System der Tonarten und der dadurch bedingten Harmonie noch nicht in der vollendet naturgemäßen Weise, wie man es heute besitze, entwickelt habe. Er bestreitet die Möglichkeit der Übertragung wissenschaftlicher Prinzipien der Neuzeit auf die Kunst und schreibt, Brendel habe sich durch seine Darstellung „bei der Mehrzahl der Künstler und Kunstfreunde in ein höchst komisches Licht“(17) gestellt. Im selben Zusammenhang wettert er gegen die zeitgenössische Kunst, gegen „Knalleffekte, geschraubte // Melodieengänge, bizarre Harmoniefolgen, so wie ohrenzerreissende Dissonanzen und wie all’ die Missgeburten des Zeitgeistes heissen mögen, die uns gewisse Leute für Originalität, für den einzig wahren Geist der Zeit anpreisen und ihn als Ideal aufstellen möchten“ (18), Bemerkungen, die sich offenkundig gegen Berlioz, aber auch gegen Schumann, Chopin, möglicherweise gegen Liszt, nicht gegen Wagner richten, der zu dieser Zeit noch keine namhafte Rolle spielte. Das Demokratische, das Brendel vertritt, hat es ihm besonders angetan, und er verlangt den Nachweis von vier aristokratischen und vier demokratischen Takten, weil es so etwas geben müsse, wenn es aristokratische und demokratische Stücke gäbe(17). Schucht bezieht den Brendel-Text ausschließlich auf sich und Lobes Zeitung. Es mag sein, daß Brendel sicherlich nicht Schucht, wohl besonders Lobe mit im Auge hatte, der in der letzten Zeit wiederholt Brendel angriff; aber Brendel sprach allgemein, ohne jemanden zu nennen und ohne die Lobesche Zeitung außer in dem berechtigten Randsatz zu erwähnen, und auch diese Erwähnung war informativ, nicht polemisch gemeint. Brendel handhabte das journalistisch sehr geschickt, weil er seine Leser nicht auf die „Allgemeine musikalische Zeitung“ hinwies, während Lobe, der sich im Recht fühlt, in vermeintlicher Selbstverteidigung mit seiner unentwegten negativen Nennung von Brendel und der „Neuen Zeitschrift für Musik“ und deren dort erschienenen Texte seine eigenen Abonnenten, ohne es zu wollen, geradezu aufforderte, seine Behauptungen am Original der Brendelschen Zeitschrift nachzulesen und sie damit in die Arme der weitaus geschickteren, weil frischeren Konkurrenz trieb. Brendel dagegen bestritt denen, die er konservativ nannte, nicht das Recht, im Alten zu beharren, wohl aber, das Neue zu schmähen. Und Schucht machte genau das, was Brendel in Richtung der sogenannten Konservativen aus Überzeugung vermied: er schmähte das Neue, indem er von „Missgeburten“ sprach.

426

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

5) Gottschald Von Brendel bekam er keine Antwort mehr. Die besorgte Ernst Gottschald mit seinem zweiteiligen Artikel „Ein Prophet des Stillstands“(19) [II, 698]. Diese Antwort war eine nicht minder polemische und von daher unangenehme Abrechnung gleichzeitig mit Schucht wie mit Lobe und der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“. Gottschald, offensichtlich so Erfüllungsgehilfe Brendels wie Schucht derjenige Lobes, hatte verhältnismäßig leichtes Spiel. Daß er gleich in der Überschrift Schucht als einen „Propheten des Stillstands“ bezeichnet und in der ÜberschriftFortsetzung die „Allgemeine musikalische Zeitung“ namhaft macht, ist als Eröffnungs-Schlag gegen Schucht wie gegen Lobe gedacht, dessen Zeitung er in der ersten Zeile als das „von den Stürmen der Zeit unberührte Asyl“(20) nennt. Sie läßt es sich nach Gottschald „angelegen sein“, seit einiger Zeit „Angriffe gegen diese Bl. zu schleudern“, eine sicherlich etwas stilblütenartige bildverquere Charakterisierung der gestörten Beziehungen zwischen den beiden Fachzeitschriften und ihren Redakteuren. Dabei geht Gottschald in Wahrung eigener Interessen davon aus, daß für diese Angriffe die Brendelsche Zeitschrift keinen Anlaß gegeben habe und auch er, Gottschald, in der Schucht „unsanft“ berührenden Widerlegung nicht den gebotenen Anstand „aus den Augen zu setzen“ gedenke, dagegen er dem eifernden Schucht „Unhöflichkeit“ bescheinigt. Beide Schuchtschen Artikel stehen unter dem Oberbegriff vom bestrittenen ‚überwundenen‘ Standpunkt, und Gottschald meint dazu, Schucht stelle sich unter einem überwundenen Standpunkt „eine abgethane Sache, ein weggeworfenes Möbel“(21) vor. Er gibt zunächst dreiseitig eine gedrängte Zusammenfassung der von Schucht in seinen beiden Artikeln geäußerten Meinungen und aufgestellten Thesen. Das geschieht in einer ziemlich ironischen Weise. Man gewinnt den Eindruck, als ob Gottschald seinen Gegner nicht richtig ernst nehmen will. „Entschuldigen Sie diese Wiederholungen; mich leitete die Rücksicht auf die Leser, welche ihre vortrefflichen Ansichten nicht frisch mehr im Gedächtniß haben möchten“ (22). Dann geht er die von Schucht rhetorisch gemeinten Fragen und die Thesen in einer Weise durch, daß sie sich wie von selbst gegen den Fragenden und Philosophierenden richten. Da ist beispielsweise Schuchts Ärger über die Behauptung von der Existenz einer konservativen Partei, die er bestreitet, obwohl er sich eingangs seines zweiten Artikels selbst dazu gerechnet sieht. Gottschald weist auf den Widerspruch hin. Daß eine konservative Partei in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ bestehe, beweise Schucht ja gerade selbst und zwar in dem Augenblick, in dem er verstorbenen Meistern in der Gegenwart dieselbe Stellung einräume wie diese in ihrer eigenen Zeit hatten. Von der „unendlichen Vertiefung des Selbstbewußtseins im Laufe der Jahrhunderte“ wisse er nichts. Ihm sei das Beten die Hauptsache, „wie gebetet“ werde, ob zu Zeus oder zur Jungfrau Maria, sei ihm gleichgültig(23). Demgegenüber behaupteten er, Gottschald und diejenigen seiner Meinung, daß „wir darin nicht mehr unser eigenstes Wesen wiederfinden, daß wir jene früheren Schöpfungen nicht mehr zum Ausdruck unseres eigenen Herzensbedürfnisses gebrauchen können, daß zwar das ächt Menschliche jener Werke auch unsere Sympathie erweckt, wir aber ein Mehr besitzen, das dort nicht zum Ausdruck gekommen ist, und das macht gerade den Unterschied, das ist das conservative

9. Die Brendel-Opposition. Opposition von außen

427

Element in Ihren Ansichten, daß Sie dieses: Mehr, nicht anerkennen. Sie sind es, der da meint, daß die Empfindungen der Rache, Eifersucht etc.(24) die Sie trivialer, althergebrachter Weise als die Hauptobjecte der Tonkunst betrachten, ganz dieselben sind, gleichviel, ob sie ein Chinese, ein Indier, ein alter Grieche, ein Mensch des Mittelalters, oder ein moderner Mensch hegt“(23). Am Beispiel des umstrittenen Ulibischeff sucht Gottschald nachzuweisen, was geschieht, wenn jemand einen alten Standpunkt zu konservieren versucht und dazu das Neue verwerfen muß, nur weil es ein Neues ist, „ganz übereinstimmend mit ihren Collegen auf dem Gebiet der Politik, welche die Nothwendigkeit, die Berechtigung der neuen Bewegung auch in Abrede stellen“(25). Schucht hatte in Bezug auf Mozartsche und Beethovensche Musik behauptet, daß „dieser Inhalt nur eben diese Form und diese Form nur eben diesen Inhalt bedingt und hervorgerufen“(26) habe, eine Anschauung, der eigentlich nichts entgegenzusetzen wäre, wenn die Schuchtsche Schlußfolgerung nicht unlogisch erschiene: es wären fürderhin nur noch neue Formbildungen (also keine neuen Inhalte) möglich. Gleichzeitig spricht er von einem gleichbleibenden Empfindungsinhalt und stellt im Falle Haydn, Mozart und Beethoven beispielhaft fest, daß bei ihnen ein Inhalt immer eine ganz bestimmte Form nach sich zieht, somit Form und Inhalt zugeordnet miteinander verschränkt sind. Richtig gefolgert müßte sich dann eine neue Form auch mit einem neuen Inhalt verbinden und umgekehrt. Hier setzt Gottschald an. Es geht um Schuchts Verständnis vom Fortschrittsbegriff. Die Auseinandersetzung darüber bestreitet die Fortsetzung der Gottschaldschen Arbeit. Den ersten Teil hat er geradezu süffisant geschlossen, „die Herren“, welche es „durchaus nicht leiden wollen, obschon sie die dadurch bezeichnete Sache vertreten“, gemeint ist die Zugehörigkeit zur imaginären konservativen Partei(25), und „Da es indeß nothwendig ist, Ihnen gegenüber auch Dinge zu erörtern, die wir sonst voraussetzen, so will ich ein näheres Eingehen nicht scheuen“(27). Den zweiten Teil eröffnet er mit einem Beispiel aus der klassischen Literaturgeschichte, an dem er nachweist, wie sehr neue Inhalte in die Literatur eingedrungen sind und sich nicht bloß Formenwechsel vollzogen haben. Den Fehlschluß Schuchts greift Gottschald nicht auf, möglicherweise hat er ihn nicht einmal bemerkt. „Wohl hat Keiner wieder ein solches umfassendes Ideal hingestellt, aber die Welt der Ideale ist bereichert worden. Oder finden Sie wirklich bei Mendelssohn und Schumann nur leere Nachtreterei und Formenwechsel? Haben Sie vor Beethoven ein Ideal nordischen Lebens aufzuweisen, wie bei Gade? Hat ein Tondichter vor Beethoven die leichten Rhythmen des Tanzes zu geistig belebten, idealen Gebilden verklärt, wie in neuerer Zeit Chopin? Und endlich, welche Zeit vor Beethoven hat in der Durchdringung der Liedform mit dem eigenthümlichsten, reichsten Schatz von Idealen das schon geleistet, was wir Schumann, Mendelssohn u. A. verdanken? Hier haben Sie ein Stück des neuen Inhaltes, den die Musik der Gegenwart zur Darstellung gebracht hat, und noch bringt. Dieser Inhalt ist ihr eigenthümlich, er herrscht in ihr, und insofern ist der Standpunkt der früheren Zeit vor Beethoven – mit ihr beginnt die Periode der Gegenwart – überwunden, er hat nicht mehr, wie zu seiner Zeit, ein ausschließliches Recht, der geistige Mittelpunkt einer neuen Epoche zu sein, er ist als Alleinherrscher zurückgedrängt von der geistigen Bewegung, aber

428

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

er ist nicht gleichgültig bei Seite geworfen, er behält seine ewige Bedeutung als Entwicklungsphase, er ist ein geistiges Vermächtniß, das in Ewigkeit die reichsten Früchte trägt“(28). Gottschald bezeichnet Schucht geradezu als einen Leugner des Geistes überhaupt, weil er über die bloßen Erscheinungen hinaus nicht zum Wesen durchzudringen vermöchte(29). Im letzten Abschnitt untersucht Gottschald die Einwirkungen der politisch-geistigen Strömungen auf die Musik, die Schucht abstritt, und gelangt zu dem Schluß, Musik wurzele in der Gegenwart und müsse die „Farbe ihrer Zeit“ tragen(30). Daher flössen in die alte Musik aristokratische, in die neuere demokratische Prinzipien mit ein. Gottschalds Argumente sind keineswegs zu allgemein gehalten, um nicht nachvollzogen werden zu können. Im Überschwang der Revolutionsbegeisterung mit ihren vielfältig erwarteten politischen Verbesserungen wird Euphorie gefährlich, wenn es ums Detail geht. Gottschald weicht nicht aus, sondern erinnert an das veränderte Lebensgefühl nach der Französischen Revolution, das auch in die Kunst ausstrahlte. Für ihn sind Haydn und Mozart Aristokraten, Beethoven dagegen ist Demokrat(29). Und schließlich tritt Gottschald Schucht auch in der neuen methodischen Klassifizierung entgegen. Er, Schucht, sei von „der Anschauung der Einheit alles geistigen Lebens“ noch sehr weit entfernt und ohne Bewußtsein davon, „wie ein Princip es ist, welches in einer Zeitepoche alle Erscheinungen“ durchdringe(31). Deshalb sei auch die Ästhetik ein Teil der höheren Wissenschaft geworden und habe mannigfache Vorteile damit errungen, weil eben entgegen seiner Meinung gerade doch die Kunstperioden parallel zur Wissenschaft verliefen. Mit der bissig-unhöflichen Bemerkung, er habe keine Lust, sich noch weiter mit ihm herumzustreiten, weil ihm alle Voraussetzungen zur Diskussion fehlten, nämlich „leidenschaftsloses Eingehen, ruhige Erörterung“ und „größere Vertrautheit mit den Bestrebungen der Neuzeit“(31), beendet Gottschald seine Gegen-Philippika. Sicher hätte sich Schucht gerne noch einmal zur Wehr gesetzt, doch er hatte dafür keine Plattform mehr, weil die „Allgemeine musikalische Zeitung“ schon mit der nächsten Nummer ihr Erscheinen einstellte(32). Schuchts 2. Artikel erschien am 22. November, Gottschalds Antwort am 23. und 26. Dezember, die letzte Nummer am 27. Dezember 1848. Des notwendigen Vorlaufs und des abzuarbeitenden Stehsatzes wegen wäre eine weitere Schucht-Replik zeitlich nicht mehr möglich gewesen. (1) Fink: Noch ein Beweis …, AmZ XXXIX/27, 5.7.1837, Sp.445–446; Fink: Einiges über Verschiedenheit …, AmZ XL/5, 31.1.1838, Sp. 74–76; (2) Fink: Felix Mendelssohn-Bartholdy, AmZ 1845/4, S. 49; (3) RMZKK I/1, 8.7.1850, S. 1a–6b; (4) G. Nauenburg: Kritische Paraphrasen über Dr. E. Krüger’s ‚Beiträge für Leben und Wissenschaft der Tonkunst‘, AmZ XLIX/44+45, 3.+10.11.1847, Sp. 755–757, 769–776; (5) J. Schucht: Der überwundene Standpunkt in der Tonkunst, AmZ L/33, 16.8.1848, Sp. 536–538; (6) Schucht, a. a. O. Sp. 536–537; (7) Franz Brendel: Die Forderungen der Gegenwart und die Berechtigung der Vorzeit, NZfM XXIX./19, 2.9.1848, S. 101a–105b (= Fragen der Zeit III); (8) Brendel, a. a. O. S. 101b; (9) Brendel, S. 103a; (10) Brendel, S. 102a;

10. Die Brendel-Opposition. Opposition von innen

429

(11) Brendel, S. 103b; (12) Brendel, S. 104a–104b; (13) J. Schucht: Der überwundene Standpunkt der Tonkunst. Zweiter Artikel, AmZ L/47, 22.11.1848, Sp 755–759; (14) Schucht, (2. Artikel), Sp. 756; (15) Schucht, (2. Artikel), Sp. 755; (16) Schucht, (2. Artikel), Sp. 757; (17) Schucht, (2. Artikel), Sp. 758; (18) Schucht, (2. Artikel), Sp. 756–757; (19) Gottschald: Ein Prophet des Stillstands und zwei Artikel der Allg. musik. Zeitung, NZfM XXIX./51, 23.12.1848, S. 293a–296b; ~ /52, 26.12.1848, S. 298a–300b; (20) Gottschald, a. a. O. S. 293a; (21) Gottschald, S. 293b; (22) Gottschald, S. 294b; (23) Gottschald, S. 295a; (24) original als et-cetera-Zeichen; (25) Gottschald, S. 295b; (26) Schucht, (2. Artikel), Sp. 757; (27) Gottschald, S. 296b; (28) Gottschald, 298b; (29) Gottschald, S. 299a; (30) Gottschald, S. 300a; (31) Gottschald, S. 300b; (32) Breitkopf & Härtel: An die Leser, AmZ L/52, 27.12.1848, Sp. 859/860q; J. C. Lobe: Abschied des Redakteurs, a. a. O. Sp. 859/860q.

10. DIE BRENDEL-OPPOSITION. OPPOSITION VON INNEN a) Vorwort Schlimmer als die Anfeindungen aus dem Umkreis der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ mußten Brendel die Angriffe aus den eigenen Reihen treffen. Sie kamen aus Kreisen einer inzwischen ebenfalls überlebten Neuromantik Schumanns. Sie alle verbindet aus späterer Sicht die mit unterschiedlicher Abstufung geäußerte Ablehnung Liszts und Wagners. Sie eint ferner eine unhistorische Denkweise, die nicht bereit ist, kompositorische und noch weniger musikpraktische Tätigkeit in einem übergeordneten kulturellen Zusammenhang zu sehen, Eduard Krüger ausgenommen, der in allem eine Sonderstellung einnahm. Meist waren es schriftstellernde Komponisten oder komponierende Kapellmeister mit überdurchschnittlichen technischen Fachkenntnissen, aber einem engeren geistigen Horizont bei enorm gesteigertem Selbstbewußtsein auch in Bereichen, in denen sie sich nicht auskannten, so daß Schlagworte oder Attitüden oder nachgeredete Allerweltsweisheiten aus einem abgesunkenen Kulturgut die Regel wurden. Sie gerieten in den Schatten Wagners, waren entweder schon vorab wenig erfolgreich oder wurden mit ihren Opern von Wagner ins Abseits gedrängt. Denn das verband Brendel mit seinen großen Vorgängern, daß er sich nicht als Komponist fühlte, sondern wirklich nur als Musikschriftsteller, Musikdenker, Musikästhetiker, Musikkritiker, Musikorganisator, Musikforscher, oder einfach auch nur als Zeitungsredakteur mit dem

430

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

Willen, in die Kunstgeschichte hineinzuwirken. Der in diesem Reigen früheste interne Gegner war Carl Koßmaly. b) Der Koßmaly-Streit 1) Der Anlaß Carl Koßmaly (in der zeitgenössischen Literatur auch Kossmaly geschrieben) war ein im neuromantischen Kreis um Schumann besonders geachteter Künstler und Schriftsteller. Vor allem Schumann, der ihn in den imaginären Davidsbündlerkreis einzustellen gedachte, schätzte seine Kritiken hoch ein, weil er sich in ihnen wiedererkannte. Koßmaly wiederum war Schumann treu ergeben. Die Schumann-Biographen wissen über ihn nur Lobenswertes zu berichten. Seine Stärke war seine Schwäche. Koßmaly ist nie über die neuromantische Denkweise und seine Verfangenheit in einer bald zweifelhaft werdenden Inspirationsästhetik hinausgekommen und bedachte schon Brendel mit Gegnerschaft, Wagner aber geradezu mit Haß. Seine Mitarbeit an der „Neuen Zeitschrift für Musik“ noch aus Schumanns Zeiten blieb unter Brendel zunächst erhalten. Daß Koßmaly längst einer biedermeierlichen Kunstbetrachtung ohne rationale Steuerung verfallen war, zeigt seine Reaktion auf Brendels Gedanken über den Fortschritt in der Kunst, die der Redakteur im vierten Abschnitt seiner „Fragen der Zeit“ im November 1848 veröffentlichte und den schon Schucht in seiner zweiten Antwort mit im Auge hatte. Koßmaly saß in dieser Zeit in Stettin. Kleinstädtisch-provinziell gedacht, schrieb er nicht einfach unter seinem Namen, sondern gab sich offiziell als Vorsitzender des Stettiner TonkünstlerZweigvereins, in dessen quasi Auftrag er sich mit einem Artikel zu Wort meldete, dessen unelegant-hölzerner Titel „Wissenschaft und Kritik, rücksichtlich ihrer Stellung zur Kunst und zum, in der letzteren anzustrebenden Fortschritt. Beleuchtet von C. Koßmaly“(1) [II,725] geradewegs hätte von Fink stammen können. Im Untertitel gibt er die Quellen an, auf die er sich bezieht, Band 29, Nr. 37 [II,688] und Band 30, Nr. 12, Rubrik ‚Kleine Zeitung‘ [II,712] der „Neuen Zeitschrift für Musik“(2). Es ist nicht auszuschließen, daß bei den Auseinandersetzungen auch Machtkämpfe um den Führungsanspruch in den aufkommenden Tonkünstlervereinen eine Rolle gespielt haben. Mit dem ausdrücklich gegen Brendel gerichteten Artikel vollzog Koßmaly in einem folgerichtigen Schritt seine Trennung von der „Neuen Zeitschrift für Musik“ und wechselte in das Lager der „Neuen Berliner Musikzeitung“. Carl Koßmaly war ein Schriftsteller von aufbrausendem Naturell, der sich häufig im Ton vergriff und ebenso häufig inhuman wirkte. Die Art, wie er 1849 den historisch bedeutenden Alfred Dörffel einer seiner Meinung nach zu freundlichen und daher falschen Rezension über Adolf Bergt angriff, war nicht einmal in der Sache wirklich gerechtfertigt und gehörte der Form nach zu jenen Artikeln, die besser ungeschrieben geblieben wären [II,736].

10. Die Brendel-Opposition. Opposition von innen

431

2) Der Koßmaly-Artikel Koßmalys Artikel läuft über vierzehn Spalten. Nicht das allein ist bemerkenswert, sondern vor allem die mit Sicherheit auf das handschriftliche Original zurückzuführende drucktechnische Aufmachung, die, in diesem Ausmaß ungewöhnlich, beinahe zur Hälfte aus Sperrdruck besteht und damit auf einen Autor verweist, der sich und seine Meinung besonders wichtig nimmt und jeden zweiten Satz noch zusätzlich betonen möchte. Auch sein in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ nachfolgender Aufsatz vom 26. Dezember 1849 [II,738] über (gegen) den überwundenen Standpunkt ist in derselben Weise aufgemacht. Brendel druckte den langen Koßmaly-Text kommentarlos ab, fügte jedoch am Titel eine asteriskversehene Randbemerkung an, er werde in einer der nächsten Nummern eine ausführliche Erwiderung folgen lassen, was auch geschah, allerdings in einem Umfang, der den des Koßmaly-Artikels bei weitem übersteigt. Es beweist, wie ernst Brendel die Auseinandersetzung nahm(3). Auffallend sind die vielen dem „Faust“ entnommenen Goethe-Zitate, bei denen es sich fast ausschließlich um Mephistopheles-Aussagen handelt. Koßmaly merkt nicht, wie er sich mit ihnen selbst widerlegt. Seine Absicht ist, Wissenschaft und Kritik im Hinblick auf Kunst und den von Brendel vertretenen Fortschritt zu untersuchen. Es läuft, auf eine kurze Formel gebracht, auf die Entthronung der von Brendel so hoch angesetzten Musikkritik hinaus. Koßmaly lehnt einen entscheidenden Einfluß von Wissenschaft und Kritik auf den Fortgang der Kunst grundsätzlich ab. Er vertritt den Standpunkt, daß die „Versenkung in die Gebiete der abstracten Wissenschaft, – weit entfernt, fördernd und steigernd auf die Productionskraft einzuwirken, – vielmehr der – bei allem künstlerischen Schaffen so sehr wesentlichen – Unbefangenheit und Naivität entschiedenen Eintrag thut; ebenso wie die dialektischen Spitzfindigkeiten eines theoretisirenden und zersetzenden Kriticismus die ruhige Strömung der musikalischen Inspiration stören – wo nicht – oft gar versiegen machen“(4). Für die Richtigkeit seiner Behauptung nimmt Koßmaly ausgerechnet Goethe in Anspruch, der alles „unfruchtbare kritische Zergliedern und Herausklügeln ästhetischer Lehrsätze“ als „bedenkliche Zeichen augenblicklich eingetretener Geistesebbe und Inproductivität“ benannt habe(4). Dann stellt Koßmaly jedem Brendelschen Satz seine eigene These entgegen. Er findet es unbegreiflich, wie jemand in der Kunst einen Niederschlag der eigenen Zeit sehen kann, weil seiner Meinung nach die Kunst über alle irdische Zeit stehe(5), deshalb höhere Ziele zu erfüllen habe als „dem geistigen Inhalt seiner Zeitperiode als Organ zu dienen“(5). Abschließend protestiert Koßmaly energisch gegen die von Brendel festgestellte Aufgabe und Befugnis der Kritik, „fortan lebendig in den Gang der Ereignisse einzugreifen und eine selbstständige Stellung – der Kunst gegenüber – einzunehmen“ als gegen eine „gänzliche Verkennung des, in der Natur der Sache schon begründeten … untergeordneten Standpunktes und daraus entspringende, maaßlose Ueberhebung“(6). Wie Lange dazu stand, der das Gegenteil behauptete, entzieht sich der Überprüfung.

432

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

3) Die Brendel-Erwiderung Brendels Antwort ließ nicht lange auf sich warten [II,726]. Es bedurfte keines großen Scharfsinnes, um Koßmaly zu widerlegen. Dessen Schumann-Analysen und neuromantischer Idealismus in Ehren, aber daß die Kunst unabhängig von ihrer eigenen Zeit ablaufe, war 1849 wirklich nicht mehr zu vertreten. Für den zeitgenössischen Leser dürfte der Beginn der Brendelschen Erwiderung zunächst ein kleines, nicht durch Koßmaly ausgelöstes Verwirrspiel gewesen sein. Koßmaly bezog sich auf zwei schriftliche Verlautbarungen Brendels in Verbindung mit den Beratungen in der Vorstands-November-Sitzung 1848 des Leipziger ‚Centralvereins‘, wobei fürs Nachlesen erschwerend hinzu kam (hinzu kommt), daß Brendel für die Zeitschrift bei der Band-Zählung geblieben war und nicht auf Jahrgangs-Zählung umgestellt hatte, so daß jede Nummer in jedem Jahr zweimal vorhanden ist, im Band für die erste Jahreshälfte und in dem für die zweite, und man sich angewöhnt hatte, auch nach Bänden und nicht nach Jahrgangsdatum zu zitieren. Bei der einen Verlautbarung handelte es sich um Brendels Zehnspalter „Der Fortschritt“ aus dem 29. Band, erschienen am 4. November 1848, eine der zentralen Quellen für die Aufgliederung der Brendelschen Gedankenwelt, bei der zweiten um eine längere Notiz in der Rubrik „Kleine Zeitung“ über die Versammlung des Leipziger Tonkünstlervereins vom 8. Januar 1849, erschienen am 8. Februar 1849 im 30. Band(2). Dem war die Sitzung vom 11. Dezember 1848 vorausgegangen, über die der Protokollführer H. Schellenberg in den Nummern 46 und 50 des 29. Bandes [II,692 + II,697] berichtete(7). Koßmaly hatte seinen Artikel mit der ihm zugeschickten und von Brendel seinerzeit in der „Kleinen Zeitung“ schriftlich gefaßten Formulierung eröffnet: „schon vor Jahren habe ich ausgesprochen, wie die frühere Periode naturalistischen Schaffens zu Ende gehe, und Wissenschaft und Kritik in Zukunft mit der tonkünstlerischen Thätigkeit sich verschwistern müßten, wenn Bedeutendes geleistet werden, wenn Fortschritte gemacht werden sollten“, die sich auch in Brendels Fortschrittsartikel findet und auf die Brendel in seiner ProgrammErörterung ausdrücklich abhebt(8. Dem setzte Koßmaly die schöpferische Kraft der Erfindung entgegen, wie sie im neuromantischen Kreis gedacht wurde. Brendel tut so, als beschäftige sich Koßmaly mit einem Satz, der längst aus dem Programm herausgenommen worden war und somit nicht mehr Gegenstand einer Erörterung sein konnte. Er verschweigt, daß dieser Satz in seinem Fortschritts-Artikel steht und damit keineswegs für eine weitere Erörterung gegenstandslos geworden war, zumal sich Koßmaly auch mit der veränderten Fassung nicht einverstanden erklärt hatte „… daß sonach Hrn. K.’s Polemik von einem Satze ausgeht, welcher, nur im ersten Entwurf befindlich, im gedruck- // ten Programm gestrichen ist, und demnach nur noch mittelbar hierher gehört“ und „… er ist ein Streich, welche einem Leichnam versetzt wird“ und „… daß es unpassend ist, als Gegner sich hinzustellen, wo man um Rath gefragt wird“(9). Ob man nun das Vereinsgerede wichtig nimmt oder nicht, Brendel sagt nichts darüber, ob der fragliche Satz, den er im Vereins-Programm strich, nicht doch noch für ihn gilt. Tatsächlich vertritt er ihn weiter. Er hatte ihn weggenommen, nicht, weil er ihn inzwischen für falsch hielt, sondern – und das spricht er auch aus – weil er Entgegenkommen zeigen und die ohnehin großen An-

10. Die Brendel-Opposition. Opposition von innen

433

fangsschwierigkeiten des Vereins nicht noch unnötig erhöhen wollte. Anders also als es Brendel, täuschend, darstellt, war Koßmaly in diesem Zusammenhang nicht gehalten, weitere Äußerungen Brendels vergleichend heranzuziehen(10). Dann wird es für Brendel einfach. Koßmalys Goethe-Zitierereien sind unreflektiert, sein dem Aufsatz voran gesetztes mephistophelisches Motto von der grauen Theorie ist ebenso wenig ernst zu nehmen wie die anderen Faust-Zitate, auf die er sich beruft. Brendel erklärt dann auch in mehr als zwei Spalten aus der Sicht der Goethekenner der Jahrhundertmitte seinem Kritiker nicht nur das von seinen Zeitgenossen bis „zum Ueberdruß“(11) strapazierte Theorie-Zitat, sondern überhaupt das Verhältnis zwischen Goethe und Mephistopheles, wie es zu diesen Äußerungen gekommen ist und was sie bedeuten. Reduziert auf die Kernaussage, Geist oder Sinnlichkeit, „spricht er jene berühmten, von Hrn. K. citirten, Worte, welche den Geist höhnend Sinnenlust als das wahre Wesen der Welt und das beste Theil des Menschen aussprechen“(12). Um seinem Werk die Krone aufzusetzen, hätte er den Schüler nur noch in ein Bordell bringen müssen. Er schließt den Abschnitt mit dem Satz „Ich überlasse es jetzt Hrn. K., ob er diesen Standpunkt sich zu eigen machen, ob er auf ihn sich stellen, ob er von ihm aus gegen die Wissenschaft polemisiren will“(12). Brendel hätte ebenso gut anders argumentieren können; denn einen Naturwissenschaftler wie Goethe, dessen experimentell gewonnene Erkenntnisse in seine Poesie übergingen, als theorieabgewandten neuromantischen Esoteriker hinzustellen, wäre schon 1849 kaum ernsthaft zu begründen gewesen. Die weiteren Darlegungen Brendels sind eine Wiederholung und Kommentierung seiner Fortschrittsideen mit anderen Worten. Es gibt Gedanken, die er mit Koßmaly teilt und das auch zugibt, im Grundsätzlichen aber trennt ihn von Koßmaly dessen Verhaftung in der sich überlebenden neuromantischen Vorstellungswelt, die nur rhetorisch etwas von Wissenschaft und Begrifflichkeit wissen will, nicht aber in der Realität – jedenfalls, was die theoretische Betrachtung anbelangt. Daß es sich Brendel nicht nehmen läßt, Goethe zu zitieren und zwar richtig zu zitieren, versteht sich am Rande, und natürlich mit einer (sehr langen) Textstelle, die einen Dichter kennzeichnet, der Poesie und Wissenschaft miteinander zu verbinden wußte(13). c) Der Dörffel-Brendel-Streit 1) Der Anlaß Die theoretische Konzeption ist das Eine, die praktische Anwendung der Konzeption das Andere. In der Konzeption sind Menschen verhältnismäßig leicht in Übereinstimmung zu bringen; die Schwierigkeiten beginnen mit der Beantwortung der Frage, wie das, worüber man dem Grundsatz nach Übereinstimmung erzielt hat, im Einzelfall aussehen oder wie es um- oder durchgesetzt werden soll. Der Teufel steckt tatsächlich immer im Detail. Vergleicht man die theoretischen Vorstellungen von der unbedingten Parteinahme, vom Kampf gegen das Minderrangige, vom Einbau des Wissenschaftlichen, von der Anerkennung des Historischen, vom Drängen

434

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

auf den Fortschritt, so erweckt es den Anschein, als stünden Brendel und Dörffel in einer Reihe. Das mag auch so sein, sofern man sich nicht darüber aufhält, für wen die Parteinahme erfolgen soll und was minderrangig ist, wie das Wissenschaftliche und das Historische auszusehen hat und woran sich der jeweilige Fortschritt erkennen läßt. Die Antworten auf diese Fragen zeigen, welche Welten zwischen Brendel und Dörffel lagen, und sie erklären, warum die vordergründige Allianz BrendelDörffel auseinander brechen mußte. Brendel wie Dörffel waren keine produzierenden oder reproduzierenden Künstler, doch waren sie ihrer Abhängigkeiten erzeugenden Herkunft nach unvereinbar wesensverschieden und ergänzten sich darin auch nicht. Dörffel war ein unverbrüchlicher Anhänger Schumanns, den er in die Zukunft hinein tragen wollte, Brendel dagegen stand dem neuromantischen Kreis mit derselben Distanz wie allen anderen Erscheinungen der Zeit gegenüber und mußte für diese Unabhängigkeit einen hohen menschlichen Preis zahlen. Brendel hatte Schumanns Oper „Genoveva“ gehört und war wie viele andere, auch Schumann-Freunde, enttäuscht. Dann hörte er in Weimar Wagner und erkannte darin eine ganz andere dramatische Schlagkraft. Er las Schumanns Äußerungen und er las Wagners Schriften. Für ihn war danach klar, was überwundener Standpunkt war und was Zukunft. Er sprach es im eigenen und im Interesse seiner Zeitung aus, die nach vorne gerichtet gehalten werden mußte, sollte sie im Strudel der Zeiten nicht auch noch untergehen. Dörffel dagegen kam aus der Neuromantik und blieb in der Neuromantik und kam von ihr nicht los und konnte einen Schritt über Schumann hinaus nicht nachvollziehen. Brendel hatte in einer Rezension keinen Zweifel daran gelassen, daß er in der „Genoveva“ keinen Fortschritt sehe und damit Schumann tief verletzt, der nach dem ausbleibenden Breitenerfolg seiner Oper endgültig Dresden verließ und den Ruf nach Düsseldorf annahm. Als sich Brendel dann ein für allemal für Wagner entschied, brachte er nicht nur den ob seiner Mißerfolge bis zur selbstmordreifen Depression resignierenden Schumann gegen sich auf, sondern den ganzen sich um Schumann herum gruppierten Freundeskreis. Und dazu zählte nicht nur Dörffel, sondern auch Dorn und Koßmaly, die sich bald um die antiwagnerische Fahne scharten und eine Phalanx bildeten, die sich nur noch biologisch, nicht mehr argumentativ aufbrechen ließ und über Brendels und Wagners Tod hinaus bestehen blieb. Dörffel, der sich gerade erst im Brendelschen Sinne mit Koßmaly gestritten hatte, schrieb jetzt, aufgefordert oder aus eigenem Antrieb, ein „Eingesandt“, über das es zu einer längeren Auseinandersetzung kam, die zusehends an Schärfe gewann und endlich zum Bruch führte. Streitigkeiten zwischen Fremden sind schon schlimm genug, brechen sie zwischen Weggenossen oder Verbündeten oder gar Freunden aus, werden sie irrational(14) [II, 754]. 2) Diskussion und Ausgang Der Streit glitt immer mehr ins Persönliche ab, klärte aber die Fronten. Dörffel ist so auf Schumann eingeschworen, daß er jede Kritik an ihm als ‚Lästerung‘ empfindet(15) und es nicht einmal mehr mitbekommt, daß die Diskussion der immer-

10. Die Brendel-Opposition. Opposition von innen

435

währenden Notwendigkeit Brendels wegen, das Negative zu wiederholen und den Mißerfolg zu bestätigen, seinem Idol Schumann nur schadet. Dessen Oper hatte drei Aufführungen erfahren und war dann abgesetzt worden. Brendel hat nur der ersten beigewohnt, aber davon gehört, daß die zweite und dritte Aufführung künstlerisch besser gewesen sei. Für die Diskussion spielte noch eine Besonderheit eine Rolle, die außerhalb Leipzigs nicht bekannt war, nämlich das sogenannte ‚ActienPublikum‘. Es bestand aus Leuten, die ihre Eintrittskarten für die Oper in der Theaterlotterie gewonnen hatten. Sie waren bei der Uraufführung zahlreich vertreten und benahmen sich so, wie sich ein mit einem Brauch unbekanntes Publikum nun einmal zu benehmen pflegt. So begannen sie bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zu klatschen, gleichgültig, worum es sich handelte. Wir wissen von empörten Zwischenrufen aus den Reihen des ‚normalen‘ Publikums, doch mit der unsinnigen Klatscherei aufzuhören. Auf diese Reaktion des Aktienpublikums stützte sich wohl Dörffel, was Brendel als unzulässig empfand. Dörffel war aber nicht zu überzeugen. Er begann zu generalisieren, schloß von der Kritik an der „Genoveva“ auf eine Kritik an Schumann insgesamt und wies sie zurück. Schumann hatte wirklich nur einen Achtungserfolg errungen, das, was in der Sprache der Zeit ein ‚success d’estime‘ hieß, also keinen Erfolg auf Dauer. Die Oper gelangte nicht ins Repertoire. Brendel, das normale, also geschulte Opernpublikum, und übereinstimmend alle Berichte über die Uraufführung zeigten sich vom Stück enttäuscht. Man hatte sich von Schumann mehr versprochen. Wagner mit seinem Gespür für Dramatik sah die Katastrophe voraus, als er Schumann warnte, das Textbuch eigne sich nicht für eine Darstellung auf der Bühne. In dieser Angelegenheit stand also nicht Meinung gegen Meinung, sondern eine einzelne Meinung, nämlich die Dörffels (und natürlich die des Komponisten Schumann) gegen eine Gesamtmeinung. Brendel beging den Fehler, Dörffels Eintreten für Schumann fanatisch zu nennen, und Dörffel war geschickt genug, diesen Ausdruck aufzugreifen und auf Brendel zurückzuwenden. Er erklärte, Ausdrücke wie fanatisch und andere seien eigentlich Begriffe, mit denen die in der Zeit Zurückgebliebenen diejenigen zu bedenken pflegten, die mit der Zeit gingen und für den Fortschritt einträten. Dörffel erfindet als Gegensatz zur Forschrittspartei den Begriff von der ‚Stillstandspartei‘ und erklärt verblüffenderweise ausgerechnet Brendel zu deren Repräsentanten. „Es genügt, dass die Red. die Verschiedenheit ihres Standpunktes von dem meinigen anerkennt … , dass sie sich selbst durch Ausdrücke wie ‚fanatisch, extrem, exclusiv‘ etc., welche die Stillstandspartei der Fortschrittspartei gegenüber stets im Munde führt, charakterisirt. Der Streit ist somit reif, um rein unter die principiellen Voraussetzungen dieser Standpunkte gestellt zu werden. Ich führe ihn nicht fort, da kein Zweifel mehr vorhanden, welcher von beiden Theilen den von der ‚Neuen Zeitschrift f. M.‘ einst befolgten Princip bewussten Fortschreitens treu geblieben ist“(16) [II,755]. Diese (letzte) Dörffelsche Erklärung findet sich bezeichnenderweise im Intelligenz-Blatt, also im bezahlten Anzeigenteil, wo ihre Aufnahme nicht so ohne weiteres zu verhindern war. Man könnte spekulieren, Brendel, der die Auseinandersetzung mit Rede, Gegenrede und Schlußantwort als beendet wähnte, habe den Abdruck im eigentlichen Zeitungsteil möglicherweise abgelehnt. Brendel ist so aufge-

436

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

regt, daß er dem Schlußwort, dem Dörffel ein weiteres Schlußwort angefügt hatte, ein drittes Schlußwort nachschiebt, aber im offiziellen Zeitungsteil: „… scheint wenigstens das letzte Wort haben zu wollen. Wir gönnen ihm dasselbe, da ein Schluß aus einigen von uns zufällig gebrauchten Worten wie ‚exclusiv‘ u. s. w. auf unseren angeblichen ‚Stillstands-Standpunkt‘ auf eine Gesammtrichtung demnach wirklich zu originell, kühn und weit ausgreifend ist, als daß er einer Widerlegung bedürfte. Eben so beneiden wir ihn nicht um ‚seinen Fortschritt‘, sobald sich derselbe in die von ihm ausgesprochenen Ansichten und in der von ihm beliebten Weise offenbart. Diese Art des Fortschreitens sei ihm in Zukunft ganz allein überlassen“(17) [II,756]. Trotzdem war Dörffel, wie spätere Jahrgänge zeigen, nicht auf Dauer aus den Reihen der Mitarbeiter der Brendelschen Zeitung ausgeschlossen. (1) C. Koßmaly: Wissenschaft und Kritik, rücksichtlich ihrer Stellung zur Kunst und zum, in der letzteren anzustrebenden Fortschritt. Beleuchtet von C. Koßmaly, NZfM XXX./49, 18.6.1849, S. 265a–272b; (2) Franz Brendel: Der Fortschritt, NZfM XXIX./37, 4.11.1848, S. 213a–217b; Fr. Brendel: Leipziger Tonkünstler-Verein. Versammlung am 8ten Januar, NZfM XXX./12, 8.2.1849, S. 62b– 64a; (3) Franz Brendel: Die durch C. Koßmaly angeregten Streitfragen. Erster Artikel, NZfM XXX./51, 25.6.1849, S. 277a–283a; ~/52, 28.6.1849, 285a–287b; (4) Koßmaly, a. a. O. S. 266a; (5) Koßmaly, S. 268b; (6) Koßmaly, S. 271b; (7) H. Schellenberg, NZfM XXIX./46, 5.12.1848, S. 267a–267b; Schellenberg: NZfM XXIX./50, 19.12.1848, S.290b–291a; (8) Koßmaly, S. 265a; Brendel: Der Fortschritt, S. 214b; (9) Brendel, Streitfragen, S. 277b–278a; (10) Brendel, Streitfragen, S. 278a; (11) Brendel, Streitfragen, S. 278b; (12) Brendel, Streitfragen, S. 279b; (13) Brendel, Streitfragen, S. 281a–281b; (14) NZfM XXXIII./14, 18.8.1850, S. 74b–75b; die hier nicht hingehörende Werkdiskussion findet sich in den Nummern 6 und 10; (15) NZfM a. a. O. S. 75a; (16) NZfM XXXIII./15, 20.8.1850, S. 84b (Intelligenzblatt); (17) NZfM XXXIII./16, 28.8.1850, S. 88b.

11. TOPOS ALT-NEU In den vierziger Jahren lebte die Diskussion alt-neu wieder auf, möglicherweise ist sie nie abgerissen. Bührlen hatte 1821 geschrieben: „Jede Zeit schafft sich ihre Kunstwerke, gefällt sich in ihren Schöpfungen, geniesst sie – und wird ihrer satt, / Das Neue verschlingt alle Blicke, beschäftigt alle Sinne und Herzen; jenes starre Gut überzieht nun der Staub und Rauch der Zeit und irgend eine Volksumwälzung, Formen- und Interessen-Umwandlung oder Natur-Revolution bedeckt, verschüttet oder zerstört den Kunstreichthum der Väter“(1) [II,63]. Ein Dialog in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ unter dem Titel „Nichts Neues unter der Sonne“(2) [II,246] spielt zwischen zwei Herren, die über

11. Topos Alt-Neu

437

eine gehörte Oper verschiedener Meinung sind. Der eine liest eine Kritik vor, die der andere als die Oper gut charakterisierend findet, wenn man einiges auch hätte schärfer ausdrücken sollen. Am Ende stellt sich heraus, daß es sich bei der Kritik um eine Kritik Rousseaus über ein Werk Rameaus gehandelt hat. Die Mystifikation sollte dem absprechenden Herrn den Topos zeigen, dessen er sich bediente. Lewinskys mit zeilenlangen italienischen Zitaten durchsetzter Artikel „Laudatores temporis acti“(3) [II,406] beschäftigt sich mit der Behauptung gerade älterer Menschen, früher sei alles besser gewesen und widerlegt sie mit dem Nachweis vom Topos-Charakter dieser Klage, die schon immer in dieser und ähnlicher Form erhoben worden sei. Mit dem längst modisch gewordenen Thema befaßte sich auch Hermann Hirschbach in der „Neuen Zeitschrift für Musik“(4) [II,444]. Seine These „Alles Neue tritt unter Kampf in die Welt, selbst in der Kunst“ begründet er mit der Empörung von Ausführenden und Publikum über neue Erscheinungen. Er bringt historische Vergleiche, die man heute nicht mehr in dieser Form nachvollziehen kann, die aber in seiner Zeit das Bild der Klassik einschließlich Beethoven bestimmten. Doch Hirschbach grenzt ein. Wenn auf der einen Seite viele Menschen dem Neuen das Recht absprächen, würde auf der anderen Seite auch häufig das Neue überschätzt. Sein wichtigstes Beispiel dafür bildet Berlioz. Zu dieser Zeit kennt Hirschbach sowohl dessen Phantastische Symphonie und die Harold-Symphonie und er bringt Einwände vor, ohne die Genialität von Berlioz im allgemeinen in Frage zu stellen. Er stößt sich an dem, was er materiell nennt – er meint damit die zu direkte Übertragung von Bildern in Töne. Der deutsche Komponist, so behauptet er, würde in einem solchen Falle mehr mit Andeutungen arbeiten. In der „Allgemeinen Wiener Musik-Zeitung“ sieht Simon Sechter im Gegensatz der beiden Parteien Alt-Neu den Vorteil des „goldenen Mittelwegs“. Die einen hingen am Alten, die anderen am Neuen. Die einen würden „alles Weiterschreiten hintertreiben“, die anderen sich „ins Bodenlose verlieren“. Die Reibung beider führe zu „heilsamen Hindernissen.“ Die Sechtersche Bemerkung steht unter dem Titel „Musikalische Abwege“(5) [II,412]. Eduard Krüger schließlich betrachtete in seinem fünfteiligen Aufsatz „Alt und Neu“ die Diskussion um Alt oder Neu als nichtssagenden Gelehrtenstreit(6) [II,551]. Alt und Neu habe es zu allen Zeiten gegeben, die Vergangenheit sei das „Schattenbild“ der Gegenwart, und auch früher schon seien überzeitliche Kunstwerke im Umfeld eines vergänglichen und tagesgebundenen Schaffens entstanden. Seinen Beweisen ist kaum etwas hinzuzufügen. (1) (2) (3) (4) (5) (6)

AmZ XXIII/39, 26.9.1821, Sp. 668–671, Z: 670; AmZ XXXI/20, 20.5.1829, Sp. 330–333; AWM-Z II/16, 5.2.1842, S. 62b; NZfM XVIII./45, 5.6.1843, S. 179a–180b; AWM-Z II/59–60, 17./19.5.1842, S. 248a; Krüger, NZfM XXIV./29–33, 9., 12., 16., 19., 23. April 1846, S. 113a–114b, 117a–118b, 121a– 122b, 125a–126b, 129a–131a.

438

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

12. REVOLUTIONS-EUPHORIEN Der politische Umbruch von 1848 wirkte sich für die Zeitschriftenlandschaft zunächst schlimm aus. Alle belletristischen Zeitungen gingen ein, von den Musikzeitungen hielten sich nur die Zeitungen neueren Typs, die „Neue Zeitschrift für Musik“, „Neue Berliner Musikzeitung“ und die „Signale für die musikalische Welt“. Die merkantile Situation wurde erkannt, aber auch die geistigen Folgen. Julius Becker veröffentlichte in den „Signalen“ einen pessimistischen Beitrag unter dem Titel „Musik und Politik“(1) [II,661]. Nach Becker wird die Musik künftig in den Hintergrund des öffentlichen Bewußtseins treten und ihre bisherige Führungsrolle an politische Ereignisse abgeben. Das Wesen der Musik stehe dem Wesen der Politik feindlich gegenüber. Es genüge allerdings nicht, der Musik nach Meyerbeer-Art ein zeitbezogenes Sujet überzustülpen. Becker geht von einer romantischen Musik aus, die weltfremd ist, und sieht darin sein Ideal. Deshalb kommt er auch nicht mit den Neudeutschen und mit Wagner zurecht. Der neuen Welt zugeordnet sieht er musikalische Randerscheinungen wie National-, Freiheits- und Kriegslieder, denen er eine humane Seite zuspricht. Das Jahr 1848 hatte so viele das Leben umwälzende Neuerungen gebracht, daß die Redaktion der „Neuen Berliner Musikzeitung“ nicht weiß, was sie schreiben soll(2) [II,646]. Sie gesteht „wir wissen nicht, was wir den Lesern versprechen sollen, es wird vielmehr all unser Schaffen von dem abhängen, was uns die Kunst in diesem Jahre bringen wird“(3). Sie äußert einige „Vermuthungen und Prophezeiungen“, bei denen man nicht so genau weiß, ob sie ernst gemeint sind. In den Text scheint etwas vom „Signale“-Stil eingeflossen zu sein. Die Kunst geht zur Zeit betteln, schreibt Otto Lange, und er findet das natürlich, weil sich in einer solchen Zeit die Interessen auf andere Dinge als auf Kunst richteten(4) [II,670]. Die Musikpresse müsse klar „ihren Blick in die dunkle Zukunft“ werfen und „mit Unbefangenheit“ das Reine vom Unreinen, das Falsche vom Wahren sondern. Am Ende des 2. Jahrgangs kommt es zu einem „Schlusswort“ Langes(5) [II,700]. Natürlich werden die politischen Verhältnisse angesprochen. Die Berliner Revolution ist niedergeschlagen, die sächsische steht noch bevor, was Lange zu diesem Zeitpunkt nicht wissen kann. „Aber alle Künste waren, so schien es wenigstens, in ihrem innersten Leben bedroht.“ Doch der Boden, auf dem die Künste gedeihen, sei wieder gewonnen. Alle Zeitschriften hätten eine andere Physiognomie angenommen. Die italienischen Musikblätter habe man ganz in politische Blätter umgewandelt, die französischen brächten möglichst viel Politisches. Seine Zeitung habe die Politik nur insoweit einbezogen, als sie die Künste betraf. Es sei nicht mehr möglich, „ein musikalisches Still- / leben zu führen“. Lange sieht darin einen Fortschritt. „Die Musik ist sociale Kunst, sie gehört mehr denn irgend eine andere allen Ständen, dem ganzen Volke an.“ Die weitere Entwicklung werde zeigen, wie viel von den idealistischen Wünschen Wirklichkeit werde. Sei es doch so weit gekommen, „dass die Regierung diese Frage in die Hand nimmt, … Und würde nur ein Theil von den gemeinsamen Wünschen der Musiker erfüllt werden, so sollte es uns nicht leid thun, wenn wir einen ganzen Jahrgang der Zeitung nur mit musikalisch-

12. Revolutions-Euphorien

439

socialistischen Artikeln ausgestattet hätten.“ Erneut formuliert Lange einen Fortschritt, der sich selbst in Frage stellt. „Der Fortschritt zum Besseren ist das Motto unserer Zeitung. Dieser Fortschritt ist theils Rückkehr zum Alten, theils Anerkennung des Neuen.“ Abschließend behandelt er Organisationsfragen. So will Lange mit Künstlerbiographien beginnen, an die sich „ein mit grösster Unbefangenheit gefälltes Urtheil über die Werke oder die künstlerische Bedeutung“ knüpfen soll. Schon Bührlen sprach aus, ein Kunstwerk werde berühmt oder berüchtigt, wenn es die „Zeit-Partheyungen, am besten die politischen“(6) [II,106] berühre. Der Jubel über die gewonnene „Pressfreiheit“ war grenzenlos. Die Zensur hatte den Musikbereich weniger als den Literaturbereich getroffen. An einer neuen Symphonie, Sonate, Ouverture war nichts zu zensieren. Es ging immer nur um Worte, also um Texte und damit um die Oper. Häufig waren Eingriffe dort, wo gebildete Zensoren arbeiteten, wie in Sachsen, Zensurkorrekturen historische Richtigstellungen, dienten also dem Komponisten und seinem Textdichter. Häufiger jedoch suchten Zensoren nach politisch in ihrem Sinn zu falschen (oder richtigen!) Schlüssen führende Textstellen. Da wurde ein Wort wie Freiheit in Schönheit umkorrigiert, ganze Handlungsteile in andere Gegenden verlagert, die Namen von Figuren ausgetauscht oder weggeschnitten. Der „Theater-Horizont“ druckte 1849 den original in einem Wiener Blatt erschienenen Artikel „Musik und Pressfreiheit“ von J. Plank nach [II,658]. Dort stellte man Korrektureingriffe in Opern mit entsprechendem Kommentar zusammen. Die Bundesakte hatte seinerzeit den Erlaß von Zensurgesetzen verlangt. Dem waren aber nur Preußen und Sachsen mit entsprechenden Durchführungsverordnungen nachgekommen. Andere deutsche Staaten gingen eigene Wege. Das galt auch für Bayern. Nur so wird ein Artikel in der „Münchener Theater-Zeitung“ von 1828 verständlich, der erklärte, die ‚Preßfreiheit‘ sei zur ‚Preßfrechheit‘ verkommen. Die niedrig denkenden Menschen wollten nur Genuß und immer neue Sinnenfreuden(7) [II,228]. Man stelle ihnen beispielsweise Altersversorgungsstätten zur Verfügung, aber statt auch einmal ein Dankeschön zu sagen, werde nur geschimpft. Und in Bayern, wo unbedingte Pressefreiheit herrsche, treibe „die sogenannte Theaterkritik ihr arges Wesen“. Ihrer Meinung nach soll die Theaterkritik vermittelnd zwischen Theater und Publikum stehen. Statt dessen herrsche „giftigste Schmähsucht“. Die „Signale für die musikalische Welt“ konnten es natürlich nicht lassen, die übertriebenen Hoffnungen, die überall erhobenen Forderungen und die mitunter abstrusen Vorstellungen ins Komische zu ziehen. In „Signale aus Kuhschnappel“ werden besonders absurde Vorschläge zum Wohle der neuen Gesellschaft gemacht. So soll es beispielsweise künftig „Musikpolizeiräthe“ geben, die aus dem Musikerstand zu kommen haben. Ihnen sind Polizeidiener aus der Schar der Rezensenten unterstellt, die nur eine musikalische Bildung mitzubringen haben, wie sie jeder andere Staatsbürger auch besitzt. Diese Leute wachen darüber, daß von nun an „gute demokratische Musik ausgeführt wird“(8) [II,683]. Gottschalds Jubeltext in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ vom März 1848 „Offener Brief an die Redaction der Neuen Zeitschrift für Musik“(9) [II,652] verlangt von der Presse, im Sinne einer „wahrhaften Nationalität“ vom Dilettantentum

440

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

und den Laien nicht mehr verächtlich zu sprechen, „sie hat im Allgemeinen die Mittel und Wege anzugeben, wie der Musiker dem Leben des Volkes – denn das sind im weitesten Sinne die Dilettanten und Laien – zu- und das Volk in die Kunst wahrhaft eingeführt werden kann.“ Der Redakteur der „Neuen Zeitschrift für Musik“ habe das zwar immer schon getan; aber das hindere „einen schlichten Kunstfreund nicht, Sie gerade jetzt in dieser mächtig bewegten Zeit aufzufordern, muthiger als sonst darauf loszusteuern.“ In einem „Offenen Brief an die Redaction der Zeitschrift für Musik“ wird Brendel aufgefordert, sich und sein Blatt zu radikalisieren(10) [II,665], um so der neuen Zeit gerecht zu werden, die er selbst längst angekündig habe. Gleichzeitig vermißt der Stimmführer, ein Astolf Marschalk aus Dresden, Beiträge von Louise Otto, die als Mitarbeiterin zwar in der Jahreslegende mit aufgeführt werde, von der man aber keine Beiträge finde. Brendels Aufsatz „Die Ereignisse der Gegenwart und der Einfluß derselben auf die musikalische Presse“(11) [II,657] ist ein beinahe schon emphatischer Jubelruf, „wir stehen an einem großen Wendepunkt der Menschheit“. Brendel meint vor allem die errungene Pressefreiheit. In Preußen stieß die freie Meinungsäußerung bei einem liberalen Pressegesetz, aber strengen Durchführungsbestimmungen auf erhebliche Widerstände, in Sachsen genoß sie bei einem strengen Pressegesetz, aber liberalen Durchführungsbestimmungen und zudem überwiegend aus der Gelehrtenschaft stammenden Zensoren schon vor 1848 bzw. 1849 erhebliche Freiheiten. Das „System der Bevormundung“, habe in Deutschland jeden geistigen Aufschwung unterdrückt, meint Brendel (er benutzt in diesem Zusammenhang den Ausdruck ‚demoralisirend‘). Brendel führt den Gesamtzustand auch der Musikkritik auf die Zensur zurück, so, als sei sie an allem Schuld gewesen. „In der musikalischen Presse war es, wo früher Entschiedenheit der Gesinnung und des Ausdrucks beinahe gänzlich verbannt war“(12). Der Aufsatz ist einer der leidenschaftlichsten Texte, die Brendel verfaßt hat. Er deckt sich allenfalls mit der österreichischen, nicht mit der deutschen Realität. Brendel erklärt, erst Schumann habe seit 1830 „eine entschiedenere Gesinnung“ eingeführt. Er meint damit einen härteren Ton gegenüber nicht erstklassigen Erzeugnissen. Mit dieser Feststellung widerlegt sich Brendel selbst. Die nicht entschiedenere Gesinnung hatte nichts mit der Zensur zu tun, sondern mit den Menschen. Wäre die Zensur an den musikkritischen Zuständen Schuld gewesen, hätte sich Schumann nicht in dieser Form äußern können. Schärfe des Urteils vertrat vor Schumann auch Marx in Berlin und vor Marx Rochlitz in Leipzig und nach Schumann Hirschbach in Leipzig, und keiner von ihnen wurde daran von der Zensur gehindert. Eine Ausnahme bildete vielleicht Wien; aber auch da muß man vorsichtig sein. Wieder war es der nüchtern-scharfsinnige Eduard Krüger, der den politisch bedingten Neuerungs-Anspruch seiner Kollegen durch sein Wissen um die historische Realität richtig stellte. Im Juli 1848 schrieb er in seinem zweiten Aufsatz zum Thema „Beziehungen zwischen Kunst und Politik“ in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“: „Dass die Kritik offen und unverblümt, dass sie redlich, tüchtig, gewissenhaft sei, hat man wohl als Forderung der neuen Zeit, als Folge der befreiten Presse postulirt. Die Forderung ist nicht neu, sondern von allen tüchtigen Männern

12. Revolutions-Euphorien

441

unter jeder Regierungsform ausgesprochen. So lange wir schwache Menschen sind, wird sie niemals ganz erfüllt werden, weil sie durch kein Gesetz hervorzurufen ist; auch darum, weil die freie Presse Alles an den Tag bringt, Wahrheit sowohl // als Lüge. Des Bösen können wir uns nie und nimmer erwehren als durch Güte“(13). Die Opernzensur in Sachsen, wo Brendel lebte, war, wie die Zensur-Eingriffe in Wagners Rienzi-Text zeigen, häufig eine Verbesserung, weil sie Ungereimtheiten und historische Fehleinschätzungen korrigierten. Wagner war kein Historiker. Er hatte sich sein Libretto aus Bulwer zusammengestellt und anders als später keine eigenen Quellenuntersuchungen betrieben. Der Rienzi-Text enthielt zahlreiche objektive Fehler, die von den Fachleuten ausgemerzt und viel später unter Beschimpfung der damaligen Zensoren wieder hineingenommen wurden. In die Musik griff man ohnehin nie ein. Wohl verhinderte die Zensur Formalinjurien und die Weitergabe von Nachrichten, die nicht verbürgt waren. Brendel verspricht sich vom Wegfall der Zensur eine verbesserte Berichterstattung, die nicht eintritt. „Die Kritik muß eine gebietende Macht sein, nicht durch eine äußerlich angemaßte Autorität, sie muß es sein durch das was sie leistet, durch die Wahrheit und Probehaltigkeit ihrer Ansprüche“(14). Mit einem solchen Satz nähert sich Brendel gefährlich Otto Lange, von dem er sich wenige Jahre später absetzt, weil er Langes Vorstellungen für falsch hält. Alles, was Brendel im Rest seines Artikels vorbringt, hat nichts mit der Zensur zu tun. Es geht um Mendelssohn und um den kritischen Aufsatz, den Krüger schrieb. Die Empörung, die er auslöste, wäre mit und ohne Zensur laut geworden. Brendel hält dagegen. Auf hunderten von Seiten habe man Mendelssohn gepriesen, und kaum habe man eine einzelne kritische Stimme gehört, spräche man von einem Schmähartikel und reduziere die Zeitung als Ganzes auf diesen einen Bericht. Was gibt es an einer üblichen Konzert- oder Kammermusik schon zu zensieren! Auch die weiteren Beispiele, bei denen Brendel von Charakterlosigkeit spricht, und die Gegenseite von überzogener Kritik einem Op.1 gegenüber, konnten und können zu jeder Zeit entstehen und haben mit demoralisierender Zensur nichts zu tun. Aber möglicherweise hätten sich bei einer weiter bestehenden Zensur österreichische Kritiker wie Speidel, Spitzer oder Hanslick vor Injurien gehütet, wie sie gegen Tschaikowsky, Bruckner und Mahler benutzt worden sind. Brendel sieht die Erscheinungen, deutet aber in der Freude über die literarische Befreiung ihre Ursachen nicht richtig, weil sie sich im Musikbereich, die Operntexte ausgenommen, wenig bemerkbar machten. Brendel selbst warnt. Die aufgegebene Zensur heiße nicht, Rücksichtslosigkeit, Lieblosigkeit und Mangel an Achtung betreiben zu dürfen. Das wäre ein großes Mißverständnis. Im Streit mit dem aggressiv schreibenden Schäffer hatte sich Brendel zurückgehalten. Er schrieb dazu: „… ich wollte zeigen, wie man sich die Wahrheit sagen kann und mit Schärfe streitige Punkte zu erörtern vermag, ohne in persönliche Gehässigkeit, die mich anwidert, zu verfallen“(15). In einer Buchrezension noch aus dem Jahre 1848 in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“(16) [II,673] wird die eigene Zeit als „eine Zeit des Widerspruches und der Widersprüche“ bestimmt. Es herrsche eine „unbegrenzte Skepsis“, und die Kritik habe damit begonnen, einen „umfassenden Läuterungs- und Reinigungsprozess anzubahnen.“ Der ‚unnütze Plunder‘ soll weg, aber man renne auch Brauchbares „über den Haufen“, ohne „auch nur im Entferntesten den erforderlichen Ersatz

442

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

dafür bieten“ zu können. Unter allem ist die Musik die einzige unter den Künsten, für die es keine wissenschaftliche Begründung gebe, nur ein „Konglomerat von Regeln“, das keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen könne. Deshalb betrachteten die Philosophen die Musik immer als ein „Noli me tangere“. „Wirklich drollig ist es, zu sehen, wie die spekulativsten Köpfe aller Jahrhunderte, so wie sie bei der Musik ankommen, sich winden und drehen und entweder unter leichter Entschuldigung oder mit griesgrämigem Gesichte und etlichem Schelten rasch drum rumgehen.“ Die „Anwendbarkeit abstrakter Wissenschaften auf die Kunsttheorie“ werde von „unseren modernen Pseudo-Aristoxenianern“ geleugnet. Man nähme so viel davon auf, um sich den Weg zu ebnen, ästhetisieren zu können, nachdem man auf den „Wissenschaftsplunder“ keinen Wert mehr lege. „Erreichen sie doch ihrer Meinung nach den doppelten Zweck: allerlei Schönes, ja Neues, Geistreiches sagen zu können, ohne die Verbindlichkeit zur Rechtfertigung auf sich zu laden und dem ungeachtet ihren Ansichten und Behauptungen anscheinend das Gepräge objektiver Unumstösslichkeit zu geben“(17). Brendels Aufsatz „Die Forderungen der Gegenwart und die Berechtigung der Vorzeit“(18) [II,677] ist zwischen den Erhebungen in Preußen (März 1848) und Sachsen (Mai 1849) geschrieben. Brendel erweist sich als Demokrat und gibt mit seinen Begriffen dem Mißverständnis von der demokratischen und der aristokratischen Musik neue Nahrung. „Der alte, morsch gewordene Bau in Staat und Sitte stürzt zusammen; täuscht er zur Zeit noch mit dem Schein des Bestehens, so wird solche Täuschung nicht lange mehr dauern.“ Brendel benennt die beiden Konfliktparteien seiner Zeit und beweist, daß nach einem dritten Weg gesucht werden muß, der die Forderungen seiner Gegenwart mit der Anerkennung der Meisterleistungen der Altvorderen vereinigt. Was er konservative Partei nennt, bezeichnet eine Geisteshaltung, die das Musikleben ausschließlich auf das beschränken will, was wir heute Klassik und Romantik nennen. Sie vertritt den Standpunkt einer über aller Zeit stehenden Idealität von Kunst und will sie nicht durch aktuelle Anwandlungen in den Tagesstreit gezogen wissen. Was er Reformpartei nennt, bezeichnet die klassische Musik als eine vorübergegangene Bewegung, die der Gegenwart nichts mehr zu sagen hat. Hier nennt Brendel ein einzigesmal einen Namen, der für diese Bewegung als Beispiel steht, nämlich Griepenkerl. Brendel spricht beiden Parteien ihr Recht zu, erhebt aber gegen beide Standpunkte Einwände. Der Anspruch der konservativen Partei, die Musik habe sich von Tagesereignissen fernzuhalten, sei zwar richtig, aber falsch zu Ende gedacht, weil er die Musik aus „dem Gebiet des Lebens“ herausrücke, Brendel benutzt den Begriff ‚einsargen‘(19), und: „es ist grundfalsch, von der Vergangenheit aus eine oppositionelle Stellung gegen die Gegenwart einzunehmen“(20). Der Anspruch der Reformpartei, die Musik habe sich auf die eigene Zeit zu beschränken, sei ebenfalls falsch, weil er „die jedesmalige letzte Stufe als die höchste betrachtet“ und dadurch einer Mode unterwerfe, die wie der Konservativismus der anderen Partei in Starrheit umschlage. „Beide sind berechtigt, beide zugleich einseitig, und fordern ihre Ergänzung durch den Gegensatz.“ Brendel denkt dialektisch und legt seinen dritten Weg offen. Die These vom „überwundenen Standpunkt“ sei mißverständlich interpretiert worden. Sie besage nur, eine einstmals herrschende Lebensform sei nicht mehr die der Gegenwart. Da-

12. Revolutions-Euphorien

443

mit werde die darin erbrachte Leistung nicht in Frage gestellt und verliere auch nicht ihre Bedeutung für die Gegenwart. Wohl würden Komponisten, die nach der alten Lebensform weiter komponierten, ohne Echo bleiben und daher verbittern. Anders käme es zu einem vollständigen geistigen Stillstand. Brendel faßt zusammen: „Der musikalische Reactionär lebt ausschließlich in der Vergangenheit, und sieht die Gegenwart mit mißtrauischem Blick an; der Ultra des Fortschritts verwirft diese Vergangenheit, ohne sich weiter um dieselbe zu kümmern, wir umfassen gleichmäßig die alte wie die gegenwärtige Zeit, wir kämpfen gegen den Philister eben so sehr, als wir bei der musikalischen äußersten Linken (Griepenkerl) die Ungerechtigkeit gegen die Vorzeit tadeln“(21). Brendel gesteht allerdings, sich mehr zur Reform- als zur konservativen Partei zu bekennen, „aber wir vergöttern diese Gegenwart nicht ausschließlich.“ Brendel warnt davor, sich der Gegenwart durch aktuell politische Opernstoffe verbunden zu sehen. „Es wäre eine ganz irrige Beschränkung, heutzutage nur das politische Leben in der Oper zur Darstellung zu bringen, vielleicht gar noch an Stoffen, die der Zeit unmittelbar entnommen sind.“ Doch müsse die „Farbe der Zeit“, der das Werk seine Entstehung verdankt, überall erkennbar sein. Brendel widerspricht damit Forderungen, nur solche Opernstoffe für die gewünschte nationale deutsche Oper zuzulassen, die außerhalb des Christentums angesiedelt sind. Brendel hat allerdings ein Problem, das er zu dieser Zeit nicht lösen kann. Er vermag keinen Künstler zu nennen, der für den Fortschritt, so wie er ihn versteht, beispielhaft angeführt werden könnte. Das geschieht erst Jahre später, als Brendel auf Wagner stößt und mit dessen Auftreten erfüllt sieht, was ihn so lange bewegte. Die Revolutionseuphorie von 1848 verflog bald. Brendel ging im Vorwort zum 32. Band (1850) „Beim Beginn des neuen Jahres“(22) [II,739] darauf ein. Keine der in Bezug auf Musik gehegten Erwartungen hätten sich erfüllt, und „die Aussichten für ein specielleres Interesse des Staates an derselben sind wieder in weite Ferne gerückt.“ Bei oberflächlicher Betrachtung erscheine manches günstiger. Der Musikalienhandel verzeichne einen Aufschwung, das Publikum nehme an größeren Veranstaltungen Anteil, „freudiges Schaffen aber, und größere Thätigkeit überhaupt sind nur hier und da vereinzelt wahrzunehmen; im tiefsten Grunde ist Erschlaffung bemerkbar.“ Brendel bleibt bei seiner Erwartung, „daß die Entwickelung der Tonkunst noch keineswegs beendet ist“, und er hofft bei Verjüngung des gesamten Lebens auf eine „neue Kunstblüthe“. Damit steht er in Gegensatz zur Berliner Parole Otto Langes, der von einer Übergangszeit spricht und nicht an zu erwartende neue größere Kunstwerke glaubt. Zu diesem Zeitpunkt kannte Brendel weder den „Lohengrin“ noch Wagners Schriften. Aber auch Brendel spricht von einem „Kunstinterim“. Im engeren Kreis habe sich einiges getan. Brendel möchte nicht nur gedruckte Stücke, sondern auch Manuskripte besprechen lassen, auch wenn nur die Aufführung einem Stück das volle Leben gäbe. Brendel greift damit Anregungen auf, die sich schon bei Hirschbach finden. Er meint, die Tonkünstlervereine könnten etliches bewirken, wenn deren Organisation abgeschlossen sei. Brendel hat inzwischen die Leitung des Gesangvereins „Euterpe“ übernommen. Er versäumt nicht, sich an seinen Stettiner Gegner Koßmaly zu erinnern, dem er noch eine Antwort schulde. Bislang sei er krankheitshalber nicht dazu gekommen.

444

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

(1) SfdmW VI/21, 17.8.1848, S. 161–163; (2) NBMz II/1, 5.1.1848, S. 7b–8a; (3) NBMz, a. a. O. S. 8a; (4) An die Leser, NBMz II/27, 5.7.1848, S. 201a–292b; (5) Lange, NBMz II/48, 30.12.1848, S. 375a–376b; (6)]. F. L. B., Bemerkungen, AmZ XXVI/12, 18.3.1824, Sp. 190–193, Z:191; (7) MTh-Z -/7, 15.11.1828, Sp. 49–53; (8) Signale aus Kuhschnappel, SfdmW VI/41, 4.10.1848, S. 322–324; (9) NZfM XXVIII./24, 21. 3, 1848, S. 141a–142a; (10) NZfM XXVIII./48, 13.6.1848, S. 287a–b; (11) Brendel, NZfM XXVIII./31, 15.4.1848, S. 181a–184a; (12) Brendel, a. a. O. S. 182a; (13) Krüger, AmZ L/30, 16.7.1848, Sp. 485–486; s. Kapitel 10, Abschnitt 7, Unterabschnitt h (Brendels apologetische Krüger-Kritik), Anm. 36; (14) Brendel, a. a. O. S. 182b; (15) Brendel, a. a. O. S. 184a; (16) AmZ L/31, 2.8.1848, Sp. 506–508; (17) AmZ, a. a. O. Sp. 508; (18) Brendel: Die Forderungen, NZfM XXIX./19, 2.9.1848, S. 101a–105b; (19) Brendel: Die Forderungen, a. a. O. S. 102a; (20) Brendel: Die Forderungen, S. 103b; (21) Brendel: Die Forderungen, S. 104a; (22) Brendel: Vorwort, NZfM XXXII./1, 1.1.1850, S. 1a–2a.

13. NEU ERWECKTES NATIONALGEFÜHL. VERGLEICHE Seit 1844 wächst in Deutschland ein neues Nationalgefühl. Es begann mit dem Ende der napoleonischen Kriege und den Versuchen, sich von der Vorherrschaft der französischen Sprache zu befreien. Nach Marx war es Robert Schumann, der in seiner Zeitung neben anderem den nationalen Gedanken verfocht. Wagner nutzte den Umschwung und setzte die bis dahin verhinderte Translokation der Gebeine Carl Maria v. Webers nach Dresden (1844) durch. Die veränderte Tendenz macht sich auch in den Musikkritiken bemerkbar. Über falsch verstandenen Nationalismus in Verbindung mit der französischen Presse brachte die „Allgemeine musikalische Zeitung“ 1846 einen politisch aufschlußreichen und daher nachdenklich stimmenden Bericht unter dem Titel „Das Beethoven-Fest und die Pariser musikalische Presse“(1) [II,543]. Schauplatz ist Bonn. In Frankreich gab es schon zu dieser Zeit einen eigenen Beethoven-Enthusiamus, und so reisten sehr viele Franzosen an. „Nur hätte man die saueren Gesichter beobachten sollen, die die Herren zeigten, als sie von Bonn zurück kamen.“ Die Berichterstattungen handelten überwiegend von Nebensächlichkeiten, dem teuren Essen, den engen Wohnungen, dem sauren Rheinwein, den „altmodischen Fracks der ehrlichen Rheinländer“. Sie umarmten „die Wolke statt der Juno“. Berichtet wird von Zechprellereien und „feindseligen Demonstrationen“. Der Korrespondent Felix Bamberg hält die Vorwürfe für übertrieben. Er schreibt: „Da man bei uns wahrscheinlich nicht weiss, welche Gerüchte hier von deutscher Gastfreundschaft in Umlauf gesetzt worden sind, so erlaube ich mir, Etwas davon mit zutheilen. Bei

13. Neu erwecktes Nationalgefühl. Vergleiche

445

dem grossen Bankett – so wurde erzählt – habe man verschiedene Toaste ausgebracht, und endlich sei auch von einem deutschen Gelehrten der Vorschlag gemacht worden, auf das Wohl der anwesenden französischen Künstler zu trinken. Da habe sich denn eine allgemeine, fast zu Thätlichkeiten übergehende Opposition erhoben und der Toast sei unterblieben. So viel Mühe man sich hier auch gegeben hat, die Wahrheit über dieses Verhältnis zu erfahren, so wenig ist dies bisher gelungen“(2). Schon vorher zeichnete aus Paris der über England nach Amerika quasi flüchtende Theodor Hagen unter seinem (sprechenden) Pseudonym Fels vom Zustand der französischen im Vergleich zur deutschen Kritik ein anschaulich anderes Bild(3) [II,427]. Das Musikleben dort schritte nicht fort, sondern variiere ohne Veränderung immer Dasselbe, und die französische Kritik urteile nicht selbst, sondern nähme das Urteil des Publikums auf und wiederhole es. Hagen bringt dafür Beispiele. Es seien keine Veränderungen vor sich gegangen, nur der Name habe gewechselt. Die Zeit sei nicht mehr, wie bisher, materiell geblieben, sondern industriell geworden, und beides sei dasselbe, erklärt der Karl Marx-Freund Hagen. „… die Zeiten sind vorüber, in denen die Kritik noch eine für sich bestehende Gewalt bildete, die Gewalt der Wahrheit und der Gesetze dieser Wahrheit; die musikalische Kritik von heute in Frankreich besitzt ihren Werth nicht mehr in sich, sondern in dem, was sie bietet, unter deren Obhut sie steht. Ist diese einflußreich, so spricht man von einer ‚mächtigen‘ Kritik.“ Hagen versucht, die französischen Zustände in einem Bild nahezubringen. Das kulturelle Leben sei einem Gebäude zu vergleichen, in dessen 1. Stock das Publikum, im 2. Stock die Verlagsherren, im 3. Stock die Kritiker, und im 4. Stock die Musiker wohnen. Will jemand vom 1. in den 4. Stock, muß er erst den 2. und 3. Stock überwinden, wo man ihm im 2. Stock entsprechende Verhaltensmaßregeln mitgibt, die ihm zwar nicht gefallen, denen er sich aber beugt, weil er im 3. Stock „die eiserne Maschine der Kritik“ kennen gelernt hat, die von denen im 2. Stock gesteuert wird. So gäbe es keine Originalität, weil die vom 2. Stock bestimmten, was im 4. Stock zu produzieren sei. Die Tonart werde nicht vorgeschrieben, weil es ohnehin selbstverständlich sei, nicht über 3 Kreuze oder 3 b hinauszugehen. Wohl dem, der reich genug sei, sich dem widersetzen zu können. In Frankreich frage man nicht nach dem Genie, sondern nur nach dem Geld. Die Musik diene mehr und mehr industriellen Zwecken. Im Vergleich zwischen französischer und deutscher Kritik kommen die Deutschen schlechter weg. Franzosen, so heißt es 1848 in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“, kritisierten höflicher und immer relativ. Sie „meinen, vermuthen, höchstens glauben sie“, während die Deutschen zu oft behaupteten(4) [II,570]. „Die Franzosen sprechen über dasselbe Kunstwerk contra aber auch pro, die Deutschen gern nur entweder das Eine oder das Andere.“ Die Zeitung beruft sich auf Madame de Staël. „Gutes und Böses ist überall gemischt; wer sich nicht bemüht, Beides zu vergleichen und das eine von dem anderen abzuziehen, … wird sich immer täuschen und in Ungewissheit bleiben“. Wie in der Euphorie nach den Befreiungskriegen blieben die Kuriositäten auch nach den Revolutionen 1848 und 1849 nicht aus. Eine Sprache von modisch eingeführten Fremdwörtern zu befreien, die sich auf Deutsch eben so gut wenn nicht gar besser ersetzen lassen, ist bis zur Stunde ein natürliches Anliegen aller Sprachrei-

446

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

nigungsversuche gewesen. Doch wenn man Forderungen erhebt, eingeführte und international verstandene abkürzende Musikzeichen wie p oder ƒ mit verwirrenden Kunstzeichen auszutauschen, die zudem im normalen Setzkasten nicht zur Verfügung stehen, dann werden Diskussionen angefacht, von denen man nicht so recht weiß, was man davon zu halten hat. Gustav Flügels „Ein Vorschlag, die Einführung neuer Vortragszeichen betreffend“(5) gehört dazu. Brendels Kommentar läßt Zweifel aufkommen, ob er den Komponisten ernst genommen hat. Die Tonkünstlerversammlung, der Brendel Flügels Vorschläge unterbreitete, lehnte sie fast einstimmig ab(6). Nicht abgelehnt dagegen wurde ein Antrag Schumanns vom Jahr zuvor, den Brendel verlas, weil Schumann nicht anwesend war. „‚Ueber das französische Titelwesen, desgleichen über den Missbrauch italienischer Vortragsbezeichnungen in Compositionen deutscher Tonsetzer, – Abschaffung aller Titel in französischer Sprache und Ausmerzung solcher italienischer Vortragsbezeichnungen, die sich eben so gut, wo nicht besser, in deutscher Sprache ausdrücken lassen.‘ / Nach längeren Verhandlungen darüber wurde die Frage zur Abstimmung gestellt: / Ist es wünschenswerth, dass deutsche Componisten für deutsche Titel und für die Jahreszahl auf ihren Werken sorgen? / Die Frage wurde durch die Mehrzahl bejaht.“(7) (1) (2) (3) (4) (5) (6)

AmZ XLXIII/2, 14.1.1846, Sp. 26–28; a. a. O. Sp. 27; NZfM VII./23, 30.9.1842, S. 112b–114a; Bruchstücke aus einem musikalischen Romane, AmZ XLVIII/31, 5.8.1848, Sp. 529; NZfM XXIX./6, 18.7.1848, S. 31a–32a; „Die Tonkünstler-Versammlung zu Leipzig“, NZfM XXIX./23, 16.9.1848, S. 125a–126a. Brendel trug Flügels Anliegen als belangloses intermezzoartiges Überbrückungsthema vor, als sich viele Mitglieder nach einer Pause noch nicht wieder eingefunden hatten; (7) Die erste Versammlung deutscher Tonkünstler und Musikfreunde in Leipzig, AmZ XLIX/39, 29.9.1847, Sp. 670–672, Z:671.

14. ZEITUNGSKRIEGE Mit dem Erscheinen weiterer Musikzeitungen nahmen auch die Auseinandersetzungen zwischen den Redaktionen zu. Je nach Parteiung und Temperament fielen sie unterschiedlich heftig aus, nie aber vornehm. Ausgerechnet Schumann hatte darunter zu leiden. Die (unbedeutende) „Hamburger musikalische Zeitung“ (1837–1839) stellte sich dabei auf ihre Weise ins Abseits. Die „Zeitung für die elegante Welt“ hatte Schumanns „Carneval“ günstig und nach der Sitte der Zeit sehr blumenreich besprochen. Einem Mitarbeiter der Zeitung, der mit „-n.“ unterzeichnete, stach das übel in die Augen und er verfaßte eine „Notiz über eine Notiz“(1) [II.343], in der er die Besprechung als falsch und die Schumannsche Komposition als minderrangig bezeichnet und Schumann vorschlägt, sich „für die Zukunft solche Empfehlung, die nur seinem Rufe schaden kann, höflichst“ zu verbitten. Auf die Rezension in der „Eleganten“ anspielend, meint er: „Was denkt sich nun wohl der geneigte Leser von dieser Composition? Wie wird er staunen, wenn er, die Phrasen für baare Münze nehmend, ersieht, dass der ‚Car- // neval‘ nichts mehr und nichts weniger

14. Zeitungskriege

447

als so eine Art von Pot-pourri ist, welches zwar etwas besser als die gewöhnliche Sorte, aber keineswegs auf das Prädicat ‚Kunstwerk‘ Anspruch machen kann.“ Dem Redakteur war es bei diesem etwas seltsamen Beitrag vermutlich nicht ganz wohl, sonst hätte er dem Artikel nicht eine „Nachschrift der Redaction“(2) folgen lassen. Man kenne den „Carneval“ nicht und könne daher nicht entscheiden, ob „die elegante Welt oder Herr –n.“ im Recht sei. Die Zeitung habe sich „doch gar zu blumenreich“ ausgedrückt und schade dadurch der Komposition, weil die Erwartung so hoch „heraufgespornt wird, welcher bei aller möglichen Einbildungskraft doch in keiner Art und Weise entsprochen werden kann“. Die Redaktion stimmt „in der Hauptsache“ dem „redlichen, aber nur etwas heftigen Glossator“ insofern bei, „dass die üblichen Anpreisungen, oft ganz gewöhnlicher Compositionen, das Publikum schon so oft irre geleitet haben, dass es nicht zu verwundern ist, wenn Niemand mehr auf dergleichen Empfehlungen etwas giebt.“ Schumann mußte ein Jahr später auch die Anwürfe Rellstabs zurückweisen. Rellstab hatte in einer französischen Zeitung über deutsche Musikzustände geschrieben und darin auch der „Neuen Zeitschrift für Musik“ gedacht und eine Bemerkung eingefügt, die Mitarbeiter würden sich gar zu oft untereinander selbst loben. Schumann reagierte mit einer „Erklärung“(3) [II,349]. Dieser Text ist aufschlußreich, weil er Auskunft über die inneren Verhältnisse gibt, die festen Mitarbeiter namentlich nennt (den drei Jahre zuvor verstorbenen Ludwig Schunke, Carl Banck, Conrad Ferdinand Becker, Oswald Lorenz und sich selbst als ‚Davidsbündler‘) und die Zahl der in sieben Bänden besprochenen Musikalien mit rund 1800 beziffert. Dem standen eine Besprechung einer Schunke-Komposition nach dessen Tod gegenüber, zwei oder drei in scherzhaftem Ton geschriebene Selbstrezensionen von Carl Banck, eine Besprechung einer Ausgabe älterer Meister von Becker, und von den ‚Davisbündlern‘ die Besprechung einer Sonate durch Moscheles in London und scherzweise und vorübergehend einige kleinere Sachen. „Und darauf stützt Hr. Rellstab eine so verletzende Aeußerung, und das gegen ein mit Opfern erhaltenes Institut.“ Der empörte Schumann schließt mit einer Warnung, die auch als Drohung verstanden werden kann: „Hr. Rellstab sehe aber ein, daß er sich leeren Einbildungen hingegeben, sich einer Unwahrheit schuldig gemacht habe; im andern Falle würde er uns künftighin zu einer Art von Verteidigung zwingen, daß er es unterlassen dürfte, sich an unbescholtene Künstler noch einmal zu vergreifen.“ Flodoard Geyer ärgerte sich 1847 in der Gaillardschen „Berliner musikalischen Zeitung“ über eine Korrespondenten-Bemerkung in der „Allgemeinen Wiener Musik-Zeitung“. Die thematisierte unter einem griechischen Sigma die Anmaßung jüngerer, wenig erfolgreicher Komponisten, als Musikkritiker aufzutreten(4) [II,600]. „Es wäre gewiß nicht uninteressant, wenn ein anerkannt tüchtiger Mann einmal die Frage beantwortete: ob es jüngeren, selbst produktiven Musikern zukäme, das Amt der Kritik zu verwalten. Man trifft alle Tage und in den meisten Blättern jüngere Componisten, die die Werke ihrer Collegen mit der grössten Kaltblütigkeit anatomisch vom Leben zum Tode zu bringen bemüht sind.“ Geyer, der gerade erst den Berufsmusiker als Kritiker herausgestellt hatte, weil dieser angeblich alles daran setze, seinem Kollegen hilfreich zur Seite zu stehen (und jede Kritik eines Nichtmusikers ablehnte), wußte natürlich, daß er selbst gemeint war und vermutete hin-

448

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

ter dem Sigma den Redakteur August Schmidt. In seiner Replik in eigener Sache ist von „Feigheit“ die Rede, und es finden sich Sätze der Art wie „Dabei entblödet er sich nicht …“, und der Redakteur, also Schmidt, bekommt auch noch einige Seitenhiebe. Der ließ sich das, wie vorauszusehen war, nicht gefallen und antwortete ebenso höflich mit einer „Erklärung“, nannte die Gaillard-Zeitschrift, ohne ihren Titel mitzuteilen, ein „Winkelblatt“ und schloß den ersten Abschnitt mit dem Satz „ich verachte den Schreiber und seine elenden Beschuldigungen“(5) [II,604]. Im zweiten Abschnitt stellt er klar, daß er, „obgleich mir von den Herausgebern der renomirtesten Zeitschriften Deutschlands“ eine Wien-Korrespondenz angeboten worden sei, dies immer abgelehnt habe und daß er grundsätzlich unter seinem Namen schreibe, nie anonym oder pseudonym. Ein Streit um die Signatur Sigma (Σ) ist schon 1827 nachweisbar, als von Schmidt noch keine Rede war, weil man hinter dem Kürzel Gottfried Weber vermutete. Daraufhin ließ Weber in der „Caecilia“ eine mit „Darmstadt im Juli 1827“ datierte „Erklärung“ erscheinen(6) [II,198], mit der er den Verdacht zurückwies und außerdem klarstellte, über Darmstädter Kunst und Künstler nie anders als mit vollem Namen zu schreiben. Ob es sich beide Male um denselben Korrespondenten gehandelt hat, der dann von Darmstadt nach Wien übergesiedelt sein muß, ist ebenso zu vermuten wie die Annahme zweier verschiedener Korrespondenten mit demselben Sigel. Senff erfuhr Angriffe 1847 von einem ‚Mitarbeiter‘ der „Neuen Zeitschrift für Musik“, wie er schrieb. Der Mitarbeiter, so legte er offen, habe ihm vergeblich eine Arbeit angeboten und dasselbe Schicksal bei Lobe erfahren. Nun polemisiere er gegen beide Zeitungen. Brendel verwahrte sich dagegen. Der Verfasser sei kein Mitarbeiter, werde auch nicht im Titel der Zeitschrift genannt. Es handele sich um einen schätzenswerten jungen Mann, von dem man noch Bedeutendes erwarten könne. Ein wirklicher Mitarbeiter seiner Zeitung habe es nicht nötig, seine Arbeit, „wie dort erzählt wird, den anderen hiesigen musikalischen Journalen zur Aufnahme anzubieten“(7) [II,601; II,602]. Ein besonderes Angriffsobjekt bildete die österreichische, insbesondere die Wiener Kritik(8) [II,664]. Die „Signale“ ließen sich von ihrem Wiener Korrespondenten 1845 in einem Artikel „Musikalischer und anderer Wiener Unsinn“(9) [II,524] grob-apodiktisch schreiben: „Die Ignoranz unserer hiesigen Musikreferenten beinahe ohne Ausnahme ist bekannt, allein die Albernheit der Theaterreferenten ist doch noch größer …“, ein Urteil, das in dieser Form falsch ist, aber die künftige Sonderstellung Hanslicks beleuchtet. Die österreichischen Redaktionen sahen sich unter Dauerkritik und richteten „An die verehrlichten Redactionen deutscher Zeitschriften“ eine Adresse, die am 11. Juli 1846 in der „Allgemeinen Wiener Musik-Zeitung“ veröffentlicht wurde und an der sich 14 Redaktionen beteiligten(10) [II,565]. Die Redakteure fühlten sich, ihre Mitarbeiter, ihre Zeitschriften und das österreichische Musikleben durch inkompetente Korrespondenzberichte verunglimpft und forderten eine sorgfältigere Auswahl im Vorfeld der künftigen Berichterstattung. Die Antwort kam prompt. Bartholff Senff persönlich wies mit Erscheinungsdatum 22. Juli die Aufforderung zurück.(11) [II,568]. „Es ist ohngefähr ebenso, als wenn man die Wiener Redactoren ersuchte, sich bessere Mitarbeiter zu

14. Zeitungskriege

449

besorgen oder überhaupt bessere Journale herauszugeben.“ So lange Menschen und nicht Engel schrieben, werde es nicht an Unrichtigkeiten und Bosheiten fehlen, „aber Correspondenzen welche die Wahrheit und zwar nur die Wahrheit berichten, sind eben gerade in der Regel die unangenehmsten“. Senff erklärte, seine österreichischen Korrespondenten seien dieselben, die auch für die unterzeichneten österreichischen Blätter fleißig arbeiteten. „Was will man also?“ Die „Signale“ brächten seit vier Jahren Korrespondenzen aus Wien, bei einer hätte sich eine „von hier aus nicht zu beurtheilende Malice“ gegen Saphir eingeschlichen, und gleich lieferten nach Meinung des „Humoristen“ „die Signale die niederträchtigsten Correspondenzen aus Wien“. Man solle doch einmal in die eigenen Korrespondenzen hineinsehen, um zu erkennen, „daß auch sie in diesem Artikel“ [gemeint ist Niederträchtigkeit] „das Mögliche leisten“. Er habe sich bei seinem letzten Aufenthalt in Wien mit einem der „tüchtigsten und gesinnungsvollsten Schriftsteller“ unterhalten. Seine Bitte, für die „Signale“ zu schreiben, habe er abgelehnt, und auf die Frage, ob er einen anderen, „natürlich für Geld und gute Worte“, vorschlagen könne, mit „Nein“ geantwortet. „Damit soll natürlich keineswegs gesagt sein, daß es dort nicht dergleichen Correspondenten gäbe, aber es geht doch daraus hervor, daß sie schwer zu finden sind“. Jos. Ed. Wimmer, der Professor an der Wiener Städtischen Musikschule war und sich eines ziemlichen Rufes erfreute, warf die Frage auf, ob Komponisten Aesthetik studieren müßten(12) [II,471]. Das Bild, das er bei dieser Gelegenheit von der Wiener Kritik zeichnet, ist wenig vertrauenerweckend. Vornehme Großsprecherei, Gegenwartskomponisten durch Vergleiche mit früheren Komponisten herabzusetzen, ließe einen über das Fortschreiten der Kunst Angst bekommen. Es gäbe zwar auch andere, die etwas von Musik verstünden, aber deren Zahl sei gegenüber den „Kritikastern“ außerordentlich klein. Von denen, die einen „Cursus“ in Musik durchgemacht hätten, käme keiner über das ABC der Theorie hinaus. „… aber welche Ansichten über Kunst, welche Logik, welche Gesinnung! Erstere reichen kaum über die Quinten- und Ovtavenjagd hinaus, die zweite ist dergestalt verwirrt, daß der Leser in Verlegenheit kommt, sollte er den Inhalt der Recension wiedergeben, endlich ist der letzte der Art, daß der Künstler dem Referate durchaus keinen Respect zollen kann, und sich weder über das Lob zu freuen, noch über den Tadel zu kränken Ursache hat“(13). Dem anderen Teile gingen musikalische Kenntnisse ganz ab, doch der Mann sei ein Genie. Wimmer höhnt grimmig: „Wenn es Naturcomponisten gibt, warum soll es denn keine Naturrecensenten geben.“ In diesesm Sinn schreibt er weiter. Für Wimmer geht es nach altem Vokabular um Schönheit (die undefiniert bleibt), um ästhetisches Wohlgefallen (das ebenfalls undefiniert bleibt), um ‚Genuß‘. Wimmer zählt unter erstens bis drittens die Schwierigkeiten des Komponierens auf, wie sie eintreten, wenn der Komponist aus „seiner Begeisterung“ herausgerissen wird, um sich beispielsweise etwas zu notieren oder etwas nachzuschlagen. Daraus folgert Wimmer, der Komponist müsse in den ästhetischen Kategorien bewandert sein. Wie macht man das? Wimmer behauptet, auf zwei Wegen: den praktischen aus der eigenen Erfahrung, den theoretischen aus dem Ergebnis fremder Untersuchungen. Alle Philosophen seit Baumgarten und Wolf (Kant nur ausnahmsweise) hätten die Ästhetik als eine philosophische Disziplin anerkannt.

450

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

Wer sich damit beschäftigen wolle, müsse sich alles aus deren Werken „zusammensuchen“. Die Philosophen behandelten dies Thema ausführlich, aber nicht in Bezug auf die Tonkunst. Eine Ästhetik der Tonkunst fehle. Er verweist auf Schillings Ästhetik-Buch, doch mangele dieser Arbeit, die er offensichtlich schätzte, die Popularität. Er habe das Buch nicht verstanden und mußte erst auf langen Umwegen zum Verständnis der Probleme gebracht werden. Aber viele Musiker hätten weniger Zeit als er selbst, um solches tun zu können. Also regt er an: Der Künstler solle die Meisterwerke der Literatur lesen. Daran bilde sich sein Verständnis für philosophische Fragen und es falle ihm leichter, Werke über das Schöne in der Kunst zu verstehen. Aber er müsse dabei fleißig die verschiedenartigsten Kompositionen lesen und spielen. Wimmer zitiert einen nicht namentlich erwähnten ‚großen‘ Künstler, der erklärt habe, die Praxis sei „eine wohlgeübte Armee, die Theorie aber der erfahrne commandirende Feldherr“(14). Eine Stelle wie diese nimmt Lange in Berlin vorweg, der kurze Zeit später den Kritiker über den Künstler stellt. Zum Schluß fordert Wimmer die musikalischen Ästhetiker auf, „eine im obigen Sinne populäre Ästhetik der Tonkunst ins Leben treten zu lassen, ein solches Unterfangen dürfte gewiß segensreich für die Kunst und lohnend für den Verfasser seyn.“ Nach 1850 war es Ludwig Bischoff, der mit seiner Rubrik „Stoppellese“ heftigste Auseinandersetzungen mit anderen Zeitungen heraufbeschwor. Er druckte, wie einst das „Repertorium“ Hirschbachs, Äußerungen in konkurrierenden Blättern mit der Absicht nach, sie bloß zu stellen. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14)

HmZ -/3, 11.10.1837, S. 10b–11a; HmZ, a. a. O. S. 11a; NZfM VIII./7, 23.1.1838, S. 28b; Fl. Geyer: Das über Berlin korrespondirende Sigma*) in der Wiener allgemeinen Musik-Zeitung, BmZ IV/6, 6.2.1847, S. [Ba–bb]; August Schmidt: Erklärung, AWM-Z VII/25, 27.2.1847, S. 104b; Cae VII./25 [ab August] 1827, S. 64; SfdmW V/9, 13.2.1847, S. 69–70 – NZfM XXVI./15, 19.2.1847, S. 60b; NZfM XXVIII./44, 30.5.1848, S. 263; SfdmW III/30, 23.7.1845, S. 233–234, Z:233; AWM-Z VI/83, 11.7.1846, S. 332b; SfdmW IV/30, 22.7.1846, S.237; Jos. Ed. Wimmer: Ist es nothwendig, daß der Componist Aesthetik studiere?* [* Originalschreibung], AWM-Z IV/30, 9.3.1844, S. 117a–118b; Wimmer, a. a. O. S. 117a; Wimmer, S. 118b.

15. SCHEIDEPUNKT MEYERBEERS „PROPHET“. ZUR DIVERGENZ VON KRITIKERURTEIL UND PUBLIKUMSGESCHMACK Die 1849 uraufgeführte Meyerbeersche Oper „Der Prophet“ wird zum negativen Scheidepunkt. Schumann malte als Kritik nur ein lateinisches Kreuz, und den sonst so ruhigen Krüger kennt man nicht mehr wieder, wenn er in seinem FortsetzungsArtikel „Prophetisch und Unprophetisch“(1) [II,749] im Juni 1850, natürlich in der

15. Scheidepunkt Meyerbeers „Prophet“

451

„Neuen Zeitschrift für Musik“, für Meyeerbeer im allgemeinen und die ProphetenOper im besonderen nicht einen einzigen freundlichen Gedanken findet und bei dieser Gelegenheit andere Opern Meyerbeers gleich mit niedermacht. Krüger äußerte sich des weiteren gegen die Überlebensfähigkeit Mendelssohnscher Kirchenwerke, denen er die tiefere Frömmigkeit absprach, und wurde darob angegangen. Er wehrte sich in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ mit einem eigenen Artikel „Zur Kritik Mendelssohn’s“ (2) [II,742]. Der Artikel spricht sich auch gegen die Musiken zur „Antigone“ oder die „Walpurgisnacht“ aus; er ist kritisch, aber anders als der Artikel gegen Meyerbeer nicht polemisch und läßt musikkritische Grundsatzfragen anklingen, wie „das wahrhaft Subjective ist auch objectiv. Wer diese grosse Wahrheit bezweifelt, das grösste Resultat eines philosophischen Jahrhunderts, dem muss überhaupt alles Streben und Arbeiten in der Wahrheit, der Kritik etc. ganz unsicher und vergeblich vorkommen, und ihm bleibt nichts als der ewige blasirte Zweifel, zuerst an der Welt, dann an sich“(3). Das Publikum liest Kritiken, aber verliert darüber nicht sein eigenes Urteil. Die „Hamburger Briefe“(4) [II,758], die Ende 1850 in der „Rheinischen Musik-Zeitung für Kunstfreunde und Künstler“ erschienen, berufen sich auf die allgemeine Urteilsfreiheit. Das Publikum geht seinen eigenen Weg. Der nach Bischoff-Art fast unerträglich polemische Artikel richtet sich gegen Krüger und gegen den Brendelkreis: „Afterkritisches Unwesen der Leipziger Clique. Der Dr. Krüger in Emden. Die hysterische Kritik“. Der Verfasser fühlt sich mit seiner Verehrung für Meyerbeers „Propheten“ in der seriösen Kritik isoliert. Das macht ihn wütend. Er will aus dem Publikumserfolg der Oper in Hamburg auf ihren Wert schließen. Gerade Hamburg liefert ein Beispiel für die Divergenz von Kritikerurteil und Publikumsgeschmack. Als man dort 1844 Wagners „Rienzi“ spielte, jubelte die Presse und das Publikum verweigerte sich. Die Oper mußte nach der mühsam erreichten achten Aufführung abgesetzt werden. Als zehn Jahre später der „Tannhäuser“ gebracht wurde, schimpfte die Presse und das Publikum jubelte. „Tannhäuser“ steht in Hamburg seit mehr als anderthalb Jahrhunderten auf dem Spielplan. Meyerbeers „Prophet“ ist damals mehr als eine Oper gewesen. An ihr schieden sich (wie in anderer Beziehung an der 9. Symphonie Beethovens) Musiker und Kritiker. Der Hamburger Schreiber, der sich mit ‚Swentopol‘ unterschrieb, gehörte zum Kreis der unbedingten Meyerbeer-Verehrer. Die sogenannte Leipziger ‚Clique‘, wie er den Brendelkreis nannte, war das Gegenteil davon. In seinem Jahreseingangsbericht „Zum neuen Jahre“ vom 3. Januar 1851 beschwor Brendel die Vielseitigkeit der Meinungen auch im kritischen Gegeneinander und nannte zahlreiche Beispiele, setzte aber auch eine Schranke(5) [II,762]. Stillstand sei Rückschritt heißt es da(6). Dem „bloßen trotzigen Verneinen des Alten“ stehe das „sehnsüchtige Streben nach neuen idealen Zielen“ gegenüber. „Unverkennbar stehen wir daher vor einer neuen Werde-Epoche“, schreibt Brendel(7). Die Suche nach dem idealen Neuen umfasse auch Bestrebungen, „die mitunter geradezu gegen einander zu laufen scheinen“, und das Wort ‚gegen‘ ließ er gesperrt drucken(7). Das Gesetz dieser Welt heiße Fortschritt(8). Die Kunstwissenschaft sei über die Kunst hinausgeeilt – ein solcher Satz könnte in Langes Berliner Zeitung stehen. Die Summe aller dieser Meinungen, so schließt sein Prolog „wird der Wahrheit am nächsten kommen und nur um die kann

452

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

es uns zu thun sein; für sie allein kämpfen und ringen wir; sie ist das Ziel unseres Strebens“(6). Aber eine Grenze gibt es, die nicht überschritten werden darf. Sie wird durch Meyerbeers „Propheten“ vorgegeben. Wer sich für diese Oper ausspricht, steht allen modernen Gedanken fern. Der polemische Hamburger sieht sich damit als Rückschrittler abgefertigt. Die 1849 uraufgeführte Oper, die noch in demselben Jahr nach Dresden kam, bildete für Brendel eine solch unumstrittene Grenze, daß sich Gustav Nauenburg zu einem vermittelnden Aufsatz „Die kritischen Propheten u. Meyerbeer“(9) [II,764] veranlaßt sah, den Brendel unter Vorbehalt und mit eigenen Kommentaren versehen in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ abdruckte. In seinen in Buchform als Musikgeschichte erschienenen Vorlesungen verglich Brendel in einem ausführlichen Abschnitt Meyerbeer abwertend mit den Produkten der neufranzösischen Kunst, wie Victor Hugo in der Literatur oder Biard in der Malerei. Wie Schladebach, der von Meyerbeer Geld annahm, ist auch Bischoff in Köln ein Verehrer von Meyerbeers Propheten-Oper, über die er in seiner Musikzeitschrift mit vielen Fortsetzungen berichtete: „… der wird in diesem Finale eins der grossartigsten musikalischen Kunstwerke, die je in dieser Gattung geschrieben sind, erkennen, und von hoher Achtung vor dem Schöpfer desselben durchdrungen werden“(10). (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10)

NZfM XXXII./49+50, 18. + 21.6.1850, S. 253a–256a, 261a–262b; NBMz IV/11, 12.3.1850, S. 81a–83b; Krüger, a. a. O. S. 82a; RhM-ZfKK I/15, 16, 12. 19.10.1850, S. 117a–119a, 126b–127b; Brendel, NZfM XXXIV./1, 3.1.1851, S. 1a–2b; Brendel, a. a. O. S. 2b; Brendel, a. a. O. S. 2a; Brendel, a. a. O. S. 1b; Nauenburg, NZfM XXXIV./12, 21.3.1851, S.118b–121a; „Der Prophet von Scribe und Meyerbeer. VI.“, RhM-ZfKK I/13, 28.9.1850, S. 97a–100a, Z:100a.

16. GRÜNDUNG DER TONKÜNSTLER-VEREINE In Städten mit musikpolitisch aktiven Persönlichkeiten bildeten sich ab 1848 Tonkünstlervereine, in Berlin unter Flodoard Geyer, in Stettin unter Carl Koßmaly und Gustav Flügel, und dank Franz Brendel, dem eigentlichen Motor, vor allem in Leipzig. Diese Vereine redeten nicht nur, sondern erhoben mit frischem Selbstbewußtsein Forderungen, die sie nach draußen trugen. In Leipzig beispielsweise verlangte man von der Redaktion des Leipziger Tageblattes, ihren Musikreferenten abzuziehen, da er nach Meinung des Tonkünstlervereins seinen Aufgaben nicht gerecht werde(1) [II,695]. Die „Neue Zeitschrift für Musik“ veröffentlichte mit Datum 12. Dezember 1848 das an die Zeitungsredaktion gerichtete Schreiben. Der gemeinte Kritiker schrieb anonym und angeblich wußte man nicht, um wen es sich handelte. Auch in dieser Situation, bei der es zunächst nicht um Kunst, sondern um Organisation ging, erkannte die „Allgemeine musikalische Zeitung“ nicht die Zeichen der Zeit. Allerdings war Lobe anders als der zum Schimpfen neigende Fink

17. Die Leipziger Tonkünstler-Versammlung vom 28. Juli 1849

453

ein ernst zu nehmender Widerpart, der, anders als Brendel, zudem die Technik der Ironie beherrschte. Im Streit um die Ausrichtung der von Brendel hoch eingeschätzten Leipziger Tonkünstlerversammlung hatte er der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ vorgeworfen, in eine „schiefe Stellung“ geraten zu sein. Lobe gab das an Brendel zurück(2) [II,669]. In seinem spöttischen Text „Die Allgem. Musik. Zeitung an die Neue Zeitschrift für Musik“ drehte er den Vorwurf um. Er habe eine andere Meinung, und wenn das heiße, in eine schiefe Stellung geraten zu sein, dann heiße das auch, er, Brendel (Lobe nennt keine Namen, sondern immer nur stellvertretend das Organ) sei in eine schiefe Stellung geraten. Der Artikel zieht seinen Witz aus dem Umkehreffekt: „Sie führen ferner an: man könne jede Sache herunterziehen, und meinen damit, die Tonkünstlerversammlung unbedeutender darstellen, als sie ist. / Ich sage: man kann eine Sache auch hinaufziehen, und meine damit, die Tonkünstlerversammlung wichtiger darstellen, als sie ist.“ Den Schlußpunkt setzt Lobe mit dem Satz, die „Neue Zeitschrift für Musik“, gemeint ist natürlich Brendel, wisse „am Besten, dass nicht ich angefangen habe, mich um Sie, sondern dass Sie angefangen haben, sich um mich zu bemühen.“ Man habe versucht, „mich in Aufsicht zu nehmen und etwas Weniges zu schulmeistern“(3). (1) NZfM XXIX./48, 12.12.1848, S. 278b–279a; (2) Lobe AmZ L/27, 5. Juli 1848, Sp. 436–437); (3) Lobe, a. a. O. Sp. 437.

17. DIE LEIPZIGER TONKÜNSTLER-VERSAMMLUNG VOM 28. JULI 1849 Die Leipziger Tonkünstler-Versammlung vom 28. Juli 1849 beschäftigte sich ausgiebig mit Brendels Grundsatz-Vortrag zum Thema Musikkritik, der als Zusammenfassung der Brendelschen Gedankengänge verstanden werden muß. Den Vortrag druckte Brendel in mehreren Fortsetzungen in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ zusammen mit den sich anschließenden Diskussionsbeiträgen ab(1) [II,733]. Brendel beginnt mit Hinweisen auf die verschiedenen Streitigkeiten, wie SchäfferKoßmaly, zitiert Rochlitz, den er über alles schätzt, und berührt die Auseinandersetzung zwischen Lange und Geyer, wobei er sich auf die Seite Geyers stellt. Ähnlich äußert er sich zur Frage, wer den Fortschritt mache, der Kritiker oder der Künstler. Brendel sagt, den Fortschritt macht der, der ihn macht. Im praktischen Verfahren der Kritik gibt es für Brendel eine Rangfolge. Die Frage nach der Technik nimmt den untersten Rang ein. Er schildert die Verfahrensweise von der objektiven zur psychologischen Kritik, bei der es bereits um die geistigen Inhalte einer Musik gehe. Der Kritiker hat in diesem Stadium ein poetisches Gegenbild zu erzeugen. Je nach Mentalität wird die Sicht auf das Kunstwerk anders bestimmt: der Komponist, der Musikfreund, der berufsmäßige Kritiker, der Ästhetiker sehen anders, und keiner von ihnen begreift die Totalität. Sie alle müssen zusammenwirken, wobei dem Kritiker von Profession ein besonderes Gewicht einzuräumen ist, wenn es um die Kritik geht, und dem Komponisten dann, wenn es um die Komposition geht, bei der der Kritiker nachrangig ist. Brendel weist Geyers These zurück, ein Künstler sehe sich lieber von einem Künstler beurteilt. Die Erfahrung der vielen Fehlurteile sprä-

454

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

che dagegen, und Brendel begründet das auch. Er verlangt vom Kritiker eine wirklich vollständige Kenntnis des Repertoires. Das Fehlen dieser Kenntnis habe dazu geführt, Dinge zu wiederholen, die längst gesagt sind, und Fragen aufzuwerfen, die bereits vor 20 Jahren befriedigend beantwortet worden seien. Künstler und Kritiker müßten Hand in Hand arbeiten. Den zweiten Teil seines Vortrages leitet Brendel mit der Feststellung ein, „eine schroffe Trennung des Kritikers und Künstlers sei ein Unding.“ Brendel sieht den Kritiker ideal, den Künstler real. Unter Rochlitz sei das Verhältnis ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis gewesen, ja, so behauptet er, ein Verhältnis „wechselseitiger Zuneigung, und Differenzen störten selten diesen ruhigen Fortgang.“ Später mußte es der Kritik darauf ankommen, das Verständnis der Kunstepoche zu vermitteln, und „ein gegnerisches Heraustreten wurde durch die Umstände nur selten provocirt.“ Dann kam Fink. Brendel stellt dessen menschliche Überzeugungstreue und manches andere heraus, um sagen zu können, seiner Kunstauffassung habe jedwede Tiefe gefehlt. „In seinen Beurtheilungen bringt uns Fink nur ein fortwährendes Herüber- und Hinüberschwanken zwischen den verschiedenen Richtungen.“ Brendel leitet daraus den sinkenden Status der Kritik ab, so als sei das alles Finks Schuld gewesen – eine Überschätzung des Finkschen Einflusses. Am Ende standen sich Künstler und Kritiker als feindliche Mächte gegenüber. Dieses Verhalten habe in Hirschbachs Repertorium seine Spitze erreicht. Jetzt nun müsse der Ausgleich erfolgen. Der Künstler dürfe in der Rezension nicht seinen Spiegel sehen, weil nicht zwei Menschen den gleichen Vorstellungen folgten. Er müsse lernen, sein eigenes Werk mit fremden Augen zu betrachten. Die Kritik könne auch einem Meister gegenüber Recht haben. Brendel zitiert Gottfried Webers Kritik an Beethovens Schlachtensymphonie und die Kritik von Rochlitz an den beiden kleinen Liedern in der Egmont-Musik, die zu opernmäßig ausgefallen seien. Nach den Künstlern beschäftigt sich Brendel mit den Kritikern. Ausdrücklich nimmt er zwei Kategorien aus: jene Kritik, die aus Vorurteilen für oder gegen besteht, und die Kritik in den nicht fachlich orientierten Blättern, also die Tagesoder Zeitungskritik. Deren Berichte bezeichnet er mit dem Wort „wunderlich genug beschaffen“. Damit scheidet für Brendel jener Bestand an Kritiken aus, der in der Realität überwiegend die Publikumsbeeinflussung betreibt. Natürlich befindet sich Brendel in einer schwierigen Situation, wenn er auf die „edle“ Kritik zielt. Brendel ist kein Künstler, sein Gebiet ist die Kritik, und er müßte sich selbst in Frage stellen, wenn er versuchte, der Kritik als Institut keinen einflußreichen Raum mehr zu lassen. Außerdem lebt er in einer Zeit, in der von Berlin aus der Kritik ein richterliches Potential zugesprochen wird, das er nicht einfach übergehen, aber auch nicht bestätigen kann, wenn er sich bei den Künstlern nicht um seinen Ruf bringen will. Erstaunlich ist an seiner Darstellung, daß er einen Einfluß des Kritikers auf den Künstler annimmt und im Kritiker nicht nur den Vermittler zwischen Werk und Publikum sieht. Er betont das Problem der Darstellungskürze, das es den Korrespondenten verbiete, ihr Urteil ausführlicher zu begründen. Der Schluß von Brendels Rede ist rhetorisch. „Kritiker und Künstler haben Schuld.“ Und so müßten sich beide miteinander vertragen, damit es zukünftig besser werde. An Brendels Vortrag schloß sich eine lebhafte Diskussion, die im dritten Teil des Artikels protokolliert wird und an der sich einige damals angesehene Leute

17. Die Leipziger Tonkünstler-Versammlung vom 28. Juli 1849

455

beteiligten, Kühmstedt, Dörffel, Riccius, Kindscher, Bierwirth, Schaab, Julius Becker, und natürlich Brendel selbst. Nach Friedrich Kühmstedt heißt Kritisieren nichts anderes „als den Werth eines Kunstwerks bestimmen“(2). Dabei müsse die Laufbahn von Künstler und Kritiker eine Rolle spielen. Dem jungen Künstler würden die Meister als Vorbild genannt. Er ahme sie nach und bringe sich dadurch um den Erfolg. Abgeschreckt, begänne er die Philosophen zu studieren und käme bald dahinter, daß ihm Hegel, Schelling, Vischer, Ruge „und wie die Geister alle heißen“ nichts nützten. Da erfahre er, er solle das Wesentliche darstellen, oder das Schöne oder die Wahrheit, aber keiner verrate ihm, wie er das machen solle. Und der Kritiker bilde sich ein, wenn er etwas Hegel studiert habe, sei er ein gemachter Mann. Er werfe mit Phrasen um sich, weil er nichts vom Handwerk verstehe. Dann schwenkt Kühmstedt auf Brendels Linie ein: „Jetzt, da wir zu diesem Bewußtsein über die Sache gekommen, müsse der vom Vorsitzenden angegebene Weg eingeschlagen werden“(3). Dörffel ist damit gar nicht einverstanden. Man möge nicht so tun, als seien alle Kritiker „jeder Bestrebung, das Höchste zu erfassen, verlustig“(4). Von diesem Vorurteil müsse abgesehen werden. Kühmstedt fühlt sich mißverstanden, und Dörffel gibt das nicht zu. Brendel sucht zu vermitteln. Bislang habe es noch keinen gegeben, der beides beherrsche, die praktische Kunst und die Philosophie, und Kühmstedt hält dagegen: „Diesen Standpunkt der Kritik erreichen wir nicht eher, als wir so weit sind, daß der praktische Künstler auch Philosoph, und der Kritiker nicht blos Philosoph, sondern auch praktischer Künstler ist“(4). Jetzt mischt sich Riccius ein. Kühmstedt habe den Künstler zu herabsetzend gezeichnet, den Kritiker zu herb und hart. Die beiden müßten Freundschaft schließen. An Brendels Forderungen an den Kritiker bemängelt er, sie seien nicht weitreichend genug. Riccius verlangt vom Musikkritiker, das A-B-C der Technik zu beherrschen und ästhetische Verstöße zu erkennen. Wenn ein Kritiker nicht in der Lage sei, ein Thema kontrapunktisch richtig durchzuführen, könne er auch keine vernünftige Kritik schreiben. Brendel weicht etwas zurück. Er erklärt, in seinem Vortrag sei es ihm darum gegangen, erst einmal die Unterscheidungsmerkmale zwischen Künstler und Kritiker in den Blick zu bringen. Und Kühmstedt müsse vorgehalten werden, Unterweisung des Künstlers sei nicht Aufgabe der Kritik. Kühmstedt wiederum will auch nur einen Wink gegeben haben. Brendel bedient sich eines Taschenspielertricks, um dem Vorwurf gegen satztechnisch unbedarfte Kritiker zu entgehen. Er fragt in Richtung Kühmstedt, wer denn auf dem Gebiete der Kritik „das Meiste geleistet, praktische Musiker oder philosophische Köpfe?“(5) Kindscher mischt sich mit der nicht zu widerlegenden Feststellung ein, man könne Harmonie- und Kompositionslehre beibringen, aber nicht das Schaffen, er meint die eigene Handschrift, welche die Originalität ausmacht. Becker zitiert nach seiner Art Goethe, und dann Rousseau. Bis 1820 habe man nur über die Musikstücke ein Urteil abgegeben, wenn man etwas davon verstanden habe. Heute sprächen viele, die vom Gegenstand nichts verstünden. Er erinnert an Fehlurteile und bringt dafür Beispiele, zu denen Rellstabs Chopin-Verkennung gehört. Brendel erinnert wieder an die Bescheidenheit beider, Künstler und Kritiker; Schaab stellt fest, man sei im Prinzip einig, „aber zu einem Resultate über die Verwirklichung des Princips noch nicht gekommen“(6). Dann redet Bierwirth; aber die Versammlung wird unruhig, nachdem

456

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

der Diskussionsredner vom abstrakt denkenden Kritiker und konkret auffassenden Künstler spricht und behauptet, die Kritik könne nicht über den Parteien stehen. Das sei unmöglich. Künstler und Kritiker müßten Partei nehmen. Die Kritik müsse ein Prinzip haben, sonst sei sie charakterlos. „Die frühere Kritik sei blos referirend gewesen, die jetzige sei selbstständig geworden“(6). Der Ruf nach Schluß wird laut und Riccius fordert die Beendigung der Debatte. Man möge sich mit dem Gesagten begnügen. Dem wird zugestimmt. (1) Fr. Br.: Die Leipziger Tonkünstler-Versammlung zu Leipzig, am 26sten Juli 1849, NZfM XXXI./21+23+24, 9.+16.+19.9.1849, S. 105a–109b, 117a–119b, 125a–127b; (2) a. a. O. S. 125a; (3) a. a. O. S. 125b; (4) a. a. O. S. 126a; (5) a. a. O. S. 126b; (6) a. a. O. S. 127a.

18. DER WEBER-UHLIG-STREIT 1851. POLITISCHE INHALTE? Aus Paris hatte J. G. Weber (nicht zu verwechseln mit Gottfried Weber) in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ einen sehr langen Artikel „Orthodoxie und Häresie in der Musik“ erscheinen lassen(1) [II,768], gegen den sich Theodor Uhlig mit „Eine Belehrung“ in gewohnter Heftigkeit aussprach(2) [II,769]. Webers überdimensionierter Dreiteiler ist journalistisch aufgemacht und sagt mit vielen Worten, was mit wenigen besser hätte gesagt werden können. Er wirkt teilweise geschwätzig, zeigt aber große Kenntnisse der augenblicklichen ästhetischen wie künstlerischen Situation in Deutschland. Uhligs Entgegnung ist erheblich knapper und sachbezogen, aber, wie meistens bei Uhlig, stark polemisch und unhöflich personengerichtet. Anlaß für die Auseinandersetzung war ein Aufsatz Uhligs in der Kolatscheckschen Monatsschrift, der Begriffe wie sozialistisch und republikanisch benutzte. Dagegen richtete sich Webers Aufsatz, gegen den sich wiederum Uhlig wendete. Der Streit läßt sich auf kurze Formeln bringen. Weber geht von zwei Parteien aus, auf die er seinen Titel bezieht. „Die eine will das halten, was wir jetzt haben; die andere will daran verändern und etwas Neues dazu bringen“(3). Musik ist für ihn Ausdruck der Empfindungen und Seelenzustände durch Töne. Er widerlegt die ‚Orthodoxen‘, indem er bezweifelt, aus Formalien allgemein gültige Regeln aufstellen zu können. Empfindungen durchkreuzten sich. Wolle man darüber eigene Regeln aufstellen, müsse man Ausnahme über Ausnahme machen. Er widerlegt die ‚Häretiker‘, indem er den Versuch jeder Verdinglichung von Tönen zurückweist. Eine Tonfolge drückt nicht ein Bestimmtes, sondern immer nur ein Allgemeines aus. In diesem Zusammenhang weist er Uhligs Vergleiche zurück. „Hat Jemand wohl schon etwas von sozialistischer Musik gehört, bis auf die jüngsten Tage, trotzdem Sozialismus und Musik schon lange bekannt sind?“(4) Uhlig fühlte sich getroffen und antwortete mit einem Text, der Hinweise auf die internen Gedankengänge des Brendelkreises gibt. Denn die Forderung nach der

19. Die Auflösung (Selbstvernichtung) der Musikkritik. Programm Wagner

457

Selbstauflösung der Musikkritik, wie sie hier vertreten wird, entspricht den Vorstellungen Brendels, während Weber die Kritik als solche verneint. Uhlig bezieht sich auf Bach, Mozart und Beethoven. Bach und Mozart unterscheiden sich seiner Meinung nach grundlegend von Beethoven, weil sie anders als Beethoven keine Entwicklungserscheinungen vorweisen. Daraus schließt Uhlig, Beethoven habe sich nicht als Musiker, sondern als Mensch weiterentwickelt, und also müsse man zur Deutung auch vom Menschen ausgehen. In Kirche und Kunst sei die Zeit der Autorität vorbei, weil man Geistesfreiheit gewonnen habe. „Die letzte Staffel der inneren Entwicklung zur Freiheit, das Ziel, die volle Geistesfreiheit selber ist nichts Anderes, als der Glaube an die Bestimmung des Menschen für die Erde (und nicht für den Himmel) und seine aus diesem Glauben resultirende Selbstthätigkeit“(5). Die neue Kunst macht auf kein „Verstandesverständniß, sondern auf eine unmittelbare Gefühlswirkung Anspruch“(6). (1) J. G. Weber, NZfM XXXV./19+20+21, 7.+14.+21.11.1851, S. 193a–197a, 205a–209b, 217a– 219a; (2) Uhlig, NZfM XXXV./25, 19.12.1851, S. 273a–275b = [IV,1463]; (3) Weber, a. a. O. S. 193b; (4) Weber, a. a. O. S. 207a; (5) Uhlig, a. a. O. S. 274b; (6) Uhlig, S. 275b.

19. DIE AUFLÖSUNG (SELBSTVERNICHTUNG) DER MUSIKKRITIK. PROGRAMM WAGNER Mit Brendels Neujahrsgruß „Zum neuen Jahr“ für 1852 endet im Ausklang des Deutschen Idealismus auch die System- und Methodengeschichte der deutschen Musikkritik des 19. Jahrhunderts, natürlich nicht die Musikkritik als tageskritisches Geschäft. Der Neujahrsgruß zählt zu den wichtigsten Publikationen Brendels. Er trennt die zweite Jahrhunderthälfte von der ersten und zwar mit einer Härte und Prophetie, die bis dahin unerhört war und allenfalls mit Schumanns Auftreten 1834 zu vergleichen ist(1) [II,770]. Brendel wird sehr persönlich. Er erzählt von seinen Vorstellungen, die er zu äußern nicht gewagt habe, weil er Rücksichten nehmen mußte, und von seinen Befürchtungen, im festgefahrenen Musikalltag werde sich mangels entsprechender Persönlichkeiten nichts wesentlich ändern. Auch das Redaktionsprogramm habe er nur an einigen Stellen retuschiert, nicht im Prinzip erneuert. Aber die Situation sei eine andere geworden, und jetzt wage er es, seinen Lesern ein wirklich neues Programm vorzulegen. „Was mich selbst betrifft, so war für mich das Auftreten R. Wagner’s von entscheidendem Einfluß. Ich fand hier eine Uebereinstimmung, wie ich sie kaum erwartet hatte, ich fand mit Entschiedenheit ausgesprochen, wornach ich selbst gestrebt, ich fand aber auch Neues, was nur dem bahnbrechenden, schaffenden Künstler sich erschließt, Neues, was uns bestimmter das Ideal der Zukunft enthüllt“(2). Brendel hat Wagner entdeckt, er hat in Weimar den „Lohengrin“ unter Liszt gehört, Wagners Schriften gelesen, und Wagners „Glaube an die siegreiche Kraft des Besseren“ reißt ihn mit. Die neue Kritik beschränkt sich nicht mehr auf eine Darstellung von gut oder schlecht, sondern wird

458

10. Kapitel: Die Neue Zeitschrift für Musik 1845 bis 1852

zum persönlichen Bekenntnis. Der Kritiker hat nicht nur ein neues Geschehen in seiner Neuheit zu erkennen, sondern er muß sich dafür auch einsetzen. Schumanns Wort vom Schlendrian lebt weiter. „Entschiedenere Parteinahme demnach ist der neue Grundsatz, welchen ich ausspreche, entschiedenere Bekämpfung dessen, was nicht mehr lebenskräftig, Opposition gegen jenen gedankenlosen Schlendrian, welcher jedes bessere Streben vereitelt“(3). Brendel zerstreut möglicherweise aufkommende Befürchtungen, sein neues Programm habe etwas mit ‚Dreinschlagen‘ zu tun. Er hoffe, seine Leser kennten ihn besser, „um eine Uebereilung nicht zu fürchten.“ Er wisse, daß nicht jedem rückwärts gerichteten Handeln egoistische Motive zu Grunde lägen, und er wisse, daß sich das Neue noch nicht in fertiger Gestalt darstelle, „um dessen Anerkennung fordern zu können.“ Natürlich will Brendel seine Leser nicht verschrecken oder gar aufbringen. Er verrät ihnen sogar, nicht immer mit der Schroffheit seiner Mitarbeiter einverstanden gewesen zu sein und häufig mildernd eingegriffen zu haben. „Der Rücksichtslosigkeit der Kritik gegenüberzutreten ist immer mein Wunsch gewesen.“ Brendel verwirft eine Kritik, die jedes Beginnen statt zu unterstützen vernichtet. „Viele wollen das Gute in der Kunst, aber sie wollen das, was vor 50 Jahren gut war, und denken nicht daran, daß dies sich im Laufe der Zeit zu einem Uebel verkehrt haben kann“(4). Brendel kommt auf das Theaterwesen zu sprechen, das sich trotz aller Kritik daran um 1850 tatsächlich in einem schlimmen Zustand befand. Das galt für Wien ebenso wie für Berlin, es galt nicht für Dresden, das mit Verbesserungen voran ging. Wie oft, schreibt Brendel, habe man dagegen protestiert, und nichts habe genützt. Man könnte Brendels Klage mit dem Verhalten Küstners in Berlin bestätigen, der auf eine leichte Andeutung an dem dortigen Theater-Schlendrian dem Kritiker die freien Eintrittskarten entzog. „Die theatralischen Darstellungen sind von einer Beschaffenheit, daß der höher gebildete Sinn fast genöthigt ist, sich von ihnen abzuwenden.“ Die Kritik hat sich nicht in das künftige Schaffen „einzudrängen“ … die künstlerische Begeisterung soll nicht einen Theil ihres Rechts an die Kritik abtreten, die letztere soll nur den Boden bereiten für das Neue. Dies ist auch die Meinung, wenn Th. U. in Nr. 25 von einer Selbstvernichtung der Kritik spricht. Sie hat ihre Mission erfüllt, sobald sie diese Aufgabe vollbracht.“ Die Kritik geht dann im Kunstschaffen auf, „und wenn sie jetzt die Herrschaft beansprucht, ist sie dann das Dienende.“ Schließlich folgt Brendels proklamationsartige Neubestimmung seiner Zeitung, die er vollständig im Sperrsatz bringt: „Diese Blätter haben fortan die Aufgabe, die Umgestaltung, welche der Kunst bevorsteht, nach allen Seiten hin entschieden zu vertreten“(5). Diesem tatsächlich neuen Programm verdankte die „Neue Zeitschrift für Musik“ ihre weiterhin unbedingte Sonderstellung unter den noch bestehenden und künftig gegründeten neuen Musikzeitschriften. Der mit Wissen und mit Humanität verbundenen Leidenschaft, die sich hier äußerte, hatte bis zum zu frühen Tode von Brendel im Jahre 1866 niemand etwas auch nur annähernd Gleichwertiges entgegen zu setzen. (1) (2) (3) (4) (5)

Brendel, NZfM XXXVI./1, 1.1.1852, S. 1a–4a = [IV,1467]; Brendel, a. a. O. S. 2a; Brendel, S. 2b; Brendel, S. 3a; Brendel, S. 4a.

11. KAPITEL: VON DER PARTEIKRITIK ZUR PARTEILICHEN KRITIK 1. MUSIKKRITIK OHNE SYSTEM-BEGRÜNDUNG Kalendarisch ist es ein Zufall, dem man eine hintersinnige Bedeutung geben kann. Der sich selbst überlebende Schelling starb 1853, also ein Jahr nach Brendels Proklamation. Mit dem Auslaufen des deutschen Idealismus ist die Zeit der Systembildungen vorbei, auch wenn Hegel weit über seinen Tod 1831 hinaus bis ins 20. Jahrhundert hinein wirkte, allerdings nicht mehr systembildend philosophisch, sondern geschichtsbildend ideologisch. Natürlich gibt es weiterhin Musikkritik, doch sie denkt nicht mehr im prinzipiellen Sinne über sich selbst nach, sondern spaltet sich getreu nach Brendel in eine Tageskritik, die den Zeitungsjournalisten vorbehalten bleibt und keinen Einfluß mehr auf die künstlerische Entwicklung hat, und in eine Fachkritik, die diesen Einfluß gar nicht erst mehr haben will, wenn und weil sie sich neben der eigentlichen Grundlagenforschung der Bereitstellung gesicherter, genannt kritischer Quellen, überwiegend darauf beschränkte, bestehende Kunstwerke musikwissenschaftlich zu deuten. Das wurde über Jahrzehnte hinweg historisch oder formalistisch verstanden. Als äußeres Kennzeichen darf das Aufkommen der ersten Dissertationen gelten, die sich mit der Geschichte der Musikkritik, also mit ihrem Gewordensein in der Vergangenheit, befassen. Carl Fuchs dürfte 1871 damit begonnen haben („Präliminarien zu einer Kritik der Tonkunst“). Über die spekulativen Grundlagen der Musikkritik schrieb Otto Tiersch einige Monate vorher im „Musikalischen Wochenblatt“ einen raumgreifenden vierteiligen Aufsatz. Beide Arbeiten setzen Wagner voraus, gründen sich auf Schopenhauer und sind überwiegend formal ästhetisch-philosophisch gehalten. System-, Methodik- oder Handwerkshinweise würde man dort vergebens suchen(1). Die dritte Journal-Komponente, nämlich Berichterstattung als nicht mehr nur versteckter Werbeträger, wird sich in ihrer ganzen Vielfalt erst nach 1950 auswirken, wenn man damit beginnt, Wert über Masse zu definieren, die Bedeutung einer Sache an der Anzahl der verkauften Stücke zu messen oder sie aus Quoten abzuleiten. Kunstgeschichte ist zu diesem Zeitpunkt weitgehend schon in Wirtschaftsgeschichte umgeschlagen. Der Soziologe Alfons Silbermann, persönlich durchaus wertbewußt, wird nach 1950 den Wert eines Kunstwerks über den Verkaufserfolg ermitteln. Schließlich erklärt man denjenigen zum bedeutendsten Künstler (seiner Zeit, aller Zeiten), der die meisten Bücher oder Schallplatten abgesetzt oder die meisten Besucher angelockt hat. Die Zuspitzung aller Auseinandersetzungen in Richtung Wagner ließ auch keine andere Entwicklung mehr zu. Wagner selbst wollte nicht so recht verstehen, daß Redakteure wie Brendel oder Fritzsch, die sich, von außen gesehen, ganz seiner Sache verschrieben hatten, auch andere Komponisten neben ihm hochschätzten und die Musikgeschichte nicht auf ihn allein zuschnitten.

460

11. Kapitel: Von der Parteikritik zur parteilichen Kritik

(1) Größere Auszüge daraus sind im „Musikalischen Wochenblatt“ nachzulesen, das zum militanten Flügel der Wagner-Partei zählte (Heft-Nummern 36, 37, 38, 39, 42, 45). Schon knapp 20 Jahre früher verfaßte W. J. Tomaschek in der „Rheinischen Musik-Zeitung für Kunstfreunde und Künstler“ einen dreiteiligen Aufsatz unter dem Titel „Ueber Kritik in Bezug auf Musik“ (Nr. 181, 24.9.1853, S. 1349–50; Nr. 183, 1.10.1853, 1357–58; Nr. 185, 8.10.53, S. 1365–66), der historisch ausgerichtet ist und mit Rochlitz beginnt. Otto Tiersch: Die Grundlagen der speculativen Kritik auf musikalischem Gebiete, MWbl II/27, 29, 30, 32, 30. 6., 14., 21. 7., 4.8.1871, S. 30.6.1871, II/29, 14.7.1871. II/30, 21.7.1871, II/32, 4.8.1871. Auch Wagners Zürcher Brief über Musikkritik vom 25. Januar 1852 an Brendel enthält keine neuen methodischen Hinweise, sondern wird vom persönlichen Erlebnis erlittener Anfeindungen bestimmt (Richard Wagner: Ein Brief an den Redacteur der Neuen Zeitschrift für Musik, NZfM XXXVI./6, 6.2.1852, S. 57a–63a als Kopfartikel [IV,1496, Wiedergabe Abbildung 44 als Strichätzung]. Zwanzig Jahre später hat Wagner dem Herausgeber des „Musikalischen Wochenblattes“, Ernst Wilhelm Fritzsch, einen briefartigen Artikel zugehen lassen, der die Musikzeitschriftensituation noch negativer beurteilt (Richard Wagner: Eine Mittheilung an die deutschen WagnerVereine, MWbl III/2, 5.1.1872, S. 17a–19b). Er wurde in anderem Zusammenhang in einem freundlich gehaltenen Ton von Friedrich Chrysander in der Neuen Folge der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ kommentiert (Bemerkungen zu dem in Nr. 13 bis 17 gedruckten, die Musik Richard Wagner´s betreffenden Aufsatze, 1876, Nr. 25, S. 392).

2. MUSIKKRITIK GLEICH WAGNER-LISZT-KRITIK Als historischer Prozeß ist die Musikkritik nach 1852 im wesentlichen mit der gezielten Auseinandersetzung um Wagner und Liszt deckungsgleich, wobei der Wagner-Komplex zur Zeit besser dokumentiert vorliegt als das kritische Umfeld um Liszt. Brendel war auch hier seiner Zeit weit voraus, als er die Losung ausgab, Wagner sei durchgesetzt, und es gelte jetzt, dasselbe für Liszt zu vollbringen. Die Wagner-Auseinandersetzung deckte im Anschluß an die Aufsehen erregende Lohengrin-Kritik Adolf Stahrs in der „Berliner Nationalzeitung“ von 1850, den spektakulären Ausgang des Ballenstedter Musikfestes von 1852 mit seiner raumgreifenden Berichterstattung, und die Diskussion um die theoretischen Schriften Wagners den gesamtkulturellen Bereich nicht nur in Deutschland ab. Musik wird für einige Jahrzehnte zum Zentrum des Kunstlebens. Ihre Terminologie dringt so in neu aufkommende Wissenschaften, etwa in die Psychologie, ein, wie einstmals im Zeitalter der Rhetorik Literaturbegriffe in die Musiktheorie. Liszt (und Wagner) dagegen bleiben umstritten. 3. [ZWISCHENTEXT V] DER UNBEKANNTE LISZT Liszt stand am Lebensende im Schatten Wagners, in den ihn die Bayreuthnachfolge Cosima Wagners und Houston Stewart Chamberlains versteckt zu halten versuchte. Es gelang nicht. In der Fachwelt, auch in der Wagner-Fachwelt blieb er gegenwärtig. Bernhard Schusters Liszt-Sondernummer seiner wagnerfreundlichen Zeitschrift „Die Musik“ vom Juli 1906, mit der das 4. Quartal eröffnet wurde, beleuchtete alle Seiten seiner Wirksamkeit. „Es ist gar nicht auszudenken, was alles von Richtungsimpulsen, Neuerungen, Erfindungen und Entdeckungen von den allgemeinsten

3. [Zwischentext V] Der unbekannte Liszt

461

künstlerischen Ideen bis herab zum Detail der harmonischen und instrumentalen Technik seiner Initiative zu verdanken ist. Er war einer der weitestschauenden und weitestwirkenden Zielweiser, von denen die Musikgeschichte zu berichten weiss; die ganze spezifisch moderne Musik steht auf seinen Schultern, und zwar keineswegs in Deutschland allein; … und bei weitem ist noch nicht all das aufgegangen oder gar gereift, was er von keim- und wachstumsfähiger Saat ausgestreut hat“(1). In Deutschland waren es vor allem Busoni, Danckert, Raabe und Kusche, die seine historische Bedeutung herausstellten. Auf der Suche nach Vorläufern des Impressionismus stieß Werner Danckert auf Liszt und widmete ihm 1929, wiederum in der Zeitschrift „Die Musik“, einen bahnbrechenden Artikel(2). Es ist anzunehmen, daß ein Debussy-Forscher wie Danckert das leidenschaftliche Liszt-Bekenntnis Busonis aus dem Jahre 1920 kannte(3). Ein Jahr nach Danckert schrieb Peter Raabe die erste gültige Liszt-Biographie(4), die 1961 durch Ludwig Kusche um die Interpretation der von England aus wiedergewonnenen Spätwerke Liszts ergänzt wurde(5). Der Untertitel des Kusche-Buches „Porträt eines Übermenschen“ spricht für sich. Die Darstellung des Lisztbildes im 19. Jahrhunderts gehört nicht in eine der System- und Methodengeschichte der Kritik gewidmeten Arbeit, sondern muß im Zusammenhang mit der neudeutschen Schule (um das Thema „neudeutsche Problematik“) abgehandelt werden, das sich zeitlich mit der parallel laufenden Kritik am mittleren und späten Wagner überschneidet. Ein Hinweis ist jedoch auch an dieser Stelle erforderlich, weil die Kritik an Franz Liszt zu eng mit der Kritik an Wagner verbunden gewesen ist, als daß sie sich davon trennen ließe. Allerdings umfaßt sie andere Bereiche. Die Kritik an Wagner vollzieht sich an Opern-Erstaufführungen, die erstmalig 1899 durch Kastner(6) chronologisch festgehalten wurden, aber durch die Ergebnisse neuerer Untersuchungen vielfach ergänzt und teilweise auch korrigiert werden müssen(7). Demgegenüber war die Kritik an Liszt, der keine Opern komponierte, anders geschichtet. Liszt war Pianist, Hofkapellmeister und Komponist, und im Gegensatz zu Wagner war er als Pianist und als Mensch wenig angreifbar, um so mehr aber als Komponist und als Wegbereiter einer neuen Musik, die damals diesen Namen nicht trug. Liszt wurde 1842 sogar Ehrendoktor der Universität Königsberg. In seinen frühesten literarischen Arbeiten beschäftigte er sich mit der sozialen Lage der Musiker und verlangte Hebung des Musikerstandes durch bessere Bildung und die Einführung des Musikunterrichtes in den Volksschulen. Im Frühjahr 1835 veröffentlichte er in der „Gazette musicale“ sechs Aufsätze „De la situation des artistes“ und wurde deshalb angefeindet. In Nr. 46 vom 15. November 1835 wehrte er sich und schrieb sich seine Gefühle vom Herzen, wie Beethoven, Mozart, Schubert behandelt würden und wie man für „elende Bagatellen“ „lärmende Begeisterung“ zeige, während man „Herrlich geschmückte Damen und Gecken“ „um die Wette in knapp fünf Minuten die schwierigsten Fragen der Ästhetik entscheiden hörte, wobei sie hervorragende Verdienste herabsetzten und schamlos kritisierten“(8). Als Liszt 1886 starb, erklärte (nach einer Textüberlieferung Busonis) der damals achtzigjährige Großherzog Karl Alexander von Weimar: „Liszt war, wie ein Fürst sein sollte“(9). Was man nach 1886 im Versuch, die Musikgeschichte allein

462

11. Kapitel: Von der Parteikritik zur parteilichen Kritik

auf Wagner einzuengen, mit Fleiß in der Vergessenheit versinken zu lassen versuchte, war den Zeitgenossen gegenwärtig. Liszt galt als der bedeutendste Klavierspieler seiner Zeit und wurde überschwenglich gefeiert: „Man schreibt uns aus Wien: Liszt gab am 1. März das erste, am 5. das zweite und am 8. das dritte Concert im Musikvereinssaale. Die Aufnahme von Seiten des Publikums ist außerordentlich; alle Winkel des Saales sind vollgedrängt und eine halbe Stunde vor Anfang müssen die Cassen geschlossen werden. Seine Leistungen in künstlerischer Beziehung gränzen an’s Unglaubliche und selbst den indifferentesten Zuhörer weiß er zu electrisiren; alle seine mehr oder weniger berühmten Vorgänger sind vollständig geschlagen und es dürfte einige Zeit vergehen, bis ein Nachfolger aufzutreten wagen wird“(10). Gerühmt wurden auch seine Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Die Kritik entzündete sich am Komponisten, am Befürworter zeitgenössischer Musik mit Neuheitscharakter und, für die damalige Zeit nicht ungewöhnlich, an seinem Katholizismus. Liszt hatte 1853 die ‚Niederen Weihen‘(11) und den Titel Abbé erhalten. Während Busoni Liszt als den Förderer auch der nicht-wagnerischen und überhaupt der nichtdeutschen nationalen Musik im Blick hatte, ging es Danckert um technische Verfahrensweisen, die vor allem von Debussy übernommen wurden, und die Danckert zusammenstellte: die Anhäufung seltsam irisierender Trillerklänge und Orgelpunkte, die etüdenförmige Eintönigkeit der Melodik, die Fülle arabeskenhafter Sequenzen, die tonal freischwebende Koloristik, die freien Mischklänge der Sekundkopplungen, die atmosphärischen Reize der ruhenden Leer- und Doppelquintklänge. Debussy war Liszt-Kenner und Liszt-Verehrer und arbeitete später auch an der Liszt-Gesamtausgabe mit. Der Unterschied zwischen Liszt und Debussy ist weltanschaulicher Natur. Liszt entwickelte die für den Impressionismus maßgebenden Spielfiguren aus Freude an ihrer Neuartigkeit, während Debussy sie für sein pantheistisches Weltbild einsetzte. Liszt hat auch Wagner beeinflußt, und er erkannte die Bedeutung der jungen russischen Musik. Deren Vertreter, allen voran Balakirew, Borodin und Mussorgsky, waren Lisztverehrer. Bei Balakirew genügte ein Wort gegen Liszt, um Streit zu entfachen. Mussorgskys „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“ ist dem Lisztschen Totentanz nachgeschrieben. Lediglich Rimsky-Korssakow fühlte sich sowohl zu Lizst, aber stärker noch zu Wagner hingezogen. Im Todesjahr Liszts veranstaltete die „Musikalische Freischule‘ in St. Petersburg ein groß angelegtes Liszt-Gedenkkonzert. Busoni schrieb 1920: „Im letzten Grunde stammen wir alle von ihm … und verdanken ihm das Geringere, das wir vermögen“(12). In Deutschland war Lizst schwieriger parteizugeordnet zu erfassen, weil seine Klaviertranskriptionen mit dem ursprünglichen Ziel, unbekannte Musik auf jede nur mögliche Weise bekannt zu machen, auch Meyerbeer einbezogen. Es zeigt seine Unabhängigkeit, die er sich Wagner gegenüber bewahrte. Daß er den Typus der Berliozschen Symphonischen Dichtung nach Deutschland überführte, für Wagner eintrat, zu Mendelssohn auf Distanz ging, trug ihm böse Kommentare von allen Seiten ein. Daß er seine Symphonischen Dichtungen als selbständige Konzertwerke entwarf, die auch ohne Programm ihre Selbständigkeit behielten, hat man damals nicht gesehen oder nicht sehen wollen. Vermutlich ist es Joachim Bergfeld gewesen, der unter Lorenzschem Einfluß diesen Nachweis 1931 in seiner Berliner

3. [Zwischentext V] Der unbekannte Liszt

463

Dissertation „Die formale Struktur der Symphonischen Dichtungen Liszts“ führte. Daß Liszt sich im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 für Frankreich und gegen Preußen aussprach, hat man ihm in Deutschland übel genommen. Daß sein Moralverständnis nicht mit dem privaten Leben Wagners und seiner Tochter Cosima in Übereinstimmung zu bringen war, trieb ihn, um einen modernen Begriff zu benutzen, in die ‚innere Emigration‘. Wie weit diese gegangen ist, zeigen seine letzten Klavierwerke, die für seine Zeitgenossen so unverständlich waren, daß sie der Verleger kurz nach dem Erscheinen wieder einstampfen ließ. Sie wurden von der Liszt Society in England neu herausgebracht und durch Ludwig Kusche 1961 in Deutschland weiteren Kreisen bekannt. Diese späten Klavierkompositionen zeigen einen Komponisten, der über den Impressionismus hinausweist, noch bevor dieser in Blüte stand, und mit seiner trockenen Melodik, spröden Aphoristik und gar nicht mehr glänzenden Klavieristik die Welt der frühen Neuen Musik, wenn nicht erreicht, so doch erahnt. In der Geschichte der Musikkritik hat Liszt mit seinen Opernanalysen einen neuen Maßstab gesetzt. Sie entsprechen den Brendelschen Forderungen nach einer wissenschaftlichen Kritik und erfüllen alle Voraussetzungen einer ausschließlich sachbezogenen Information ohne Füllsel und ohne Überredungsversuche. Als Heinrich Heine in seine spottgetränkten Taktlosigkeiten auch Liszt einbezog, schrieb dieser ihm 1838 aus Venedig einen sehr langen Brief. Er läßt sich bei Kusche in deutscher Übertragung (das Original ist französisch) nachlesen(13). In diesem Brief legt Liszt seine Vorstellungen über das seiner Meinung nach allein gültige Verhaltensmuster eines seriösen Kritikers offen. Nach Liszt hat sich Musikkritik nur mit dem Werk, nicht mit der Person zu beschäftigen. Liszt sieht die um sich greifende Praxis der Zeitungen, Gedanken und Gefühle eines Künstlers zu veröffentlichen und zu kommentieren, als ein Übel der Zeit an. Es ist eine Absage an eine vom Spott, der Indiskretion und der Klatschsucht lebenden Presse. Es erklärt aber auch sein Verhalten gegenüber den unerquicklichen Familienverhältnissen Wagners. Berufs- und Privatleben sind für Liszt unbedingt zu trennen. Als der von König Ludwig II. nach München als Generalmusikdirektor gerufene Herrmann Levi begann, Wagner zu dirigieren, kündigte ihm Brahms die Freundschaft, und sein Lehrer Vinzenz Lachner warf ihn gewissermaßen aus dem Haus. Für Brahms war Wagner ein Konkurrent in der Publikumsgunst und Levis Verhalten ein Verrat an der Freundschaft. Für die Lachners war Wagnersche Musik keine Kunst, sondern eine ‚Krankheit‘, wie man sich ausdrückte(14). Mit dem Regierungsantritt König Ludwig II. am 10. März 1864 waren die Tage Franz Lachners gezählt. Liszt dagegen trennte Person und Werk. Daher konnte er, so schwer es ihm auch fiel, anders als Bülow, nach der Familienkatastrophe Wagner weiter anerkennen. Heine hatte ironisch auf Liszts Katholizismus abgehoben. Liszt geht auch darauf ein, und daß Liszt in seinem ständigen Umgang mit Wagner die christlichen Vorstellungen im „Parsifal“ beeinflußt hat, darf angenommen werden, auch wenn sie der Cosima-Chamberlain-Ideologie widersprachen und daher von ihren Vertretern und deren Anhängern unterschlagen wurden.

464

11. Kapitel: Von der Parteikritik zur parteilichen Kritik

(1) Rudolf Louis: Franz Liszt und die Gegenwart, Mus V/13, 1. Juliheft [4. Quartal = Band 19] 1906, S. 5–14, Z:10; (2) Werner Danckert: Liszt als Vorläufer des musikalischen Impressionismus, Die Musik, XXI/5, 1. Februarheft [1. Halbjahresband] 1929, S. 341–344; (3) Ferruccio Busoni: Um Liszt (1920), Wiederabdruck in: Einheit der Musik …, Berlin 1922, S. 284. In der von Joachim Herrmann besorgten und von Philipp Jarnach mit einem Vorwort bedachten Sonderausgabe ‚Wesen und Einheit der Musik‘ des Max Hesses Verlag 1956 aus Anlaß von Busonis 90. Geburtstag fehlen wichtige Aufsätze, darunter die meisten Liszt-Artikel. Ein Teil der nicht aufgenommenen Arbeiten ist im Anhang S. 286 als Titel aufgeführt; (4) Peter Raabe: Franz Liszt, 2 Bände, Stuttgart-Berlin 1931; (5) Ludwig Kusche: Franz Liszt. Porträt eines Übermenschen, Süddeutscher Verlag München 1961, 135 Seiten; (6) Emmerich Kastner besorgte 1899 in Leipzig eine Zusammenstellng von Ur- und Erstaufführungsdaten bis März 1883, die im großen Bayreuther Festspielheft 1963 aus Anlaß von Wagners 150. Geburtstag nachgedruckt wurde; (7) Helmut Kirchmeyer: Robert Schumanns Düsseldorfer Brahms-Aufsatz ‚Neue Bahnen‘ und die Ausbreitung der Wagnerschen Opern bis 1856. Psychogramm eines ‚letzten‘ Artikels, Akademie-Verlag Berlin 1993, Anhänge A und B, S. 84 ff.; (8) Julius Kapp: Die soziale Lage der Musiker. Ein unbekannter Aufsatz Franz Liszts, Mus XI/16, [2. Maiheft] 1912, S. 240–245, Z:244; (9) Ferruccio Busoni: Aus Züricher Programmen. III. Liszt, in: Einheit der Musik … , S. 226; dazu: Wie Busoni Liszt feierte, Anbruch XVIII/9–10, S. 249; (10) SfdmW IV/12, 18.3.1846, S. 92; (11) Die ‚niederen Weihen‘ haben keinen sakramentalen Charakter. Liszt war kein Priester. Der (französische) Titel ‚Abbé‘ meint in diesem Zusammenhang keinen Abbé im Sinne von Abt; (12) Busoni, Um Liszt, a. a. O. S. 284; (13) Kusche, a. a. O. S. 53–56; (14) Wie rückwärts gewandt Franz und Vinzens Lachner dachten, zeigt eine Aussage von Vinzenz Lachner über seinen Freund Franz Schubert. Er sprach ihm, weil er nicht so viel, wie er selbst, gelernt habe, die Meisterschaft ab.

4. BRENDEL NACH 1852 Als Franz Brendel nach 1850 die Kunstkritik mit hohem sprachlichem Vermögen kulturphilosophisch ansiedelte, genügte ihm für seine hochfliegenden Vorstellungen die „Neue Zeitschrift für Musik“ allein nicht mehr. Außerdem durfte er sich nicht zu weit vom Tagesgeschäft einer Musikzeitschrift entfernen, ohne sie im Bestand zu gefährden. So gründete er 1856 ein neues Periodikum „Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft“, für das ab 1857 Richard Pohl mitzeichnete. Hier vermochte er allgemeine kunstwissenschaftliche Betrachtungen unterzubringen, ohne den Abonnentenstamm seiner Musikzeitschrift zu vernachlässigen oder zu überfordern. Wer Brendel in seinen breit ausgefächerten Kunstansichten folgen wollte, las das neue Periodikum neben dem alten.

5. Systemerstarrung und politische Sprachentwicklung

465

5. SYSTEMERSTARRUNG UND POLITISCHE SPRACHENTWICKLUNG Es war nicht Brendels Schuld, wenn sich die aus den politischen Bewegungen der fünfziger Jahre abgeleitete Modesprache anders, als er sich das dachte, nämlich nicht kunsttheoretisch, sondern politisch weiterentwickelte. Da war Partei gleichbedeutend mit Parteinahme auf der Grundlage einer vor dem eigentlichen Ereignis eingetretenen persönlichen Zuordnung. Dagegen hieß Partei für Brendel, einen künstlerischen Gegenstand wissenschaftlich abzuklären, ihn auf diese Weise als richtig (oder falsch) zu erkennen und darum genötigt zu sein, für ihn einzutreten (oder ihm entgegen zu wirken), ihn also nicht sich selbst zu überlassen. Es hieß vor allem nicht, mit den gewonnenen Erkenntnissen andere, ebenfalls bedeutende Erscheinungen abzuwerten. Im politischen Leben schließt man sich (damals wie heute) einer bestehenden Partei aus Überzeugung oder aus Zweckmäßigkeitserwägungen oder aus Bequemlichkeit an, um den ‚Partei-Genossen‘ in der Öffentlichkeit hochleben zu lassen, auch wenn man ihn unter Umständen gering oder überhaupt nicht schätzt oder vielleicht sogar haßt, um alles für falsch zu erklären, was nicht vom Parteiprogramm abgedeckt wird. Da tritt man heute für eine Sache ein, weil man an der Macht ist, und verteufelt sie morgen, weil man nicht mehr an der Macht ist, die neuen Machthaber aber die Sache weiterhin vertreten. Die Auseinandersetzung reduzierte sich damit kurz nach 1850 auf ein nur noch ‚dafür‘ oder ein ‚dagegen‘. Und da man dank Hegels Dialektik gelernt hatte, alles zu begründen und gleichzeitig gegenzubegründen, je nachdem von welchem Standpunkt aus man die Sache betrachtete, ging es nicht mehr um richtig oder falsch, sondern nur noch um Sieg oder Niederlage, im politischen Geschäft allenfalls durch einen patt-erzwungenen Kompromiß moderiert. Die Gründe selbst werden, wie man sie gerade benötigt, vorgeschoben. Wenn das unter Fortschritt läuft und die einen maßgeblichen Ton mit angebende Berliner Musikkritik den Fortschritt auch noch als Rückschritt definieren kann, dann brauchte man eigentlich überhaupt keine Begründungen mehr zu geben, weil einfache Behauptungen und am Ende auch inkompetente Meinungen genügen, selbst wenn es sich dabei um Informationsdemagogie handelt. Vollzog sich somit die Musikkritik in der ersten Jahrhunderthälfte als eine dreigestaffelte Auseinandersetzung einmal über Prinzipien (gleich Methoden der Urteilsabgabe), dann als Beurteilung von Einzelwerken und schließlich Beurteilung von Aufführungen, so spielten in der zweiten Jahrhunderthälfte Prinzipien- und Methodenauseinandersetzungen keine Rolle mehr. Sie grenzte sich im Wesentlichen auf Personen- und Aufführungs-Kritik und allenfalls sich ergebende Begleitumstände ein. Die Tatsache nun, daß sich seit 1852 Person und Werk Richard Wagners in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen schieben, läßt die zweite Jahrhunderthälfte unter musikkritischen Gesichtspunkten fast ausschließlich als einen Streit zwischen denen erscheinen, die auf der Seite Wagners (und seiner Nachfolger oder Freunde) stehen, und denen, die ihn, und was danach kam, aus was für Gründen auch immer, nicht mögen.

466

11. Kapitel: Von der Parteikritik zur parteilichen Kritik

6. DIE PARTEIEN. „WAGNER“ UND „ANTI-WAGNER“ Die eine Partei kann nicht zugeben, daß auch Wagner Fehler unterlaufen, die andere nicht, daß er eine der genialsten Komponisten-Persönlichkeiten der europäischen Musikgeschichte ist. Die extremen Spielarten reichen von der Gleichstellung Wagners mit Aischylos und Sophokles bis hin zu Theodor Puschmanns noch im Ersterscheinungsjahr 1873 in 3. Auflage erschienener Buchveröffentlichung „Richard Wagner: eine psychiatrische Studie“ als Versuch, Wagner zum Geisteskranken zu erklären(1). Für alle diese Abstufungen stehen Namen, und die Auseinandersetzungen gehen bis in die Familiendispute hinein. Wolzogen Vater, Freiherr Alfred von, ist militant gegen, Wolzogen Sohn, Freiherr Hans von, ist ebenso militant für Wagner, geht 1877 nach Bayreuth und besorgt die Redaktion der „Bayreuther Blätter“; Strauss Vater mag Wagner nicht, Strauss Sohn Richard mag ihn dafür um so mehr. Abgesehen vom unterschwelligen emotionalen Mißvergnügen sammelt sich im Komplex des ‚dagegen‘ der Kreis der ins Abseits geratenden zeitgenössischen Opernkomponisten von Hiller und Dorn bis Truhn und Wüerst, die ihnen zugeordneten Kapellmeister, nicht mehr benötigte Opernlibrettisten, der Kreis der Schumann-Freunde, der Kreis des Männerchorwesens, maßgebliche Vertreter der Mozart- und Bach-Forschung, die Anhänger Mendelssohns und Meyerbeers, die Liebhaber der Großen Französischen Oper – im Komplex des ‚dafür‘ die komponierenden Wagner-Verehrer von Raff bis Draeseke und von Bruckner bis Hugo Wolf und die ihnen zugeordneten Kapellmeister, die Vertreter der Händel- und Beethoven-Forschung, die überwiegende Zahl der Lokalkritiker, die nicht politisch indoktrinierten Theater-Intendanten, die Gegner der italienischen und der französischen und Liebhaber der deutschen Oper, und vor allen Dingen das Publikum. Der Streit spielt sich außer in verschiedenen damals führenden Tageszeitungen in den gehobenen Musikzeitschriften ab. ‚Dagegen‘ sind die „Signale für die musikalische Welt“, die „Rheinische Musikzeitung für Kunstfreunde und Künstler“, die „Süddeutsche Musikzeitung“ und vor allem die spätere „Neue Berliner Musikzeitung“ unter Wuerst und Dorn. ‚Dafür‘ sind, natürlich, die „Neue Zeitschrift für Musik“, die „Niederrheinische Musikzeitung für Kunstfreunde und Künstler“, das „Musikalische Wochenblatt“. Die Parteinahme des Wochenblattes wird nur noch vom erweiterten Gegenstück des Interessenjournals der „Bayreuther Blätter“ übertroffen, der französischen „Revue Wagnerienne“, die den Wagner-Enthusiasmus in einen Wagner-Kult einmünden läßt, der nicht mehr ernsthaft betrachtet werden kann. Auch für die Karikatur gab Wagner ein dankbares Motiv ab, angefangen von der vermutlich frühesten im „Kladderadatsch“ von 1856 „Wie der Tannhäuser zum Sängerkrieg auf die Berliner Wartburg zieht“(2) bis zu den vorerst letzten aus Anlaß seines Todes. (1) Puschmann (1844–1899) war 29 Jahre alt, als er diese pseudopsychiatrische Schrift im Berliner Behr-Verlag gegen den noch lebenden Wagner veröffentlichte. Dort erklärte er wörtlich, Wagner habe keinen normalen Verstand, sondern litte unter Wahnideen mit deletärem Einfluß. Wagner sei kein Genie, sondern wahnsinnig. Die Schrift erfuhr ein dermaßen negatives Echo, daß sich Puschmann von der Psychiatrie zurückzog und künftig nur noch Medizingeschichte be-

7. [Zwischentext VI] Zentrum Wagner

467

trieb. Er habilitierte sich für dieses Fach in Leipzig und wurde 1888 als Ordinarius an die Universität Wien berufen; (2) Die Karikatur bezieht sich auf Wagners Forderung, die Berliner Erstaufführung des „Tannhäuser“ von Liszt und nicht von Dorn dirigieren zu lassen. Wiederabdruck in: Eduard Fuchs/Ernst Kreowski: Wagner in der Karikatur, B. Behr’s Verlag Berlin 1907, S. 15 als Abbildung 21.

7. [ZWISCHENTEXT VI] ZENTRUM WAGNER(1) a) Zum Vorverständnis Wagner wurde ab 1852 Brennpunkt nicht nur musikalischer Auseinandersetzungen. Sie hielten weit über seinen Tod hinaus an, lösten sich zum Teil von einer künstlerischen Thematik und gerieten damit in Bereiche hinein, die mit Musik nichts zu tun haben, eher mit negativer Gesellschaftspolitik und vielfach auch mit bloßem Klatsch, der interessengebunden bemerkenswert, aber musikgeschichtlich belanglos ist. Hinzu kommt, daß die nur selten beachtete Zeitzonen-Verschiebung die historisch gewordenen situationsgeschichtlichen Wertmaßstäbe weitgehend hat in Vergessenheit geraten lassen und Wagner daher für Verfehlungen in Anspruch genommen wird, die er im Vergleich mit seinen inzwischen vergessenen Zeitgenossen noch am wenigsten begangen hat. Die journalistischen Widerstände sind sowohl für die Wertung wie für die Verbreitung der Wagnerschen Opern so gut wie bedeutungslos gewesen, lenkten allenfalls den Blick vom Kunstwerk weg auf den Komponisten als Person und machten ihn zum Gegenstand einer gnadenlosen und vielfach selbstgerechten Neugier. Dabei gelangten – in der europäischen Operngeschichte einmalig – alle seit dem „Rienzi“ komponierten Opern dauerhaft ins Repertoire, und ihr Erfolg überstieg nach und nach denjenigen Meyerbeers. b) Früher Wagner(2) Der Rienzi-Streit blieb seit der Uraufführung 1842 eine zeittypische Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Anhängern des auslaufenden Opernmodells Meyerbeers. Daß es sich bei dem bis dahin unbekannten Richard Wagner um eine außergewöhnliche neue Komponierbegabung handelte und daß er im Ausdruck Spontini, also dem nacheiferte, was die Zeitgenossen den „edlen Styl“ nannten, wurde erkannt. Fast lehrbuchartig lassen sich die wichtigsten Argumente für und gegen den „Rienzi“ in zwei umfangreichen Uraufführungsberichten nachlesen. Der eine, der auch die besondere Atmosphäre der allgemein als Ereignis empfundenen Dresdner Uraufführung einfing, erschien anonym am 1. November 1842 in der 36. Nummer der Schumannschen „Neuen Zeitschrift für Musik“ in Leipzig und hatte Wagners Freund Ferdinand Heine zum Verfasser [IV,36]. Der andere kam am 18. Januar 1843 in Nr. 18 der „Rheinischen Zeitung“ in Köln heraus [IV,88], die in diesem Monat die beachtliche Abonnentenzahl von 3400 erreicht hatte und von gebildeten, eher politikinteressierten Schichten gelesen wurde. Den Artikel veröffentlichte man nach damaliger Sitte ebenfalls anonym. Ihr Verfasser war Carl Banck. Seine Thesen

468

11. Kapitel: Von der Parteikritik zur parteilichen Kritik

standen in Übereinstimmung mit denen Schumanns, der dem Uraufführungsbericht vom 1. November in der 41. Nummer (am 18. November) schnell und für Wagner sicherlich unerwartet einen dämpfenden Korrekturbericht mit dem Untertitel „Noch ein Artikel über Wagner’s ‚Rienzi‘“ nachsetzte [IV,46], nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß sich die so hoch gerühmte neue Oper den Produkten der inzwischen verhaßten Meyerbeerschen ‚Grande opéra‘ anschloß und sich außerdem ein Erfolg abzuzeichnen begann, der über den Tag hinauszureichen schien. Der Artikel war mit A. S. gezeichnet, hatte also den gebürtigen Leipziger Albert Schiffner (1792– 1873) zum Verfasser, der eigentlich Geograph war und sich in seinem Fach, als Schriftsteller und als Lexikograph einen bedeutenden Ruf erwarb. Als musikalisch gebildeter Gelehrter betätigte er sich nebenbei als Musikkritiker und gehörte bis zu seinem Weggang aus Dresden 1846 zum Mitarbeiterstab Schumanns. Er beurteilte den „Rienzi“ in seinen kritischen Partien richtig. Das Verhältnis Schumann-Wagner war von diesem Zeitpunkt an getrübt. Die sich von Heinrich Heine abwendende christologische Umdeutung des Holländer-Stoffes, die dem Holländer seine verheißene Erlösung in dem Augenblick zuteil werden läßt, in dem er seinen Egoismus überwindet, immer nur an sich und sein eigenes Heil zu denken, sondern aus Liebe bereit ist, die Verantwortung für einen anderen, Senta, zu übernehmen (um zu verhindern, daß sie als Folge eines vermeintlich bevorstehenden Treuebruches auf ewig verdammt wird), blieb zur Uraufführungszeit unbemerkt und wurde später mit der zunehmend atheistischen Auslegung Wagners durch den Chamberlain-Kreis Bayreuths unterschlagen. Eine zeitgenössische Holländerdramatisierung (Wollheim da Fonseca) folgte Heine und nahm im Gegensatz zu den von Heine unabhängigen Romandarstellungen (Thomas Campbell, Frederic Marryat, Wilhelm Hauff, Washington Irving) Possencharakter an. Wagners Oper bildet das einzige Beispiel für eine nicht ironische oder burleske bühnengerechte Stoffauslegung. Heines Hauptgestalt mit dem sprechenden Namen ‚Katharina‘ (‚die Reine‘) ist keine Verkörperung der helfenden Liebe, ihr Selbstmord keine Aufopferung, sondern ein Vorgang, der als Verzweiflungsakt der Sitzengebliebenen oder, von Heine besonders betont, als die einzige Möglichkeit der Treuebewahrung dem Mann gegenüber gesehen werden muß. Heine spottet ihr denn noch bis in dieses seltsame Opfer hinein nach und begreift seine eigene Ansprechgestalt der Rahmengeschichte als bürgerliche Messalina, wir würden heute sagen, als ‚Hausfrauenhure‘. Wagner übernahm von Heine den formalen Aufbau und verzichtete nicht nur auf dessen erotische Aussage, sondern verkündete eine Heilsbotschaft, die Heine fremd war. Das Herumirren auf dem Meer steht für ein Fegefeuer, aus dem der Weg immer nur in den Himmel, nie in die Hölle führt. Der als Erlösung dargestellte Untergang des Holländers ist keine endliche Vernichtung, sondern so, wie es der Engel dem Holländer zu Beginn der Oper verkündet, der Aufstieg in die Unsterblichkeit des Paradieses. Wenn Wagner in späterer Zeit nicht mehr bereit war, seinen Holländer mit den „Memoiren des Herrn von Schnabelowopski“ in Verbindung zu bringen, so konnte er in der prinzipiellen und nicht nur graduellen Unterscheidung zu Heine dafür triftige sachliche Gründe vorbringen. Die Oper erzielte 1843 nur einen Achtungserfolg. Die Handlung war zu wenig aktiv, die Bühne zu dunkel, die Instrumentierung bei der Uraufführung (noch) zu

7. [Zwischentext VI] Zentrum Wagner

469

stark. Man wußte wenig damit anzufangen; man war Meyerbeersche Bühnenpracht gewöhnt. Erst mit dem Erfolg von „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ drang der „Holländer“ allmählich, wenn auch immer nur mit kleinen Aufführungszahlen, durch. Noch das für Wagner wichtigste Ergebnis war seine Dresdner Anstellung als ‚zweiter‘ königlicher Kapellmeister, was in diesem Falle keine Unterordnung unter den ‚ersten‘ Kapellmeister Reißiger, sondern eine Gleichstellung mit weitgehend auch getrenntem Aufgabenbereich bedeutete. Um so stärker wühlte die Tannhäuser-Interpretation die theologisch mit sich selbst zerstrittene protestantische Führungsschicht auf, die in der Oper ein Zugeständnis an rekatholisierende Tendenzen sah und sie mit der zur selben Zeit entstandenen, zwar zeitgemäßeren, aber künstlerisch bedeutungslosen Mangoldschen Tannhäuser-Oper nach einem Libretto des deutschkatholischen Sektentheologen Eduard Duller nicht ausgleichen konnte. Die Uraufführung 1845 fiel in die schlimmste Zeit der religionspolitischen sächsischen Auseinandersetzungen. Gerade erst hatte sich der Annaberger Jesuitenspektakel als informationsdemagogisches Werbeinstrument herausgestellt, waren die vor dem Landtag vorgebrachten angeblichen katholischen Übergriffe zum Schaden der Kläger widerlegt und durch die Untersuchungsergebnisse der sächsischen Staatsregierung die Leibgarde des Erbprinzen entlastet worden, die Johann von Sachsen gegen den Angriff des Leipziger Pöbels verteidigt und dadurch das Leipziger Massaker vom 12. August 1845 ausgelöst hatte. Gleichzeitig herrschte Hungersnot, und die Bevölkerung litt unter verheerenden Naturkatastrophen. Wieder kehrte Wagner die, diesmal gegen Rom gerichtete dreiteilige Heinesche Tannhäuser-Vorgabe um, die weder literarisch noch dramaturgisch an das faszinierende Holländer-Memoiren-Kapitel VII Heines heranreicht. Bei Heine siegt Venus über Tannhäusers Reuebegehren. Von Wagner verlangte man eine ähnliche Lösung, die er zurückwies. Wenn er Venus über Elisabeth habe siegen lassen wollen, hätte er den Tannhäuser gar nicht erst zu schreiben brauchen, erklärte er. Semper schrie ihm nach der Uraufführung noch im Foyer ins Gesicht, er verachte ihn wegen dieses Stoffes. Es war Julius Schladebach, der als erster Kritiker schon 1845 das Religionsproblem öffentlich ansprach. Später, als die Dresdner Vorgänge nicht mehr aktuell waren, hat man ihm daraus einen Vorwurf gemacht, zu Unrecht, weil sich das Thema als wohlfeiler Topos durch die Zeitungs- und Zeitschriftenberichterstattung bis in die Leserbriefspalten hindurchzieht. Ludwig Bischoff widmete ihm in der als Leitartikel aufgemachten elfteiligen polemischen Tannhäuserauseinandersetzung seiner „Rheinischen Musikzeitung für Kunstfreunde und Künstler“ ein eigenes Kapitel und verließ dabei endgültig den Boden der Sachlichkeit, indem er am Ende nur noch schimpfte, was sowohl aus protestantischer wie aus demokratisch-republikanischer wie aus der Sicht des jungdeutschen hegelianischen Atheismus verständlich war. Man identifizierte sich mit den Heldengestalten vordergründiger Theaterdramatik nach Art Heinrich Laubes, mit Grabbes „Hermannsschlacht“, sogar mit den Figuren Kotzebues; aber ein Kapitän, der unentwegt auf dem Meer hin und her segelt, um von einer Frau erlöst zu werden und im Augenblick dieser seltsamen Erlösung von was auch immer unterzugehen und sein Leben zu verlieren, oder noch schlimmer, ein abwechselnd ständig jammernder oder aufbegehrender halbplatonischer Minnesänger, den die

470

11. Kapitel: Von der Parteikritik zur parteilichen Kritik

‚Fleischeslust‘ quält und der zu Fuß ausgerechnet zum Papst nach Rom wandert, um dort eine Entsühnung zu erflehen, die er nicht bekommt, und wieder zurückwandert, um aus Kummer darüber im Angesicht seines ebenso glücklosen wie über alle Maßen edlen Nebenbuhlers, der gerade erst seinen Abendstern angesungen hat, theatralisch sein Leben auszuhauchen, während die unglücklich Geliebte zeitgleich nebenan ebenfalls stirbt und nach nicht einmal fünf Minuten im offenen Sarg über die Bühne zum Begräbnis gefahren wird – das war einfach zu viel. Ludwig Bischoff in Köln warf Wagner vor, das „rein Menschliche … so stark mit dem specifisch Christlichen oder Christkatholischen versetzt zu haben, daß es darin fast ganz und gar aufgeht. Um dahin jetzt zurückzukehren, sollen die großen Dramatiker aller Nationen, ein Corneille, Shakespear, Göthe und Schiller gelebt und gedichtet, und ein Geist wie Lessing Deutschland und die Idee der Kunst erleuchtet haben?“(3) [IV,1947]. Dabei war die Oper nicht römisch-katholisch, sondern deutsch-katholisch, und die aus katholischer Sicht offenkundigen theologischen Widersinnigkeiten in Verbindung mit dem schon von Goethe als literarisch unpassend angemerkten und in den mittelalterlichen Originalstoff hineingeschmuggelten papstfeindlichen Stabwunderschluß forderten seriöse Theologenkritik heraus. Wenn sie stilistisch allerdings wie die Prager Korrespondenz im „Salzburger Kirchenblatt“ vom 30. November 1854 ausfiel, wirkte sie bei aller inhaltlichen Richtigkeit doch eher unfreiwillig komisch. Konfessionspolitisch motivierte Angriffe auf Wagner kamen dann wieder mit dem Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ in Mode. c) Bedeutung Die Bedeutung von „Tannhäuser“ als richtungsänderndes Opernwerk wurde schnell auch von denen begriffen, die damit nicht einverstanden waren: daß Wagner aus Partien Rollen macht, den Weberschen Weg der Zusammenführung von Nummern in Szenen weiterführt und die Instrumentation als Kompositionselement einer Textinterpretation bis zur Textumkehrung versteht. Schladebach prophezeite 1845 nach der „Tannhäuser“-Uraufführung, „Rienzi“ werde wie sein Titelheld fallen und „Tannhäuser“ sei schon gefallen; der Mozartforscher Otto Jahn prophezeite 1853, bis zum Jahresende werde man den „Tannhäuser“ in Leipzig nicht mehr und danach überhaupt nicht mehr aufführen. Wer unbedingt an Wagner etwas aussetzen wollte, spielte ihn gegen andere Komponisten aus, erklärte seine Ouvertüren-Theorie für absurd, eine Personalunion Dichter-Komponist vom Grundsatz her als schöpferisch unmöglich, machte sich über das Verfahren lustig, Bühnengeschehen kompositorisch nicht zu verdoppeln, sondern zu interpretieren, verwechselte Wagners Verfahren mit dem Glucks und wollte vom Gesamtkunstwerk erst recht nichts wissen. Wem es nicht um Musik ging, beschäftigte sich mit Wagners Charakter, der suchenden Journalisten (wir nennen das heute Regenbogenpresse) einen reichlichen Gesprächsstoff bot. Viele der Vorwürfe sind geschmäcklerisch oder nur historisch zu verstehen. Wenn Schladebach Wagner der persönlichen Eitelkeit bezichtigte, weil Wagner Beethoven auswendig dirigierte, oder Dorn ihm Verletzung des Anstands vorwarf, weil Wagner

7. [Zwischentext VI] Zentrum Wagner

471

nach neuerer Dirigierart seine Aufführungen mit dem Gesicht zur Bühne und nicht zum Publikum hingewendet leitete, so werden Argumentationsfelder betreten, die schon Ende des Jahrhunderts nicht mehr begehfähig waren, während die Vorwürfe selbst, Eitelkeit und Unhöflichkeit, weiter bestehen blieben. (Dorn seinerseits, den man zusammen mit Taubert Jahre später gegen beider Willen pensionierte, war stolz darauf, nie mit dem Rücken zum Publikum dirigiert zu haben, und erklärte dazu, er habe damit keine Probleme bekommen. Es wirft zusätzliches Licht auf die Berliner Tannhäuser-Diskussion von 1856, die sich an Wagners Versuch entzündete, in Berlin seine Oper nicht von dem ihm inzwischen auch noch feindlich gesinnten Dorn oder irgend jemand anderem, sondern von Liszt dirigiert zu zu wissen, was Dorn ihm nie verziehen hat.) Otto Jahn kam in seinen in den „Grenzboten“ anonym veröffentlichten aufwendigen und raumgreifenden Analysen von „Tannhäuser“ im Februar 1853 und nachher „Lohengrin“ im Januar 1854 zu dem für ihn nahe liegenden Schluß, Mozart habe das alles um so viel besser gemacht und beide Opern seien des Aufhebens nicht wert. Daß der gelernte Altphilologe und streitbare Leipziger und später Bonner Universitätsprofessor dasselbe auch von Carl Maria v. Weber, Hector Berlioz, Franz Liszt, Robert Schumann und Johannes Brahms wenn auch weniger exzessiv behauptete, muß dazu und nicht nur am Rande vermerkt werden. Er bekam in Brendels „Neuer Zeitschrift für Musik“ wütende Antworten, die ihn so verstörten, daß er fürderhin schwieg und sich in einem Brief des Versponnenseins im Alten mit dem Eingeständnis bezichtigte, von der zeitgenössischen Kunst nichts zu verstehen(4). Sein Nachfolger im Geiste, F. Hamma, im Hauptberuf Gesanglehrer, wirkte dagegen nur noch skurril. Sein wütender, vom Titel her für sich selbst sprechender Artikel vom 23. Juli 1853 „Epistel an die Tann- und Tollhäusler“ in dem obskur gewordenen „Central-Organ für die Deutschen Bühnen“, das kurz darauf einging, erklärte den Lesern, die Italiener hätten so herrliche und grundsätzlich nicht zu übertreffende Opern geschrieben, daß eine Opern-Neukomposition und das auch noch in deutscher Sprache überflüssig sei und niemandem etwas bringe. Daß nach Wagners Vorstellung die Ouvertüre mit der nachfolgenden Oper in einem nicht nur stilistischen, sondern auch inhaltlichen Zusammenhang in dem Sinne stehen solle, daß sie nach „Freischütz“-Vorbild die Opernhandlung in Miniaturform abbilde, wurde mit dem Argument bestritten, ein solches Verfahren sei unlogisch und mache nur dann Sinn, wenn die Ouvertüre nach der Oper gespielt werde. Eine Handlung, die erst mit dem Verlauf der Oper zum Verständnis gelange, lasse sich in einer Ouvertüre vor Bekanntgabe der Opernhandlung nicht begreifen. Möglicherweise hat das Argument auf Wagner sogar Eindruck gemacht. Jedenfalls flaute das Thema ab, nachdem er seit dem „Lohengrin“ seinen Bühnenwerken nur noch Aktvorspiele und keine Opern-Gesamtouvertüren mehr voransetzte. Ganz und gar unmöglich fanden einige Gegner Wagners Verfahren, sich die Texte selbst zu schreiben, wozu Wagner anfänglich aus Not gezwungen gewesen war. Ein Künstler, so wurde behauptet, könne sich nur einmal begeistern, entweder als Dichter oder als Musiker. Daher müsse am Ende entweder der Text oder die Oper mißlingen. Daß eine weit größere Übereinstimmung unter kompetenten Zeitgenossen in der leicht beweisbaren Feststellung herrschte, zwischen den teilweise geradezu unsinnigen Opern-

472

11. Kapitel: Von der Parteikritik zur parteilichen Kritik

texten im circumpolaren Bereich um Wagner und den Wagnerschen Opernbüchern bestehe ein gar nicht mehr abzumessender Qualitätsunterschied, und Wagner habe nicht Operntexte, sondern Dichtungen geliefert, wurde hinweggeredet. Wer sich an Meyerbeer begeisterte oder in italienischen Spielopern sein Bühnenideal erblickte, kam mit Wagner überhaupt nicht zurecht. Reflexionsmusik stellte andere Ansprüche als komische Opern oder Historiendramen mit meist tendenziös gefälschtem, historischem Hintergrund, aber politischer Zielrichtung. Wenn im herkömmlichen Operntext vom Läuten der Glocken die Rede ist, dann läuten sie auch im Orchester. Bei Wagner ertönen statt dessen helle Flötenchöre als Antizipation der Engelschöre, die stellvertretend für die Glocke als Stimme oder Einladung Gottes, jedenfalls als Repräsentanz des Übernatürlichen beschworen werden. Es brauchte Zeit, bis die neue Orchesterbehandlung ins Bewußtsein gelangte, und je mehr Wagner das erstmals von Liszt offen gelegte und bei Weber als Motivsprache vorgebildete Verfahren vervollkommnete, um so mehr wurde Wagner bewundert, gefürchtet, verspottet und mißverstanden. Nicht die Bühnenhandlung wird unbestechlich, sondern das Orchester, das eine handlungsimmanente, bei Weber in Ansätzen vorgebildete, bis dahin kaum geahnte neue Funktion erhält: wenn sich auf dem Walkürenfelsen Siegfried und Brünnhilde ihre leidenschaftliche Liebe gestehen, ertönt im Orchester das Drachenmotiv und sagt dem Hörer voraus, daß am Ende nichts Gutes zu erwarten ist; wenn Sieglinde Selbstmord begehen will, verkündet ihr die Walküre das werdende Leben, das sie im Schoße trägt, und das Orchester verrät mit dem erstmals ertönenden Siegfriedmotiv, um welches Leben es sich handelt. Es ist das Orchester, das immer wieder Elsa davor warnt, die tötende Frage zu stellen. Einer der Bewunderer Wagners, Igor Strawinsky, hat das Verfahren um die Klangfarbenmotivik erweitert: es sind die Orchesterklangfarben, die beispielsweise im Kartenspielballett dem Zuhörer bekannt geben, um welche Spielkarten es sich handelt, noch bevor sie im Rahmen der Handlung aufgedeckt werden. „Lohengrin“ im Gefolge von „Tannhäuser“ (an keiner deutschen Bühne wurde „Lohengrin“ vor dem „Tannhäuser“ gegeben), bestätigte die „Tannhäuser“-Tendenz und beharrte auf einer Stoffwahl, die sich von dem entfernt hielt, was die deutschen Literaten in Mehrheit (ausgenommen etwa Brendel, der gegenteiliger Meinung war) von der neuen nationalen deutschen Oper forderten. Die Bedeutungs- und auch Witzlosigkeit der zeitgenössischen deutschen Opernlibretti war zum Problem geworden. So schrieb man von Jena aus einen Operntext-Wettbewerb aus und kommentierte die eigenen Ansprüche, als der ohne brauchbare Ergebnisse blieb. Alle christlich geprägten Stoffe und damit alle im Mittelalter spielenden Ereignisse waren verboten, desgleichen metaphysisch besetzte Themen. Ausnahmen davon bildeten lediglich Darstellungen von Konfessionskriegen, in denen Christen eine schlechte bis üble Rolle spielten. Erlaubt waren die Stoffe der Antike und politisch interpretierbare Vorlagen, wie siegreiche Auseinandersetzungen Deutschlands mit anderen Staaten oder Kulturen, und Freiheitskriege aller Art. Nichts davon ließ sich bei Wagner auffinden, und so verlor er nach und nach alle seine aus dem politischen Vormärz kommenden Freunde einschließlich Heinrich Laube. Wagner wird in fortsetzungsreichen Artikeln nicht nur beschuldigt, die nationalen deutschen Interessen nicht zu erkennen, sondern national unbelehrbar zu sein und dank seines

7. [Zwischentext VI] Zentrum Wagner

473

unbestreitbaren Erfolges deren Durchsetzung sogar zu behindern. So kann man es etwa in der vom Verleger Schott persönlich überwachten „Süddeutschen Musikzeitung“ nachlesen, die seit 1851 in Mainz erschien. Wagner vertonte seit dem Holländer keine zeitgenössisch politisch auszulegenden oder unmittelbare politische Ereignisse betreffenden Stoffe mehr. Das war gleich nach der Uraufführung von „Tannhäuser“ durch Gaillard ausgesprochen worden. Gaillard war eigens zur Uraufführung von Berlin nach Dresden gereist, was damals als etwas Besonderes vermerkt wurde, und sein Bericht vom 1. November 1845 beruhte auf Mitteilungen aus erster Hand. Wagner, so heißt es da, habe eine „neue Gedankenwelt“ entwickelt, die „nichts mehr gemein habe mit dem, was den Menschen im bürgerlichen und politischen Verkehr aufrege“ [IV,585], will sagen, Wagner verläßt die tagesaktuelle Stoffwelt von „Rienzi“ und weicht dem kurzlebigen politischen und theatralischen Meinungsstreit aus, bleibt dagegen zustimmend oder widerstrebend im Einflußbereich der übergeordneten philosophischen Gedankengänge. Was er zum Alltag zu sagen hat, steht in den reichlich verfaßten Schriften. Wagner vertonte von nun an, und das ist die von Gaillard benannte „neue Gedankenwelt“, allein noch übergeordnete Prinzipien als einander ausschließende Lebensphänomene, in die man, anders als etwa bei Meyerbeer(5), zeitgenössische Politik nur um den Preis der Tatsachenverbiegung hineinlesen kann. Im „Holländer“ war das der Konflikt zwischen Selbstsucht und helfender Liebe, im „Tannhäuser“ der Konflikt zwischen dem idealen Dauerglück einer geistigen Liebe und der realen Sinnlichkeit mit ihrer ständig stärkere Reize verlangenden Augenblickserfüllung, die sich zwangsläufig im Uferlosen verliert und zuletzt spannungslos banal wird; im „Lohengrin“ der Konflikt zwischen einem passiven metaphysischen Urvertrauen in die Sinnhaftigkeit des geschenkten Lebens und dem gewaltbereiten Machtanspruch zerstörender Kräfte. Prinzipien sind nicht theaterfähig, sondern bedürfen ihrer fleischlichen Repräsentanten in der metaphysischen und zugleich in der realen Welt. Prinzipien bleiben unberührt und daher auch ihre metaphysischen Repräsentanten, nicht aber die Darstellungssubjekte als ausführende Organe in der realen Welt. Lohengrin und Ortrud sind als Prinzipienträger unzerstörbar, ihre weltlichen Organe Elsa und Telramund sind es nicht. Ortrud verliert den Streit und wird als Ursprung des Bösen entlarvt. Aber anders als ihre ausführende Hand kann sie weder zur Rechenschaft gezogen noch gar getötet werden. Als Prinzip des antichristlichen Heidentums bleibt sie im Spiel, als Symbol ihrer weiter wirkenden Kraft verläßt sie nicht die Bühne, ihr verblendeter Erfüllungsgehilfe dagegen fällt. Elsa als die Erfüllungsgehilfin Lohengrins stirbt. Ihr Tod ist konsequent. Ihr Wesen war das Urvertrauen in die Richtigkeit der Lebensvorgänge. So lange sie dem folgte, war sie ungefährdet. Ihr Vertrauen wird nicht enttäuscht, der im Gebet erkannte Retter erscheint und sein Auftreten als Schwanenritter verbürgt jedermann seine übernatürliche Herkunft. So lange Elsa keine Fragen stellt, verbleibt sie im schützenden Raum dieses Urvertrauens. Mit der Frage unterliegt sie den Einflüsterungen ihrer Gegenwelt und gibt ihr eigentliches Wesen auf. Damit existiert sie nicht mehr als das Geschöpf, das sie im Anfang der Oper war und erfüllt wie Telramund keine theatralische Funktion mehr. Lohengrin, der die Bühne verläßt, um in seine metaphysische Heimat zurückzukehren, muß einen neuen Erfüllungsgehilfen

474

11. Kapitel: Von der Parteikritik zur parteilichen Kritik

einsetzen. Elsas Funktion wird durch diejenige Gottfrieds ersetzt. Ortrud kann sich Zeit lassen. Sie besitzt keine Heimat ähnlich derjenigen Lohengrins und muß daher auf der realen Lebens-Bühne verbleiben. Wen sie sich als nächsten Repräsentanten des neuen Heidentums aussucht, bleibt – auch das ist folgerichtig – offen. Der 1876 gestorbene, damals knapp 46jährige Adolf Wilhelm Theodor Stahr, ein zu seiner Zeit namhafter altphilologisch geschulter Literaturhistoriker und Schriftsteller mit starken politischen Wurzeln im Liberalismus der deutschen Vorund Nachmärzzeit, wurde mit der Lohengrin-Thematik nur dadurch fertig, daß er sie in ihr Gegenteil umdeutete und entmythologisierte. Seine auch heute noch beeindruckende These, die er in den beiden Morgen-Ausgaben der Berliner „NationalZeitung“ vom 27. und 28. Mai im Zusammenhang mit der 5. Weimarer LohengrinAufführung vom 11. Mai 1851 [IV,1364/1366], vertrat, nicht Elsa, sondern der eine einfache Frau mit seinem Frageverbot überfordernde „Himmelssoldat“ Lohengrin trage die Verantwortung für den unglücklichen Ausgang, kehrte die inneren Beziehungen der Oper um und löste Meinungsverschiedenheiten zwischen Wagner und Liszt aus. Wagner, überaus glücklich über das Echo, das er so unerwartet von einem berühmten Zeitgenossen bekommen hatte, äußerte sich zunächst begeistert, pflichtete dann aber Liszt bei, der Stahrs Darstellung für falsch hielt. Nicht zuletzt dank Franz Brendel [IV,1376] erfuhr der Aufsatz weitere Verbreitung und wurde zu einem von mehreren Auslösern für die nach 1852 dauerhaft einsetzende Wirkung Wagners. d) Reflexion statt Begriffslosigkeit Mit „Lohengrin“ begann eine im Laufe des Jahrhunderts schärfer werdende Polarisierung mit weltanschaulichem Hintergrund. Die mit den theoretischen Schriften zusätzlich schriftstellerisch vertretene Wagnersche Opernreform beendete die seit Kant und Michaelis gängige Vorstellung von der Musik als einer begriffslosen Kunst aus undefinierbaren Gefühlen und behauptete gegenüber Literatur und Malerei einen zuletzt nicht nur gleichberechtigten, sondern führenden Anspruch. Selbst in umfassenderen Darstellungen wurde die Musik bis dahin in der Regel ausgespart. Jakob Burckhardts berühmtes Buch „Kultur der Renaissance“ enthält kein Kapitel über Musik, dasselbe gilt für die Mittelalterdarstellungen des Jahrhunderts, die damit einen integrierenden Lebensbestandteil dieser Epochen unterschlagen. So sah es Hermann Nohl, als er 1913 die Stellung der Musik im deutschen Geistesleben kritisch untersuchte: „Und ähnlich steht es mit der ästhetischen Behandlung der Musik: hier sind, kann man ganz ruhig sagen, die ersten Grundlagen noch nicht gefunden, und nur darum konnte ein so törichtes Buch wie das von Hanslick solche Anerkennung finden“, behauptete er pauschalierend und daher nicht ganz richtig(6). Es ist eine der kulturgeschichtlichen Leistungen Wagners gewesen, die Oper und damit die Musik über die eigentliche Musikgeschichte hinauszuführen. Wagners Opernbücher verstehen sich als Dichtungen und verlangen in Verbindung mit ihrer Vertonung sowohl einen neuen Interpreten- wie einen neuen Hörertyp, der die Fähigkeit analytischen Denkens besitzt. Der zeitgenössische Begriff ‚Reflexions-

7. [Zwischentext VI] Zentrum Wagner

475

musik‘, der auch für Berlioz, Schumann und Liszt gilt, steht für eine Musik, die sich nicht beim ersten Anhören dem Verständnis erschließt, sondern des Nachdenkens bedarf. Sie will in erster Linie nicht mehr unterhalten, sondern Welterkenntnis vermitteln. An dieser Stelle erfolgte die endgültige Trennung in eine Lebensdeutung betreibende hohe Kunstmusik, bald ernste oder schwere Musik genannt, und in eine Unterhaltungsmusik in Richtung subkulturellen Zeitvertreibs, bald leichte Musik genannt, die über die Operette in das Musical weitergeführt und nach und nach zum Bestandteil vorrangig nicht mehr der Kunst-, sondern der Wirtschaftsgeschichte wird. e) Prinzipiendenken Das seit dem Holländer entwickelte Denken in Prinzipien setzte Wagner, sowohl vom literarischen Zeitgeist wie von journalistischen Widrigkeiten bedingt berührt, mit zunehmender philosophischer Reife nicht mehr nur in einer sich ausschließenden Themenstruktur fort. In den „Meistersingern“ ist es der unvereinbare Gegensatz zwischen Zeitfeindlichkeit und Zeitverbundenheit, jetzt um die vermittelnde Kategorie der Zeitoffenheit versöhnlich erweitert. Die Zeitverbundenheit Stolzings und die Zeitfeindlichkeit Beckmessers schließen einander aus, bleiben aber als für alle Zeiten unauslöschliche Verhaltensmuster im Spiel, ohne sich jemals die Hand reichen zu können. Es ist im Sinne der Spiraltheorie Marius Schneiders eine Wiederholung des Lohengrin-Ortrud-Konfliktes auf anderer Ebene. Neu ist das vermittelnde Moment, jene Schar, die in jedem Staatswesen die Mehrheit bildet und, so lange sie nicht voreingenommen gemacht wird, überzeugbar bleibt, wenn derjenige, der überzeugen will, stark genug an sich selbst und sein Vorbringen glaubt, in diesem Fall Stolzing im Umgang mit den Meistern. f) Hemmungen Allerdings war es für Wagner um 1850 insgesamt kritisch geworden. Wagners Verstrickung in die sächsische Mai-Revolution von 1849 brachte ihn um die Heimatbühne Dresden und verhinderte für Jahre die erwünschten Verbindungen unter anderem nach Berlin und Wien, wo nicht das Publikum, wohl die offiziellen Stimmführer mit Wagner immer erst dann etwas anfangen konnten, wenn sich seine Ideen anderswo als lebensfähig und vor allem den kränkelnden Theaterkassen heilsam erwiesen hatten. Zu diesem Zeitpunkt mußte man sich von Mal zu Mal schärfer artikulieren, um nicht der geistigen Rückständigkeit oder gar der Vetternwirtschaft beschuldigt zu werden. Der „Tannhäuser“ zog in Wien offiziell erst ein, nachdem er im Vorstadttheater zur Sensation geworden war, und das Vorstadttheater brachte ihn erst nach der erfolgreichen Nestroy-Parodie. Die Leserbriefschlacht um die Dresdner Wiederaufführung von „Tannhäuser“ im Oktober und November 1852 offenbarte blank liegende politische Nerven, und es war das sächsische Militär, das den König zwang, die gegebene Zustimmung zur Wiederaufführung so zu unter-

476

11. Kapitel: Von der Parteikritik zur parteilichen Kritik

laufen, daß die Oper nach wenigen (begeistert aufgenommenen) Vorstellungen abgesetzt werden mußte. Aber es ließ sich nicht an Wagner vorbeikommen, was auch immer man an ihm aufzeigte. Die Opernbesucher begriffen die Einmaligkeit der atmosphärischen Stimmigkeit zwischen Handlungsführung und kompositorischer Darstellung und waren von den neuen Welten, die sich da auftaten, hingerissen. Man lachte über die Karikaturen, mit denen Wagner seit 1856 reichlich bedacht wurde, empörte sich über seinen Charakter, wie man ihn geschildert bekam, las gute, schlechte, spöttelnde, bösartige und zutreffende Kritiken, belustigte sich an Werktitelwitzen, Geistreicheleien, verballhornenden Stabreimspielen, den Vorgaben an die Putzmacherin zur Herstellung seiner seidenen Schlafröcke, schimpfte, lobte, spöttelte und verweigerte ihm als einzigem bedeutenden Musiker seiner Zeit jedweden Orden, Ehrenzeichen oder Titel – aber nach Bayreuth kamen Kaiser, Könige und regierende Herren, die Theaterlandschaft blühte auf, Wagner schiebt sich ins Zentrum der deutschen und französischen Kultur, ein Magier, der die Fäden zieht, und die verbal Beleidigten jubeln ihm trotzdem zu, weil nichts von dem, was an Wagner so unangenehm auffällt, ins Werk hinein gelangte, und nur dieses zählt. Die geistreichen Franzosen brachten es zuletzt auf die schlüssige Formel, die Hände, mit denen wir ihm Beifall klatschen, reichen wir ihm nicht, um ihm guten Tag zu sagen. Es zeigte sich beispielhaft etwa am 25. März 1860 anläßlich der ersten Vorführung des „Tristan“-Vorspiels in Wien(7). Tiefenpsychologisch symptomatisch war der Zeilenumfang der Berichterstattung. Man fand alles falsch und unverständlich, widmete dem aber mehr Raum als dem für gut erklärten immer schon Bekannten, ein geradezu klassischer Fall negativer Anerkennung mangels nennbarer Alternativen. Und die Zusammenfassung unter dem Schlagwort ‚Süddeutsche Opposition‘ vereinigte die Schar der komponierenden Kapellmeister, denen Wagner den Erfolg nahm und die sich in vielen Fällen durch versuchten Boykott notwehrartig rächten, mochten sie nun Lindpaintner, Lachner, Dorn, Wuerst, Truhn oder anders heißen, jene Gruppe der musiklexikalisch hoch gelobten und durchaus verdienten Mittelmäßigkeit, die zu allen Zeiten dem Genie im Wege steht, aber auch die Funktion der Selbstüberprüfung und der Dauerhaftigkeit des jeweils Neuen erfüllt. Diese Gruppe schmolz ab, bis sich der harte Kern um 1880 unter der Redaktion von Wuerst in der seltsam gewordenen „Neuen Berliner Musikzeitung“ noch einmal als verschworene Gruppe zusammenfand. g) Ballenstedt Im Jahre 1850 war für Wagner zunächst nur Weimar übrig geblieben. Dort spielte Liszt die Novitäten seiner Zeit, darunter nach „Tannhäuser“ erstmals den „Lohengrin“ und zwar mit großem Nachhall. Aber auch hier wußte man nicht, wie es weiter gehen sollte, bis Stahrs Aufsatz aus dem lokalen einen überlokalen Erfolg machte. Die eigentliche Wende und den Umschwung zu Gunsten Wagners brachte dann 1852 Ballenstedt. Ballenstedt, mit 3000 Einwohnern damals eine kleine Residenzstadt der Fürsten von Bernburg im Anhaltischen am Rande des Vorharzes, wurde am

7. [Zwischentext VI] Zentrum Wagner

477

22. und 23. Juni 1852 Schauplatz eines Musikfestes, das sich unter der Betreuung Liszts der damals als neu geltenden Musik widmete und zu dem trotz der abschrekkend-widersprüchlichen Vorausmeldungen der Zeitungen mehr als 1000 Besucher aus allen Teilen des Landes teilweise mit von der damaligen Eisenbahn bereit gestellten Sonderzügen anreisten. Das programmatisch von Liszt verantwortete Fest wandelte schon am 1. Tag seinen von der Planung her allgemein gehaltenen Charakter, das erste deutsche Musikfest für ‚Neue Musik‘ zu sein, weil sich, von den Veranstaltenden ungewollt, aber mit Zustimmung wahrgenommen, das Interesse sofort auf Wagner richtete, dessen zum Eingang gespielte und bis dahin nur wenigen bekannte Tannhäuser-Ouverture, alles andere verdrängend, so durchschlug, daß sie am Ende des 2. Tages trotz leichtem Widerstreben in der Festspielleitung wiederholt werden mußte. Der Anstoß, der von diesem Musikfest ausging, veränderte in Verbindung mit den Wagnerschen Schriften und dem einsetzenden Echo auf die Weimarer Lohengrin-Uraufführung die Situation für Wagner grundlegend. Während der das Fest ausrichtende Ballenstedter Gastwirt Nehse durch die immer höher gestellten Forderungen Liszts und die als Folge der verwirrenden Presseverlautbarungen gegenüber den Erwartungen zurückbleibenden Besucherzahlen und damit Einnahmemöglichkeiten in den Bankrott getrieben wurde, war nach diesem Erfolg für Wagner die Eingrenzung auf seinen Heimatspielort Dresden und die zeitliche Enklave Weimar beendet und der Weg in alle Opernhäuser Deutschlands frei. Vor Ballenstedt wurde Wagner nur noch in Weimar gespielt, zwei Jahre nach Ballenstedt bereits auf über 30 Bühnen(8). h) Die atheistische Wendung Und doch bleibt die Frage zunächst unbeantwortet, ob Wagner in der Bevorzugung der Lisztschen vor der Stahrschen Deutung des Lohengrinstoffes nicht auch Wahlkapitulation verfolgte, Liszt, auf den er angewiesen war, nicht zu vergrämen. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte sich Wagner von der christlichen Weltsicht gelöst und mit der Ring-Welt die Antithese gebildet. Nach christlicher Vorstellung hat Gott seinen Sohn in die Welt geschickt, um die Menschen zu erlösen; nach der Ring-Vorstellung ist ein aus Blutschande hervorgegangener Gewaltmensch mit nachher getrübtem Naturahnungsvermögen dazu auserkoren, die Götter zu erlösen. Stärker als in dieser Umkehrung theologischen Denkens läßt sich der vollzogene Atheismus in der Operngeschichte des 19. Jahrhunderts nicht mehr ausformulieren. Am Ende der „Ring“-Welt steht aller Beteiligten Tod, jedoch kein Tod in der Verheißung einer Auferstehung, sondern ein Tod in der Vernichtung einer letztlich sinnlosen Lebenswelt, die sich nach ihrem Untergang, ebenso sinnlos, sofort wieder reproduziert, und in der der Mensch nur einen zeitbegrenzten, historisch belanglosen Störfaktor bildet, den es zu beseitigen gilt. Wagner nimmt eine Weltdeutung vorweg, die erst mehr als hundert Jahre später medienfähig wird: der Mensch aus dem Tier, der Mensch als Tier, der Mensch weniger als ein Tier, der Mensch als das Übel, weil der eigentliche Störenfried in der liebenden Natur an sich. Macht und Liebe schließen einander aus. Der Mensch geht zur Zufriedenheit des Beschauers

478

11. Kapitel: Von der Parteikritik zur parteilichen Kritik

samt seinen Göttern, die es in einer aus chemischen und physikalischen Reaktionen herrührenden Welt ohne Anfang und Ende ohnehin nicht gibt, unter. Daß der Beschauer damit sein eigenes Schicksal bescheidet, wird ihm erst dann bewußt, wenn er es nicht mehr aufhalten kann. Der Sinn des Lebens ist die Liebe ohne Macht, deren Dauerglück nur der Tod sein kann. Unbegreiflich und rational nicht erklärbar ist sie dennoch, und so sind ihre Auslöser nicht nur bei Wagner Zaubertränke, von denen die Beteiligten in einen ebenso euphorischen wie todbringenden Zustand versetzt werden. Am Ende ist alles Wahn. Ein Blick in Otto Julius Bierbaums Ringwelt-Adaptation „Prinz Kuckuck“ (1906–1908) zeigt das Ausmaß der eingetretenen seelischen Verwüstung(9). In derselben Zeit setzte Wagner alles daran, die christliche Herkunft seiner Stoffe mit militanten und verletzenden Worten zu leugnen und damit die für ihn negative Wirkung derjenigen zu schwächen, die sich darauf beriefen. i) Aufgehobene Negation Aber mit der Negation läßt sich nicht leben. Mit einer nur magisch ausgelösten Liebe, die als Konsequenz der geforderten, aber nicht erfüllbaren Lust auf Ewigkeit geradewegs in einen Schlaf führt, aus dem es niemals mehr ein Erwachen geben wird, läßt sich kein Leben führen. Wagner erklärt folgerichtig die Ringwelt als gescheitert und geht den Weg spiralförmig rückwärts. Am Lebens- und Werkende steht wieder der christliche Erlösungs- und Barmherzigkeitsgedanke und zieht im Umfeld wie zur Tannhäuser-Zeit folgenreiche Bewunderung, Verehrung, Haß und Hohn und die zugehörigen Kommentare nach sich. Die Argumente sind austauschbar und damit nicht mehr sprechend. Die scheinargumentativen Vorstellungen münden in eine annähernd sektenmäßige Verteufelung oder Verehrung. j) Problem Christentum Der Meinungsstreit um die wirklichen oder nur vermeintlichen christlichen Elemente im „Parsifal“ zog sich über das ganze 20. Jahrhundert hin und hält auch heute noch an. Nietzsche behauptete über Wagners Tod hinaus, Wagner sei vor dem christlich germanischen Gott „zu Kreuze“ gekrochen; die Gegner, die in der Tradition der Chamberlain-Deutung und der sich daran anschließenden nach-wagnerschen Bayreuthnachfolge stehen, wollen in der Festspiel-Oper buddhistische Einflüsse nachweisen. Nun hat Wagner in den Mittelpunkt seiner Oper keine buddhistischen, sondern christliche Überzeugungen gestellt, was Nietzsche erkannte und was nach der Textbuch-Terminologie auch nicht zu übersehen ist. Wie weit seine Gedankenwelt von Liszt mit beeinflußt wurde, bleibe offen. Der Enkel Wolfgang Wagner und seine Frau Gudrun vertraten die Meinung, wäre Wagner in Venedig nicht vom Tod ereilt worden, hätte er weiter komponiert und als nächstes eine vermutlich David Friedrich Strauß („Das Leben Jesu“) nahe stehende Christus-Oper

8. Zerriebener Zwischenstand. Johannes Brahms

479

geschrieben. Immerhin hatte sich Wagner bereits 1848 mit Skizzen zu einer Oper „Jesus von Nazareth“ beschäftigt. (1) erweiterter und verbesserter Nachdruck von Helmut Kirchmeyer: Zwischen Dresden und Ballenstedt. Früher Wagner und frühes Echo, in: Richard Wagner. Persönlichkeit, Werk und Wirkung, 479 S., herausgegeben von Helmut Loos, Sax Verlag Leipzig 2013, S. 251–257; (2) Kirchmeyer: Wagner in Dresden, Bosse Verlag Regensburg 1972; (3) Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg, RMZKK -/138=III/34, 19.2.1853, S. 1099b; (4) Michael Schramm: Otto Jahns Musikästhetik und Musikkritik, Blaue Eule Verlag Essen 1998, S. 624, Anm. 17; (5) Joseph Gregor: Kulturgeschichte der Oper. Ihre Verbindung mit dem Leben, den Werken des Geistes und der Politik, Gallus Verlag Wien 1941; (6) Herman Nohl: Die Stellung der Musik im deutschen Geistesleben, Mus XII/11, [1. Märzheft] 1913, S. 259–268, Z:260; (7) Kirchmeyer: Tristans erster Besuch in Wien. Betrachtungen zur Divergenz von Kritikerurteil, Publikumsgeschmack und Werkwert, Programmheft der Deutschen Oper am Rhein zu „Tristan und Isolde“, Düsseldorf/Duisburg 1995, S. 2–9; (8) Kirchmeyer: Das Ballenstedter Musikfest von 1852, in: Robert Schumanns Düsseldorfer Brahms-Aufsatz Neue Bahnen und die Ausbreitung der Wagnerschen Opern bis 1856, Akademie Verlag Berlin 1993, S. 39–49; (9) Die glättende und verkürzende Fassung seines dreibändigen, als Sittlichkeitsarbeit verstandenen bedeutendsten Zeit-Romans „‚Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings“ konnte Bierbaum nicht mehr fertig stellen. Eine Kürzung auf zwei Bände erfolgte in einer ‚Wohlfeilen Ausgabe‘ bei Georg Müller in München und Berlin o. J. auf der Grundlage Bierbaumscher Angaben noch vor dem Ersten Weltkrieg durch Hans Brandenburg. Die 32. Auflage erschien spätestens im Juli 1918. Die 1. Auflage soll einhunderttausend Stück betragen haben. Bierbaum hat sich ausführlich mit Wagner beschäftigt und schrieb 1904 im 2. Heft des IV. Jahrgangs der Schusterschen Zeitschrift „Die Musik“ einen gedankenreichen Aufsatz unter dem Titel „Über das musikalische Bühnenspiel“ (Die Musik, IV/2, S. 83–100).

8. ZERRIEBENER ZWISCHENSTAND. JOHANNES BRAHMS Die Ausschließlichkeit einer Zukunftsdefinition nur noch über Wagner ging vor allem zu Lasten von Johannes Brahms, der sich mit einem eigenen Manifest wehrte, das ihm außer Ärger nicht viel einbrachte(1). Im Brendelschen Lager wurde er erkannt, anerkannt, aber nicht als Teil der eigentlichen Zukunft angesprochen. Schumanns ‚letzter‘ Artikel(2) blieb ein zunächst einsamer Ruf, zumal in Schumanns Brahms-Würdigung weitere Komponisten angeführt wurden, die man bestensfalls als drittklassig hätte bezeichnen dürfen. Brahms als Neuerer in einem Atemzug etwa mit Ernst Naumann, Woldemar Bargiel, Albert Dietrich oder gar D. F. Wilsing(3) zu nennen, war fatal. Der Umgang mit Brahms bildet daher ein besonderes Kapitel in der Werkbeurteilung nach 1852. Was Brendel anbelangt, so hat er den eigentlichen ‚großen‘ Brahms, also die Orchesterwerke, Symphonien und Konzerte, das 1. Klavierkonzert ausgenommen, nicht mehr kennen gelernt, nur die frühen Kammermusikwerke. Als Brahms 1868 nach der Uraufführung des „Deutschen Requiems“ wirklich berühmt wurde, war Brendel bereits tot. Brendel starb im September 1868 einen Tag vor seinem 57. Geburtstag. Er wäre möglicherweise der einzige gewesen, der in dem nach 1870 immer heftiger werdenden zerstörerischen

480

11. Kapitel: Von der Parteikritik zur parteilichen Kritik

Parteienstreit des Dafür und Dagegen ein ausgleichendes Moment hätte bilden können. Er lernte Brahms, der aus Anlaß des Berlioz gewidmeten 8. Abonnementkonzertes vom 1. Dezember 1853 in Leipzig weilte, am 4. Dezember 1853 an einem seiner festen sonntäglichen Besuchstage bei sich als Gast kennen und zeigte sich von ihm tief beeindruckt. Brahms traf außer dem Gastgeber Brendel auch Berlioz an. Für sein „Scherzo“ in es-moll erhielt Brahms eine beinahe schon demonstrative Zustimmung. Berlioz umarmte ihn, und Brendels Mitarbeiter Arnold Schloenbach schrieb in der „Neuen Zeitschrift für Musik“, gewiß auch unter dem Eindruck von Schumanns Brahms-Artikel und Brendels Zustimmung, einen derart überschwenglichen Bericht(4), daß ihn ein Brahms-Biograph wie Siegfried Kross nicht einmal mehr richtig ernst nehmen wollte(5). In den darauf folgenden Jahren trat Brahms allgemein kaum und vor allem nicht in Leipzig in Erscheinung. Das änderte sich 1859 mit der Leipziger Aufführung seines 1. Klavierkonzerts, das er am 27. Januar 1859 im 14. Gewandhauskonzert unter einem unwilligen Julius Rietz vor einem peinlich reaktionslos bleibenden, ablehnenden Konzert-Publikum mit größtem Mißerfolg selbst spielte. Jetzt äußerte sich Brendel zweimal über Brahms. In beiden Fällen hat er das verständnislose Verhalten des Leipziger Publikums ungewöhnlich scharf gerügt. Im Umfeld einer ablehnenden Gesellschaft aus Publikum, Tages- und Fachpresse, sogar Brahms-Freunden und dem Verleger und „Signale“-Herausgeber Bartholf Senff, („Es ist ein zu Grabe getragenes Produkt von wahrhaft trostloser Öde und Dürre“)(6) offenbarte Brendel seinen starken Charakter und seine Ausnahmepersönlichkeit als Musikkritiker, als er einmal die Unzulänglichkeit der Aufführung herausstellte, die durch zeitgenössische Briefe bestätigt wird, und sodann das Klavierkonzert ohne alle Abstriche „für ein unverkennbares Zeugnis einer bedeutenden Schöpfungskraft von echt poetischer Ursprünglichkeit und Originalität“ erklärt. Brendel ist über seine Kritiker-Kollegen wie über das Publikum so empört, daß er heftig wird: Er hält es für seine „Pflicht“, dem „abfälligen Urtheile einer gewissen Seite des Publikums und der Kritik gegenüber … für diese achtungswerthen Seiten des genannten Werkes einzustehen und gegen die wenig achtbare Art und Weise seiner Beurtheilung zu protestiren“(7). Brendels Erregung ist nachhaltig, denn er kommt zwei Monate später anläßlich der mißglückten Aufführung von Joachims schwächerer Ouvertüre zu „Heinrich IV.“ auf den Vorfall zurück. Er wendet sich noch einmal gegen das Leipziger Publikum, das sich Brahms wie Joachim gegenüber „ungerecht und ungerechtfertigt“ verhalten habe. Um sich nicht ganz zu isolieren, räumt er im Sinne einer Wahlkapitulation ein, beide Komponisten, Brahms wie Joachim, hätten noch nicht „durchaus Fertiges gegeben“, es gelänge „allen Componisten dieser Richtung noch nicht, aus der Innerlichkeit ihres Gefühlsprocesses sich soweit herauszuarbeiten, daß die Wirkung für den Hörer eine festbestimmte wird“, um mit einer Schlußbemerkung die Einschränkung gleich wieder aufzuheben, weil er erkennt, daß sich der von Brahms beschrittene Weg zwar nicht in die Welt der jetzt neudeutsch genannten Richtung einordnen läßt, aber künstlerisch unangreifbar ist: „Sei dem indeß, wie ihm wolle: jedenfalls sind alle Bestrebungen dieses besonderen Kreises innerhalb der neuesten Entwicklung so beachtenswert, daß ein genaues Eingehen auf dieselben bald nothwendig“(8) werde. Dazu kam es nicht mehr. Es war Brahms selbst, der mit seinem Verhalten schon in Leipzig, vor allem

8. Zerriebener Zwischenstand. Johannes Brahms

481

aber mit seiner manifestartigen, gegen den Liszt-Brendel-Kreis gerichteten und von ihm, Grimm, Joachim und Scholz 1859 unterzeichneten Erklärung die achtungsvoll aufgenommenen Verbindungen beinahe grundlos zerstörte. Der Brendelkreis hat sich trotzdem zurück gehalten und sich an der Brahms-Hatz der folgenden Jahre nicht beteiligt. (1) Kirchmeyer: Robert Schumanns Düsseldorfer Brahms-Aufsatz ‚Neue Bahnen‘ und die Ausbreitung der Wagnerschen Opern bis 1856. Psychogramm eines ‚letzten‘ Artikels, Abhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse Band 73, Heft 6, 95 S., Akademie-Verlag 1993; (2) Kirchmeyer, a. a. O. S. 83–84; (3) („des tiefsinnigen, großer Kunst beflissenen geistlichen Tonmeisters C. F. Wilsing nicht zu vergessen“). Wilsings Vornamen wird von Schumann sogar noch falsch geschrieben. Wilsing, damals bereits 44 Jahre alt und mit einem ganz schmalen Werk so gut wie unbekannt, verbrannte vor seinem Tod alle seine Papiere; (4) Arnold Schloenbach: Ein offener Brief an Franz Brendel, NZfM XXXIX./24, 9.12.1853, S. 256a–258a; (5) Kross, Johannes Brahms, S. 135; (6) Um Brendels Empörung zu verstehen, muß man die Leipziger Berichterstattung verfolgen und vor allem den Senffschen Artikel zur Gänze kennen. Kross zitiert Senff nur mit einem halben Satz. Senff, der sich im Artikel mehrfach als „die Kritik“ bezeichnet, hinterläßt der Nachwelt von sich ein Bild hilfloser Inkompetenz und Philistrosität. In seinem Bericht, der am 3. Februar 1859 (SfdmW XVII/7, S. 71–72) unter dem Titel „Vierzehntes Abonnementconzert in Leipzig“ erschien, wirkt er aufgewühlt, betroffen und unsanft aus seinem biedermeierlichen Musikverständnis herausgerissen. Der Bericht ist ungezeichnet, stammt also vom Herausgeber der „Signale“ selbst, von Bartholf Senff, und steht den Wagner-Polemiken jener Zeit in nichts nach. Obwohl die Darstellung des zeitgenössischen Brahms-Bildes an anderer Stelle zu behandeln ist, sollte diese Probe nicht vorenthalten werden, zumal das damalige Leipziger Opernpublikum (trotz verunstalteter Wagner-Aufführungen) ein weit besseres Gespür (‚Gefühlsverständnis‘) für zukunftsweisende Musik gehabt zu haben scheint als das Leipziger Konzertpublikum. „Es ist traurig, aber wahr, daß die im Verlaufe der diesjährigen Saison im Gewandhause vorgeführten neuen Compositionen wenig oder gar kein Glück gemacht haben; überhaupt erinnern wir uns nicht, je so viele und totale Componisten-Niederlagen erlebt zu haben, wie in dem bisherigen Abschnitt unsrer heurigen Concerte. Der Fiasco steht in schönster Blüthe und es wird bald dahin gekommen sein, daß ein Succeß in die Kategorie der ‚weißen Sperlinge‘ oder sonstiger Naturmerkwürdigkeiten gehören wird. Daß Schlimmste dabei ist, daß die Stimme der Kritik der Stimme des Volkes nicht hat widersprechen können, und daß die Kritik leider keine Veranlassung gehabt hat, dem Durchgefallenen beizuspringen und für ihn dem Publikum gegenüber als Champion aufzutreten. Das gegenwärtige vierzehnte Gewandhausconcert war nun wieder ein solches, in dem eine neue Composition zu Grabe getragen wurde – das Concert des Herrn Johannes Brahms. Es ist aber auch in Wahrheit dieses Stück gar nicht danach angethan, daß es irgend eine Befriedigung und einen Genuß gewähren könnte: nimmt man den Ernst des Strebens und die Tüchtigkeit der musikalischen Gesinnung hinweg – und diese sollten doch bei Keinem eigentlich noch als Verdienste hervorgehoben zu werden brauchen –, so bleibt eine Oede und Dürre, die wahrhaft trostlos ist. Die Erfindung hat auch an keiner einzigen Stelle etwas Fesselndes und Wohlthuendes; die Gedanken schleichen entweder matt und siechhaft dahin, oder sie bäumen sich in fieberkranker Aufgeregtheit in die Höhe, um desto erschöpfter zusammenzubrechen; ungesund mit einem Worte ist das ganze Empfinden und Erfinden in dem Stücke. Geben nun diese blassen und schemenhaften, nur hin und wieder von hectischer Röthe angehauchten Gedanken an sich schon einen traurigen Anblick, so wird die Sache noch trübseliger durch die Art und Weise, // wie sie verarbeitet und verwendet werden. Theils werden sie mit Gewalt ausgerenkt, daß ihnen die armen Glieder knacken, theils wird ihnen die Brust zu-

482

11. Kapitel: Von der Parteikritik zur parteilichen Kritik

sammengeschnürt, daß sie nur mit Mühe athmen können; hier müssen sie die verwunderlichsten Capriolen machen und die ausgelassensten Streiche treiben, dort wieder müssen sie wie arme Sünder einhergehen und die kläglichsten Mienen annehmen. Und alles dies geschieht unvermittelt neben und durcheinander; von einer organischen Entwickelung und einem logischen Fortspinnen ist gar selten die Rede: wie die Infusorien in einem unter dem Mikroscop besehenen Wassertropfen verschlingen die Gedanken einer den andern, kaum geboren, vergehen sie auch schon wieder. Und dieses Würgen und Wühlen, dieses Zerren und Ziehen, dieses Zusammenflicken und wieder Auseinanderreißen von Phrasen und Floskeln muß man über Dreiviertelstunde lang ertragen! Diese ungegohrne Masse muß man in sich aufnehmen und muß dabei noch ein Dessert von den schreiendsten Dissonanzen und mißlautendsten Klängen überhaupt verschlucken! Mit vollstem Bewußtsein hat überdies auch Herr Brahms die Prinzipalstimme in seinem Concert so uninteressant wie möglich gemacht; da ist nichts von einer effectvollen Behandlung des Pianoforte, von Neuheit und Feinheit in Passagen, und wo irgend einmal etwas auftaucht, was den Anlauf zu Brillanz und Flottheit nimmt, da wird es gleich wieder von einer dichten orchestralen Begleitungskruste niedergehalten und zusammengequetscht. Zu bemerken ist endlich noch, daß als technischer Clavierspieler Herr Brahms nicht auf der Höhe derjenigen Anforderungen steht, die man heutzutage an einen Concertspieler zu machen berechtigt ist.“; (7) NZfM L./6, 4.2.1859, S. 74a; (8) NZfM L./14, 1. April 1859, S. 161a–162a, Z:162a.

9. AUSBLICKE Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert befand sich die Musikkritik philosophisch in einer ausweglosen Lage, über die man sich nur dank Vaihinger einigermaßen unbeschädigt hinwegsetzen konnte. Selbst wenn man nicht so weit gehen wollte wie der Begründer der Charakterologie Julius Bahnsen, der zwischen 1867 und 1882 den Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt bis zur letzten atomistischen Konsequenz eines hemmungslosen Solipsismus ausformulierte und von ‚Realdialektik‘ sprach, die von der Logik her nicht faßbar ist, war man doch gehalten, angesichts einer überflutenden Kunstproduktion das Handwerk auszuüben. In der alten Form ging das nicht mehr. Objektivität war zum Negativ-Begriff geworden, nachdem die Erkenntnis von der Widersprüchlichkeit selbst der elementaren Vorgänge nicht mehr widerlegt werden konnte. Die historische Kritik setzte historisches Wissen voraus, das nicht jedermann besaß. Die Parteikritik zwang zur Vorabentscheidung, welcher Richtung man sich anzuschließen gedachte. Hatte man sich entschieden, schwamm man mit mehr oder weniger Glück im ausgesuchten Strom. Von der Philosophie war zunächst keine produktive Hilfe mehr zu erwarten. Die Aufspaltung der Hegelschen Philosophie führte mit wechselnder Bundesgenossenschaft in dieselbe Richtung. Verband sie sich mit Schopenhauer, Max Stirner, Ludwig Feuerbach und Kant gleichzeitig, war trotz der Zurückhaltung der klassischen Philosophie der Weg zwingend in einen Extrem-Individualismus mit Konsequenz in Richtung Atheismus-Pessimismus-Nihilismus vorgezeichnet, wie Bahnsen es behauptete. Bierbaum ist in seinem „Prinz Kuckuck“ auf wagnerschen Ringwelt-Pfaden diesen Weg gegangen und hat deren Absurdität offenkundig gemacht. An Bierbaums Lebensende stehen die Mitgründung des Kabaretts und sein weltberühmt gewordenes „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“. Wagner ging

9. Ausblicke

483

diesen Weg nicht mit und bewies damit noch einmal historische Größe. Er setzt dem Pessimismus seine von vielen Zeitgenossen angenommene Vorstellung von der Musik als Mittel der Erlösung entgegen und handelt sich den beißenden Spott nicht nur Nietzsches ein. Musik im Wagnerschen Sinne wird kultur-dominant. Das umstrittene Schlagwort von der ‚Kunstreligion‘ ist in aller Munde. Die Sakralisierung von Musik setzte um 1800 ein und wurde von Schumann noch ohne Surrogatdenken befördert. Ein Schumann-Wort aus den Musikalischen Haus- und Lebensregeln wie „Die Gesetze der Kunst sind auch die der Moral“(1) [II,746] ist gefährlich, wenn daraus die falschen Folgerungen gezogen werden. Das Eindringen vordergründig übertragener religiöser Begriffe in die hermeneutische Terminologie unter überwiegend pathetisch-attitudenhafter Formulierung ließe sich mit einigem Aufwand beinahe tabellenartig historisch auflisten. Mit Wagner ist dieser Prozeß abgeschlossen; er wird nur noch bestätigt. Eccarius-Sieber will Kunst gegen Religion austauschen. Deshalb schreibt er 1910 einen bitteren Aufsatz „Zur Reform der Musikkritik“, weil die Kunst die Aufgabe hat, „der Menschheit das religiöse Empfinden zu ersetzen“(2). Er beklagt das Unwesen der vielen Kritiker, die ihr Handwerk nicht verstehen und somit nicht befähigt sind, ihre Leser „volkserzieherisch“ aufzuklären. Er verlangt „anständig honorierte, aber unabhängige Kunstkritiker“(3), wie man sie für den Sport längst eingeführt habe. Noch eingrenzender wird der zu dieser Zeit vielgelesene, wenn auch nicht unbedingt tiefsinnige Jakob Wassermann. Er sieht 1915 in seinem Roman „Das Gänsemännchen“ aus jüdischem Lebensverständnis heraus in der Musik den einzigen verbleibenden reellen Erlösungsmodus: „Uns kann nur einer erlösen: der Musiker. Die Zeit der Religionsstifter, der Staatengründer, der Waffenhelden und der Entdecker ist vorüber. Vielleicht sogar die Zeit der Dichter. Die Dichter haben nur Worte, und unsere Ohren sind müde von Worten; sie haben nur Bilder und Gestalten, und unsere Augen sind müde vom Sehen. Der letzte Trost der Seele liegt in der Musik, dessen bin ich gewiß. Wenn etwas die verlorenen Illusionen des Glaubens zu ersetzen vermag, wenn etwas uns beschwingen und verwandeln kann, wenn es noch eine Rettung vor dem Abgrund gibt, ist es die Musik. Wo bist du Erlöser?“(4) Wagner selbst entzieht sich dem düsteren nordischen Kreis und damit dem philosophischen Endzeit-Spektakel. Seine Meistersinger-Welt ist optimistisch und läßt (zum ersten Mal in seinem Repertoire-Werk) wieder ein wenn auch eingeschränktes Lachen zu. Sie steht damit in Gegensatz zu dem, was sich zur selben Zeit in der Lebensphilosophie abspielt. Für viele Zeitgenossen noch ärger ist Wagners Rückkehr in die Gedankenwelt des Mittelalters. Aus Nietzsches Bewunderung wurde erst Spott, dann selbstschützender Haß. Wagner konnte damit leben. Er traf den Nerv der, wie man sie viel später nennen sollte, ‚schweigenden Mehrheit‘, die mit einem so trostlosen Weltbild, wie es Philosophie und Literatur des ausgehenden Jahrhunderts anboten, nicht leben wollte. Und so, wie es bedeutenden Mut erforderte, seinen literaturtheoretischen Kritikern statt nationalistisch eingefärbter Heldentaten religiöse und nicht religiöse Sagenstoffe entgegenzusetzen, erforderte es denselben Mut, der philosophischen Pessimismus-Welt seines ausgehenden Jahrhunderts gegenüber von christlicher Liebe und christlicher Barmherzigkeit und (Parsifal) geradezu von einem „Heiland“ zu sprechen.

484

11. Kapitel: Von der Parteikritik zur parteilichen Kritik

Es gibt ja weiterhin Aufsätze, die sich mit Musikkritik befassen. Es geht dabei aber nicht mehr um Prinzipien. Es geht um Fragestellungen, die in der Frühzeit der Musikkritik nur bedingt und am Rande aufkamen. Damals waren es überwiegend schwammige Begriffe, mit denen man erkennbare Sachverhalte ansprach. Im äußersten Fall forderte man die Selbstobjektivierung. Nach 1900 weiß man, daß es die nicht gibt. Dabei zeichnen sich zwei Linien ab. Die eine beginnt bei Julius Schäffer, der aus der Erfahrung der systemkritischen Widersprüche der Vergangenheit Kritik als wertungslose Darstellung künstlerischer Sachverhalte definiert und mit seiner vielteiligen Lohengrin-Rezension von 1852 das Musterbeispiel gleich mitliefert(5). Seine Vorstellungen fanden im 20. Jahrhundert viele Nachfolger. Dr. Rudolf Cahn-Speyer, ein naturwissenschaftlich ausgebildeter Kapellmeister und sachlich erfahrener Musikästhetiker (1881–1940), formulierte im Rahmen einer überwiegend tadelnden Besprechung des Goldschmidtschen Ästhetik-Buches von 1915 den Satz, es gäbe historische Meinungsverschiedenheiten, die niemals zu existieren aufhörten(6). Er wollte damit zum Ausdruck bringen, jede Stellungnahme führe irgendwann in eine Aporie, weil die Aporie im Gegenstand an sich selbst verborgen liege. Cahn-Speyer entwickelte im Februar desselben Jahres eine eigene „Psychologie der musikalischen Kritik“. In diesem Zusammenhang lehnte er kunstbezogene objektive Kritik ab. „Es ergibt sich somit, daß der Wert eines Kunstwerkes überhaupt nicht Gegenstand einer objektiven Kritik sein kann“(7). Der Kritiker hat nicht zu kritisieren, sondern zu beschreiben, zu referieren und mit seinem Referat das Publikum so aufzuklären, daß es aus dem, was der Referent darstellt, seine eigenen Schlüsse zu ziehen vermag. Der Kritiker soll bei einem neuen Werk dessen Prinzipien ermitteln und dem Publikum mitteilen. Diese These fand in den nächsten Jahren mehr und mehr Zustimmung, weil man nicht mehr von einem einzelnen Kritiker in eine Richtung hin abgedrängt werden wollte. In Deutschland wurde daraus nach der Machtergreifung Hitlers ein verordnetes Prinzip und geriet in Verruf. In den nächsten 12 Jahren verwandelten sich die Kritiker in Kunst-Berichterstatter, die nicht mehr Kritik, sondern, wie es hieß, „Kunstbeschreibung“ zu liefern hatten. Erst nach dem politischen Zusammenbruch von 1945 konnte man zur alten Form der Kritik zurückkehren. Die zweite Linie führt in die Reichardt-Zeit zurück, obwohl die Musikkritik inzwischen ganz andere Voraussetzungen vorfand. Die Zahl der Musikzeitschriften war in einer nicht erwarteten Weise angewachsen. 1798 gab es international 2 Neugründungen, 1850 deren 15, im Jahre 1900 waren es 43. Neben den Jahres-Neugründungen kamen noch die Zeitschriften der Vorjahre hinzu, die weiterbestanden. Nach dem Fall der Konzessionen seit 1848 verschwanden zwar die belletristischen Zeitungen und Zeitschriften, dafür richteten die regionalen und überregionalen politischen Tages- und Wochenzeitungen lokale und überlokale Feuilletons ein, die sich unter anderem mit Musik beschäftigten. Schließlich bauten seit 1800 immer mehr Städte ein ernst zu nehmendes Konzert- und Opernleben auf und lieferten besprechungswürdige Veranstaltungen. Man brauchte kundige Berichterstatter, die in der erforderlichen Zahl nicht zur Verfügung standen. Die ein Jahrhundert lang und jetzt insbesondere zu hörenden Klagen über schlechte Kritiker mündeten 1913 in die Gründung eines Verbandes deutscher Musikkritiker(8), der sofort

9. Ausblicke

485

heiß umstritten war(9). Er bildete keinen der üblichen eingetragenen Vereine, in der man Mitglied werden kann, sofern man die Gebühren entrichtet, sondern eine Art Prüfungsinstitution. Nach den intern ausgearbeiteten Statuten hatten beitrittswillige Kritiker biographische Nachweise zu erbringen, Berichte vorzulegen, die vom Vereinsvorstand zensiert wurden. Je nachdem, wie das ‚Urteil‘ ausfiel, durfte der Bewerber Mitglied werden und sich seines Mitgliedsstandes rühmen. Zu denen, die prüfungsberechtigt waren, zählte der (bedeutende) polnische Musikethnograph und Freimaurer Lucian Kamienski, der die Sache vermutlich angeregt hatte, der politisch links orientierte namhafte Musikkritiker und Musikschriftsteller Paul Bekker, der auf der Seite von Mahler, Schönberg und Schreker stand, und der ultra rechts orientierte zeitfeindliche Musikwissenschaftler und Bachforscher Alfred Heuß, für den die Musikgeschichte bei Richard Strauss aufhörte und der als Musikredakteur der ehemals Schumannschen Zeitung insbesondere Hindemith und Strawinsky bekämpfte und dabei nicht vor Verunglimpfungen zurückschreckte, die man in der schlimmsten Art der Wagner-, Bruckner- und Brahms-Polemik kennen gelernt hatte. Den Vorwand, man wolle auf diese Weise die schwarzen Schafe aussondern, ließen die nicht einbezogenen Kritiker nicht gelten, und gar eine Schule für angehende Kritiker einzurichten, wie die Vereinsleitung vorsah, hielten sie für zwecklos verfehlt. Richard H. Stein zeigte die Schwächen auf und erklärte, Kritisieren sei nicht erlernbar, sondern eine Sache der Begabung(10). Cahn-Speyer versucht zu erklären, warum neue Werke zunächst abgelehnt werden. Er hat Philosophie und Psychologie studiert und kennt sich in der psychologischen Terminologie aus. So führt er die Begriffe der Apperzeption und der Assoziation ein. Berufsmusiker und sachkundige Musikkritiker haben Musik in der Regel an einem Konservatorium studiert. Dort lernen sie die alten Meister und den klassischen Tonsatz kennen und apperzipieren an diesen Vorbildern Qualität. Im späteren Berufsleben assoziieren sie Neues mit ihrer Apperzeption. Je musikgebildeter ein Publikum ist, desto näher steht es dem Verhalten eines nach dieser Art aufgewachsenen Kritikers; je weniger jemand fachgebildet ist und keine erlernte Apperzeption zur Assoziation ansteht, desto mehr kann er das entwickeln, was Wagner „Gefühlsverständnis“ genannt hat, sofern er nicht einem Kritiker in dem falschen Glauben von dessen besserer Erkenntnis vertraut und in die Irre geleitet wird. So erklärt Cahn-Speyer die Fehlkritiken der Vergangenheit, die Unterschiedlichkeit der Urteile von Fachleuten über denselben Gegenstand und die historisch richtigen Empfindungen musikalisch unausgebildeter Laien. Cahn-Speyers Ergebnis ist die schon erwähnte Schlußfolgerung von der Unmöglichkeit einer objektiven Kritik. CahnSpeyer kennt sich ebenfalls in der philosophischen Literatur aus. Er muß weder Hegel, noch Schopenhauer, noch Feuerbach, Stirner oder Bahnsen zitieren, denn er denkt in deren Kategorien. Es kann keine Objektivität geben, weil der Widerspruch schon in der Realität vorhanden ist. Auch der in Wien lebende Alfred Wolf vertritt diesen Standpunkt. In seinem Aufsatz „Die Kritik in Nöten“, der 1911 erschien und in den sicher auch die Erfahrungen der Wiener Situation des ausgehenden vorangegangenen Jahrhunderts eingeflossen sind, macht er sich über die Kritiker geradezu lustig, die sich für ‚objektiv‘ und kompetent halten und doch nichts anderes als ihre Privatmeinung verbreiten. Der Kritik werde inzwischen von vielen die Da-

486

11. Kapitel: Von der Parteikritik zur parteilichen Kritik

seinsberechtigung abgesprochen. Das der Gesamtnummer vom Redakteur vorangestellte Motto ist als Heine-Zitat ausgewiesen: „Die Kritik ist etwas Wunderbares, sie geht hervor aus den Ansichten der Zeit, hat nur für diese ihre Bedeutung, und wenn sie nicht selbst kunstwertlicher Art ist, so geht sie mit ihrer Zeit zu Grabe“. Etwas spöttisch zitiert Wolf eine Stelle aus dem Roman „Monsieur et Madame Moloch“ von Marcel Prévost (der 1908 unter dem Titel „Herr und Frau Moloch“ im Münchner Langen-Verlag erschienen war): Ein Deutscher brächte es nicht fertig, zwei Minuten über abstrakte Ideen zu reden, ohne in dem Wörtlein objektiv eine Zuflucht zur Gedankentiefe zu suchen(11). Cahn-Speyer zeigt den Denkfehler. Der normale Kritiker benutze zur Beweisführung unausgesprochene und also undiskutierte Voraussetzungen. Er unterliegt damit einem Zirkelschluß, den die formale Logik ‚petitio principii‘ nennt und der schon von Aristoteles als Fehlschluß erkannt wurde. Der Kritiker darf deshalb nur referieren, nicht kritisieren. Das wiederum geht allein über den Vergleich. Um den zu machen, muß er die zu vergleichenden Werke sehr genau kennen. Wie in der Rochlitz-Zeit lehnt Cahn-Speyer folgerichtig die Hörkritik ab, weil der Kritiker beim ersten Hören eines neuen Werkes ohne Vergleichsmöglichkeiten die Qualität der Aufführung nicht beurteilen kann, und die sich damals ausbreitende Nachtkritik(12) lehnt er wie viele seiner Kollegen (auch Eccarius-Sieber) gleich mit ab. Die Kritik ist nur für den bestimmt, der dem Ereignis nicht beiwohnen konnte. Für denjenigen, der das Konzert selbst gehört hat, ist sie wertlos. Dieser Schluß ist folgerichtig. Da es eine objektive Berichterstattung nicht gibt, kann der Kritiker nur den Eindruck beschreiben, den ein Werk auf ihn als Einzelperson gemacht hat. Dieser Eindruck hat keine Verbindlichkeit, „wie man denn bei allen künstlerischen Dingen irgendwo auf den Punkt stößt, wo man messen möchte und es nicht kann“(13). Somit muß sich der Kritiker selbst mit Mißtrauen betrachten, obwohl es im Widerspruch zur menschlichen Natur steht, dem Kritiker zuzumuten, „daß er selbst einen Nimbus zerstöre, den das Publikum ihm freiwillig geschaffen hat“(13). Niemand ist in der Lage, außerhalb seiner eigenen Natur zu stehen, und so muß man den letzten Schimmer von Objektivität abstreifen, um nicht zum ‚Tagesgeschwätz‘ zu gelangen. Das ist der Stand der deutschen MusikkritikDiskussion der Nach-Wagnerzeit bis 1914. (1) Robert Schumann: Musikalische Haus- und Lebensregeln, NZfM XXXII./36, 3.5.1850, Beilage S. 4a; (2) A. Eccarius-Sieber: Zur Reform der Musikkritik, Mus X/4 [Band 37, 2. Novemberheft] 1910, S. 220–226, Z:220; (3) Eccarius-Sieber, a. a. O. S. 226; (4) nach Heinrich Rösseler: Christlicher Glaube. Ein Arbeitsbuch, I. Band, Bachem-Verlag Köln 1948, S. 134; (5) s. Kapitel 10, Abschnitt 7, Unterabschnitt d (Schäffers 2. Artikel. Differenzierungen. Fachkritik und Tageskritik); (6) Rudolf Cahn-Speyer: [Besprechung von] Hugo Goldschmidt: Die Musikästhetik des 18. Jahrhunderts und ihre Beziehungen zu seinem Kunstschaffen, Rascher & Co. Zürich-Leipzig 1915, Mus XIV/22 [Band 56, 2. Augustheft] 1915, S. 187a–189a, Z:188b; (7) Rudolf Cahn-Speyer: Psychologie der musikalischen Kritik, Mus XI/9, [Band 42, 1. FebruarHeft] 1912 S. 131–141, Z:135;

9. Ausblicke

487

(8) Lucian Kamienski: Der Verband deutscher Musikkritiker, Mus XII/17, [Band 47, 1. Juniheft] 1913, S. 316–320; (9) Richard H. Stein: Der Verband deutscher Musikkritiker, Mus XII/19, [Band 47, 1. Juliheft] 1913, S. 17–19; (10) Richard H. Stein, a. a. O. S. 18; (11) Alfred Wolf: Die Kritik in Nöten, Mus X/11, [Band 38, 1. Märzheft] 1911, S. 259–271, Z:264. Von Jakob Wassermann erschien 1908 der 1902 entstandene negative Bildungsroman mit fast gleichem Titel „Der Moloch“; (12) Nachtkritiken sind Berichte, die der Kritiker im Anschluß an das Konzert schreiben muß, damit sie noch in der Morgenzeitung erscheinen können. Sie gehören ebenfalls zu den zwischen 1933 und 1945 in Deutschland untersagten Formen der Berichterstattung; (13) Cahn-Speyer, a. a. O. S. 141.

12. KAPITEL: VON DER WISSENSCHAFTLICHEN KRITIK ZUR VIRTUELLEN MUSIKGESCHICHTE I. DER WEG IN DIE IDEOLOGIEN 1. Zur allgemeinen Situation Mit den Erklärungen über die Selbstauflösung der Musikkritik, wie sie von Uhlig und Brendel anfangs der fünfziger Jahre in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ abgegeben wurden, endet die Systemgeschichte der deutschen Musikkritik, nicht aber deren Methodengeschichte. Die wird als ausufernde Parteiengeschichte im ideologischen Streit eines Dafür und Dagegen in einem mehr und mehr virtuellen Raum abseits, wie in der künstlerischen nicht virtuellen Realität weitergeführt. Darin spiegelt sich der zeitgenössisch philosophische Zustand. Die Zeit der idealistischen Systeme ist vorbei. Wer systemgläubig bleibt, lebt hegelianisch oder marxistisch weiter und endet nach dem Verlust der Realität keineswegs in der Katastrophe des Ersten Weltkrieges und seinen geistigen Folgen. Dafür sind zu vielen Menschen selbst überholte Vorstellungen zu lieb geworden. Auch Kants Wirkung verläuft in eine andere Richtung. Er wird schon zu Zeiten Schellings und Fichtes nur noch wenig beachtet. Kant unterband die rationale Begründung irrationaler Vorgänge, setzte aber Gott als Angelpunkt einer jeden funktionierenden moralischen Welt- und Werteordnung voraus. Dem zunehmend atheistisch werdenden Weltbild im Verlauf des Jahrhunderts stehen Fichte und Hegel näher als Kant, von Jacobi gar nicht erst mehr zu reden. Die Lehre vom ‚Ding an sich‘ ist historisch geworden. Was dann noch übrig bleibt, zerbröselte Julius Bahnsen. Die Zeitgenossen mögen zugeben, daß die Realität im Kantschen Sinn nicht erkennbar ist, daß die Anschaungskategorien und die Antonomien die Sicht verstellen; aber es gibt nach wie vor neue Erscheinungen und Kunstwerke in immer größerer Zahl, die dazu zwingen, sich mit ihnen zu beschäftigen. In dieser Situation entwickelte Hans Vaihinger eine Theorie, die ausschließlich die Nützlichkeit in den Mittelpunkt stellt. Wahrheit oder Unwahrheit, oder Richtigkeit oder Unrichtigkeit sollen ausschließlich am Erfolg erkennbar sein. Dieses Denken wurde als die „Philosophie des Als-ob“ aufgegriffen, erklärte sowohl rückwirkend die künstlerischen Vorgänge in der zweiten Hälfte des 19. wie vorausweisend die des 20. Jahrhunderts, spielte aber, siehe Windelband-Heimsoeth(1), in den Darstellungen der Geschichte der Philosophie eine geringere Rolle als in den Vorlesungen zur Philosophie selbst und in der philosophischen Realität, in der Vaihinger gegenwärtig war. (1) Wilhelm Windelband / Heinz Heimsoeth; Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 14. Auflage, Mohr-Verlag (Siebeck) Tübingen 1950, S. 543.

I. Der Weg in die Ideologien

489

2. Hans Vaihinger. Die Philosophie des Als-ob Vaihinger, Sohn eines englischen evangelischen Pfarrers in der Nähe von Tübingen, erblindete 1903 mit 51 Jahren und mußte daraufhin seine Universitätstätigkeit aufgeben. Bevor er sich ausschließlich der Philosophie und hier vor allem der Kantdeutung zuwendete, hatte er ebenfalls evangelische Theologie studiert. Er starb Ende 1933 in Halle. Sein entscheidendes Buch „Die Philosophie des Als Ob: System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus“ erschien 1911 und begründete das, was die Philosophen heute Fiktionalismus nennen. Der Titel des Buches zeigt Vaihingers Richtung an, Erkennbarkeit und vor allem Metaphysik außerhalb einer erkenntnistheoretischen Erfahrbarkeit zu stellen. Seine Kronzeugen sind, angefangen von dem Vorsokratiker Anaximander über Platon, Aristoteles, Herder und Darwin bis zu Spinoza und Schelling vor allem Kant und Schopenhauer – Kant, weil dieser rationale Deutungen metaphysischer Vorgänge ad absurdum geführt, und Schopenhauer, weil er ein antimetaphysisches Weltbild vertreten habe. Zwar hatte Kant auch das nicht metaphysische Denken widerlegt; aber die Unerkennbarkeit des viel besprochenen Dings an sich, unter dem sich jeder etwas anderes vorstellen konnte, ließ für Vaihinger nur die für ihn einzig sinnvolle Lösung zu, so zu tun, als sei die Realität der Erscheinungen wirklich real, auch wenn es nicht zu beweisen war, und die Lebensrichtigkeit ausschließlich mit dem Funktionieren einer Sache feststellbar. Vaihinger hat den Weg, wie er zu seiner Theorie gekommen ist, in einer eigenen Abhandlung „Wie die Philosophie des Als Ob entstand“ geschildert(1). Seine Vorstellungen lassen sich banalisieren. Vaihinger ist Kantforscher und Kantkommentator. Er kennt die Problematik des Dings an sich. Also tut man so, als ob das nicht Beweisbare Kant zum Trotz doch Existenz hat. Ob dreimal drei neun ist, läßt sich nach Vaihinger nicht beweisen. Aber wenn wir so tun, als wenn dreimal drei tatsächlich neun ist und unter den Voraussetzungen eines solchen Rechensystems eine Brücke oder ein Haus bauen, und die Brücke nicht einstürzt und das Haus nicht zusammenfällt, dann reicht das aus, um die (nicht begründbar existierende Existenz) als nützlich und damit für existent zu erklären. Es ist der Erfolg einer Sache, nicht die Stimmigkeit der Sache in sich selbst, die zum eigenständigen Wert wird. Das kunstkritische Urteil bestätigt sich in der Durchsetzbarkeit des Objektes, auf das es sich richtet. Derjenige Kritiker wird als bedeutend eingeschätzt, der sich in der Frühzeit für ein Objekt einsetzte, das spätestens in der Enkelgeneration seinen Bestand bewahrte. (1) in: Die Deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Band 2, herausgegeben von Raymund Schmidt, Leipzig 1921, S. 175–203.

490

12. Kapitel: Von der wissenschaftlichen Kritik zur virtuellen Musikgeschichte

II. VORFORM: DER ‚FALL HANSLICK‘ 1. Vorverständnis Hätte sich Eduard Hanslick nicht seit 1854 mit seinem Hegel verpflichteten erfolgreichen Buch „Vom Musicalisch-Schönen“ in die Geschichte der deutschen Musikästhetik eingeschrieben, würde er heute vermutlich nur noch als eine der Speerspitzen (nicht als die schlechthin) einer gegen neue Musik feindlich gerichteten Bewegung im Gespräch sein. Den Druck dieser Schrift verdankte er Liszt. Der Weber-Verlag in Leipzig hatte sie trotz einer Liszt-Empfehlung zurückgewiesen. Daraufhin schrieb Hanslick Liszt erneut an. Hanslick litt offensichtlich materielle Not. In einem untertänig-devoten Brief vom 8. Oktober 1854 aus Dresden an den „Hochverehrten Herrn Kapellmeister“(1) flehte er Liszt an, sich für ihn zu verwenden. Liszt setzte sich mit Böhlau ins Benehmen und erreichte den Druck. Hanslicks Wunsch, dazu ein Vorwort zu schreiben, erfüllte Liszt nicht. Über die ÄsthetikDiskussion hinaus ist Hanslicks tatsächliche musikkritische Bedeutung geringer gewesen als man es seit 1945 von Deutschland ausgehend glauben machte. Sie beschränkte sich auf sein professorales Recht am Amt, während seine Kritiken gelesen, aber nicht folgenreich beachtet und in den modern orientierten Fachkreisen eher verärgert belächelt wurden, und als Wagner-, Liszt-, Verdi-, Tschaikowsky-, Wolf-, Bruckner- und Mahler-Gegner war er einer unter vielen. Die überwiegend ungute Beurteilung durch seine Zeitgenossen schlug erst nach 1945 zeitweise um. Die Gründe dafür sind politischer Natur. Viele deutsche, ehemals dem Nationalsozialismus nahe stehende Intellektuelle hatten nach Kriegsende Veranlassung, sich demokratisch zu legitimieren und traten daher im Nachhinein als Regimegegner auf. Im Musikbereich ließ sich das am ehesten mit Arbeiten über Mendelssohn, Meyerbeer und Mahler und mit negativen Äußerungen über Wagner machen, wenn einem schon die neuere Musik seit Schönberg und Strawinsky und erst recht seit Stockhausen und Boulez vom Prinzip her nicht zusagte und man sich auf diesem Wege nicht neupolitisch darstellen konnte. In demselben Zusammenhang sahen sich Kritiker nach Art eines Hanslick nunmehr gelobt, weil sie im 19. Jahrhundert Wagner bekämpft hatten und die Bekämpfung Wagners für einige Zeit zum Wert an sich wurde. Daß die Negations- und Oppositionskritiker von dazumal nicht nur gegen Wagner, sondern mit derselben Entschiedenheit gegen die gesamte moderne künstlerische Erscheinungswelt ihrer Zeit angetreten waren, von Berlioz angefangen über Bruckner bis zu Mahler, blieb dabei ungesagt. Einzelne Autoren verstiegen sich dabei bis zu leidenschaftlichen Apologien, wenn sie in Hanslick etwa „den maßgebenden Kritiker des damaligen Europa“ sehen wollten und ernsthaft behaupteten, er sei der „getreue Eckart“ eines halben Jahrhunderts „voll der entscheidendsten Wandlungen der europäischen Musik“ gewesen(2) – man erinnere sich: der getreue Eckart Ludwig Tiecks opfert sein Leben, um zwei junge Menschen vor dem Unheil zu bewahren, in den Venusberg zu gelangen. Dabei ist es nicht schwer, an Autoren des 20. Jahrhunderts mit diesem und einem ähnlichen Hanslick-Verständnis dieselbe mentale Voreingenommenheit gegen zeitgenössische Musikgeschichte

II. Vorform: Der ‚Fall Hanslick‘

491

nachzuweisen, wie sie an ihren Vorgängern aus dem 19. Jahrhundert zu erkennen ist. (1) Erstveröffentlichung bei Julius Kapp: Liszt und Hanslick, Mus XI/1, [1. Oktoberheft] 1911, S. 20–21; (2) s. Helmut Kirchmeyer: Ideologische Reflexion und musikgeschichtliche Realität. Kritische Betrachtungen zum Prinzip zeitgemäßer Vorstellungen von Objekt-Wertungen und zum Problem einer virtuellen Musikgeschichtsschreibung, Archiv für Musikwissenschaft LXIII/4, S. 257– 289, 2006, hier: S. 274 ff..

2. Zur Quellenlage Hanslicks Schrift ist heute dank Dietmar Strauß mit allen Auflagen und Textvarianten im Netz frei zugänglich. Seine knappe Zusammenfassung des Hanslickschen Theorie-Gebäudes gibt einen Überblick über ein Erfolgsbuch, das zu Lebzeiten Hanslicks zehn Auflagen und von Auflage zu Auflage Textänderungen erfuhr, die von Strauß verzeichnet werden. Strauß gelangt zu der Feststellung, mit Hanslicks Schrift habe eine autonome Musikanschauungslehre begonnen, und er sieht, am Hanslickschen Brucknerbild besonders beweisbar gemacht, den Widerspruch von Hanslicks Buch-Aussage und seinem journalistischen Verhalten. Strauß scheint über manche dieser von ihm auswahlweise zusammengestellten Äußerungen selbst verwundert oder überrascht zu sein. Man kommt ihnen allerdings nicht durch das Studium der ästhetischen Arbeit bei, sondern – das sei hier vorweggenommen – durch eine Situations- und zugleich Charakteranalyse, mit der sich die Widersprüche zwischen geistreicher Ästhetik-Theorie und real kritischem Versagen auflösen dürften. 3. Ziel und Methode Hanslick will vom zeitgenössisch ungefragten und überkommenen Verständnis einer Musik als Ausdrucksträgerin von Gefühl, Stimmung oder Empfindung wegführen und das „Schöne“ in der Musik an sich selbst auffinden. Daher muß er zunächst alles als falsch beziehungsweise unwissenschaftlich zurückweisen, was Autoren wie Mattheson, Marpurg, Forkel, Rochlitz, Michaelis, Kirnberger, Sulzer, Gottfried Weber, Thiersch und andere und vor allem Wagner über Musik geschrieben haben. Hanslick nennt ihre und weitere Namen und zitiert sie mit aus dem nicht berücksichtigten Zusammenhang herausgenommenen Sätzen. Sie kennen die Regeln der Kunst und wie man sie anwendet, sie wissen um ihre Wirkung, aber sie begreifen nicht den Kern dessen, womit sie sich beschäftigen. Herbart (Formalist wie Hanslick) sei der Sache zwar näher gekommen, habe sie aber nicht wirklich untersucht und viele falsche Urteile in die Welt gesetzt. Hanslick sieht durch seine eigenen Ausführungen alle als widerlegt an. Es klingt wie der übertragene Studentenwitz, ein Mathematiker könne zwar rechnen, wisse aber nicht, was Mathematik ist. Dagegen beansprucht Hanslick für sich selbst eine Deutungshoheit, die er nicht aus

492

12. Kapitel: Von der wissenschaftlichen Kritik zur virtuellen Musikgeschichte

einer Zusammenfassung des Bestehenden gewinnt, sondern aus einem von ihm selbst erdachten Kunstbild mit einer sprachlich eleganten Beweisführung, deren Logik zwingend erscheint, deren Ansatz aber nicht nachzuvollziehen ist und deren Voraussetzungen zudem in der Realität des Kunstlebens nicht gegeben sind. Ein zentraler Hanslickscher Satz wie „Das Schöne hat seine Bedeutung in sich selbst, es ist zwar schön nur für das Wohlgefallen eines anschauenden Subjects, aber nicht durch dasselbe“ verfehlt zunächst nicht seine Wirkung. Ein Kantianer müßte an dieser Stelle nachfragen, wieso und woher jemand weiß, was das Schöne an sich und in sich ist, wenn dieses ‚Schöne‘ erst durch ein beschauendes Subjekt als schön erkannt, nein: gerade nicht erkannt werden kann, also mittelst einer mentalen Komponente, die auf den Betrachter zurückweist, der sich auf seine Art mit dem Objekt erst in eine wie auch immer geartete Beziehung setzen und dadurch das Objekt in seiner Eigenart verfehlen muß. Kant würde natürlich vom „Ding an sich“ sprechen. Eine solche Frage gar nicht erst zuzulassen, weil sie, wie Hanslick behauptet, längst beantwortet sei, gehört zur Strategie. Daher heißt es im Satz davor: „… darf uns nicht lange beschäftigen, da die neuere Philosophie den Irrthum längst widerlegt hat, als liege der Zweck eines Schönen überhaupt in einer gewissen Tendenz auf das Fühlen der Menschen“. Die angerufene neuere Philosophie ist in diesem Falle nicht das, was Kant in seinen drei Kritiken unter dem Begriff „formale Zweckmäßigkeit“ abgehandelt hatte, sondern diejenige Hegels, deren Dialektik Hanslick für sich nutzbar zu machen sucht. 4. Ableitungen und Dialektik Hanslick gesteht zu, daß Musik, überhaupt Kunst, die Empfindung oder das Fühlen der Menschen (die über die Jahrhunderte hin vorgenommenen begrifflichen Differenzierungen seien hier bei Seite gelassen) beeinflußt und daß daran bis heute nie Zweifel bestanden haben. Hanslick hält dagegen, Gefühle zu erregen sei weder der Inhalt noch der Zweck der Musik. Hanslicks Vergleiche mit der (nicht starr, sondern lebendig verstandenen) Arabeske oder dem (letztlich verworfenen) Bild vom Kaleidoskop kommen ins Spiel und führen die Zeitgenossen dazu, den Inhalt seiner Schrift auf die Formel von der „tönend bewegten Form“ mißverständlich und trotzdem nicht unzutreffend zu verkürzen und damit das ganze Gedankengebäude zum Einsturz zu bringen. Viele der Sätze, denen man auch aus heutiger, nicht nur aus damaliger Sicht beistimmt, stammen nicht von Hanslick, sondern aus dem Gedankengut des vorangegangenen Schrifttums: etwa Musik als Sprache, die wir sprechen und verstehen, jedoch zu übersetzen nicht imstande sind; Schönheit als Ergebnis richtig angewandter Regeln; die Forderung, das Sinnliche dürfe nicht außer Acht gelassen werden; die Feststellung, man müsse sich in das Kunstwerk hinein versetzen, um es richtig würdigen zu können. Strauß formuliert zusammenfassend: „Alles in Allem ist das musikalisch Schöne nach Eduard Hanslick also in der eine Melodie begründenden Idee zu finden. Allerdings muss man, um diese Schönheit zu erkennen, ebenso theoretische Kenntnisse, wie auch ein musikalisches Gespür an den Tag legen. Auch die Rollen der Vernunft und des Geistes sind nicht zu vernach-

II. Vorform: Der ‚Fall Hanslick‘

493

lässigen, da sie durch ihre Wechselwirkung aufeinander das Erkennen des Schönen bedingen.“ Aber schon die apodiktische These von der Melodie als ausschließlicher Trägerin des Schönen funktioniert nicht mehr. Real musikhistorisch, also für die Zeit nach 1850, ist sie nicht nur unrichtig, sondern falsch. Längst sind harmonische, instrumentaltechnische und auch rhythmische Parameter wenigstens gleichwertig geworden, und Musikgeschichte wird, wie Herbert Eimert einstmals in Wahrung eigener Interessen feststellte, von Komponisten, nicht von Theoretikern oder Universitätsprofessoren geschrieben. Empfindet man eine Melodie als schön, dann wirkt sie also aufs Gemüt und wird damit, folgt man Hanslick, in ihrem innersten Wesen mißverstanden. Behauptet er das Tonmaterial als selbständig schön mit dem Zusatz, es könne nicht dem Ausdruck von Gedanken oder Gefühlen dienen, so führt er die Ästhetik in das ausgehende 18. Jahrhundert, also in die Zeit noch vor Michaelis zurück. Er ignoriert den Bereich der Reflexionsmusik von Berlioz-Schumann bis Wagner-Liszt, die mit der inneren Stimmigkeit auf Kosten reiner Klangseligkeit und der besonderen Zuordnung von Melodieführung und Textbezug auf dem Umweg über die Interpretation den nachvollziehbaren Gedanken als eigenständiges Musikerlebnis neu beweisbar machte. Reine Melodie als gedankenloses musikalisches Erlebnis bliebe anderenfalls als das übrig, was für Wagner (durchaus in Würdigung großer italienischer Musik) zu italienischer Klingling- und französischer Tamtam-Musik führte. Wagner hatte Hanslick schon in seinem Brief vom 1. Januar 1847 ausdrücklich auf die Bedeutung der Reflexion hingewiesen. Für den heutigen Leser erschwerend kommt die inzwischen vollzogene Begriffsinhaltsverschiebung hinzu, die bei der Zuordnung der Hanslickschen Begriffe zu ihren Originalvorlagen weitere Probleme aufwirft. 5. Entgleisungen. Der Wiener Schmäh Lächerlichkeit tötet, und wenn nicht das, hinterläßt sie Wunden, die sich ein Leben lang nicht mehr schließen. Bis zum Aufkommen der durch das Junge Deutschland entwickelten besonderen Journalistensprache schrieb man streckenweise holprig, grob, polemisch, wenn man es nicht besser verstand. Die Redakteure der Musikblätter vermieden es aber, einen lebenden Künstler mit namentlicher Ansprache in verletzender Absicht zu verhöhnen oder sich ohne Not über ihn lustig zu machen. Nach und nach wurde die Sprache flüssiger, aber auch persönlicher und ironischer. Eine regulierende Zensur gab es nicht mehr, eine Selbstzensur erst recht nicht. Zur Hanslick-Zeit gehörte Spott bereits zum Handwerk; um 1900 gesellte sich Grobheit dazu, worunter man in Deutschland „Ehrlichkeit“ verstand. In dieser Zeit entsteht in Berlin auch das erste Kabarett, in der sich Leute zu Wort melden, die, ohne selbst Verantwortung zu tragen, diejenigen verspotten dürfen, die dazu verurteilt sind, die letzte Entscheidung treffen zu müssen. In Wien, wo man an die grob-pathetischen Ausfälle August Schmidts gewöhnt war, fand Hanslicks Spracheleganz ein geneigtes Publikum, das solche Berichte gerne las, ohne sich davon tiefer als es die eigene Natur erlaubte beeinflussen zu lassen. ‚Es‘ kam an und der Verleger verdiente. Es war ja nicht nur Hanslick, der in dieser Weise schrieb. Hanslick ist im Wiener Um-

494

12. Kapitel: Von der wissenschaftlichen Kritik zur virtuellen Musikgeschichte

feld nur einer unter vielen im Wetteifer gewesen, wer es am besten kann – am besten witzeln, geistreicheln, bekritteln, und keine Sache ist gering genug, um daraus nicht noch einen Spaß auf Kosten eines anderen zu machen. Die „Neue Freie Presse“, für die Hanslick schrieb, war das meinungsbildende österreichische Organ des liberalen Großbürgertums mit deutschfreundlicher und kirchenfeindlicher Tendenz. Dort beschäftigte man auch Daniel Spitzer, der jeden Satz von Wagners Schriften kannte. Er kaufte mit Hilfe der Redaktion 16 erhaltene Briefe Wagners an seine Schneiderin an und veröffentlichte sie am 16. und 17. Juni 1877 zuzüglich eines Nachwortes am 1. Juli im Feuilleton der „Neuen Freien Presse“(1). Die Zwischenkommentare, deren Komik man sich auch heute noch kaum entziehen kann, sollten den Menschen Wagner der Lächerlichkeit anheim geben und schlagen immer wieder ins persönlich Gehässige um. Das Satireblatt „Der Floh“ griff das dankbare Thema auf. Die Karikatur „Frou-Frou Wagner“ aus dem Jahre 1877 zeigt einen Daniel Spitzer, wie er dem mit dem Abmessen eines Kleiderstoffes beschäftigten Wagner mit einer überlangen Schreibfeder (Gänsefeder) in den Rücken sticht(2). Die Wiener nannten seinen Stil ‚jemanden verspitzern‘. Und ebenfalls an der „Neuen Freien Presse“ schrieb Ludwig Speidel, der als Wiener Größe Hanslick an lokalem Einfluß überragte, ja der eigentliche Wiener Tonangeber war, der als Kritiker des Burgtheaters gegen Gerhart Hauptmann und Henrik Ibsen zu Felde zog. Auf Wagner feuerte er wahre Schimpfkanonaden ab und war, anders als Hanslick, ehrlich genug, zuzugeben, daß ihm nicht nur Wagner und alles das mißbehagte, was mit Wagner zu tun hatte, sondern auch Brahms. Der vierte war Hugo Wittmann. Die Zeitgenossen erfanden für diese Art Umgangston den Begriff „Wiener Schmäh“; Tappert sprach von der „journalistischen Giftmischerei“ und bezeichnete die „Neue Freie Presse“ als „Hauptquartier des Hasses“(3). Um zu verstehen, warum viele der ernsthaften Zeitgenossen Hanslicks ein so negatives Bild des Wiener Kritikers überlieferten, muß man das „was“ mit dem „wie“ in Beziehung bringen. Es stand ihm frei, etwa Tschaikowskys Violinkonzert nicht zu mögen. Es stand ihm frei, das auch bekannt zu geben. Es stand ihm aber nicht frei, sein Privaturteil über eine Sache mit dem Endurteil der Geschichte zu identifizieren, und es stand ihm vor allem nicht frei, an das verworfene Konzert eine Überlegung anzuknüpfen, ob es nicht auch Musikstücke gebe, die man ‚stinken hört‘. Es stand ihm frei, etwa Mahlers 1. Symphonie nicht zu mögen. Es stand ihm frei, das auch bekannt zu geben. Es stand ihm aber nicht frei, in der „Neuen Freien Presse“ vom 20. November 1900 die Feststellung zu treffen „Einer von uns beiden muß verrückt sein – ich bin es nicht!“. Die Wiener Universität schätzte Hanslick, sonst hätte sie nicht im Februar 1913 seine Büste in den Universitätsarkaden aufgestellt. Sie schätzte aber auch Bruckner, dem diese nach den Universitätsstatuten nur ordentlichen Professoren vorbehaltene Ehrung noch vor Hanslick am 11. Februar 1911 mit einer von dem Bildhauer Tautenhayn gefertigten Büste zu Teil wurde. Die Universität hatte Bruckner gegen den ausdrücklichen Willen Hanslicks in ihren Lehrkörper eingegliedert und verlieh ihm später die Ehrendoktorwürde. Hanslick unternahm alles, um beides zu verhindern und drang für einige Zeit durch. Doch wurde der Widerstand im Kollegium immer größer. Als Hanslick seine bevorstehende Abstimmungsniederlage erkennen

II. Vorform: Der ‚Fall Hanslick‘

495

mußte, blieb er den entscheidenden Sitzungen fern. Im Protokoll ist seine Abwesenheit mit „auf Urlaub“ vermerkt. Als nun die Universitätsoberen nach ihrem Brauch in einem feierlichen Umzug Hanslicks Büste in den Innenhof brachten, mußten sie an der Büste Bruckners vorbeiziehen, die sich nur etwa zehn Meter vom Aufstellungsort der Hanslickbüste befindet. Und da kam es zu einer Art von Eklat. Dort hatten sich nämlich Studenten einer schlagenden Verbindung (Ghibellinia) in voller Montur aufgestellt, die in dem Augenblick, als die Büste Hanslicks an der Büste Bruckners vorbeigetragen wurde, ihre Säbel zogen und vor der Bruckner-Büste kreuzten, so, als wollten sie ihren verehrten Meister, dessen Bedeutung inzwischen nicht mehr umstritten war, noch im Tode vor seinem schlimmsten Feind, dem toten Kritiker, schützen. Aus Anlaß von Bruckners hundertstem Geburtstag hielt der damalige Universitätsrektor Hans Sperl auf der Festveranstaltung vom 20. November 1924 eine Rede, in der er aus den erhaltenen Akten die wechselvolle, weil immer wieder von Hanslick gestörte Aufnahme Bruckners in den Universitätslehrkörper schilderte. Diese Rede wurde 1925 in der deutschen Musikzeitschrift „Die Musik“ veröffentlicht. Sie schließt mit dem Satz: „In Wahrheit hat der große Meister bei dem Fachmann für Musik nicht nur keine Förderung gefunden, sondern gefährlichste Gegnerschaft; die ihn in seinem akademischen Lebenswege begünstigt und endlich zu höchstem Erfolge gebracht haben, waren Philolog, Geolog, Mineralog, Physiker, Jurist; der Musiker der Universität war nicht unter ihnen“(4). Es ist ein Vorgang, der mehr über die Situation einer deformierten Wiener Musikkritik aussagt als eine lange Abhandlung(5). (1) Die Briefe wurden erstmals in Buchform (Oktav 8°) unter dem Titel „Briefe Richard Wagners an eine Putzmacherin“ samt Spitzers Kommentare und Nachwort 1906 von der Verlagshandlung Carl Konegen (Ernst Stülpnagel) in Wien unverkürzt mit einer eigenen „Einbegleitung“ nachgedruckt. Spitzer ist auch der Autor einer Novelle „Verliebte Wagnerianer“, die seit 1880 in mehreren Auflagen erschien und, wie nicht anders zu erwarten, Wagner und seine Anhänger, dem Spott aussetzt; (2) Wiederabdruck in: Eduard Fuchs/Ernst Kreowski: Wagner in der Karikatur, B. Behr’s Verlag Berlin 1907, S. 85 als Abbildung 93; ‚frou-frou‘ ist ein aus dem Französischen übernommenes onomatopoetisches Fremdwort und bedeutete damals soviel wie ‚rascheln‘ (gemeint ist vor allem das Rascheln von Unterwäsche). Daß der Karikaturist Spitzer kleiner als Wagner und Spitzer zudem hüpfend und hinterrücks stechend zeichnet, läßt die Karikatur doppeldeutig erscheinen; (3) Wilhelm Tappert: Wagner und Hanslick, Musikalisches Wochenblatt VII/28, 6.7.1877, S. 88a– 89b; (4) Hans Sperl: Anton Bruckners akademische Leiden und Freuden, Mus XVII/7, Aprilheft 1925, S. 492–497; (5) Vorzüglich gegen Wiener Kritiker richten sich schon vor 1845 in Fachzeitschriften geäußerte Beschwerden ([II,524]); später macht man die Wiener Kritik dafür verantwortlich, daß sich Wagner mit Selbstmordabsichten trug. Es bezieht sich auf die Auseinandersetzungen um Wagners „Tristan und Isolde“. Die Oper wurde 1862 nach 77 Proben als unspielbar zunächst abgesetzt, dann doch erfolgreich erstaufgeführt. Das Hin und Her erfuhr durch Hanslick beißendsuffisante Kommentare. Karl Kraus bekämpfte später aus anderen Gründen die „Neue Freie Presse“ und ihren Hauptverantwortlichen.

496

12. Kapitel: Von der wissenschaftlichen Kritik zur virtuellen Musikgeschichte

6. Sprache als Waffe. Topoi Der Wegfall der Zensur seit 1848 befreite den Kritiker von allen Rücksichtnahmen, die bis dahin notfalls noch erzwungen wurden. Man konnte Dinge schreiben, die früher unmöglich gewesen wären und bis ins vulgär Ordinäre abglitten. Die „Signale“ gingen darin mit schlechtem Beispiel schon vor dem Fall der Zensur voran. Da konnte man lesen, daß die berühmte Sängerin Madame Artôt nicht mehr singen könne, weil sie „zu fett“ geworden sei, oder der rücksichtslose Theodor Hagen schrieb unter seinem Pseudonym ‚Butterbrodt‘ 1847 aus Hamburg, die (ebenfalls namhafte) Sängerin Anna Zerr möge doch (statt zu singen) „in ein Kloster“ oder „in ein Bad“ gehen“(1). Man konnte offen beleidigen, schmähen, persönliche Unwahrheiten behaupten, wenn man die juristischen Tricks beherrschte, sich dabei klaglos zu stellen, weil Meinungen eben Meinungen sind, deren Wahrheitsgehalt offen bleiben darf. Die „Signale für die musikalische Welt“ haben gut davon gelebt. Das siedelte sich im ordinären Bereich des Klatsches an, der immer interessant ist, den eine bestimmte Leserschaft als gute Unterhaltung empfindet, zumal er keine Tiefenentscheidungen verlangt. Die Handwerkslehre zur Musikkritik macht beweiskräftig, daß ein Kritiker drei Dinge vorab mitbringen muß: Sachkenntnis, Erfahrung und Wohlwollen auf der Grundlage einer versuchten Selbstobjektivierung, und, sofern er schreibt, als viertes die Beherrschung der Sprache. Hanslick verfügte über Sachkenntnis, Erfahrung und eine streckenweise magisch wirkende Sprachbeherrschung. Was ihm fehlte, waren Wohlwollen und die Fähigkeit zu einer wenigstens versuchten Selbstobjektivierung. Alfred Einstein, der vermutlich vor allem das Verhältnis Hanslick-Bruckner im Blick hatte, charakterisierte ihn in seinem Riemann-Lexikon mit dem einzigen Eigenschaftswort „gehässig“ und sprach damit einen Charaktermangel an. Hanslicks Handlungsweise entsprang einer explosiven Mischung von Intelligenz, Fachwissen, Eitelkeit, Unbelehrbarkeit und Selbstgerechtigkeit, die sich im Einklang mit der im Berlin der Nachrevolutions-Zeit neu definierten Rolle des Kritikers befand und in Teilen der Wiener Leserschaft ein Tagesecho erhielt. Für die Wiener Gesellschaft, die wie alle europäischen Gesellschaften dieser Zeit nach einem Führer-Prinzip reguliert war, nahm er als Universitätsprofessor und juristischer Doktor einen Sozialstatus ein, der weit über das hinausging, was selbst die bedeutendsten Musiker des Landes vorzuweisen hatten. Er sicherte ihm zu allem übrigen eine fraglose nicht nur Amts-Autorität. Sieht man einmal von Wagner ab, dessen bei aller künstlerischen Größe menschliches Verhalten, ob berechtigt oder nicht, Anlässe genug bot, ihm feindselig oder wütend oder karikierend entgegen zu treten, so galt das nicht mehr für einen so überaus wohltätigen Liszt und schon gar nicht für den menschlich so harmlosen Bruckner. Was in andere Untersuchungsteile hineingehört, nämlich die Darlegung der musikkritischen Sprach-Topoi bei der Urteilsformulierung, sei aus gutem Grund an dieser Stelle mit einem einzigen Beispiel, Hanslick betreffend, vorweg wenigstens angedeutet.

II. Vorform: Der ‚Fall Hanslick‘

497

Die Handwerkslehre zur Musikkritik entwickelt einen Topos „Prinzip der inkongruenten negativen Überschreibung“. Damit ist ein Verfahren gemeint, ein Lob im in der Sache Nebensächlichen mit einem Tadel im in der Sache Hauptsächlichen so zu überschreiben, daß es nicht zu einem Ausgleich zwischen Lob und Tadel kommt. Mit einer solchen Verbindung erzeugt der Autor beim Leser unterschwellig einen Eindruck von Objektivität des Kritikers, wodurch der Tadel ein besonderes Gewicht erhält. Hanslick hat diesen Topos meisterhaft beherrscht. Mahler ist ein geschätzter Dirigent, ein tüchtiger Operndirektor – aber wenn er komponiert, zeigt er sich als Verrückter. Bruckner ist ein sanfter, friedfertiger Mensch, ein lieber Zeitgenosse, ein genialer Orgelspieler – aber wenn er komponiert, wird er zum Anarchisten „der unbarmherzig alles opfert, was Logik heißt“, an anderer Stelle spricht Hanslick vom „Katzenjammerstil“, den Bruckner hervorbringt. Natürlich hat das angebliche Liebsein des Menschen Bruckner nichts mit den Symphonien des Komponisten Bruckner zu tun, so wie das angebliche Bössein des Menschen Wagner nichts mit den Opern des Komponisten Wagner zu tun hat. Aber ein solcher Schlenker macht Stimmung für den Kritiker, der ja, so scheint es, die Sache sehr nüchtern, also objektiv betrachtet, und somit nach dem Beweis des ersten Anscheins vertrauenswürdig auch in dem sein muß, was er zu bemängeln hat. (1) Butterbrodt: Signale aus Hamburg, SfdmW V/28, 28.6.1847, S. 220–221, Z:221.

7. Warum Hanslick? Es gab im 19. Jahrhundert viele namhaft gewordene Kritiker mit gegen die zeitgenössische Kunst und vor allem gegen Wagner gerichteter spitzer bis bösartiger Zunge: unkontrollierte Poltrone wie Ludwig Bischoff, vorurteilsgesteuerte Querulanten wie Julius Schladebach, bestechliche Egoisten wie Ludwig Rellstab(1), starrsinnig feindselige Zeitzeugen wie Heinrich Dorn(2), vordergründige Spötter wie Daniel Spitzer, vornehm professorale Analytiker wie Otto Jahn, skurrile Außenseiter wie Carl Koßmaly, eifersüchtige Komponisten wie Hieronymus Truhn, intelligent-biedermeierliche Philister wie Carl Banck, rücksichtslose Weltanschauungskritiker wie Theodor Hagen, verständnislose Eigenbrötler wie Julius Becker(2), provinzielle Besserwisser wie Otto Kraushaar, neuromantisch gebundene Schumannfreunde wie Alfred Dörffel, wüste Schimpf-Schreiber wie Ludwig Speidel, und dazu die Riege der schlichten, von den Zeitgenossen offen als Dummköpfe bezeichneten Verfasser nach Art eines Eduard Bernsdorf – die Reihe ließe sich fortsetzen. Einige der Wagner-Kritiker waren zur Zeit der Entstehung der „Meistersinger“ noch nicht aktuell genug. Ihnen stand die militante Korrektur von Theodor Uhlig über Felix Draeseke und Carl Friedrich Glasenapp bis Wilhelm Tappert in ebenfalls abgestufter Reihenfolge von wissend bis fanatisch gegenüber. Aber nur Hanslick ging aus dieser Schar als Vorbild der Beckmesserei in die Musikgeschichte ein, und man muß sich fragen, warum ausgerechnet er. Es genügt nicht, immer wieder das Register teilweise nicht nur schlimmer, sondern vor allem schlimm formulierter Fehlurteile vorzulegen; denn diese ließen sich auch für andere seiner Zunft pro-

498

12. Kapitel: Von der wissenschaftlichen Kritik zur virtuellen Musikgeschichte

blemlos zusammenstellen. Hanslicks Brahms-Verbundenheit mag man dabei nicht etwa als die Folge eines klassischen Kunstverständnisses betrachten. Vermutlich haben das auch Leute wie Pohl, Nottebohm und Kalbeck so gesehen und kursierten deshalb so viele, Hanslick in Frage stellende Kommentare aus seinem eigenen Freundeskreis, vor allem auch seine privaten, nie veröffentlichten Aussagen über die 4. Symphonie. Der neben Kalbeck bedeutendste deutsche Brahmsforscher Siegfried Kross(3) vertrat den Standpunkt, die Widmung der Walzerfolge an Hanslick sei auch eine maliziöse Abmahnung gewesen, die Hanslick verstanden habe, weil Hanslick unentwegt von den großen Formen redete und nun von Brahms getreu der in der Romantik entwickelten Lehre von der Gleichbedeutung der kleinen Formen Walzer zugeeignet bekam, die mitnichten dem hohen Ideal von der ‚großen‘ Form entsprachen(4). Wenn es kein historischer Regiefehler war, dann eine Folge einer auch Hanslick nicht abzusprechenden menschlichen Verbundenheit mit, vielleicht sogar Zuneigung zu Brahms, der in seinen musikkritischen Äußerungen selbst nicht allzu wählerisch war und die Bruckner- und Wagner-Polemik eher noch schürte und gewiß Grund hatte, sich davor zu hüten, sich in Wien, wo er lebte, auch noch mit Hanslick offen anzulegen. Strauß hat darauf hingewiesen, daß Hanslick Wagner mit der frühen „Tannhäuser“-Kritik freundschaftlich entgegen gekommen sei, daß er Bruckner im menschlichen Bereich gute Ratschläge erteilt habe. Man mag diese und viele andere Züge möglicherweise erweitern können und auch anführen, daß er offensichtlich eine gute Ehe geführt hat. Es gibt keine eigentliche biographische Hanslickforschung. Es sind immer nur seine Musikkritiken und sein Ästhetik-Buch, mit denen man sich beschäftigt hat. Vermutlich würde man noch anderes finden, das Hanslick in ein besseres Licht rückt. Aber so, wie Wagner kein Stück Holz war, auf das man einprügeln durfte, ohne menschliche Verwüstungen und damit bitter aufstoßende Reaktionen in Kauf zu nehmen, war es gewiß auch Hanslick nicht, als Wagner ihn mit der Beckmesser-Identität ein für allemal brandmarkte, oder ihn nachträglich in seine zweite Fassung der Judentum-Schrift hineinnahm und ihn in diffamierender Absicht als Juden bezeichnete und diese Neuausgabe damit noch umstrittener machte(5). Trotzdem bleiben Fragen offen. Warum Wagners spröder und in seiner Trokkenheit gar nicht zu ihm passender Dank nach der „Tannhäuser“-Kritik? Und besagt ein Auge in Auge abgegebenes freundliches Wort etwas über die tatsächliche innere Gesinnung? Schließen hoher Bildungsgrad, gesellschaftlich herausragende Stellung und familiäres Wohlverhalten Miserabilität im Berufsalltag aus? Natürlich nicht, und Hanslicks Autorität als Ästhetiker und Hochschulprofessor auf der einen Seite, und als zeitblinder Versager und das auch noch mit der seit den „Signalen für die musikalische Welt“ wohlfeil gewordenen Verspottung von Künstlern in elegant tötender Sprache auf der anderen Seite mußte seine unfreiwilligen Gegner geradezu herausforden, ihm seine Grenzen zu zeigen. Aber während Spitzer nur ein Spaßmacher war, über den man lachte oder sich ärgerte, fachlich jedoch nicht ernst nahm, Speidel ein gewitzter Schreiber mit einer eigenen Klientel ohne erwiesene engere Fachkenntnisse, hatte man von Hanslick sicher etwas anderes erwartet als die Pose eines mitunter herablassenden, häufiger kränkenden Maßregelns. Daß ausgerechnet er, hochgebildet, habilitierter Hoch-

II. Vorform: Der ‚Fall Hanslick‘

499

schulprofessor, mit musikalischen Kenntnissen verbrieft, ästhetisch durch seine Schrift ausgewiesen und einstmals der neuen Oper nahe stehend, sich dermaßen unerwartet wandelte, löste Empörung aus. Und wenn Liebe oder Achtung in Abneigung oder gar Haß umschlägt, wird es besonders schlimm. So wird aus dem Merker der Hanslick-Beckmesser als literarischer Typ, der, so würde Marx sich bestätigt fühlen, die „Sache um der Person willen versäumt“. (1) Rellstab wurde offen Bestechlichkeit vorgeworfen. Rellstab erteilte Gesangunterricht, und man bezichtigte ihn, denjenigen besonders lobende Kritiken zu schreiben, die sich vor ihrem Berliner Konzert- oder Bühnenauftritt bei ihm einfanden, um sich vorzustellen oder (vermutlich pro forma) einige Gesangstunden zu nehmen, und diejenigen, die das versäumten, entsprechend „kritisch“ zu besprechen [II,489]. Wagner gehörte zu denen, die einen Besuch bei Rellstab unterließen. Kritiker-Bestechlichkeit wird über das ganze Jahrhundert hin thematisiert ([II,518, II,536]. Heinz Becker hat sie im Falle des von Heinrich Heine erpreßten Meyerbeer dargestellt (Heinz Becker: Der Fall Heine-Meyerbeer, de Gruyter Berlin 1958, 149 S.). Rellstabs Gegenstück in London war der Kritiker der „London Times“ Henry Davison. Selbst Berlioz suchte ihn auf, um sich abzusichern, lediglich Wagner weigerte sich; (2) Otto Dorn überliefert in seinem für die Zeitschrift „Die Musik“ 1904 geschriebenen pietätvollen Aufsatz „Heinrich Dorn“ (Mus IV/3, 1. Novemberheft [1. Quartal = Band 13] 1904, S. 166–168) ein freundlicheres und verständnisvolleres Bild. Willi Kahl (Neue Deutsche Biographie IV, Berlin 1959, S. 79a–b) merkt an, Dorn sei von Wagner „nicht ganz unbeeinflußt“ geblieben; (3) Siegfried Kross: Johannes Brahms. Versuch einer kritischen Dokumentar-Biographie, 2 Bände, Bouvier Verlag Bonn 1997; (4) Kross, mdl. Mitteilung an den Verfasser; (5) Hanslick hatte mütterlicherseits jüdische Vorfahren.

8. Merker – Hanslich – Beckmesser Im ersten Prosaentwurf zu den „Meistersingern“ (Marienbader Entwurf vom 16. Juli 1845) ist von Hanslick selbstverständlich keine Rede. Hier hieß die Beckmessergestalt, eine historische Figur der Meistersingerzeit, schlicht ‚der Merker‘. Im zweiten (November 1861) und dem kurz darauf folgenden dritten Entwurf wurde aus dem Merker ein ‚Veit Hanslich‘. In der endgültigen Fassung der Dichtung verzichtete Wagner auf diese Polemik. Wagner war zu sehr Künstler, um nicht auch in diesem Fall nach seiner früheren Art aus der Person einen Typus zu machen. Die Eingeweihten wußten ohnehin um die Zusammenhänge, und die nicht Eingeweihten wurden schnellstens aufgeklärt. Hanslick sah das nicht anders. Die Einladung zur Wiener „Meistersinger“-Vorlesung im Hause Dr. Standhartners (November 1862) nahm er an – nach dem Vortrag empfand er sie als persönliche Beleidigung. Hanslick war damals nicht ganz 37 Jahre alt, die Kluft zwischen ihm und Wagner unüberbrückbarer denn je. Dabei ist der originale Merker der Meistersinger-Zeit alles andere als ein mißachteter Zeitgenosse gewesen – im Gegenteil. Merker durfte nur sein, wer selbst die komplizierteste Regel des ohnehin komplizierten Regelwerks so beherrschte, daß er Regelwidrigkeiten und Regelverstöße im Augenblick ihres Erscheinens erkennen konnte, und der zusätzlich schreibgewandt genug war, sie auch schrifltlich fest-

500

12. Kapitel: Von der wissenschaftlichen Kritik zur virtuellen Musikgeschichte

zuhalten. Das setzte im wahrsten Sinne des Wortes meisterhafte oder meisterliche Fähigkeiten sowohl im Musikalischen wie im Literarischen voraus, die vor allem damals nicht jeder besaß. Wagner hat die Figur allerdings in ihrem Wesen verändert. Aus dem literarisch-musikalischen Schiedsrichter hat er zusätzlich einen Wettstreit-Beteiligten gemacht, der gegen einen Konkurrenten antritt, dem er durch das verbriefte Merker-Recht zunächst überlegen ist. Was der Merker anlastet, ist nach seiner Regel auf jeden Fall richtig. Was er, eben weil er einer geschriebenen Regel folgt, nicht anerkennen darf, ist die durch den Konkurrenten versuchte (und später herbeigeführte) Regelreform, die zunächst als Regelverstoß auftritt. Der Merker ist im Recht – der gegen die Regel verstoßende Sänger ist es nicht, es sei denn, er könnte den Regelverstoß nachträglich als Reform der Regel in das Regelwerk einbringen und dadurch sein ehemals regelwidriges Verhalten heilen. Das wiederum entscheidet die Mehrheit der stimmberechtigten Meister, nicht der Schiedsrichter allein, der in der nachfolgenden Beratung, jetzt in seiner Eigenschaft als Meister mit Merker-Autorität, nur eine Stimme unter mehreren hat. Wenn die Mehrheit den Regelverstoß als Regelreform gutheißt, muß der Merker der Regelreform folgen und darf sich nicht ein eigenes Entscheidungsrecht zusprechen. Wagner geht aber weiter. Seine Merkergestalt will mitspielen, und da diese sich dem Reformer unterlegen weiß, verübt sie einen literarischen Diebstahl, mehr noch: Nachdem der Merker, weil unproduktiv, mit dem Neuen, das er entwendet hat, nichts anfangen kann und daran scheitert, offenbart er schimpfend die Herkunft des Liedes und stellt sich mit seiner denunzierenden Erklärung erst recht ins Abseits. Aus dem neutralen Merker ist der Beckmesser geworden, der nun auch noch seine moralische Integrität verloren hat. Als Wagner die Beckmesser-Gestalt entwarf, war von der Nottebohm-Affaire noch keine Rede. Aber Hanslick hatte sich inzwischen einen Ruf und einen bürgerlichen Rang verschafft, der es möglich machte, in seiner Gestalt eine ganze Zunft anzuklagen, auch wenn er mit all seinen Kritiken keinen Künstleraufstieg oder Künstlerabstieg veranlassen oder verhindern konnte. Sein immer wieder herausgestellter Einfluß war fiktional. Man las Hanslick, zitierte Hanslick, glaubte Hanslick aber nicht. Die Musikgeschichte ging ihren Weg, unbekümmert um das, was Hanslick davon hielt. 9. Die Tannhäuser-Kritik von 1846 a) Vorgeschichte August Schmidt hatte Julius Schladebach für seine „Wiener allgemeine MusikZeitung“ als Dresdner Korrespondent verpflichtet. Die zwangsläufig unfreundliche Berichterstattung über Wagner verschärfte sich, als Wagner den Fehler beging, sich zur Wehr zu setzen. Mitte 1846 änderte das Blatt seine Meinung. Schladebach schied aus. Schladebach war ein erklärter Gegner des späten Beethoven und hatte in der Dresdner „Abend-Zeitung“ auf Wagners Palmsonntagskonzert vom 5. April 1846(1) mit einer zwölfseitigen Rezension unter anderem gegen die 9. Symphonie und Wagner (11½ Seiten, nur eine halbe Seite über Beethovens Christus-Oratorium

II. Vorform: Der ‚Fall Hanslick‘

501

unter Reißiger) angeschrieben, die als schlimme Zusammenfassung einer Beethoven-Polemik noch 20 Jahre nach dessen Tod betrachtet werden kann [IV,662]. Aber für Schmidt war Beethoven unbedingt sakrosankt. Schmidt vergaß nie ein Kindheitserlebnis, als ihm Beethoven bei einer Begegnung freundlich über das Haar gestrichen hatte. Vermutlich schickte Schladebach einen ähnlich negativ gefärbten Bericht nach Wien und Schmidt wollte daraufhin mit Schladebach nichts mehr zu tun haben, sah aber den wagemutigen Beethovenverehrer Wagner nunmehr mit anderen Augen. Schladebach verlor seine Korrespondenz, und die Berichterstattung über Wagner wurde freundlich. So ließ Schmidt zwischen dem 28. November und 29. Dezember 1846 Hanslicks elfteilige und mit neun Notenbeispielen versehene Tannhäuser-Berichterstattung erscheinen [IV,724–731, 733, 735, 737]. Sie bildet die umfangreichste, informativste, sich bis in instrumentationstechnische Einzelheiten ergehende Werkbetrachtung, die es bis zu diesem Zeitpunkt über eine Wagner-Oper gegeben hat. Schmidt wird begeistert gewesen sein, sonst hätte er sie nicht in dieser ganz ungewöhnlichen Länge abgedruckt, und Hanslick hatte sich als ernst zu nehmender Kritiker eingeführt. Trotzdem fiel Wagners Dank in seinem (allgemein wichtigen) Brief an Hanslick vom 6. Januar 1847 für Wagnersche Schreibverhältnisse zwar höflich, aber eher korrigierend kühl aus. b) Zum Artikel Man muß diesen Artikel in der Originalgestalt gesehen, nicht nur im Nachdruck gelesen haben, um an der äußeren Aufmachung mit den vielen Textauszeichnungen, den überzahlreichen Sperrungen, die Wichtigkeit zu erkennen, die der junge Hanslick seinen Ausführungen beimaß. Und man muß bei der Musterung des Artikels und seiner Wirkung auf die Zeitgenossen berücksichtigen, daß außer dem Redakteur und Wagner selbst die Mehrheit der Leser nicht wissen konnte, wer Hanslick war (dessen Name im Artikel einschließlich Fortsetzung falsch als „Hanslik“ geschrieben wurde; auch Wagner antwortete einem „besten“, nicht „lieben“ Herrn „Hanslik“). Dies festzustellen ist wichtig, weil der Aufsatz so gehalten ist, als ob ein erfahrungsgereifter und in Ehren ergrauter Opernkenner seine Leser über ein epochales Meisterwerk der Gegenwart unterrichten will. Wer um Hanslick damals nicht Bescheid wußte, wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß dieser in so hervorragendem Deutsch verfaßte Artikel von jemandem herrührte, der, als er erschien, sechs Wochen zuvor gerade 21 Jahre alt geworden war (geb. 11. September 1825). Anderenfalls hätte man schon der Einleitung mit Zweifel begegnen müssen, einem Topos nämlich, ein neues Werk auf Kosten des oder der vorangegangenen zu werten. Da ist der „Rienzi“; aber das war keine Oper, über die sich Hanslick hätte äußern mögen. Dann kam der „Holländer“; aber hier schwieg er auch. Und erst jetzt, bei „Tannhäuser“, sieht er sich veranlaßt, einen journalistischen Einsatz zu wagen, weil mit dieser Oper alles ganz anders ist. Wer hätte nach solch einer Einleitung vermutet, daß Hanslick, als er den „Rienzi“ erstmals hätte hören können, vier Wochen zuvor das 17. Lebensjahr erreichte und nicht einmal sein Musikstudium aufgenommen hatte und zum Zeitpunkt der „Tannhäuser“-Rezension weder

502

12. Kapitel: Von der wissenschaftlichen Kritik zur virtuellen Musikgeschichte

„Rienzi“ noch „Holländer“ gehört, gesehen oder gelesen hatte. Der Leser erfährt außerdem kein Wort darüber, wie weit Hanslick seine für die damaligen Zeitschriften-Verhältnisse einzigartige technische Analyse den Erklärungen Wagners (und vor allem Liszts) verdankte, den er in Marienbad und Dresden aufgesucht hatte. Es gibt aus der Feder Hanslicks keine zweite derartige Analyse, auch nicht über das Werk eines Komponisten, den er befürwortete, von Brahms ganz zu schweigen. Gedruckt lag vom „Tannhäuser“ lediglich der Klavierauszug vor. Was er an Eigenem hineinbrachte, unter anderem den Bezug zu Meyerbeer, der wohl für den „Rienzi“ zutreffend gewesen wäre, niemals aber mehr in dieser Form für den „Tannhäuser“, war falsch, und Wagners Antwortbrief beschäftigt sich seitenlang mit Erklärungen und Richtigstellungen. Und wenn auch Wagner in Verfolg seines Reformkurses die tatsächlich Meyerbeers Großer Französischer Oper verpflichtete „Rienzi“-Musik ungünstiger einordnen mußte, so war er doch immer sichtlich unangenehm berührt, wenn ein anderer den „Rienzi“ mit einer Handbewegung, wie hier bei Hanslick geschehen, wegwischte, und antwortete dann mit dem überlieferten Satz: „Machen Sie doch mal einen!“. c) Wagners Reaktion Wagner war zu klug, um nicht spätestens, als die Artikelfolge gedruckt vorlag, zu erkennen, daß es weniger um ihn als Komponisten als um eine Profilierung Hanslicks ging, der dafür ein passendes Objekt gesucht und, das war gewiß eine Leistung Hanslicks, auch gefunden hatte. Deshalb höflich-trockner Dank als Schuldigkeit, kein freundliches Gedenken gemeinsam verbrachter Stunden in Marienbad und Dresden, was nahe gelegen hätte, kein unmittelbares Kompliment, wohl eine raumgreifende erneute Darstellung seiner eigenen neuen Kunst-Ideen, von denen Wagner zu erkennen glaubte, daß Hanslick sie in seiner Meyerbeer-Verehrung nicht richtig verstanden habe. Kein Zweifel, daß der Musikkritiker Eduard Hanslick mit seiner Tannhäuser-Rezension dem Dresdner Hofkapellmeister Richard Wagner in schwieriger Zeit nach außen hin einen großen, unerwarteten und kaum abzuschätzenden wertvollen Dienst erwiesen hatte. Was lag für die Zeitgenossen daher näher, als den Weg Hanslicks von der Anerkennung zur Gegnerschaft als künstlerisch-philosophischen Reife- oder doch Wandlungsprozeß anzusehen, der den Kritiker von der (früheren) Zuneigung in die (spätere) Abneigung führte, und zur Bekräftigung eine Menge weiterer ästhetischer Gründe vorzubringen, um als Wertbestimmung abzuleiten, was in Wirklichkeit Ausfluß von Mentalität war. Nur die Zukunft konnte Auskunft darüber geben, ob es sich bei der Tendenz des Artikels um eine unverwischbare Charakteräußerung oder um ein Stück Altersstufenliteratur handelte, von der man mit zunehmender Reife geheilt wird. Dem jungen Menschen billigt man manches zu, wenn man erwartet, daß er es künftig sein läßt, auch die Begeisterung in den ersten Stunden des Anlesens und Findens, bei der in der Selbstidentifikation mit dem Gegenstand die seriöse Trennung zwischen Eigenem und Fremdem nicht richtig eingehalten wird. Mit Sicherheit hat Wagner Hanslicks Versuch, sich zuzu-

II. Vorform: Der ‚Fall Hanslick‘

503

schreiben, was in Wirklichkeit ihnen, Wagner und Liszt, zukam, nicht vergessen. Kein Autor vergißt so etwas. (1) s. dazu Kirchmeyer: Wagner in Dresden, a. a. O. S. 624 ff.

10. Die Nottebohm-Affaire Am 22. Dezember 1870 veröffentlichte Hanslick in der „Neuen Freien Presse“ eine Besprechung der Wiener Beethovenfeier. Daß Hanslick die Gelegenheit nutzen werde, Wagner einzubeziehen, konnte niemanden überraschen, der um die Weiterentwicklung der persönlichen Beziehungen zwischen beiden seit 1846 Bescheid wußte. Hanslick greift eine Wagnersche Behauptung auf, Beethoven habe den Schillerschen Text zur 9. Symphonie an einer bestimmten Stelle aus gutem Grund von „streng“ in „frech“ verändert, und die neue Breitkopf-Ausgabe der Symphonie habe gegenüber der früheren Schott-Ausgabe diese Veränderung unzulässigerweise wieder rückgängig gemacht. Der Vorgang wurde an anderer Stelle ausführlich dargestellt(1). Es ist Friedrich Chrysander gewesen, dem wir die Überlieferung der verschiedenen, ineinandergreifenden Situationen verdanken. Hanslick schreibt: „Wagner nennt das ‚eine Fälschung, die wohl geeignet ist, uns mit schauerlichen Ahnungen über das Schicksal der Werke unseres grossen Beethoven zu erfüllen. Diese schauerlichen Ahnungen und den ganzen heiligen Zorn würde sich Wagner erspart haben, hätte er seinen längeren Besuch in Wien dazu benützt, sich einmal das Autograph dieses Beethoven’schen Freudenhymnus anzusehen, dessen Einsicht der Eigenthümer Herr Artaria mit rühmlicher Gefälligkeit gestattet. Ein Blick in dieses Autograph belehrt uns, dass Beethoven …“ und nun folgen bei Hanslick Taktzahlen und Hinweise auf etliche Schreibfehler in anderen Werken. Nach weiteren ironischen Bemerkungen über Wagner schließt Hanslick diesen Abschnitt mit „Der Leser wolle uns diese kleine Excursion zugute halten: sie ist nicht unwichtig, noch unzeitgemäss, liefert sie uns doch aus Beethoven’s eigener Handschrift den Beweis, dass der Meister keineswegs die Sucht Wagner’s getheilt hat, in Kleinigkeiten gross zu sein“. Selbst wer Hanslick sehr böse und Wagner sehr gut wollte (und will), kam (kommt) aus der hier geschilderten Quellensituation des Jahres 1870 kaum an der Schlußfolgerung vorbei, daß sich Wagner in dieser Beethovensache eindeutig verstiegen habe. Nun folgte aber die durch Chrysander herbeigeführte Überraschung, eigentlich eine Überraschung in zweifacher Hinsicht. Der Händelforscher Friedrich Chrysander, der unter großen persönlichen Opfern(2) die kritische Händel-Ausgabe verantwortete und sich in Schwerin bei Gelegenheit auch als (übrigens beachtlicher) Tageskritiker betätigte, mochte Hanslick nicht. Alte Musik war damals längst nicht populär, so daß auf diesem Gebiet noch nicht viel an journalistischem Ruhm zu holen war. Hanslick stand dem Komplex eher gleichgültig bis ablehnend gegenüber. Gegen die Wiedereinbürgerung Händelscher Musik äußerte er seine Bedenken. Daß er sich damit Chrysander nicht zum Freund machte, versteht sich von

504

12. Kapitel: Von der wissenschaftlichen Kritik zur virtuellen Musikgeschichte

selbst, schließlich war die Händel-Renaissance dessen Lebenswerk. Und so nahm Chrysander die Gelegenheit wahr, Hanslicks Blößen so offenzulegen wie Hanslick diejenigen Wagners. Hanslick wird seit jeher dem Brahmskreis zugerechnet, dem u. a. auch der auf Beethoven spezialisierte Musikwissenschaftler Gustav Nottebohm angehörte, der mit seinen Arbeiten zum Begründer der Beethovenforschung wurde. Nottebohm schrieb nun, ob mit hintergründiger Absicht oder nicht, an seinen Kollegen Chrysander, mit dem er offenbar harmonierte, einen Brief über (gegen?) den Kollegen (Freund? Feind? Gegner?) Hanslick, mit dem er offenbar nicht harmonierte. Vordergründig las sich dieser Brief als eine nüchterne Ergänzung und Berichtigung der Hanslickschen Veröffentlichung, um die es hier geht – tatsächlich bildete er eine ehrzerstörende Bloßstellung Hanslicks. Daß Chrysander diesen Nottebohm-Brief unverzüglich bekannt machte, nämlich am 18. Januar 1871 im dritten Heft des VI. Jahrgangs der von ihm redaktionell betreuten neuen Folge der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“, spricht dafür, daß die Veröffentlichung zwischen Chrysander und Nottebohm abgesprochen und somit als eine richtig stellende Rückäußerung des empörten Nottebohm zu verstehen war, der sich dazu der Hilfe Chrysanders bedienen konnte, um Hanslick des geistigen Diebstahls zu bezichtigen. Hanslick jedenfalls wurde damit auch charakterlich vorgeführt, und genau das dürfte Chrysander beabsichtigt haben, wie sein Nachwort deutlich macht. Wer den Hanslick-Artikel über die Beethovenfeier in der „Neuen Freien Presse“ gelesen hatte, mußte doch über Wagner lächeln und ihm allenfalls gutmütig zubilligen, eben kein Musikwissenschaftler vom Range Prof. Dr. Hanslicks von der Universität Wien zu sein, der, so war zu unterstellen, mit Editionsproblemen schon von Berufs wegen vertraut, leicht Quellenstudien treiben konnte, zumal an einem bibliographisch so reichen Platze wie Wien. Der Artikel in der „Neuen Freien Presse“ war so verfaßt, daß selbst kritische Leser nichts anderes als glauben mußten, Hanslick habe diese Quellenstudien auch wirklich betrieben und die hier zur Sprache gekommene Kollationierung selbst vorgenommen, die Ergebnisse seien also sein geistiges Eigentum, zumal er Details und sogar Taktzahlen anführte. Jetzt nun, mit der Veröffentlichung des Nottebohm-Briefes, stellte sich die Angelegenheit ganz anders dar. Nottebohm schreibt unter anderem: „Die aus Original-Manuscripten Beethoven’s geschöpften Daten, welche bei dem Beweise benutzt und ihm zu Grunde gelegt sind, hat Herr Dr. Ed. Hanslick von mir erhalten.“ Nottebohm zählt alle Einzelheiten des Hanslickschen Berichtes auf, auch die Schreibfehler an anderen Stellen, und erklärt sie als seine, Nottebohms, Informationen an Hanslick. In der Sache selbst änderte sich mit diesem Brief nichts. Wagners Vorstoß, die 9. Symphonie betreffend, blieb nach wie vor fragwürdig spekulativ, Chrysanders folgende sorgfältige Untersuchungen der angeführten Beethoven-Stellen brachten nichts Neues. Auch die Hanslick-Motivation wurde nicht deutlicher. Was sich abgespielt hat, ist eine Wiederholung des Vorgangs von 1846 auf anderer Ebene. Damals war es der einundzwanzigjährige Student, jetzt ist es der fünfundvierzigjährige Professor, der fremdes Wissen zum eigenen Glanz aufbereitet und die Quelle nicht nennt. Was man dem Studenten hingehen lassen würde, ist

II. Vorform: Der ‚Fall Hanslick‘

505

für einen Universitätsprofessor eine ehrenrührige Sache. Chrysander verfaßte denn auch eine Schlußbemerkung, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt: „Herrn Professor Hanslick’s Benehmen in dieser Angelegenheit kann Niemand ohne Verwunderung betrachten. Es ist geeignet, jedes Vertrauen nicht nur in die Zuverlässigkeit seiner Angaben, sondern selbst in die Integrität seines literarischen Charakters zu zerstören.“ Man kann Nottebohms Brief an Chrysander ebenso sachlich wie scheinheilig nennen, dasselbe gilt für die Chrysanderschen Vorbemerkungen. Wäre er nicht gegen Hanslick gerichtet gewesen, hätte man ihn nicht zu veröffentlichen brauchen. Man muß bemerken, wie sorgfältig sowohl Chrysander wie Nottebohm den Namen Wagner beiseite lassen, so als bedauerten sie, Wagner nicht besser auf Kosten Hanslicks entlasten zu können. Wie locker muß dieser Brahms-Kreis in der Tat gewesen sein, wenn man derartiges nicht ‚in der Familie‘ erledigte. Hanslick behauptete als Universitätsprofessor höchsten gesellschaftlichen Rang – Nottebohm dagegen, an Kenntnissen den acht Jahre jüngeren Hanslick unvergleichlich weit überragend, war ein armer Mann, der nichts besaß und dessen Begräbnis eines Tages sein Freund Brahms bezahlen wird, um ihm die Beerdigung im ‚platten Sarg‘ zu ersparen(3). War Nottebohm so empört über den Vorgang, mit dem man ihm das wegnehmen wollte, was er in seinem Leben erreicht hatte, nämlich seine Reputation als Beethovenforscher, so daß alle Rücksichten beiseitegeschoben werden mußten? Die Schlußfolgerung scheint berechtigt, daß entweder die Geschlossenheit im Brahms-Kreis anders als im Wagnerianer-Kreis nicht oder jedenfalls Hanslick gegenüber nicht bestand. Man muß ferner daran erinnern, wie er, anscheinend oder scheinbar absichtslos, die langjährige Freundschaft Billroths mit Brahms beeinträchtigte. Damals hatte er einen Brief Billroths erhalten, in dem neben Anerkennendem über die Musik von Brahms auch einige Bemerkungen über dessen ungebildet-schlechte Manieren standen, die Billroth auf seine Hamburger Herkunft zurückführte und für die Brahms in Wien ohnehin bekannt war. Diesen Brief gab Hanslick an Brahms weiter, angeblich, um ihn durch die gute Charakterisierung seiner Musik durch Billroth zu erfreuen. Daß in diesem Brief auch noch etwas stand, was Brahms überhaupt nicht erfreute, daran habe er, Hanslick, leider nicht mehr gedacht. Wußte Hanslick, daß Brahms dem künstlerischen Urteil Billroths mehr traute als demjenigen Hanslicks? Und war der Vorgang kein Versehen, sondern möglicherweise Absicht als Ausfluß von Eifersucht? (1) Kirchmeyer: Schmidt – Hanslick – Wagner – Hanslick – Chrysander. Beitrag zum Versuch einer Charakterstudie, Programmheft VI, Bayreuter Festspiele 1989, 17. S.; (2) s. dazu Hans Joachim Moser: Das musikalische Denkmälerwesen in Deutschland, BärenreiterVerlag Kassel 1952; (3) Der Ausdruck ‚platter Sarg‘ ist ein zeitgenössischer Begriff, mit dem man die Beerdigung von Menschen bezeichnete, die zu arm waren, um sich ein normales Begräbnis ausrichten zu lassen. Ihre toten Körper wurden in die Anatomie überführt und dort von professionellen und angehenden Medizinern zu Studienzwecken seziert. Was übrig blieb, war so wenig, daß man für die endliche Beerdigung wenig mehr als eine kleine Kiste benötigte. Vor einem solchen Begräbnis hatten damals arme Menschen große Angst. Der goldene Ohrring der Zimmerleute und Dachdecker, den diese sich von ihrem ersten selbst verdienten Geld zulegten, war nichts anderes als ein Geldstück, das dem zustand, der einen tödlich verunglückten Handwerker dieser Zunft

506

12. Kapitel: Von der wissenschaftlichen Kritik zur virtuellen Musikgeschichte ‚ehrlich‘ beerdigen ließ. Nottebohm starb am 29. Oktober 1882. Hanslick widmete ihm einen Nekrolog.

11. Chrysander – Hanslick. Hintergründe Grundlagenforscher wie Chrysander sind von Natur aus Real-Handwerker. Es sind Gelehrte, denen es um saubere Texte, um nach Möglichkeit richtige Fassungen und beweisbare klare historische Einordnungen geht. Für Überlegungen, ob, um Hanslick zu zitieren, eine Komposition eine „auf der Nachwirkung vorher verklungener Töne“ gründende Schöpfung der Phantasie ist, die „durch freies Schaffen“ entsteht und damit die Grundlage für musikalische Schönheit bildet, oder eine Melodie an sich selbst schön ist oder das Schöne nur vom Subjekt hinein gelesen wird, und Ähnliches, das nicht philosophisch, sondern ästhetisch-spekulativ ist, entwickeln sie in der Regel wenig Sinn, um es harmlos auszudrücken. Für Chrysander war Hanslick, von allem Persönlichen abgesehen, das sich aufgebaut hatte, kein Wissenschaftler, sondern ein Journalist mit Professortitel, der zudem ein Fehlurteil nach dem anderen veröffentlichte. Fachwissenschaftlich war er aus der Sicht Chrysanders nicht Ernst zu nehmen, journalistisch dagegen um so mehr zu fürchten, zumal er in der Wiener Universität Rückhalt fand und sich dank seiner Stellung in der „Neuen Freien Presse“ Wiens jederzeit öffentlich bemerkbar machen konnte. Die Nottebohm-Affaire hat ihm nicht geschadet, vermutlich hat man sie in Wiener Universitätskreisen nicht einmal wahrgenommen. Im Jahr dieses Vorfalls wurde er vom außerordentlichen zum ordentlichen Professor befördert, später wird er (wie Theodor Puschmann) Hofrat. Wenn Chrysander schreibt, er habe gleich Unrat gewittert, als Hanslick in der Beethoven-Sache plötzlich Taktzahlen nannte, so beweist diese Nebenbemerkung nur, daß er (man) Hanslick eine ernsthafte Quellenoder Archiv-Arbeit, also eine im herkömmlichen Sinne wissenschaftliche Arbeit, gar nicht zutraute. 12. Wahrheit und Dichtung oder Wahrheit und Selbstschutz? Hanslick und Rellstab scheint eine Eigenschaft zu verbinden: Ihre Darstellungen sind in den Bereichen, in denen sie überprüft werden können, mitunter auffällig unrichtig. Alfred Ebert hat 1911 einen Artikel über die erste Aufführung von Beethovens Es-Dur-Quartett Op. 127 geschrieben und dabei die Rolle Rellstabs untersucht. Er kommt zu dem Schluß: „Rellstab neigt zum Phantasieren; er gibt anregende Schilderungen auf Kosten der Wahrheit; stets bauen sie sich auf wahren Begebenheiten – Erlebtem oder nur Gehörtem – auf, aber immer sind sie zurecht gestutzt oder aufgebauscht, und meistens ist die Dichtung von der Wahrheit schwer zu trennen. – “(1) Ebert ist kein Gegner Hanslicks. Er beschäftigte sich 1913 mit den auseinanderlaufenden hermeneutischen Aussagen über Beethovens 7. Symphonie und zeigte sich davon entsetzt(2). „Ein mutiger Mann, dem der Stimmungsspuk zum Ekel geworden war, Hanslick, ist mundtot gemacht worden, weil er das Unglück

II. Vorform: Der ‚Fall Hanslick‘

507

hatte, Richard Wagners Genie nicht würdigen zu können; seine Gedanken hätten der Ästhetik wohl neue Anregungen geben können.“ Ebert erweist sich in einer seiner Behauptungen als nicht ganz korrekt. Hanslicks Schrift hat Ebert zum Trotz gewirkt, und die Fülle der Auslegungen gab es 1854 noch nicht. Erst in der Nachfolge Bülows erscheinen die kaum noch ernst zu nehmenden Inhaltserklärungen, die vor allem von seinen Schülerinnen verbreitet wurden(3). Hanslicks Verfahren gleicht dem Rellstabs. Wie dieser veröffentlichte Hanslick kompromittierende Augenzeugenberichte erst nach dem Tode der unmittelbar Betroffenen und mußte somit nicht mit einer Kontroverse rechnen. Drei Proben, die mit Wagner zu tun haben, genügen, um die Methode zu verdeutlichen. Sowohl Wagner wie Hanslick suchten Rossini in Paris auf. Beide haben über ihren Besuch berichtet. Nach Wagner verlief die Begegnung einvernehmlich. Wagner zeigte sich von Rossini angetan und auch der Weltmann Rossini verhielt sich Wagner gegenüber, so berichtet Wagner, höflich und anerkennend. Hanslick dagegen behauptete, dies sei keinewegs in der Weise, wie es Wagner schilderte, der Fall gewesen. Er habe mit Rossini über Wagner gesprochen. Hanslick war allein bei Rossini. Für sein Gespräch gibt es keine Zeugen. Wagner dagegen war nicht allein zu Rossini gegangen, sondern in Begleitung von Rossinis Freund Edmond Michotte, was Hanslick nicht wissen konnte. Michotte hat ebenfalls über die Begegnung Wagner-Rossini berichtet. Seine Schilderung deckt sich mit der Schilderung Wagners, nicht mit derjenigen Hanslicks. Die Frage bleibt offen, ob sich ein vorsichtiger Weltmann wie Rossini wirklich Hanslick gegenüber negativ zu Wagner äußern würde, und ob alles das, was Michotte erzählt, in der angegebenen Zeit von einer halben Stunde gesprochen worden sein kann. Schlimmstenfalls hat Rossini beiden Besuchern nach dem Mund geredet(4). Eduard Hanslick und Friedrich Hebbel waren in der Frühzeit durch ihr Eintreten für Schumann verbunden, später trennten sich ihre Wege. In seinen Lebenserinnerungen „Aus meinem Leben“ behauptet Hanslick, Hebbel habe schon für Malerei und Plastik kein Interesse gehabt, und Musik sei ihm noch gleichgültiger gewesen. Dabei stand Hebbel mit vielen der damals bedeutenden Musikerpersönlichkeiten in Beziehung, mit Schumann (für den er ein Libretto entwarf), Liszt, Bülow, Cornelius, und trotz der aufkommenden Konkurrenzgefühle in der Nibelungen-Sache auch mit Wagner. Er besuchte regelmäßig die Oper, mochte aber weder Meyerbeer noch Mendelssohn. Schumann, Brahms und Hugo Wolf vertonten Hebbel-Gedichte, und Hebbel beurteilte die zeitgenössischen Musikerscheinungen historisch gesehen richtiger als der Berufskritiker Hanslick. Der Hebbel-Kenner Paul Bornstein spricht von „Hanslicks gehässig kolportiertem Wiener Klatsch“ und schreibt: „Vielleicht wäre Hanslick minder ‚summarisch‘ verfahren, wenn ihn nicht Hebbel, der ihn später entschieden ablehnte, in seiner Eitelkeit verletzt hätte“(5). Theodor Billroth ist 1894 gestorben. Ein Jahr später veröffentlichte Hanslick unter dem Titel „Wer ist musikalisch?“ Billroths Äußerungen über Musik, eine Schrift, die aus dem Briefwechsel und den Gesprächen mit Brahms, Hanslick und anderen hervorgegangen ist und zu der wohl auch Billroths Assistent Dr. Büdinger beigetragen hat. Die künstlerischen Urteile über die Komponisten sind erstaunlich schief. Sie passen zu Hanslick, weniger zu Billroth. Fragwürdig ist vor allem

508

12. Kapitel: Von der wissenschaftlichen Kritik zur virtuellen Musikgeschichte

Hanslicks Behauptung, er habe mit Billroth das Meistersinger-Vorspiel vierhändig gespielt und Billroth sei an der Stelle, „wo die drei Motive aufeinander stoßen“, erregt aufgesprungen und in den Garten hinausgestürmt. „Nach einer Weile kehrt er atemlos zurück, setzt sich ohne ein Wort zu reden, ans Klavier und paukt vielleicht fünfzigmal auf den Tasten: ‚Lott‘ ist tot, Lott‘ ist tot. Lotte, die muß sterben!“ Daß Billroth im Gefolge von Brahms sowohl Wagner wie Liszt und anderen zu deren Kreis gehörenden Persönlichkeiten reserviert gegenüber stand, mag den Tatsachen entsprechen. Ein Verhalten wie das von Hanslick geschilderte ist in dieser Form jedoch unglaubwürdig. Die Schrift erschien 1912 in 4. Auflage in Berlin und wurde von Ernst Rychnovsky wegen der vielen auf Hanslicks Ästhetik-Buch beruhenden dilettantischen Äußerungen sehr kritisch besprochen, ausgenommen in den Kapiteln, in denen es um Grenzfragen ging, „dort, wo der Mediziner vor dem Musiker spricht“. Vermutlich konnte Hanslick diese Partien nicht einfärben(6). Hanslicks Abneigung gegen Liszt muß schon früh bestanden haben. Hanslick verdankte Liszt die Einsicht in die Tannhäuser-Orchesterpartitur, die noch nicht veröffentlicht war. Die bekam er vermutlich im Oktober 1846, bevor er seine Tannhäuser-Analyse druckfertig machen konnte. Georg Richard Kruse teilte 1910 einen Brief Hanslicks mit, der das Datum 8. Oktober 1846 trägt und den Kruse ‚medisant‘ nennt. Hanslick ist einen Monat zuvor 21 Jahre alt geworden. „Liszt in seinem gewöhnlichen Seiltänzerkostüm saß am Piano und komponierte. Er hatte das Manuskript aufs Knie gestützt und schmierte auf dem schon ohnehin Geschmierten mit roter Tinte so fürchterlich in Kreuz und Quer, daß man eine Sudelei von kleinen Kindern zu sehen glaubte. In seinem Zimmer waren noch, außer Benoni, vier bis fünf Wiener musikalische Lions in Atlaskrawatten und Schnurbärten, nachlässig auf dem Sopha gelagert, in Noten und Büchern blätternd und Zigarren dampfend. Liszt schwatzte, rauchend und komponierend; es war wirklich widerwärtig“(7). Nur wenige Jahre später wird Hanslick seinen devoten Bittbrief an Liszt abschicken, ihm doch zum Druck seiner Ästhetik-Schrift zu verhelfen. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, wann diese tiefinnerliche Abneigung zum offenen, hier: öffentlichen Durchbruch gelangte. Und da man Hanslick immer wieder Eitelkeit nachsagte: Hatte der Komponist und Kapellmeister Liszt vielleicht zu sehr den wissenden Meister abgegeben, der den unwissenden Schüler belehrte? (1) Alfred Ebert: Die ersten Aufführungen von Beethovens Es-Dur-Quartett (Op. 127) im Frühling 1825 (Schluß), Mus IX/14 [Band 35, 2. Aprilheft] 1910, S. 90–108, Z:108; (2) Alfred Ebert: Der Stimmungsgehalt der siebenten Symphonie von Beethoven, Mus XII/13, [Band 47, 1. Aprilheft] 1913, S. 30–39, Z:39; (3) Kirchmeyer, Strawinsky, a. a. O. S. 170 ff.; (4) Edgar Istel: Rossiniana. II. Wagners Besuch bei Rossini, Mus XI/11, [Band 42, 1. Märzheft] 1912, S. 259–277 und Mus XI/12, [2. Märzheft] 1912, S. 342–355; (5) Paul Bornstein: Friedrich Hebbel in seinen Beziehungen zu Musik und Musikern, Mus VIII/23, [Band 32, 1. Septemberheft] 1909, S. 259–289, Z:261-Anm.1 und159-Anm.3; dazu Adolf Stübing: Hebbel in der Musik, Beckmann-Verlag Berlin 1913; (6) Ernst Rychnovsky: Theodor Billroth: Wer ist musikalisch? Nachgelassene Schrift, herausgegeben von Eduard Hanslick. Vierte Auflage. Verlag: Gebrüder Paetel, Berlin 1912, Mus XII/13 [Band 47, 1. Aprilheft] 1913, S. 41a–42a;

II. Vorform: Der ‚Fall Hanslick‘

509

(7) Georg Richard Kruse: Otto Nicolais Beziehungen zu den Tondichtern seiner Zeit, Mus IX/18, [Band 35, 2. Juniheft] 1910, S. 339–365, Z:360.

13. Die Beckmesser-Tragödie Die Prügelszene in den „Meistersingern“ verführt dazu, sie als Theaterklamauk zu inszenieren und aus Beckmesser das „Urbild aller Simplizissimus-Idioten“ zu machen. Richard Rote fragte 1910 an: „Darf man einem Richard Wagner zumuten, er hätte an einem Hanswurst Rache genommen“(1). Beckmesser ist einsam, verbittert, neidisch, seiner Regel gemäß, die er verteidigen muß, entwicklungsfeindlich; aber er ist kein Narr. Er ist von großem Verstand und er versteht sein Metier. Aber alles dieses muß er preisgeben, weil er seine rationale Ebene verläßt und sich auf eine irrationale, auf die Liebe, abdrängen läßt. Nach Rote ist eine Inszenierung nur dann der Vorstellung Wagners gemäß, wenn sie zeigt, wie Beckmesser aus Liebe Schritt für Schritt seinen Verstand verliert, wenn sie zeigt, was die Liebe aus einem Menschen machen kann. Wenn Wagner wirklich auch von dieser Sicht und nicht nur von der Darstellung des negativen Prinzips an sich ausgegangen sein sollte, wäre die Einladung an Hanslick, der Vorlesung des Meistersinger-Textes beizuwohnen, nur noch bedingt als Absicht mit Hintergedanken und schon gar nicht mehr als gewollte Beleidigung zu verstehen, vor allem dann nicht, wenn eine umstrittene persönliche Begegnung Wagners mit Hanslick zuvor wenigstens annähernd der Wahrheit entspräche(2). (1) Richard Rote: Beckmesser. Ein Rettungsversuch, Mus IX,18 [Band 35, 2. Juniheft] 1910, S. 367–371, Z:368; (2) In einer Feuilleton-Arbeit „Wagner und Hanslick“ für das „Musikalische Wochenblatt“ (VIII/28, 6. Juli 1877, S. 388a–389b) berichtet Tappert von einer Gesellschaft im Hause Dustmann-Meyers während der Vorbereitung zum „Tristan“, zu der Hanslick eingeladen wurde. Man war der Meinung, ohne Hanslicks Hilfe könne man die Oper in Wien nicht zum Erfolg bringen, was sich später als falsch herausstellte. Bei dieser Gelegenheit sei es zu einem Gespräch zwischen Hanslick und Wagner gekommen, über das Hanslick mit der Maßgabe, wie er sich anschließend darüber bei Bekannten äußerte, angenehm erfreut gewesen sei. Hanslick habe beteuert, man mißverstehe seine Intentionen. Er wünsche lediglich Belehrung. Das sei für Wagner die Veranlassung gewesen, ihn zur Meistersinger-Vorlesung einzuladen. Hanslick hat dieses Gespräch bestritten. Tapperts Darstellung läßt Zweifel aufkommen. Sicherlich haben Hanslick und Wagner miteinander gesprochen; aber daß Hanslick in „Thränen und Schluchzen“ ausgebrochen sein soll, wirkt ohne Bestätigung durch einen Dritten unglaubwürdig.

14. Opposition als kritisches Prinzip Hanslick verkörperte keineswegs den Typ des gehässigen Negationskritikers, wohl den des aufspürenden Oppositionskritikers. Sucht man ihn dort auf, wo er als Tageskritiker ausschließlich aufgesucht werden muß, nämlich in seiner nicht allein auf die Großen der Zeit bezogenen Wiener Alltagskritik, findet man dafür schlüssige und keineswegs überraschende Hinweise. Sein Leitgedanke, ein Komponist

510

12. Kapitel: Von der wissenschaftlichen Kritik zur virtuellen Musikgeschichte

müsse bekämpft werden, sobald er begänne, berühmt zu werden, zeigt, daß er sich als ausgleichende Opposition verstand. Hanslick hat, wenn man von seinen Lieblingen absieht, tatsächlich alles bekämpft, was über den normalen Stand seiner Zeit hinaus wies. Die Abneigung gegen ihn, läßt man die ironische Schreibweise einmal unberücksichtigt, beruhte mit Sicherheit nicht auf den Einzelkritiken, sondern aus dem Wissen um die oppositionelle Motivation negativen Prinzipiencharakters, das aus seinen Alltagskritiken spricht. Deshalb ist das Problem auch nicht lösbar gewesen, auch nicht mit dem Verweis auf Ablagerungen französischer Vorstellungen. Hanslick wirkt janusköpfig. Er ist einerseits der durchaus ernst zu nehmende Musikästhetiker, der am Anfang einer spekulativen autonomen Musikästhetik steht, und andererseits der Tageskritiker, der seinen kritischen Anspruch aus der Autorität ableitet, die ihm als Autor einer vielfach diskutierten spekulativen Ästhetik zukam, sowie aus der in Berlin zeitgenössisch definierten Rechtsstellung als fachkompetenter Berufskritiker mit einer Art von Weisungsbefugnis. Mit seiner „Tannhäuser“-Kritik von 1846 war er vordergründig zunächst gebunden. Vermutlich hätte er schon sie nicht geschrieben, wäre Wagners Aufsatz über das Judentum in der Musik vor seinem Besuch in Marienbad erschienen. Vom späteren Standpunkt Hanslicks aus war sie unlogisch. Wenn er schon den „Lohengrin“ verdammte, wie hätte er als ein Aesthetiker, dem metaphysische Fragestellungen fremd waren, mit der christlichen Lösung Entsagung statt Erfüllung des Tannhäuser-Konfliktes zurecht kommen sollen, ohne sich selbst aufzugeben. Für diese Annahme spricht auch eine Bemerkung Hanslicks in seiner Kritik über das Wiener Wagner-Konzert von 1872, die von den „Signalen für die musikalische Welt“ aus der „Neuen Freien Presse“ übernommen wurde und in der Hanslick die Pariser Fassung der Tannhäuser-Ouverture mit einem schon verächtlich klingenden Unterton weit über die des Dresdner Originals stellt, „deren effecthaschender Schluß doch nur eine ohrenpeinigende Uebertragung Thalbergscher Umspielungen auf das Orchester ist“(1). Gerechterweise muß hinzugefügt werden, daß Hanslick auch 1846 Abstriche an der Ouverture machte, aber zugestand, in ihr zeige sich schon Wagners Kunst der Instrumentation in voller Höhe. (1) Ed. Hanslick: Das Wagner-Concert in Wien, SfdmW XXX/27, 21.5.1872, S. 417–421, Z:421.

15. Hanslick, Wagner und Böhler Der scharf blickende wagner- und brucknerfreundliche Scherenschnitt-Karikaturist Otto Böhler zeichnete 1870 die beiden Berühmtheiten mit einer Treffsicherheit, die das Endkapitel eines dem Thema Wagner-Hanslick gewidmeten Buches durch ein einziges Bild ersetzen könnte. Man sieht (links vom Betrachter aus geschaut) Hanslick, mit Imponiergehabe auf einem Merkerstuhl ohne Lehne sitzend, hinter sich auf einem verhängten dreibeinigen kleinen Tisch ein Tintenfaß. In der rechten Hand hält er eine überproportional gelängte Schreibfeder (Gänsefeder) mit abwärts gerichteter Spitze, mit der waagerecht ausgestreckten linken Hand deutet er gebieterisch nach unten, als wolle er ein Anathema aussprechen oder von seinem Gegen-

II. Vorform: Der ‚Fall Hanslick‘

511

über verlangen, sich vor ihm in einer Art von Verknechtungsritus zu beugen. Dieses Gegenüber ist Wagner. Der stehende Wagner erscheint von der Statur größer als Hanslick. Er greift mit seiner linken Hand gelassen in seine Schnupftabaksdose und schaut den grimmen Hanslick selbstbewußt und eher etwas ironisch lächelnd an, als nähme er ihn nicht ganz ernst. Wagner konnte sich das erlauben. Bruckner dagegen war gehalten, seine 7. Symphonie statt in Wien in München uraufzuführen; „ich kann in Wien nichts mehr aufführen lassen, weil mich der Hanslick und seine G’sell’n so verreissen, dass ich keinen Verleger find“, bezeugte Hans Richter(1). Darüber hinaus legte man Hanslick (aus heutiger Sicht faschistoide) Äußerungen in den Mund. Nach einer (unverbürgten) Mitteilung Richard H. Steins soll Hanslick dazu aufgefordert haben, Wagner zu untersagen, den „Ring“ zu komponieren(2), desgleichen auch, man müsse Bruckner das Komponieren verbieten. Böhler zeichnet Hanslick mit einer Gänsefeder in der Hand; aber schon seit der Mitte des Jahrhunderts waren selbst in den Schulen die Gänsefedern durch Stahlfedern ersetzt worden. Wollte Böhler Hanslick mit seinem antiquierten Schreibgerät zusätzlich als kulturell rückständig charakterisieren? (1) Hans Richter: Offener Brief an den Herausgeber der ‚Musik‘, Mus VI/3, [1. Quartal = Band 21] 1. Novemberheft 1907, S. 166–167, Z:157; (2) Richard H. Stein: Das Vierteltonproblem II, Mus XV/10, [2. Halbjahresband] Juli 1923, S.741– 746, Z:746.

16. Standortfrage und Herkunft Es ist eine Standpunktsfrage, ob man Hanslick, wie es beispielsweise bei Rudolf Schäfke geschieht, als den Bodensatz einer im Formalismus erstarrten Ästhetik des 18. Jahrhunderts, somit als abgesunkenes Ideengut des deutschen Idealismus betrachtet, oder ob man, wie Dietmar Strauß, in seiner Arbeit die Grundlegung einer neuen ästhetischen Qualität sieht, die sich nach dem Ende des deutschen Idealismus entwickelte und für die neben anderen Namen Autoren wie August Halm oder Siegmund von Hausegger stehen. Beides kann bewiesen und gegenbewiesen werden. In diesem Zusammenhang geht es allerdings nicht um Ästhetik, sondern um Musikkritik, beziehungsweise um Ästhetik nur insoweit, als sie einen der Schlüssel zum Verständnis eines besonderen musikkritischen Verhaltens liefert. Gewiß ist nur, daß sich ohne die kurz vor 1850 verbreitenden und besonders in der „Neuen Berliner Musikzeitung“ mit ihrem alle Grenzen sprengenden Anspruch behaupteten Kritiker-Thesen von der Kritik als der weisenden Instanz, der ein Künstler zu folgen habe, die bis ins hohe Alter hinein unerschütterliche Urteils-Selbstsicherheit (nicht nur Hanslicks) nicht zu erklären wäre. Zwischen der Berliner Anschauungsweise und der Wiener Verhaltensweise besteht in dieser Zeit eine bemerkenswerte Affinität. Langes von Leipzig aus als Hybris betrachteter Anspruch, der Künstler stehe unter dem Kritiker, trifft sich mit der praktizierten Selbstsicherheit Wiener Kritiker, sich im Mittelpunkt der wahren Kunsterkenntnis zu befinden, nach der sich die minder ausgebildeten Musikliebhaber ebenso wie die professionellen Musiker künftig zu richten haben, wenn sie nicht Gefahr laufen

512

12. Kapitel: Von der wissenschaftlichen Kritik zur virtuellen Musikgeschichte

wollen, als Publikum für unmündig erklärt und als Künstler beschimpft zu werden. Für Lange war es selbstverständlich, für seine Wiener Korrespondenzen Hanslick auch mit dem Thema Wagner zu gewinnen. Hanslick ist nicht der einzige, der sich unter Berufung auf das gewonnene kritische Selbstbewußtsein als vorschriftsberechtigte Instanz sieht, die sich für befugt hält, den zeitgenössischen Komponisten zwingende Anweisungen in Form von persönlichkeitsbezogenen musikästhetischen Vorstellungen zu geben. Danach soll die Musikgeschichte künftig nicht mehr von Komponisten, sondern von Kritikern geschrieben werden, deren privatästhetischen Vorgaben zu folgen ist, mehr noch, Otto Lange schloß den Komponisten sogar ausdrücklich als kritikbefähigte Instanz aus, weil der Komponist, anders als angeblich der Kritiker, befangen sei. Der Kritiker fühlt sich wie ein militärischer Oberbefehlshaber, der als einziger das Geschehen wirklich überblickt und es zum Nutzen der Gesellschaft in die vermeintlich erforderlichen richtigen Bahnen zu lenken hat. Er findet das eine gut, das andere schlecht, und das ist einfach so, weil er es sagt, und er sagt es, weil er der Kritiker ist, und weil er es selbst dann weiß, wenn er nicht einmal richtig Noten lesen könnte. Daß die Realität anders verläuft, ist allein dem Irrtum der Künstler zuzuschreiben, nicht dem Versagen der Kritiker. Daß der ästhetischen Vorstellung Hanslicks im Musikleben keine Realität entspricht, ist Schuld der Uneinsichtigkeit der Künstlerschaft, nicht der Uneinsichtigkeit der Kritikerschaft. Daß ihr gar keine Realität zukommen kann, weil das Verhältnis Kritiker-Künstler umgedreht worden ist und sich zudem aus dem verschwommenen Spekulieren von Kritikern, die zum größten Teil nicht einmal die Anfangsgründe des kompositorischen Handwerks beherrschen, keine realpraktischen Ergebnisse ableiten lassen, spielt keine Rolle; und jenen allzu häufigen Fall hütet man sich anzudenken, daß dort, wo das Kunstwerk einer gewünschten Vorstellung wenigstens nahe kommt, aber trotzdem nicht erkannt wird, die Negation bestehen bleibt. Die eine Oper von Verdi ist (findet er) gut, die andere schlecht, die früheren zeigen Verdis „gemeine Natur“, die späteren sind besser, sagt Hanslick. Nicht Hanslick irrt sich – Verdi irrt sich, die Musikgeschichte irrt sich. Und wenn dem Wiener Publikum Wagners „Holländer“ gefällt, dann fordert er das Publikum ernsthaft auf, sich dafür zu rechtfertigen. Es zeigen sich merkwürdige Übereinstimmungen mit dem geistig und vor allem sprachlich nicht mit Hanslick zu vergleichenden Schladebach. Als er 1846 zu seinem Schrecken den Erfolg der 9. Symphonie unter Wagner in Dresden erleben mußte, schrieb er in Woldemars Geist gegen die Symphonie an und behauptete seinen Riesenartikel am Ende als „Andeutungen“ [IV,662]. Wie Hanslick kann Schladebach andere Meinungen nicht gelten lassen, sondern beschuldigt diejenigen, die sie nicht teilen, zur ungebildeten großen Masse zu gehören, die Urteile „sogenannter Autoritäten“ wie Papageien nachplapperten, bis sich „diese Leutchen so eifrig in das gerade Gegentheil ihrer eigenen gesunden Gefühle und Ansichten“ hineinredeten, daß sie selbst „steif und fest“ daran glaubten. „Hand auf’s Herz, freundliche Leser, haben’s nicht Viele von euch selber schon so gemacht?“(1) Er will unter keinen Umständen den Erfolg der Symphonie wahrhaben und redet ihn als vom Publikum quasi geheucheltes Wohlgefallen hinweg. Hanslick reagierte nicht viel anders. Er verlangte Aufführungen Wagnerscher Musik in Wien, als die dort noch nicht be-

II. Vorform: Der ‚Fall Hanslick‘

513

kannt war, und er verlangte sie sicher auch mit dem Hintergedanken, sie erfolglos zu sehen. Als die Aufführungen kamen und nicht nur einen für ihn unerwarteten, sondern einen überwältigenden Erfolg hatten, war er geradezu entsetzt. „Die Kritik darf gegen die Deutung protestiren, daß der jüngste Theater-Fanatismus das Urtheil des musicalischen Wien über die Wagner’schen Opern ausdrück!t“(2) Und man wolle doch nicht ernsthaft behaupten, so schrieb er, die Musik des „Fliegenden Holländers“ habe dem Beifall klatschenden Publikum gefallen. „Glaubt ein musicalisches Publicum wirklich, seine Verherrlichung des ‚Fliegenden Holländers’ rechtfertigen zu können?“(2) Der Einzelne aus dem als Ganzheit gescholtenen Publikum wird betroffen genug gewesen sein, um die rhetorische Frage mit einer ebenso rhetorischen Gegenfrage zu beantworten, bei oder vor wem und warum überhaupt sich jemand nicht nur erklären, sondern ausdrücklich dafür rechtfertigen soll, weil ihm eine Musik gefallen habe. Hanslick nennt Wagner einen Halbmusiker, der sich „ein neues System geschaffen hat, ein System, das in seinen Grundsätzen irrig, in seiner konsequenten Durchführung unschön und unmusikalisch ist.“ Nicht Hanslick also hat sich ein falsches Wertungssystem zurechtgelegt, nicht Hanslick ist ein Halbmusiker, sondern Richard Wagner, und alle ihm bekannt gewordenen Jahrhundertkomponisten haben falsch, weil nicht im Sinne Hanslicks, komponiert. Die Wiener Lokalgröße Ludwig Speidel steigerte sich dabei in derart abstruse Sphären, daß der Hinweis auf eine krankhafte Gemütsverfassung aus Eitelkeit, Unwissenheit und Selbstüberschätzung nicht mehr von der Hand zu weisen ist. Das Ergebnis seiner Eindrücke der Festspiele von 1876 faßte er im Wiener „Fremdenblatt“ vom 15. Oktober zusammen: „… das deutsche Volk hat mit dieser nun offenbar gewordenen musikalisch-dramatischen Affenschande nichts gemein, und sollte es an dem falschen Golde des ‚Nibelungen-Ringes‘ einmal wahrhaftes Wohlgefallen finden, so wäre es durch diese bloße Tatsache ausgestrichen aus der Reihe der Kunstvölker des Abendlandes“. Speidel charakterisiert sich mit einer solchen Äußerung selbst. Das Wort Affe hat es Speidel angetan. Schon zuvor, am 20. August desselben Jahres, hatte er Wagner einen „Affen der Realität“ genannt(3). Sein Mahler-Verdikt schrieb Hanslick vier Jahre vor seinem Tod. Er war 75 Jahre alt. Die schlimmsten Fehlkritiken lagen hinter ihm; die meisten seiner unfreiwillig Betroffenen lebten nicht mehr. Wagner starb 1883, Liszt 1886, Tschaikowsky 1893, Bruckner 1896; auch Brahms war 1897 verschieden. Hanslick berührte es nicht, daß die Musikgeschichte einen anderen Verlauf als von ihm verlangt genommen hatte. Er betrachtete sich als „die Kritik“ schlechthin und hielt sich an der Utopie seines Ästhetik-Buches, an seiner Amtsautorität und seiner Kritikerwürde fest, und nicht er, sondern die Realität war im Unrecht(4), und nicht nur die Realität, sondern auch das Konzert- und Opernpublikum und das gesamte vergangene Halbjahrhundert waren es. Es sei an eine Bemerkung erinnert, die 1835 in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ zu finden ist: „Wofür Jemand keinen rechten Sinn hat, das wird er falsch beurtheilen und je geistreicher er sonst ist, desto gefährlicher und verführerischer wird sein Irrthum sein und habe er das Wesen vom Orient, von Griechenland und Rom in sich aufgenommen, so wird seine Ungerechtigkeit gegen die von ihm verkannte Kunstseite nur um so qualificirter sein; denn er wird all sein Denken als Waffe gegen sie gebrauchen, um ihr den Raum und Wirksamkeit streitig

514

12. Kapitel: Von der wissenschaftlichen Kritik zur virtuellen Musikgeschichte

zu machen“(5) [II,306]. Hätte sich Hanslick an seinem Lebensende anders verhalten, hätte er sich selbst aufgeben müssen. Damit ist die virtuelle Musikgeschichte geboren, und wenn schon Hanslick als Musikästhetiker nicht als das Ende eines rationalistischen Formalismus zu sehen wäre, bildet er doch der Folgen wegen den ersten bedeutenden Fall einer virtuellen Musikgeschichtsbetrachtung. (1) Der verschroben-plumpe Bandwurmstil und die Selbstgerechtigkeit der Behauptungen bedürfen keines Kommentars: „Aber freilich, zu den Hyperenthusiasten gehören wir nicht, die nun auch jede seiner Schöpfungen, eben weil sie von ihm herrührt, für das Höchste halten, was geleistet werden könnte, die sich abquälen, auch die Verirrungen (und je großartiger der Charakter, desto großartiger auch diese Verirrungen!), die gerade bei seinem gesammten Lebensgange so leicht erklär- // lich werden, als tiefe Schönheiten, als das non plus ultra der Genialität darzustellen, und dabei zu Hypothesen, zu Erklärungsversuchen, der mannichfachsten Art ihre Zuflucht nehmen, die, so gutgemeint an sich sie auch immer sein mögen, eben Nichts beweisen, als daß der Tonsetzer über das Maaß hinausgegangen, das auch der Kunst als einer endlichen Erscheinung, mag sie auch die Ahnung des Unendlichen im höchsten Begeisterungsschwunge unserem Gefühle zu vermitteln berufen sein, gesetzt ist, und das der Künstler bei aller individuellen Freiheit festzuhalten hat, will er nicht die Grenze der ewigen Schönheit überschreiten und in die kalten Regionen des Wunderlichen, des Barocken hineinführen, wo die formlosen Ungestalten, selbst wenn der Funke der Genialität hier und da aus ihnen aufblitzt, wohl momentane Bewunderung erregen, aber nimmer Freude an der Schöpfung, wahre Geistes- und Herzensbefriedigungen gewähren können, mag man sich auch selbst belügen und sich und Andere bewußt oder unbewußt zu überreden suchen, daß man wirklich diese Befriedigung, diese reine Freude, diesen Vollgenuß der Schönheit (wir reden nicht von sinnlichem Genuß) hier gefunden habe.“ (Abend-Zeitung XXX/16, 16.4.1846, S. 379a–384b, Z:380a–b, Anmerkungszitat S. 380a–180b). Schladebach hat die Arbeiten von Marx, Ortlepp, Fröhlich und Großheim gekannt, somit also auch Woldemar. Er kritisiert in demselben Zusammenhang Jean Paul („seine scheinbar gedrechselte und doch holperige“ Sprache), und das viele „gänzlich Unbedeutende“ bei Goethe. Daß ein solcher Text überhaupt erscheinen konnte, hängt mit dem Besitzerwechsel der Dresdner „Abend-Zeitung“ 1843 von Theodor Winkler zu Robert Schmieder zusammen. Unter Winkler (Theodor Hell) wäre es zu solchen Pamphleten nicht gekommen. Schmieder, von Hause aus Jurist, konnte sich seines rüden Stils wegen in Dresden nicht lange halten und verließ die Stadt schon 1848; (2) s. Kirchmeyer: Tristans erster Besuch in Wien. Betrachtungen zur Divergenz von Kritikerurteil, Publikumsgeschmack und Werkwert, Programmheft der Deutschen Oper am Rhein zu „Tristan und Isolde“, Düsseldorf/Duisburg 1995, S. 2–9; (3) zitiert nach Wilhelm Tappert, Wörterbuch der Unhöflichkeit; (4) s. Kapitel 1, Abschnitt 2 (Schelling) mit dem tiefsinnigen Studentenwitz über Hegels Philosophie, die nicht mit der Realität übereinstimme, und Hegels Antwort: Um so schlimmer für die Realität; (5) NZfM -/10, 3.2.1835, S. 39b.

II. Vorform: Der ‚Fall Hanslick‘

515

17. Nachrufe Die zahlreichen Nachrufe auf Hanslick waren parteienzugeordnet und als Echo überwiegend unrühmlich. Zu tief saß die Empörung vor allem über das, was er Bruckner angetan hatte. Nachrufe, die sich der Parteizugehörigkeit enthielten, waren selten. Die Verantwortlichen in der „Neuen Freien Presse“ mußten sich natürlich affirmativ äußern. Sie stellten seine sprachlichen und feuilletonistischen Leistungen heraus. Was blieb der Zeitung im Jahre 1904 auch anderes übrig! Die Fehlleistungen Hanslicks lagen inzwischen selbst für den Uneinsichtigsten offen zu Tage. Guido Adler wurde vermutlich zu einem der Nachrufe in der „Neuen Freien Presse“ aufgefordert und fand anders als der Vater des von Hanslick geförderten Komponisten Korngold (Dr. Julius Korngold, der Hanslicks Wirken lobend herausstellt), eine diplomatische Wendung, „Sein Irren beruhte auf einer höheren Überzeugung“(1), was immer diese gewesen sein soll, und er fügt hinzu: „Die musikalische Kritik wird ihn noch lange als einen ihrer geistigen Führer ansehen.“ Die „Neue Freie Presse“ erinnerte ein Jahr später noch einmal an Hanslick. In ihrer Nummer 14710 von 1905 zeigte Hugo Wittmann alle sympathischen Seiten Hanslicks auf und in der Folgenummer (14711) leitete sie die Vorwürfe gegen Hanslick aus dessen Naturveranlagung ab(2). Im „Leipziger Tageblatt“ erkannte Paul Zschorlich Hanslicks Stil und scharfen Geist an, sprach ihm gleichzeitig „Masslosigkeit, Boshaftigkeit und Mangel an Gemüt“ zu und bezeichnete ihn als „einen der grössten Schädlinge in der Kunst“. Aus vielen dieser Nachrufe spricht blanke Wut, etwa im Aufsatz „Wider die falschen Propheten“, der am 10. September 1904 in der „Breslauer Zeitung“ erschien und von Schuster in seiner Halbmonatsschrift kommentiert wurde.(3) In Nr. 516 des Periodikums „Die Zeit“ wird Hanslicks große feuilletonistische Begabung herausgestellt. Gerade sie sei dem musikalischen Element schädlich gewesen. Um eines guten Witzes wegen habe Hanslick alles andere geopfert. „Hätte sein kritisches Wirken unter einem Amtseid gestanden, er wäre gewiss wegen Übertreten dieses Amtseides vom Amt suspendiert worden“(4). Hanslick blieb als Negativkritiker alles folgenreich Großen in der Erinnerung. Es ist nur noch der Verfasser der Schrift zur Ästhetik, mit dem man sich ernsthaft beschäftigt. Rudolf Louis faßte es in einem für die „Süddeutschen Monatshefte“ 1904 (Nr. 7) geschriebenen Aufsatz „Anton Bruckner in Wien“ mit dem Satz zusammen, Hanslick sei es nur gelungen, dem „Genius das Leben zu verbittern und sich selbst vor der Nachwelt zu kompromittieren“(5). (1) Neue Freie Presse 1904, Nr. 14353, dazu Mus IV/3, 1. Novemberheft [1. Quartal = Band 13] 1904, S. 180; (2) Neue Freie Presse 1905, Nr. 14710, dazu Mus V/2, 2. Oktoberheft = 2. Bachheft [1. Quartal = Band 17] 1905, S. 135; (3) Mus IV/6, 2. Dezemberheft [1. Quartal = Band 13] 1904, S. 439; (4) Mus IV/4, 2. Novemberheft [1. Quartal = Band 13] 1904, S. 272; (5) Louis, Mus III/24, 2. Septemberheft [4. Quartal = Band 12] 1904, S. 466.

516

12. Kapitel: Von der wissenschaftlichen Kritik zur virtuellen Musikgeschichte

III. VIRTUELLE MUSIKGESCHICHTE 1. Vorverständnis. Der Komplex „Virtuelle Musikgeschichte“, mancherorts auch als Fiktionale Musikgeschichte bezeichnet, hat, wie die Hanslick-Deutung zeigt, Vorformen im 19. Jahrhundert, entwickelt sich aber umfassend erst nach dem Ersten Weltkrieg. Er entzieht sich damit dem hier gesetzten Zeitrahmen und ist außerdem so umgreifend, daß er nicht als Nachhang-Kapitel behandelt werden kann. Wohl sollte er kurz gestreift werden. 2. Normative Kraft des Faktischen Mit normativer Kraft des Faktischen bezeichnen Juristen Vorgänge, die dem geltenden Recht widersprechen, aber so gewichtig geworden sind, daß das Gesetz geändert werden muß, weil die Vorgänge nicht mehr unterdrückt werden können. Um beweiskräftig zu machen, daß etwas nicht stimmt, muß man Fiktionen wenigstens für einen Augenblick so behandeln, als seien sie Realität. Musikkritisch heißt das, Ab- oder Aufwertungen einer Sache sind zunächst auch dann als Realität hinzunehmen, wenn die Sache selbst in der Realität nicht nachzuweisen ist, aber die Fiktion davon gesellschaftlich berücksichtigt wird und dadurch Folgen nach sich zieht, die zu einer Realität werden, mit der man sich auseinandersetzen muß. Virtuelle Musikgeschichte ist somit immer fiktional. Sie beruht auf einem Ereignis, das nie oder nicht in der behaupteten Weise stattgefunden hat, über das man aber spricht, als habe es stattgefunden. Die Auseinandersetzung setzt als Folge der Fiktion eine Realität, so daß aus einem Nicht-Ereignis in dessen Ableitung ein Ereignis wird, das zur Lehrmeinung werden und in die Nachschlagewerke eingehen kann. Beispiele für das 20. Jahrhundert sind etwa die von Henri Collet und Jean Cocteau frei erfundene und von Stuckenschmidt nach Deutschland verbrachte Legende von der „Gruppe der Sechs“ (Les Six), die es nie gegeben hat(1), oder Adornos Thesen vom Antipodentum Schönberg-Strawinsky als Fortschritt-Rückschritt, und dergleichen. Auch die von Kross widerlegte Darstellung der Symphonie-Geschichte des 19. Jahrhunderts durch Carl Dahlhaus dürfte hierhin gehören (2). Virtuelle Musikgeschichte ist daher nicht mit Spaß aus Überdruß am Wissen (Riemann-Traktat, Jägermeier, Baldini, Bicchini, Bach-Sohn) oder mit Irrtum zu verwechseln, wohl ist sie mit wie auch immer motivierter, etwa ideologisch bedingter Fälschung, oder mit Selbsttäuschung aus eigenem Interesse, oder folgenreichem Halbwissen, das als Informationsdemagogie auftritt, in Verbindung zu bringen, oder mit einer Meinungsbildung, die wie selbstverständlich übernommen und weiter getragen wird, ohne daß man sich veranlaßt sähe, nach dem Rechtsgrund zu fragen. (1) Kirchmeyer: Ideologische Reflexion und musikgeschichtliche Realität, a. a. O. S. 258–267; (2) Siegfried Kross: Das Zeitalter der Symphonie – Ideologie und Realität, in: Probleme der symphonischen Tradition im 19. Jahrhundert, Kongreßbericht, herausgegeben von Siegfried Kross unter Mitarbeit von Marie Luise Maintz, 569 S., 1990, S. 11–36. Dahlhaus zeigte sich von der

III. Virtuelle Musikgeschichte

517

Beweisführung so beeindruckt, daß er nach Bonn kommen und mit Kross darüber diskutieren wollte. Der Tod von Dahlhaus vereitelte das Gespräch.

AN STELLE EINES NACHWORTES. [VORLÄUFIGES] FAZIT Unter der (bestreitbaren) Voraussetzung, daß die Bedeutung eines Musikkritikers nicht auf der Eleganz seiner Sprache, dem eingebrachten Wissen oder der Kunst geistreicher Formulierung beruht, sondern auf einer auch gegen Widerstände ausgesprochenen zeitgenössisch richtigen und im weiteren Verlauf der Geschichte bestätigten Bewertung einer Kunsterscheinung, vermögen Systeme und Methoden hilfreich wie hemmend sein, wenn sie angemessen oder unangemessen benutzt werden, ohne daß sie bloße unbegründete oder unbegründbare Empfindungen als Weg zu einem zeitgenössisch und auch historisch tragenden Ergebnis ausschließen. Es erklärt, warum unprofessionelle Musikliebhaber und sogar fachfremde Laien von ihrem Gefühlsverständnis her eine neue Kunsterscheinung erkennen (erfahren) und professionell ausgebildete Musiker und Musikkenner sie als Folge einer assoziierenden Apperzeption fehleinschätzen können. Auszunehmen sind aus Prinzip erfolgende abwertende Äußerungen, die nach Ablauf einer bestimmten Zeit dadurch nur scheinbar richtig werden, daß sich der Epochengeist geändert hat. Kritik ist immer nur die sachliche Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk; wird der Boden der Sachlichkeit verlassen, deformiert sich die Aussage zur Polemik, die sich in der Regel schon an der Heftigkeit und der Wortwahl ihrer Sprache verrät und nach einer kurzen Augenblickswirkung in die Belangslosigkeit versinkt. Der Wert (nicht die Wirkung) eines Musikstücks ist rational feststellbar. Er ist im europäischen Raum unter Berücksichtigung der Zeitzonenzugehörigkeit aus historischer Richtigkeit, kompositorischer Stimmigkeit und Funktionsreichtum einer Komposition zu ermitteln. Das Gefallen am Kunstwerk vollzieht sich im Irrationalen und ist rational nicht erklärbar. Es ist abhängig vom betrachtenden Subjekt und den mentalen Komponenten, die es mitbringt. Darunter fallen Alter, Bildungsstand, Erfahrung, Erwartungshaltung, persönliche Beziehungen, Charakterveranlagung, religiöse oder konfessionelle Bindungen oder Nichtbindungen, eigene Interessen, Wissen, Sichtweisen, Musikalität, nationale Zugehörigkeit, Modetendenzen, und das gesellschaftliche Umfeld im weitesten Sinne. In beiden Fällen wird der Urteilende in seiner Zeit nicht entlastet, gleich, ob er sich negativ oder affirmativ verschätzt. Ein zeitgenössisch verwerfendes oder bejahendes Urteil kann durch den weiteren Verlauf der Musikgeschichte ebenso richtig wie falsch werden. Die Geschichte der Fachkritik ist keineswegs eine Geschichte der Fehlkritik, sondern mit gleicher Wertigkeit eine solche der richtigen Einschätzung, und Erfahrungsfähigkeit und Gefühlsverständnis eines Laien können ebenso auf eine richtige wie auf eine falsche Bahn leiten. Das Bemühen um gerechte Würdigung alter, älterer und neuer Kunsterscheinungen ist im sophistischen Sinne dialektisch. Alle Methoden und ihre Begründun-

520

An Stelle eines Nachwortes. [Vorläufiges] Fazit

gen nutzen nichts, wenn die innere Aufnahmebereitschaft fehlt oder das Urteil von werkfremden Kategorien bestimmt wird. Damit wird Kritik zu einer Charaktersache und fällt in den Bereich der Moral. Alles das gilt nur noch bedingt, wenn das Kunstereignis den Charakter eines Symbols annimmt. Dann verläßt das Urteil den kunstbezogenen Sachzusammenhang und geht in einen gesellschaftspolitischen Raum ein, in dem andere, nicht mehr kunstkritisch zu greifende Gesetze das Verhaltensmuster und davon abgeleitet die Bewertung bestimmen.

REGISTER(1)

A. C. H., s. Henriette aus dem Winckel Abert, Hermann 53, 56, 60 Adam, Adolphe 56 Adler, Guido 515 Adlerstein, R. v. 332 Adorno, Theodor W[iesengrund]. 130, 516 Aischylos 466 Akademie Verlag 479 Albert, Prinz 320 Albrechtsberger, Johann Georg 363 Allegri, Gregorio 238 Altmann, Wilhelm 189 Ambros, August Wilhelm 409 Anaximander 489 Aristoteles 21, 314, 486, 489 Artaria, August 49, 503 Artôt, Marguerite Joséphine Désirée 496 Aschendorf Verlag 43 Asioli, Bonifacio 204 Auber, Daniel François Esprite 152, 178, 186, 248 Bach, Johann Sebastian 22, 75, 77, 84, 115, 127, 129, 133, 135, 152, 172, 184, 187, 248, 288, 302, 324, 327, 334, 374, 386, 418, 457, 466 Bach, Philipp Emanuel 118, 127, 219, 385 Bach (Söhne) 22, 77, 516 Bachem Verlag 486 Bagge, Selmar 269 Bahnsen, Julius 482, 485, 488 Balakirew, Mily 462 Baldini 516 Bamberg, Felix 444 Banck, Carl 100, 298, 447, 467, 497 Bärenreiter Verlag 505 Bargiel, Woldemar 479 Basedow, Johann Bernhard 39 Baudissin, Wolf Heinrich v. 408 Bäuerle, Adolf 351 Baumgarten, Alexander Gottlieb 449 Bicchini 516 Becher, Alfred Julius 200, 207, 372, 381 Becher Verlag 407

Becker, Carl Ferdinand 48, 59, 222–227, 303–305, 307, 310, 411, 447 Becker, Heinz 227, 346, 499 Becker, Julius 37, 329, 438, 455, 497 Beckmann Verlag 508 Beckmesser 500 Beethoven, Ludwig van 24, 27, 47, 57–60, 65, 68, 84–86, 108, 115, 117, 123–124, 133, 135, 139, 143, 145, 149, 152, 157, 163, 165, 172, 183–184, 214–227, 229, 239–241, 247–248, 250, 256, 264–265, 292, 324, 326–328, 332, 334, 338, 345–347, 374, 381, 386, 389, 407, 411, 418, 420–421, 425, 427–428, 437, 444, 451, 454, 457, 461, 466, 470, 500–501, 503–504, 506 Behr Verlag 466, 495 Bekker, Paul 485 Bellini, Vincenzo 296 Benda, Franz 115 Bennet, William Sterndale 243 Benoni, Julius 508 Berberich, August 298 Berger, Ludwig 210 Bergfeld, Joachim 462 Bergt, Adolf 430 Berlioz, Hector 87, 101, 243, 245, 263–264, 268, 270, 291, 303, 329, 335–336, 388, 425, 437, 462, 471, 475, 480, 490, 493, 499 Bernsdorf, Eduard 321, 323–324, 346–347, 497 Biard, François-Auguste 452 Bierbaum, Otto Julius 478–479, 482 Bierey, Gottlob Benedikt 204 Bierwirth 455 Billard 297 Billroth, Theodor 284, 355, 505, 507–508 Binder, Karl 323 Bischoff, Ludwig 179, 421, 450–452, 469–470, 497 Blaue Eule Verlag 479 Boccherini, Luigi 55 Bock Verlag 337–338, 340 Bock, Gustav 361–362

522

Register

Böhlau Verlag 490 Böhler, Otto 510–511 Bornstein, Paul 507–508 Borodin, Alexander 462 Bosse Verlag 79, 148, 227, 479 Bossler, Heinrich Philipp 49, 59 Bötticher, Wolfgang 383 Boulez, Pierre 490 Bouvier Verlag 499 Brahms, Johannes 321, 324, 328, 355, 388, 463–464, 471, 479–482, 494, 498, 502, 504–505, 507–508, 513 Brandenburg, Hans 479 Breitkopf & Härtel Verlag 23, 54, 71, 84–85, 137, 216–217, 222, 242, 250, 260, 269–270, 272, 333, 407, 429, 503 Brendel, Franz 29, 31–33, 38, 43, 48, 50, 59, 81, 85, 95, 105–106, 110, 114, 154, 199, 207, 240–242, 245, 258, 266–267, 269–270, 272, 283–284, 295–296, 300, 310–311, 328–329, 334–336, 342, 346, 358, 360, 364, 369–371, 376, 383–389, 391–397, 399–404, 406–411, 413–415, 417–419, 421–426, 428–436, 440–444, 448, 451–455, 457–460, 463–465, 471–472, 474, 479, 481, 488 Bretzner, Christian Friedrich 49, 53 Brillant-Savarin, Jean Anthèlme 67 Bruckner, Anton 70, 441, 466, 485, 490, 494–498, 511, 513, 515 Bruckner-Bigenwald, Martha 71 Büchner, Georg 41 Büdinger, Dr. 507 Bührlen, Friedrich Ludwig 30, 47, 86, 101–114, 116, 130–131, 139, 167–168, 182, 197, 200, 202–204, 278, 298, 300–301, 313, 397–398, 416 Bülow, Hans von 104, 463, 507 Bulwer, Edward 441 Burckhardt, Jakob 474 Bürger, Gottfried August 130, 143 Busoni, Ferruccio 74–75, 461–462, 464 Butterbrodt, s. Hagen, Theodor Büttinger, C. C. 204 Cahn-Speyer, Rudolf 484–487 Campbell, Thomas 468 Castelli, (2) Ignaz Franz 273, 276 Castil-Blase [François Henri Joseph Castil-Blaze] 42 Catilina 138 Cato 296 Challier, Carl August Verlag 339 Chamberlain, Houston Stewart 460, 463, 468, 478

Cherubini, Luigi 100, 129 Chézy, Helmina von 204, 408 Chopin, Frederic 137, 142, 159, 235, 237, 240, 242–243, 245, 275, 293, 333, 425, 427, 455 Christern, Carl 373 Chrysander, Friedrich 460, 503 Cicero 138 Claudius, Matthias 39 Clauren, Heinrich 197 Clementi, Muzio 127, 210 Cocteau, Jean 516 Collet, Henri 516 Corneille, Pierre 470 Cornelius, Peter 507 Cotta Verlag 58 Cramer, Karl Friedrich 49, 50 Crommer, Franz 187 Czerny, Carl 296 Dadelsen, Georg von 384 Dahlhaus, Carl 516–517 Danckert, Werner 461–462, 464 Darwin, Charles 489 Davison, Henry 356, 499 Debussy, Claude 287, 462 Dehn, Siegfried 189 Dietrich, Albert 479 Diezmann, Johann August 323 Dittersdorf, Karl Ditters von 50 Dobeneck, Johannes 295 Dommer, Arrey von 383 Dörffel, Alfred 335–336, 376, 399, 405–406, 409, 411, 415, 419, 430, 434–436, 455, 497 Dorfküster Wedel, s. Zuccalmaglio, Anton Wilhelm von Dorn, Heinrich 38, 104, 149, 151–152, 190, 193–194, 222, 245–260, 293, 307–308, 310, 362, 381, 390, 434, 466–467, 470–471, 476, 497, 499 Dorn, Otto 499 Draeseke, Felix 83, 466, 497 Draxler, A. F. 355 Drobisch, Theodor 320, 322, 356 Duller, Eduard 469 DuMont Schauberg, M. Verlag 421 Durante(3) 238 Dürer, Albrecht 172 Dustmann-Meyer, Louise 509 Ebers, Carl Friedrich 58 Ebert, Alfred 506–508 Eccarius-Sieber, Artur(4) 483, 486 Eduard 184 Ehinger, Hans 73

Register Eybler, Josef Leopold Edler von [‚Eibler‘] 60, 185 Eimert, Herbert 493 Einstein, Alfred 255, 496 Eliot, Thomas Stearns 73 Engel, Hans 59 Engel, Johann Jakob 61 Eschenburg, Johann Joachim 277, 408 Eschstruth, Hans Adolph Friedrich von 49 Euler, Leonhard 163 Farinelli (Carlo Broschi) 195–196 Fasch, Karl 262 Fellerer, Karl Gustav 59 Fellinger, Imogen 273, 350 Fels, Joachim, s. Hagen, Theodor Feo, Francesco 238 Fesca, Friedrich Ernst 120 Feski, J., s. Sobolewski, Eduard Fétis, François-Joseph 256 Feuerbach, Ludwig 482, 485 Fichte, Johann Gottlieb 37–38, 40–41, 45, 73, 104, 106, 111, 123, 133, 136, 338, 347, 488 Fink, Friedrich August 262 Fink, Gottfried Wilhelm 28, 38, 52, 57, 85, 99, 137, 145–146, 156, 161–162, 176, 186–188, 190, 193–194, 209–210, 214, 232–240, 242–247, 249, 253–263, 268, 270, 273, 275, 293–294, 305–306, 308–309, 333, 344, 350–351, 362, 385–386, 388, 395, 406, 408, 411, 416, 420, 428, 430, 452, 454 Fleischmann, Friedrich 24, 73–75, 80, 82, 96, 122 Fleury, Albert 217–218 Flügel, Gustav 375–376, 446, 452 Fonseca, Wollheim da 468 Forkel, Johann Nikolaus 48–49, 59, 124, 316, 491 Förster, Friedrich Christoph 87 Fouqué, Friedrich de la Motte [‚Fouque‘] 137 Franck, Hermann 149, 247 Franz, Robert 410 Freystätter, Wilhelm 350 Friedrich August II. 347, 475 Friedrich d. Gr. 117, 209, 262 Fritzsch, Ernst Wilhelm 459–460 Fröhlich, Franz Joseph 204, 221, 223–224, 227, 514 Fromme (Fabrikant) 329 Fuchs, Carl 459 Fuchs, Eduard 467, 495 Gade, Niels 268, 427 Gaillard, C[K]arl 70, 264–265, 271, 300, 302,

523

323, 330, 332, 336–342, 354–355, 361, 375, 378, 412, 415, 447–448, 473 Gallus Verlag 479 Gassner, Ferdinand Simon 228 Gellert, Christian Fürchtegott 130 Georg Müller Verlag 479 Gerber, Ernst Ludwig 55, 305 Geyer, Flodoard 109, 291, 298, 337–341, 344, 367–368, 375–380, 398, 410, 415, 447, 450, 452–453 Glasenapp, Carl Friedrich 497 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 130 Gluck, Christoph Willibald Ritter von 24, 63, 76–77, 118–119, 183, 220, 226, 334, 351, 385, 418, 470 Göbel, J. G. 204 Göckingk, Leopold Friedrich Günther von 130 Goethe, Johann Wolfgang von 35, 37–39, 42, 55, 57, 59, 72, 80, 104, 106–107, 110, 123, 128, 130, 143, 172, 176, 196, 240, 243, 263, 267, 301, 311, 362–363, 365, 385, 418, 431, 433, 455, 470, 514 Goethe-Museum Düsseldorf 37 Goldberg, C. Katharina 310 Goldenring, Stefania 79 Goldschmidt, Hugo 484 Gollmick, Carl 197, 207 Gottschald, Ernst 422–423, 426–429, 439 Grabbe, Christian Dietrich 469 Graun, Karl Heinrich 115, 160, 220, 226 Gregor, Joseph 479 Grétry, André Ernest Modeste [‚Gretry‘] 60–61, 377 Griepenkerl, Wolfgang Robert 268, 424, 442–443 Grimm Verlag 347 Grimm, Julius Otto 481 Gröbner, Dr. Anton 353 Groß, Karl Maria 357 Groß-Athanasius, s. Groß, Karl Maria Grossheim, G. [C.] 221, 223–224, 227, 414, 514 Grunsky, Karl 380 Gruyter, de Verlag 499 Gubitz, Anton 299 Gundolf, Franz 278 Guthmann, Friedrich 24, 101 Gutzkow, Karl 323 Gyrowetz, Adalbert 60 Hagedorn, Friedrich von 130 Hagen, Theodor 101, 200, 207, 322–323, 445, 496–497 Halévy Jacques Fromental 56

524

Register

Haller, Albrecht von 130 Halm, August 511 Hamann, Johann Georg 39 Hamma, F. 471 Hammerschmidt, Andreas 135 Hand, Ferdinand Gotthelf 308, 310 Händel, Georg Friedrich 54, 84, 115, 118–119, 125, 127, 129, 133, 135, 172, 220, 226, 238, 249, 271, 334, 386, 389, 418, 503–504 Hansen, Volkmar 42 Hanslick, Eduard 90, 130, 357, 381, 408, 441, 448, 474, 490–516 Härtel, Gottfried 216, 232 Härtel, Gottfried Christoph 216, 232–233, 270 Häser, August Ferdinand 228, 230, 263 Haslinger Verlag 276 Hasse, Johann Adolf 115, 118, 129, 220, 226 Hatton, John Liptrot 352 Hauff, Wilhelm 468 Hauptmann, Gerhart 494 Hauptmann, Moritz 232, 422 Hausegger, Siegmund von 511 Haydn, Joseph 49, 58, 63, 79, 100, 115, 119, 123, 125, 127, 129, 133, 135, 139, 143, 170, 199–200, 216, 219–220, 226, 240, 268, 326, 334–335, 338, 385, 418, 427–428 Haydn, Michael 292 Hebbel, Friedrich 507–508 Hegel, Friedrich 29, 37, 41–44, 110–111, 169, 195, 291–292, 310, 312, 316, 338, 368, 383–384, 389, 393, 395–397, 413, 419, 455, 459, 465, 469, 482, 485, 488, 490, 492, 514 Heimsoeth, Heinz 488 Heine, Ferdinand 467 Heine, Heinrich 99, 217, 463, 468, 485, 499 Hell, Theodor, s. Winkler, Theodor Hemsterhuis, Frans[z] 39 Henselt, Adolf von 243 Herbart, Johann Friedrich 491 Herder, Johann Gottfried von 39, 143, 489 Herloßsohn, Karl 323 Hermann, Heinrich 47, 84, 86, 116–119, 190, 214–227, 247, 250, 253, 256, 293, 512, 514 Hérold, Ferdinand (Louis Joseph Ferdinand) 152, 248 Herrmann, Joachim 464 Herz, Heinrich 240, 243, 297 Hesses (Max) Verlag 464 Heuß, Alfred 485 Hientzsch, Johann Gottfried 176 Hiller, Ferdinand 142, 243, 421, 466 Hiller, Johann Adam 48, 61, 385 Hindemith, Paul 485

Hinrichs, Johann Conrad 318 Hirschbach, Herman 182, 215, 228–229, 271, 295, 297, 299–300, 324–336, 343–344, 352, 358, 386, 393, 437, 440, 443, 450, 454 Hitler, Adolf 484 Hitzig, Julius Eduard 323 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 24, 65, 116, 120, 133, 137, 165–166, 241, 294, 313–314, 332, 335 Hofmeister, Friedrich 319 Hölty, Ludwig 130, 143 Horaz 219, 314 Horn, Franz Christoph 86–87 Horstig, Karl Gottlieb 24 Hugo, Victor 452 Humboldt, Wilhelm von 110 Hummel, Johann Nepomuk 293 Hünten, Franz 240, 243, 296 Ibsen, Henrik 494 Irving, Washington 468 Isouard, Niccolò 152, 248 Istel, Edgar 415, 508 Jacobi, Friedrich Heinrich 37–40, 43, 45–46, 111, 132, 219, 488 Jahn, Otto 56, 60, 83, 130, 204, 470, 471, 497 Jähns, Friedrich Wilhelm 295 Jansen, F[riedrich]. Gustav 419 Jarnach, Philipp 464 Jaspers, Karl 32, 290 Joachim, Joseph 480–481 Johann von Sachsen 137–138, 469 Jomelli, Niccolò 55 Joseph II. 62 Julien, Heinrich Friedrich von Saint 201 Kaestner, J. G. 395, 398 Kahl, Willi 499 Kahlert, August 291–292, 306, 310, 373 Kalbeck, Max 498 Kalkbrenner, Friedrich Wilhelm 240, 295 Kamienski, Lucian 485–486 Kant, Immanuel 22, 25–26, 31, 35–43, 45–47, 67, 69, 82, 85, 87, 94, 104–105, 107, 110, 123–124, 126, 128, 130, 132, 154, 194, 201–202, 213, 226, 241, 247, 253–254, 278, 281–282, 288–289, 372, 385, 449, 474, 482, 488–489, 492 Kapp, Julius 464, 491 Karl Alexander von Weimar 461 Kastner, Emmerich 461, 464 Keil, Ernst 323 Kerst, Friedrich 60 Kettenhof Verlag 71 Kind, Friedrich 97, 212

Register Kindscher, Heinrich Karl Ludwig [Louis] 455 King, A. Hyatt 59 Kirnberger, Johann Philipp 118, 184, 363, 491 Kistner, Friedrich 318 Kleemann, Ottomar 138–139, 146 Kleist, Heinrich von 130 Klopstock, Friedrich Gottlieb 130, 143 Knorr, Julius 329 Knuf Verlag 71 Köhler, Louis 381 Konegen, Carl 495 Kopernikus, Nikolaus 195 Korngold, Erich Wolfgang 515 Korngold, Julius 515 Kossak, Ernst 150, 332, 341, 358–359, 376–377, 395, 398 Koßmaly, Carl 268, 298, 376, 381, 408, 417–419, 430–434, 436, 443, 452–453, 497 Kotzebue, August von 469 Kraus, Karl 495 Kraushaar, Otto 420, 422–423, 497 Kraussold, Lorenz 266 Kreowski, Ernst 467, 495 Kross, Siegfried 481, 498–499, 516–517 Krüger, Eduard 29, 43–44, 196–197, 207, 291, 310–318, 368, 376, 384, 394–402, 405–407, 410–411, 414–415, 419, 421–422, 429, 437, 440–441, 444, 450–452 Krüger, Wilhelm 142 Kruse, Georg Richard 508–509 Kühmstedt, Friedrich 455 Kuhnau, Johann 75, 135 Kullak, Theodor 187, 378 Kungney-Klossow, Britta 351 Kunzen, Friedrich Ludwig 52, 56, 64 Kusche, Ludwig 461, 463–464 Küster, Hermann 70 Küstner, Karl Theodor von 339–340, 458 Lachner, Franz 353, 390, 463–464, 476 Lachner, Vinzenz 390, 463–464 Landowska, Wanda 76, 79, 183 Lange, Otto 64, 109, 169, 178, 187, 267, 269–270, 272, 299–300, 338–344, 359–367, 369–372, 375–381, 388, 400, 403, 431, 438–439, 441, 443–444, 450–451, 453, 511–512 Langen Verlag 486 Lanner, Joseph Franz Karl 197 Largo, Henri (Pseudonym), 336, s. Hirschbach, Hermann Laube, Heinrich 26, 469, 472 Lavater, Johann Caspar 39, 157 Lemann, J. G. 180

525

Lenz, Ludwig 215, 323 Leonardo da Vinci 172 Lessing, Gotthold Ephraim 39, 71, 87, 172, 279, 359, 379, 405, 470 Leuker, Tobias 43 Levi, Herrmann 463 Lewald, August 102, 323 Lewinsky, Ignaz 197, 299, 353, 356, 437 Lichtwer, Magnus Gottfried 143 Liebrucks, Bruno 41 Lindner, Ernst Otto Timotheus 398 Lindpaintner, Peter Joseph von 164, 190, 476 Liszt, Franz von 101, 142, 215, 241, 243, 245, 270, 291, 324, 336, 347, 383, 388, 408, 418–419, 421, 425, 429, 457, 460–464, 467, 471–472, 474–477, 481, 490–491, 493, 496, 502–503, 507–508, 513 Litzmann, Berthold 310 Lobe, Johann Christian 58, 85, 228, 230, 232–233, 239, 242, 256, 263–272, 284, 300, 322–323, 342–343, 345, 347, 381–383, 388, 395, 419–420, 422, 424–426, 429, 452–453 Löffler, Conrad 354 Logier, Johann Bernhard 163, 229, 304 Loos, Helmut 479 Lorenz, Oswald 283, 328, 330, 447 Lortzing, Albert 353 Lotti, Antonio 238 Louis, Rudolf 464, 515 Ludwig II. 463 Luib, Ferdinand 271, 356–357 Lully, Jean-Baptiste 77 Lüpertz, Markus 179 Macklot Verlag 55 Mahler, Gustav 78, 216, 441, 485, 490, 494, 497, 513 Mahling, Christoph-Hellmut 66, 218 Maintz, Marie Luise 516–517 Maleno, Dr. 341, 354 Mangold, Karl Ludwig Amant 295, 469 Manstein, Edgar 354 Manzoni, Alessandro 311 Marpurg, Friedrich Wilhelm 22, 58, 363, 410, 491 Marquardt, J. G., s. Horn, Franz Christoph Marryat, Frederic 468 Marschalk, Astolf 440 Marschner, Heinrich (Heinrich August) 164, 248, 250–253, 260, 295, 347, 408, 415 Martin, Gustav 50 Martini, Padre 62, 77 Marx, Adolf Bernhard 25–26, 29, 41, 72–73, 84–85, 95, 104–106, 110, 117, 120–121,

526

Register

141, 147–166, 168–188, 190, 193, 199, 209, 217–218, 227–230, 233, 241–242, 246–254, 257, 263, 275, 279, 281, 292, 308, 310, 318, 335, 346, 363, 374, 386, 388, 395, 416, 440, 444, 499, 514 Marx, Karl 445, 488 Mattei, Stanislao 204 Mattheson, Johann 22, 58, 91, 491 Matthisson, Friedrich von 125, 130, 143 Max Hesses Verlag 73, 464 Mendelssohn, Moses 39, 61 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 83, 97, 142, 187, 241, 243, 268, 270, 334, 383, 388, 411, 420, 427, 441, 462, 466, 490, 507 Messalina 468 Metastasio, Pietro 372 Meyer, Friedrich 217 Meyer, Leopold von 24 Meyerbeer, Giacomo 27, 43, 99, 164, 241, 292, 339, 346, 387, 421, 423, 438, 450–452, 462, 466–469, 472–473, 490, 499, 502, 507 Michaelis, Christian Friedrich 24, 45, 115, 123–137, 143, 288, 474, 491, 493 Michotte, Edmond 507 Miltitz, Carl Borrmäus von 24, 115, 130, 137–146 Mohr Verlag 488 Möhring, Ferdinand 295 Moscheles, Ignaz 447 Moser, Hans Joachim 505 Möser, Karl 217, 227 Mosevius, Johann Theodor 243 Mozart, Konstanze 217 Mozart, Wolfgang Amadeus 22–23, 42, 44, 47–57, 59–60, 63–64, 66–68, 74, 78–79, 81, 83–84, 100, 115, 118–119, 123, 127, 129, 133, 135, 142–143, 157, 160, 162, 170–171, 183, 188–189, 204, 210, 215–220, 226, 240, 250, 260, 264–265, 268, 302, 324, 326, 334–335, 338, 373, 381, 386, 389, 397, 401, 411, 414, 418, 421, 425, 427–428, 457, 461, 466, 470–471 Müller (Dresden) 120 Müller, Georg Verlag 479 Müller, Johannes 73 Müller, Wilhelm Adolph 204 Mussorgsky, Modest 462 Nägeli, Hans Georg 24, 58, 61, 73, 86, 88–98, 155, 158, 215, 373 Nanté, s. Truhn, Hieronymus Napoleon Bonaparte 42, 66, 142 Nauenburg, Gustav 106, 278–284, 303, 381, 387, 422, 428, 452

Naumann, Johann Gottlieb 129 Naumann, Ernst 479 Nehse 476 Netzer, Joseph 353 Nestroy, Johann 475 Neukäufler, Ferdinand 295 Newton, Isaac 225–226 Nicolai, Otto 353, 408 Nietzsche, Friedrich 44, 478, 483 Nissen, Georg Nikolaus von 55 Nohl, Herman 474, 479 Nottebohm, Gustav 498, 500, 504–506 Oettinger, Eduard Maria 323 Oken, Lorenz 29, 41, 194, 220 Onslow, Georges 142 Ortlepp, Ernst 514 Orleans, Herzogin von 320 Otto, Julius 345, 350 Otto, Louise 410 Paetel Verlag 508 Palestrina, Giovanni Pierluigi da 242 Pasqué, Ernst 319, 323 Paul, Jean 39, 69, 77, 172, 212, 229, 294, 514 Perger, Jodocus 415 Pessenlehner, Robert 329, 331, 336 Pfitzner, Hans 418 Piccini, Nicola 42 Pidde, Ernst von 408, 415 Pierer, Heinrich August 102 Pierson, Heinrich Hugo, s. Manstein, Edgar Pietsch, Christian 43 Plank, J. 439 Platner(5) 226 Platon 489 Pleyel, Ignaz Joseph 49–51, 129, 199–200, 243 Pohl, Richard 418, 464, 498 Potier (Ballettmeister) 209 Prévost, Marcel 486 Probst, Albert 318 Puschmann, Theodor 466, 506 Quintilian 314 Raabe, Peter 461, 464 Raff, Julius 381, 466 Raffael 38, 119, 143, 194 Rameau, Jean Philippe 76–77, 163, 437 Rappoldi-Kahrer, Laura 58 Reichardt, Friedrich (Johann Friedrich) 23, 35, 37, 39, 45–46, 48–52, 54–58, 64, 67–68, 72, 74, 82, 113, 125, 172, 183, 215, 385, 406, 484 Reißiger, Karl Gottlieb 137, 141, 214, 295, 347, 469, 501

Register Rellstab, Ludwig 41, 149–151, 221, 225, 227, 247, 273, 275, 298, 329, 332, 342, 355–356, 369, 376, 386, 395, 447, 455, 497, 499, 506–507 Rheinberger, Franziska 408–409 Rheinberger, Josef 415 Riccius, August Ferdinand 329, 455–456 Richter, Hans 380, 511 Riemann, Hugo 130, 496, 516 Riethmüller, Albrecht 43–44 Rietz, Julius 480 Rimsky-Korssakow, Nikolai 462 Rochlitz, Friedrich 23–25, 38, 48–49, 51, 58, 60–61, 69, 71–74, 76–86, 96–105, 108, 112, 116, 121, 123–124, 128, 130, 134, 138–139, 148–149, 162, 193, 195, 211, 215–216, 229, 232–233, 239, 245, 256, 260, 270, 301, 314, 325, 333, 363, 385–386, 395, 406, 440, 453–454, 460, 486, 491 Röckel, August, 141 Roede, Urban 40 Rolland, Roman 182 Romberg, Andreas 122 Romberg, Bernhard 122 Rösseler, Heinrich 486 Rossini, Gioachino 42–44, 139, 171, 178, 186, 198, 271, 302, 507 Rote, Richard 509 Rousseau, Jean Jacques 100, 437, 455 Rousseau, Johann Baptist 298 Rubinstein, Anton (Anton Grigorjewitsch) 324 Rückert, Friedrich 298, 418 Ruge, Arnold 455 Rust, Friedrich Wilhelm 218 Rychnovsky, Ernst 508 Sabelon, Andreas 204 Salis-Seewis, Johann Gaudenz Freiherr [Graf] von 130, 143 Salmen, Walter 37, 60, 148 Saphir, Moritz Gottlieb 449 Saß, Friedrich (Pseudonym: Alexander Soltwedel) 323 Schaab, Robert 455 Schaarschuch, A. H. 295 Schäffer, Julius 110, 393–395, 399–400, 402–407, 410–416, 419, 441, 453, 484 Schäfke, Rudolf 72–73, 511 Schaul, Johann Baptist 55–56, 58, 74, 83, 130, 218 Scheibe, Johann Adolf 22 Schellenberg, Hermann (Christian Hermann) 432, 436 Schelling, Friedrich Wilhelm 26, 29, 37–41,

527

85, 105–106, 111, 194, 202, 253–254, 279, 315, 338, 455, 459, 488–489, 514 Schiff, Hermann 322 Schiffner, Albert 468 Schiller, Friedrich 22, 27, 35–36, 110, 128, 130, 143, 172, 176, 282–283, 285, 311, 362–363, 365, 418, 470 Schilling, Gustav 26, 102–103, 286, 304–310, 450 Schimmer, Carl August 200, 207 Schindler, Anton 329 Schirmer, K. 166–170 Schladebach, Julius 137, 240, 261, 323, 344–350, 420, 452, 469–470, 497, 500–501, 512, 514 Schlegel, August Wilhelm 408 Schlesinger, Adolf Martin 147, 223, 246, 261 Schlesinger, Moritz 261, 297, 332 Schlesinger-Stephani, Marie 58 Schloenbach, Arnold 480 Schloss Verlag 421 Schmidt, August 99, 102, 190, 210, 215, 271, 323, 331, 341, 344–346, 350–357, 375, 381, 448, 493, 500–501 Schmidt, Gustav Martin 329 Schmidt, Johann Philipp 395 Schmidt, Raymund 489 Schmieder, Robert 347, 514 Schmitt-Thomas, Reinhold 71 Schneider, Gottlieb 141 Schneider, Marius 475 Schneider-Tutzing Verlag 66 Scholz, Bernhard 481 Schönberg, Arnold 59, 197, 216, 485, 490, 516 Schopenhauer, Arthur 32, 41–42, 44, 302, 482, 485, 489 Schott Verlag 188–189, 191, 246, 250, 270–271, 275, 357, 473, 503 Schott, Johann Joseph 220–221, 223–224, 358 Schramm, Michael 479 Schreiber, Carl 100–101 Schreker, Franz 485 Schubart, Christian Friedrich Daniel 363 Schubert, Franz 72, 264, 324, 461, 464 Schucht, Jean F. 422–430 Schulz, Otto Karl Friedrich [Wilhelm] 302– 303 Schulze, Gottlob Ernst 43 Schumann, K. [= Robert Schumann] 293 Schumann, Robert 27–29, 31, 43, 73, 87, 97, 101, 104, 110–111, 124, 137, 158–159, 163, 166, 176, 187, 217, 229, 233, 235–238,

528

Register

240–245, 260, 263, 268, 270–271, 273–277, 279, 281, 283–288, 291–297, 302–309, 311, 313, 316, 321–325, 328–330, 332, 334–336, 347–348, 358, 374, 379, 383, 387–388, 395, 401, 408, 411, 418–419, 425, 429–430, 432, 434–435, 440, 444, 446–447, 450, 457–458, 466, 468, 471, 475, 479, 481, 483, 485–486, 493, 497, 507 Schunke, Ludwig 244, 447 Schuster, Bernhard 76, 209, 274, 460, 479, 515 Schwab, Gustav 87 Schwenke, Gottlieb 260 Scribe, Eugène (Augustin Eugène) 372, 452 Sechter, Simon 66, 69–70, 391, 437 Sedlnitzky, Joseph Graf 357–358 Seidel, Carl 68, 307 Seidelmann 141 Semper, Gottfried 469 Senff, Bartholf 28, 189, 210, 242, 245, 264, 271–272, 318–324, 358, 364, 388, 448–449, 480–481 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper 3. Earl of 294 Shakespeare, William 87, 165, 277, 408, 470 Siebeck, s. Mohr Verlag Sievers, Georg Ludwig Peter 42 Silbermann, Alfons 459 Simon, Heinrich 293 Sobolewski, Eduard 287–291, 296, 312 Sollinger, Johann Peter (Verlag) 230 Soltwedel, Alexander, s. Saß, Friedrich Sophokles 466 Spazier, D. J. 60–61 Spazier, Johann Gottlieb Carl 23, 46–47, 50–51, 56, 59, 64, 74, 129, 207, 414, 416 Spazier, Richard Otto 164(6), 197–198, 207 Speidel, Ludwig 441, 494, 497–498, 513 Sperl, Hans 495 Spies, Hermine 355 Spinoza, Baruch de 37, 39–40, 111, 489 Spitzer, Daniel 441, 494–495, 497–498 Spohr, Louis 72, 78, 108, 225, 347, 422 Spontini, Gasparo 149–150, 163, 186, 204, 247, 256, 467 Stadler, Maximilian, Abbé 189, 217 Staël, Madame de 445 Stahr, Adolf 460, 474, 476 Standhartner, Joseph 499 Stein, Richard H[einrich]. 485–487, 511 Stephanie, Gottlob Christian 53 Stern, Julius 187, 378 Sterne, Laurence 77

Stirner, Max 482, 485 Stockhausen, Karlheinz 59, 216, 301, 490 Stoepel, Franz 150, 228–229, 246, 274, 318 Stolberg, Christian Graf zu Stolberg- 130 Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu Stolberg130 Strauß, David Friedrich 478 Strauß, Dietmar 491, 498, 511 Strauss, Franz 466 Strauss, Richard 466, 485 Strawinsky, Igor 472, 485, 490, 516 Stübing, Adolf 508 Stuckenschmidt, Hans Heinz 516 Stülpnagel, Ernst 495 Sulzer, Johann Georg 491 Swentopol 451–452 Tappert, Wilhelm 395, 494–495, 497, 509, 514 Taubert, Wilhelm (Karl Gottfried Wilhelm) 243, 471 Tautenhayn, Josef[ph] 494 Thalberg, Sigismund 240 Thibaut, Anton Friedrich Justus 160, 363 Thiersch, Otto 459–460, 491 Thomas, Charles Louis Ambroise 56 Thümmel, Moritz August von 143 Tieck, Ludwig 408, 490 Tomaschek, W. J.(7) 460 Tonitz, Albert 355, 357 Trautwein Verlag 273 Truhn, Hieronymus 59, 295, 331–332, 381, 390, 466, 476, 497 Tschaikowsky, Peter 441, 490, 494, 513 Tschirch, Adolph 390–392 Türk, Daniel Gottlob 118, 187 Uhlig, Theodor 32, 114, 456–458, 488, 497 Ulibischeff, Alexander Dimitriewitsch 215, 381, 407, 421, 427 Uz, Johann Peter 130, 143 Vaihinger, Hans 109, 482, 488–489 Verdi, Giuseppe 303, 490, 512 Vischer, Friedrich Theodor 455 Vogler, Georg Joseph [Abt Vogler] 91, 124, 204 Voß, Heinrich Johann [‚Voss‘] 130, 143 Wagner, Cosima 460, 463 Wagner, Gudrun 478 Wagner, Richard 27, 44, 59, 77, 83, 87, 97, 100–101, 138, 141–142, 153, 165, 214–216, 245, 257, 270, 284, 306, 321, 324, 329, 331, 336, 339, 346–347, 355, 362, 366, 381, 383, 388, 395, 401, 404, 407–409, 411, 417–419, 421, 424–425, 429–430, 434–435, 438, 441,

Register 443, 451, 457, 459–463, 465–479, 483, 485, 490–491, 493–494, 496–504, 507, 509–513 Wagner, Wolfgang 478 Walsegg, Franz de Paula Anton Reichsgraf von 217 Wanhal, Johann Baptist 243 Wartensee, Franz Xaver Schnyder von 422 Wassermann, Jacob 483, 487 Weber Verlag 490 Weber, Carl Maria von 42–43, 55, 60, 72, 97, 113, 119–120, 139, 141, 163, 172, 188, 199, 227, 241, 251, 253, 326, 379, 408, 444, 470, 471–472 Weber, Gottfried 25, 43, 58, 73, 84,104–106, 110, 123, 148, 154–155, 160, 188–191, 193–195, 198, 201–208, 211–214, 217–219, 222–224, 226–228, 230, 241–242, 246–247, 249–250, 253–254, 256–257, 273–275, 292–293, 318, 369, 381, 386, 388, 395, 406, 412, 415, 448, 454, 456–457, 491 Weber, J. G. 456 Weber Verlag 490 Wedel, s. Zuccalmaglio, Anton Wilhelm von Weigl, Joseph [‚Weigel‘] 60 Weiler, Freiherr von 47–48, 105, 221, 223–224, 227 Weiss, Jul. 345 Weisse, Christian Felix 383 Wieck, Clara 305–307, 309–310, 334, 336 Wieck, Friedrich 306, 383 Wieland, Martin (Christoph Martin) 39, 130, 143, 172, 408 (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7)

529

Wienbarg, Ludolf 288 Wilmans Verlag 55 Wilsing, Daniel Friedrich Eduard 479, 481 Wimmer, Jos. Ed. 449–450 Winckel, Henriette aus dem 119–120 Winckelmann, Johann Joachim 157 Windelband, Wilhelm 488 Winkler, Theodor 137, 212, 514 Winter, Dr. 308 Wintterlin, August 102 Wise, s. Schladebach, Julius Wittmann, Hugo 494, 515 Woldemar, s. Hermann, Heinrich Wolf, Adolf 383 Wolf, Alfred 487 Wolf, Hugo 381, 466, 490, 507 Wolff(8), Christian Freiherr von 449, 485–486 Wolzogen, Alfred von 466 Wolzogen, Hans von 466 Wüerst, Richard 322–323, 362, 381, 390, 466, 476 Wurzbach, Constant Wurzbach Ritter von Tannenberg 5, 53, 351, 357 Zeller, Regine 37 Zelter, Karl Friedrich 50, 54, 160, 187, 351, 355 Zerr, Anna 496 Zimmermann, Bernd Alois 74 Zimmermann, Wilhelm 358 Zschorlich, Paul 515 Zuccalmaglio, Anton Wilhelm von 268, 270–271

die Originalschreibung unterscheidet sich mitunter von der historischen Schreibweise; I = J; vermutlich ist Silvestro, nicht Francisco Durante gemeint; nicht Arthur; vermutlich ist Ernst (1744–1818), nicht dessen Vater Johann Zacharias (1694–1747) gemeint; original mit P. O. gezeichnet, möglicherweise ein Setzer-Lesefehler; sollte es sich um Johann Wenzel Tomaschek handeln, müßte der Aufsatz posthum erschienen sein; (8) französische Schreibweise: Wolf.

a rc h i v f ü r m u s i k w i s s e n s c h a f t



beihefte

Herausgegeben von Albrecht Riethmüller in Verbindung mit Ludwig Finscher, Frank Hentschel, Hans-Joachim Hinrichsen, Birgit Lodes, Anne Shreffler und Wolfram Steinbeck.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0570–6769

29. Jacob de Ruiter Der Charakterbegriff in der Musik Studien zur deutschen Ästhetik der Instrumentalmusik 1740–1850 1989. 314 S., geb. ISBN 978-3-515-05156-2 30. Ruth E. Müller Erzählte Töne Studien zur Musikästhetik im späten 18. Jahrhundert 1989. 177 S., geb. ISBN 978-3-515-05427-8 31. Michael Maier Jacques Handschins „Toncharakter“ Zu den Bedingungen seiner Entstehung 1991. 237 S., geb. ISBN 978-3-515-05415-4 32. Christoph von Blumröder Die Grundlegung der Musik Karlheinz Stockhausens 1993. IX, 193 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-05696-3 33. Albrecht von Massow Halbwelt, Kultur und Natur in Alban Bergs „Lulu“ 1992. 281 S. mit 91 Notenbeisp. und 5 Abb., geb. ISBN 978-3-515-06010-3 34. Christoph Falkenroth Die „Musica speculativa“ des Johannes de Muris Kommentar zur Überlieferung und Kritische Edition 1992. V, 320 S., geb. ISBN 978-3-515-06005-7 35. Christian Berger Hexachord, Mensur und Textstruktur Studien zum französischen Lied des 14. Jahrhunderts 1992. 305 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-06097-9 36. Jörn Peter Hiekel Bernd Alois Zimmermanns Requiem für einen jungen Dichter

37.

38.

39.

40.

41.

42.

43.

1995. 441 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-06492-3 Rafael Köhler Natur und Geist Energetische Form in der Musiktheorie 1996. IV, 260 S., geb. ISBN 978-3-515-06818-X Gisela Nauck Musik im Raum – Raum in der Musik Ein Beitrag zur Geschichte der seriellen Musik 1997. 264 S. mit 14 Notenbeisp. und 27 Abb., geb. ISBN 978-3-515-07000-1 Wolfgang Sandberger Das Bach-Bild Philipp Spittas Ein Beitrag zur Geschichte der BachRezeption im 19. Jahrhundert 1997. 323 S., geb. ISBN 978-3-515-07008-7 Andreas Jacob Studien zu Kompositionsart und Kompositionsbegriff in Bachs Klavierübungen 1997. 306 S. mit 41 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-07105-9 Peter Revers Das Fremde und das Vertraute Studien zur musiktheoretischen und musikdramatischen Ostasienrezeption 1997. 335 S., geb. ISBN 978-3-515-07133-4 Lydia Jeschke Prometeo Geschichtskonzeptionen in Luigi Nonos Hörtragödie 1997. 287 S. mit 41 Abb., geb. ISBN 978-3-515-07157-1 Thomas Eickhoff Politische Dimensionen einer Komponisten-Biographie im 20. Jahrhundert Gottfried von Einem 1998. 360 S. mit 1 Frontispiz

44.

45.

46.

47.

48.

49.

50.

51.

52.

und 4 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-07169-5 Dieter Torkewitz Das älteste Dokument zur Entstehung der abendländischen Mehrstimmigkeit Eine Handschrift aus Werden an der Ruhr: Das Düsseldorfer Fragment 1999. 131 S. und 8 Farbtaf., geb. ISBN 978-3-515-07407-4 Albrecht Riethmüller (Hg.) Bruckner-Probleme Internationales Kolloquium vom 7.–9. Oktober 1996 in Berlin 1999. 277 S. mit 4 Abb. und 48 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-07496-1 Hans-Joachim Hinrichsen Musikalische Interpretation Hans von Bülow 1999. 562 S. mit 70 Notenbeisp. und 10 Taf., geb. ISBN 978-3-515-07514-3 Frank Hentschel Sinnlichkeit und Vernunft in der mittelalterlichen Musiktheorie Strategien der Konsonanzwertung und der Gegenstand der musica sonora um 1300 2000. 368 S., geb. ISBN 978-3-515-07716-2 Hartmut Hein Beethovens Klavierkonzerte Gattungsnorm und individuelle Konzeption 2001. 432 S. mit 70 Notenbeisp. und 47 Abb., geb. ISBN 978-3-515-07764-2 Emmanuela Kohlhaas Musik und Sprache im Gregorianischen Gesang 2001. 381 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-07876-2 Christian Thorau Semantisierte Sinnlichkeit Studien zu Rezeption und Zeichenstruktur der Leitmotivtechnik Richard Wagners 2003. 296 S. mit zahlr. Notenbeisp. und Abb., geb. ISBN 978-3-515-07942-4 Christian Utz Neue Musik und Interkulturalität Von John Cage bis Tan Dun 2002. 533 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-07964-5 Michael Klaper Die Musikgeschichte der Abtei Rei-

53.

54.

55.

56.

57.

58.

59.

60.

chenau im 10. und 11. Jahrhundert Ein Versuch 2003. 323 S. und 19 Taf., geb. ISBN 978-3-515-08212-3 Oliver Vogel Der romantische Weg im Frühwerk von Hector Berlioz 2003. 385 S. mit 102 Notenbeisp. und 1 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08336-7 Michael Custodis Die soziale Isolation der neuen Musik Zum Kölner Musikleben nach 1945 2004. 256 S., geb. ISBN 978-3-515-08375-8 Marcus Chr. Lippe Rossinis opere serie Zur musikalisch-dramatischen Konzeption 2005. 369 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-08586-6 Federico Celestini Die Unordnung der Dinge Das musikalische Groteske in der Wiener Moderne (1885–1914) 2006. 294 S. mit 86 Notenbeisp. und 9 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08712-5 Arnold Jacobshagen Opera semiseria Gattungskonvergenz und Kulturtransfer im Musiktheater 2005. 319 S., geb. ISBN 978-3-515-08701-x Arne Stollberg Ohr und Auge – Klang und Form Facetten einer musikästhetischen Dichotomie bei Johann Gottfried Herder, Richard Wagner und Franz Schreker 2006. 307 S. mit 27 Notenbeisp. und 4 Abb., geb. ISBN 978-3-515-08868-7 Michael Fend Cherubinis Pariser Opern (1788–1803) 2007. 408 S. mit 2 Notenbeisp. und CD-ROM, geb. ISBN 978-3-515-08906-7 Gregor Herzfeld Zeit als Prozess und Epiphanie in der experimentellen amerikanischen Musik Charles Ives bis La Monte Young 2007. 365 S. mit 60 Notenbeisp. und

61.

62.

63.

64.

65.

66.

67.

68.

69.

13 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09033-9 Ivana Rentsch Anklänge an die Avantgarde Bohuslav Martinůs Opern der Zwischenkriegszeit 2007. 289 S. mit 63 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-08960-9 Frank Hentschel Die „Wittener Tage für neue Kammermusik“ Über Geschichte und Historiografie aktueller Musik 2007. 277 S. mit 6 Notenbeisp. und 4 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09109-1 Simon Obert Musikalische Kürze zu Beginn des 20. Jahrhunderts 2008. 307 S. mit 37 Notenbeisp. und 1 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09153-4 Isabel Kraft Einstimmigkeit um 1500 Der Chansonnier Paris, BnF f. fr. 12744 2009. 348 S. mit zahlr. Notenbeisp., 71 Abb. und CD-ROM, geb. ISBN 978-3-515-08391-1 Frédéric Döhl „… that old barbershop sound“ Die Entstehung einer Tradition amerikanischer A-cappella-Musik 2009. 294 S. mit 46 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-09354-5 Ulrich Linke Der französische Liederzyklus von 1866 bis 1914 Entwicklungen und Strukturen 2010. 311 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-09679-9 Irene Kletschke Klangbilder Walt Disneys „Fantasia“ (1940) 2011. 205 S., geb. ISBN 978-3-515-09828-1 Rebecca Wolf Friedrich Kaufmanns Trompeterautomat Ein musikalisches Experiment um 1810 2011. 242 S. mit 33 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09381-1 Kordula Knaus Männer als Ammen – Frauen als Liebhaber

70.

71.

72.

73.

74.

75.

76.

77.

Cross-gender Casting in der Oper 1600–1800 2011. 261 S. mit 5 Abb. und 34 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-09908-0 Christiane Wiesenfeldt Majestas Mariae Studien zu marianischen Choralordinarien des 16. Jahrhunderts 2012. 306 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-10149-3 Tihomir Popovic´ Mäzene – Manuskripte – Modi Untersuchungen zu „My Ladye Nevells Booke“ 2012. 269 S., geb. ISBN 978-3-515-10214-8 Stefan Morent Das Mittelalter im 19. Jahrhundert Ein Beitrag zur Kompositionsgeschichte in Frankreich 2013. 200 S., geb. ISBN 978-3-515-10294-0 Christa Brüstle Konzert-Szenen Bewegung, Performance, Medien. Musik zwischen performativer Expansion und medialer Integration 1950–2000 2013. 413 S., geb. ISBN 978-3-515-10397-8 Saskia Jaszoltowski Animierte Musik – Beseelte Zeichen Tonspuren anthropomorpher Tiere in Animated Cartoons 2013. 206 S., geb. ISBN 978-3-515-10427-2 Marie Louise Herzfeld-Schild Antike Wurzeln bei Iannis Xenakis 2014. 221 S. mit 4 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10658-0 Gabriela Lendle Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität Zu Roberto Gerhards quixotischem Code 2015. 359 S. mit zahlreichen Notenbsp., geb. ISBN 978-3-515-11065-5 Jonas Becker Konzertdramaturgie und Marketing Zur Analyse der Programmgestaltung von Symphonieorchestern 2015. 267 S., geb. ISBN 978-3-515-11179-9

Mit diesem Band legt Helmut Kirchmeyer die erste zusammenhängende Darstellung der deutschen Musikkritik vom ausgehenden 18. bis ins beginnende 20. Jahrhundert vor. Die Geschichte der Musikkritik stellt Kirchmeyer dabei in einen engen Zusammenhang zur Geschichte des deutschen Idealismus. Die vielfältigen Streitigkeiten dieser Zeit über Systeme und Metho-

den zur Werkbetrachtung führt er auf die philosophischen Grundlegungen zurück. Die großen Einschnitte – Formalkritik, Psychologische Kritik, Historische Kritik – und ihre Übergangsformen – Geschmackskritik, Standpunktskritik, wissenschaftliche Kritik – erfahren auf diese Weise ihre geistesgeschichtliche Begründung.

www.steiner-verlag.de

ISBN 978-3-515-11726-5

9

7835 1 5 1 1 7 265