Der vorliegende Band enthält Aufsätze von Günter Niggl aus den beiden letzten Jahrzehnten, darunter einige bisher unverö
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German Pages 325 Year 2001
Günter Niggl · Studien zur Literatur der Goethezeit
Schriften zur Literaturwissenschaft Im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Bemd Engler, Volker Kapp, Helmuth Kiesel, Günter Niggl
Band 17
Studien zur Literatur der Goethezeit
Von
Günter Niggl
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Niggl, Günter: Studien zur Literatur der Goethezeit I Günter Niggl. Berlin: Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zur Literaturwissenschaft ; Bd. 17) ISBN 3-428-10317-3
Alle Rechte vorbehalten
© 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6720 ISBN 3-428-10317-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9
Meinem Sohn Bemhard
Vorwort Der hier vorgelegte Band enthält Aufsätze aus den beiden letzten Jahrzehnten, darunter einige bisher unveröffentlichte Arbeiten. Er bringt als Auswahl meiner kleineren Schriften Studien zur deutschen Literatur der Goethezeit, vom Sturm und Drang über die Weimarer Klassik und Hölderlin bis zur Spätromantik, und schließt mit einer Arbeit zur Rezeption dieser Umbruchzeit bei zwei Autoren der deutschen Gegenwartsliteratue. Begründen läßt sich die Sammlung jedoch nicht allein mit dem epochalen, sondern vor allem mit dem daraus resultierenden thematischen Zusammenhang ihrer Beiträge. Denn verbunden werden diese Studien durch einige zeittypische Grundthemen: Probleme der literarischen Selbst- und Lebensdeutung, der Kunstautonomie und des Dichterberufs im Zeitalter des aufkommenden Individualismus; Wandlungen des Geschichts- und Poesieverständnisses; Spannungen zwischen Tradition und Originalität in der Literatur um 1800 einschließlich ihrer Auseinandersetzung mit der Antike; nicht zuletzt Formen der sprachlichen Säkularisation und die produktive Wirkung der religiösen Welt auf die Dichtung der Zeit. Diese häufig selbst wieder miteinander verwobenen Themen ergeben eine Reihe von Korrespondenzen und wiederholten Spiegelungen, die erst durch eine Zusammenstellung der bisher verstreut publizierten Studien erkennbar werden. Ohne die Hilfe anderer wäre das Buch nicht zustande gekommen. Zu danken habe ich den Mitherausgebern der Schriften zur Literaturwissenschaft, meinen Kollegen Bernd Engler, Volker Kapp und Helmuth Kiesel, für die bereitwillige Aufnahme des Buches in die Reihe. Mein Dank gilt ferner der Görres-Gesellschaft, besonders ihrem Präsidenten, Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Paul Mikat, für großzügige finanzielle Unterstützung des Druckes. Frau Eva-Maria Vierring danke ich
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Vorwort
für die sorgfältige Herstellung der Laserdruckvorlage des gesamten Bandes, Frau Airnut Baier für die Hilfe bei der Druckeinrichtung und für das Mitlesen der Korrekturen. Darüber hinaus danke ich Frau Airnut Baier, Frau Claudia Keiß und Frau Agnes Kornbacher-Meyer für die Herstellung der Register. Gedankt sei schließlich den Verlagen, die den Wiederabdruck der bei ihnen zuerst publizierten Arbeiten erlaubt haben. Eichstätt, im Februar 2001
Günter Niggl
Inhalt Erzählspiegel in Goethes Werther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ossian in Goethes Werther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Neue Szenenkunst in Lenzens Komödie Die Soldaten ................ .....
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Die Geburt der deutschen Klassik. Zu den Entstehungsbedingungen von Goethes lphigenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
Lied und Tat. Die Frage der Kunstautonomie in Goethes Schauspiel Torquato Tasso . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
Verantwortliches Handeln als Utopie? Überlegungen zu Goethes Mlirchen . . . ... . ... . . . . . . . . . . . . . . . . . ... ....... .. ..... .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
Die Polarität ,antik und modern' in Goethes Versepos Hermann und Dorothea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Die Vorgeschichte der psychologischen Autobiographie in Deutschland
119
Ulrich Bräkers Weg zu seiner Lebensgeschichte ... ... ................ ......
134
Das Problem der morphologischen Lebensdeutung in Goethes Dichtung und Wahrheit....................... ........................ ................. .......
142
Goethes Pietismus-Bild in Dichtung und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
157
Der Zusammenhang von Fremd- und Selbsterfahrung in Goethes Italienischer Reise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Biblische Welt in Goethes Dichtung.................. .. .......................
180
Die Frage nach den zeitlichen Grenzen einer Epoche am Beispiel der Weimarer Klassik .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. . .. . .. . 201
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Inhalt
Gattungstradition gegen Originalität in Hölderlins lyrischem Spätwerk
216
Die religiöse Dimension in Hölderlins Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
233
Die Anfänge der romantischen Literaturgeschichtsscbreibung: Friedrich und August Wilhelm Schlegel ..................................................
247
Geschichtsbewußtsein und Poesieverständnis bei den "Einsiedlern" und den Brüdern Grimm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Überwindung der Poesie als Zaubernacht? Zu einer Romanze von Joseph von Eichendorff ..........................................................
275
1800 und wir. Dichterfiguren einer Zeitwende bei Peter Weiss und Christa Wolf . . . . . . ... .... .. . . . . . ........ ............ .. .. . . . .......... .. . .. . . .. . . ... 287 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
Erzählspiegel in Goethes Werther Was hat Goethe veranlaßt, im Wenher (1774) seinen Helden nicht nur die eigenen Erlebnisse, Empfindungen und Entschlüsse berichten, sondern dazwischen auch mehrere Parallelgeschichten erzählen zu lassen? War Werthers Schicksal für sich allein nicht deutlich genug? Man könnte die Auffassung vertreten, daß die eingeschalteten Exempla für das Verständnis der Haupterzählung nicht notwendig sind, und auf den Umstand verweisen, daß die Bauerbursch-Episode erst in die zweite Fassung des Romans (1787) eingebaut worden ist. Dagegen ließe sich wieder einwenden, daß jede Einlage dem Roman durchaus einen neuen Akzent verleihen kann. Auf jeden Fall bilden Erzählspiegel in Goethes Romanschaffen lebenslang ein wichtiges und typisches Kompositionsprinzip.1 Er liebt solche Spiegelungen, weil sie ihm geeignet erscheinen, Gesinnung und Geschick des Helden durch Konfrontation mit fremden, aber vergleichbaren Schicksalen schärfer zu konturieren oder gar zu beeinflussen. Um daher den vielleicht mehrfachen Sinn der eingelegten Geschichten im Wenher genauer zu erfassen, sollen im folgenden die Art ihres Einbaus, der Grad ihrer Parallelität, ihre Deutung schon im Roman selbst und ihre etwaige Wirkung auf die Haupthandlung näher untersucht werden.
Die Geschichte der jungen SelbstmtJrderin Das erste Beispiel ist die Geschichte der jungen Selbstmörderin (Brief vom 12. August 1771). Werther erzählt sie gegen Ende seines langen und teilweise sehr erregten Diskurses mit Albert über den 1 Näheres dazu bei Hans-Egon Hass: Werther-Studie. In: Gestaltprobleme der Dichtung. Hrsg. von Richard Alewyn, Hans-Egon Hass und Clemens Heselhaus. Bonn 1957, S. 83-125; hier S. 104f.
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Selbstmord (45-50)2, um seine These von der "Krankheit zum Tode" zu illustrieren und den Selbstmord als eine rettungslose Überwältigung der Seelenkräfte zu entschuldigen. Ausgelöst wird das Gespräch durch eine Bitte Werthers an Albert, ihm für eine Reise seine Pistolen zu borgen, und durch eine grillenhafte Geste, mit der sich Werther eine dieser Pistolen an die Stirn drückt. Auch wenn der Leser Bitte und Geste an dieser Stelle noch nicht als Präfigurationen von Werthers späterem Selbstmord erkennen kann, ist die scheinbar spielerische Gebärde doch ein deutliches Vorzeichen für Position und Urteil Werthers in dem sich nun daraus ergebenden Disput über den Selbstmord. Albert nennt solche Tat eine Torheit und kann überhaupt jede Leidenschaft nur abwertend als Trunkenheit und Wahnsinn verstehen, während Werther sich vehement zu solch exzentrischer Haltung bekennt und sich in ironischer Predigt von allen "vernünftigen Leuten" (47) distanziert. Nach einem kurzen erfolglosen Versuch, den Selbstmord gegen die Meinung Alberts nicht als Schwäche, sondern als Kraft zu werten, springt Werther rasch zu einer neuen, fast gegenteiligen These, die den Selbstmord nicht mehr moralisch rechtfertigen, sondern nur noch als pathologisches Phänomen verständlich machen will. Werther verweist jetzt auf die Grenze menschlicher Leidensfähigkeit und diagnostiziert eine "Krankheit zum Tode" (48), die die natürlichen Lebenskräfte unaufhaltsam verzehren muß, wenn jene Grenze überschritten wird. Indem er dabei diese Erscheinung von der Physis auf den "Geist" (48) überträgt, setzt er den Selbstmörder mit einem Fieberkranken gleich und attestiert auch ihm eine totale Ohnmacht und Willenlosigkeit gegenüber den Naturgesetzen, weshalb es unsinnig sei, ihn feige zu nennen: "Sieh den Menschen an in seiner Eingeschränktheit, wie Eindrücke auf ihn wirken, Ideen sich bei ihm festsetzen, bis endlich eine wachsende Leidenschaft ihn aller ruhigen Sinneskraft beraubt und ihn zugrunde richtet. "(48)
2 Die Seitenangaben beziehen sich auf Goethe: Die Leiden des jungen Werther [Zweite Fassung, Erstdruck 1787]. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Erich Trunz. Bd. 6. Harnburg 3 1958, S. 7-124.
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Diese noch recht allgemeine Definition der seelischen Krankheit zum Tode ist so weit abstrahiert, daß sie nicht nur für die nachfolgende Geschichte der jungen Selbstmörderin paßt, sondern Werther damit zugleich, vielleicht erst halb bewußt, sein eigenes Schicksal umreißtl und im voraus entschuldigt. Wenn er freilich jetzt dieses Schema, weil es Albert noch "zu allgemein gesprochen" (48) ist, mit dem Beispiel der jungen Selbstmörderin füllt, muß vorerst offen bleiben, wieweit auch noch solche Konkretisation als Spiegel fiir sein eigenes Schicksal taugen kann. Werther konzentriert sich in seiner kurzen Erzählung (49) ganz auf die seelischen Regungen und Empfindungen des "guten, jungen Geschöpfes", das nach bescheidenen Freuden im engen häuslichen Kreis endlich von einem ihr bisher "unbekannten Gefühl" zu einem Manne ergriffen wird, in der wachsenden Sehnsucht nach diesem einzigen die übrige Welt vergißt und, von Versprechen und Liebkosungen ermutigt, eine "ewige Verbindung" mit ihm wünscht, weil sie darin alles Glück und alle Lebenserfüllung erhofft. In dieser höchsten Gefühlsspannung verläßt sie ihr Geliebter, und dem bisherigen Schweben in einem "dumpfen Bewußtsein" und "Vorgefühl aller Freuden" entspricht nun eine Erstarrung "ohne Sinne" vor dem Abgrund der Verzweiflung. Wie sie zuvor die Welt vergessen hat, so vermag sie auch jetzt ihre Weite nicht wahrzunehmen, keinen Trost oder Ersatz zu finden, da sie mit dem Geliebten ihr inneres Dasein verloren hat; in dieser "entsetzlichen Not ihres Herzens" stürzt sie sich in den Tod, um "alle ihre Qualen zu ersticken". Werther trägt diese Erzählung mit auffalliger Emphase vor. Lange, erregte Satzperioden korrespondieren mit anaphorischen Worthäufungen ("nichts hört, nichts sieht, nichts fühlt als ihn") und lassen ein entschiedenes Engagement für die Geschichte, ja eine affektive Solidarität mit 3 Vgl. die bis in die Syntax hinein veJWandte Charakteristik von Werthers Wesensart und seines daraus entspringenden Geschicks in Goethes Brief an Schönborn, 1. Juni 1774: "Allerhand neues hab ich gemacht. Eine Geschichte des Titels: die Leiden des iungen Werthers, darinn ich einen iungen Menschen darstelle, der mit einer tiefen reinen Empfmdung, und wahrer Penetration begabt, sich in schwärmende Träume verliert, sich durch Spekulation untergräbt, biss er zulezt durch dazutretende unglückliche Leidenschafften, besonders eine endlose Liebe zerrüttet, sich eine Kugel vor den Kopf schiesst." (Goethe: Briefe der Jahre 1764-1786. In: Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Kar! Robert Mandelkow. Bd. 1. Harnburg 1962, S. 161).
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ihrer Heidin erkennen. Diese deutliche Sympathie Werthers läßt vermuten, daß er selbst durchaus eine Parallele zwischen der fremden und der eigenen Geschichte erblickt. Um diese Parallelität zu festigen, ist er am Eingang der Erzählung bemüht, die Geschichte des Mädchens als objektiven Befund auszugeben, als stadtbekanntes Ereignis, woran er Albert nur zu "erinnern" braucht (48) und das er ihm hier lediglich "wiederholt" (49). Den Inhalt seiner Erzählung konnte aber kein Außenstehender jemals wissen oder erfahren. Vielmehr ist diese Herzensgeschichte vollständig der Phantasie Werthers entsprungen. Dieser vermag sich während seiner Erzählung in die Situation der Unglücklichen so einzufühlen und deren seelische Empfindungen sich so intensiv vorzustellen, daß er in dieser fremden Geschichte schließlich den eigenen Pulsschlag klopfen hört und in solcher selbstgeschaffenen Übereinstimmung die gewünschte Objektivität, ja Allgemeingültigkeit des Erzählten bestätigt glaubt. Nur so ist es erklärlich, daß Werther am Ende der Erzählung mit dem Satz: "Sieh, Albert, das ist die Geschichte so manches Menschen!" (49) ihren Charakter als Exemplum eigens betont. Ja, er verteidigt ihn sogar nachdrücklich, als Albert das Gehörte nur für ein "einfältiges Mädchen" , nicht aber für einen "Menschen von Verstande" gelten läßt (50). Da behauptet Werther pathetisch die Gleichheit aller Menschen in diesem Punkt, dergegenüber das "bißeben Verstand" nichts bedeute, "wenn Leidenschaft wütet und die Grenzen der Menschheit einen drängen" (50) - mit welchem Satz er das Gespräch vor Erregung abbrechen muß. Werther beharrt also bis zuletzt darauf, daß das von ihm imaginierte und detailliert ausgemalte Beispiel allgemeinen Modellcharakter beanspruchen dürfe. Nun wäre er freilich leicht zu widerlegen, wenn er auch die konkreten Umstände seines Beispiels für repräsentativ erklären wollte. Gerade gegenüber seiner eigenen Situation ergäben sich erhebliche Differenzen, die es ihm verböten, seine Erzählung noch für einen Spiegel der eigenen Leidensgeschichte zu halten. Schon die Grundkonstellation ist jeweils denkbar verschieden: dort begründete Hoffnung auf eine durchaus mögliche Erfüllung der Liebe und des Ehewunsches, die erst durch die unerwartete Treulosigkeit des Geliebten zerstört wird, hier dagegen ständige Ungewißheit und zunehmende Hoffnungslosigkeit in der Liebe zu Lotte, die mit gleichbleibend freundlicher Distanz von vornherein keine falsche Erwartung wecken will.
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Wenn also Werther seine Erzählung als Exemplum für sich und andere verstanden wissen will, muß er von der speziellen Ausgangslage und Personenkonstellation, ja von den Charakteren der Betroffenen völlig absehen. Er muß sich aber auch nicht auf jene allgemeine Definition der Krankheit zum Tode zurückziehen, die er kurz vor seiner Erzählung formuliert hatte. Tertia comparationis bleiben vielmehr die weltvergessene Leidenschaft für den geliebten Menschen, eine träumerische Verzauberung und Verfallenheit und der zwingend daraus folgende Untergang. Denn auch diese noch immer relativ konkreten Merkmale der Krankheit treffen sowohl auf die junge Selbstmörderin als auch auf Werther selbst zu, der sich schon zuvor (seit dem 16. Junius) auch für seine eigene Person ebendieser Stufen eines unaufhaltsamen Abstiegs immer klarer, zuletzt (am 26. Julius) hellsichtig im Gleichnis des Märchens vom Magnetenberg bewußt geworden ist. Diese mittlere Linie mit ihren weder zu abstrakten noch zu speziellen Vergleichspunkten erweist also die Erzähleinlage durchaus als Spiegel für Werthers eigene Geschichte, der damit dem Leser deutlicher als zuvor eine Ahnung seiner düsteren Zukunft vermittelt. Solange sich Werther damit begnügt, mit Albert nur auf abstrakter Ebene über den Selbstmord zu diskutieren, kommen zwar wichtige Begriffe und Argumente zur Sprache und geben der Auseinandersetzung durchaus Konturenschärfe. Dadurch aber, daß Werther seine Auffassung vom Selbstmord als dem unausweichlichen Resultat einer Krankheit zum Tode mit einem konkreten Beispiel illustriert, wird am Ende ein leibhaftiges Schicksal gegenwärtig, das sich als lebendige Geschichte viel eher zum prophetischen Spiegelbild von Werthers eigenem Schicksal qualifiziert, als dies eine bloße These je vermöchte, zumal die makabre Geste des Anfangs und das sich steigernde Engagement des Erzählers diese Qualität zusätzlich bestätigen.
Die Geschichte des irren Blumensuchers Wenn Werther das zweite Beispiel, die Geschichte des irren Blumensuchers (Briefe vom 30. November und 1. Dezember 1772), mit dem Ausruf "o Schicksal! o Menschheit!" (88) einleitet, so weist er diesmal schon im vorhinein auf ihren repräsentativen Charakter hin, ohne daß
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damit schon entschieden wäre, ob es sich zugleich um ein Exemplum für seine eigene Situation handelt. Werther schildert im ersten der beiden Briefe zunächst seine zufällige Begegnung mit einem "Menschen von geringem Stande" (88) auf einem seiner Spaziergänge im Tal an einem naßkalten Novembertag (88-89). Aus dem Gespräch mit ihm, in direktem Dialog vergegenwärtigt, erfährt Werther, daß er Blumen suche, sie aber weder im Garten noch hier zwischen den Felsen finden könne. Die weiteren Auskünfte: daß er seinem Schatz einen Strauß versprochen habe, daß sie Juwelen und eine Krone besitze, und die Klage, daß er ein anderer Mensch wäre, "wenn mich die Generalstaaten bezahlen wollten" (89), machen Werther den traurigen Geisteszustand des Fremden rasch klar. Zuletzt wünscht sich der Irre in eine frühere Zeit zurück, in der ihm "so wohl" war. Von der hinzukommenden Mutter des Blumensuchers erfährt Werther schließlich, daß er mit dieser glücklichen Zeitjenes Jahr meine, da er "rasend" "an Ketten im Tollhause gelegen" und "nichts von sich wußte" (89). Werther, von dieser Entdeckung wie von einem "Donnerschlag" berührt, sucht in Selbstgesprächen auf dem Nachhauseweg (90) sich über die Bedeutung dieser Geschichte klar zu werden - allgemein wie für sich selbst. Zuerst stellt er sich die Frage, ob Gott es denn zum "Schicksale der Menschen" bestimmt habe, daß sie nur ohne Verstand glücklich sein können. Daraus folgt für Werther, daß er diesen "Elenden" um seinen "Trübsinn" und die "Verwirrung seiner Sinne" nur beneiden kann, und so erblickt er im Schicksal des Irren vorerst ein Gegenbild zur eigenen Situation. Denn dieser gehe "hoffnungsvoll" auf Blumensuche für seine "Königin" und begreife nicht den Grund seines Mißerfolgs; er hingegen gehe "ohne Hoffnung, ohne Zweck" hinaus und kehre ebenso wieder heim. Ja, er preist den Irren ein "seliges Geschöpf", weil er in einem äußeren Hindernis (den Generalstaaten) und nicht in seinem "zerstörten Herzen" und "zerrütteten Gehirne" den Grund für den Mangel seines Glückes suche. Werther empfindet den Wahn dieses Irren als eine Folie, vor der ihm das eigene Elend um so trüber erscheint, da er, wie es kurz darauf der Brief vom 6. Dezember ergänzend formuliert, "eben da zu dem stumpfen, kalten Bewußtsein wieder zurückgebracht" wird, "da er sich in der Fülle des Unendlichen
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zu verlieren sehnte"(92). Fast klagt hier Werther darüber, daß er nicht auch den Verstand verlieren könne, da er nur noch im Wahn und Selbstverlust das ersehnte Glück finden zu können glaubt. In diesem ersten Brief erscheint also die Geschichte des irren Blumensuchers als ein Kontrast-, nicht als ein Spiegelbild für Werthers Schicksal. Das ändert sich, sobald Werther im nächsten Brief (vom 1. Dezember 1772) (91) die auch ihn überraschende Nachricht bringt, daß der "glückliche Unglückliche" Schreiber bei Lottens Vater gewesen und aus Leidenschaft zu ihr rasend geworden sei. Werther enthält sich jeden Kommentars dazu, er bittet den Briefempfanger Wilhelm nur, mitzufühlen, "mit welchem Unsinne mich die Geschichte ergriffen hat". Im nachhinein wird so Wilhelm (und jeder andere Leser) aufgefordert, die zuvor gehörte Geschichte unter diesem neuen Gesichtspunkt zu verstehen. Wenn jetzt als Ursache für den Irrsinn des Blumensuchers eine unglückliche Leidenschaft, und überdies noch zu Lotte, bekannt wird, gewinnt die ganze Geschichte mit einem Schlag für Werther eine bestürzende Nähe. Plötzlich wird auf eine bedrängende Weise ihr Charakter als Exemplum offenbar. Denn jetzt erscheint die Geschichte des Blumensuchers nicht nur als ein Beispiel für die Gefahr, durch unglückliche Liebe dem Irrsinn zu verfallen. Der Umstand, daß es sich auch hier um eine Leidenschaft zu Lotte handelt, verwandelt für Werther das allgemeine Gleichnis in ein ihn unmittelbar bedrohendes Menetekel, das abzuwehren ihm fast schon die Worte fehlen. Und so muß offen bleiben, ob er angesichts dieses ihm schier auf den Leib rückenden Spiegelbildes den Irren noch immer um seine Unvernunft beneidet und sich nach ähnlichem Wahnglück sehnt oder ob ihn vor solcher realen Gefahr künftigen Dahindämmeros schaudert.
Während die frei erfundene Geschichte der jungen Selbstmörderin trotz allen Engagements ihres Erzählers auf der Ebene der Erörterung blieb und innerhalb eines Streitgesprächs den diskursiven Zweck hatte, die Übermacht der Leidenschaft als rettungslose Krankheit zu erweisen und zu entschuldigen, verharrt diese zweite Geschichte einer Leidenschaft nicht mehr in der Theorie, sondern "ergreift" Werther als reale Geschichte aus nächster Nähe mit unmittelbarer Gewalt. Weit entfernt, nur "Symbolisierung seines Seelenzustandes" zu sein und ähnlich wie 2 Niggl
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die Überschwemmungsszene eines späteren Briefes (vom 12. Dezember 1772) nur "den Hintergrund zu Werthers Stimmung" zu geben\ greift die Geschichte des Blumensuchers mit der Erkenntnis ihrer bedrohlich engen Parallelität direkt in Werthers Schicksal ein und beschleunigt seine ohnehin fortgeschrittene seelische Zerrüttung, die schon nach wenigen weiteren Briefen den Herausgeber nötigen wird, das Zerbrechen der Korrespondenz durch eigene Berichte aufzufangen.
Die Geschichte des Bauerburschen Unmittelbare Wirkung auf die seelischen Zustände des Romanhelden hat auch die dritte und umfangreichste Erzähleinlage im Werther, die Geschichte des Bauerburschen. Sie wird erst 1783/86 für die zweite Fassung (1787) geschrieben und dort in drei Abschnitten auf den Roman verteilt. Im Unterschied zu den beiden anderen Erzählungen, die als punktuelle Spiegelbilder jeweils nur an einer Stelle der Brieffolge eingelegt sind, begleitet die Bauerbursch-Episode als einzige Parallelgeschichte im buchstäblichen Sinn den ganzen Roman und zeigt dabei eine zur Haupthandlung analoge Entwicklung. Werther erfährt die einzelnen Phasen der Geschichte bei seinen drei Begegnungen mit dem Bauerburschen in Wahlheim; die ersten beiden Teile erzählt Werther selbst in den Briefen vom 30. Mai 1771 und vom 4. September 1772, die dritte Begegnung findet Anfang Dezember 1772 statt und wird vom Herausgeber in seinem Bericht an den Leser mitgeteilt.
Die erste Begegnung mit dem Bauerburschen (18-19) erlebt Werther
im Frühling, und er kündigt ihre Erzählung (im Brief vom 30. Mai 1771) als "die schönste Idylle von der Welt" (17) an, als ein weiteres Zeugnis für die unverdorbene Natur seines Wahlheim, das sich Werther schon bald nach seiner Ankunft zum ländlichen Lieblingsaufenthalt erwählt hat. Wie die junge Familie, die er kurz zuvor dort kennengelernt hatte, gehört auch der Bauerbursch zu jener "Art Leuten" von geringem
4 So Melitta Gerhard: Die Bauerburschenepisode im Werther (1916). Wieder in: Goethes Werther. Kritik und Forschung. Hrsg. von Hans Peter Hernnann. Darmstadt 1994 (Wege der Forschung 607), S. 23-38; hier S. 32.
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Stand, mit denen Werther rasch .,vertraut" wird (18). So erfährt er schon im ersten Gespräch mit ihm das zarte und zugleich lebhafte Bekenntnis der Liebe des Bauerburschen zu seiner verwitweten Herrin, wobei dieser ganz unbefangen auch von der erotischen Seite seiner Zuneigung spricht. Werther gibt dieses Gespräch nur in indirekter Rede wieder und beschränkt sich dabei vielfach auf die Nennung von Stichpunkten aus der Erzählung des Knechtes und auf die Mimik des Sprechenden. Denn überlagert wird der ganze Bericht von dem Eingeständnis Werthers, daß seine eigenen .,plumpen" Worte außerstande seien, die .,reine Neigung" dieses Menschen, die .,Zartheit" in .,seinem ganzen Wesen und Ausdruck" (18) angemessen wiederzugeben. Durch solche Betonung der eigenen Sprachnot steigert Werther noch den Ausdruck seines Enthusiasmus fiir diese ihm bisher ungeahnte .,Reinheit" der Liebe (19). Zugleich führt ihn diese Sprachnot dazu, daß er das Gehörte .,nur in meiner ionersten Seele wiederholen" kann. Damit wechselt er unmerklich von der Erzählung zu ihrer Wirkung auf ihn selbst und kommt am Ende folgerichtig zu dem Bekenntnis, .,daß bei der Erinnerung dieser Unschuld und Wahrheit mir die ionerste Seele glüht, und daß mich das Bild dieser Treue und Zärtlichkeit überall verfolgt, und daß ich, wie selbst davon entzündet, lechze und schmachte" (19). Werther deutet damit diese erste Begegnung mit dem Bauerburschen als Teilnahme an einer .,Naturerscheinung" (18), sein sentimentalischer Charakter erblickt in der Naivität dieses .,sehnlichen Verlangens" ein idyllisches Idealbild der Liebe, das er selbst weder .,gedacht" noch .,geträumt" hat (19) und das ihn gerade wegen seiner Fremdheit fasziniert. Werthers Erstaunen bleibt aber nicht bloße Schwärmerei; vielmehr weckt das neu empfangene Bild nun auch in ihm selbst eine heftige, aber noch unbestimmte Liebessehnsucht, und diese Erweckung erhält im Zusammenhang des ganzen Romans die Bedeutung einer Initiation und inneren Vorbereitung Werthers auf seine Bekanntschaft mit Latte, die er schon im nächsten Brief (vom 16. Junius) schildern wird. Damit erhält die erste Begegnung mit dem Bauerburschen eine wichtige Funktion fiir die seelische Entwicklung des Romanhelden5 , und darin liegt
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Vgl. Hass (Anm. 1), S. 110.
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zugleich der Exemplum-Charakter dieses ersten Abschnitts der Bauerbursch-Episode begründet. Denn wie schon in den anderen Beispielen ist der Unterschied, ja Gegensatz in den einzelnen konkreten Umständen und Verhältnissen zwischen Haupthandlung und ParaHelgeschichte für deren Tauglichkeit als Exemplum unerheblich. Wesentlich ist, daß Werther dank des Idealbildes der Liebe, das er sich aus dem Bekenntnis des Bauerburschen geschaffen hat, auch selber für ein solch reines und zartes Erlebnis empfanglieh geworden ist.
Die zweite Begegnung mit dem Bauerburschen findet erst im Herbst des folgenden Jahres statt (Brief vom 4. September 1772). In der Zwischenzeit hat Werther nach wenigen glücklichen Sommerwochen im Umgang mit Lotte eine wachsende Unruhe und Verzweiflung in seiner Liebe zu ihr erfahren, seine Flucht in die Tätigkeit bei der Gesandtschaft in der Residenz hat keine Rettung gebracht, sondern endet mit der verhängnisvo11en Rückkehr zur inzwischen mit Albert verheirateten Lotte im Sommer darauf. Es ist keine Rückkehr zum vorjährigen Glück, vielmehr ein Rückfall in jene willenlose Verzauberung, aus der sich Werther ein Jahr zuvor durch abrupten Abschied hatte befreien wo11en. Auch ist die Freundschaft zu Albert einem gespannten Verhältnis gewichen; das Eifersuchtsmotiv, schon im Hochzeitsglückwunsch (20. Februar) hörbar, tritt jetzt sehr stark hervor und steigert sich bis zum Traum von Alberts Tod (21. August). Entsprechend erscheint Werther nun auch die vertraute Umgebung entfremdet: "A11es, alles ist vorübergegangen! Kein Wink der vorigen Welt, kein Pulsschlag meines damaligen Gefühles." (76) Selbst sein geliebtes Wahlheim wird ihm jetzt zum "Ort des traurigen Andenkens" (76). Denn sowohl seine Wiederbegegnung mit der jungen Familie (4. August) als auch mit dem Bauerburschen (4. September) bestätigen ihm die Verwandlung der Welt ins Düstere, und zwar nicht nur auf Grund seines subjektiven Empfindens sondern auch auf Grund objektiver Tatsachen. Gerade dies berechtigt Werther, zum Auftakt seines Berichts über die zweite Begegnung mit dem Bauerburschen (77-78) ihrer beider Schicksale unter dem Bilde der vorgerückten Jahreszeit gleichzusetzen: "Wie die Natur sich zum Herbste neigt, wird es Herbst in mir und um mich her. Meine Blätter werden gelb, und schon sind die Blätter der benachbarten Bäume abgefallen." (76-77) Der erste Satz betont das gemeinsa-
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me Sinken der beiden Lebensbogen, der zweite Satz deutet zudem einen zeitlichen Vorsprung der Parallelhandlung an. Dem entspricht die Geschichte des Unglücks, das inzwischen über den Knecht hereingebrochen ist: Seine täglich wachsende "Leidenschaft zu seiner Hausfrau" habe ihn endlich so verwirrt, daß er "sich ihrer mit Gewalt (habe) bemächtigen wollen" (77), worauf er von ihrem Bruder, der ihn wegen des drohenden Erbverlustes ohnehin gehaßt habe, aus dem Hause gestoßen worden sei; doch sei er entschlossen, ihre mögliche Heirat mit einem neuen Knecht nicht zu erleben. Auch diese Geschichte gibt Werther nur in indirekter Rede wieder und läßt dabei den Knecht das karge Handlungsgerüstmit einem ausführlichen Bekenntnis seines willenlosen Getriebenseins ("wie von einem bösen Geist verfolgt", "er wisse nicht, wie ihm geschehen sei" [77]), aber auch mit lebhaften Beteuerungen seiner redlichen Absichten und seiner unverbrüchlichen Liebe füllen. Darüber hinaus betont Werther selbst die schüchterne und doch offene Art dieser Beichte und gesteht erneut seine Unfähigkeit, "mit unsern hergebrachten sittlichen Worten" (78) die Treue und Aufrichtigkeit dieses urwüchsigen Menschen recht vorzustellen. Denn nach wie vor erblickt Werther bei dieser unverbildeten Natur die Leidenschaft "in ihrer größten Reinheit" (78) verwirklicht, mehr denn je erscheint ihm hier das Musterbild des Liebenden. Warum noch immer diese Verklärung? Werther ist deshalb so fasziniert, weil er im Wesen des Bauerburschen deutlicher als zuvor diejenigen Tugenden verkörpert findet, die auch für ihn lebensbestimmende Werte sind: Unbedingtheit und Geradlinigkeit. Zu dieser Bewunderung tritt ein tiefes Mitgefühl für den Unglücklichen, weil dessen Verfallenheit an die geliebte Frau und seine Eifersucht auf den Nebenbuhler Werther gleichfalls an die eigene Situation erinnern. Schon in diesen Punkten kann also Werther auch den zweiten Teil der Episode als Exemplum für sich selbst bestätigt sehen, zumindest für seine bisherige Geschichte. Diese für die Vergangenheit und Gegenwart gültigen Parallelen zieht Werther nun aber weiter in die eigene Zukunft, wenn er am Schluß seines Berichts an Wilhelm das allgemeine Resümee, "daß es auch die Geschichte deines Freundes ist", durch den Zusatz: "Ja so ist mir's gegangen, so wird mir's gehn" präzisiert (79). Denn die Erzählung des Bauerburschen hat ihn nicht nur "gerührt", sondern "ängstigt" ihn auch (77). Der
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gewalttätige Ausbruch der Leidenschaft, die schimpfliche Verbannung von der Geliebten und nicht zuletzt der Entschluß, den Erfolg des Rivalen nicht zu erleben, sind Aspekte der fremden Geschichte, die Werther für seine eigene Zukunft fürchten lassen. Im Unglück des Knechtes erkennt Werther die notwendigen Folgenjener ihnen beiden gemeinsamen Unbedingtheit und muß daher in der fortschreitenden Geschichte seines Leidensgenossen immer klarer das eigene Schicksal vorgebildet finden. Dabei sieht Werther wie schon bei der ersten Begegnung von den eklatanten Unterschieden in den äußeren standesbedingten und ökonomischen Umständen und Personenbeziehungen6 bewußt ab und beachtet nur die gemeinsamen Grundzüge in Wesensart und Geschick. Dies gilt nur zum Teil auch für die dritte und letzte Begegnung mit dem Bauerburschen. Sie findet bei einbrechendem Winter, Anfang Dezember 1772, statt, wird aber nicht mehr von Werther selbst erzählt, sondern vom Herausgeber seiner Briefe in den Anfang des langen, abschließenden Berichts über die letzten Tage des Romanhelden eingelegt. Damit nimmt die Bauerbursch-Episode als einzige Parallelgeschichte im Wenher an dem Erzählerwechsel teil, der sich durch den Herausgeberbericht am Ende des Romans vollzieht. Dabei wird die subjektive IchPerspektive Werthers durch eine auktorial-allwissende Ich-Perspektive des Herausgebers abgelöst. Dieser gibt zwar vor, daß ihm nur übrig bleibe, .,dasjenige, was wir mit wiederholter Mühe erfahren können, gewissenhaft zu erzählen" (92f.); in Wirklichkeit aber kennt er sogar die geheimsten Gedanken und Regungen der Beteiligten einschließlich Werthers?, so daß durch den Wechsel der Erzähler die intime Sicht Werthers nicht verlorengeht, sondern innerhalb der auktorialen Perspektive des Herausgebers erhalten bleibt. Mit dem Wechsel der Erzähler findet also nicht so sehr ein Wechsel der Perspektiven als ihre Verdoppelung statt. Aus diesem Grunde ist der Herausgeberbericht im
6 Vgl. dazu im einzelnen Horst Flaschka: Goethes Werther. Werkkontextuelle Deskription und Analyse. München 1987, S. 202. 7 Es trifft also nicht zu, daß in der zweiten Fassung des Romans "die Allwissenheit des Erzählers abgeschafft wird"; so aber Dieter Welz: Der Weimarer Werther. Studien zur Sinnstruktur der zweiten Fassung des Werther-Romans. Bonn 1973 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 135), S. 56.
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Unterschied zu den Briefen Werthers in der Lage, konträre Wertakzente bei der Beurteilung der Charaktere und des Geschehens einander gegenüberzustellen, welche Möglichkeit er gerade in der zweiten Fassung des Romans nach Kräften nutzt. Im Falle der Schlußphase der BauerburschEpisode werden dabei die verschiedenen Ansichten so kunstvoll ineinander verschränkt, daß wir im folgenden Schritt für Schritt vorgehen müssen, um die exemplarische Bedeutung dieser Schlußphase für die Geschichte Werthers recht zu erfassen. Die dritte Begegnung mit dem Bauerburschen baut der Herausgeber in einen neu hinzugefügten Besuch Werthers im Jagdhause des Amtmanns ein. Der Weg dorthin wird mit einem Selbstgespräch Werthers gefüllt, das ganz vom Motiv der Eifersucht gegen Albert beherrscht ist. Im Hause selbst erfährt Werther von einem Mord in Wahlheim und kann aus den Nachrichten schließen, daß dort der ihm bekannte Bauerbursch zum Mörder an seinem Rivalen geworden sei. Werther muß erkennen, daß die gleiche Empfindung, die ihn im Augenblick selbst erfüllt, in der Geschichte des Bauerburschen soeben ihre letzte, furchtbare Konsequenz gezogen hat. Es ist darum verständlich, daß er sofort und in großer Erregung nach dem Dorfe aufbricht, wo noch vor seiner letzten Begegnung mit dem Bauerburschen ihr Schauplatz geschildert wird, den sie mit der ersten Begegnung gemeinsam hat: vor dem damals so idyllischen Ort muß sich Werther "entsetzen", weil er nun "mit Blut besudelt" ist (95), und statt eines Frühlingstages unter Linden bildet ein schneebedeckter Kirchhof die symbolische Kulisse. Dem entspricht das knappe, wertende Resümee über die gesamte Episode, noch bevor sich Werthers Vermutung bestätigt: "Liebe und Treue, die schönsten menschlichen Empfindungen, hatten sich in Gewalt und Mord verwandelt. "(95) Dieses lapidare, die Schlußszene vorwegnehmende Urteil kann sowohl vom unheilahnenden Werther als auch vom auktorialen Herausgeber stammen. Ob Werther damit auch seinen eigenen Lebensbogen vorgezeichnet findet, bleibt ungewiß; sicher aber ist, daß der Herausgeber hier auf das Ende des Romans vorausdeutet, insofern er nämlich auch den Selbstmord als eine gewalttätige Konfliktlösung betrachtet. Wenn nunmehr der Bauerbursch gefangen herbeigeführt wird und auf die Frage Werthers nach seiner Tat "ganz gelassen" antwortet: "Keiner wird
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sie haben, sie wird keinen haben" (95), ist Werther vor allem vom Motiv der Tat getroffen, das ihn mit dem Bauerburschen so stark verbindet. Nur so ist die überraschende Reaktion Werthers verständlich, von dem es heißt, daß er "durch die entsetzliche, gewaltige Berührung" aus seiner Lethargie "auf einen Augenblick herausgerissen" und von einer "unsäglichen Begierde" ergriffen worden sei, "den Menschen zu retten", weil sein tiefes Mitgefühl mit dem Unglücklichen diesen auch als Verbrecher "schuldlos" gefunden habe (96). Denn inzwischen ist auch Werther selbst so stark von den Empfindungen der Eifersucht beherrscht, daß er nicht nur für die gleichen Gefühle des Bauerburschen, sondern auch für die daraus entspringende Mordtat Verständnis aufbringt, statt sie wie den früheren Gewaltversuch des Knechtes als ein schlimmes Zeichen für die eigene Zukunft zu nehmen und sich davor zu ängstigen. Ja, er faßt sogar den Vorsatz, den Bauerburschen zu verteidigen, und führt nach der Rückkehr ins Jagdhaus ein heftiges Gespräch mit dem Amtmann und Albert, womit der Herausgeber die Gelegenheit schafft, Werthers Meinung direkt mit gegenteiligen Ansichten zu konfrontieren. Denn wenn Werther jetzt "mit der größten Lebhaftigkeit, Leidenschaft und Wahrheit" den Täter zu entschuldigen sucht, erfährt er sofort den "eifrigen" und tadelnden Widerspruch des Amtmanns, der umgekehrt das Gesetz und die "Sicherheit des Staats" verteidigt (96). Auch Albert tritt auf die Seite des Amtmanns und nicht zuletzt der Herausgeber selbst, wenn er mit der Parenthese "wie sich's leicht denken läßt" (96) den Widerstand des Amtmanns ankündigt und damit nicht nur selbst dessen Position als die normale und vernunftgemäße betrachtet, sondern das gleiche Urteil auch vom Leser erwartet.8 Damit isoliert der Herausgeber Werthers bedingungslose Solidarität mit einem Mörder gegen die Auffassung aller Beteiligten und lehnt sie wie alle anderen als unvernünftige und gefährliche Verstiegenheit ab. 9
Vgl. Welz (Anm. 7), S. 47. Welz (Anm. 7), S. 46f. hat gezeigt, daß Werthers Plädoyer den neuen Humanismus der zeitgenössischen Rechtslehre und Gerichtspraxis repräsentiert, wie ihn eine historische Skizze des damaligen Justizwesens in Dichtung und Wahrheit erläutert: .,Gefangnisse wurden gebessert, Verbrechen entschuldigt, Strafen gelindert" (Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. 13. Buch. In: Goethes Werke. Hamburger 8
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Erklärlich wird diese eindeutige Kritik an Werthers Haltung aus einem Vergleich mit seiner bisherigen Reaktion auf die Parallelgeschichte. Bei seinen früheren Begegnungen hatte er die BauerburschEpisode immer nur auf einer allgemeinen, halb abstrahierenden Ebene als Exempel der eigenen Geschichte verstanden, indem er die äußeren Umstände und Fakten unbeachtet und nur die Grundzüge in Charakter und Schicksal als Vergleichspunkte gelten ließ. Jetzt aber solidarisiert er sich nicht mehr nur mit der Gesinnung des anderen, sondern auch mit deren konkreten Folgen und verläßt damit die bisherige Vergleichsebene. Zudem vertraut er dieses Engagement nicht mehr einsamen Briefen an, sondern bekundet es in direkter, zielgerichteter Auseinandersetzung mit einer Amtsperson. Durch diese beiden Schritte überanstrengt er die Beispielgeschichte und muß - analog zum Bauerburschen - mit der gesetzlichen Gegenseite in Konflikt geraten. Werther wird überstimmt und kehrt daraufhin zum einsamen schriftlichen Bekenntnis zurück. In einer vereinzelten, erst im Nachlaß auf einem .,Zettelchen" gefundenen Notiz greift er den wiederholten Ausspruch des Amtmanns über den Mörder: .,Nein, er ist nicht zu retten!" (96) wieder auf: .,Du bist nicht zu retten, Unglücklicher! ich sehe wohl, daß wir nicht zu retten sind." (97) Mit der Hereinnahme des .,nicht zu retten" ins gleichsetzende ., wir" hebt er die Unrettbarkeit beider ins Grundsätzliche und bezieht sie dabei nicht nur auf die gemeinsame Situation der unglücklichen Liebe10, sondern auch auf die sie verursachende gemeinsame Haltung der Unbedingtheit, die in beiden Fällen zum Untergang führen muß. So kehrt Werther in diesem kurzen Fazit am Ende der Bauerbursch-Episode zur adäquaten Identifikation auf
Ausgabe. Hrsg. von Erich Trunz. Bd. 9. Hamburg 3 1959, S. 565). Der kurz daraufzusammenfassendeSatz: "ein Damm nach dem andem ward durchbrochen" (ebd., S. 566) zeigt dabei den rückblickenden Goethe auf der gleichen Seite, auf der im Roman Amtmann, Albert und Herausgeber stehen. -Die abwegige These von Peter Müller: Zeitkritik und Utopie in Goethes Werther. Berlin 1969 (Germanistische Studien), S. 231, Werther wolle den Bauerburschen in einem die Standesgrenzen überschreitenden "Altruismus" vor der "feudalen Macht und Gesetzlichkeit" retten, hat schon Flaschka (Anm. 6), S. 204f. widerlegt. 10 Vgl. Flaschka (Anm. 6), S. 207.
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mittlerer Ebene zurück, was der Herausgeber denn auch ohne jede Kritik, ja ohne Kommentar registriert. Zugleich gehört diese Notiz in eine Reihe von Ausrufen ("ich bin dahin!", "mit mir ist's aus" [85, 91]), die seit Anfang November in den Briefen Werthers begegnen und immer deutlicher sein tragisches Ende ankündigen. Bisher standen solche Äußerungen im Zusammenhang seiner Verfallenheit an Lotte, jetzt sieht Werther seinen unaufhaltsamen Niedergang auch durch das Exemplum der Bauerbursch-Geschichte bestätigt. Darüber hinaus aber wirkt wie die früheren Phasen der Episode auch ihr Schluß unmittelbar auf die Haupthandlung, indem sie den Tod des Helden beschleunigt. Denn der Herausgeber weiß zu berichten, daß der vergebliche Rettungsversuch "das letzte Auflodern der Flamme eines verlöschenden Lichtes" gewesen und Werther danach "desto tiefer" in seine Apathie zurückgesunken sei, worin er sich endgültig seiner "wunderbaren Empfindung" und Selbstzerstörerischen Leidenschaft hingegeben habe und so einem "traurigen Ende" immer näher gerückt sei (98). In der ersten Fassung des Romans hatte der Herausgeber für diesen Rückfall in die Untätigkeit den Verdruß bei der Gesandtschaft verantwortlich gemacht, in der zweiten Fassung tritt an dessen Stelle der Mißerfolg in der Sache des Bauerburschen, allerdings nur als letztes Glied in der Reihe aller Kränkungen und Vergeblichkeiten, die Werther jemals in seinem wirksamen Leben hatte erfahren müssen und an die er sich angesichts des jüngsten Mißlingens wieder erinnert. So wird die Depression über den vergeblichen Rettungsversuch zwar nicht, wie Peter Müller11 gemeint hat, zum Anlaß für Werthers "endgültigen Selbstmordentschluß" (diesen führt erst das vorletzte Gespräch mit Lotteam Sonntag vor Weihnachten herbei [102f.]), wohl aber füllt sie das Maß seiner Leiden an der Welt und treibt ihn endgültig in den lethargischen Zustand der "Lebensmüde" (98), worin sein schon lange gehegter Wunsch reifen wird, diese Welt zu verlassen.
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Müller (Anm. 9), S. 231.
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Überblickt man am Ende die drei untersuchten Beispielgeschichten der jungen Selbstmörderin, des irren Blumensuchers und des Bauerburschen und fragt nach ihrer generellen Bedeutung für den Roman und seinen Helden, so kann man festhalten: Jede der drei Einlagen erzählt die Geschichte einer unglücklichen Liebe, die zur Katastrophe führt. Doch sind die Charaktere und Lebensumstände ihrer Hauptgestalten derart verschieden, daß auch ihre Schicksale weder untereinander noch mit Werthers Leiden vergleichbar scheinen. Dennoch empfindet und deutet Werther jede der drei Geschichten als Exemplum für sein eigenes Schicksal. Es ist ihm möglich, weil er von den evidenten Unterschieden in den äußeren Umständen und Personenbeziehungen absieht und nur die Grundzüge in Wesensart und Geschick beachtet, die er mit der jeweiligen Beispielfigur gemeinsam hat, so daß er auch die Katastrophen der Parallelgeschichten als Gefahren für die eigene Zukunft fürchtet. Nun hat man vor allem in Untersuchungen der Bauerbursch-Episode des öfteren die Auffassung vertreten, Goethe habe diese Geschichte in den Roman eingefügt, um im Sinne seiner späteren Tendenz zur Typisierung das Schicksal Werthers "in die Reihe menschlicher Geschicke überhaupt" zu stellen, es "als etwas allgemein Menschliches erscheinen zu lassen" . 12 Eine solche Deutung träfe sicher zu, wenn ein auktorialer Erzähler Haupt- und Seitenhandlung nebeneinanderstellte und damit beide stillschweigend typisierte. Komplizierter wird jedoch die Sachlage, wenn der Held der Haupthandlung selber die Seitenhandlung erzählt und auch deutet. Dann ist genau darauf zu achten, ob und wieweit der Betroffene selbst mit dem von ihm erzählten Beispiel die eigene Geschichte verallgemeinern will. Im Falle Werthers wäre also zu fragen, ob er das Exemplarische der fremden Geschichten deshalb so stark betont, weil er die eigene exzentrische Haltung und Situation als eine
12 So schon Gerhard (Anm. 4), S. 31, der sich Flaschka (Anm. 6), S. 201 anschließt. Vgl. auch Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. Stuttgart 1955, S. 55, der das Zusammenspiel von Haupt- und Seitenhandlung als Manifestation eines "überpersönlichen Lebensgesetzes" deutet, und Müller (Anm. 9), S. 230, für den der Einbau der Episode dem Schicksal Werthers den "Sondercharakter" nimmt und es "zum Schicksal der gesamten von der Feudalgesellschaft bedrückten[ ... ] Nation verallgemeinert".
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allgemein menschliche Erscheinung darstellen, d.h. relativieren und also entschuldigen will. Eine solche apologetische Intention wird tatsächlich im Streitgespräch mit Albert spürbar; Werther behauptet dort im Anschluß an die Geschichte der jungen Selbstmörderin eine allen Menschen gemeinsame Grundsituation des Beispiels, um seine Auffassung von der Unvermeidlichkeit des Selbstmords zu begründen und zu verteidigen. Aber schon die Geschichte des irren Blumensuchers wird für Werther erst zum Exemplum, als er von dessen Leidenschaft zu Lotte erfährt. Hier handelt es sich also um eine ganz spezifische Parallele, die keine Verallgemeinerung zuläßt. Vielmehr entdeckt Werther im Blumensucher einen Leidensgenossen, dessen extreme Liebesverzweiflung ihn ausschließlich an die eigene Situation erinnert und in seinen Augen nur sie beide miteinander vergleichen läßt. Hingegen scheint dem Bericht über das Unglück des Bauerburschen (nach der zweiten Begegnung) wieder eine apologetische Absicht zugrunde zu liegen. Bei genauerem Zusehen wird jedoch deutlich, daß Werther hier zwar die ihm und dem Knecht gemeinsame Haltung der Unbedingtheit rechtfertigt, aber weder von dieser Gesinnung noch von ihren Folgen behauptet, sie seien allgemein und repräsentativ. Vielmehr ist er von der Vergleichbarkeit ihrer Schicksale überrascht und bestürzt, weshalb es ihn auch "besonders zu diesem Unglücklichen hinzieht" (78). Wenn Werther ihre beiden Geschichten gleichsetzt, geschieht es nicht, um ihre allgemein menschliche Repräsentanz zu behaupten, sondern um ihr gemeinsames Außenseiterturn zu betonen. Das Exzentrische der eigenen Situation wird also durch das verwandte Beispiel nicht abgeschwächt oder gar geleugnet, sondern bekräftigt und seine Bedrohlichkeit durch den Ausblick in die Zukunft noch gesteigert. Das gleiche gilt für die letzte Begegnung mit dem Bauerburschen nach der Mordtat. Denn Werthers Resümee, "daß wir nicht zu retten sind" (97), gilt wieder nur für sie beide, nicht für jeden unglücklich Liebenden, geschweige für den Menschen allgemein. Und erst recht beabsichtigt der auktoriale Herausgeber in seinem Bericht über den Schluß der Episode nirgends eine Typisierung. Wie er in der zweiten Fassung des Romans generell eine deutlichere Kritik an Werther übt, so auch an dessen
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Solidarität mit dem Mörder, und er ist bemüht, ihn auch hierin als extremen Charakter zu isolieren. Damit betont auch der Herausgeber die Nähe Werthers zum Bauerburschen; im Maße er jedoch ihre Vergleichbarkeit als zweier exzentrischer Naturen erhöht, entfernt er sie zugleich beide von der allgemein menschlichen Situation. Somit gibt Werther nur der von ihm selbst erfundenen Geschichte der jungen Selbstmörderin eine generelle Bedeutung; die beiden anderen, von Werther als real erfahrenen Geschichten sind für ihn überraschende Spiegelbilder der eigenen Extremsituation und gelten als Beispiele nur für ihn selbst. Erst solche Exklusivität verleiht diesen Parallelgeschichten dann auch die Kraft, die Haupthandlung zu beeinflussen, so daß sie nicht nur Erzählspiegel mit bestätigender oder vorausdeutender Funktion bleiben, sondern an ihrer je besonderen, für das Romangefüge bedeutsamen Stelle eine unmittelbare Wirkung auf Werthers seelische Entwicklung und auf den Fortgang seines Schicksals ausüben. Damit werden diese Exempla integrierende Teile des Romans, die den Charakter des Helden, die Atmosphäre seiner Welt und den Weg zu seinem tragischen Ende mitgestalten.
Ossian in Goethes Werther Um die Bedeutung Ossians für Goethes Wenher recht zu verstehen, muß man auch die Stationen von Goethes Ossian-Studium in den Jahren vor der Entstehung des Romans kennen. Ich will daher im folgenden zunächst seine frühen Übersetzungsversuche vorstellen, dabei auch nach seinem Auswahlprinzip und nach der Besonderheit der von ihm übersetzten Texte fragen, um dann Sinn und Funktion der Ossianstellen im Roman, vor allem von Werthers eigener Ossianübersetzung im Vergleich zu ihrer Vorstufe erkunden.
* Spätestens im Winter 1768/69 lernt Goethe nach der Rückkehr aus Leipzig während seines Krankenlagers im Elternhaus Ossian in der zweibändigen Werkausgabe von 17651 kennen, die in der Bibliothek des Vaters stand. Goethe hält, wie die meisten damals, den Barden Ossian für historisch, seine Gesänge für alt und echt, zumal der "Übersetzer" James Macpherson in Vorwort, Fußnoten und zwei ausführlichen "dissertations" ihr Alter und ihre Authentizität beteuert und wiederholt von den gälischen Originaltexten spricht, die er auf Reisen durch das schottische Hochland gesammelt habe. Goethes Glaube an die Echtheit der Ossianisehen Gesänge geht aus einem Brief an Friederike Oeser vom 13. Februar 1769 hervor, worin er - schon vor der Begegnung mit
1 The Works of Ossian The Son of Fingal. In two volumes. Translated from the Galic Language by James Macpherson. - Vol. I. containing, Fingal, an Ancient Epic Poem, in six books; and several other poems. [Motto:] Fortia factu [!] patrum. Virg. - Vol. II. containing, Temora, an Ancient Epic Poem, in eight books; and several other Poems. - The third edition. - To which is subjoined A critical Dissertation on the Poems of Ossian, by Hugh Blair, D.D. - London: Printed forT. Becket and P.A. Dehondt at Tully's Head, near Surry Street, in the Strand, MDCCLXV. (Titelwiedergabe nach Autopsie eines Exemplars der "Special Collection" der Universitätsbibliothek Aberdeen).
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Herder - Ossian gegenüber den epigonalen Versuchen der zeitgenössischen Bardendichtung positiv hervorhebt. 2 Dieser unbeirrte Glaube wird zwei Jahre später in Straßburg durch Herders Begeisterung für den keltischen Barden nur noch bestärkt. Herder hegt ebenfalls keinen Zweifel an Alter und Echtheit der Ossianisehen Dichtung. Er stellt Ossian in eine Reihe mit Homer, der Bibel, mit Shakespeare, den alten Balladen und Volksliedern und feiert ihn wie diese als ein Beispiel ursprünglicher Poesie.3 Wohl auf Herders Wunsch hin übersetzt Goethe im Sommer 1771 einige Strophen aus dem 7. Buch von Ossians Epos Temora. Er wählt dieses Buch, weil Macpherson davon als einzige Kostprobe des Originals auch den Urtext (in Versen) bringt.4 Diese erste Ossianübersetzung5 sendet Goethe im September 1771 an Herder. Strophenweise und in paralleler Ordnung bringt er links die gälischen Verse, rechts die eigene deutsche Übersetzung, ebenfalls in freien Rhythmen, und fügt darunter jeweils den englischen Prosatext Macphersons zur Kontrolle bei. Im festen Glauben, mit Ossians Versen ältestes Liedgut vor sich zu haben, ist Goethe hier bemüht, mit einer harten Wort-für-Wort-Übersetzung sich in die Vorzeit, zu den Ursprüngen der Poesie zurückzuta-
2 Goethe: Brief an Friederike Oeser. Frankfurt, 13. Februar 1769: "Wenn Ossian im Geiste seiner Zeit singt, so brauche ich gerne Commentars, sein Costume zu erklären, ich kann mir viele Mühe darum geben; nur wenn neuere Dichter sich den Kopf zerbrechen, ihr Gedicht im alten Gusto zu machen, dass ich mir den Kopf zerbrechen soll, es in die neue Sprache zu übersetzen, das will mir meine Laune nicht erlauben." (Der junge Goethe. Neu bearbeitete Ausgabe in fünf Bänden. Hrsg. von Hanna FischerLamberg. Berlin 1963-1973; hier Bd. 1, S. 270). 3 V gl. neben vielen anderen Zeugnissen seinen schon im Sommer 1771 entstandenen, aber erst 1773 in den "fliegenden Blättern" Von Deutscher Art und Kunst veröffentlichten Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder aiJer Völker. In: Herders Sämtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. Berlin 1877ff. Bd. 5, S. 159 bis 207. 4 The Works of Ossian (Anm. 1), Vol. II, S. 289-309: "A Specimen of the Original of Temora. Book Seventh." 5 Goethe: Brief an Herder. Frankfurt, September 1771 . In: Der junge Goethe (Anm. 2), Bd. 2, S. 64-66. - Ein Faksimile des Briefes, den heute das Goethe-Museum Frankfurt besitzt, bringt das Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1908 vorS. 261 als Beilage zum Aufsatz von 0. Heuer: Eine unbekannte Ossianübersetzung Goethes.
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sten. In die gleiche Richtung weist sein eigener Kommentar 6 zum übersetzten Urtext: Goethe nennt ausschließlich formal-stilistische Kennzeichen der gälischen Vorlage, wie ,.ungebildeter Ausdruck", ,. wilde Ungleichheit des Sylbenmases", ,.das nachklingende pleonastische", was alles dem Ossianisehen Vers ,.einen eignen Fall" und seinen Bildern ,.eine nachdrückliche Bestimmung" gebe, und dieser Stil unterscheide ,.Ossians schottisches" sehr deutlich vom ,.Rythmus" und der ,.Eleganz" der englischen Balladen in Percys Reliques. Begeistert von der Entdeckung dieses literarischen Urgesteins, stellt Goethe den schottischen Barden für einen Augenblick sogar mit Shakespeare auf gleiche Stufe, wenn es abschließend im Brief an Herder heißt: ,.Ich habe schon dem Warwickschirer ein schön Publikum zusammen gepredigt" - nämlich für die Shakespeare-Feier im Elternhaus - ,.Und übersetze Stückgen aus dem Ossian damit ich auch den aus vollem Herzen verkündigen kann" 7 • Mehr als Goethe damals ahnen konnte, ist dieses Vorhaben Wirklichkeit geworden. Denn diese zweite Übersetzungsprobe, noch im gleichen Monat angefertigt, wählt aus dem 1. Band der Werkausgabe The Songs of Selma 8 aus, und diese Gesänge wird Goethe später, in überarbeiteter Form und ergänzt um einige Sätze aus dem Anfang des Gedichts Berrathon, in den Wenher aufnehmen und dadurch Ossian zu neuem und nachhaltigem Ruhm in ganz Europa verhelfen. Man kann sich fragen, warum Goethe gerade diese Texte und keine anderen aus den beiden umfangreichen Bänden der Works of Ossian ausgewählt hat. Blättert man selbst in diesen Bänden, fallen einem sofort die zahlreichen Fußnoten Macphersons auf, in denen er nach den Inhaltsangaben vor allem historische Hintergründe, Namen, Wörter und Sachen erklärt. Gelegentlich kommt er aber auch auf die Form und den Ton der Originale zu sprechen und wertet sie dabei stets positiv. Es scheint nun, daß sich Goethe von diesen formal-ästhetischen Hinweisen hat leiten lassen. Denn aus den etwa zwölf von Macpherson auf solche Weise hervorgehobenen Stücken- und nur aus diesen- hat sich Goethe
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Ebd., Bd. 2, S. 67. Ebd. The Works of Ossian (Anm. 1), Vol. I, S. 291-303: Ihe Songs of Selma.
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drei Beispiele zum Übersetzen ausgewählt. Zwar wurde er zum 7. Buch von Temora primär durch die Urtextproben geführt. Aber daß er von diesem Buch nicht nur die Anfangsabschnitte sondern auch Teile der Schlußstrophen übersetzt hat, ist wohl auf einen Hinweis Macphersons in der Inhaltsangabe ("A Lyric song concludes the book. ")9 und auf eine Fußnote zurückzuführen, die zu diesen Strophen bemerkt: "The original of this lyric ode is one of the most beautiful passages of the poem. " 10 Ähnlich führt Macpherson 1he Songs of Selma ein: "The poem is entirely lyric, and has great variety of versification. The address to the evening star, with which it opens, has in the original all the harmony that numbers could give it; flowing down with all that tranquillity and softness, which the scene described naturally inspires. " 11 Und entsprechend heißt es in der Eingangsfußnote zum Gesang Berrathon: "It is almost altogether in a lyric measure, and has that melancholy air which distinguishes the remains of the works of Ossian. " 12 Bei allen drei Stücken werden also ihre lyrische Form und zugleich ihr poetischer Rang betont. Es ist verständlich, daß der Straßburger Goethe, der sich mit Herder für die Lieder alter Völker begeistert und soeben im Elsaß Volkslieder gesammelt hat13 , nun auch aus dem Werk des Epikers Ossian gerade die lyrischen Partien, und die schönsten davon, für seine Übersetzung auswählt. Das gilt in besonderem Maße für 1he Songs of Selma, aus denen Goethe nicht, wie noch beim 7. Buch des Epos Temora, nur einzelne Sätze herausgreift, sondern die er als geschlossenes Ganzes vollständig überträgt. Das Gedicht ist sehr kunstvoll gebaut. Es besteht aus einem doppelten Rahmen, in den ein Lied, ein Wechselgesang und eine Erzählung eingelegt sind. Der äußere Rahmen spielt in der Gegenwart des dem Tode nahen Ossian, im inneren Rahmen vergegenwärtigt der Dichter rückblickend ein vergangenes Fest auf Selma in der Halle seines
Ebd., Vol. II, S. 154. Ebd., Vol. II, S. 176. 11 Ebd., Vol. I, S. 291. 12 Ebd., Vol. I, S. 357. 13 Vgl. Goethes Brief an Herder. Frankfurt, September 1771. In: Der junge Goethe (Anm. 2), Bd. 2, S. 63. 9
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königlichen Vaters Fingal, wo viele Fürsten und Helden versammelt sind und mehrere Barden im Gesange wetteifern. Zuerst tritt die Sängeein Minona auf und zitiert das Klagelied der Colma über ihren Geliebten und ihren Bruder, die sich im Zweikampf getötet haben. Danach wiederholen Ossian und Ullin einen Wechselgesang der schon damals verstorbenen Barden Ryno und Alpin über den Tod des Helden Morar, ein Preis- und Klagelied, das zuletzt auch den greisen Vater des Toten erscheinen und in die Klage der Barden einstimmen läßt. Dieser mittlere Gesang ist sowohl mit der ersten als auch mit der dritten Einlage deutlich verklammert. Denn im Zwischenrahmen wird Minona als Schwester des Morar vorgestellt, die aus Schmerz über den Verlust ihres Bruders sich vor dem Wechselgesang zurückzieht, um nicht erneut von seinem Tod hören zu müssen. Damit aber erweist sich rückwirkend das von ihr vorgetragene Schicksal Colmas als ein partielles Spiegelbild ihrer eigenen schwesterlichen Situation: Minona singt mit dem Lied Colmas insgeheim auch eine Klage um den eigenen Bruder, präludiert also mit ihrem Lied den nachfolgenden Wechselgesang. -Noch deutlicher wird die zweite mit der dritten Einlage verbunden. Denn die Klage von Morars Vater um seinen Sohn am Ende des Wechselgesangs weckt beim zuhörenden Fürsten Armin die Erinnerung an den Tod seines eigenen Sohnes Arindal und seiner Tochter Daura, und aufgefordert, den Grund seines Jammers zu nennen, berichtet er in ausholender Erzählung das tragische Schicksal seiner Kinder. In der Verlassenheit von Morars Vater erblickt Armin sein eigenes Elend, wieder stehen zwei Einlagen in partieller Spiegelung zueinander. Dadurch aber, daß in Armins Erzählung der Geliebte Dauras ihren Bruder tötet, dabei selbst umkommt und Daura aus Gram über beider Verlust stirbt, wird eine genaue Motivparallele zu Colmas Lied gezogen, so daß der Kreis der Totenklagen sich schließt und sich das Ganze als ein beziehungsreicher Liederzyklus erweist. Dessen Grundthema entsprechend, stellt Ossian im Schlußrahmen seine damalige Sängerkraft der jetzigen Altersschwäche gegenüber und prophezeit seinen eigenen baldigen Tod als des letzten der Barden. Sowohl die Rahmen als auch die Einlagen des Zyklus werden in relativ einheitlichem melancholischen Ton ganz aus der subjektiven Perspektive der Klagenden oder elegisch sich Erinnernden vorgetragen. Sie werden also nicht in balladesken Sprüngen und Würfen, sondern in breit
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ausmalenden, die Schauplätze, Personen und Vorgänge wiederholt umkreisenden Schilderungen dargeboten. Dabei schaffen, wie auch sonst bei Ossian, die manchmal hellen, meist aber düsteren Bilder seiner Landschaft nicht nur den Raum des Geschehens, sondern dienen auch als Gleichnisse für den Menschen, seine Gestalt, seinen Charakter, sein Schicksal. Als Goethe im Herbst 1771 dieses Gedicht erstmals überträgt1\ hält er sich - wie bei seinen Proben aus dem Epos Temora - noch sehr genau an seine Vorlage. Diesmal steht ihm nur die englische Version Macphersons zur Verfügung. Er übersetzt sie, offensichtlich mit Hilfe von Lexika, noch sehr vorsichtig, gibt sowohl die Inhalte wie die Gestalt der Sätze, die Wortstellung, ja die Satzzeichen genau wieder. Nur gelegentIich begegnet eine etwas freiere, manchmal auch eine ungenaue oder falsche Übertragung. 15 Goethe zeigt also in der ersten Fassung seiner Gesange von Selma noch keinen Ehrgeiz, den fremden Text in eine seinem eigenen Stil gemäße Form zu bringen, geschweige den Ehrgeiz zu einer poetischen Nachbildung. Nur soweit Macpherson selber poetische Bilder und Rhythmen oder rhetorische Wendungen bringt, übernimmt sie Goethe, verharrt also hier im ganzen noch auf dem poetisch-rhetorischen Niveau des schottischen Schriftstellers. Da Macphersons englischer Text relativ kurze Sätze nebeneinanderstellt und Goethe diese Syntax genau übernimmt, bewahrt er auch den einigermaßen eckigen und kantigen Duktus seiner Vorlage. Das Harte und Raube der Ossianisehen Welt überwiegt hier noch, die gefühlvolle
14 Goethe: Die Gesänge von Selma. In: Der junge Goethe (Anm. 2), Bd. 2, S. 76-81. -- Ein Faksimile der Handschrift, die heute das Goethe-Museum Düsseldorf besitzt, brachte Anton Kippenberg als Sonderdruck für die Mitglieder und Gäste des Leipziger Bibliophilen-Abends am 14. März 1932. 15 V gl. damit die Untersuchung der Goetheschen Übersetzung von 1771 durch Elisabeth Büscher: Ossian in der Sprache des XVIII. Jahrhunderts. Köslin 1937, S. 49-57. Büseher nennt zwar als Ziel des Übersetzers "die getreue Wiedergabe des Urtextes, das klare Erfassen seines Inhaltes in einer den Wortlaut beachtenden Uebertragung" (S. 50), betont dann aber vor allem die Abweichungen und Freiheiten und sieht darin die spätere Werther-Fassungder Gesänge von Selma schon angekündigt (S. 51 , 55). Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß "Korrektheit" und "Freiheit" (S. 54) hier nicht gleichgewichtig einander abwechseln, sondern erstere bei weitem überwiegt.
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oder auch wilde Klage um den Verlust der liebsten Menschen bleiben noch gebändigt, die Fülle des Herzens kann sich noch nicht ungehemmt ergießen. Dennoch mag schon hier die eigentümliche Verbindung von urtümlicher Härte und moderner Empfindsamkeit in Ossians Dichtung Goethe überrascht und gefesselt haben. Jedenfalls ist es bemerkenswert, daß er eine Reinschrift dieser ersten Fassung seiner Gesllnge von Selma Friederike Brion acht Wochen nach seinem Abschied als Geschenk überreichen läßt16 - vielleicht wollte er ihr damit in literarischer Verhüllung seine eigene Klage um ihren Verlust zum Ausdruck bringen.
* Zunächst schien damit der Zweck dieser Blätter erfüllt, Ossian wird vorerst beiseitegelegt. In den nächsten Wochen ist Goethe - nach der Shakespeare-Feier am 14. Oktober im Elternhaus- mit der Niederschrift des UrgOtz beschäftigt, danach folgen bis in den Wetzlarer Sommer hinein eingehende Studien der Griechen, vor allem Homers und Pindars. Es entstehen die ersten Frankfurter Hymnen, zu Beginn des Jahres 1773 wird der GOtz für den Druck umgearbeitet und erscheint im Juni im Selbstverlag von Goethe und Merck. Ebenfalls in ihrem Selbstverlag erscheinen 1773 und 1774 die ersten beiden Bände eines Nachdrucks der Works of Ossian von 1765, für die Goethe die Titelvignette radiertP Die damals noch immer lebendige Ossianbegeisterung der deutschen Literaturfreunde hat wohl die beiden Herausgeber bewogen, mit diesem Neudruck den englischen Ossian in Deutschland leichter zugänglich zu machen. Goethe hatte sein eigenes Exemplar der Works wiederholt an Freunde ausgeliehen (an Herder, der es ein ganzes Jahr behielt, oder an
16 Vermutlich über den Straßburger Aktuarius J ohann Daniel Salzmann. Vgl. Goethes Briefan Salzmann. Frankfurt, Oktober 1771. In: Der junge Goethe (Anm. 2), Bd. 2, S. 68. Auf jeden Fall stammt die Handschrift der Gesänge von Selma aus dem Nachlaß der Friederike Brion. 17 Works of Ossian. Vol. I [1773], Vol. II [1774]. Die beiden Bände machen keine Angaben über Übersetzer, Herausgeber, Verleger, auch nicht über Erscheinungsort und -zeit. Auskunft darüber geben nur briefliche Quellen. Näheres dazu und zu Goethes Titelvignette bringt ein Aufsatz von 0. Ulrich: Eine bisher unbekannte Radierung Goethes. In: Zeitschrift fiir Bücherfreunde 11 (1907/08), S. 283-286.
Ossian in Goethes Werlher
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Kielmannsegg)f8 und jedesmal zurückfordern müssen; jetzt konnte diese lebhafte Nachfrage besser befriedigt werden. Der 1. Band mit dem Epos Fingal erscheint Anfang Mai 1773, der 2. Band mit kleineren Dichtungen, darunter den Songs of Selma, im Dezember 1774, dazwischen liegen Niederschrift und Erscheinen des Werther. Auch für Goethe selbst ist mit der neuen Ausgabe die ossianisehe Welt wieder unmittelbar gegenwärtig geworden, und so ist es mehr als verständlich, daß er Ossian nun auch in seinen Roman aufnimmt, der nicht zuletzt dadurch wie kein anderer zum Spiegel der eigenen Generation werden sollte.
* Bekanntlich hat Werther selbst die radikale Umkehrung seines Weltgefühls mit dem Gegensatz von Homer und Ossian versinnbildlicht. Homer wird als "Wiegengesang" für Werthers unruhiges Herz eingeführt (108) 19, er liest "seinen" Homer vor allem in Wahlheim, wo er in ländlicher Idylle ein einfaches Leben unter geringen Leuten sucht, weshalb er Homer auch gerne in einem Atemzug mit der "patriarchalischen Idee", dem Leben der ,.Altväter" nennt (107). Wahlheim, die Altväter, Homer - es sind lauter Orte der sentimentalischen Flucht eines Menschen, der Ruhe sucht und sie nirgends findet. Homer ist für Werther Beruhigung nur für Augenblicke, das utopische Ziel einer unstillbaren Sehnsucht. Wenn Werther zu seinem Geburtstag am 28. August von Albert und Lotte den kleinen Wetsteinischen Homer (an Stelle des beschwerlichen Ernestischen) als Geschenk erhält (140), so kommt darin der stille Wunsch der Freunde zum Ausdruck, Werther möge noch leichter und öfter als bisher in der Lektüre Homers die notwendigen Ruhepunkte in seinem Leben finden. Daß diese Beruhigung nie lange vorhält, zeigt Werthers Verdruß bei der Gesandtschaft. Zwar liest er danach (151) den "herrlichen Gesang", "wie Ulyß von dem teefliehen Schweinhirten bewirthet wird", mit der Wirkung: ,.Das war all gut."
18 Vgl. Goethes Briefe an Herder. Frankfurt, Oktober 1771, und Frankfurt, 7. Dezember 1772. In: Der junge Goethe (Anm. 2), Bd. 2, S. 69 und Bd. 3, S. 12; Goethes Brief an Kestner. Frankfurt, Mai 1773. In: Ebd., Bd. 3, S. 35. 19 Goethe: Die Leiden des jungen Werthers [1. Fassung, 1774). In: Der junge Goethe (Anm. 2), Bd. 4, S. 105-187. - Seitenangaben im Text nach dieser Ausgabe.
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Dennoch wird später (170) der Herausgeber seiner Briefe davon sprechen, daß Werther jene Ehrkränkung nicht habe vergessen können und sie die tiefere Ursache für das Verlöschen seiner Kräfte gewesen sei. Wenn daher nach Werthers Rückkehr zu Lotte im Sommer 1772 ihm die früher so vertraute Umgebung, auch sein Wahlheim, tot und fremd, "wie ein lakirt Bildgen" erscheint (161), so ist es nicht schwer, Homer in seinem Herzen zu verdrängen. Es geschieht durch Ossian, den Werther ebenfalls seit langem kennt, da er ihn schon im Ersten Teil des Romans einmal kurz erwähnt. Am 10. Juli 1771, zu einer Zeit also, in der Werther sich mehr und mehr von Lotte verzaubert fühlt, schreibt er an seinen Freund (127): Die alberne Figur, die ich mache, wenn in Gesellschaft von ihr gesprochen wird, solltest du sehen. Wenn man mich nun gar fragt, wie sie mir gefällt-Gefallt! das Wort haß ich in Tod. Was muß das für ein Kerl seyn, dem Lotte gefällt, dem sie nicht alle Sinnen, alle Empfmdungen ausfüllt. Gefällt! Neulich fragte mich einer, wie mir Ossian gefiele.
Anders als bei Homer oder einem anderen Dichter bekennt sich Werther hier engagiert, fast schon aggressiv, zur Identität mit Ossian, der ihm wie Lotte "alle Sinnen, alle Empfindungen ausfüllt". Nach Homer sehnt er sich, in Ossian lebt er. In welcher Welt er da lebt, war allen Lesern dieses Briefes sofort klar; darum genügt hier vorerst die Nennung des bloßen Namens. Erst als über ein Jahr später Ossian endgültig Gewalt über Werther gewinnt, fühlt sich dieser gedrängt, die Welt dieses Dichters näher zu schildern. Nach dem programmatischen Eingangssatz: "Ossian hat in meinem Herzen den Homer verdrängt", wandert Werther im Brief vom 12. Oktober 1772 ( 159f.) in langen, emphatisch aneinandergereihten Infinitiv- und Wenn-Sätzen über die nächtliche Heide, hört den Jammer des Mädchens um den gefallenen Geliebten und die elegische Klage des grauen Barden, der sich der großen Vergangenheit erinnert und seinen nahen Tod verkündet. In gedrängter Kürze bietet dieser Brief den düsteren Inhalt der Gesllnge von Selma und des Gedichts Berrathon, aus dem sogar schon der eine Satz frei zitiert wird, der später den Schluß von Werthers Ossian-Lesung bilden wird: "Der Wanderer wird kommen, kommen, der mich kannte in meiner Schönheit und fragen, wo ist
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der Sänger, Fingals treflicher Sohn?" Wesentlich an diesem Brief ist aber, daß sich Werther hier nicht mit einer bloßen Schilderung der Ossianisehen Welt begnügt, sondern am Ende daraus die Konsequenz fiir sich selber zieht: 0 Freund! ich möchte gleich einem edlen Waffenträger das Schwerd ziehen und meinen Fürsten von der zükkenden Quaal des langsam absterbenden Lebens auf einmal befreyen, und dem befreyten Halbgott meine Seele nachsenden.
Dieser Wunsch Werthers nach selbstgewähltem Tod scheint unmotiviert aus der Klage des Barden hervorzugehen; denn weder Ossian selbst noch einer seiner Helden wünschen sich den Tod von eigener oder fremder Hand. Die Geschichte vom Fürsten und seinem Waffenträger stammt denn auch nicht aus Ossian, sondern aus dem 1. Buch Samuel 31,4-5 und meint den Tod des Königs Saul. Aus Werthers Perspektive ist jedoch diese Kontamination durchaus folgerichtig. Denn seine zunehmende Verdüsterung mit ihren Klagen um den Verlust der hellen Tage führt ihn zwar zunächst in die ossianisehe als eine seinem jetzigen Zustand gemäße Welt. Doch mündet dieser Weg fiir Werther nicht in Ossians melancholische Resignation, sondern in seinen alten Wunsch nach absoluter Freiheit, die der immer mehr Verzweifelnde nur noch in der Selbstvernichtung zu finden glaubt. In dieser Wirkung zeigt sich ein weiterer Unterschied zu Homer. Mit der Lektüre Homers unternimmt Werther den immer erneuten Versuch, in einer ihm fremden Welt Grundformen des menschlichen Lebens zu entdecken, um sie von dort ins eigene Dasein zu übertragen und hier wenigstens einige idyllische Inseln zu gewinnen, eine Anstrengung, der Werther auf Dauer nicht gewachsen ist. Der Ossianisehen Welt hingegen gibt er sich hin, ihr ,.joy of grief" 20 ist ihm wesensverwandt. Mühelos taucht er ein in ihre dämmernde Landschaft der Klage und Todverfallenheit. Ossian liest er nicht nur, er übersetzt ihn in seine eigene Sprachwelt, um vollends mit ihm eins zu werden. Homerisches im eigenen Leben zu gestalten, war noch ein Versuch der Selbstbewahrung, ein Zeichen der Distanz gegenüber dem unsteten Herzen, das mit der Homer20
The Works of Ossian (Anm. 1), Vol. II, S. 176.
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Lektüre beruhigt werden sollte. Sich dagegen an eine dichterische Welt, wie hier die ossianische, zu verlieren, ist ein Zeichen der Distanzlosigkeit, die dem eigenen kranken Herzen den Willen läßt, und damit ein Akt der Selbstaufgabe, die notwendig zum Todeswunsch führen muß, den Untergang also nur beschleunigen kann. Ossians endgültige Herrschaft über Werthers Herz verrät aber nicht nur der Bekenntnisbrief vom 12. Oktober. Indirekt wird sie auch daran erkennbar, daß von nun an einige Briefe Werthers die eigene Umgebung als ossianisehe Landschaft erblicken. Besonders eindrucksvoll ist der Brief vom 8. Dezember (167f.), der eine nächtliche Überschwemmung schildert, wo "vom Fels herunter die wühlenden Fluten in dem Mondlichte wirbeln", "eine stürmende See im Sausen des Windes". Gegenüber Ossian fällt jedoch eine stärkere Dramatisierung des Geschehens auf; denn diese wilde Naturszene ist zugleich Spiegelbild ihres Beobachters, der hier von "innerem Toben" zerrissen ist. Und wieder mündet die ossianisehe Szenerie in den Wunsch Werthers, "all mein Leiden da hinab zu stürmen, dahin zu brausen wie die Wellen." -Auch zu Beginn seines mehrteiligen Abschiedsbriefes an Lotte, am 21. Dezember morgens geschrieben, verbindet Werther den Ausblick auf den eigenen Tod unwillkürlich mit Ossianisehen Bildern: "Wenn du hinaufsteigst auf den Berg, [... ] dann blikke nach dem Kirchhofe hinüber nach meinem Grabe, wie der Wind das hohe Gras im Schein der sinkenden Sonne, hin und her wiegt." (173) Sogar in den leise klagenden Ton Ossians stimmt er hier ein, noch bevor er wissen konnte, daß er am Abend des gleichen Tages Lotte aus seiner Ossianübersetzung vorlesen sollte. Mit dieser Übersetzung hatte sich Werther wohl seit Mitte Oktober beschäftigt. Sie ist das klarste Zeugnis dafür, wie sehr er in seiner letzten Zeit in und mit dem schottischen Dichter lebt. Die tiefe Übereinstimmung Werthers mit dem von ihm übersetzten Ossian wird besonders anschaulich, wenn man die Fassung der Geslinge von Selma im Roman (1774) mit ihrer Fassung von 1771 vergleicht.21 Die Veränderun-
21 Vgl. zum folgenden die Würdigungen der Wer/her-Fassung der Gesänge von Selma durch Rudolf Horstmeyer: Die deutschen Ossianübersetzungen des XVIII. Jahrhunderts. Diss. Greifswald 1926, S. 88-97, und durch Büseher (Anm. 15), S. 57-75. Horstmeyer
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genvon 1774 bewegen sich in zwei entgegengesetzten Richtungen. Was die Fassung von 1771 ungenau oder frei übersetzt, wird 1774 wörtlich oder zumindest genauer wiedergegeben22, was darauf schließen läßt, daß Goethe bei seiner Revision nicht nur die erste Fassung seiner Übersetzung, sondern auch wieder den englischen Text zur Hand genommen hat. Umgekehrt werden die sehr häufigen wörtlichen Übertragungen von 1771 für den Roman nur selten übernommen; meistens werden sie jetzt freier und kühner übersetzt 23, mit dem Ergebnis, daß vor allem die Bildwelt klarer und anschaulicher, auch einheitlicher erscheint. Die
konstatiert gegenüber der ersten Fassung eine größere Anschaulichkeit, Deutlichkeit und Veredelung des Ausdrucks sowie eine Hebung der rhythmischen Kraft durch Alliteration und Inversionen. Büseher beobachtet verstärkte Verbalität, häufigeren Gebrauch des Präsenspartizips, des artikellosen Substantivs, der Inversion des Prädikats, des Gedankenstrichs, des Kommas statt des Punktes, sowie einen fließenderen Rhythmus und wertet alle diese Veränderungen gegenüber der ersten Fassung von 1771 als "organischen Ausdruck des Lebensgefühls" der Epoche (S. 61 ), so daß auch die Einlage der Ossianübersetzungdas Formgesetz des Romans erfülle. - Vgl. ferner John Hennig: Goethe's Translations of Ossian's Songs of Selma. In: The Journal of English and Germanie Philology 45 (1946), S. 77-87, bes. S. 80-85, der sich freilich damit begnügt, die wechselnde Nähe und Ferne der beiden Übersetzungen zur englischen Vorlage zu registrieren, ohne daran eine Deutung zu knüpfen. Die folgenden Anmerkungen bringen für den Vergleich der beiden Goetheschen Übersetzungen von 1771 und 1774 zumeist Beispiele aus dem 1. Absatz der Gesänge von Selma (Der junge Goethe [Anm. 2], Bd. 2, S. 76 bzw. Bd. 4, S. 175). Den übrigen Beispielen werden jeweils Band- und Seitenzahl dieser Ausgabe hinzugefügt. In den Anmerkungen 22 und 23 wird den Vergleichen zusätzlich der Text Macphersons von 1765 (= M.) vorangestellt. 22
z. B.:
M.
stately are laid torrent 23
Z. 8.:
M.
1771 ruhig ruhen Ströme 1771
1774 stattlich haben sich gelegt Giesbach 1774
descending niedersinckend dämmernd fair is thy light schön ist dein Licht schön funkelst du thy unshorn head dein lockiges Haupt dein strahlend Haupt ("funkeln" und "strahlen" ergeben eine neue Bildeinheit) roaring waves brüllende Wellen rauschende Wellen ("rauschen" paßt besser zum vorausgehenden "Murmeln")
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Ossian in Goethes Werther
kurzen Sätze der Erstfassung werden häufig durch Kommata zu längeren Ketten verbunden24, der Duktus der Sätze wird dadurch bewegter und rascher. Die Fassung im Roman ist reicher an Inversionen, Anaphern und Parallelismen25 , wodurch die Rede deutlicher, oft sogar symmetrisch gegliedert wird. Zugleich erhalten durch diese und andere Wortumstellungen viele Sätze ein alternierendes oder daktylisches Maß26, so daß die zweite Fassung im Unterschied zur ersten den Charakter einer rhythmischen Prosa gewinnt. Jetzt erst wird der Text zu
24
25
26
z. B.:
z. B.:
z. B.:
1771
1774
Der Wind braust zwischen dem Berge. Der Wasserfall sausst den Felsen hinab. Keine Hütte nimmt mich vorm Regen auf. Ich bin verlohren auf dem stürmischen Hügel. (2,76)
Der Wind saust im Gebürg, der Strohm heult den Felsen hinab. Keine Hütte schüzt mich vor dem Regen, verlassen auf dem stürmischen Hügel. (4,175)
Die ganze Nacht stund ich am Ufer. Ich sah sie beym schwachen Stral des Monds. Die ganze Nacht hört ich ihr Geschrey. (2,80)
Die ganze Nachtstundich am Ufer, ich sah sie im schwachen Strahle des Monds, die ganze Nacht hört ich ihr Schreyn. (4,179)
1771 Du hebest[ ... ): ruhig wandelst du
Hebst dein ( ... ]. Wandelst
Lieb wart ihr mir beyde! [... ] den lieb waren sie beyde mir. (2,77)
Ihr wart mir beyde so lieb! [ ... ] sie waren mir beyde so lieb. (4,176)
Du hast keine Mutter die dich beweinte; kein Mädgen mit ihren Tränen der Liebe. (2, 78)
Keine Mutter hast du, dich zu beweinen, kein Mädgen mit Thränen der Liebe. (4,178)
Nun erhub sich die Trauer der Helden, aber am meisten Armins berstender Seufzer. (2,79)
Laut ward die Trauer der Helden, am lautesten Armins berstender Seufzer. (4,178)
1771 ruhig wandelst du über deinen Hügel.
Wandelst stattlich deinen Hügel hin.
Brüllende Wellen klettern den entlegenen Felsen hinan. Dass das Licht in Ossians Seele heraufsteige.
1774
1774
Rauschende Wellen spielen am Felsen ferne. Erscheine du herrliches Licht von Ossians Seele.
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Gesängen, die Werther weniger liest als deklamiert. Zugleich wird dadurch gerade in den Klagepartien der Gefühlsausdruck gesteigert, und Werther kann die ganze Fülle seines Herzens in diese lyrischen Rhythmen ergießen. 27 Dies wird vom Herausgeber ausdrücklich bestätigt, wenn er die Ossian-Lesung bei deren erster Unterbrechung "Werthers Gesang" nennt (179). Wie kommt es zu dieser Lesung? Am Sonntag vor Weihnachten hatte Lotte Werther gebeten, um ihrer beider Ruhewillen erst am Heiligen Abend wiederzukommen, woran sich ein grundsätzliches Gespräch über die "traurige Anhänglichkeit" Werthers, seine gefährliche "Einschränkung" und die Notwendigkeiteiner künftigen Mäßigung anschloß (171). In großer Erregung hatte Werther das Haus Lottes verlassen und in der Nacht darauf beschlossen, zu sterben. Am Morgen des anderen Tages beginnt er seinen Abschiedsbrief zu schreiben, und am Abend besucht er Lotte gegen ihren Wunsch erneut, um sie ein letztes Mal zu sehen. Sie ist darüber erschrocken und verlegen, und um das Gespräch in ungefährlicher Distanz zu halten, bittet sie ihn, seine "Uebersezzung einiger Gesänge Ossians" vorzulesen, die er ihr vor einiger Zeit gegeben habe und die sie nicht allein lesen wollte, sondern von ihm zu hören wünschte (175). Schon aus dieser Einführung ist eine wichtige Funktion der OssianÜbersetzung im Roman erkennbar: Werther gibt Lotte das Manuskript, weil er weiß, daß ihre Herzen in literarischen Dingen zusammentreffen28, und aus dem gleichen Grunde will Lotte die Gesänge nur in Gemeinschaft mit Werther kennenlernen. Ihre Absicht freilich, durch
27 Herder, von dem wir leider kein Urteil über Goethes Roman kennen, hat diese Werthersehe Ossianübersetzung wohl kaum gebilligt. Denn so sehr er mit Goethes früher, wortgenauer Übersetzungsprobe aus dem Epos Temora einverstanden war (er hat sie mit Ergänzungen in seine Volkslieder-Sammlung aufgenommen: vgl. Herders Sämtliche Werke [Anm. 3], Bd. 25, S. 423f., 429f., 539), so stark zweifelte er, "ob allemal unsre neuesie Aesthetische Sprache auch ftir die i:iltesten, einftlltigsten Stücke der Dichtkunst die beste sey". (Herder an Leonhard Johann Kar! Justi. Bückeburg, 1. Mai 1775. In: Johann Gottfried Herder: Briefe. Gesamtausgabe 1763-1803. Bd. 3. Bearb. von Wilhelm Dobbek und Günter Amold. Weimar 1978, S. 180). 28 Vgl. Werthers Briefvom 29. Juli 1772: "[ ... ] beyder Stelle eines lieben Buchs, wo mein Herz und Lottens in einem zusammen treffen" (Der junge Goethe [Anm. 2], Bd. 4, S. 156).
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solche literarisch begründete Sympathie einer allzu intimen Nähe vorzubeugen, wird durch die besonderen Inhalte des Vorgetragenen vereitelt. Denn in den Klagen der verlassenen Mädchen um ihre Geliebten und Brüder, die ihretwegen einander getötet haben, mußten Lotte und Werther ihre eigene Situation verschärft wiedererkennen, und die gemeinsame Entdeckung dieser Analogien führt sie beide in eine unerwartete seelische Erschütterung. .,Sie fühlten ihr eigenes Elend in dem Schiksal der Edlen, fühlten es zusammen, und ihre Thränen vereinigten sie." (180) Was jeder von ihnen bisher allein gefühlt und dem anderen verschwiegen hatte, das Unglück ihrer Liebe, erblicken sie gemeinsam im Spiegel ossianiseher Dichtung 29, und dieser gemeinsame Schmerz deckt ihnen mit einem Male den Grund ihrer Herzen auf und führt sie zusammen. Über inhaltliche Analogien hinaus gibt es übrigens zwischen den
Geslingen von Selma und dem Roman auch eine kompositorische Paral-
lele. Denn wie Armin nach der Klage um den Tod Morars in Jammer ausbricht, weil er sich an das Schicksal der eigenen Kinder erinnert fühlt, so brechen Latte und Werther am Ende der Klage Armins in Tränen aus, weil sie dabei ihrerseits an ihr eigenes Schicksal erinnert werden. Die Art der Verknüpfung von zweiter und dritter Einlage innerhalb der Geslinge wiederholt sich also zwischen den Geslingen und der Romanhandlung, d.h. die Geschichte von Werther und Latte wird als weitere Variante in den Zyklus der einander spiegelnden Schicksale hereingeholt und damit die Verwandtschaft der beiden Romanhelden mit den Helden Ossians zusätzlich betont. Doch mit den Geslingen von Selma ist Werthers Ossian-Lesungnoch nicht ganz beendet. Latte, deren Tränenausbruch sie unterbrochen hatte, faßt sich als erste wieder und bittet Werther fortzufahren. Dieser nimmt scheinbar wieder die Geslinge von Selma auf, in Wirklichkeit liest er jetzt Sätze aus dem Anfang des Gedichts Berrathon 30 , wo Ossian seiDamit gewinnt Ossian zuletzt eine ähnliche Funktion wie einige andere Parallelgeschichten im Roman; vgl. den vorhergehenden Beitrag in diesem Band, S. 11-29. 30 The Works Ossian (Anm. 1), Vol. I, S. 356-357: Berrathon. A Poem. - Die Sätze, die Werther aus dem Anfang dieses Gedichts in Übersetzung vorliest, finden sich dort S. 357. 29
of
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nen baldigen Tod in noch bewegteren Worten prophezeit als im Schlußrahmen der Gesange von Selma. Werther zitiert den Monolog einer welkenden Blume, die gleichnishaft die Situation des Dichters zum Ausdruck bringt (180): Aber die Zeit meines Welkens ist nah, nah der Sturm, der meine Blätter herabstört! Morgen wird der Wandrer kommen, kommen der mich sah in meiner Schönheit, rings wird sein Aug im Felde mich suchen, und wird mich nicht finden. -
,.Die ganze Gewalt dieser Worte" trifft vor allem Werther und zwingt ihn, die Lesung endgültig abzubrechen. Denn wie die früheren Ossianstellen des Romans mündet auch die Lesung in den Ausblick auf den eigenen nunmehr bevorstehenden Tod. Dies aber kann allein Werther, nicht Latte als Parallele zum eigenen Schicksal erkennen, weshalb sie hier sein ,.schrökliches Vorhaben" zwar ahnen, aber nicht mitempfinden kann. Darum auch ist in der anschließenden Umarmungsszene kein gemeinsames Fühlen mehr gegeben, Werther ist schon hier wieder in seine alte Einsamkeit zurückgestoßen. Man hat diese letzte Begegnung von Werther und Latte gerne mit ihrer ersten auf dem ländlichen Ball verglichen. 31 Beide Male finden sich ihre Herzen im Zeichen einer Dichtung. Damals war es Klopstock, dessen Namen allein schon genügte, um ihnen ihre Übereinstimmung im Fühlen und Denken zu entdecken (120). Jetzt ist es Ossian, der ihnen ihre gemeinsamen Empfindungen offenbart. Beide Dichter repräsentieren wie keine anderen für sie wie für ihre ganze Generation das Lebensgefühl der Epoche. Im Zeichen des einen Dichters läßt sie ein religiös gestimmtes Naturerlebnis den seelischen Einklang einer reinen Freundschaft erfahren, im Zeichen des anderen Dichters einigt sie der Schmerz über die Tragik ihrer Liebe. In beiden Fällen erschließt ihnen Dichtung den Grund ihrer Seelen, und darin liegt eine tiefe Gemeinsamkeit beider Szenen. Und doch besteht zwischen ihnen ein grundlegender Unterschied. Denn unter dem Sternbild Klopstock wahrt auch Werther die Grenzen einer empfindsamen Freundschaft und so den Gleichklang der 31 Als einer der ersten hat Erich Trunz auf das Gemeinsame beider Begegnungen hingewiesen: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 6. Harnburg 1951, S. 567f., 582.
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Ossian in Goethes Werther
Seelen für lange Zeit, die aufwühlende Lesung Ossians aber führt nur für einen Augenblick noch einmal zur Vereinigung der Herzen, dann aber stürzen die Sätze aus Berrathon Werther kataraktisch in die endgültige Verzweiflung und lassen ihn im Versuch, die Geliebte "mit wüthenden Küssen" doch noch zu gewinnen (180), die bisher geachtete Grenze überschreiten. Damit greift gelesene Dichtung zum einzigen Mal in diesem Roman unmittelbar in das Leben des Helden ein: Seine von Ossian geweckte Todesverzweiflung löst die vermessene Umarmung Lottes aus, und in der Erinnerung daran wähnt sich Werther von ihr mit dem gleichen Feuer wiedergeküßt und wiedergeliebt, was er in den weiteren Teilen seines Abschiedsbriefes triumphierend nachgenießt und als Vorschmack "ewiger Umarmungen" feiert (181f.). So glaubt er am Ende nicht mehr als Abgewiesener, sondern als Sieger in den Tod zu gehen. Tragischer ließ sich wohl die totale Vereinsamung Werthers nicht mehr gestalten, es ist die letzte und bitterste Frucht seines Einswerdens mit Ossians gespenstischer Welt. Solche Wirkung aufs Leben macht zugleich deutlich, daß Goethe die Ossian-Reihe nicht nur als eines der Symptome für den pathologischen Grundzug in Werthers Wesen sondern auch als verschärfende und beschleunigende Ursache seiner "Krankheit zum Tode" (136) in den Roman eingebaut hat. Dann aber hat er mit der Aufnahme Ossians in den Roman keine Verherrlichung dieses Dichters beabsichtigt, sondern eher seine ossianbegeisterten Leser ermahnen wollen, anders als Werther dem modischen Hang zum "joy of grief" nicht nachzugeben und also keiner wie auch immer gearteten melancholischen Dichtung, weder Ossian noch auch den Leiden des jungen Werthers, willenlos zu verfallen.
Neue Szenenkunst in Lenzens Komödie Die Soldaten Im folgenden sollen einige Besonderheiten der Szenengestaltung in Lenzens Komödie Die Soldaten (1776) untersucht werden, worin sich diese nicht nur von seinen anderen Stücken sondern auch von der gesamten Dramatik der Zeit, also auch von den übrigen Sturm-und-DrangDramen unterscheidet. Denn in dieser seiner dritten und künstlerisch wohl bedeutendsten Komödie wagt es Lenz in einigen Szenen, auf eine bis dahin unerhörte Weise Sprache und Gestik zu verbinden und dabei zugleich Räume und Requisiten der Bühne als notwendige Mitspieler in das Geschehen einzubeziehen. Ermöglicht wird diese neue Szenenkunst durch eine wichtige Vorentscheidung. Wie viele andere Stürmer und Dränger folgt Lenz in der Gliederung seiner Stücke nicht mehr dem klassizistischen Drama, sondern Shakespeare, indem er sie nicht nach "Auftritten", also dem Hinzutreten weiterer Personen, sondern nach "Szenen" gliedert, deren Wechsel gleichbedeutend ist mit einem Wechsel des Schauplatzes.' Die dadurch ermöglichte Vielfalt der Orte erlaubt es dem Dramatiker, bestimmte Räume bestimmten Personengruppen zuzuordnen, so daß weltanschauliche, ständische, politische Gegensätze unter den dramatis personae durch ihre jeweiligen Lebensräume zusätzlich veranschaulicht werden. So erscheinen in Shakespeares Sommernachtstraum die höfische Welt im Palast, die Handwerker in einem Stadthaus oder in einer Hütte, die Elfen im Wald, der als freier Raum zusätzlich die märchenhafte Begegnung aller Gruppen gestattet. Der Sturm und Drang übernimmt diese
1 Zwar hat Shakespeare selbst noch nach Auftritten gegliedert, doch ist für seine Rezeption im 18. Jahrhundert die Gliederung seiner Dramen nach Szenen entscheidend, die die späteren Editoren vorgenommen haben. Vgl. Eva Maria lnbar: Shakespeare in Deutschland. Der Fall Lenz. Tübingen 1982 (Studien zur deutschen Literatur 67), S. 244.
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Neue Szenenkunst in Lenzens Komödie Die Soldaten
Zuordnung von Personen und Räumen mit einfallsreichen Variationen. So konkretisiert Goethe in seinem historischen Schauspiel GtJtz von Berlichingen den Gegensatz zwischen alter und neuer Zeit nicht nur durch die Kontrastfiguren Götz und Weislingen, sondern darüber hinaus durch die sie charakterisierenden Orte, die Burg Jaxthausen und den Bamberger Hof, und führt durch ihren wiederholten Wechsel auf der Bühne denunversöhnlichen Antagonismus beider Welten unmittelbar vor Augen. Ebenso veranschaulichen viele Zeitstücke des Sturm und Drang den Konflikt zwischen Bürgertum und Adel nicht allein durch die Vertreter dieser Stände, ihre unterschiedliche Gesinnung und Sprache, sondern auch durch das jeweilige Interieur ihrer Häuser, durch die Salons und Clubräume oder durch die engen Zimmer, Kammern und Hausflure. Doch wie bei Shakespeare spielen auch die Stücke des Sturm und Drang noch nicht, wie hundert Jahre später die Dramen des deutschen Naturalismus, ausschließlich in Innenräumen, deren vier Wände die darin gefangenen Menschen umstellen und erdrücken werden; vielmehr erlebt man ihre Gestalten noch oft genug im Freien, im Garten, auf der Landstraße, im Wald, wo der Mensch als Unbehauster, als Verzweifelter, als Flüchtiger dem Schicksal entrinnen oder, wie Götz auf dem Schlachtfeld, sich ihm stellen kann. In jedem Fall gewinnt im Sturm-und-Drang-Drama auch der freie Raum symbolische Funktion, bekräftigt in seiner Bildhaftigkeit die Bedeutung der einzelnen Szene im Gefüge des Ganzen. Nun begnügen sich manche Stürmer und Dränger, vor allem Goethe, Lenz und Wagner, nicht mehr mit den bloßen Ortsangaben, sondern versehen etwa die Wohnräume auf der Bühne mit konkreten Einrichtungsgegenständen, lassen also die Räume zu erweiterten Kostümen werden, um damit die Bewohner und ihren Lebensstil noch stärker zu individualisieren. Darin aber folgen sie nicht mehr Shakespeare, der Inventare nur selten erwähnt, sondern der jungen Tradition des bürgerlichen Dramas in Frankreich, namentlich Diderots. Dieser wahrt zwar in seinen beiden Familiendramen noch immer die Einheit des Ortes, stattet aber diesen einen Raum jeweils reichlich mit Mobiliar und Requisiten aus, um das bürgerliche Milieu seiner beiden Stücke unmittelbar zu veranschaulichen.
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Außerdem hat Diderot theoretisch und praktisch dazu angeregt, die Individualität der Bühnenfiguren auch auf psychologischer Ebene zu verstärken. So fordert er in seinen Entretiens sur le Fils nature/ (1757), den Sturm der Leidenschaften durch abgebrochene Worte, unartikulierte Töne, ja Schreie auszudrücken und dieses Stammeln durch passende Blicke und Gesten zu ergänzen. 2 Nur so könnten "Wahrheit" und "Natur"3 auf der Bühne adäquat wiedergegeben werden - ein erster Schritt in die Richtung eines naturalistischen Theaters. Ja, Diderot wünscht, daß die Gestik die Rede nicht nur häufiger als bisher begleiten, sondern des öfteren sogar ersetzen solle, da "es ganze Szenen giebt, wo es unendlich natürlicher ist, daß sich die Personen bewegen, als daß sie reden" 4 • Deshalb erwartet er gerade von der "tragedie domestique", daß sie eher "Gemälde" ("tableaux") als "Theaterstreiche" ("coups de theätre") bringe und Situationen wähle, "wo sich die Pantomime in ihrem ganzen Umfange zeigen kann", um sich "dem wirklichen Leben" (" vie reelle") zu nähern. 5 Um diese gewünschte Lebensnähe des bürgerlichen Dramas sicherzustellen, fordert Diderot die Autoren auf, die Gestaltung von Mimik und Gestik ihrer Figuren nicht mehr stillschweigend den Schauspielern und Regisseuren zu überlassen, sondern in eigenen Regieanweisungen zu bestimmen. 6 Diderot selbst hat in den eigenen Familiendramen seine oft sehr detaillierten, aber auch weithin stereotypen Bemerkungen über Haltung und Bewegung, Mienenspiel und Gebärdensprache der Figuren kontinuierlich zwischen die Redetexte eingestreut und so die Verbindung von Sprache und Gestik, Reden und Schweigen sowohl bis ins Kleinste als auch Schritt für Schritt festgelegt.
2 Denis Diderot: Dorval et moi. Entretiens sur Je Fils nature) (1757); zitiert nach Lessings Übersetzung: Das Theater des Herrn Diderot (1760). In: Lessings Werke. 8. Teil. Berlin und Stuttgart o.J. (Deutsche Nationai-Litteratur 65), S. 243 . 3 Ebd., S. 258. 4 Denis Diderot: Discours sur Ia poesie dramatique ( 1758); zitiert nach Lessings Übersetzung: Von der dramatischen Dichtkunst (1760). In: Lessings Werke. 8. Teil. Berlin und Stuttgart o.J. (Deutsche Nationai-Litteratur 65), S. 472. 5 Diderot: Dorval et moi (Anm. 2), S. 282. 6 Diderot: Discours (Anm . 4), S. 473f.
4 Niggl
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Neue Szenenkunst in Lenzens Komödie Die Soldaten
Die deutschen Dramatiker, zuerst Lessing, später die Stürmer und Dränger, sind Diderot zwar darin gefolgt, daß sie häufiger als Shakespeare und die Klassizisten Hinweise auf die seelische Verfassung ihrer Gestalten und auf die daraus resultierende Mimik und Gestik geben. Doch während Diderot eine Reihe typischer Gesten (auf- und abgehen; das Gesicht mit den Händen bedecken; sich jemandem in die Arme oder zu Füßen werfen u.ä.) immer wiederholt und dabei verschiedenen Personen gleichermaßen zusprechen kann, sind die Bemerkungen der Stürmer und Dränger zu Mimik und Gestik ihrer Figuren wesentlich differenzierter und viel spezifischer auf die jeweilige Person und Situation zugeschnitten, so daß in ihren Stücken Sprache und Gestik einander bewußt zugeordnet werden und eine dramaturgische Einheit bilden.
* Lenz nun unterscheidet sich von den übrigen Dramatikern seiner Zeit, also auch von den anderen Stürmern und Drängern, dadurch, daß er in diese dramaturgische Einheit von Sprache und Gestik gelegentlich auch noch den je konkreten Raum integriert und damit einige Bühnenszenen von unerhörter Dichte schafft. Szenen dieser Art gelingen aber auch ihm nicht sofort, erst in den Soldaten erreicht er manchmal diese letzte Höhe. Einige Beispiele aus dem Stück können dies verdeutlichen? Die fünfte Szene des Ersten Aktes (201 f.) 8 spielt in Lilie, im Hause Weseners. Die kurze Orts- und Zeitangabe zu Beginn lautet:
7 Mit Lenzens Szenengestaltung haben sich vor allem beschäftigt: Walter Höllerer: Lenz. Die Soldaten. In: Das deutsche Drama. Vom Barock bis zur Gegenwart. Interpretationen. Hrsg. von Benno von Wiese. Bd. 1. Düsseldorf 1958, S. 128-147. Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. München 1960 (Literatur als Kunst). -Eva Maria lnbar: Shakespeare in Deutschland. Der Fall Lenz. Tübingen 1982 (Studien zur deutschen Literatur 67). - Hans-Günther Schwarz: Dasein und Realität. Theorie und Praxis des Realismus bei J.M.R. Lenz. Bonn 1985 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 116). - Die Frankfurter Dissertation von Britta Titel: ,Nachahmung der Natur' als Prinzip dramatischer Gestaltung bei J.M.R. Lenz (1961) war mir nicht zugänglich. 8 Lenz: Die Soldaten. In: Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Sigrid Damm. Bd. 1. München, Wien 1987, S. 191-246. - Seitenangaben im Text nach dieser Ausgabe.
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Wesener sitzt und speist zu Nacht mit seiner Frau und ältesten Tochter. Mariane tritt ganz geputzt herein.
Die konkrete Situation eines gemeinsamen Abendessens der Familie in der bürgerlichen Stube weckt zu Beginn die Vorstellung einer friedlichen Idylle. Dieses Bild wird durch die Heimkehr Marianens vom verbotenen Komödienbesuch mit Baron Desportes und durch ihren anschließenden Dialog mit dem Vater immer mehr in Frage gestellt. Dabei korrespondiert mit den sich steigernden Vorwürfen Weseners (Ungehorsam, drohende Schande) eine Klimax der Gestik von Vater und Tochter. Zuerst "feiten seit 1935 gewandt, zuletzt in dem Vortrag: Goethe und die französische Klassik. In: Goethe et l'esprit fran~ais. Actes du colloque international de Strasbourg, 23-27 Avril 1957, Paris 1958, S. 35-49. Es bleibt aber zu beachten, daß er in der Diskussion über dieses Referat (ebd. , S. 49-54) sich mit Albert Fuchs über folgende Gemeinsamkeiten bei Racine und Goethe einigen konnte: "Verzicht auf persönlich-egoistisches Streben zu Gunsten höherer, menschlich wertvollerer, ,humaner' Forderungen" (wobei auch Fuchs im Falle Racines nur an Berenice und Phedre denkt!); Konzentration auf das "SeelischSittliche"; "Ausgewogenheit des Aufbaus", "sprachliche Harmonie"; keine "sklavische Abhängigkeit Goethes von Racine", aber "Racine fiir Goethe eine Bestätigung und Ermutigung" (ebd., S. 54). 24 Man unterscheidet: 1) Februar/März 1779: Erstfassung in Prosa, überliefert als Textbuch fiir die Uraufführung am 6. Apri11779. (= Berliner Hs.) 2) 1780: Abschrift des Textbuchs mit Korrekturen von Goethes Hand.(= Straßburger Hs.) 3) April - November 1781: Erneute Durchsicht des Prosatextes, in sechs Abschriften von Schreiberhand erhalten.
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gleitet wird dieser Prozeß wieder vom kritischen Urteil der Freunde, vor allem Wielands und Herders, und sie haben keinen geringen Anteil an der mehrmaligen Steigerung bis hin zur vollendeten Gestalt. Eine erste Fassung entsteht in wenigen Wochen im Februar/März 1779, zwischen Rekruten-Aushebungen und Amtsgeschäften, manchmal auf Reisen, meist in den Abend- und Nachtstunden. An Charlotte von Stein schreibt Goethe am 22. Februar abends: "Meine Seele löst sich nach und nach durch die lieblichen Töne aus den Banden der Protokolle und Ackten. Ein Quatro [ = Quartett] neben in der grünen Stube, sizz ich und rufe die fernen Gestalten leise herüber. " 25 Die Ferne dieses Stoffes von aller Gegenwart kommt auch in dem berühmten Briefsatz an Charlotte von Stein vom 6. März zum Ausdruck: "Hier will das Drama gar nicht fort, es ist verflucht, der König von Tauris soll reden als wenn kein Strumpfwürcker in Apolde hungerte. " 26 Idealisierende Kunst muß also gegen die Zeit erkämpft werden, ein Zeichen der besonderen Spätsituation dieser deutschen Klassik um 1800. Darauf deutet auch, daß die Erstfassung der Iphigenie noch in Prosa geschrieben ist, freilich in einer sehr viel edleren, gemäßigteren, wohlklingenderen Prosa als in den Sturm-und-Drang-Dramen, etwa im GIJtz.
4) August 1786 (Karlsbad) - Januar 1787 (Rom): Versfassung, überliefert in einer eigenhändigen Handschrift Goethes, geschrieben September- Dezember 1786 und von ihm selbst mehrfach korrigiert. (= Weimarer Hs.) Im einzelnen unterrichten über diese Handschriften, ihre Entstehung und Überlieferung die Einleitung zum Paralleldruck: Goethes lphigenie auf Tauris. In vierfacher Gestalt hrsg. von Jakob Baechtold. Freiburg i. Br. und Tübingen 1883 (vgl. dazu Anm. 33), sowie W(eimarer) A(usgabe) I. Abt. , Bd. 39, S. 449-469, bzw. Bd. 10, S. 389-391, neuerdings, speziell für die Versfassung, der Beitrag von Lieselotte Blumenthal: Zur Überlieferung der lphigenie aufTauris. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Erich Trunz. Bd. 5. München 8 1977, S. 467-474. -An neueren Darstellungen der Entstehungsgeschichtesind zu nennen: Klaus Peter Dencker: Zur Entstehungsgeschichte von Goethes lphigenie aufTauris. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 71 (1967), S. 69-82, und Dieter Lohmeier: Anmerkungen zu lphigenie aufTauris (Abschnitt "Entstehungsgeschichte"). In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 5. München 8 1977, s. 418-421. 25 Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Karl Robert Mandelkow. Bd. 1. Harnburg 1962, S. 262. 26 Ebd., Bd. 1, S. 264.
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Es ist eine rhythmische Prosa, die sich der Jambensprache nähert, aber noch nirgends zur Verssprache vordringt. Ende März ist diese erste Fassung vollendet, am 6. April wird sie auf dem Liebhabertheater in Weimar uraufgeführt. Corona Schröter spielt die lphigenie, Goethe selbst den Orest, Prinz Konstantin den Pylades, Knebel den Thoas. Goethes Tagebuch notiert am Abend: "lph[igenie] gespielt. gar gute Würckung davon besonders auf reine Menschen. " 27 Es ist eine Anspielung auf das Thema der befreienden Wirkung reiner Menschlichkeit, die dieser neuen Behandlung des Iphigenie-Stoffes ihr modernes und originelles Gepräge gibt. Schon diese Erstfassung tut im Thematischen diesen entscheidenden neuen Schritt gegenüber allen Vorlagen, von Euripides über Racine bis hin zu Gluck, der im gleichen Frühjahr 1779 seine deutsche Oper in vier Aufzügen lphigenie auf Tauris vollendet28, und zwar "nach der gleichnamigen Tragödie von Guimond de Ia Touche", die wie alle früheren Behandlungen des Stoffes den Menschen trotz seiner kritischen Distanz gegenüber göttlicher Willkür29 dennoch ohnmächtig vor Göttern und Schicksal zeigt und die (untragische) Lösung durch einen gewaltsamen und bloß äußerlichen deus ex machina bewirken muß. Bei Goethe hingegen wird statt äußerer Einwirkung der Diana lphigenie selbst "zur Göttin", wie es Hegel ausgedrückt hat, und "vertraut der Wahrheit in ihr selbst, in des Menschen Brust". 30 Indem sie diese neue Humanität entdeckt und wagt, ver-
v Weimar, 6. April1779: WA III, 1, S. 84. 28 Leicht zugänglicher Text: Christoph Willibald Gluck: lphigenie auf Tauris. Oper in vier Aufzügen. Von Fran~ois Guillard nach der gleichnamigen Tragödie von Guimond de Ia Touche. Ins Deutsche übertragen von Joh. Bapt. von Alxinger in Gemeinschaft mit dem Komponisten. Textrevision von Joseph Müller-Blattau. Vollständiges Buch eingeleitet und hrsg. von Wilhelm Zentner. Stuttgart 1970 (Reclams UniversalBibliothek 8286). 29 Diese Distanz in der lphigenie de Ia Touches betont auch Wolfdietrich Rasch: Goethes lphigenie aufTauris als Drama der Autonomie. München 1979, S. 84-88. Da aber diese Distanz, wie Rasch S. 85f. selbst bemerkt, auch schon bei Euripides zu beobachten ist und beide Male Diana als Retterin erscheinen muß, erachte ich den Gegensatz zwischen Ohnmacht und Autonomie des Menschen gegenüber den Göttern als die eigentliche Kluft zwischen allen früheren Bearbeitungen des Stoffes und Goethes
lphigenie. 30 Hege!: Ästhetik. Hrsg. von Friedrich Bassenge. Bd. 1. Frankfurt/Main 2 1955, S. 225.
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pflichtet sie damit auch die Götter zu diesem neuen Gesetz. Durch ihre Entscheidung zur vollen Wahrhaftigkeit, zu ihrer "unerhörten Tat" 31 , wodurch sie sich selbst, ihren Bruder und seinen Gefährten in die Hand des Barbaren gibt und nur an die allgemeingültige Humanität appelliert, durchbricht sie den ewig scheinenden Teufelskreis des Tantalidenfluchs, entmachtet den Mythos. Ebendies wird später Schiller die lphigenie als "erstaunlich modern und ungriechisch" erscheinen lassen32, womit er das spätere Urteil Hegels nur vorwegnimmt. Diese schon in der ersten Fassung zutage tretende Verinnerlichung des lphigenie-Stoffes ins Subjektive und Sittliche drängte Goethe in den folgenden Jahren dazu, in wiederholten Versuchen die ihr adäquate außere Form zu verleihen. Zunächst freilich dachte Goethe noch nicht daran, die Prosa-lphigenie in Verse umzugießen. Denn die sogenannte zweite Fassung von 1780, nur in einer Abschrift Lavaters überliefert, zeigt den genauen Wortlaut der Erstfassung, lediglich in ungleich lange Jambenverse mit prosaischunregelmäßiger Füllung der Senkungen gegliedert, und ist inzwischen wohl endgültig als ein Formexperiment Lavaters erkanne3 , der die Tendenz dieser Prosa zum Jambus gespürt hat, aber dieses Ziel auf recht gewaltsame Weise rasch erreichen wollte. Goethe selbst geht behutsamer vor, er ist in den nächsten Jahren 1780/81 vor allem bemüht, dem Text in zwei Korrekturschritten34 "noch mehr Harmonie 31 Goethe: Iphigenie auf Tauris V,3, Vers 1892. - Zitate mit Versangaben nach: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Erich Trunz. Bd. 5. München 8 1977, s. 7-67. 32 Schiller an Christian Gottfried Körner. Weimar, 21. Januar 1802. In: Schillers Briefe. Hrsg. von Fritz Jonas. Bd. 6. Stuttgart 1896, S. 335. 33 Noch Baechtold (Anm. 24), S. VIf. hatte sie im Anschluß an von der Hagen und Düntzer als zweite Goethesche Fassung gewertet und in seinen Paralleldruck eingeordnet. Erhebliche Zweifel an Goethes Autorschaft hat erstmals 1897 Victor Michels in WA I, 39, S. 454ff. geäußert und mit guten Gründen belegt. Dennoch wirkte die ältere (irrige) Auffassung weiter und bedingte ein schiefes Bild von Goethes Arbeitsweise (so etwa bei Karl Vietor: Goethe. Bem 1949, S. 77, oderbei JosefKunz: Anmerkungen zu lphigenie auf Tauris. In: Goethes Werke (Anm. 24), Bd. 5, S. 407. Erst in jüngerer Zeit melden sich Stimmen, die die Versfassung von 1780 eindeutig Lavater zusprechen, so Dencker (Anm. 24), S. 78f. und Lohmeier (Anm. 24), S. 420f. 34 Es handelt sich um die in Anm. 24 genannten Entstehungsphasen 2 und 3.
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im Stil zu verschaffen" 35 , d. h. den Prosa-Rhythmus noch mehr in Richtung des alternierenden Jambenmaßes zu glätten, so daß viele dieser Änderungen in die spätere Versfassung übernommen werden können36 • Die daraus hervorgegangene gereinigte Prosafassung von 1781 verteilt Goethe in mehreren Abschriften an die Freunde37 - es ist fast schon eine erste Publikation, jedenfalls Zeichen eines vorläufigen Abschlusses. Erst fünf Jahre später unterzieht er dieses Manuskript einer letzten und entscheidenden Bearbeitung - im Zusammenhang mit der geplanten Gesamtausgabe bei Göschen (1787-1790). Was hat Goethe bestimmt, diesen letzten Schritt zur konsequenten Versfassung zu tun? Uwe Petersen und Dieter Lohmeier38 haben gezeigt, wie in den frühen achtziger Jahren in Deutschland durch eine Reihe bedeutender Übersetzungen antiker Autoren das klassische Griechenland belebend in den Raum der deutschen Literatur eintritt: Neben dem deutschen Homer der Voß und Stolberg sind es nicht zuletzt die ersten Übersetzungen der attischen Tragiker, die der junge Schweizer Georg Christoph Tobler teils in Buchform (Sophokles 1781), teils im Manuskript (Aischylos, Teile des Euripides) und zwar bei seinem Besuch in Weimar 1781/82 auf Wunsch Goethes vorlegte. Toblers Wiedergabe der antiken Trimeter in fünf- oder sechshebigen Jamben und seine Wahl eines feierlichen, antikisierenden Stils bereiten wohl nicht unwesentlich den Boden für eine Vers-Iphigenie vor. Die eigentliche Anregung und Aufmunterung aber geht wieder von Wieland aus. Klarstes Dokument dafür sind Wielands Briefe an einen 35
Goethe an Lavater, 13. Oktober 1780. In: Goethes Briefe (Anm. 25), Bd. 1,
s. 331.
36 Zwei Beispiele aus lphigenie V ,3 können dies verdeutlichen: a) 1779: "Steets ist zweydeutig wie das Loos der Waffen fällt." 1781: "Das Loos der Waffen wechselt hin und her."(= 1786: Vers 1866). b) 1779: "Und der Gewaltige verdient daß man sie gegen ihn braucht." 1781: "und der Gewaltige verdient, daß man sie übt."(= 1786: Vers 1872). 37 Abschriften erhielten nach WA I, 39, S. 466f. : Herder, F. H. Jacobi, Kestner, Lavater (ffir den General Koch), ferner Goethes Mutter, Herzog Ernst II. von Gotha und, nach Baechtold (Anm. 24), S. VII, Herzogin Anna Amalia und Charlotte von Stein. 38 Petersen (Anm. 16), S. 42-48; Lohmeier (Anm. 24), S. 441f.
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jungen Dichter (1782, 1784 im Teutschen Merkur) 39 , die in nuce das
Programm einer deutschen Klassik formulieren, ohne schon diesen Begriff zu benutzen. Im zweiten Brief vergleicht Wieland zunächst die deutsche mit der französischen Literatur und bescheinigt der ersteren gerne "große Schritte vorwärts" seit den letzten vierzig Jahren; aber: "Wo sind unsre Boileau, unsre Moliere, unsre Corneille, unsre Racine u.s.w. [ ... ]" 40 • Dieser Vergleich läßt klar den lebhaften Wunsch nach einer großen eigenen Nationalliteratur erkennen, und es ist gerade dieser Zusammenhang, der im ganzen 18. Jahrhundert in Deutschland- bis hin zu Goethes Invektive gegen den literarischen Sansculottismus (1795) immer wieder die Formel vom klassischen Schriftsteller, vom klassischen Nationalautor hervorruft. Nicht selten erscheint dabei wieder die Antike oder, wie hier, die französische Klassik als Wertmaßstab, und so vermischt sich im Begriff des "Klassischen" schon bald die Vorstellung des "Mustergültigen" mit der des "Antiken" oder seiner klassizistischen Erneuerung.41 Diese komplexe Bedeutung des "Klassischen" wird zwischen den Zeilen auch in Wielands Programm hörbar, wenn es dort weiter heißt: "Ich wünsche, daß mir nur ein einziges gedruktes Stük [innerhalb der deutschen Dramatik] genennt werde, welches in allen Eigenschaften eines vorteefliehen Trauerspiels (Sprache, Versifikation und Reim mit einbedungen) neben irgend einem von Racine stehen könne" und er nun diese Voraussetzungen näher erläutert: "Ich dinge", fährt Wieland fort,
39 Erster Brief: Der Teutsche Merkur 1782, 3. Vierteljahr, S. 129-157; Zweyter Brief: Ebd. 1782, 4. Vierteljahr, S. 57-85; Dritter Brief: Ebd. 1784, 1. Vierteljahr, S. 228-253. - Wiederabdruck der Briefe nach der Erstausgabe in: Christoph Martin Wieland: Ausgewählte Prosa aus dem Teutschen Merkur. Hrsg. von Hans Wemer Seiffert. Marbach a. N. 1963 (Turmhahn-Bücherei N. F. 4), S. 22-89. 40 Wieland, Ausgewählte Prosa (Anm. 39), S. 66. 41 Vgl. Eva D. Becker: "Klassiker" in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zwischen 1780 und 1860. In: Zur Literatur der Restaurationsepoche 1818-1848. Forschungsreferate und Aufsätze. Hrsg. von Jost Hermand und Manfred Windfuhr. Stuttgart 1970, S. 349-370, bes. S. 349-351, und Max L. Baeumer: Der Begriff "klassisch" bei Goethe und Schiller. In: Die Klassik-Legende. Hrsg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand. Frankfurt/Main 1971 (Schriften zur Literatur 18), S. 17-49.
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mit gutem Bedacht, eine ganz reine fehlerlose, immer edle, immer zugleich schöne und kräftige, niemals weder in die Wolken sich versteigende noch wieder zur Erde versinkende Sprache, und eine vollkommene ausgearbeitete, numerose, das Ohr immer vergnügende nie beleidigende Versifikation mit ein: denn ein Tragödiendichter in Prose ist wie ein Heldengedicht in Prose. Verse sind der Poesie wesentlich; so dachten die Alten, so haben die größten Dichter der Neuern gedacht; und schwehrlich wird jemals einer, der eine Tragödie oder Komödie in schönen Versen machen könnte, so gleichgültig gegen seinen Ruhm seyn, lieber in Prose schreiben zu wollen. 42
Daß Verse, noch dazu in einer reinen, schönen und edlen Sprache, der Poesie wesentlich sind, ist ein spezifischer Grundsatz jedes Klassizismus, und indem sich Wieland dabei auf die Alten und die größten Dichter der Neuern beruft, erhebt er diese Kunstrichtung zum Muster für jeden Poeten und hat Mut genug, die jungen deutschen Schriftsteller zu solchen Gipfeln einzuladen. Insbesondere mußte sich Goethe angesprochen fühlen; denn Wieland stellt im dritten Brief (1784) eigens seine lphigenie als eine "noch ungedruckte Tragödie" vor und rühmt von ihr, sie sei "eben so ganz im Geiste des Sopholdes als sein Götz im Geiste Shakespears geschrieben" und "regelmäßiger als irgend ein französisches Trauerspiel" .43 Noch vor der Vollendung wird hier Goethes erstes Griechendrama von berufenem Urteil in weltliterarische Bezüge, in die Linie Sopholdes - französische Klassik gestellt. Zur Vollkommenheit fehlte nur noch der Vers, und es wird verständlich, daß Goethe die hohen Erwartungen Wielands in diesem letzten Punkte nicht enttäuschen wollte. Gerade dabei aber zeigen sich unerwartete Schwierigkeiten. In einem Gespräch vom Juni 1786 scheint Wieland, der nach Goethes Zeugnis nun auch mündlich als erster "die schlotternde Prosa [der lphigenie] in einen gemeßnern Schritt richten wollte"44, die freien Jamben der Aleeste als Muster empfohlen zu haben, die freilich nicht gleichmäßig fließen, sondern meist in kurze Teilsätze zerfallen. Goethe hat offenbar zu-
Wieland, Ausgewählte Prosa (Anm. 39}, S. 66f. Ebd., S. 78f. 44 Goethe an Herder. Rom, 13. Januar 1787. In: Goethes Briefe (Anm. 25}, Bd. 2, 42. 42 43
s.
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nächst nach diesem Prinzip45 die Prosa-Iphigenie in Verse geschnitten, wird aber bald durch die Elelara des Sophokles, durch ihre "langen Jamben ohne Abschnitt und das sonderbare Wälzen und Rollen des Periods" aufgeschreckt, so daß ihm "nun die kurzen Zeilen der Iphigenie ganz höckerig, übelklingend und unlesbar werden" .46 In dieser Not berät er sich am 1. September - zwei Tage vor der Abreise nach Italien - mit Herder, der ihm "(endlich) das lang mutwillig verschloßne Ohr" 47 öffnet. Goethes Briefe aus Italien, die nun vom raschen Fortgang der Arbeit berichten, nennen immer wieder "Harmonie", "Wohlklang" und "völlige Kristallisation" als das eine Ziel, das er nun erreichen will und immer mehr erreicht.48 Dafür aber wählt er weder freie Jamben noch strenge Trimeter oder Alexandriner, sondern den modulationsfähigen Blankvers, der sowohl das ruhige Gleichmaß langer Sätze als auch den gedrängten Rhythmus der Stichomythien erlaubt, nicht nur die vielfaltigen Gräzismen (bis hin zu Gnomen und Sentenzen), sondern auch den modernen lyrischen Ton aufzunehmen vermag. Solche Frucht hat sicher auch die Sonne Italiens, das "mittägige Clima" 49 reifen helfen, aber die entscheidenden Anstöße für diese letzte Vollendung geschehen doch schon in Weimar und Karlsbad, und so ist die bekannte Frage, ob das Italienerlebnis als Goethes Wende zum Klassizismus anzusehen sei, so zu beantworten, daß diese Wende zumindest für die lphigenie schon davor liegt und sich in den geschilderten Stufen über Jahre hin voll45 Es liegt dafür zwar kein ausdrückliches Zeugnis vor, aber anders ist die darauffolgende Kritik Goethes an den "kurzen Zeilen" des ersten Versiflkationsversuchs nicht zu erklären. Der Umstand, daß Goethe seinen Schreiber Carl Vogel beauftragte, den Prosatext in Verse abzuteilen (vgl. WA I, 10, S. 389f. und Lieselotte Blumenthai in: Goethes Werke [Anm. 24], Bd. 5, S. 467), mag, weil es sich dabei doch wohl um eine allzu mechanische Vorarbeit handelte, die endgültige Umschreibung in Verse eher erschwert als erleichtert haben.