Studien zur deutschsprachig-jüdischen Literatur und Kultur: Standortbestimmungen eines transdisziplinären Forschungsfeldes [1 ed.] 9783205209447, 9783205209423

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Studien zur deutschsprachig-jüdischen Literatur und Kultur: Standortbestimmungen eines transdisziplinären Forschungsfeldes [1 ed.]
 9783205209447, 9783205209423

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Studien zur deutschsprachig-jüdischen Literatur und Kultur Standortbestimmungen eines transdisziplinären Forschungsfeldes

Herausgegeben von Hans-Joachim Hahn, Gerald Lamprecht und Olaf Terpitz

Schriften des Centrums für Jüdische Studien Band 32 Herausgegeben von Gerald Lamprecht und Olaf Terpitz

Hans-Joachim Hahn, Gerald Lamprecht und Olaf Terpitz (Hg.)

Studien zur deutschsprachigjüdischen Literatur und Kultur Standortbestimmungen eines transdisziplinären Forschungsfeldes

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Veröffentlicht mit der freundlichen Unterstützung durch : Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Abteilung Wissenschaft und Forschung MA 27, Kulturabteilung der Stadt Wien Karl-Franzens-Universität Graz Centrum für Jüdische Studien der Karl-Franzens-Universität Graz Irène Bollag-Herzheimer Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. & Co. KG, Wien, Zeltgasse 1, A-1080 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung : Nikolaus Braun, Berliner Straßenszene (Berlin 1921) © bpkBildagentur Korrektorat : Volker Manz, Kenzingen Einbandgestaltung : Michael Haderer, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-20944-7

Inhalt

Hans-Joachim Hahn, Gerald Lamprecht, Olaf Terpitz Zur Einführung. Wechselwirkungen und „geteilter Blick“ Vermessungen der deutschsprachig-jüdischen Literatur und Kultur als Sozial- und Symbolsystem. In Erinnerung an Petra Ernst ........

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Helmut Konrad Erinnerungen an Petra Ernst ............................................................. 15 Jay Winter The Space of Mourning. In Memory of Petra Ernst ............................... 19 Europäische Trajekte und Transgressionen Liliane Weissberg Vor Gericht. Perspektiven der Zeugenschaft......................................... 41 Anika Reichwald Karl Hans Strobl. Österreichische Phantastik zwischen Gesellschaftskritik und antisemitischen Stereotypisierungen .................. 61 Mona Körte Das taube Ohr der Sprache. Zu Ilse Aichingers Kurzprosa Meine Sprache und ich....................................................................... 77 Mark H. Gelber Rose Ausländers Dichtung und die jüdischen Kulturen in der Bukowina des frühen 20. Jahrhunderts................................................ 91 Alfred Bodenheimer Die Fähigkeit zu lachen. Jüdischer Humor ohne Juden in der deutschen Nachkriegsgesellschaft ....................................................... 109 Vivian Liska Autopoiesis und Avantgarde in Else Lasker-Schülers Frühwerk .............. 121

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Inhalt

Mediale Präsenzen Hildegard Frübis Zwischen den Welten. Jüdisches Erinnern und die Fotografien Roman Vishniacs aus den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ..... 139 Thomas Meyer Alexander Altmanns „Zum Wesen der jüdischen Aesthetik“ .................. 159 Eleonore Lappin-Eppel Die Jüdische Korrespondenz (1915–1920) – orthodox, politisch und modern .................................................................................... 189 Kulturelle Übersetzung Daniel Hoffmann Anna Seghers’ Lektüre der Bibel als sittliches Korrektiv des faschistischen Zeitalters .................................................................... 207 Jeffrey A. Grossman Neu entdeckt. Das Schtetl in deutschen Übersetzungen von Werken von Scholem Asch und David Bergelson.................................. 221 Stephan Braese „Alliteration hat im Deutschen etwas Fatales“ Der Übersetzer Wolfgang Hildesheimer .............................................. 239 Räume, Landschaften, Kriegsschauplätze Gerhard Langer Was hat Gymnasium mit Krieg zu tun? Ausgewählte Motive bei Soma Morgenstern......................................... 255 Primus-Heinz Kucher Aspekte der Konstruktion und Dekonstruktion kultureller Räume und Identitäten in L. Komperts Zwischen Ruinen (1875) und K. E. Franzos’ Judith Trachtenberg (1891) ...................................... 271

Inhalt

Joachim Schlör Transit Berlin. A Memory Void in the Metropolis of Exile...................... 283 Jonathan M. Hess S. H. Mosenthal und die jüdischen Alpen ............................................ 303 Ulrich Wyrwa Kriegslandschaften. Jüdisches Leben im Ersten Weltkrieg ...................... 325 Abbildungsverzeichnis...................................................................... 339 Autorenverzeichnis .......................................................................... 341

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Hans-Joachim Hahn, Gerald Lamprecht, Olaf Terpitz

Zur Einführung. Wechselwirkungen und „geteilter Blick“ Vermessungen der deutschsprachig-jüdischen Literatur und Kultur als Sozial- und Symbolsystem. In Erinnerung an Petra Ernst

Das Feld der deutschsprachig-jüdischen Literatur und Kultur war und ist in mehreren akademischen Disziplinen verortet. Seit Ende der 1990er-Jahre hat sich „zur deutsch-jüdischen Literatur ein internationales Forschungsgebiet ausdifferenziert“, dessen wissenschaftliche Erträge sich in einer wachsenden Reihe von Tagungsbänden, Aufsatzsammlungen, Promotionen, Habilitationen sowie Lexika, Handbüchern und Literaturgeschichten niederschlagen.1 Die deutschsprachig-jüdische Literatur ist heute ein transdisziplinäres Forschungsgebiet. Das kommt z. B. in einem Titel wie „Jüdische Studien und Literaturwissenschaft“ als „Dialog der Disziplinen“ zum Ausdruck,2 mit dem dieser besondere Gegenstand in einem einschlägigen Band umrissen wurde. Aber auch aufgrund ihrer historischen Prägungen, der Zäsur der Shoah, der die Ausschlussversuche nationalistischer und nicht selten antisemitischer Literaturgeschichtsschreibung im 19. und frühen 20. Jahrhundert vorausgingen, sowie der nach wie vor häufig nationalphilologisch organisierten Literaturwissenschaften ist der deutschsprachig-jüdischen Literatur und Kultur keine eigenständige Forschungsdisziplin gewidmet bzw. steht als Herausforderung weiterhin ihre Integration in den akademischen Rahmen an. Ihre Erforschung bedarf daher in besonderer Weise der Kommunikation und Vermittlung, etwa zwischen den Jüdischen Studien, den unterschiedlichen literaturwissenschaftlichen Forschungen, insbesondere der germanistischen Literaturwissenschaft, aber auch der Linguistik, den Geschichtswissenschaften sowie den Kulturwissenschaften. Etwa zwei Jahrzehnte lang hat Petra Ernst (1957–2016) wesentlich zur deutschsprachig-jüdischen Literatur und Kultur geforscht. Nicht zuletzt verdankt sich ihrer Initiative das trinationale D-A-CH-Forschungsprojekt „Deutschsprachig-jüdische Literatur seit der Aufklärung – Neue Forschungszugänge in Paradigmen“, das zum Jahreswechsel 2019/20 an den Standorten 1 Kilcher, Andreas B. (Hg.): Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, 2. Auflage, Stuttgart 2012, S. V. 2 Lezzi, Eva/Salzer Dorothea (Hg.): Dialog der Disziplinen: Jüdische Studien und Literaturwissenschaft (minima judaica 6), Berlin 2009.

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Aachen, Basel, Graz und Klagenfurt seine Arbeit aufnehmen konnte. Vom 2. bis 3. November 2017 fand im Gedenken an die verstorbene Literatur- und Kulturwissenschaftlerin am Centrum für Jüdische Studien der Karl-FranzensUniversität Graz die internationale Tagung „Deutschsprachig-jüdische Literaturstudien: Standortbestimmung eines transdisziplinären Forschungsfeldes“ statt. Der vorliegende Band beruht zum überwiegenden Teil auf den dort vorgetragenen Texten, die für die Veröffentlichung grundlegend überarbeitet wurden, sowie auf einigen zusätzlich eingeworbenen Beiträgen. Petra Ernst war als Mitbegründerin des Centrums für Jüdische Studien der Universität Graz im Jahr 2000, als Mitbegründerin der Gesellschaft für europäisch-jüdische Literaturstudien e. V. 2006 sowie aufgrund ihrer vielseitigen Forschungsinteressen und zahlreichen Veröffentlichungen eine herausragende Vermittlerin der europäisch-jüdischen Literaturstudien. Ihr akademisches Wirken wurde geprägt vom Austausch, vom Gespräch und der Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen in Österreich, Europa, Israel und den Vereinigten Staaten. So hat sie nicht zuletzt die Arbeit an der Drucklegung ihrer Habilitationsschrift Schtetl, Stadt, Staat. Raum und Identität in deutschsprachigjüdischer Erzählliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts immer wieder zugunsten weiterer Projekte mit Kolleginnen und Kollegen zurückgestellt. Erst posthum konnte ihre umfassende Studie Ende 2017 in der Schriftenreihe des Centrums für Jüdische Studien im Böhlau Verlag erscheinen und im Rahmen der Tagung erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt werden. An ihre langjährigen Forschungen knüpfen die in diesem Band versammelten Aufsätze an. In ihrer Habilitation Schtetl, Stadt, Staat entwickelt Petra Ernst eine theoretisch umfassend begründete Perspektive auf die deutschsprachigjüdische Literatur als ein Sozial- und Symbolsystem, das sich mit den Begriffen „Wechselwirkungen“ und „geteilter Blick“ beschreiben lässt. Ein solcher „geteilter Blick“ auf Literatur einerseits als Sozialsystem, andererseits als Symbolsystem entfalte seine Wirksamkeit erst in der Gleichzeitigkeit, mit der angemessen auf die jeweiligen „systemimmanenten Unschärfen“ reagiert werden könne. Petra Ernst nutzt dabei Positionen der empirischen Literaturwissenschaft (u. a. Siegfried J. Schmidt), die sie mit einer Reihe anderer theoretischer Modelle produktiv weiterdenkt und transformiert. Ihre Studie versteht sie als einen Beitrag zu einer raumtheoretisch orientierten Literaturwissenschaft, und sie plädiert, eine Forderung des Narratologen Ansgar Nünning aufgreifend, für eine modifizierte konstruktivistische Herangehensweise: So müssten „Bezugnahmen auf empirische, physikalische oder topographisch eindeutige Orte und Räume […] möglich sein, ohne dass man sich damit dem Generalverdacht

Zur Einführung

einer positivistischen Zugangsweise aussetzt“.3 Darüber hinaus bezieht Ernsts Studie weitere theoretische Ansätze aus den Kultur- und Sozialwissenschaften, aus der Kultursemiotik und den Gender Studies mit ein sowie vereinzelt auch solche aus den Postcolonial Studies. Weitere Inspirationen stammen aus den vielfach raumbezogenen Gedächtnis- und Erinnerungstheorien im Anschluss an den insbesondere von den Schriften Pierre Noras ausgelösten Boom in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten. Bei Petra Ernst rückt ein Interesse an den Vollzugsformen kulturellen Handelns in Verbindung mit dem Zeichen- und Symbolsystem von Literatur in den Vordergrund. Nicht zuletzt interessiert sie die u. a. von Literatur ermöglichte Aushandlung und Formierung kollektiver Zugehörigkeiten, d. h. das performative Potenzial des Mediums bei Prozessen der Identitätsbildung. Im Anschluss an den Wiener Mittelalterhistoriker Walter Pohl und eine mit ihm assoziierte Forschergruppe an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften rückt sie daher „das Wechselspiel von Texten und Identitäten“ in den Fokus der Untersuchung.4 Dabei erweitert Petra Ernst die übliche literaturwissenschaftliche Trias Autor–Text–Rezipient um die Dimension der körperlichen Darstellung sowohl im fiktionalen als auch im realen Kontext.5 Grundsätzlich plädiert sie allerdings für die Annäherung auf der Ebene des Textes, gegenüber der eine Annäherung auf der Ebene der Zugehörigkeit einer Autorin oder eines Autors zurücktritt.6 Die grundlegende Frage ihrer Studie nach dem Zusammenhang von Raum und Identität stellt sich daher am literarischen Text selbst, dessen besondere Literarizität ihn freilich nicht außerhalb des Sozialen stellt. Im Zentrum ihres Erkenntnisinteresses steht ganz primär Literatur als Kommunikation bzw. „kommunikatives Handeln“, wie es von Jürgen Habermas in seiner grundlegenden Studie entworfen wurde.7 Im Hinblick auf den Gegenstandsbereich der deutschsprachig-jüdischen Literatur formuliert sie, dass zu ihr „all jene Texte gezählt werden können, die sich aufgrund außerliterarischer, inhaltlicher, motivischer und/oder semiotischer Aspekte, die auf ein als jüdisch konnotierbares ‚kulturelles System‘ zurückzuführen sind, erschließen lassen.“8 Ins3 Ernst, Petra: Schtetl, Stadt, Staat. Raum und Identität in deutschsprachig-jüdischer Erzählliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, hg. v. Gerd Kühr, Gerald Lamprecht und Olaf Terpitz, mit einem Vorwort von Jay Winter, Wien, Köln und Weimar 2017, S. 39. 4 Ebd., S. 53. 5 Ebd., S. 15. 6 Ebd. 7 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt am Main 1981. 8 Ernst: Schtetl, Stadt, Staat, S. 32.

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Hans-Joachim Hahn, Gerald Lamprecht, Olaf Terpitz

gesamt richten sich ihre Bemühungen darauf, durch eine Beschreibung der deutschsprachig-jüdischen Literatur als eines eigenen literarischen Systems zur literarhistorischen Anerkennung und Aufwertung dieses Feldes beizutragen. Das Textkorpus ihrer Studie im engeren Sinne bildet eine Reihe von – teils kanonischen, teils weniger bekannten – Erzähltexten aus der Zeit zwischen 1840 und 1920,9 die sie in exemplarischen Analysen unter dem raumtheoretischen Aspekt (neu) erschließt.10 Diese Erzähltexte ordnet sie drei Genres zu: der Ghettogeschichte, die im 19. Jahrhundert zu einem überaus erfolgreichen Medium jüdischer Selbstverständigung in deutscher Sprache avancierte,11 dem Großstadtroman und dem zionistischen Roman. Blieb bislang in der Forschung eine Verbindung dieser drei „Mustergattungen“ weitgehend unberücksichtigt, so liefert Petra Ernst einen überzeugenden Ansatz für ein besseres Verständnis des Zusammenhangs dieser raumbezogenen Erzählmodelle. In einer komplexen Verbindung von Topik – der mit Aristoteles beginnenden Lehre von der Argumentationsfindung – und Topographie entwirft sie im Kern eine Poetologie des Orts.12 Als Beispiele für darin wirksame Topoi können in diesem Kontext unter anderem gelten: Name, Sabbat, Grenze, Familie, Gesetz, Generationenkonflikt oder verbotene Lektüre.13 An jeden dieser übergeordneten Orte und Räume der „Mustergattungen“ – Schtetl, Stadt, Staat – werden in jüdischen Erzähltexten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts Geschichten über Identifikationen und Identifikationsprozesse gebunden.14 Deutschsprachig-jüdische Literatur entwickelte sich neben der sich gerade erst etablierenden jüdischen Historiographie bzw. der Wissenschaft des Judentums zu einer weiteren und aufgrund ihrer breiten Rezeption, so

9 Ebd., S. 17. 10 Dazu u. a.: Ernst, Petra/Lamprecht, Gerald (Hg.): Jewish Spaces. Die Kategorie Raum im Kontext kultureller Identitäten (Schriften des Centrums für Jüdische Studien 17), Innsbruck, Wien und München 2010; Ernst, Petra/Strohmaier, Alexandra (Hg.): Raum: Konzepte in den Künsten, Kultur- und Naturwissenschaften, Baden-Baden 2013. 11 Vgl. dazu u. a. Glasenapp, Gabriele von: Aus der Judengasse. Zur Entstehung und Ausprägung deutschsprachiger Ghettoliteratur im 19. Jahrhundert (Conditio Judaica 11), Tübingen 1996; Dies./Horch, Hans Otto (Hg.): Ghettoliteratur. Bd. 1: Rezeptionsdokumente. Bd. 2: Autoren und Werke der Ghettoliteratur (Conditio Judaica 53, 55), Tübingen 2005; jüngst: Hahn, Hans-Joachim: Poetische Gerechtigkeit. Ghettoliteratur und moderne Judenfeindschaft, in: Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft II. Antisemitismus in Text und Bild – zwischen Kritik, Reflexion und Ambivalenz (Europäisch-jüdische Studien Beiträge 37), Berlin und Boston 2019, S. 51–80. 12 Ernst: Schtetl, Stadt, Staat, S. 33–36. 13 Ebd., S. 35. 14 Ebd.

Zur Einführung

vermutet Petra Ernst, wahrscheinlich sogar für einige Jahrzehnte zur „wirkmächtigsten Säule einer jüdischen Sinnstiftung im deutschen Sprachraum.“15 Ihr wissenschaftliches Œuvre weist noch weitere für sie zentrale Forschungsinteressen aus. So hat sich Petra Ernst vor dem Hintergrund des translational turn in den Kulturwissenschaften mit der Bedeutung des Übersetzungsparadigmas für die Jüdischen Studien beschäftigt. 2009 gab sie dazu eine Ausgabe von transversal. Zeitschrift für Jüdische Studien zum Thema „(Kulturelle) Übersetzung“ heraus sowie als Mitherausgeberin 2012 den Tagungsband trans-lation – trans-nation – trans-formation. Übersetzen und jüdische Kulturen.16 In ihrem Aufsatz „Übersetzen und jüdische Kulturen – eine Annäherung“ argumentiert sie für ein Verständnis des Orts von Übersetzungen als eines „diskursive[n] Raum[s] für (gesellschaftliche) Aushandlungsprozesse“, was sie am Beispiel einer dichten Lektüre einer Episode aus Karl Emil Franzos’ letztem, erst posthum veröffentlichten Roman Der Pojaz (1905) veranschaulicht.17 Ein weiterer Forschungsschwerpunkt Petra Ernsts galt der jüdischen Publizistik. Dies verband sich mit ihrem Interesse für den Ersten Weltkrieg,18 was der letzte von ihr zusammen mit Eleonore Lappin-Eppel herausgegebene Sammelband Jüdische Publizistik und Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs eindrücklich belegt.19 In ihrem Beitrag zu dem Band analysiert Petra Ernst Kriegsliteratur ganz im Sinne der in ihrer großen Studie Schtetl, Stadt, Staat umfassend dargelegten Literaturauffassung „als komplexes kulturelles Feld, das in unterschiedlichen Phasen des Krieges sowie in der Nachkriegszeit in Sinnbildungsprozesse und in die Konstruktion von Erinnerungsdiskursen involviert ist“.20 Entsprechend ihrer mannigfaltigen Forschungsinteressen gliedert sich der vorliegende Band in vier Bereiche, die jeweils transdisziplinär Fragen und Ansätze von Petra Ernst aufgreifen: „Europäische Trajekte und Transgressionen“, 15 Ebd. 16 Transversal. Zeitschrift für Jüdische Studien 10 (2), 2009, hg. v. Petra Ernst; Ernst, Petra/Hahn, Hans-Joachim/Hoffmann, Daniel/Salzer, Dorothea M. (Hg.): trans-lation – trans-nation – trans-formation. Übersetzen und jüdische Kulturen (Schriften des Centrums für Jüdische Studien 21), Innsbruck, Wien und Bozen 2012. 17 Ernst, Petra: Übersetzen und jüdische Kulturen – eine Annäherung, in: Ernst/Hahn/Hoffmann/Salzer: trans-lation – trans-nation – trans-formation, S. 13–37, hier S. 13. 18 Ernst, Petra (Hg.): Yearbook for European Jewish Literature Studies. Vol. 1: European-Jewish Literatures and World War One, Berlin und Boston 2014. 19 Ernst, Petra/Lappin-Eppel, Eleonore (Hg.): Jüdische Publizistik und Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs (Schriften des Centrums für Jüdische Studien 25), Innsbruck, Wien und Bozen 2016. 20 Ernst, Petra: Das Verschwinden der Ghettogeschichte und die Erfindung des Ostjuden im Zeichen des Ersten Weltkriegs, in: Ernst/Lappin-Eppel, Jüdische Publizistik und Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs, S. 307–327, hier S. 307.

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Hans-Joachim Hahn, Gerald Lamprecht, Olaf Terpitz

„Mediale Präsenzen“, „Kulturelle Übersetzung“ sowie „Räume, Landschaften, Kriegsschauplätze“. Der erste Komplex thematisiert Fragen nach der europäischen Dimension von deutschsprachig-jüdischer Literatur und akzentuiert dabei Momente wie Zeugenschaft, Humor, die Wahrnehmung von Sprache oder die Bedeutung der Bukowina als Ort deutschsprachig-jüdischer Literatur. Im zweiten Komplex widmen sich die Autorinnen und Autoren ausgewählten Fragen von Medialität; sei es der Konnex von Erinnern und Fotografie, die Konzeptualisierung von jüdischer Ästhetik oder die Ausformung eines publizistischen Organs. Der Komplex zur kulturellen Übersetzung enthält eine Relektüre von Werken Anna Seghers’ vor dem Hintergrund ihrer Bibelkenntnis, eine Neubetrachtung der diskursiven Einbettungen der deutschen Übersetzungen des Schtetls sowie eine Analyse des übersetzerischen Schaffens von Wolfgang Hildesheimer. Der letzte Komplex wendet sich schließlich Aspekten des Raums zu: In den Blick genommen werden vielfältige Formen der Konstituierung von Räumen in literarischen Texten, das zeithistorische Phänomen von Orten als Leerstellen der Erinnerung im urbanen Raum sowie die vielschichtige Verflechtung von Kriegslandschaft und Erfahrung. Gedankt sei an dieser Stelle allen, die am Entstehen dieses Bands beteiligt waren. In erster Linie gilt unser Dank den Autorinnen und Autoren, deren Beiträge die Forschungs- und Erkenntnisinteressen von Petra Ernst fruchtbar aufgreifen und dergestalt zu einer Standortbestimmung des transdisziplinären Feldes deutschsprachig-jüdischer Literatur und Kultur wenden. Der Band spiegelt so nicht zuletzt die Vielfältigkeit der Forscherpersönlichkeit von Petra Ernst wider, die uns allen nicht nur inspirierende Kollegin, sondern auch herzliche Freundin war.

Helmut Konrad

Erinnerungen an Petra Ernst Von Menschen, denen man beruflich und privat eng verbunden war und deren Ableben in beiden Bereichen eine schmerzliche Lücke hinterlassen hat, gibt es Bilder in der Erinnerung, die man wehmütig betrachtet. Aus der Distanz kann man über einiges schon schmunzeln, und sogar bei Gerd, Petras Ehemann, zaubert etwa die Erinnerung an die gemeinsame Wallfahrt nach Maria Zell schon ein Lächeln ins Gesicht. Wir alle aus der kleinen Wandergruppe waren schon ziemlich erschöpft, gingen wortlos und unter Konzentration auf das Funktionieren unserer Gelenke einen steilen Anstieg hinan. Petra hingegen, ein hartgekochtes Ei (wohl ihr viertes an jenem Tag) verzehrend, schritt beschwingt dahin und versuchte mich dazu zu bewegen, eine geschichtswissenschaftliche Position zu beziehen und Theorien gegeneinander abzuwägen. Ihre klugen Überlegungen stießen in diesem Moment bei mir auf taube Ohren, da ich intensiv mit meinen Knien beschäftigt war. Das Bild zeigt, wie energiegeladen sie war, wie sie im Fach aufging und wie sie mit ihrer Energie und Leidenschaft ihre Umwelt fordern konnte. Als zentraler Ort der Erinnerung bleibt mir aber das Weihnachtsfest der Abteilung Zeitgeschichte aus dem Jahr 2015 in Erinnerung. Die Zeitgeschichte und das Centrum für Jüdische Studien waren damals eng verwoben, und wir sahen uns als Einheit, obwohl die Logik des Centrums längst auf Selbstständigkeit gerichtet war. Petra bat mich um die Möglichkeit, vor der Feier mein Büro zu nutzen, um eine Arbeitsbesprechung mit einem Dissertanten abzuhalten. Sie tat dies in ihrer eigenen Gründlichkeit. Die Feier hatte längst begonnen, ich sah zweimal nach Petra und wurde immer mit einem „Ich komme gleich“ vertröstet. Als sie endlich auftauchte, saßen wir beide für einige Zeit in einer ruhigen Ecke. Ich beklagte meine Überarbeitung und meine daraus resultierenden depressiven Momente, Petra klagte über Kopfschmerzen, die sie damals auch auf Überarbeitung zurückführte. Wir sprachen uns wechselseitig Mut zu, und Petra meinte, ihr unmittelbar bevorstehender Aufenthalt bei Liliane Weissberg in Philadelphia würde ihr Ruhe und Entspannung bringen. Das Gespräch war eines, wie es gut vertraute Menschen führen, während die nächste Generation daneben lautstark in Feierlaune war. Wenig deutete für mich darauf hin, dass mein Klagelied keinen Platz haben sollte neben jenem von Petra – denn eine Woche später war der Amerikaaufenthalt schon abgebrochen und Petra fand sich mit einer erschütternden Diagnose in Graz im Krankenhaus.

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Helmut Konrad

Petra Ernst war ein Multitalent. Die Breite ihrer Interessen dokumentiert ihre Studienwahl. An den Universitäten Würzburg und München studierte sie nicht nur Deutsche Literatur, sondern auch Linguistik, Musikwissenschaft und Theaterwissenschaft. Sie spielte Kabarett und schloss auch eine künstlerische Ausbildung ab. Sie schrieb sogar Libretti, unter anderem für die Kinderoper Agleia Federweiß ihres Gatten Gerd Kühr. Sie verfasste Kinderbücher und organisierte den Internationalen Musikwettbewerb der ARD mit. Vor allem aber war sie 15 Jahre lang die Leiterin des Referats für Auslandsbeziehungen und Öffentlichkeitsarbeit an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz. Ihr Organisationstalent, ihre Offenheit für alles Neue, ihr Blick über die Grenzen machten sie an dieser Universität zu einer Schlüsselpersönlichkeit. Ihr Studium der deutschen Literatur führte sie an die jüdischen deutschsprachigen Schriftsteller des zentraleuropäischen Raumes heran. Damit war sie die geeignete Person, um an dem aus der Abteilung Zeitgeschichte heraus gegründeten Centrum für Jüdische Studien das literaturwissenschaftliche Standbein zu bilden. Einen kräftigen Schub erhielten Petras Bemühungen rund um die Erschließung und Erforschung der jüdischen Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts durch ihre Begegnung mit Jay Winter von der Yale University, dem wohl besten Kenner der Geschichte des Ersten Weltkriegs. Aus der Begegnung erwuchs eine enge Freundschaft, und gemeinsam planten sie, auch mit mir, ein großes Projekt zur Kulturgeschichte jener Städte, die mit dem Ende des Ersten Weltkriegs zu neuen Hauptstädten auf dem Gebiet der zerfallenden Habsburgermonarchie geworden waren: Wien, Prag und Budapest in der unmittelbaren Nachkriegszeit, mit einem Schwerpunkt auf dem jüdischen Leben und der Literatur. Es waren vor allem ihre Ideen, die die Anfangsdiskussionen antrieben, und es war daher selbstverständlich, dass das Projekt ohne sie nicht zur Umsetzung gelangen sollte – es war ja ganz wesentlich ihr Projekt. Und was hätte sie uns allen damit zeigen können, wäre ihr die Arbeit an diesem Vorhaben vergönnt gewesen! Bei alledem ist zu bedenken, dass Petra Ernst etliche Jahre später zu ihrem Fach gefunden hat als die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen. Das war ihrem Lebenslauf und der Vielfalt ihrer Begabungen geschuldet. Und dazu war sie auch noch Perfektionistin. Es brauchte viel Überredungskunst, bis sie eine Arbeit aus der Hand gab. Das galt besonders auch für ihre glänzende Habilitationsschrift, an der sie immer und immer wieder feilen wollte. An einer besonderen Einrichtung der Karl-Franzens-Universität Graz hatten Petra Ernst und Gerd Kühr großen Anteil. Auf Initiative der damaligen Vizerektorin Irmtraud Fischer wurden die „Ausseer Gespräche“ ins Leben gerufen, und ich bin stolz, auch von Anfang an mit im Boot gewesen zu sein. Das war der gelungene Versuch, eine literarisch-wissenschaftliche Sommerfrische im

Erinnerungen an Petra Ernst

Salzkammergut in der Tradition der Zwischenkriegszeit ins Leben zu rufen. Bald war auch die Kunstuniversität Linz mit im Boot, und auch die Medizinische Universität Graz leistete markante Beiträge. Petra war ein Motor dieser Veranstaltung, die nunmehr einen fixen Platz im Jahresablauf einnimmt. Der lange Leidensweg, den Petra Ernst im Jahr 2016 zu erdulden hatte, war, bei aller Schmerzhaftigkeit, doch ein beeindruckendes Beispiel für die Kraft, die sie aufbrachte, um mit Würde diesen letzten Lebensabschnitt zu gestalten. An ihrem Bett versammelten sich rund um Gerd Kühr alle ihre Verwandten und Freunde. Die Familie, voran ihre Mutter und ihre Geschwister, Gerds Familie und die Menschen, die ihr nahestanden, wie Alexandra Strohmaier, Irmtraud Fischer, meine Frau und ich und immer wieder auch Jay Winter, bildeten neben anderen ein Netz, das auch Gerd mittragen konnte. Und das Team des Hospizes in der Albert Schweitzer Klinik erweiterte diesen Kreis mit Kompetenz und einer Verbundenheit zu Petra, die weit über die berufliche Beziehung hinausging. So hatten die regelmäßigen Besuche für alle auch tröstliche Momente, und rund um das Krankenbett entstanden Freundschaften, gestiftet von Petra. Das hat wohl dazu beigetragen, dass sie so lange ihrer leider unbezwingbaren Krankheit trotzen konnte. Als Petra Ernst am 29. November 2016 nach den vielen Monaten im Hospiz verstarb, wurde ihre Begräbnisfeier zu einer Dokumentation der Breite, die ihr Leben ausgezeichnet hatte. Die Menge fand in der großen Feuerhalle in Graz kaum Platz. Und der Bogen der Beiträge spannte sich von einem Rückblick auf ihr wissenschaftliches Schaffen und einer Komposition von Gerd Kühr über die Reden eines katholischen Geistlichen bis zu einer Muslima, die mit Petra Freundschaft geschlossen hatte. Jay Winter sprach das Kaddisch und sang jüdische Gebete. Petras Offenheit, ihre Neugierde und ihre Vorurteilsfreiheit führten die monotheistischen Religionen an ihrem Sarg zusammen. Begraben ist Petra im neuen Teil des Urnenfriedhofs am Grazer Zentralfriedhof. Viele ihrer Weggefährten und Freunde haben dort einen konkreten Ort des Gedenkens. Wichtiger noch ist aber die Erinnerung, die so viele Menschen in ihrem Gedächtnis haben, an schöne Stunden, glückhafte Begegnungen und die Bereicherung, die Petra Ernst in das Leben ihrer Freundinnen und Freunde gebracht hat.

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Jay Winter

The Space of Mourning. In Memory of Petra Ernst I am here to present to you a book that Petra never saw. Together we gather today in a place of learning and a site of mourning, where we meditate on what was said and unsaid, written and unwritten by someone no longer alive. First, what was said and written. This book is a contribution to what may be termed the spatial turn in cultural studies, that cast of mind in which space is defined as a constellation of meanings attached to place. In 19th and early 20th century Central and Eastern Europe, Schtetl, Stadt, Staat (both real and imagined) were the inhabited sites of Jewish life, places where many writers crystallized dreams, reveries, tales, and legends into poems, songs, fragments, plays, and novels – the material from which Petra Ernst fashioned her rich and profound study of the space of the German Jewish literary imagination.1 It is right and proper that we focus on what Petra created, and celebrate her achievement. At the same time, we cannot lose sight of the fact that, when she was struck down, she was but at the beginning of a longer journey on which she had embarked, but which she never got to enjoy, let alone to complete. That injustice, that cruel curtailment of the life of one of the most generous people I have ever known leaves me with a taste as of ashes. And nothing can take that loss away from us. Spaces, Gaston Bachelard noted, are always provisional.2 When we consider the space of a single life, we must start with the stark truth that none of us knows the shape of our lives while we are living them. Memory, I believe, is always about the future. When life circumstances change, so does our sense of the trajectory of the past leading to today and tomorrow. Thus in an appreciation of Petra’s work, we ought to evoke the space of scholarship Petra never had the chance to inhabit. Let me tell you about one of the ideas Petra had in her last years, one I was privileged to share.

1 Thanks are due to Jeffrey Barash, Harvey Mendelsohn, and Marc Saperstein for helpful comments on this essay. 2 Bachelard, Gaston: The Poetics of Space, trans. by Maria Jolas, Boston 1969.

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Jay Winter

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The space of mourning

We tentatively called the book we wanted to write ‘The Space of Mourning: the Great War in European Cultural History’. It was to be a co-authored book dedicated to integrating the literary scholarship Petra had constructed into the broader cultural history of the First World War, a history which until now has never brought together systematically into one interpretive framework Western European, Central European, and Eastern European cultural life. It was also new in that it gave pride of place to what may be termed the Jewish predicament in a war which turned out to be a catastrophe for all those trapped in its vortex. Our idea was to bring the fruits of Jewish cultural studies to bear on the broader cultural history of a war. The hypothesis we aimed to test was set out in my book Sites of Memory, Sites of Mourning.3 In it I claimed that among the effects of the war on cultural life in Europe was to set in motion a creative tension between what we term the modernist and the traditional elements in European cultural life. Modernism, however defined, was there well before 1914, but what complicated its development thereafter was the revolution in violence in the Great War and the ubiquitous cloud of bereavement which covered Europe east and west from 1914 on. Petra and I wanted to examine the argument that there was a return to what may be termed traditional languages of artistic expression – in classical, romantic, or religious forms – since these provided a grammar of bereavement in the wake of total war. Modernism challenged, excited, exploded, stimulated, seduced, but (in its many embodiments) it did not mediate bereavement. Why was this so? Some clues may be found in an interpretive framework developed by Julia Kristeva.4 Using a vocabulary derived from psychoanalysis, she has explored the power of what I have termed ‘traditional’ structures of thought to express the anguish and hope of men and women in mourning. Her argument has profound implications for our understanding of the cultural history of the war. Kristeva suggested that ‘religious discourse’, alongside ‘aesthetic and particularly literary creation’, sets forth ‘a device whose prosodic economy, interaction of characters, and implicit symbolism constitute a very faithful semiological representation of the subject’s battle with symbolic collapse’. ‘Symbolic collapse’ threatened all those who tried to understand the meaning of loss of life in the Great War. Art and ceremony helped shore up these traditional symbols, 3 Winter, Jay: Sites of Memory, Sites of Mourning: The Great War in European Cultural History, Cambridge 1995. 4 Kristeva, Julia: Psychoanalysis: a Counter-Depressant, in: Kristeva, Julia: Black Sun: Depression and Melancholia, trans. by Leon Roudiez, New York 1990, p. 25.

The Space of Mourning

through which grief was expressed and bereavement experienced. Following Kristeva, we can see how it was not only individuals, therefore, but also the symbols of meaning which were ‘resurrected’ during and after the war. Through their elaboration, expression and revival, these images and icons were shared by millions in mourning. What I have called traditional languages of loss, in the visual arts, in prose and poetry, and inscribed in social forms of mourning, thereby contributed to the process of mourning, perhaps, as Kristeva suggests, more through ‘catharsis’ than ‘elaboration’. Such an approach clarifies much about the cultural aftermath of the Great War and about the flowering in its wake of an older set of languages in literature and the arts. What Petra and I were committed to do, before her illness intervened, was to use this framework to begin to integrate German Jewish writers and writing into the overall cultural history of the war. The first part of this project was to focus on Martin Buber, Franz Rosenzweig, and their translation of the Bible. The hypothesis we were set to examine was that their famous translation project must be set in the context of the reaction of both writers to the war and to the catastrophic upheaval it caused. The return in the Buber-Rosenzweig project to the force of archaic Hebrew as the carrier of the Jewish encounter with God was, in this setting, part of a much wider and varied search for languages of meaning in the wake of war. Here was a way to understand too the harsh critical response of a number of writers, including Siegfried Kracauer, to the translation project. What these radical critics failed to see was the return to older languages of meaning as a fundamental element in the post-war cultural landscape. They therefore misunderstood the creative process in which Buber and Rosenzweig were engaged. Gershom Scholem got it right: the translation was a tombstone to the German-Jewish humanist tradition, arriving just at the time when that tradition was fading away. 2.

Buber at war

First the war. Buber was one of hundreds of writers, artists, and intellectuals in many parts of the world who completely misunderstood the nature of the conflict and the monstrous damage industrialized war was bound to inflict on Europe.5 Buber’s attitude to the outbreak of war was not quite war enthusiasm, Kriegsbegeisterung. Instead, he was seized by a mystical belief that out of the energy released by the war a new renaissance for both Jews and non-Jews beckoned. This was naivete on a very high level, made worse by a failure to see 5 I follow here the narrative in: Friedman, Maurice S.: Martin Buber’s Life and Work: The Early Years 1878–1923, New York 1982.

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the outbreak of the war as the result of the blind leading the blind, (in the words of Christopher Clark) leaders sleepwalking the masses into the conflict. It is difficult to criticize Buber’s (and others’) failure to see the future, but it is not difficult to see them as blind to the destructive power of modern war visible at the time. This is the strength of Clark’s Sleepwalkers; we must judge the men of 1914 in terms of what they could know in 1914. And they could have known – and did know – a lot about the terrifying effects of artillery, seen throughout the European press in its treatment of the Balkan wars. The error of his ways did not strike Buber until later in the war, but his near exhilaration about the war as a time of movement, a moment opening the way to radical changes, makes his wartime writings appear particularly deluded in retrospect. Again, his was a delusion shared by thousands of intellectuals who thought they had found a place at the centre of their societies, and not at the margins. But feeling a part of a great historical moment clearly reduced Buber’s critical ability to evaluate the clichés of the time. Buber never was a German superpatriot. Born in Lemberg, his Austrian upbringing was at least as important as his later German intellectual activities, and yet – alongside Freud, Weber, Max Reinhardt, and Max Planck – he still fell for the August madness. Yes, war is destruction, he wrote, but at the same time he believed it would force ‘the purification of the spirit’. ‘I lived for that moment shattered and liberated’. ‘The time is exceedingly beautiful’, he wrote, ‘For the first time, the nations have become wholly real for me’, and ‘the concept of Volk’ seized his mind in all its grandeur. The German nation really was one, he opined, and in light of that belief his obligation to the German nation was to stand within it at this hour of danger. He told friends he regretted the fact that he was too old and infirm to volunteer. In September 1914 he wrote that the war ‘liberat[ed] Central European man for public life’. Celebrating the first Hanukah of the war, he wrote that the conflict had the capacity to initiate a period of light and creativity. At this time he even adopted Dante’s motto ‘Incipit vita nova’, here begins new life. In a letter to Hans Kohn, he stated that to him as to other Jews the outbreak of war was a moment of ‘solemn exaltation’.6 He saw reports of German atrocities in Belgium as lies or exaggerations. Here he joined the majority of his middle-class peers in refusing to see the brutalizing effects of industrial warfare in a densely-populated part of Europe. Now we know better. Should Buber have known better? Perhaps, since this wave of national feeling was by and large a middle-class phenomenon, ephemeral at best, and not shared outside the major cities.7 For a brief time, he felt that he was part of a world 6 Buber to Hans Kohn, 30 September 1914, in: Glatzer, Nahum N. et al. (eds.): The Letters of Martin Buber, Oxford 1983. 7 Verhey, Jeff: The Spirit of 1914: Militarism, Myth, and Mobilization in Germany, Cambridge 2009.

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historical moment, one in which he could integrate at long last his dual identities as a Jew and as a German intellectual. One of his closest friends, Gustav Landauer, thought that he had gone slightly mad. He had turned into what Landauer mocked as my friend ‘War Buber’, a dreamer like the rest who saw in movement a good in itself, whereas for Landauer the movement in question was towards mass death and destruction on a scale no one had ever seen before. Like Hans Castorp in the Magic Mountain, Buber believed that he had escaped the oxygen-starved stasis of the pre-war world, with all its limitations and obstacles, and welcomed war as a time when he could breathe the air of upheaval and liberation. In mid-1915, Landauer refused to modulate his total rejection of Buber’s stance on the war. He refused to contribute to Buber’s new journal Der Jude on the grounds that he would not join a publication edited by a man following the absurd line that German Jews had a stake in German victory. ‘A pity for the Jewish blood’, Landauer wrote to Buber, ‘indeed a pity for every drop of blood that is spilt in the war; […] a pity for the men; a pity also that you have gone astray in this war’. Landauer, a socialist with more than a tinge of anarchism in his libertarian outlook, never broke with Buber during the war, despite their profound differences.8 But as the war dragged on and as its hold on European life turned darker and darker, Buber slowly but surely came to see the monumental error of his initial views on the war. The more he saw the validity of Landauer’s analysis of the war, the more he regretted the immoderation, to say the least, of his early worship of the heroic spirit he believed the war had unleashed in Germany. Buber’s vision was apocalyptic, in the traditional sense of pointing to a new dawn following a horrendous night of destruction. What would happen should the dawn never arrive? As the casualty lists grew and the chances that the war would be a transformative event in any positive sense of the term faded away, Buber came to feel the tragedy of the war. This was especially the case when Landauer was beaten to death in prison during the suppression of the Munich revolution of 1919. To the list of acquaintances, students, and friends who died in the war was now added his beloved Landauer, his loyal critic and fellow dreamer of a world different from the one in which Buber and the survivors of the 1914–18 conflict had to live. To his close friends, it was clear that Buber never recovered from the loss of Landauer. ‘I experienced his death as my own’, he later told a friend.9 But in 8 On Landauer, see: Buber, Martin: Paths in Utopia, Syracuse 1996, chapter 6. 9 From a conversation with Grete Schaeder, reported in: Schaeder, Grete: Martin Buber: A Biographical Sketch, in: Buber, Martin: The Letters of Martin, at n. 52.

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another sense, Landauer’s death was the culmination of a period of crushing loss in Buber’s life, losses of dear ones and of his own deep illusions, a sense of loss made even more unbearable by the knowledge of how naive he had been to see war as anything other than an unmitigated catastrophe, even from its earliest days. After all, the highest casualty rates in the war were registered in 1914. Despite the fact that 100,000 German Jews served in uniform, they were not given a chance to join the nation as equals. The infamous Jew census of 1916 showed that the war spread anti-Semitism rather than weakened its appeal.10 There was, though, a degree of stability in Buber’s commitments. He retained his belief in Zionism, editing Der Jude to advance the cause of Jewish nationhood and the spiritual revival of Jewish life in Palestine. But he also turned away from mass society and its enthusiasms to cultivate his original work on dialogue.11 It was during the harsh years of the war that his early formulations of what we now know as ‘I and Thou’ appeared. I will leave aside these facets of his career to concentrate on one other significant reaction to the upheaval of war and the losses it brought about. It was his growing friendship and ultimately his partnership with a very different Jewish writer, Franz Rosenzweig. The lives of both were transformed by the war, but in very different ways. 3.

Rosenzweig at war

Rosenzweig was 28 years old when the Great War began.12 He was from a middle-class assimilated Jewish family in Kassel and had studied history and philosophy. He was on a path to an academic career, writing a thesis under the direction of Friedrich Meinecke on Hegel and the state.13 Rosenzweig was neither a pacifist nor a Zionist and thereby developed a point of view remote from both Buber’s and Landauer’s. He was neither exhilarated nor depressed by the war but endured it as a reality he could not escape. A year before, in 1913, he had contemplated conversion to Christianity, after deep exchanges with Eugen Rosenstock, a converted Jew who also joined the army in 1914. Rosenstock spent more than a year at Verdun and was under no illusions as 10 Winter, Jay: Jüdische Erinnerung und Erster Weltkrieg – Zwischen Geschichte und Gedächtnis, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts, xiii (2014), pp. 111–130. 11 Mendes-Flohr, Paul: Martin Buber: Builder of Bridges, in: Jewish Studies Quarterly, xiv (2007), pp. 101–119. 12 I follow here the narrative in: Glatzer, Nahum N.: Franz Rosenzweig: His Life and Thought, Indianapolis and Cambridge 1961. 13 Rosenzweig, Franz: Hegel und der Staat: Gedruckt mit Unterstützung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, München 1920.

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to the monstrous nature of industrial warfare as the practice of assembly-line industrial killing. Still, both Rosenzweig and Rosenstock saw military service as an unavoidable obligation. Rosenzweig joined the Red Cross on the outbreak of the war and served as a male nurse in Belgium. He was conscripted in early 1915 and served initially in the infantry. His training did not interrupt his written and spoken conversations with the distinguished Kantian philosopher Hermann Cohen, a patriot who saw Kant as the towering figure of the German humanist tradition and of world enlightenment thought tout court. Rosenzweig was less certain of the righteousness of the German cause in the war. In short order he was sent to occupied Belgrade in Serbia and then joined a unit of mountain troops used as spotters of enemy aircraft on the mountainous Macedonian front, about 120 kilometres north of Saloniki. He lived, he wrote to a cousin, Rudolf Ehrenberg, a ‘hermit’s existence’. ‘I neither expect nor hope anything’ from the war, ‘but’, he wrote, ‘I carry my life through it, as Cervantes did his poem’ in one hand while acting the role of a soldier with the other hand. It was not a hard life. Indeed he noted that ‘My solitary tour of duty’ as an aircraft spotter in the mountains ‘has made a romantic childhood dream come true’, that of living alone in the mountains without personal responsibilities. On a more sober level, he mourned the loss of several of his gunners in engagements with Allied artillery and airplanes, and he expressed disgust at the super-chauvinism of parts of German society, especially during the ascendency of Hindenburg and Ludendorff in 1917. ‘To be a German’, he wrote home to his parents, ‘means to be fully responsible for one’s nation’, the worst along with the best. After the fall of Bethmann-Hollweg, his sympathy with Germany’s leadership was stretched to the breaking point. And, like so many other Great War soldiers, despite his grumbles, and despite his sense that the leaders had no idea how to win the war, yet still he served. By 1917, there were mutinies in several armies, in part in response to the slaughter, in part in response to the sense that the war went on because no one had the slightest idea how to bring it to an end.14 It was while he was engaged in static mountain warfare that he returned to a theme that had preoccupied him in the months before the war. He started to think about what a post-war program of Jewish education might entail and sought out ways of finding Jewish communities, if possible, on the Balkan, the Russian, and the Ottoman fronts. His interest was in how they organized the education not only of the young but of all Jews.15 14 Winter, Jay: War and Anxiety in 1917, in: Abendhuis, Maartje (ed.): 1917 in Historical Perspective, Auckland 2018. 15 See his letters to his parents in: Rosenzweig, Franz: Feldpostbriefe: die Korrespondenz mit den Eltern (1914–1917), Freiburg 2013.

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In Skopje, the capital of Macedonia, he found Sephardi Jews who spoke Ladino, and lived a very rich cultural life. Here he was struck by the variety and dignity of Jewish life in Europe; he was not a Zionist and felt it unlikely that a Renaissance in Jewish life would happen should they found ‘their Serbia or Bulgaria or Montenegro in Palestine’. Still he felt that German Jews needed to deepen their knowledge of Judaism as a lived experience, transmitted initially and fundamentally in the language of the Bible. And to do so, they had to shed snobbish ideas about the vulgarity or barbaric practices of Jewish communities in the east and south of Europe. The relative quiet on this front enabled Rosenzweig to take up the violin and to provide lectures on the history of the world war. Most importantly, he began to think about the nature of the Jewish communities he encountered in the south and east of Europe. Instead of finding them impoverished and uncivilized shadows of their more polished German brethren, he became intrigued by the richness and variety of Jewish social and cultural life throughout eastern and southern Europe. His distance from Zionism led him to reject an invitation from Buber to contribute to Buber’s new publication Der Jude; however, his ecumenical outlook, stretching from the edges of Christianity onto all kinds of Jewish collective life, enabled him during the war to maintain cordial though distant relations with Buber and other Zionists in Germany. Serving in a mountain war in which death was present but occasional, Rosenzweig never bore the brunt of industrialized mass killing. But death was no stranger to him. His father died in March 1918, a moment of deep sorrow, as was his response to the death a month later of his teacher and friend Hermann Cohen. In July of that year he contracted influenza and pneumonia and was hospitalized in Leipzig. Once recovered, he was stationed at a gunnery school in Warsaw, where he had his second important encounter with a vibrant Jewish cultural world. In Warsaw, he thrilled at the vivid character of Jewish life. The schools were places of intellectual excitement, not of rote learning; in their synagogues, the Hasidim embraced the words of the Bible with all their hearts. Here is what I would like to term philo-Ostjuden-ism in all its colours, a subject very dear to Petra’s heart in the last phase of her scholarship. Reinvigorated by his contact with Jewish life in the east, Rosenzweig returned to his philosophical writing, which he completed on army stationery or on post cards which he sent to his mother for transcription. By late August 1918, everyone knew that the Central Powers could not win the war, and though there was little movement on the Macedonian front, it is clear that Rosenzweig still had to divide his waking hours between scanning the skies for Allied planes and adding another section to his book, The Star of Redemption. Even a bout of malaria did not stop him from his appointed task. He wrote parts of the book in hospital in Belgrade and then in Freiburg im Breisgau, where he was

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stationed until the end of the war. He completed the final version of the book on 16 February 1919. The only equivalent scholarly trajectory of which I know of men in uniform engaging in abstract philosophical work during their active service concerns Ludwig Wittgenstein. He left to his Cambridge College the notebook in which he developed arguments later published in his Tractatus. Like Rosenzweig, he did this work during his spare time while he served as a decorated officer in the Austrian army in Italy, and later after he had become an Italian prisoner of war. How much such writing insulated them from the harshness of the war is an open question. Both understood fully the disaster which had befallen their countries, and they were well aware of the barely imaginable slaughter of the young during and after the conflict. In addition, the depressive illness which appeared time and again in the Wittgenstein household took the life of his brother Kurt, the third of his brothers to commit suicide. Rosenzweig began his meditations in the Star of Redemption with the phrase that all thinking about God originates in death and the fear of death. Indeed, while still in uniform, Rosenzweig mulled over writing a book on war, one which he never published. These meditations constituted a bridge, Bensussan argues, between his thesis on Hegel and the state, and the Star of Redemption.16 The contemporary references in his writings at this time are unmistakable. To escape his fear of death, Rosenzweig wrote, ‘man buries himself in the earth, desperate to elude the tentacles that menace him from all sides […] screaming out in refusal of this inexorable violence’. War was ‘the acid test’ of all kinds of thought, which had to be revised in light of the ‘pestilential breath’, ‘the mortal and ruthless sting’ of the war’s immense human cost. So much for idealism; a new approach to life and death had to be thought out anew. In 1919, in virtually any part of war-torn Europe, mass death was an everpresent companion. In a world bereaved, the inescapable question arose as to how to carry on intellectual and cultural life in the shadow of the catastrophe. This is the context in which Petra and I planned to set out a re-interpretation of the Bible translation project of Martin Buber and Franz Rosenzweig. It is to that subject that I now turn. Maurice Friedman has left a moving account of the growth of a friendship which led to the collaboration of Buber and Rosenzweig in the Bible translation. Having met in 1914, Rosenzweig sought out Buber only in 1922. Why the delay? Rosenzweig, the rationalist non-Zionist, and Buber, the mystical Zionist, 16 Bensussan, Gérard: Rosenzweig and War: A question of “Point of View”: Between Creation, Revelation, and Redemption, trans. by Matthew H. Anderson, in: New Centennial Review, xiii, 1 (Spring 2013), pp. 115–136.

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made an odd couple. But when Rosenzweig created his ‘Free Jewish house of learning’ in Frankfurt in 1920, he sought lecturers who would attract a public of active men and women seeking to deepen their understanding of their Jewish heritage. According to all accounts, the most successful of them all was the distinguished Conservative rabbi Nehemiah Nobel. When he died suddenly in 1922, Rosenzweig was both shocked and disoriented. It was to attempt to fill this black hole in his life and in his Lehrhaus project that Rosenzweig turned to Buber. To Rosenzweig’s surprise, Buber accepted the invitation. Out of this association came the translation project itself, begun formally in 1925 and completed by Buber alone 11 years later. 4.

Towards a translation of the Bible

In Germany in the aftermath of the Great War, the future looked very dark indeed. The hatreds of the war turned very rapidly into the hatreds of the peace, and para-military groups brought to Berlin and Munich the thuggery and brutality of the trenches. That there was no effort to prosecute the perpetrators who beat Gustav Landauer to death in 1919 and who proudly presented their ‘kill’ in a trophy photograph speaks volumes about the moment. There were problems of daily life as well. Frankfurt’s economy was devastated by the war and by post-war inflation. The price spiral wiped out a small foundation the Rosenzweig family had set up in the name of Franz’s father in support of Jewish learning, and though price stability returned in 1925, the social divisions of German society were deeper than ever. To ensure that these cleavages were visible, the Nazi party set up a branch in Heppenheim, which Buber had made his home in 1916. The question Petra and I were set to pose is the following. While all cultural projects are over-determined, with multiple sources, is it useful to interpret the Buber-Rosenzweig Bible project in the context of a wartime and post-war crisis of meaning, in which artists and thinkers of many persuasions turned not towards modernism or nihilism but back to classical, religious, and romantic traditions? In this formulation, interwar cultural history – including interwar Jewish history – is dialectical. On one side, Dada and surrealism spurned or mocked the language of a culture which had produced the killing machines of the war, and communism claimed that it could supersede this bankrupt culture. Alongside these movements, a kind of Marxisant celebration of the fragmentation of urban life pointed to elements which, one day, might be pieced together in a different society. Walter Benjamin’s Arcades project and Siegfried Kracauer’s studies of popular culture were examples of this kind of thinking.

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On the other side in a broad array of cultural projects artists and writers chose to return to the past to find some semblance of meaning in the post-war world. Among such projects was Buber and Rosenzweig’s exploration of the spoken word of the Bible as the archaic source of Jewish life and belief. There are some striking resemblances to another project begun during the war itself. In 1916, the Protestant theologian Karl Barth, dismayed at the strident nationalism of some of his own teachers, who were liberal Protestants (and he could have added liberal Catholics and liberal Jews), began a commentary on Paul’s epistle to the Romans.17 He claimed that those who claimed that God was on their side had only a very superficial understanding of the Gospels and of the writings of Paul and the early Christians. Instead of humanizing God, Christians should, he urged, accept his alterity, his unknowability, his otherness, save through his Revelation in Christ. In 1925, Buber and Rosenzweig took a similar step back into the early days of Jewish life by claiming that only through direct contact with Biblical Hebrew could Jews avoid the misunderstanding of God imbedded in most of the translations of the Bible, including Luther’s. In a sense, Buber and Rosenzweig were more radical than Barth, claiming that it is only through hearing the sounds of ancient Hebrew that Jews can even begin to frame a dialogue with God and with each other. The first step to doing so was to render the Bible in a German which conveyed the original sense of the Hebrew in which it was declaimed. The second step was to go beyond the German translation and engage in an exploration of the original language of the Bible. ‘Shema Yisrael’, ‘Hear, O Israel’, is the Jewish credo. Buber and Rosenzweig took those words literally. The Bible was auditory memory. It was the record of a set of sounds utterly different from the domesticated language of Biblical translations from Luther on. Only by hearing those primitive, archaic sounds we can get a sense of the meaning of the Torah, as a guide to the meaning of life. By claiming that sound precedes thought, they followed in Hölderlin’s footsteps; by urging Jews to give up conventional and un-disturbing readings of the Biblical text, they presented Jewish practice as a putting into words of the shocking sounds of the Shofar, that blast from another world which tells Jews to awaken to the presence of God among them. Another way of understanding the Buber-Rosenzweig translation is to say that after the Great War metaphors about God or man simply didn’t work any more. Walter Benjamin famously put it that those who came back from the war had lost the capacity to retain and reflect on experience, since the language 17 Barth, Karl/Schmidt, Hermann (ed.): Der Römerbrief: (Erste Fassung) 1919, Zürich 1985; in English: Barth, Karl: The Epistle to the Romans, translated from the 6th  edition by Edwyn C. Hoskyns, bart., with a new preface by the author, London 1933.

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available to express it was blown to pieces by the war; ‘A generation that had gone to school on a horse-drawn streetcar now stood under the open sky in a countryside in which nothing remained unchanged but the clouds, and beneath these clouds, in a field of force of destructive torrents and explosions, was the tiny, fragile human body’.18 What Buber and Rosenzweig offered to this disoriented generation of Jews was a return to the beginning, a rallying cry to read a translation of the Bible attuned to the original language of revelation, and to bypass the domesticated prose of modern translations. Their translation was a first step on a journey from conventional Biblical language in translation back to the beginning of the Bible as a declaimed text. While quarrelling with Luther, their real enemy was the domestication of God as a comforting sage, set above us as in Michelangelo’s ceiling in the Sistine Chapel. What they sought was to turn the sound of the Bible from a comfortable possession into a raging, mysterious storm. It was possible to start with the spoken poetry of the Bible to reach a set of teachings, heard presences of God among men; but it was not possible to start with theology and through it to find the word of God. For Buber and Rosenzweig, to make revelation present, a matter of dialogue today and tomorrow, the Bible had to be liberated from the languages into which it has been translated from the Greek Vulgate to Luther’s Bible and beyond. Their translation aimed to move readers away from their own text, to force readers to go beyond the German to the Hebrew, that unique auditory memory of Jewish encounters with God. In effect, they claimed that no other language (including German) can capture the declaimed, breathing rhythms of the spoken Torah. That is why the Bible had to be retrieved from the realm of received wisdom, codified and domesticated in earlier translations, and presented as wisdom heard for the first time in the original language of revelation. An estranged German translation of the Bible, they hoped, would lead German Jews to go back to the original. And to limit this translation to the Masoretic text was to focus not on the Talmud, which was read, but on the Torah, which was read aloud and whose sound encapsulated its meaning. The fire of the language of the Bible, Buber wrote, can be felt through the exploration of leading words, Leitwörter. Here is Buber’s definition of the term: By Leitwort I understand a word or word root that is meaningfully repeated within a text or sequence of texts or complex of texts; those who attend to these repetitions will find a meaning of the text revealed or clarified, or at any rate made more emphatic. As noted, what is repeated need not be a single word but can be a word root; 18 Benjamin, Walter: The Storyteller, trans. and ed. by Sam Dolbear, Esther Leslie and Sebastian Truskolaski, London 2016, p. 8.

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indeed the diversity of forms often strengthens the overall dynamic effect. I say ‘dynamic’ because what takes place between the verbal configurations thus related is in a way a movement; readers to whom the whole is present feel the waves beating back and forth. Such measured repetition, corresponding to the inner rhythm of the text – or rather issuing from it – is probably the strongest of all techniques for making a meaning available without articulating it explicitly.19

Repetitions create patterns, heard patterns, breathing rhythms, which enable us to begin to understand scriptural meaning in the act of hearing them. Anyone who has ever chanted a Haftorah, broken up into small units of sung Hebrew, will know what that signifies. Our voice has to catch its breath, break up the text into units, which pause enables us to sing it and to hear it as spoken poetry. To get to these original utterances, we must go back to the original Hebrew. Once we do that, constructing a translation of the Bible in any other language is an act of distantiation, a document of exile.20 We need to feel the remoteness, the archaic oddity, the sound of dissonance, and for that many conventional terms known to the faithful in their translations of the Bible had to be scrapped and replaced. That in a nutshell was the mission of their translation of the Bible. Let me give you some of Buber’s most striking examples of this work as a return to the archaic paste Bible.21 Consider the Hebrew word Qurban, rendered by Luther as Opfer or sacrifice and understood by him as the renunciation and abandonment of life. Not so in the original Hebrew, Buber says. Qurban is a term describing a relation and implies the existence of two persons, one of whom seeks to diminish the distance between him and the Other, the eternally present God. To do so he takes something and ‘brings it near’ to the Other. Thus Qurban is not Opfer but Darnahung (nearbringing, forebringing, therebringing). Consider similarly the term Kippur, normally translated as ‘expiate’ or ‘atone’. But in the original Biblical sense it means ‘to cover’, ‘to cover over’, ‘to protect’. Then take the example of Kodesh, which for centuries has been translated as ‘holy’. But this rendering Buber rejects because ‘holy’ is static, whereas Kodesh is dynamic, not a condition but a process: the process that is ‘of hallowing, of making holy and of being made holy’. Moses stands before the burning bush

19 Buber, Martin: Leitwort Style in Pentateuch Narrative, in: Buber, Martin/Rosenzweig, Franz: Scripture and Translation, trans. by Lawrence Rosenfeld with Everett Fox, Bloomington 1994, p. 114. 20 Batnitzky, Leora: Franz Rosenzweig on Translation and Exile, in: Jewish Studies Quarterly, xiv, 2 (2007), pp. 131–143. 21 Buber, Martin: On Word Choice in Translating the Bible, in: Buber/Rosenzweig: Scripture and Translation, pp. 73–89.

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not on holy ground but on the ground of hallowing. The Sabbath is a festival for hallowing. The opposite of Kodesh is Hol, which needs a new rendering too. Luther gets it wrong by translating it as ‘unholy’. Instead it means the surrendering to ordinary use of that which is set aside on Shabbat. Ohel moed is not Luther’s ‘place where I shall bear witness to you’. Returning to the ancient Hebrew, we can see that it means rather a process in which being present – being made present, remaining present – happens. Continuing along the same line of turning the fixed into the dynamic, Moed is not a fixed time but the extended moment of the encounter of the people with each other and with God. ‘A German Bible’, writes Buber, ‘must deliver Shabbat from the rigidity of the ‘Sabbath’ and restore to it the vitality of Feier and Feiern’. Here Buber may have indulged his notion of play and worship in the Hasidic tradition and read it back into the original Hebrew text. But the basic idea is that we imitate God on the Sabbath, in ceasing to do our work as God ceased his work of creation on the seventh day. Thus we need to use the same word as the Bible does to speak of God’s work and ours. Tsedek is a judgment, the statement of a verdict about truth. Tsedakah is living that truth throughout one’s life, and the Tsaddik is he who succeeds in doing so. Torah is not law but always ‘instruction’ or ‘teaching’. A Nabi is not a prophet but a proclaimer of the Divine Truth. Malakh should not be translated as an angel but as a messenger, whose act defines his existence. Ruah is a surging from God, a Geisting taking place, rather than a reference to a fixed spiritual entity or message. Always when given a choice in translation of Biblical Hebrew, Buber opts for process, not product; the act of speaking revelation, not the message revealed. And in a celebrated passage, echoing earlier work by Rosenzweig, Buber urges us to see the name of the Lord as indicating that he is there with them, present to them, but in continually new and never fully knowable forms. He remains there, but beyond our powers of understanding. Here Buber and Barth find common ground. The Buber-Rosenzweig translation made a daring move when it offered capitalized pronouns, Ich, Er, Du, to render the unnamable name of God. Here they moved outside of their own commitment to a literal or auditory translation, faithful to the Hebrew text, and seemed to adopt wording which suited their philosophy of human renewal through binary communication, of man with God, or of man with man. God, to Buber, is a partner in an endless conversation, and Ich, Er, and Du suit that point of view. This injection of a specific ideological program into the translation remains problematic.22 22 See: Jay, Martin: Politics of Translation: Siegfried Kracauer and Walter Benjamin on the Buber-Rosenzweig Bible, in: Leo Baeck Institute Yearbook, xxi, 1 (Jan. 1976), pp. 3–24.

The Space of Mourning

I should add at this point that, were Petra still alive, this section would be an entire chapter. Her intent was to take note of the choices made by Buber and Rosenzweig in the language of war and the wrath of God, of Amalek and Joshua, of destruction and suffering, all themes reverberating back from the 1920s to the time the Bible became a living document. That task must await another scholar to complete it. 5.

Doubts and criticisms

For Buber, the Bible had become a palimpsest, burdened by accretions which have to be scraped away to get to the unvarnished and startling original. Like the sound of the shofar, the Bible in the original is and should always be disturbing, arousing, troubling, bringing trembling, not quietude, whenever it is heard. This translation attracted criticism too.23 Among the most profound rejections of the entire project was that of the critical theorist Siegfried Kracauer.24 What made the criticism painful was that Kracauer was a friend and lecturer at the Frankfurt Lehrhaus. He was a pioneer in film criticism and a man whose views Buber and Rosenzweig took very seriously indeed. The social critic Walter Benjamin was part of Kracauer’s circle of social critics, and he shared Kracauer’s criticism of the project, though he never wrote a review of it. Benjamin flirted with Zionism, but like Kracauer he was too much of a materialist to believe in redemption through the word of the Bible. Despite the respect and affinities of all of these players in the cultural scene of Weimar Germany, it is evident that in this exchange much of significance was at stake about the nature of Jewish life in Germany and about how to understand and to react to the social crisis of the post-war decade. Let us first consider Kracauer’s rejection of the Bible project before providing in conclusion an idea or two about how this exchange brought to the surface a fundamental difference in the 1920s between men like Kracauer who focused on modernity and men like Buber and Rosenzweig who turned back to the archaic past. Through their Bible project, they aimed to bring the sacred back into the everyday life not only for Jews but for everyone in their society. To do so, they returned to older languages of meaning in the aftermath of the First World War. 23 Rosenwald, Lawrence: On the Reception of Buber and Rosenzweig’s Bible, in: Prooftexts, xiv, 2 (May 1994), pp. 141–165. 24 Kracauer, Siegfried: The Bible in German, in: Kracauer, Siegfried: The Mass Ornament: Weimar Essays, trans., edited, and with an introduction by Thomas Y. Levin, Cambridge 1995, pp. 189–202.

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Kracauer reviewed the first volume of the translation in the Frankfurter Zeitung in 1926.25 The book was composed of the text of the Buber-Rosenzweig translation, with an insert of Rosenzweig’s brief essay on ‘Scripture and Word’. What puzzled Kracauer was why this translation had been undertaken at all and why it was published without a commentary. On both grounds Kracauer found the project unacceptable. His first objection was that a translation of the Bible in 1926 was a diversion from the harsh realities of the times. Either we see the Bible through the profane eyes of our own times or we enter the deluded state of those who cease to see what is around them and take refuge instead in the domain of the sacred. Buber and Rosenzweig, thereby, had forsaken the agenda of both materialism and modernism, which was to face without flinching and without God the crisis of post-war Europe. To turn to the Hebrew Bible as a vehicle to achieve a spiritual revival in the 1920s was not only a mistake; it was a betrayal of the intellectual’s task. The translation, Kracauer claimed, was ‘the testimony and outgrowth of a religious circle’ dedicated to ‘religious renewal’, arising from efforts to ‘reestablish people’s relationship to the truths revealed in religion’. The cost of this approach is both a turning away from the public to the private realm and to serve as a distraction ‘from the task of rearranging the social order’. In effect, the project amounted to a renunciation of 20th -century reality in favor of 19th -century romanticism, the language of ‘a cultivated middle class in need of spiritual/intellectual backing’. ‘The translators ought to have recognized which domains today need to be blasted apart by truth’; ‘the decisive point’ is in the domain of the social and not of the ‘private’ or interpersonal. Had he written a critique of Barth’s Epistle to the Romans, it would (no doubt) have said exactly the same thing, presumably with the qualification that he expected better from intellectuals like Buber and Rosenzweig than from a clergyman like Barth. Max Weber struck the same chord in 1919 when he said in his celebrated lecture ‘Science as a vocation’, ‘To the person who cannot bear the fate of the times like a man, one must say: may he rather return silently, without the usual publicity build-up of renegades, but simply and plainly. The arms of the old churches are opened widely and compassionately for him’. Rosenzweig left himself open to such criticism. ‘Every translation is a messianic act’, he claimed, ‘which brings redemption nearer’.26 In ‘Scripture and Luther’ he argued, ‘Our time, then, must be permitted to ask the book the essential religious question all over again, as firmly and assuredly as it can’.27 Note 25 Kracauer: The Bible in German, pp. 186–201; originally published in the Frankfurter Zeitung on 25 January 1926. 26 As cited in: Jay: Politics of Translation, pp. 3–24, at p. 14. The source is: George Steiner’s: After Babel: Aspects of Language and Translation, Oxford 1975, p. 244. 27 In: Buber/Rosenzweig: Scripture and translation, pp. 47–69.

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Rosenzweig’s universalist thrust. The Bible project mattered for Jews, but not only for Jews. ‘Ki mi Frankfurt Tazei Torah’ (the Torah moves out to the world from Frankfurt) is one way to put it; what they found in the Bible was a truth for the world. But such was not truth to Kracauer, just delusion and idolatry. Had the translation been accompanied by a commentary, then Kracauer probably would have been somewhat appeased. But without any accompanying text, his belief was that Buber and Rosenzweig had abandoned intellectual work for the language and uplift of the missionary and the zealot. Alienation, Kracauer argued, was everybody’s problem, imbedded in the social conflicts of a period which had left the sacred behind for the profane. A return to religion through a new translation of the Bible amounted, in his view, to a rejection of social analysis and social action.28 Kracauer’s critique went further still. He described the language of the translation variously as ‘Wagnerian’ and ‘Georgian’, and in this domain I told Petra that, as a Germanist, she would have to be the judge of the force of this indictment. By these terms, Kracauer implied that Buber and Rosenzweig used an archaic, aestheticized, remote language not that far from the Ring cycle or from Stefan George’s poetry. Here in response Buber and Rosenzweig pointed to Goethe and Schiller as similarly guilty parties.29 Still they never answered fully Kracauer’s criticism that they had produced a text which read as if it were in line with German romanticism, rather than being in line only with the archaic Hebrew original. Here we come to the essential point, which Kracauer rightly identified: producing a German version of the Bible whose ultimate aim is to invite people to go beyond it to the original Hebrew still requires us to judge what the German version sounded like. Auditory memory arises from the sound of the text, and that sound was still in German. Buber and Rosenzweig wanted to make their German Bible sound strange, odd, disturbing, and thereby to shake up the smug certainties of their time. To Kracauer, that was a fool’s errand. This brings us to one final critique of the text, written by Gershom Scholem in 1961, on the completion by Buber of the project.30 A longstanding friend of Buber and Benjamin, Scholem used his characteristic pugnacity in prose to chide his friend Buber for not having gone on Aliyah earlier. Benjamin, alas, had not heard the message either. The same charge obviously could not have been made of Rosenzweig, who was never a Zionist. Scholem’s relationship with Rosenzweig was more remote than with the others; the two detected a 28 See: Jay, Politics of Translation, pp. 13ff. 29 Buber/Rosenzweig, The Bible in German, in: Buber/Rosenzweig: Scripture and translation, pp. 151–60, originally appearing in: Frankfurter Zeitung on 18 May 1926. 30 Kingsmill, Edmée: Martin Buber from the Perspective of Gershom Sholem, in: European Judaism: A Journal for the New Europe, xl, 2 (Autumn 2007), pp. 90–101.

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tension when they first met which never left them, and besides, Rosenzweig died of his degenerative disease in 1929. It was Buber who was the real target of Scholem’s massively arrogant wit. What Scholem saw in the Bible project was a memorial stone to the world of assimilated German Jewry. Scholem explained that the translation was intended as a gift for German Jews, yet due to the arrival of the Nazis the ‘Jews for whom you undertook this translation are no longer alive, and those among their children who escaped this catastrophe no longer read German’. As Martin Jay put it felicitously, ‘The God of the Jews no longer spoke German’.31 Kracauer’s skepticism about a Jewish spiritual revival in the interwar years was a tragic understatement. Here was Scholem’s central reason for criticizing the project. Buber was among the millions who did not hear the Zionists’ call until it was too late for most of them. Buber managed to reach Jerusalem in 1938, but the rest of German Jewry, with notable exceptions, was wiped out. So much for the Lehrhaus project. So much for the awakening of Germans, Jews and non-Jews alike, to the explosive message imbedded in the text of the Bible. That message had been turned into ashes along with those to whom it was addressed. Scholem, as was his wont, made certain that everyone knew that he had known better. 6.

Conclusion

In conclusion, it is apparent that what Kracauer, Benjamin and Scholem had in common was a sense that Buber and Rosenberg had fled from the real world into the spoken revelation of the Bible. What these critics missed, though, was that critical theory à la Kracauer and Benjamin, and scholarly work à la Scholem, left aside the question as to how to confront the crisis in meaning in Europe after the catastrophe of the Great War. Alongside these modernists, these philosophers of language and art, there were others who moved in a very different direction. I call this reaction a return to traditional languages in the wake of the war. It took many forms, among them Kaethe Kollwitz’s sculptures of bereavement, Sir Edwin Lutyens’s memorial forms, and that return to order which even brought Picasso close to Ingres for a while. Joyce’s Ulysses is a tract for the times of those like Stephan Daedalus, stuck in a nightmare from which they seem unable to awaken. Are all these efforts really from the challenges of the modern world? I remain skeptical of such certainties about what was the correct response to the upheavals of the European world in the first quarter of the 20th century. What makes more sense to me is to place Buber and Rosenzweig’s project in 31 Jay, The Bible in German, p. 22.

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the midst of a dialectical moment in cultural history when in response to the catastrophe of war and its multiple aftermaths some turned to past traditions, updated to serve the present,32 while others embraced modernity, at times with a grimace, at times with a sigh. Let us not forget that Paul Klee’s Angelus Novus, the angel of history, is facing the past as he is blown into the future by the wind and force of history. Let me close with a distant echo of these matters. When Petra knew she was dying, she planned her own funeral. What she asked me to do was to sing a number of Hebrew melodies she loved. That I did and unwittingly bore witness to her understanding of the power of music and the uncanny way the utterances of the Bible can still, even at the most difficult times, breathe life into what we do and who we are. Petra Ernst was a gentle, falling star who both before and after her fall illuminated and still illuminates our lives.

32 See: Benjamin, Mara H.: Rosenzweig’s Bible: Reinventing Scripture for Jewish modernity, Cambridge 2009.

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Europäische Trajekte und Transgressionen

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Vor Gericht Perspektiven der Zeugenschaft

1.

Der Zeuge Gottes und der Zeuge vor Gericht

Ein Zeuge tritt auf.1 Seine körperliche Präsenz unterstützt die Aussagekraft seiner Worte. Nichts, was er sagt, beruht auf Hörensagen oder stützt sich auf vermittelnde Medien; er hat das, worüber er spricht, selbst gesehen oder erfahren. Er bezeugt seine Erzählung und verbürgt im Hier und Jetzt seiner Gegenwart die Authentizität seiner Person, seiner Sprache sowie den Inhalt seiner Aussage. Ein solches Zeugnis verlangt daher nicht nur nach einer Person, die spricht, sondern auch nach einer Person, die zuhört und das Zeugnis akzeptiert – oder es aber als unglaubwürdig zurückweist. Denn das, was der Zeuge als subjektive Erfahrung präsentiert, soll gleichzeitig objektiv und wahr sein. Der individuellen Perspektive des Zeugens soll die Allgemeingültigkeit der Aussage zukommen. Doch was für eine Wahrheit ist es, die bezeugt werden soll? Bereits im Alten Testament tritt ein besonderer Zeuge auf, der Zeugnis geben möchte. Moses besteigt den Berg Sinai, und obwohl er Gott selbst nicht sehen kann, erkennt er Ihn als höchste Macht an. Moses erhält von Ihm zehn Gebote, welche für das sich nun formierende jüdische Volk zum Gesetz werden sollen. Der Zeuge Moses bestätigt damit nicht nur die Existenz Gottes, sondern auch die des von Gott auserwählten Volkes. Und in der Gestalt des Moses selbst spiegelt sich der Effekt seiner Begegnung mit Gott. Moses’ Präsenz wird nach dieser Begegnung selbst zu einem Zeugnis. Sein Angesicht wird von Strahlen der Glorifizierung umgeben, welche mittelalterliche und frühneuzeitliche Künstler, wie etwa Michelangelo, missverständlich als Hörner übersetzten und auf diese Weise bildlich wiedergaben. In der Bibel kommt dann im Buch Jesaja Gott selbst zu Wort. „Ihr seid meine Zeugen“, spricht Gott,

1 Hier wie im Folgenden setze ich das Maskulin Singular für den Zeugen. Ich lasse mich dabei von dem ersten Beispiel eines Zeugens hier leiten, verstehe die Formulierung jedoch genderinklusiv.

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damit man erkennt und mir glaubt und einsieht, dass ich bin. Vor mir war kein Gott gebildet, noch wird es nach mir einen geben. Ich, ich allein bin der Herr […] und ihr seid meine Zeugen, spricht der Herr, und ich bin Gott.2

Paradoxerweise sind Zeugen notwendig, weil dieser einzige Gott, anders als die Götter der Heiden, sich den Blicken der Menschen entzieht. Zeugen müssen hier nicht für etwas, das sie sehen, sondern für den Unsichtbaren einstehen. Jeder Jude soll, ja muss zu einem Zeugen dieses Gottes werden, wie auch Vertreter späterer christlicher Glaubensrichtungen sich als Zeugen verstehen. Deutlich zeigen etwa die Mitglieder der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas ihre Zeugenschaft bereits in ihrem Namen an. Zeugen stehen im Zentrum des religiösen Denkens. Und die Tatsache, dass eine Person bereits durch und mit seiner körperlichen Präsenz und Glaubensentscheidung zum Zeugen werden kann, wird nicht nur in der hebräischen Bibel, sondern auch durch einen altgriechischen Begriff reflektiert. Das griechische Wort für Zeuge ist μάρτυς, Märtyrer oder Blutzeuge. Noch heute mag ein Jude mit dem täglichen Gebet des „Höre Israel [Schema Jisrael]!“ ein Bekenntnis für seinen Glauben und zu seinem Volk abgeben und gleichzeitig zum Zeugen Gottes werden. Aber in den Büchern Moses wird das Zeugentum im Sinne eines religiösen Bekenntnisses auch mit dem Gebot verbunden, rechtmäßig zu handeln. Glaube und Recht, Bekenntnis und Moral sind eng miteinander verbunden. „Wenn jemand also sündigen würde, dass er den Fluch aussprechen hört und Zeuge ist, weil er’s gesehen oder erfahren hat, es aber nicht ansagt, der ist einer Missetat schuldig“, heißt es im dritten Buch Mose, hier zitiert in der Bibelübersetzung Martin Luthers.3 Ein Zeuge hat danach Aussagepflicht und darf nichts Falsches sagen; aber gleichzeitig kann seine Aussage nichts anderes wiedergeben als seine eigene, persönliche Wahrnehmung. Um eine gerechte Entscheidung und ein gerechtes Urteil zu treffen, wird daher gleich eine Multiplikation nahegelegt. Zumindest zwei Zeugen sollen sprechen. So heißt es im fünften Buch Mose: „Es soll kein einzelner Zeuge wider jemand auftreten über irgend eine Missetat oder Sünde, es sei welcherlei Sünde es sei, die man tun kann, sondern in dem Mund zweier oder dreier Zeugen soll die Sache bestehen“.4

2 Jesaja 43:10–12 (Luther-Bibel). Siehe Krochmalnik, Daniel: Pflicht Nr. 122. Das Zeugnisgebot (Mitzwat Edut) in Geschichte und Gegenwart, in: Michael, Elm/Gottfried, Kössler (Hg.): Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung, Frankfurt am Main 2007, S. 19–32, hier S. 23. 3 Mose 3:5 (Luther-Bibel). Siehe Krochmalnik, Pflicht Nr. 122, S. 19. 4 Deuteronomium 19:15 (Luther-Bibel).

Vor Gericht

Die lateinische Bezeichnung für den Zeugen heißt testis und das Mindestmaß von zwei Zeugen und Zeugenaussagen wird im römischen Recht verlangt – unus testis, nullus testis [ein Zeuge ist kein Zeuge]. Jahrhunderte später wurde dies vom Rechtssystem des deutschen Reiches übernommen. Dabei nahm man in Kauf, dass unterschiedliche Zeugen unterschiedliche Standorte einnahmen und Aussagen divergieren konnten. So wurde, als der säkulare Gerichtsprozess das alte Gottesgericht wie auch die autoritäre Rechtsprechung eines Einzelnen ablöste, die Multiperspektivität zur Grundlage einer Rechtsfindung, die dennoch nichts anderes wollte und noch heute will, als ein einziges Urteil zu fällen und damit ein eindeutiges Resultat zu etablieren. Wer einmal zum Zeugen wird, muss auch als Zeuge aussagen. Diese Zeugenpflicht ist bereits in der Etymologie des deutschen Worts Zeuge eingeschrieben, das sich von „ziehen“ ableitet. Als Zeuge war und ist man zur Aussage verpflichtet und muss daher zum Gericht „gezogen“ werden. Der lateinische Begriff testis deutet im Gegensatz zu dem griechischen Begriff des μάρτυς nicht nur auf die Person, sondern auch auf den Prozess oder zumindest den Vorgang der Wahrheitsfindung hin. Denn der Zeuge als testis ist neben dem Ankläger und Angeklagtem der Dritte (tertius), der für eine Wahrheitsfindung von Entscheidung ist. Der Zeuge und sein Zeugnis, Repräsentant und Inhalt der Aussage bedingen sich zwar, sind aber voneinander getrennt zu betrachten; der Körper des Zeugen gilt nicht mehr selbst als Zeichen einer Wahrheit, wie es noch bei Moses der Fall war. Und obwohl Zeugen durch die Wiedergabe ihrer subjektiven Erfahrungen die vielleicht unzuverlässigsten Personen eines Gerichtsverfahrens darstellen können, legt die Prozessordnung, wie sie heute noch gilt, vor allem auf diese Zeugenaussagen Gewicht.5 Ein Angeklagter kann demnach jegliche Aussage verweigern und darf straflos schweigen; er erhält den Schutz des Gerichts. Ein Zeuge muss dagegen nicht nur sprechen, sondern wird auch durch einen Eid dazu gezwungen, die „Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ zu sagen, um sich nicht schuldig zu machen. Im Falle einer Falschaussage wird er wegen Meineids bestraft. Konzentriert sich der religiöse Begriff des Zeugen auf die Person des Sprechenden, so ist der rechtliche Begriff vor allem an der Wahrheit des Zeugnisses interessiert, die durch die Glaubhaftigkeit der Person des Zeugens bestätigt werden soll. Aber neben μάρτυς und testis gibt es noch eine dritte Zeugenschaft, von der hier die Rede sein soll. Es ist ein superstes, d. h. die Person, die eine Katastrophe überlebt hat, von der sie berichten möchte.

5 Henne, Thomas: Zeugenschaft vor Gericht, in: Elm/Kössler (Hg.): Zeugenschaft des Holocaust, S. 79–91.

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2.

Der Überlebende als Zeuge

Auch ein Überlebender kann Zeugnis abgeben für etwas, das geschah. Aber seine Aussage zeigt gerade das auf, was die Literaturwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin Shoshana Felman im Kontext ihrer Untersuchungen zu den Zeugnissen von Überlebenden des Holocaust als die „Krise der Zeugenschaft“ bezeichnet.6 So kann ein Überlebender sein Überleben zwar durch seinen Auftritt bestätigen, aber es ist schwieriger, die Frage nach dem Geschehen, das er überlebt hatte, zu beantworten. Jacques Derrida setzte sich 1998 anlässlich einer Studie zu Maurice Blanchot mit den Phänomenen von Zeugenschaft allgemein auseinander und bestimmte das „Geheimnis (secret)“ als zentralen Begriff der Zeugenschaft.7 Ein Zeuge muss offenbaren, was das Publikum noch nicht weiß, argumentiert er dort; er generiert sein Zeugnis aber gleichzeitig auch aus dem bislang noch nicht Artikulierten. Er gibt ein Geheimnis frei, das er paradoxerweise gleichzeitig als Zeuge bewahren hilft.8 Einige Jahre zuvor, 1991, veröffentlichte Felman einen Aufsatz zu Claude Lanzmanns Film Shoah, der in der Endfassung von 1985 mit einer Länge von fast neuneinhalb Stunden auf Interviews basiert, die Lanzmann mit Überlebenden, Tätern und Bystandern seit 1973 geführt hatte.9 In ihrer Analyse des Films unterzieht Felman die dort wiedergegebenen Zeugenaussagen einer ähnlichen Argumentation wie später Derrida, präzisiert sie aber etwas anders. Denn die „Krise der Zeugenschaft“, die sie konstatiert, wird weder durch ein postuliertes noch durch ein verschweigbares Geheimnis hervorgerufen, sondern durch die einfache Tatsache, dass es Überlebenden im radikalen Sinne unmöglich sei, die Position des Zeugen einzunehmen. Da das Ziel der „Endlösung“ die Vernichtung der Juden war, ist der Überlebende seinem Tod entgangen. Die Vernichtung der Juden ist von den Opfern zeugenmäßig nicht zu erfassen. Für Felman ist der Holocaust das Ereignis per se, das keine Zeugen aufweisen kann.10 6 Felman, Shoshana: Education and Crisis: or the Vicissitudes of Teaching, in: Felman, Shoshana/Dori, Laub: Testimony: Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History, New York 1992, S. 57–74. 7 Derrida, Jacques: Bleibe. Maurice Blanchot, hg. v. Peter Engelmann, übersetzt v. Hans-Dieter Gondek, Wien 2003. 8 Derrida, Bleibe, S. 28. Siehe auch: Derrida, Jacques: Poétique et politique du témoignage, Paris 2005; Weitin, Thomas: Testimony and the Rhetoric of Persuasion, in: MLN 199, 3 (2004), S. 525–540. 9 Felman, Shoshana: Im Zeitalter der Zeugenschaft. Claude Lanzmanns Shoah, in: Baer, Ulrich (Hg.): „Niemand zeugt für den Zeugen“: Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, Frankfurt am Main 2000, S. 173–196. 10 Felman, Im Zeitalter der Zeugenschaft, S. 181.

Vor Gericht

Dabei bezieht sich Felman auf den italienischen Schriftsteller Primo Levi, der seine Internierung in Auschwitz überlebte und dessen Romane und Berichte den Charakter von Zeugenaussagen annehmen. Levi hat in seinen Publikationen die Rolle des Überlebenden als Zeugen bereits vor Felman relativiert und sogar infrage gestellt. So schreibt er in seinem 1986 veröffentlichtem Buch Die Untergegangenen und die Geretteten (im Original: I sommersi e i salvati) mit einem Verweis auf das radikale Zentrum des Holocaust, die durch die Vernichtung menschlichen Lebens in den Konzentrationslagern vorgenommene sogenannte „Endlösung“ der Judenfrage: Ich wiederhole: Nicht wir, die Überlebenden, sind die wahren Zeugen … Wir Überlebenden sind eine anormale und geringe Minderheit: Wir sind jene, die durch Missbrauch, durch Fähigkeit oder Glück den Grund nicht berührt haben. Wer das getan hat, wer die Gorgo gesehen hat, ist nicht zurückgekehrt um zu berichten, oder er ist stumm zurückgekehrt; aber sie, die „Muselmänner“, die Untergegangenen sind die vollständigen Zeugen, deren Aussage eine allgemeine Bedeutung gehabt hätte.11

Levi legt nahe, dass die wahren oder, wie er schreibt, „vollständigen“ Zeugen des Holocausts also jene wären, die tatsächlich das Innere der Gaskammern erfahren hätten; sie bestätigten jedoch den Erfolg der Verbrechen durch ihren Tod und sind als Zeugen nicht mehr erfahrbar. Nur die „Muselmänner“ könnten möglicherweise ebenfalls Zeugen sein und etwas von der Erfahrung des Todes wiedergeben. „Muselmänner“ wurden in Auschwitz jene Häftlinge von anderen Lagergenossen genannt, die ihr Leben aufgegeben und ihr Denken und Fühlen ganz hinter sich gelassen hatten, aber de facto noch nicht tot waren. Giorgio Agamben verweist in dem 1998 erschienenen dritten Band seiner Reihe Homo sacer, betitelt Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (im Original: Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone), auf Levi und bestimmt wie dieser die Figur des „Muselmannes“ als einzig möglichen lebenden Zeugen des Holocausts.12 Aber die Differenzen zwischen Felman, die auf eine allgemeine Unmöglichkeit der Zeugenschaft besteht, und Levi und Agamben, die den „Muselmann“ als möglichen Zeugen nennen, sind lediglich theoretischer Natur. Keiner dieser Todgeweihten überlebte den Krieg und das Lager, um Auskunft geben zu können.

11 Levi, Primo: I sommersi e i salvati, zitiert in der Übersetzung von: Michael Bachmann: Der abwesende Zeuge. Autorisierungsstrategien in Darstellungen der Schoah, Tübingen 2010, S. 56. 12 Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, in: Homo sacer III, übersetzt von Stefan Monhardt, Frankfurt am Main 2003, S. 117–118.

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Den überlebenden Lagerinsassen scheint es zwar grundsätzlich möglich, die Erfahrungen der Verfolgung und Leiden zu schildern, aber ihre Berichte bewegen sich um Leerstellen. Denn diese Zeugen sind letztendlich Entkommene, und ihre Aussagen müssen den Tod ihrer Familien und Freunde, aber vor allem auch ihre eigene Todesangst umkreisen. Sie sind nicht so sehr Zeugen der „Endlösung“ wie des Versagens des Projektes der „Endlösung“. Ihre lebendigen Körper sind der Beweis dieses Versagens: Glück und Zufall, List und Betrug standen auf ihrer Seite. Aber es gibt noch eine weitere, historische Leerstelle, die diese Zeugen teilen und die nicht so sehr ihre Erfahrungen mit dem Tod und der Todesangst, sondern das Ereignis des Holocausts selbst umfasst. Denn das Ziel der Nationalsozialisten war nicht nur die Vernichtung des als minderwertig bezeichneten Lebens. Es war auch die Vernichtung jeglicher Spuren dieser Vernichtung.13 Sowohl die Juden wie auch die Ereignisse der „Endlösung“ selbst sollten zum Verschwinden gebracht werden. Ein frühes Konzentrationslager wie Dachau wurde 1933 noch als ein sehr sichtbares Gefängnislager eingerichtet, in dem politische Häftlinge eingewiesen wurden, bald auch kritische Vertreter der Kirchenverbände. Es sollte für die Bevölkerung abschreckend wirken.14 Die späteren Vernichtungslager wurden hingegen vor allem in Osteuropa geplant und als solche auf Landkarten nicht gekennzeichnet. Sie sollten im Geheimen der „Endlösung“ nachgehen. So wurden auch die Deportationen von Juden als Umsiedlungen oder Verschickungen zu Arbeitseinsätzen im Ausland getarnt. In den letzten Monaten des Krieges widmeten sich die nationalsozialistischen Befehlshaber nicht nur der Ermordung von Menschen, sondern gerade verstärkt auch der Beseitigung aller Belege dieser Ermordung: Unterlagen wurden verbrannt, Lager abgebaut, Insassen verschleppt und bereits verscharrte Leichen ausgegraben, damit sie verbrannt werden konnten. Ziel der Massenvernichtung war es nicht nur, sich so weit wie möglich der öffentlichen Sicht zu entziehen, sondern auch ihre Spuren zu löschen. Und dennoch sollte die Kenntnis des Ziels der Verfolgung sowie die Verschleierung der Ereignisse von Verschleppung und Ermordung auch zu einem treibenden Ansporn für Überlebensversuche werden und trug zum Grundverständnis des Lebens für die Überlebendenden bei. Dabei zeigt sich in ihren Zeugenaussagen eine weitere, dritte „Leerstelle“. Überlebende waren Opfer und waren durch die Ereignisse traumatisiert. Von den Erlebnissen betroffen, sprechen sie nicht so sehr über ihre Traumata, vielmehr bestimmen diese Traumata 13 Siehe dagegen auch: Rupnow, Dirk: Vernichten und Erinnern. Spuren nationalsozialistischer Gedächtnispolitik, Göttingen 2005. 14 Vergleiche: Steinbacher, Sybille: Dachau, die Stadt und das Konzentrationslager in der NSZeit. Die Untersuchung einer Nachbarschaft (Münchner Studien zur neueren und neuesten Geschichte 5), Frankfurt am Main 1993.

Vor Gericht

ihre Aussagen und sind in ihren sprachlichen Zeugnissen, Gesten, Verhalten und allem, woran sie sich erinnern können, ablesbar. Psychoanalytiker wie Dori Laub oder psychoanalytisch orientierte Literaturwissenschaftler wie Cathy Caruth sehen die Aussagen der Überlebenden daher als eine „Krise der Zeugenschaft“ anderer Art, nämlich als paradigmatische Belege für die Trauma-Forschung.15 Es mag oft nicht zu beantworten sein, ob die Aussagen von Überlebenden vom Trauma geprägt worden sind und das Trauma daher die Position eines sogenannten „Geheimnisses“ der Zeugenschaft einnimmt oder ob es sich gerade und besonders in der Rede des Zeugens selbst offenbart, in der Performanz des Zeugnisgebens. Damit tritt hinsichtlich der Bestimmung von Zeugenschaft auch ein weiterer Aspekt hinzu: Die Aussagen von Überlebenden sind nicht nur Beweise von Traumatisierungen, sondern auch selbst eine Form der Therapie. Die Aufforderung zur Zeugenschaft ist damit eine Einladung zur (wenn auch lückenhaften) Sprache, die, wie Laub betont, gerade auch das Trauma verarbeiten kann und soll; für den Zeugen sind sie vielleicht eine therapeutische Notwendigkeit.16 Dieser therapeutische Aspekt beruft sich auf das Performative der Zeugenschaft. Zeugenaussagen von Überlebenden bestehen daher trotz ihrer inhärenten Unmöglichkeit auf der moralischen Notwendigkeit, der Negierung der Ereignisse sowie dem individuellen Vergessen durch das Gesagte entgegenzuarbeiten. Anders als bei Zeugen eines Gerichtsprozesses kann hierbei aber keine faktische Wahrheit im engeren Sinne erwartet werden. So beschreibt Felman die Aussagen der Zeugen, die in Lanzmanns Film gezeigt werden, als paradigmatische Beispiele irreduzibler Multiperspektivität. Der Holocaust zeigt sich in Shoah nicht nur als Ereignis, das seine Zeugen auszulöschen versucht hat; er besteht, philosophisch betrachtet, aus einer willkürlich entstellten Wahrnehmung […], aus einer Zersplitterung der Augenzeugenschaft an sich; ein Ereignis also, das zwar nicht empirisch, aber kognitiv unter dem Aspekt seiner Wahrnehmung ohne Zeugen bleib, weil es sowohl das Sehen als auch die Möglichkeit einer Gemeinschaftlichkeit des Sehens ausschließt: Ein Ereignis, das die Möglichkeit des Rückgriffs (den Anspruch) auf visuelle Bestätigung (auf die Deckungsgleichheit zweier verschiedener 15 Siehe etwa: Laub, Dori: Zeugnis ablegen oder die Schwierigkeit des Zuhörens, in: Baer (Hg.): „Niemand zeugt für den Zeugen“, S. 68–83; Caruth, Cathy: Unclaimed Experience: Trauma, Narrative, History, Baltimore 1996. 16 Laub, Zeugnis ablegen; siehe auch: Laub, Dori: An Event without a Witness: Truth, Testimony, and Survival, in: Felman/Laub, Testimony, S. 75–92; Hartman, Geoffrey: A Note on the Testimony Event, in: Goodman, Nancy R./Meyers, Marilyn B. (Hg.): The Power of Witnessing: Reflections, Reverberations, and Traces of the Holocaust. Trauma, Psychoanalysis, and the Living Mind, New York 2012, S. 81–86; Hartman, Geoffrey/Assmann, Aleida: Die Zukunft der Erinnerung und der Holocaust, Konstanz 2012.

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Sichtweisen) radikal auslöscht und so jede Möglichkeit einer Gemeinschaft des Bezeugens, einer Gemeinschaft in Zeugenschaft, auflöst.17

Wenn auch keine verbürgbare faktische Wahrheit vermittelt werden kann und keine Aussage objektiv verallgemeinerbar wird, so zeigen die Aussagen eine Wahrheit anderer Art. Man könnte sie vielleicht eine emotionale Wahrheit nennen. Ein Überlebender mag zehn Kamine von Krematorien in einem bestimmten Konzentrationslager beschreiben und ein Historiker dagegen diese Zahl als falsch zurückweisen; seiner Forschung nach wären es an diesem Ort nur zwei Kamine gewesen. Der Häftling jedoch, der sich im Lager befand und die Kamine wahrnahm, erfuhr etwas anderes als ihre bloße Zahl. Für ihn war der Himmel rot; für ihn stand die Welt in Flammen. Auch die Rolle der Zuschauer oder Zuhörer ändert sich hinsichtlich der Zeugenschaft von Überlebenden. Wie bei der religiösen Zeugenschaft steht auch hier der Überlebende mit seiner Person für die Authentizität seiner Aussage ein, aber anders als im gerichtlichen Prozess kommt dem Narrativ des Bezeugens ein größeres Gewicht bei als bei einer bloßen Faktenvermittlung. Bei der Weitergabe seiner Erfahrung wird der andere, der Zuhörer, nicht so sehr ein Rezipient von Fakten, sondern vielmehr ein sekundärer Zeuge, der sich dem primären Zeugen verbunden sieht und das Beschriebene mitfühlen und in gewisser Weise miterleben kann.18 Dabei wird das Trauma selbst bedingt vermittelt. Es findet eine Art der Übertragung statt – ein Vorgang, der eher in der psychoanalytischen Theorie und nicht der Jurisprudenz beschrieben wird. 3.

Zeugnis geben

Zeugenberichte von Überlebenden, von Vertretern verschiedener öffentlicher und privater Institutionen wurden gerade in den letzten dreißig Jahren verstärkt auf Film oder Videobänder aufgenommen, digitalisiert und archiviert. Zwei Sammlungen sind dabei besonders prominent. Das Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies der Yale University wurde 1979 von Laub und dem Literaturwissenschaftler Geoffrey Hartman begründet; auch Felman arbeitete mit diesem Material.19 Das Shoah Foundation Visual History Archive an der 17 Felman: Im Zeitalter der Zeugenschaft, S. 181. 18 Siehe hinsichtlich der aufgenommenen Zeugnisse etwa: Bohleber, Werner: Die Begegnung mit der überwältigten Seele – Beiträge der psychoanalytischen Traumaforschung zum ZeitzeugenInterview, in: Knopp, Sonja/Schulze, Sebastian/Eusterschulte, Anne (Hg.): Videographierte Zeugenschaft. Ein interdisziplinärer Dialog, Weilerswist 2016, S. 114–133. 19 Das Archivmaterial der Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies ist an der Yale University abrufbar: http://web.library.yale.edu/testimonies (letzter Zugriff Februar 2018).

Vor Gericht

University of Southern California wurde 1994 von dem Filmregisseur Steven Spielberg geschaffen und ist heute das größte Archiv mit über 54.000 aufgenommenen Interviews von Überlebenden.20 Das Interesse, Zeugen zu sehen und zu hören, ob in analogen Video- oder digitalisierten Aufnahmen oder in Filmen wie Shoah, in Live-Diskussionen, Fernsehsendungen, in Schulveranstaltungen oder auf der Theaterbühne, etwa Doron Rabinovicis und Matthias Hartmanns Theaterstück Die letzten Zeugen, das 2013 in Wien zum fünfundsiebzigsten Jubiläum des Novemberpogroms von 1938, der sogenannten Kristallnacht, uraufgeführt wurde,21 scheint sich gerade in der Zeit verstärkt zu haben, in der die natürliche Lebenszeit der Zeugen einem Ende zugeht. Dabei wurden Überlebende schon sehr früh als Zeugen des Holocausts dokumentiert. Zur Zeit der Befreiung der Konzentrationslager wurden sie jedoch nicht durch ihre Aussagen, sondern durch die sichtbare Wiedergabe ihrer Körper zum Beweis des Geschehenen. Bilder von Überlebenden begleiteten die Dokumentation des militärischen Siegeszugs der Alliierten in Nachrichtenfilmen und in Zeitungsberichten, noch bevor der Zweite Weltkrieg offiziell zu Ende war.22 Die Militärmächte wollten zerstörte Städte dokumentieren, aber auch Opfer des nationalsozialistischen Systems zeigen. Film und Fotografie wurden dabei sogleich auch bei der Befreiung der Konzentrationslager eingesetzt. Die Armeeangehörigen, die 1944 und 1945 die Lager betraten, waren die ersten, welche die Szenen des Horrors als Außenstehende in Betracht nehmen konnten. Hierbei wurden allerdings die Befreier, nicht die Überlebenden, Täter oder Bystander als erste Zeugen angesehen. Bezeugt werden sollte dabei nicht nur der Holocaust, der zu dieser Zeit noch keinen Namen und keine Bezeichnung gefunden hatte,23 sondern die

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Eine Auswahl von Videointerviews wird auch im Museum des Holocaust-Mahnmals in Berlin gelagert. Das Moses Mendelssohn Zentrum an der Universität Potsdam hat sich kurze Zeit an dem Projekt beteiligt und einige Interviews als Material für Schulen zugänglich gemacht. Das Shoah Foundation Visual History Archive wurde inzwischen in seiner Zielsetzung erweitert. Es hat einige ältere Interviewsammlungen in das Archiv integriert und Mitarbeiter nehmen jetzt auch Interviews mit Überlebenden anderer Genozide auf: https://sfi.usc.edu/ (letzter Zugriff Februar 2018). Siehe etwa: Pohl, Ronald: Vom Ende der Zivilisation in Österreich, in: Der Standard, 21. Oktober 2013, https://www.derstandard.at/story/1381369314808/vom-ende-der-zivilisation-inoesterreich (letzter Zugriff Februar 2018). Zelizer, Barbie: Remembering to Forget. Holocaust Memory through the Camera’s Eye, Chicago 1998, S. 16–48. Siehe Fritz, Regina/Kovács, Éva/Rásky, Béla: Der NS-Massenmord an den Juden. Perspektiven und Fragen der frühen Aufarbeitung, in: Fritz/Kovács/Rásky (Hg.): Als der Holocaust noch keinen Namen hatte / Before the Holocaust Had Its Name: Zur frühen Aufarbeitung des NS-Massenmords an Jüdinnen und Juden (Beiträge zur Holocaustforschung des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust Studies (VWI)), Wien 2016, S. 7–22.

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Befreiung. So mochten die Vertreter der sowjetischen, englischen, französischen und amerikanischen Armeen und das assoziierte Militär unterschiedliche politische Agenden haben, aber die Befreiung der Lager wurde von allen im Bild vergleichbar dokumentiert.24 Die Offiziere der Sowjetarmee überreichten die Foto- und Filmkameras den Soldaten, die den Sieg über den Feind dokumentieren sollten; diese Bilder wurden dann in der Sowjetunion verbreitet. Die Sowjets waren die ersten Alliierten, die westwärts ziehend die Lager öffneten und Häftlinge befreien konnten. Sie betteten die Fotografien der Lager in ein weiter gefasstes Narrativ des Sieges über den Faschismus ein. Dabei nahmen sie Schwarz-Weiß-Bilder der Lager auf, zeigten aber auch die Wege zu den Lagern durch verbrannte Felder und zerstörte Häuser sowie eine demoralisierte deutsche Bevölkerung. Die amerikanische Armee setzte auch professionelle Regisseure für ihre Filme über die Befreiung der Lager ein; manche dieser Filmemacher, wie etwa George C. Stevens, hatten bereits Erfahrung in den Hollywood-Studios gesammelt. Etablierte Fotografen, auch weibliche wie Margarete Bourke-White oder Lee Miller, waren in Divisionen eingebettet und dokumentierten ebenfalls die Befreiung der Lager. Zu Hause in den Staaten überwachten Filmemacher wie Billy Wilder wiederum die Produktion der Nachrichtenstreifen, die einem weiten Publikum in den Staaten gezeigt werden sollten. Die Filme sollten informieren, den amerikanischen Kriegseinsatz rechtfertigen, die amerikanische Armee feiern. Dabei experimentierte die amerikanische Armee auch mit neuen Technologien; manche der Filme, die über die Konzentrationslager gedreht wurden, verwendeten sogar eine neu entwickelte Farbtechnik. Damit wurde das Filmen auch zu einer Art Experiment.25 Aber die Amerikaner verlangten neben den Soldaten, welche die Lager befreiten, auch nach weiteren Zeugen. So wurden Repräsentanten des amerikanischen Senats eilig eingeflogen, um sich die Lager anzusehen, während die dort aufgefundenen Überlebenden bereits erste medizinische Hilfe erhielten, aber noch nicht alle Leichen geborgen und beigesetzt worden waren. Filme dienten dazu, die Besuche General Dwight D. Eisenhowers und amerikanischer Politiker zu dokumentieren und auch diese Besuche zu Hause zu zeigen.26 Als Teil eines Erziehungsprogramms sollten darüber hinaus auch deutsche Bürger und Bewohner der Nachbarschaft in die Lager gebracht werden. Sie 24 Siehe McManus, John C.: Hell before Their Very Eyes: American Soldiers Liberate Concentration Camps in Germany, April 1945, Baltimore 2015. 25 Siehe Harris, Mark: Five Came Back: A Story of Hollywood and the Second World War, New York 2014. 26 Siehe etwa den Film über die Befreiung des Ohrdruf-Konzentrationslagers; die Generäle Dwight D. Eisenhower und George S. Patton sind bereits am Ort: https://www.youtube.com/ watch?v=8FASm1SupaE (letzter Zugriff Februar 2018).

Vor Gericht

sollten die Zustände dort, die Leichen sowie die Überlebenden sehen und sich damit der Konsequenzen der nationalsozialistischen Ideologie bewusst werden. Diese pädagogischen Maßnahmen wurden ebenfalls gefilmt und als Dokumentarstreifen verbreitet. Somit vervielfältigte sich die Zahl der Zeugen und Blickweisen und das, was bezeugt werden sollte. Nicht nur die Spuren des Geschehens sollten gezeigt und die Befreiung bezeugt werden, sondern auch das Betrachten der Spuren des Geschehens. Die Medien Film und Fotografie wurden dabei selbst zum Zeugnis. In keinem dieser Filme kamen je Überlebende zu Wort. Tatsächlich war in ihnen jeweils nur eine Stimme hörbar, die männliche Stimme des Erzählers, der einen Kommentar zu den Bildern lieferte. Zu Beginn vieler amerikanischer Dokumentar- und Nachrichtenfilme wurde dabei noch ein Dokument im Bild gezeigt, das eidesstattlich die Wahrheit des Berichteten bezeugen sollte.27 Dies war bei den sowjetischen Filmen nicht der Fall. Zu Beginn jedes Films der sowjetischen Armee erschien stattdessen ein Offizier in voller Uniform, der symbolisch durch seine Kleidung und zahlreiche Orden die Authentizität der folgenden Bilder bestätigen sollte.28 Die Opfer wurden aber in all diesen Filmen über die Lager entweder als Tote oder als schweigende „Muselmänner“ gezeigt. Das nationalsozialistische Regime hatte Juden entmenschlicht und in Objekte verwandelt, und die Filme der Alliierten änderten nicht viel daran. Den Befreiten war jegliche Handlungsfähigkeit genommen und keine Aussage möglich. Dazu wurden die in den Lagern gemachten Fotografien bald austauschbar, denn die Opfer hatten weder Namen noch eine bestimmte Identität. Bilder von einem Konzentrationslager kursierten auch stellvertretend für ein anderes; manche Zeitungen wechselten lediglich die Bildunterschriften aus.29 Dabei zeigten die Überlebenden schon kurz nach der Befreiung Eigeninitiative. Viele begannen, Ereignisse zu dokumentieren, Sammlungen anzulegen, Interviews zu führen, Erinnerungen niederzuschreiben. Bereits 1944, kurz nach der Befreiung polnischer Gebiete durch die Sowjetarmee, begann Filip Friedman, ein polnisch-jüdischer Überlebender, eine historische Kommission in Łódź einzurichten. Weitere Kommissionen dieser Art wurden 1945 von Überlebenden in Paris und München zusammengestellt.30 So wurden erste De27 Siehe etwa den Film von George C. Stevens: https://www.youtube.com/watch?v=Sh3uqAasdKU (letzter Zugriff Februar 2018). 28 Hier die bearbeitete Fassung eines der Filme der Befreiung von Auschwitz: https://www. youtube.com/watch?v=0V0RMf2qU18&t=23s (letzter Zugriff Februar 2018). 29 Zelizer, Remembering to Forget, S. 86–140. 30 Siehe etwa: Stauber, Roni: Philip [sic] Friedman and the Beginning of Holocaust Study, in: Bankier, David/Michman, Dan (Hg.): Holocaust Historiography in Context. Emergence, Challenges, Polemics, and Achievements, Jerusalem 2008, S. 83–102; Schein, Ada: ‘Everybody Can Hold a Pen’: The Documentation Process in the DP Camps in Germany, in: Bankier/Mich-

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tails und Erfahrungen der Konzentrations- und Vernichtungslager aufgezeichnet, Fragebögen verteilt und ausgefüllt. Aber um 1950 wurden diese Projekte wiedereingestellt. Viele der jüdischen Historiker und Interviewer wie auch die potenziell zu Befragenden hatten das alte Europa zu dieser Zeit verlassen oder waren auf dem Wege es zu tun. 1946 reiste David Boder, ein Linguist und Psychologe, der am Illinois Institute of Technology in den USA lehrte, nach Paris und in das besetzte Deutschland; er hatte einen frühen Audiorekorder im Gepäck, der mithilfe von Stahldrähten Stimmen aufzeichnen konnte.31 Boder wollte im Gegensatz zu den stummen Bildern der Nachrichtenfilme die Stimmen der Überlebenden hörbar machen. Er arbeitete an einer wissenschaftlichen Studie über das Verhalten von Opfern der Judenverfolgung. Boder war selbst Jude und stammte aus Riga; seine Studien- und Emigrationswege hatten ihn lange vor dem Krieg in viele europäische Länder und nach Mexiko geführt. Als Linguist konnte er die Interviews in deutscher, französischer, jiddischer, spanischer, englischer und verschiedenen slawischen Sprachen führen und war damit vielen der alliierten Befreier überlegen, die sich kaum und oft nur mithilfe von Übersetzern mit den ehemaligen Lagerinsassen verständigen konnten. Boders Interviews, die sich in ihrer Zeitdauer nach dem Maß der Stahldrähte richten mussten, die er zur Verfügung hatte, zeigen dabei heute oft die Unbeholfenheit des Fragenden, der sich selbst über die geschichtlichen Ereignisse noch nicht im Klaren war und zu dieser Zeit auch nicht viel wissen konnte. Nach Illinois zurückgekehrt, veröffentlichte Boder lediglich kurze Auszüge seiner Interviews und einige Statistiken in wissenschaftlichen Arbeiten. 1948 änderte sich dann die politische Situation in Europa. Deutschland wurde zum geografischen Gebiet zweier neuer Staaten und die Bemühungen, Europa nach dem Krieg wiederaufzubauen, erhielten Vorrang gegenüber einer Dokumentation der Vergangenheit. Der Kalte Krieg begann. Österreich war bis 1955 in alliierte Besatzungszonen geteilt. Hier wie dort sahen sich ehemalige Verbündete nun als Gegner; für den Westen wurde nicht der Faschismus, sondern der Kommunismus zum neuen Feind. Tatsächlich wurden diese Nachkriegsjahre oft als eine Zeit des Schweigens beschrieben; eine Zeit, in der auch keine Überlebenden über den Holocaust berichten wollten. Doch dies mag nicht ganz richtig sein. Viele Überlebende verfassten Erinnerungen und wollten man (Hg.): Holocaust Historiography, S. 103–134; Tych, Feliks: The Emergence of Holocaust Research in Poland: The Jewish Historical Commission and the Jewish Historical Institute (ŻIH) 1949–1989, in: Bankier/Michman (Hg.): Holocaust Historiography, S. 227–244; Jokusch, Laura: Early Chroniclers of the Holocaust, in: Fritz/Kovács/Rásky (Hg.): Als der Holocaust noch keinen Namen hatte, S. 23–44. 31 Siehe Rosen, Alan: The Wonder of Their Voices. The 1946 Holocaust Interviews of David Boder, Oxford 2010.

Vor Gericht

Zeugnis ablegen, doch taten sie es zumeist in Sprachen, die nicht an ihrem neuen Lebensort gesprochen wurden. So konnten die meisten Manuskripte keine Leser finden, wurden nicht übersetzt und nicht gedruckt. Für Verlage im Westen oder Osten waren Darstellungen des Holocausts dazu kein populäres Thema, das eine Investition rechtfertigen konnte. Nur ein Text gewann eine außergewöhnliche Popularität: das Tagebuch der Anne Frank, das in gekürzter und zensierter Form bereits 1947 als Het Achterhuis in Amsterdam erschien und bereits in den fünfziger Jahren in über 70 Sprachen übersetzt wurde.32 Es wurde als Theaterstück verarbeitet, das auf der amerikanischen Bühne erfolgreich war und den Pulitzer-Preis gewann.33 Gerade jener George Stevens, der bei der Befreiung der Lager dabei war, machte 1959 daraus einen Spielfilm, der im folgenden Jahr drei Oscars erhielt.34 Anne Frank, die den Krieg nicht überlebt hatte, wurde damit zu einer symbolischen Stimme der Opfer. 4.

Der Eichmann-Prozess

Die Aussagen von Holocaust-Überlebenden selbst erlangten erst durch ein besonderes, ja spektakuläres Ereignis neues Interesse. 1960 wurde Adolf Eichmann, der mutmaßliche Verantwortliche für die Durchführung der „Endlösung“, von Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad in Argentinien gefangengenommen, zunächst in Argentinien vernommen und dann nach Jerusalem entführt, wo ihm im folgenden Jahr der Prozess gemacht wurde.35 Der Fall Eichmann war dabei nicht nur für die Geschichte der Verfolgung der Juden im „Dritten Reich“ emblematisch geworden, sondern ebenso für die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und der Vereinigten Staaten. Es war dem westdeutschen wie auch dem amerikanischen Geheimdienst bekannt, dass Eichmann nach dem Krieg zunächst unter einem falschen Namen in Deutschland in der Lüneburger Heide gelebt hatte und dann nach Argentinien hatte fliehen können. Dort hatte er in Buenos Aires unter dem 32 Frank, Anne: Het Achterhuis, Amsterdam 1947. Die Erstauflage belief sich auf 1500 Kopien – eine kleine Anzahl von Kopien verglichen mit dem späteren Erfolg des Buches, aber eine relative hohe Anzahl von Kopien für ein holländisches Buch der unmittelbaren Nachkriegszeit. 33 Das Theaterstück The Diary of Anne Frank von Frances Goodrich und Albert Hackett hatte am Cort Theatre in New York als Broadway-Stück am 5. Oktober 1955 Premiere. 34 George Stevens’ Film The Diary of Anne Frank beruhte auf dem Theaterstück von 1955 und hatte 1959 Premiere; er wurde von Twentieth Century Fox vertrieben. 35 Siehe Bascomb, Neal: Hunting Eichmann: How a Band of Survivors and a Young Spy Agency Chased Down the World’s Most Notorious Nazi, Boston 2009; Stangneth, Bettina: Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, Zürich 2011; Yablonka, Hanna: The State of Israel vs. Adolf Eichmann, New York 2004.

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Namen Ricardo Klement eine Stelle bei den Mercedes-Werken angenommen und seine Familie nachkommen lassen. Weder die junge Bundesrepublik noch die Vereinigten Staaten wollten jedoch einen Prozess gegen Eichmann riskieren. Die jeweiligen Regierungsstellen befürchteten, dass er die Namen ehemaliger Nationalsozialisten nennen könnte, die inzwischen entweder als amerikanische Agenten im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion eingesetzt worden waren oder aber in der Bundesrepublik eine Karriere in Politik und Wirtschaft gemacht hatten.36 So wäre es beispielsweise Eichmann möglich gewesen, Bundeskanzler Konrad Adenauer zu brüskieren und die Vergangenheit des Kanzler-Beraters Hans Globke zu entlarven, der im „Dritten Reich“ Mitautor der Rassengesetze war; Globke hatte seine politische Karriere nach dem Krieg bei der CDU problemlos weitergeführt. 1957 erfuhr jedoch der hessische Staatsanwalt Fritz Bauer von einem argentinischen Informanten von der Identität und dem Aufenthalt Eichmanns.37 Bauer befürchtete, dass der Geheimdienst der Bundesrepublik bereits das gleiche Wissen teilte und weder die Auslieferung Eichmanns noch einen Prozess gegen ihn anstreben würde. Er leitete deshalb durch einen fingierten Einbruch seine Unterlagen an Mossad-Agenten weiter in der Hoffnung, dass Eichmann auf diese Weise vor ein Gericht gestellt werden könnte. Bauer, der selbst nach dem Krieg aus dem dänischen Exil nach Deutschland zurückgekehrt war, sollte wenige Jahre nach dem Eichmann-Prozess den Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main vorbereiten. Für Israel sah die Situation Ende der fünfziger Jahre anders aus als für die Bundesrepublik. Für den neuen Staat war der Holocaust ein raison d’être, und Präsident David Ben-Gurion verstand sehr schnell, dass ein Prozess gegen Eichmann in Israel nicht nur eine Plattform sein konnte, die Staatsgründung von 1948 zu rechtfertigen, sondern auch eine Möglichkeit, die Bevölkerung eines Landes, die sich aus Immigranten vieler Länder und Kulturen zusammensetzte, zu vereinen und ihr eine neue Identität zu geben.38 Die meisten israelischen Bürger hatten eine andere Muttersprache als Hebräisch, und im Land selbst gab es nicht nur Spannungen zwischen den Einwanderern und der arabischen 36 Siehe etwa Borger, Julian: Why Israel’s Capture of Eichmann Caused Panic at the CIA, in: The Guardian, 8. Juni 2006, https://www.theguardian.com/world/2006/jun/08/secondworldwar. usa (letzter Zugriff Februar 2018). 37 Siehe Weissberg, Liliane: Rückkehr im Widerstand, in: Rauschenberger, Katharine (Hg.): Rückkehr in Feindesland? Fritz Bauer in der deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte (Jahrbuch des Fritz Bauer-Instituts 2013), Frankfurt am Main 2013, S. 15–37 und die Darstellung des Einsatzes von Fritz Bauer bei Wojak, Irmtrud: Fritz Bauer. Eine Biographie, 1903–1963, München 2009. 38 Siehe Zertal, Idith: Israel’s Holocaust and the Politics of Nationhood (Cambridge Middle East Studies 21), Cambridge 2005.

Vor Gericht

Bevölkerung, sondern auch unter den einzelnen Bevölkerungsgruppen aus West- und Osteuropa, Asien und dem Maghreb wie zwischen Aschkenasim und Sephardim allgemein. Der Eichmann-Prozess fand 1961 in einem temporären Gerichtssaal statt, und es war zudem ein Prozess, der durch die Medien bestimmt wurde. Der Prozess wurde gefilmt, in Israel selbst aber vor allem durch das Radio publik gemacht; fast jeder Israeli hatte 1961 einen Radioapparat.39 So wurden täglich Ausschnitte aus den Gerichtsverhandlungen gesendet und mehrmals ebenfalls Live-Sendungen aus dem Gerichtssaal. Die israelische Bevölkerung, die in großer Zahl an den Radioapparaten hing, hörte dabei jedoch nicht nur die Stimmen der Juristen oder die Stimme Eichmanns. Es war stattdessen vor allem ein Prozess der Überlebenden als Zeugen. Der Staatsanwalt vernahm wochenund monatelang Hunderte von Überlebenden, die von ihren Erlebnissen im „Dritten Reich“ berichten sollten. Boder hatte bereits 1946 die Stimmen der befreiten Lagerinsassen aufgenommen, aber die Bänder befanden sich zur Zeit des Eichmann-Prozesses in seinem Archiv und waren schwer zugänglich.40 Der erste große Nachkriegsprozess in Nürnberg, den die Alliierten 1946 durchführen sollten, etablierte Begriffe wie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, zeichnete aber keine Geschichte der Judenverfolgung nach. Nach Eichmann wurde in dieser Zeit noch gesucht. So wurden in Nürnberg zwar Filme als Beweismaterial gezeigt, aber keine ehemaligen jüdischen Opfer vernommen. Der Eichmann-Prozess ging anders vor. Zum einen wurden Eichmanns Tätigkeiten rekonstruiert und Eichmann wurde befragt. Aber der Staatsanwalt genehmigte auch eine lange Zeugenliste von Überlebenden des Holocausts. Diese Überlebenden gingen nun in den Zeugenstand und ihre Stimmen konnten öffentlich gehört werden. Somit war der Eichmann-Prozess, ein gerichtliches Verfahren gegen einen Haupttäter des Massenmordes, paradoxerweise ein Vorläufer der Aufnahmen des Fortunoff oder des Shoah Visual History Archive und selbst des Lanzmann-Films Shoah. Nicht im Zuge bloßer Filmoder Video-Interviews, sondern gerade im Kontext eines Gerichtsprozesses gaben Überlebende nun erstmals in großer Zahl Berichte ab, beantworteten Fragen und dienten offiziell als testes eines juridischen Verfahrens. 39 Pinchevski, Amit/Liebes, Tamar/Herman, Ora: Eichmann on the Air: Radio and the Making of an Historic Trial, in: Historical Journal of Film, Radio, and Television 27, 1 (2001), S. 1–25; Pinchevski, Amit/Liebes, Tamar: Severed Voices: Radio and the Mediation of Trauma in the Eichmann Trial, in: Public Culture 22, 2 (2010), S. 265–291. 40 David Boders Aufnahmen sind heute über das Shoah Visual History Archive an der University of Southern California auf Abruf für Institutionen, die einen Vertrag mit dem Archiv haben, elektronisch erhältlich. Eine Auswahl ist auch über das Illinois Institute of Technology abrufbar: http://voices.iit.edu/david_boder (letzter Zugriff Februar 2018).

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Doch was konnten sie bezeugen? Nicht alle Zeugen hatten eine direkte oder selbst indirekte Beziehung zu Eichmann oder konnten Fragen zu dessen Rolle in der Nazi-Bürokratie beantworten. Stattdessen erzählten sie von sich, von ihren Familien und von ihren Verlusten. Hannah Arendt wohnte zumindest die ersten Wochen des Verfahrens als Reporterin der amerikanischen Zeitschrift New Yorker dem Prozess bei. Sie beanstandete zunächst die große Anzahl der Zeugenaussagen; mehr als einhundert Belastungszeugen wurden vernommen, denen 62 der 121 Sitzungen des Gerichts gewidmet waren.41 Viele dieser Zeugen konnten nichts über Eichmann sagen und kamen dennoch zu Wort. Die Antworten auf die Fragen des Gerichts waren inkongruent und erhielten oft ein seltsames Eigenleben. In ihrem stark diskutierten, 1963 zunächst in den Vereinigten Staaten erschienenem Buch Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (im Original: Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil) wies Arendt etwa auf die Aussage Yehiel Feiners hin, der sich in Israel Yehiel De-Nur nannte, aber unter dem Namen „K.tzetnik 135633“ aussagen wollte, seiner Tätowierungsnummer als Häftling des Konzentrationslagers, die er auch als Pseudonym für seine autobiografischen Schriften verwendete. Arendt beschreibt seinen Auftritt als eine theatralische Inszenierung: Er begann wie in einer Massenversammlung seinen angenommenen Namen zu erläutern. Das sei nicht etwa ein Schriftstellerpseudonym, erklärte er. „Ich muß diesen Namen so lange tragen, wie die Welt nicht endlich zu dem Bewußtsein erwacht, daß dieses Volk gekreuzigt wurde … so wie sich die Menschheit einst erhoben hat, als ein einziger Mensch gekreuzigt wurde“. Er fuhr mit einem kleinen Exkurs in die Astrologie fort: „Der Stern, der unser Schicksal auf die gleiche Weise beeinflußt wie der Aschestern von Auschwitz, steht in Konjunktur zu unserem Planeten, er strahlt auf unseren Planeten ein“. Als er schließlich bei „der übernatürlichen Macht über die Natur“ angelangt war, „die ihn bis hierher erhalten“ habe, und eine Pause einlegte, um Atem zu holen, war es sogar Herrn Hausner klar, daß es so nicht weitergehen dürfe, und er unterbrach ihn sehr behutsam und sehr höflich: „Darf ich, wenn Sie gestatten, einige Fragen an Sie richten?“ Woraufhin der vorsitzende Richter ebenfalls seinen Augenblick für gekommen ansah: „Herr Dinoor, bitte, bitte, hören Sie Herrn Hausner an und hören Sie mich an“. Woraufhin der unterbrochene Zeuge, offenbar tief beleidigt, in Ohnmacht fiel, so daß weitere Fragen sich erübrigten.42 41 Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, übersetzt v. Brigitte Granzow, mit einem einleitenden Essay von Hans Mommsen München 2006 (erstmals 1964, erweiterte Taschenbuchausgabe 1986), S. 335; das Buch erschien in englischer Sprache 1963 als: Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil, New York 1963. 42 Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 335–336.

Vor Gericht

Die von Arendt beschriebene Szene stellt einen seltenen Moment der Übereinstimmung zwischen Arendt mit dem israelischen Staatsanwalt Gideon Hausner dar, den sie sonst gerne kritisierte. Sicherlich war diese Zeugenaussage auch nicht eigentlich typisch und die Ohnmacht ein Einzelfall. Aber war die Ohnmacht k.tzetniks wirklich die Folge einer empfundenen Beleidigung, wie Arendt es hier schildert, oder doch Resultat der Angst und die Reaktion eines Traumatisierten, der öffentlich zur Aussage gerufen wurde? Dass auch andere Zeugenaussagen nicht nur unklare Erinnerungen boten, sondern auch zu biografischen Exkursionen gerieten, offenbaren die Protokolle des Prozesses.43 Das Bulletin der damals noch jungen Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem für die Holocaust-Opfer fasste gegen Ende des Prozesses die Erfahrung der Zeugenaussagen zusammen, indem es eine vielleicht doch ungewöhnliche Feststellung machte: Es sei nämlich das Recht der Zeugen, nicht zur Sache zu sprechen.44 Die Zeugen sprachen vielleicht nicht immer zur Sache, aber durch ihre Präsenz und gerade durch ihre Vielstimmigkeit gelang der erhoffte politische Effekt. So weisen israelische Historiker wie Leora Bilsky auf die große Bedeutung hin, die der Eichmann-Prozess für die Konstitution eines israelischen Nationalbewusstseins hatte.45 Dies, und nicht das abschließende gerichtliche Urteil, konstituierte das gewünschte, einheitliche Ergebnis als Resultat dieser Vielheit. Und es gab auch einen anderen Folgeeffekt des Gerichtsverfahrens: Bei vielen Überlebenden, die nun in Israel lebten und die Ereignisse am Radioapparat verfolgten, lösten sich die Hemmungen, über das Vergangene zu sprechen. Sie teilten sich Verwandten und Bekannten mit, beantworteten Fragen. Der Gerichtsprozess hatte einen therapeutischen Effekt. Interessanterweise wurde gerade die Ohnmacht des Zeugen k.tzetniks ein wichtiger Auslöser für den Beginn der Verarbeitung der Vergangenheit. 5.

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In der Bundesrepublik Deutschland ist es heute gesetzlich nicht erlaubt, den Holocaust zu leugnen. Der britische Historiker David Irving ist sich aber bis 43 Siehe The Nizkor Project: State of Israel, Ministry of Justice, The Trial of Adolf Eichmann. Record of Proceedings in the District Court of Jerusalem, http://www.nizkor.com/hweb/people/e/ eichmann-adolf/transcripts/ (letzter Zugriff Februar 2018) sowie https://www.ushmm.org/ collections/bibliography/eichmann-trial (letzter Zugriff Februar 2018); diese Seite enthält auch Filmdokumente. Siehe auch: The Jerusalem Post, 6,000,000 Accusers: Israel’s Case against Eichmann. The Opening Speech and Legal Argument of Mr. Gideon Hausner, Attorney-General, übersetzt u. hg. v. Shabtai Rosenne. Jerusalem 1961. 44 Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 337. 45 Bilsky, Leora: Transformative Justice: Israeli Identity on Trial. Ann Arbor, Michigan 2004.

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heute nicht so sicher, ob der Massenmord an den Juden wirklich je geschah. In Werken wie seinem 1977 in England erschienenen Buch Hitler’s War gesteht er Adolf Hitler durchaus eine antisemitische Ideologie zu, aber diese hätte keinen geplanten Massenmord zur Folge gehabt.46 Nach 1988 wurde Irving immer deutlicher in der Artikulierung seiner Zweifel am Geschehen selbst. Tatsächlich wäre es unwissenschaftlich, so behauptete Irving in zahlreichen Publikationen und Vorträgen, eine Judenvernichtung in Gaskammern anzunehmen, da es doch keine Zeugen für eine solche Vernichtung gebe. Er veröffentlichte in England den Bericht des amerikanischen Autors Fred A. Leuchter, der in einer pseudowissenschaftlichen Studie über Auschwitz beweisen wollte, dass es keine Evidenz für die „Endlösung“ gebe.47 Als die amerikanische Historikerin Deborah Lipstadt Irving in einem ihrer Bücher als einen Holocaust-Leugner beschrieb, der mutwillig jeglicher Evidenz gegenüber Blindheit zeige, ja zu den „gefährlichsten Vertretern der Leugnung des Holocausts“ gehöre,48 verklagte Irving 1996 Lipstadt wegen Verleumdung. Es kam vier Jahre später zu einem Prozess. Im deutschen Rechtssystem wird eine Angeklagte als unschuldig betrachtet, bis ihre Schuld erwiesen wird. Dem englischen Rechtssystem nach wurde Lipstadt umgekehrt als schuldig betrachtet, bis ihre Unschuld bewiesen werden konnte. Irving verklagte sie und ihren Verleger Penguin auf Verleumdung, und in diesem Fall konnte sie die Wahrheit ihrer Aussage nur dadurch belegen, indem sie die Realität eines Vernichtungslagers wie Auschwitz bewies und die Aussagen Irvings als ideologisch gefärbte Falschaussagen entlarvte. Was fand aber in Auschwitz wirklich statt? Die Protokolle dieses Gerichtsfalles sowie die nach dem Prozess entstandenen Bücher über den Fall von Lipstadt und von Anthony Julius, ihrem englischen Anwalt, zeigen die Finessen, mit denen die Verteidiger argumentieren mussten, um Evidenz lesbar zu machen.49 Dabei verzichtete Julius gerade darauf, Überlebende als Zeugen zu verhören.50 46 David, Irving: Hitler’s War, New York 1977. 47 Auschwitz: The End of the Line. The Leuchter Report: The First Forensic Examination of Auschwitz, London 1989. Focal Point Publication war Irvings eigener Verlag. 48 Lipstadt, Deborah E.: Denying the Holocaust: The Growing Assault on Truth and Memory, New York 1993, bes. S. 161–163, 179–181 und 232–233, hier S. 181. Das Buch wurde in England von Plume, einem Imprint von Penguin Books, verlegt. 49 Siehe Jan van Pelt, Robert: The Case for Auschwitz: Evidence from the Irving Trial, Bloomington 2002. 50 Siehe The Irving Judgment: David Irving v. Penguin Books and Professor Deborah Lipstadt. Harmondsworth 2000; Richard J. Evans, Lying about Hitler: History, Holocaust, and the David Irving Trial, New York 2001; Lipstadt, Deborah: History on Trial: My Day in Court with David Irving, New York 2005. Anthony Julius bezog sich auf den Prozess in einem weiter gefassten Buch: Trials of the Diaspora: A History of Anti-Semitism in England, Oxford 2010, dort zu Irving S. 24–25. Vergleiche auch Lipstadt, Deborah: Holocaust: An American Understanding

Vor Gericht

Julius unterschied in seiner Verteidigungsstrategie zwischen testis und superstis, d. h. zwischen dem Gerichtszeugen, der den faktischen Beweis liefern konnte – in diesem Fall Historiker, Statistiker, Architekten –, und den Überlebenden, deren Zeugenschaft anders aussah, weil sie weder konkret über Fakten noch mit einheitlicher Stimme sprechen konnten. Ihre unterschiedlichen Erinnerungen und die Leerstellen ihrer Narrative machten sie angreifbar. Unter Ausschluss ehemaliger Auschwitz-Insassen als Zeugen konnten die durch Fachleute gesammelten Stellungnahmen und Dokumente für den Richter aber schließlich überzeugend wirken. Lipstadt gewann. Die internationale Presse verfolgte den Fall mit großem Interesse, und für Hollywood hatte er sogar das Potenzial eines Thrillers. Unter dem Titel Denial (deutscher Titel: Verleugnung) hatte der Film unter der Regie von Mick Jackson und mit einem Buch von David Hare 2016 Premiere.51 Zeigte bereits der Eichmann-Prozess die politischen Konsequenzen der Vielstimmigkeit der Zeugenaussagen Überlebender, so wurden sie hier durch eine umgekehrte juristische Entscheidung bestätigt. Der Irving/Lipstadt-Prozess fand ohne Zeugen statt; Überlebende nahmen lediglich als Beobachter im Zuschauerraum Platz.

(Key Words in Jewish Studies), New Brunswick, NJ 2016, S. 146–147. Eine Zusammenfassung der Ereignisse in deutscher Sprache findet sich bei Menasse, Eva: Der Holocaust vor Gericht. Der Prozess um David Irving, Berlin 2000. 51 Jackson, Mick (Regisseur)/Hare, David (Filmskript): Denial. BBC Films et al., 2016.

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Anika Reichwald

Karl Hans Strobl Österreichische Phantastik zwischen Gesellschaftskritik und antisemitischen Stereotypisierungen

Blickt man auf die Forschungsfelder, die Petra Ernst zeitlebens bearbeitete, dann ist zu bemerken, dass das Thema „deutschsprachig-jüdische Literatur“ zu großen Teilen ihre wissenschaftliche Auseinandersetzung bestimmte – gerade auch im Kontext der k. u. k. Monarchie. Ihr wissenschaftliches Interesse galt vor allem der Erforschung deutschsprachig-jüdischer Literatur mit Blick auf den gesellschaftspolitischen sowie kulturellen Kontext vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg. Petra Ernst fragte unter anderem danach, wie sich jüdische Identität(en) im zeitgenössischen Kontext konstituierten und literarisch niederschlugen.1 Auch wenn sich Petra Ernst auf die jüdische Perspektive fokussierte, sind es auch nichtjüdische Texte, die den Diskurs um die Fragen jüdischer Identität, Assimilation etc. mitformen, denn: Zur deutschsprachig-jüdischen Literatur, folgt man Andreas Kilcher, müssen auch die Texte gezählt werden, die sich im nichtjüdischen, ja sogar ‚völkischen‘ oder antisemitischen Kontext mit jüdischen Themen auseinandersetzen. Auch sie sind Teil deutschsprachigjüdischer Literatur und haben diesen Diskurs entscheidend mitgeprägt und weitergetragen.2 Im Rahmen dieses Aufsatzes soll der Blick nun auf ein Genre gelenkt werden, das bisher kaum auf die Frage nach seinem Beitrag zum Diskurs einer deutsch-jüdischen Literatur hin betrachtet wurde: die deutschsprachige Phantastik. 1 Siehe u. a. Ernst, Petra/Haring, Sabine/Suppanz, Werner (Hg.): Aggression und Katharsis – Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne (Studien zur Moderne 20), Wien 2004; Ernst, Petra: Christlich-jüdische Liebesbeziehungen als Motiv in deutschsprachiger jüdischer Erzählliteratur zwischen 1870 und 1920, in: Hödl, Klaus (Hg.): Jüdische Identitäten, Innsbruck, Wien und München 2000, S. 209–243; Dies.: Ambivalenzen jüdischer Identitätsbildung um 1900 – dargestellt am Beispiel zweier Romane von Ludwig Jakobowski und Lothar Brieger-Wasservogel, in: Lechner, Manfred/Seiler, Dietmar (Hg.): Dokumentation zum 4. Österreichischen Zeitgeschichtetag 1999, Innsbruck 2000. 2 Vgl. Kilcher, Andreas B.: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, 2. Auflage, Stuttgart 2012, S. VI–XXVII, hier S. XI–XV. Das wird in Bezug auf den Assimilationsdiskurs besonders deutlich, wenn man die argumentativen Analogien zwischen inner- und außerjüdischem Diskurs betrachtet. Zeitweise werden hier die gleichen anti-assimilatorischen Argumente auf beiden Seiten vorgebracht, oftmals sogar untermauert von ähnlichen Metaphern und Allegorien.

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Das Genre der Phantastik, oftmals als Trivialliteratur belächelt, zeichnet sich durch zwei Hochphasen im deutschen Sprachraum aus: Zu Beginn des 19. Jahrhundert werden Texte von E. T. A. Hoffmann oder Wilhelm Hauff3 als phantastisch bezeichnet, die bestimmte Motive, wie etwa den Doppelgänger, den Alptraum, den ‚Bösen Blick‘ u. a., im Rahmen romantischer Literatur einführten. Diese erste Hochphase der Phantastik kann als literarischer Ausdruck der zeitgenössischen gesellschaftlichen – und vor allem politischen – Umwälzungen nach der Französischen Revolution und dem Zusammenbruch des Ancien Régime verstanden werden. Gleichzeitig spiegeln sie auch die sich verstärkende philosophische Auseinandersetzung um Individuum und Gesellschaft sowie das Eintreten in ein neues Zeitalter wider. Die zweite Hochphase der Phantastik ist auf 1890 bis 1930 zu datieren.4 Auch hier sind es gesellschaftliche Umwälzungen, nun des Fin de Siècle, die der Phantastik zu neuer Popularität verhelfen: Einerseits betrachteten viele zeitgenössische Autoren die Phantastik als passendes Genre, um gesellschaftliche Kritik am bestehenden Regime, an veralteten Strukturen und langsam zerbrechenden Ordnungen zu üben; andererseits ist davon auszugehen, dass die allgemeine Leserschaft gerade in den Kriegs- und Nachkriegsjahren vermehrt zu einfacher Literatur mit Themen fern ihrer Lebensrealität griff, um sich abzulenken und zu unterhalten – oftmals ohne sich der subversiven Natur der Texte bewusst zu sein. Die phantastische Literatur des ausgehendenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts thematisiert auch immer wieder die jüdische Assimilation. Dafür können mehrere Gründe angeführt werden: Die Phantastik beschreibt Wesen in Transformation, während die Assimilation selbst einen Transformationsprozess darstellt. Daher erscheint die Phantastik prädestiniert, Assimilation in ihrer Ambivalenz literarisch darzustellen. Betrachtet man weiter den historischen Kontext der Phantastik, dann wird deutlich, dass oftmals – auf gesellschaftskritische Weise – jene Themen aufgegriffen werden, die im allgemeinen Diskurs vornehmlich marginalisiert erscheinen, so auch die 3 Im Kontext englischsprachiger Phantastik seit dem frühen 19. Jahrhundert waren es die Autorin Mary Shelley und später Autoren wie Abraham Stoker und Edgar Allen Poe, die das Genre prägten. Anders als die deutschsprachige Phantastik weist das Genre im englischsprachigen Kontext eine kontinuierliche Verbreitung auf. Man kann nicht von zwei oder mehreren Hochphasen sprechen, sondern von einer Tradition, die sich bis heute fortsetzt. Auch hier sind literarische Abstriche zu machen, gerade mit Blick auf die Dime Novels oder Penny Dreadfuls, zu Deutsch Groschenromane, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts den englischen (aber auch amerikanischen) Markt überfluten und ein weites Publikum erreichen. Vgl. Brittnacher, Hans Richard/May, Markus (Hg.): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2013, S. 39–47, 67–72 sowie 94–100. 4 Vgl. Wünsch, Marianne: Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930). Definitionen – denkgeschichtlicher Kontext – Strukturen, München 1991.

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jüdische Assimilation. Zu den jüdischen Vertretern phantastischer Literatur im frühen 20. Jahrhundert ist sicherlich Franz Kafka zu zählen, der sich auf diese Weise immer wieder mit der eigenen Identität im Kontext der jüdischen Assimilation auseinandersetzte.5 Dabei überrascht es vielleicht, dass die wenigen Beispiele phantastischer Texte nichtjüdischer Autoren, die ebenfalls die jüdische Assimilation thematisieren, ein nicht weniger reflektiertes Verständnis in Bezug darauf aufweisen, was Assimilation als soziokulturelles Phänomen für die Minderheit, aber auch für die Mehrheitsgesellschaft bedeutet. Das ‚Jüdische‘ wird nicht unbedingt explizit in den Texten genannt, ebenso wenig wie Figuren als jüdisch bezeichnet werden; vielmehr ist es eine Lesart mit Blick auf die jüdische Assimilation, indem die Texte in ein Verhältnis zu ihrem historischen Kontext gerückt werden.6 Neben Gustav Meyrink und Hanns Heinz Ewers gehört der österreichische Autor Karl Hans Strobl zu den großen, nichtjüdischen Phantasten des frühen 20. Jahrhunderts. Strobl wurde 1877 im damaligen mährisch-österreichischen Iglau geboren und starb 1946 in der Nähe von Wien. Er war während seines JuraStudiums und der darauffolgenden Promotion ein Anhänger der Deutschnationalen Bewegung und trat bereits 1933 dem österreichischen Zweig der NSDAP bei. Noch während des Studiums begann Strobl damit, phantastisch-groteske Texte zu verfassen. Nach dem Ausscheiden aus dem Staatsdienst fokussierte er auf seine schriftstellerische Karriere, indem er auch seine Verleger- und Herausgeberarbeit weiter vorantrieb. Strobl selbst veröffentlichte zu Lebzeiten zahllose Romane, Kurzgeschichten und Essays, die ihn „als frischen und fesselnden Erzähler, scharfen Beobachter und vortrefflichen Schilderer ausweisen.“7 Er stand darüber hinaus in regem Austausch mit anderen Kunstschaffenden, vor allem im Diskurs der sich erneut etablierenden deutschsprachigen Phantastik. Beweis dafür sind die Sammelbände Das unheimliche Buch (1914), an dem Strobl maßgeblich mitwirkte, sowie Das Gespensterbuch (1920) mit Gustav Meyrink als Herausgeber. Beide Sammelbände, aber auch das in 51 Heften zwischen 1919 und 1921 unter Strobls Führung erschienene Phantastik-Magazin 5 Vor allem in den Erzählungen Franz Kafkas finden sich, wenn auch nicht dezidiert als phantastische Erzählungen etwa in Titel oder Untertitel markiert, zuhauf Elemente phantastischer Literatur. Am stärksten zeichnet sich das bei seiner Erzählung Die Verwandlung aus dem Jahr 1915 ab, in der die Metamorphose, der Moment der Transformation, in dem aus dem Alten etwas vollständig Neues wird, und die damit verbundenen Konsequenzen in den Fokus gerückt werden. 6 Vgl. Reichwald, Anika: Das Phantasma der Assimilation – Interpretationen des Jüdischen in der deutschen Phantastik 1890–1930, Göttingen 2017. 7 Pozorny, Reinhard: Karl Hans Strobl zum Gedenken. Ein Dichter zwischen den Zeiten, in: Deutsche Wochen-Zeitung, Nr. 12, 19. März 1982, S. 10.

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Der Orchideengarten zeugen davon, dass die Phantastik im deutschsprachigen Europa als literarisches Genre wie auch als politisches Medium in den Jahren um den Ersten Weltkrieg den intellektuellen Zeitgeist widerspiegelte sowie Intellektuelle und Kunstschaffende aus verschiedenen Milieus verband und dass es ein Bedürfnis danach gab, mittels dieser Form einem gesellschaftspolitischen Unbehagen Ausdruck zu verleihen. Dennoch hat gerade das national-konservative Milieu, in dem sich Strobl seit seiner Jugend bewegte, seine Sicht auf Gesellschaft und Politik entscheidend beeinflusst. Das spiegelt sich auch in seinen literarischen Werken wider – diese zeugen, vor allem nach dem sogenannten ‚Anschluss‘ Österreichs durch die Nationalsozialisten 1938, von Strobls Begeisterung für die nationalsozialistische Ideologie. Anders als in den Texten Meyrinks und Ewers’ lassen sich in den Werken Karl Hans Strobls vermehrt auch explizit antisemitische Stereotypisierungen ausmachen. In Strobls Texten findet sich kein Anhalt für einen reflektierten Blick auf die jüdische Minderheit und ihre Assimilation, ganz im Gegensatz zu Hanns Heinz Ewers’ Romanen, die auf groteske Weise mit antisemitischen Stereotypen spielen, jedoch ein reflektiertes Verständnis davon sind, was Assimilation im frühen 20. Jahrhundert sowohl für die sich assimilierende (jüdische) Minderheit als auch für die die Paradigmen bestimmende Mehrheit bedeutete – fernab von der Sichtweise, dass Assimilation allein die Anstrengung der Minderheit war.8 Dennoch haben auch Strobls Texte ein klares, subversives Potenzial; auch er übt eine starke Gesellschaftskritik. Um diese aber wirkungsmächtig zu ‚verkleiden‘, so die These dieses Forschungsbeitrags, scheint Karl Hans Strobl ganz bewusst antisemitische Stereotype einsetzen zu müssen: Sie dienen ihm als Verstärkung, ja vielleicht sogar als Katalysator, um Kirche und Staatssystem vorzuführen. Seine Kritik ist folglich zwar auch eine Kritik am ‚Jüdischen‘ als ‚Fremdes‘ in einer als homogen imaginierten Gesellschaft, vor allem aber kritisieren die Texte Strobls die sich im Zerfall befindende k. u. k. Monarchie und ihre veralteten Strukturen – ein auseinanderbrechendes System, das zu einem heterogenen Vielvölkerstaat geführt hat, der erst eine Assimilation des ‚Jüdischen‘ ermöglichte. Deutlich werden diese Überlegungen in Strobls kaum bekannter Kurzgeschichte Aderlaßmännchen, die 1909 entstand, aber erst 1917 im Erzählband 8 Hanns Heinz Ewers verbanden persönliche Kontakte mit der jüdischen Minderheit; seine Texte reflektieren die Unmöglichkeiten einer Assimilation aufgrund der sich stetig verändernden Paradigmen der Mehrheitsgesellschaft und der dadurch nicht zu brechenden Stereotypierungen innerhalb der Gesellschaft. Blickt man jedoch auf die figurative Darstellung von Frauen in Ewers’ Texten, dann fehlt hier jegliche Form von Reflexion. Großteils verbleiben die Figuren in stereotypen Zuschreibungen einer patriarchalischen Gesellschaft ohne Hinweis auf groteskphantastische Verkehrungsmechanismen. Siehe Reichwald: Das Phantasma, S. 350–352.

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Lemuria veröffentlicht wurde. Es handelt sich um eine groteske Verwechslungsgeschichte im ländlich-katholischen Kontext. Der Text bedient sich antijüdischer, antisemitischer sowie anti-assimilatorischer Stereotype und schafft einen jüdisch konnotierten Antagonisten, um gezielt die pervertierte Moral der katholischen Kirche und damit das moralische Fundament der Habsburgermonarchie vorzuführen. Dabei steht nicht so sehr der antisemitische Gehalt dieser Geschichte im Vordergrund als die Möglichkeit einer Lesart, die eine intendierte Kritik an Religion und Gesellschaft noch stärker herausstreicht. Besagter Antagonist ist der Chevalier (dt. Ritter) Saint Simon, der den Arzt Doktor Eusebius Hofmayer beim nächtlichen Ausgraben frischer Leichen auf dem Friedhof überrascht. Der Chevalier folgt Hofmayer später bis in dessen Untersuchungszimmer und drängt den Arzt in eine moralische wie emotionale Enge. Sein Leben in Gefahr sehend, stimmt Hofmayer zu, Saint Simon seine Identität zu leihen. Dieser möchte sich mittels eines doppelgängerischen Verwechslungsspiels Zugang zu einem nahe gelegenen katholischen Stift verschaffen. Dort gelingt es ihm letztlich, die gutgläubigen Nonnen zu täuschen und in den Speisesaal zu locken, wo er ihnen unter den Augen Christi in einem blutigen Gemetzel das Leben aussaugt – vornehmlich, um seine eigene Unsterblichkeit zu nähren. Die stark überzeichnete, jüdisch konnotierte Figur des Chevaliers Saint Simon vereint in sich drei phantastische Motive, die ein Wesen in (durchaus unterschiedlichen Phasen) der Assimilation beschreiben: den unsterblichen Ahasver, den spiegelhaften Doppelgänger sowie den lebensbedrohlichen Vampir. Diese drei Motive repräsentieren die Ambivalenz der Assimilation – das Oszillieren zwischen zwei Welten, dem Sein und Nichtsein, Leben und Tod, dem Ich und dem Anderen. Gleichzeitig verweisen sie auch auf die Tragik der (jüdischen) Assimilation, das Nichterreichen des vollständigen Aufgehens oder die Unmöglichkeit einer vollkommenen Integration. Zusätzlich greifen alle drei Motive verschiedene Facetten der Ängste einer nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft gegenüber dem jüdischen ‚Fremden‘ auf – sie werden in diesem Kontext auch zu ‚jüdischen Motiven‘.9 Der Text nimmt folglich auch die Tendenzen einer Gesellschaft im Wandel auf und stellt sie dem Mythos einer funktionierenden, unzerbrechlichen Gesellschaft gegenüber. Der Figur des Chevaliers Saint Simon kommt dabei eine besondere Funktion zu: In ihm kumulieren die charakteristischen Eigenschaften der drei genannten Motive auf ‚wunderbare Weise‘. Der Text kreiert so einen Antagonisten, der zeitgenössische Vorahnungen und Ängste vor einer zerbrechenden ‚heilen‘ Welt personifiziert und dabei, quasi von innen heraus, eben diese Welt auf monströse Weise zerstört. Parallel dazu braucht der Text in seiner subversiven Funktion eines gesellschaftskritischen 9 Vgl. Reichwald: Das Phantasma.

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Mediums die Figur des Chevaliers als negative Mittlerfigur, um an den ihr zugeschriebenen Eigenschaften die Unzulänglichkeiten des mehrheitsgesellschaftlichen Systems vorzuführen. Bereits im Namen der Figur des Chevaliers Saint Simon zeichnet sich eine Mehrdeutigkeit ab;10 im Kontext der Figurengestaltung liegt aber die Interpretation näher, den Strobl’schen Chevalier als eine Abwandlung des Grafen von Saint Germain11 (1710–1784) zu lesen. Gemeint ist jener Hochstapler, um den sich seit jeher viele Legenden ranken12 und dessen vermeintliche Unsterblichkeit in Strobls Text ein weiteres Mal aufgegriffen wird: Der Chevalier wird zum Ahasver, zum ‚Ewigen Juden‘, der, zur Unsterblichkeit verflucht, durch die Zeit reisen muss. Dabei wird das oftmals fälschlicherweise als aus einem jüdischen Kontext stammend gedeutete Motiv des ‚Ewigen Juden‘ erst im 19. Jahrhundert im jüdischen Diskurs adaptiert.13 Als literarische Figur fokussiert er zwei Aspekte: das ewige Leben und die Wanderschaft. Sie symbolisieren die Last des jüdischen Volkes in der Diaspora – Heimatlosigkeit und damit auch verbunden die Frage nach Anpassungsfähigkeit im Exil: Der Ahasver ist dazu veranlasst, sich immer und immer wieder neu an seine sich stetig im Wandel befindende Umgebung zu assimilieren. Der Ursprung des Motivs des Ewigen Juden liegt aber wahrscheinlich im Europa des 16. Jahrhunderts und ist als eine christliche Umdeutung respektive eine von Martin Luther initiierte Reformulierung der jüdischen Schuld an Jesu Tod zu verstehen: Judas und das Judentum als Kollektiv wurden zum Symbol 10 Man denke etwa an Henri de Saint Simon (1760–1825), den berühmten französischen Philosophen und Vordenker des Frühsozialismus sowie Begründer und Namensgeber der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Schule Saint-Simoniensis, oder auch an den im 18. Jahrhundert lebenden Schriftsteller, Politiker und Philosophen Louis de Rouvroy, duc de Saint-Simon, der in seinen Memoiren detaillierten Einblick in das Leben am Hof von Versailles gibt. 11 Der Name ‚Saint Germain‘ selbst steht für den ‚heiligen Cousin‘ – oder doch ‚Deutschen‘ – und verkörpert, denkt man an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, eine antideutsche Position, den Bruderfeind. Somit trägt der Antagonist bereits im Namen eine negativ konnotierte Assoziation in Bezug auf das, was dem ‚Deutschtum‘ gegenübersteht. 12 Krassa, Peter: Der Wiedergänger, das zeitlose Leben des Grafen St. Germain, München 1998. 13 Siehe Mauthner, Fritz: Der neue Ahasver, 2 Bde., Dresden und Leipzig 1882; eine exemplarische Auflistung literaturwissenschaftlicher Beiträge zu diesem Diskurs bei Ernst, Petra: Fritz Mauthner, Der neue Ahasver, in: Max, Frank R./Ruhrberg, Christine (Hg.): Reclams Romanlexikon, Bd. 2: Von der Romantik bis zum Naturalismus, Stuttgart 1999, S. 519 f.; siehe u. a. auch Körte, Mona: Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der Ewige Jude in der literarischen Phantastik, Frankfurt 1999; Tunecke, Jörg: Assimilation in der Krise. Die Thematisierung der ‚Judenfrage‘ in Fritz Mauthners Roman Der neue Ahasver (1822), in: Röll, Walter/Bayerdörfer, Hans-Peter (Hg.): Auseinandersetzungen um jiddische Sprache und Literatur. Jüdische Komponenten in der deutschen Literatur – die Assimilationskontroverse, Tübingen 1986, S. 139–149.

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„für etwas Gefürchtetes, Gehaßtes, Unheilbringendes […]“.14 Während viele verschiedene Überlieferungen ab dem frühen Mittelalter in Zusammenhang mit der Leidens- und Kreuzigungsgeschichte Jesu diverse Personen als den von Jesus verfluchten Ahasver aufgreifen, wird 1602 in einer anonymisierten Geschichte ein Schuhmacher zum Ahasver, der Jesus auf dem Gang durch Jerusalem verweigert, kurz bei ihm zu rasten, um daraufhin von diesem zu ewiger Wanderschaft (und damit auch ewigem Leben) verflucht zu werden.15 Im frühen 18. Jahrhundert kommt Johann Jacob Schudt16 zu der Schlussfolgerung, der ‚Ewige Jude‘ stehe für alles ‚Jüdische‘, das sich in die Welt verstreut habe. Das Judentum, hier als das religiöse ‚Fremde‘ imaginiert, zeigt sich in der Schuld am Tod Jesu auch als moralisch verwerflich und verräterisch. Der religiöse Antijudaismus findet in der Ahasver-Legende damit eine essenzielle Legitimierung. Auch Strobls Text greift durch die Verwendung der Assoziation zum Ahasver-Motiv themenübergreifende Rahmen wie die Schuld im religiösen Diskurs und den Antijudaismus explizit auf: Die Tatsache, dass der per se ‚Fremde‘, im ahasverischen Chevalier vergegenwärtigt, versucht, als doppelgängerischer Vampir in das Kloster einzudringen, um sich am Blut der Nonnen zu laben, manifestiert die gesellschaftlich etablierte Abneigung gegenüber dem ‚Jüdischen‘. Das ewige Leben des Ahasver muss als eine Form des Übernatürlichen verstanden werden, da offensichtlich der Tod und damit die Natur überwunden wird. Die Überwindung der Schwelle zwischen Leben und Tod wird in Strobls Aderlaßmännchen zur Überwindung der „Grenzgebiete diesseits der Verwesung“ und verleiht dem Chevalier gleichsam das Recht auf „alle Leichen diesseits der Verwesung“17 – zunächst als Opfer, dann als treue Gefolgsleute. Er untermauert somit seinen Besitzanspruch auf alles Tote, das den vollständigen Übertritt – also die Transformation des Leibes – noch nicht vollzogen hat. Der Chevalier selbst stellt sich als Untoter dar, der sich „bei so guter Laune und verhältnismäßigem Wohlbefinden“ befinde, und brüstet sich weiter mit einem vermeintlichen Pakt mit dem Tod selbst, der ihm „immer wieder von seiner Tafel die Gerichte“ zukommen lasse. Der Chevalier überwindet folglich die Gesetze der Natur respektive widersetzt sich ihnen auf eindrucksvolle, unvorstellbare Weise. Damit steht in der Strobl’schen Auslegung des Ahasver-Mythos 14 Dinzelbacher, Peter: Judastraditionen, Wien 1977, S. 45. 15 Vgl. Galit, Hasan-Rokem: Ahasver, in: Diner, Dan (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 1, Stuttgart 2011, S. 9–13; Edelmann, R.: Ahasverus, the wandering Jew. Origin and Background, in: Galit, Hasan-Rokem/Dundes, Alan (Hg.): The Wandering Jew – Essays in the Interpretation of a Christian Legend, Bloomington 1986, S. 1–10. 16 Schudt, Johann Jacob: Jüdische Merckwürdigkeiten, 3 Bde., Frankfurt am Main 1714. 17 Strobl, Karl Hans: Aderlaßmännchen (1909), in: Strobl, Karl Hans: Lemuria. Seltsame Geschichten, München 1920, S. 231–254, hier S. 253.

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die Unsterblichkeit im Vordergrund; erst über sie wird ein mögliches Nomadentum des Chevaliers mitgedacht. Die Wanderung des Chevaliers verweist dabei implizit auf das diasporische Schicksal des Judentums: die stetige Suche nach einer Heimat respektive nach dem Raum, in dem man nicht als das ‚Fremde‘ verstanden wird. Das Überwinden von Zeit und Raum konkretisiert sich am Ende des Textes, indem die Prozession des Chevaliers aus dem Kloster bereits auf seine Übernatürlichkeit, seine Allmacht verweist: […] der Herr im Schlafrock kam hervor und ging langsam davon, indem er dem Volk zunickte. […] Im Staube schleiften die Quasten des geblumten [sic!] Schlafrockes nach und ließen rote, feuchte Furchen auf dem buckeligen Pflaster der Straße. […] Kein Mensch wagte einen Laut; nur ein Uhrwerk unter dem Schlafrock des fremden Herrn schnurrte laut und kräftig, ein Spott auf die Stille und die entfliehende Zeit.18

Der Chevalier hat sich mit seinem Schicksal arrangiert; die in Kauf zu nehmende Wanderschaft wird durch seine Zeit und Raum überwindenden Fähigkeiten zur annehmbaren Last. Er reist von Ort zu Ort, so suggeriert es der Text, um immer wieder neue Untaten zu begehen. Es scheint gerade so, als ob der Chevalier sich so am Christentum – ja sogar an Jesus selbst – für sein verfluchtes Schicksal räche. Das spiegelt sich wiederum in der Geste wider, durch sein inneres „Uhrwerk“ die fortschreitende Zeit der Sterblichen zu verlachen – hat er doch nun das ausgelegte Privileg, sowohl dem sterblichen Leben als auch der Zeit entgegentreten zu können. Der Text inszeniert in der Herausstellung der übernatürlichen Attribute des Chevaliers und der damit einhergehenden Überhöhung diese Figur als ein zum Göttlichen in Opposition stehendes Wesen – und damit als einen möglichen Angriff auf den christlichen Diskurs durch offenkundige Überwindung gottgegebener Gesetze, nicht nur durch das ‚Weiterleben‘ nach dem Tod, sondern auch durch die gezeigte Außerkraftsetzung der natürlichen Ordnung. Denn nach dem Blutbad im Stift offenbart sich die Verkehrung der Macht, die Entlarvung der Schwäche der Kirche durch den symbolisch ‚verkehrten‘ Jesus19 am Kreuze. In der Tat bestätigt sich des Chevaliers ‚Un- oder Widernatürlichkeit‘ in einem weiteren Charakteristikum: Er ist ein Doppelgänger. Im Arbeitszimmer Doktor Hofmayers bittet er diesen, ihm seine Identität zu leihen, was jener jedoch ablehnt. Als Hofmayer daraufhin aufgefordert wird, den Chevalier erneut zu 18 Ebd., S. 253. 19 Vgl. ebd., S. 247.

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betrachten, erblickt er ein „zweite[s] Ich“, eine „monströse Absurdität“20 , die ihm den Atem raubt. Doktor Eusebius Hofmayer „stand sich selbst gegenüber, von einer plötzlichen phantastischen Eingebung einer schöpferischen Macht verdoppelt [,] und unterschied sich von dem anderen Doktor Hofmayer nur dadurch, daß er zitterte, während jener lächelte […].“21 Der Chevalier demonstriert Hofmayer seine Fähigkeit, die Züge seines Gegenübers anzunehmen, sich in einen beinahe unverwechselbaren Doppelgänger zu verwandeln – auch ohne Einverständnis. Die Notwendigkeit der Verwandlung zeugt aber davon, dass der Chevalier auf eine Maskerade angewiesen ist, um sich seinen Opfern zu nähern. Die doppelgängerhafte Nachahmung des Doktors ist folglich ein notwendiges Übel. Dabei gelingt die äußere Angleichung an das Original auf nahezu perfekte Weise: Bis auf die behaglichen Bäuche seiner Perioden und die etwas von Schnupftabak befleckten Spitzen des Vorhemdes, bis auf die Kniehosen, Schnallenschuhe und die Fleischlosigkeit der Waden, bis auf die Warze über der linken Braue und den Leberfleck auf der Wange darunter ging diese verruchte Doppelgängerei, die den wohlverankerten Verstand des Doktors bedrohte.22

Der Chevalier Saint Simon wird zum „grausam ähnliche[n] Spiegelbild“23 Hofmayers. Die Nachahmung des ‚Eigenen‘ durch das ‚Fremde‘ wird damit zum essenziellen Bestandteil des Angleichungsprozesses. Dieser wiederum löst in seiner Produktion von Ununterscheidbarkeit und dementsprechender Unentscheidbarkeit ein Gefühl des Unbehagens und des Unheimlichen im Selbst aus.24 Nicht von ungefähr lässt sich daher der historische Anfang des Doppelgängermotivs auf den philosophischen Diskurs um die Frage nach dem ‚Ich‘ und ‚Nicht-Ich‘ im ausgehenden 18. Jahrhundert datieren. Von Johann Gottlieb Fichte initiiert, entwickelt sich die Idee eines inhärenten Dualismus unter Gotthilf Heinrich von Schubert weiter und findet dann, gerade bei den Literaten wie Novalis oder Heinrich von Kleist sowie vor allem Jean Paul um 20 21 22 23 24

Ebd., S. 240. Ebd., S. 240 f. Ebd., S. 241. Ebd. Vgl. Freud, Sigmund: Das Unheimliche (1919), in: Mitscherlich, Alexander/Richards, Angela/Strachey, James (Hg.): Sigmund Freud, Studienausgabe Bd. IV: Psychologische Schriften, 8. Auflage, Frankfurt am Main 1994, S. 241–274. Das Motiv des Doppelgängers steht, folgt man Freuds Theorie des ‚Unheimlichen‘, symbolisch für die Verunsicherungen des Selbst und – wie etwa der Kulturpessimismus des Fin de Siècle zeigt – auch der Gesellschaft. Die Wiederaufnahme des Motivs in der zweiten Hochphase der deutschen Phantastik zwischen 1890 und 1930 ist daher nicht ungewöhnlich.

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die Wende zum 19. Jahrhundert, auch in der Romantik, seine literarische Manifestation.25 Die angesprochene Unentscheidbarkeit zwischen dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Fremden‘ tritt später auch in Freuds Abhandlung Das Unheimliche, in Anlehnung an Otto Ranks 1914 veröffentlichte Studie Der Doppelgänger, hervor; sie unterstreicht das Unbehagen, das mit dem Doppelgänger in Verbindung steht.26 Eben dieses Unbehagen wiederholt sich in Bezug auf die Wahrnehmung der (jüdischen) Assimilation: Die Tatsache, dass der Assimilierte zum Doppelgänger der Mehrheitsgesellschaft und damit unsichtbar oder unauffindbar in der Masse wird, lässt ihn zur Bedrohung werden. Die Mimikry, die sich in der Figur des Doppelgängers widerspiegelt, lässt die Grenzen zwischen dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Fremden‘ – zwischen Minderheit und Mehrheitsgesellschaft – so weit verschwimmen, dass eine Identifikation stigmatischer Merkmale unmöglich wird. Die daraus resultierende Unsichtbarkeit des vermeintlich ‚Fremden‘ macht es dementsprechend unmöglich, Kategorien zur Ein- und Ausgrenzung festzulegen.27 Das stellt im Umkehrschluss wiederum die Identität des ‚Eigenen‘ infrage und erschüttert auf groteske Weise die Selbstwahrnehmung: Das ‚Eigene‘ erkennt sich nunmehr im ‚Fremden‘ wieder.28 Die Täuschung des Chevaliers gelingt also, aber seine Präsenz als falscher Doktor Eusenius Hofmayer erschüttert auch die Gemüter der betroffenen Nonnen im Stift – noch bevor er dort eintrifft. In Erwartung seiner Ankunft beginnt sich in den Schwestern eine Art Ruhelosigkeit, ein möglicherweise lang unterdrücktes Verlangen zu regen: Der Geist der vollständigen Zwecklosigkeit […] kochte das Blut dieser Frauen, bis es nach der Lanzette des Arztes schrie. Noch immer, noch immer war da irgendwo […] in den geheimen Abteilungen dieser Seelen ein blasses, abgekehrtes Gespenst, das man fast nicht Hoffnung zu nennen wagen konnte, die Hoffnung auf irgendwas jenseits der Mauern, von oben herab aus den gleißenden Wolken des Sommers oder von unten aus der murmelnden Erde, eine ganz verschüchterte Erwartung, die sich vergeblich auf ihren Namen besann.29

25 Siehe Bär, Gerald: Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie in der Literatur und im Stummfilm, New York 2005, S. 15–21. 26 Vgl. Webber, Andrew J.: The Doppelgänger: Double Visions in German Literature, Oxford 1996, S. 48. 27 Siehe Rank, Otto: Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie, Wien 1914. 28 Siehe Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion, in: Ders.: Schriften I, hg. v. Norbert Haas, 4. Auflage, Berlin 1996, S. 61–70. 29 Strobl: Aderlaßmännchen, S. 244.

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Die Ruhelosigkeit der Schwestern kann im christlichen Kontext als das Erwarten des Heilands respektive des Doktors gedeutet werden; gleichzeitig könnten damit aber auch menschliche, ja weibliche Regungen und Emotionen gemeint sein, imaginiert im Warten auf den Doktor, denn Unpünktlichkeit ist man vom „Aderlaßmännchen“30 , wie die Schwestern Doktor Hofmayer nennen, sonst nicht gewöhnt. Dieser beinahe liebevolle, wenn auch nicht wenig abschätzige Kosename verweist auf groteske Weise bereits auf die Verkehrung der ärztlichen Pflicht des Aderlassens durch den vampiresken Chevalier in Verwandlung als Doppelgänger des Doktor Hofmayer. Letzterer sieht bereits bei ihrer Begegnung im Arbeitszimmer „zwei Reihen von spitzen Zähnen wie Sägen zwischen die verzogenen Lippen“ hineingeschoben und erkennt „zwei spitze, zackige Schatten […], als ob ihm Flügel an den Schultern säßen.“31 Mögliche Flügel, „[f]ünf schwarze Klauen“, der „kahle Schädel […], auf dem zackige Nähte die Grenzlinien der Knochen zeichneten; ein Kranz von vergilbten Haaren saß wie eine Krause zwischen Genick und Schlafrockkragen“ – all dies zusammen mit der „Nase“32 erinnert an eine Fledermaus, das tierische Symbol des Vampirs. Die einzige Aufgabe des „Aderlaßmännchens“ besteht darin, den Nonnen einmal wöchentlich Blut abzulassen, um eventuellen Krankheiten vorzubeugen oder entgegenzuwirken. Dabei scheinen die Anwesenheit des Doktors und die innere Reinigung durch den Aderlass das einzige Ventil der Schwestern zu sein, um sich auch anderen, tiefsitzenden Emotionen und inneren Regungen stückweise hinzugeben oder sich von ihnen zu befreien. Diese mit dem Aderlass verbundenen Gefühle sind als aufwallende Gelüste zu deuten, die bewusst oder unbewusst durch den Chevalier hervorgerufen werden. Mehr als die Erwartung an den Aderlass können die Emotionen der Schwestern folglich als sexuelles Begehren gedeutet werden – ein Begehren, das dem Vampir und seiner Eigenschaft als Verführer zugeschrieben wird. Der Chevalier selbst greift diese Zuschreibung nach seiner verspäteten Ankunft auf, indem er auf den „zweckgemäß[en] und förderlich[en Zweck verweist], das Blut durch ein wenig Verzögerung erst – wie soll ich sagen – noch ein wenig mehr zu erhitzen, quasi – mit Verlaub – zu kochen“.33 Er reflektiert in dieser Aussage seine eigene Fähigkeit, das Blut der Schwestern in Wallung zu versetzen. Es ist aber nicht nur die Manifestation der ‚körperlichen Verführung‘, der Chevalier verführt auch den Geist der Schwestern, macht sie mit seinen Worten beinahe hörig: „Den Schwestern gefiel es, daß seine Worte wie ein seltsamer Gesang in die Ecken des 30 31 32 33

Ebd., S. 245. Ebd., S. 234. Ebd., S. 235. Ebd., S. 246.

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Saals zu dringen schienen und von dort schwebend als Töne wiederkehrten.“34 Ähnlich wie Circe Odysseus mit ihrer lieblichen Stimme an sich bindet, gelingt es dem Chevalier, das Vertrauen der Schwestern zu gewinnen, sie für sich einzunehmen, sodass sie ihm blindlings in ihr Verderben folgen. Karl Hans Strobls Text greift dezidiert über die Vampirfigur die damit assoziierten Stereotype des Juden als Verführer und Kuppler auf, wie sie im antisemitischen Diskurs, etwa auch von Otto Weininger, einem zum Christentum konvertierten Juden, vertreten sind. In seiner Studie Geschlecht und Charakter aus dem Jahr 1903 geht Weininger davon aus, das Kuppeln und die Triebhaftigkeit des hypersexuellen jüdischen Mannes läge bereits in der Natur des Jüdischen: „Der Jude ist stets lüsterner, geiler“ und vereine in sich einen „exzessiven Geschlechtsdrang“ sowie eine „perverse Moral“35 . Gerade in der Figur des Vampirs mischt sich die sexuelle Lust auch mit der Lust am Blut – an der Essenz des Lebens. Die Verführung und letztlich körperliche Vereinigung spiegeln, übertragen auf den Gesellschaftsdiskurs, die Erschütterung des Konstrukts einer homogenen Gesellschaft wider und unterlaufen sie über die damit eingegangene Vermischung von ‚Eigenem‘ und ‚Fremdem‘ gleichermaßen. Es ist gerade auch die Blutmetapher, die eine weitere gesellschaftliche Verunsicherung aufgreift: die Angst vor der durch die Vermischung entstehende ‚Verunreinigung‘ des Opferblutes durch den Vampir. Das „kochende Blut“ der Schwestern und ihr naives Vertrauen verweist dabei auch auf die Schwächen der kirchlichen Moral und der Gesellschaft schlechthin: Die Verführung der Schwestern durch den falschen Doktor wird somit zur Verführung der Kirche als Instanz und verkehrt die Moral der christlichen Kirche per se – eine Moral, auf die sich die Werte der k. u. k Monarchie zurückführen lassen. Diese Moral (und damit das gesamte Wertekonstrukt einer Gesellschaft) scheint zu schwach, so könnte man die Kritik auf der textlichen Metaebene deuten, um sich gegen die äußeren Widerstände, die weltlichen Gelüste zur Wehr zu setzen. Die damit implizit entlarvte verfallende Sittlichkeit der katholischen Kirche macht es überhaupt erst möglich, sich ihrer zu bemächtigen – und sie, ebenso wie die österreichische Gesellschaft, von innen heraus zu zersetzen. Daneben entspricht der Chevalier auch dem Bild des Vampirs, der in der Literatur oft als welt- und sprachgewandter Aristokrat dargestellt wird – ein Bild, das über die soziale Einordnung des Vampirs zusätzlich das Machtgefälle zwischen ihm und seinen Opfern deutlich hervorhebt. Dieses auch ökonomische Machtgefälle sieht Michaela Wünsch noch weiter unterstrichen „im Bild

34 Ebd., S. 247. 35 Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung (1903), München 1980, S. 417.

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des ‚Entarteten‘ als parasitärem ‚Schmarotzer‘, der […] nicht nur dem blutsaugenden Grafen [gleicht], sondern auch zeitgenössischen antisemitischen Stereotypen.“36 Diese Zuschreibungen, auf die Wünsch in ihrem Aufsatz anspielt, müssen als kontinuierlich wieder aufgenommene, gesellschaftliche Vorurteile verstanden werden, die ihre Anfänge weit vor dem Beginn der Moderne haben. An diesem Punkt verknüpft sich der soziopolitische mit dem Wirtschaftsdiskurs, und diverse literarische Figuren seit der frühen Moderne wie William Shakespeares Shylock in Der Kaufmann von Venedig (1600) oder Wilhelm Hauffs Joseph Süß Oppenheimer in Jud Süß (1827) verkörpern das Bild vom geldgierigen, machthungrigen Juden auf vielfache Weise.37 Der Jude als Kapitalist wird in der Literatur wie auch in diversen Karikaturen als blutsaugender ‚Schmarotzer‘ dargestellt; damit wird die Kritik am Kapitalismus gleichgesetzt mit der Kritik am ‚Jüdischen‘. Dabei erlebt das Stereotyp des ‚blutsaugenden Juden‘ im soziopolitischen Diskurs eine Deutungsverschiebung: Es geht vor allem, aber eben nicht nur, um die finanzielle oder materielle Ausbeutung der Mehrheitsgesellschaft durch die Minderheit – es geht um Machtverschiebungen, so etwa in der Art und Weise, wie Strobls Antagonist das Stift, ja die Kirche und die ganze daran gebundene Gesellschaft übermannt und die bestehenden Machtverhältnisse verkehrt. Die Katastrophe in Strobls Text kündigt sich bereits früh an, findet aber ihre endgültige Ausführung im Speisesaal des Stifts – der Chevalier bereitet sich sozusagen das eigene Festmahl. Erst dort zeigt er den zusammengetriebenen Schwestern sein wahres Gesicht, entblößt erneut, wie es bereits Doktor Hofmayer erlebt hat, sein vampirhaftes Äußeres. Seine Annäherung an Schwester Thekla und das leichte Anritzen ihres Halses unter dem Ausruf „Blut gibt Macht über Blut“38 lässt auch den Schwestern allmählich bewusst werden, welches Spiel mit ihnen getrieben wird und in welcher Gefahr sie sich befinden: „,Saint-Simon! Saint-Simon!‘ Der Haß jauchzte und warf Worte der Wut wie flackernde Peitschenriemen über die Leiber der Verurteilten.“39 Das darauffolgende Gemetzel an den Stiftsschwestern gleicht einem „Reigen der lebensfrohen Tollheit“ – einer Entrückung von allem Vorstellbaren: Groteske Schattenwesen, an „Nacktheit und lüstern, triefende Tierrücken“40 erinnernd, steigen von den 36 Wünsch, Michaela: Von Vampiren und anderen Degenerierten. „Dracula“ im Kontext moderner Entartungsdiskurse, in: Bertschik, Julia/Tuczay, Christa Agnes (Hg.): Poetische Wiedergänger. Deutschsprachige Vampirismusdiskurse vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Tübingen 2005, S. 217–231, hier S. 217. 37 Barkai, Avraham: Einundzwanzigstes Bild: „Der Kapitalist“, in: Schoeps, Julius H./Schlör, Joachim (Hg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, München 1995, S. 295–272. 38 Strobl: Aderlaßmännchen, S. 248. 39 Ebd., S. 251. 40 Ebd.

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Wänden herab, um gemeinsam mit ihrem Meister, dem Chevalier, in einer Orgie aus toten und untoten Leibern über ihre Opfer herzufallen. Dabei kehrt sich auch das vormalige Begehren der Schwestern, ihr geheimes Verlangen nach dem Aderlass nun gegen sie, und „alle Gespenster ihrer begehrlichen Wünsche standen hinter ihnen, zupften an ihren Kleidern und Schleiern und peitschten ihre Seelen mit den Geiseln der Sünde.“41 Zurück bleibt ein „Kreis von Leichen“42 sowie das verzerrte und übel hergerichtete Antlitz des Heilands: „In sein Gesicht, seinen Hals, seine Brust waren eine Unzahl von kleinen Messerchen, Lanzetten und Nadeln eingedrungen, als ob man den Gekreuzigten als Scheibe benutzt habe.“43 Die Tat wird damit nicht nur symbolisch, sondern explizit ein Verbrechen an Christus und damit an der Kirche selbst. Nachdem sich der Heiland erst von der nahenden Katastrophe abgewandt hat, wird er selbst zum Opfer. Der Chevalier vermag es, die Kirche zunächst zu täuschen und unter seinem Deckmantel ihre verdorbene Sittlichkeit ans Licht zu bringen, und zerstört sie von innen heraus – im räumlichen wie auch im übertragenen Sinne. Hier verbindet sich erneut das Vampir-Motiv des aussaugenden, das Leben nehmenden und letztlich alles zerstörenden Monsters mit dem Motiv des Ahasver, der in der Bluttat gleichzeitig seine Rache am ihn verfluchenden Heiland selbst übt. Der Überfall des Chevaliers und seiner Horde Blutrünstiger bleibt aber keine Momentaufnahme, sondern erschüttert die elementaren, funktionsgebenden Strukturen der katholischen Kirche und damit der christlichen Religion nachhaltig – im Text imaginiert durch die gemalte Formation der grotesken, sich an der Orgie ergötzenden Figuren, die den Besuchenden nun und für immer von den Wänden des Speisesaals entgegentreten. Strobls Text verweist damit explizit auf die Wirkmächtigkeit des ‚Fremden‘, der sich ungehindert in der Gesellschaft ausbreitet, unsichtbar macht und irreparablen Schaden anrichtet. Nichtsdestoweniger sind es gerade diese Gesellschaft und ihre Institutionen, die sich, blickt man auf das k. u. k. Reich, gegen Umbrüche und Erneuerungen auf fast schon stoische Weise verwehren und erst so angreifbar werden. Der Text übt implizit Kritik an einer veralteten und langsam bröckelnden Ordnung der Gesellschaft respektive an Kaiser und Kirche, die gerade im k. u. k. Reich untrennbar aneinandergebunden sind. Auf der Deutungsebene der Kurzgeschichte Aderlaßmännchen werden folglich die mit den literarischen Motiven im historischen Kontext verknüpften antisemitischen Stereotype instrumentalisiert; sie offenbaren eine dem Text inhärente Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Konstrukten. Die mit Hyperbolie gezeichnete 41 Ebd., S. 248. 42 Ebd., S. 250. 43 Ebd., S. 254.

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Figur des Chevaliers Saint Simon dient folglich dazu, subversive Kritik an den kirchlichen und staatlichen Strukturen des k. u. k. Reiches zu üben: Der Text zeigt auf, wie das ‚Fremde‘, auf dreifache Weise im Chevalier imaginiert, die Gesellschaft täuschen kann, um in sie ‚einzudringen‘ und sie sich auf groteske Weise ‚einzuverleiben‘ respektive von innen heraus ‚auszuzehren‘. Der Rückgriff auf traditionelle Darstellungsformen des immer wieder von Grund auf bösen, verführenden oder gierig imaginierten Blutsaugers, des durch die Zeit wandelnden Unsterblichen oder des ‚Fremden‘, der eine perfekte Kopie des ‚Eigenen‘ darstellt, lässt dabei auch Möglichkeiten zu, Strobls Text als Kritik an der jüdischen Assimilation zu verstehen. Alle drei Figuren ermöglichen es, auf die ‚Judenfrage‘ zu verweisen – ohne dass das Judentum explizit im Text erwähnt wird: Der Ahasver schafft es, sich in der sich verändernden Welt immer wieder unsichtbar zu machen; der Doppelgänger imitiert das Original, bis man sie nicht mehr voneinander unterscheiden kann; und dem Vampir gelingt es, sich mittels Verführung und Verblendung Zugang zu der Gesellschaft zu verschaffen. Die drei motivischen Figuren haben zum Ziel – so die Argumentation im antisemitischen Diskurs des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts –, eine Gesellschaft zu unterlaufen und von innen heraus zu zerstören. Autoren wie Otto Weininger, Adolf Stoecker, Eugen Dühring oder Adolf Bartels nehmen diese Metaphern und die damit zusammenhängenden Narrative in unterschiedlichen Kontexten – etwa die Juden im Sexual-, Gesellschafts-, Wirtschafts- oder Literaturdiskurs – immer wieder auf, um ihre antisemitischen Argumente einer Gefahr des ‚assimilierten Jüdischen‘ in der nichtjüdischen Gesellschaft zu untermauern.44 Dabei wird gerade auch am Beispiel Aderlaßmännchen deutlich, dass es die Aufladung der Motive sowie ihre kontextuelle Verwendung sind, die bestimmte, oftmals auch gesellschaftlich manifestierte Bilder immer wieder aufrufen und auf gesellschaftliche Randgruppen wie beispielsweise das jüdische Kollektiv projizieren. Folgt man der Interpretation, die den Chevalier als das ‚sich assimilierende Jüdische‘ versteht, dann zielt der Text Strobls aber nur auf der Oberfläche auf eine Zurschaustellung der ‚jüdischen Gefahr‘; auf einer zweiten (Meta-)Ebene zeichnet sich umso deutlicher die Entlarvung zerbrechender institutioneller

44 Siehe dazu exemplarisch Bartels, Adolf: Das Judentum in der deutschen Literatur, in: Bartels, Adolf: Kritiker und Kritikaster, Leipzig 1903, S. 102–124; Dühring, Eugen: Die Judenfrage als eine Racen-, Sitten- und Culturfrage, Karlsruhe 1881; Marr, Wilhelm: Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum (1879), 6. Auflage, Bern 1879; Stoecker, Adolf: Christlich-sozial. Reden und Aufsätze (1885), 2. Auflage, Berlin 1890; Wagner, Richard: Das Judentum in der Musik (1851), Leipzig 1869.

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Ordnungen und Strukturen ab – und eben diese Subversion wird von der eingesetzten antisemitischen Überzeichnung der Figur noch weiter unterstrichen. Das Stift steht dabei für die Institution Kirche per se, während die Schwestern zugleich auch verschiedene gesellschaftliche Schichten repräsentieren, die alle durch das assimilierte ‚Fremde‘ oder konkret ‚Jüdische‘ gefährdet sind. Die Kritik strahlt also auf beide Parteien ab: auf die sich assimilierende Minderheit, aber auch auf die Mehrheitsgesellschaft. Letztere steht im Fokus der Kritik. Anders als beispielsweise Oskar Panizza, dessen literarisches Werk in der Vergangenheit oftmals fälschlicherweise als antisemitisch proklamiert wurde, verkehren sich die von Strobl aufgerufenen antisemitischen Assoziationen in Bezug auf seinen Antagonisten nicht im Sinne des Grotesken.45 Die gesellschaftliche Kritik an der jüdischen Assimilation in Karl Hans Strobls Text folgt, das zeigt sich deutlich an den Interpretationsebenen der phantastischen Assimilationsmotive Ahasver, Doppelgänger und Vampir, stringenten antisemitischen Argumentationsstrukturen, wie sie aus dem literarischen und nichtliterarischen Kontext seit Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt sind. Auch wenn Das Aderlaßmännchen in Aufbau und Gestaltung groteske Strukturen aufweist, nutzt der Text die zugehörigen Mechanismen nicht, um die Notwendigkeit oder Sinnhaftigkeit antisemitischer Stereotypisierungen in Zweifel zu ziehen – er hinterfragt den seit Mitte des 19. Jahrhunderts etablierten gesellschaftlichen (wie auch literarischen) Antisemitismus im deutschsprachigen Europa nicht. Stattdessen vergegenwärtigt Karls Hans Strobls Kurzgeschichte, inwiefern alte stereotype Zuschreibungen der Vampir-, aber auch der Doppelgänger- und Ahasver-Figur literarisch auch an der Schwelle zum 20. Jahrhundert verbreitet und anerkannt waren. Strobls Text nutzt diese gesellschaftlich anerkannten oder gemeinhin bekannten Zuschreibungen, um subversive Kritik an Kirche oder Religion und Gesellschaft zu üben – zu einer Zeit, in der sich der Zusammenbruch des „alten Europas“ bereits leise ankündigt.

45 Die Kurzgeschichten Panizzas, man denke etwa an Der operirte Jud’ aus dem Jahr 1893, unterlaufen gesellschaftliche Paradigmen durch die ins Groteske verkehrten stereotypischen Darstellungen des ‚Jüdischen‘ und entlarven so die Unfähigkeit der deutschen Gesellschaft, sich dem ‚Fremden‘ gegenüber zu öffnen. Dabei reflektieren sie – und das nicht nur in Bezug auf das ‚Fremde‘ im Kontext der jüdischen Assimilation – die Herausforderungen, denen eine moderne, heterogene Gesellschaft gegenübersteht, sichtbar in den Veränderungen auf Seiten der Minderheits- wie der Mehrheitsgesellschaft.

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Das taube Ohr der Sprache Zu Ilse Aichingers Kurzprosa Meine Sprache und ich

„Meine Sprache ist eine, die zu Fremdwörtern neigt. Ich suche sie mir aus, ich hole sie von weit her“,1 beginnt Ilse Aichingers Text Meine Sprache und ich aus dem Jahr 1968, der die ebenso ungeregelte wie letztlich undurchschaubare Beziehung zwischen dem Ich und seiner Sprache auf kleinem Raum entfaltet. Wohl kennt diese Beziehung eine glücklichere Zeit; in der Erzählgegenwart erscheint sie jedoch stark getrübt: „Meine Sprache und ich, wir reden nicht miteinander, wir haben uns nichts zu sagen“ (219). Die eigene Sprache wird hier als selbstständige Größe eingeführt, die sprechen könnte, wenn sie nur wollte, aber dem Schweigen verfallen ist. Durch diese textkonstitutive Gesprächsverweigerung wird Ilse Aichingers Erzählung in der Regel als Gründungsdokument einer Sprachskepsis oder als nachkriegstypische Proklamation des Verstummens gedeutet, die in ihren weiteren Texten eine kontinuierliche Ausformung erfahren. Als Teil eines sehr spezifischen Typus an Erzählungen ist dieser Text in der Tat ein Präludium zu anderen Prosastücken, darunter Dover (1972) und Schlechte Wörter (1976), die das Verhältnis von Sprache und Existenz verhandeln und darin so etwas wie einen Vorbehalt gegenüber der Sprache formulieren. Dies geschieht aber, und dies ist für Aichingers Texte symptomatisch, fast verspielt, in jedem Fall fern eines theoretischen Duktus, „ja so, dass es kaum möglich erscheint, ihre sprachreflexiven Gehalte thesenhaft-abstrahierend zu paraphrasieren“.2 Allerdings wird Aichingers recht hermetischer Text Meine Sprache und ich vorschnell auf jene Sprachskepsis in Reaktion auf die so evidente Faktizität der Verfolgung und Vernichtung zurückgeführt. Denn die im Text greifende Ökonomie von Reden und Schweigen erweist sich zuallererst als eine große Verneigung vor dem selbstständigen Wirken eines von ihrem Sprecher losgelösten Wesens namens Sprache, durch die fern jeder Verständigung eben jenes Für-sich-Sein

1 Aichinger, Ilse: Meine Sprache und ich, in: Dies.: Meine Sprache und ich. Erzählungen, Frankfurt am Main 1978, S. 219–222, hier S. 219. Die im Folgenden im Fließtext in Klammern vermerkten Seitenzahlen beziehen sich auf den Text dieser Ausgabe. 2 Schmitz-Emans, Monika: Schlechte Wörter, lebendige Wörter. Poetologie und Poesie bei Ilse Aichinger, in: Text & Kritik Heft 175: Ilse Aichinger (Juli 2007), S. 57–66, hier S. 58.

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als absolute Autonomie behauptet wird. Die Sprache verweigert zwar die Tätigkeit des Sprechens, deutet aber im gezielten Schweigen auf ihr ungebrochenes Vermögen dazu. In zeitlicher Parallele zur starken Rezeption des europäischen Strukturalismus richtet sich die Aufmerksamkeit auch bei Aichinger „auf die Sprache als autonomes, jenseits der Individuen und ihrer Zeitbezüge organisiertes Zeichenrepertoire“.3 Entkoppelung und Eigenständigkeit der Sprache werden vom Ich mit zunehmender Befremdung besprochen und beschrieben. Weit stärker als die sprachskeptischen Töne, die bei Aichinger selbst den Charakter anspielungsreicher Topoi annehmen, wird hier ein gewitztes Spiel mit der Ungleichzeitigkeit von sprachlicher Verfügbarkeit und Anspruch an die Sprache betrieben, das als Spaltung des Ichs von seiner Sprache imaginiert wird. Dabei zeigt sich die Sprache den Begehrlichkeiten des Ichs gegenüber immun.4 Einmal scheint das Ich um seine Sprache geradewegs zu buhlen, dann wieder fühlt es sich von der Sprache eingekreist, mitunter zieht das Ich beide zu einem kollektiven „wir“ zusammen, aber nur, um die Haltung des Beschweigens für einen kurzen Moment zu teilen. Vom Ende her gesehen, trennt die beiden mehr, als sie verbindet. Immer aber ist es das im Titel kleingeschriebene Ich, das als Autorität über die Eigenschaften der eigenen Sprache reflektiert, und dies, obwohl die Sprache die Bedingung der Möglichkeit zu einem Ich-Sagen überhaupt erst gewährt: „Es ist aber eine kleine Sprache. Sie reicht nicht weit.“ (219) Die recht zweifelhafte Beziehung wird noch darüber verstärkt, dass sich das merkwürdige Paar, um weiterzukommen, vor zwei Wächtern einer Grenze, genauer vor Zöllnern, verantworten soll. Nach Art einer Zwangsgemeinschaft müssen die beiden die Grenze zu einem vierten Land passieren, und um sicherzugehen, hat das Ich der äußerst nachlässigen Sprache deshalb die Ausweise abgenommen. Ihren wärmenden Schal hat sie nämlich schon verloren und ihren Hals damit schutzlos der Gischt ausgesetzt, auch wenn sie eine Unterkühlung nicht fürchten muss. Denn sie bevorzugt das Kalte geradezu, kalte Küche ebenso wie die kalte Brise, die sie die Nähe zum Meer suchen lässt. Aichingers kurzer Text hat den Charakter einer Szene, fast möchte man sagen, einer Anordnung oder Aufstellung, in der vereinzelte, eigentlich ungegenständliche Figuren Korrespondenzen im Raum eingehen. Dabei sind ihre Bewegungen, ihr Halten und Rasten, nach einer Choreografie im Grenzstreifen zwischen Land und Meer gestaltet. Es ist ihren seltsamen Protagonisten 3 Erhart, Walter: Erzählen zu keiner Stunde. Ilse Aichingers Experimente mit kalten und heißen Gesellschaften, in: Text & Kritik Heft 175: Ilse Aichinger (Juli 2007), S. 29–41, hier S. 37. 4 Schon die Kleinschreibung des „ich“ im Titel der Originalausgabe deutet auf ein Gefälle zwischen der Autonomie der Sprache und der Autorität des (erzählenden) Ich.

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zu verdanken, dass die Miniatur irgendwo zwischen literarischer Prosa und sprachtheoretischem Essay zu Hause ist, wodurch sie sich einer gattungsmäßigen Zugehörigkeit gegenüber ebenso abweisend verhält wie die personifizierte Sprache gegenüber ihrem Sprecher oder ihrer Sprecherin. Unmissverständlich macht der Text durch seine vielfältigen Signale der Unzugehörigkeit klar, dass das „Meine Sprache“ und „ich“ verknüpfende „und“ im Titel nicht als Konjunktion zu verstehen ist.5 Im Gegenteil nimmt es eine die beiden Größen auf Abstand haltende Funktion ein und veruneindeutigt den Bezug. Vermutlich beruht die Intimfeindschaft zwischen beiden darauf, dass die Sprache nicht nur ein passives Reservoir an Ausdrucksmöglichkeiten oder ein sich im Gebrauch aktualisierendes System von Elementen und Operationen ist: Vielmehr hat sie selbst eine ausgesprochene ‚Neigung‘ (zu Fremdwörtern nämlich), kann sich zudem drehen und wenden und also auch „passieren“, und dies im Doppelsinn von „etwas durchqueren“ bzw. „an etwas oder jemandem vorbeigehen“ und „geschehen“ bzw. „sich ereignen“ (219). Vielleicht resultiert deren schwieriges Verhältnis aber auch aus einer Enttäuschung respektive einem Vorfall, der vor der erzählten Zeit liegt und ihre Gegnerschaft erklären könnte. Jedenfalls schlagen alle Versuche des Ichs fehl, sich der Sprache durch Werbung, Manipulation oder Drohung zu versichern, sie zurückzuholen, gefügig oder (erneut) zur Partnerin zu machen. Was aber, wenn es kein Vorkommnis gegeben hat und die Intimfeindschaft der Normalfall ist, ein Verhältnis hier also für einen Moment nach Art einer Versuchsanordnung isoliert und herausgestellt wird, das eigentlich auf Dauer steht? Wie man sich der Sprache bedient und inwiefern auch die Qualität der Wissenschaft von der Aufmerksamkeit für sie abhängt, läuft als implizite Frage auch in Petra Ernsts Schriften mit. Nicht nur ist Sprache der explizite Gegenstand auf Ernsts interkulturellem Gebiet der Übersetzung und Übertragung; die Einsicht, dass eine Aussage von der Art ihres Aussagens nicht zu trennen ist, bildet vielleicht so etwas wie den gemeinsamen Grund ihrer Forschung. Denn neben ihrer enormen Schubkraft für den Bereich der Jüdischen Studien erzählen ihre Texte uns von dem Weg ihres Entstehens. Ernsts Denkanstrengung geht auch dahin, offenzulegen, wie sich ihre Argumente im Dialog mit anderen Texten und Positionen formen und an originärer Kraft gewinnen. Dabei verbindet sich ihr theoretisches Interesse für die semantische Vielschichtigkeit erzählter Räume, für interlinguale wie kulturelle Übersetzungsvorgänge und für die

5 Laut Duden verbindet das „und“ u. a. nebenordnend einzelne Wörter, Satzteile und Sätze, kennzeichnet eine Aufzählung, Anreihung, Beiordnung oder eine Anknüpfung und verbindet Wortpaare, die Unbestimmtheit ausdrücken.

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Erzeugungsregeln von Grenzziehungen mit einlässlichen Lektüren insbesondere deutschsprachig-jüdischer Texte, die Petra Ernsts große Intimität auf dem Gebiet erkennen lassen. In ihren zahlreichen Aufsätzen und Büchern ist die sprachliche Sensibilität für den jeweiligen Gegenstand Bedingung guter Wissenschaftsprosa. Denn diese ist nicht zuletzt Resultat einer Form der Sprachverwendung, die „ein bestimmteres Verhältnis von Erkenntnis und Sprache zueinander“ meint.6 Zwar ist in der Wissenschaft das Verhältnis von Aussage und Art des Aussagens – das Verhältnis von Was und Wie – nicht so exponiert wie in der Literatur, doch ist diese Beziehung deshalb nicht leidenschaftslos oder kontingent. In der Prosa der Wissenschaft soll die ihr vorausgegangene Denkanstrengung idealerweise als fröhliche Spur vorhanden bleiben. Und um diese fröhliche Spur als Ausdruck eines Verhältnisses von Erkenntnis und Sprache zu wahren, muss der Gegenstand von Wissenschaft notwendig auch die (sei es instrumentelle) Sprache selbst sein – auch dann, wenn sie kein explizites Erkenntnisinteresse darstellt. Dabei tangieren Abstand und Annäherung zwischen der eigenen Sprache und dem Ich jede Arbeit am Gegenstand, und sei es, um festzustellen, dass es unmöglich ist, die von diesem Ich ausgehenden „Fäden des Geistes zu entwirren, ohne die Irrgänge der Sprache zu erkunden“.7 An die Stelle des (in der Wissenschaft ausgesprochen unerwünschten) Ich tritt mit dem Gedankengang die Spur der Anstrengung oder auch das Porträt eines Denkens, das sich sowohl den Momenten einer friedlichen Konjunktion von Sprache und Ich als auch ihrem Zwist verdankt. Denn über weite Strecken gehorcht uns unsere Sprache nicht, will den Gedankengang, so wie er ist, nicht befördern. Und diese Intimfeindschaft, die Schreibende zu ihrer Sprache unterhalten, ist ein Movens des kurzen Textes von Ilse Aichinger, die auch in der Wissenschaft umso deutlicher wird, wo es gilt, die Konzepte und Argumente Anderer aufzugreifen und diese – eingedenk der vielen ihnen inhärenten „Ichs“ – weiterzuentwickeln. Für die europäisch-jüdischen Studien sind Experimente wie Ilse Aichingers Meine Sprache und ich besonders fruchtbar. Denn stärker als anderswo stößt man in diesem Bereich auf historische und kulturelle Zäsuren, auf Sprache und Gewalt und auf mitunter schwierige sprachliche Erbschaften. Auch stehen hier die Bedingungen und Aneignungen essenzialisierender Konzepte wie Existenz und Ausdruck, Sprache und Ich im Vordergrund. Ob und inwiefern Petra Ernsts Studium der Linguistik eine besondere Affinität für diese Texte und ihre sprachlichen Besonderheiten hervorgebracht hat, ist eine ihr zu ihren Lebzeiten nicht gestellte Frage: Dieses verpasste Gespräch mit ihr ist Anlass folgender 6 Miller, Norbert: Von den Indizien und von den Spuren. https://www.deutscheakademie.de/de/ auszeichnungen/sigmund-freud-preis/norbert-miller/dankrede (letzter Zugriff: 30.08.2018). 7 Weber, Anne: Erste Person, Frankfurt am Main 2010, S. 18.

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Überlegungen zu Aichingers Miniatur, die nach einer kurzen Einführung in den Text zunächst ihren eigentümlichen Figuren gelten, um dann die Figur von Kreis und Spirale als spezifischen Bewegungsqualitäten der Sprache sowie die Rolle des Grenzverkehrs und die Wendung des Passierens zu behandeln. Ein kurzes, „Meine Sprache und ich als Grenzfall“ betiteltes Resümee rundet die Ausführungen ab. 1.

Sonderbare Protagonisten

Äußerst eigenwillig tritt die Sprache schon im Titel in Erscheinung, der der Sprache vor dem Ich den Vorzug gibt. Ungeachtet dieses Vorzugs weigert sich die Sprache allerdings hartnäckig, „überhaupt noch irgendeine Rolle zu spielen“.8 Zu Beginn der Erzählung passieren der Ich-Erzähler und seine Sprache als dramatis personae die Grenze des vierten Landes, um sich in einer Entfernung von drei Metern nahe dem Zollhaus und in Sichtweite zum Meer niederzulassen. Dabei ist es die Sprache, die den Aufenthaltsort in der Nähe der Zollhütte bestimmt: „Es war nicht meine Idee“, so das erzählende Ich, „uns so nahe der Zollhütte niederzulassen, aber meine Sprache war nicht weiterzubringen. Das vierte Land ist zu Ende, schrie ich ihr ins Ohr, da drüben ist schon das fünfte. Sie folgte mir widerwillig, nicht weiter als bis hierher.“ (221) In diesem Grenzbereich trifft das Ich, nachdem es zu Beginn den eigenen Sprachvorrat durch handverlesene Fremdwörter aufgestockt hat, weitere Vorbereitungen zu ihrem Unterhalt: Sie bereitet eine Decke für eine kalte Mahlzeit nach Art eines Picknick, die die Sprache jedoch nicht eines Blickes würdigt, geschweige denn auch nur anrührt. Im Picknick – einem vermutlich aus dem Französischen stammenden Wort, das sich aus „piquer“ für „aufpicken“/„aufsammeln“ und „nique“ für „Kleinigkeit“ zusammensetzt – wiederholt sich die anfängliche Tätigkeit der (die Sprache mit Fremdwörtern nährenden) Auslese. Das Ich weiß allerdings bereits aus Erfahrung und ohne jede Reaktion der sich wie taubstumm verhaltenden Sprache, was zu tun ist: „Was ich wissen muß, weiß ich, kalte Küche ist ihr lieber als warme, nicht einmal der Kaffee soll heiß sein. Das beschäftigt einen schon. Da hat man zu tun, zu decken, aufzuschneiden, die Kälte zu messen, die Wärme vergehen zu lassen. Während sie aufs Meer starrt“ (220). Die Sprache mag es kalt und verweilt im Zustand der Ungerührtheit. Im Zuge der unangetasteten, im Grunde zurückgewiesenen Mahlzeit versucht sich das Ich mittels einer Gehörprobe Beachtung oder besser noch Zuwendung zu verschaffen – es beginnt zu singen oder mit den Bestecken zu klappern 8 Ratmann, Annette: Spiegelungen, ein Tanz. Untersuchungen zur Prosa und Lyrik Ilse Aichingers, Würzburg 2001, S. 124.

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und nimmt schließlich ein Messer, um es aus immer derselben Entfernung auf den Teller fallen zu lassen. Aufdringlicher werdend überhäuft es die Sprache „wispernd und hustend mit Fragen und Angeboten“ (221). Die Sprache ignoriert diese Versuche oder antwortet auf sie, indem sich ihr Blick auf das Meer fixiert. Am Ende solidarisiert sich das redselige Ich mit den Zöllnern des vierten Landes und überlässt die Sprache sich selbst: „Jeder wie er will. Ich halte mich dran. Ich kann auch andere für die meinen halten.“ (221) 2.

Kreis und Spirale als Bewegungsqualitäten der Sprache

Beinahe überflüssig zu sagen, dass es sich bei Aichingers Miniatur um einen Text von ausgesprochener Präzision handelt. Leise, aber um nichts weniger überraschend, wird der ausgesprochen komplizierte Verkehr zwischen der Sprache und dem Ich offengelegt, um immer neue Komplikationen zu schaffen: Allein schon die bereits angesprochene, trennende Implikation des „und“ im Titel evoziert mithilfe des Possessivpronomens „Meine“ und des Personalpronomens „ich“ ein ungleiches Paar. Diese Trennungsleistung im Titel wird noch intensiviert durch die Eingangssätze, die in ihren aktiven und passiven Anteilen Gemeinsamkeit präjudizieren. Zwar ist es die Sprache, die zu Fremdwörtern neigt, es ist aber das Ich, das diese Fremdwörter sich und nicht ihr – der Sprache – aussucht. Der Sprachvorrat wird hier zunächst dynamisch und in Abhängigkeit vom Sprecher gedacht, das Ich beschafft die Wörter, wodurch die Sprache gezielt erweitert wird. Die Auslese determiniert also Radius und Wirkungskreis: „Sie [die Sprache, MK] reicht nicht weit. Rund um, rund um mich herum, immer rund um und so fort.“ (219) Zwar umgibt, umrundet sie das Ich fortwährend, durch das sie beide – wohl unter Ausnutzung des Schwungs, die diese stetige Bewegung verursacht – gegen ihren (gemeinsamen) Willen vorwärtskommen oder weitergewuchtet werden. Und der Hinweis, dass dies gegen ihren gemeinsamen Willen geschieht, zeigt, dass ihr Verhältnis noch ganz auf Vermittlung und Korrespondenz ausgerichtet ist und das „wir“ dabei noch recht eindeutig ist. Doch ist der kreisende Vorwärtsdrang („Rund um, rund um mich herum, immer rund um und so fort“) ein höllischer, der seit Dantes Jenseitsvision auf der Tektonik konzentrischer Kreise gründet: „Zur Hölle mit uns sage ich ihr manchmal. Sie dreht sich, sie antwortet nicht, sie lässt uns geschehen.“ (219) An dieser Stelle ist die Entzweiung des ungleichen Paares allerdings nicht mehr zu übersehen, das nur mehr auf höllische, nämlich kreisende Art aneinander gebunden bleibt. „Gegen ihren Willen“, so formuliert Annette Ratmann konzise, „und obwohl die exzentrische Bewegung der ausgedehnten Fremdwortsuche des Erzählers in den konzentrischen Bewegun-

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gen einen Ausgleich findet, kommen sie voran.“9 Unklar bleibt, wer hier wen mitwuchtet, vor oder hinter sich herzieht, nach Art einer eigentlich unmöglichen Bewegungsdynamik, die einige Jahre später von Aichinger in Schlechte Wörter beschrieben wird: „Den Untergang vor sich her schleifen“,10 heißt es in dem Text, der dezidiert nach ‚angreifbaren‘ Formulierungen und Satzgefügen sucht, um den Vollzug zeitlicher Verläufe zu unterminieren. In Schlechte Wörter wird als Zumutung formuliert, worum man sich in der Regel bemüht: „Niemand kann von mir verlangen, dass ich Zusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind.“11 Einmal wird die kreisende Bewegung, die die Sprache und das Ich aneinanderbinden, auch im Modus der Spirale, genauer der Spiralfeder beschrieben, obschon nicht ganz klar ist, von wem die Beobachtung ausgeht: „Einer und etwas um ihn herum, unverdächtig. Aber was das war? Eine Spiralfeder. Nein Dampf “ (219). Dampf wie Spirale zielen auf eine bestimmte Bewegungsenergie, wobei die Spirale hier als ein modellhaftes Bild erscheint, das das „wir“ in eine Konstruktion des Gegeneinanders einspannt und weiter differenziert. Denn Modellcharakter hat die Spirale nicht nur als eine Progressionsfigur der Zeit, sondern auch als eine Denkfigur des Nebeneinanders im Raum. Martina Wagner-Egelhaaf bezeichnet sie entsprechend als eine Figur des Vorwärts, Rückwärts und Seitwärts,12 die eine der Linearität unähnliche Zeitlichkeit entwirft, indem sie durch ihr kreisendes Moment zeitlich entfernte Punkte einander annähert, also Zurückliegendes einem Noch-Kommenden zugesellt.13 Zugleich steht die Spirale für einen Mechanismus, der eine Eskalation im Sinne einer „Spirale der Gewalt“ veranschaulicht. Pointiert wird das gespannte Verhältnis zwischen dem Ich und seiner Sprache – darauf hat Christine Ivanovic hingewiesen –„anhand des Verhaltens beider in der als beispielhaft dargestellten Situation der Grenzpassage“,14 die jedoch als ein vollkommenes Sich-Enthalten der Sprache erscheint: „Meine Sprache hat nichts gesagt, aber dafür ich, ich habe diensteifrig genickt, ich habe ihnen 9 Ratmann: Spiegelungen, ein Tanz, S. 126. 10 Aichinger, Ilse: Schlechte Wörter, in: Dies.: Schlechte Wörter, Frankfurt am Main 1991, S. 11–14, hier S. 11. 11 Ebd., S. 12. 12 Wagner-Egelhaaf, Martina: Entangled. Interdisziplinäre Modernen. Eine literaturwissenschaftliche Moderation, in: Willems, Ulrich/Pollack, Detlef/Basu, Helene/Gutmann, Thomas/Spohn, Ulrike (Hg.): Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung, Bielefeld 2011, S. 203–233, hier S. 230 f. 13 Die Spirale entwirft aber auch eine der Linie oder Linearität unähnliche Zeitlichkeit, ihre Kreise nähern zeitlich entfernte Punkte einander an, die Vergangenheit wird eingeholt, weshalb hier kein Fortschrittsmodell, sondern ein anderes Denken von Zeit intendiert ist. 14 Ivanovic, Christine: Meine Sprache und ich. Ilse Aichingers Zwiesprache im Vergleich mit Derridas Le monolinguisme de l’autre, in: arcadia 45, 1 (2010), S. 94–119, hier S. 109.

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[den Zöllnern, MK] die Freude getan.“ (219) Recht genau lässt sich hier durch die Bewegungsqualität der Sprache ermessen, wo diese zwar gerade noch mit dem Ich mitgeht, die Sprache jedoch nicht (mehr) gewillt ist, die ihr allgemein zukommenden Erwartungen zu erfüllen. Hilfreich ist hier das Grimm’sche Wörterbuch, das in seinem Eintrag „Sprache“ der Sprache einen Doppelsinn attestiert, nämlich zum einen „die Thätigkeit des Sprechens“ und zum anderen „das Vermögen dazu“15 zu sein. Hier, in Aichingers Meine Sprache und ich, scheint sie sich auf ihr bloßes Vermögen zum Sprechen zurückzuziehen, das im Modus kalter Nahrung symbolisiert wird. Der Tätigkeit des aktiven, adressierten Sprechens verweigert sie sich: „Spräche meine Sprache zu mir, so hätte ich diese Art von Gehörprobe nicht nötig, aber sie tut nur wenig dazu, um uns unverdächtig zu erhalten.“ (221) Sprache ist also nicht nur das Eine, das sich in der Gegenstellung zum Ich als eine dramatis persona profiliert oder behauptet. Als ein in sich Gespaltenes neigt sie dem Ich einerseits zu und andererseits von ihm weg; „meine Sprache“ tritt hier, so Monika Schmitz-Emans „in der Doppelrolle einer Schwester und einer Antagonistin des Ich auf […]. Das Erzählerinnen-Ich wird um der [vermeintlichen] Bedürfnisse seiner Sprache willen aktiv.“16 Reduziert auf ihr (bloßes) Vermögen, ist sich die Sprache dabei offenbar selbst genug: „Ich habe sie im Verdacht, daß ihr nur an sich selbst liegt. Oder nichts an sich selbst. Oder beides, das trifft sich. Was ich ihr vorgesetzt habe, hat sie nicht berührt, sie läßt es vom Gischt einsalzen“. (221) Ihre Selbstgenügsamkeit erlangt die Sprache auch durch ihre zunehmende Körperhaftigkeit im Text, die ihr im Zuge der Spaltung und Entfernung vom Ich verliehen wird: „Durch ihre fortschreitende Emanzipation wird die Sprache zu ihrem eigenen Gegenstand und zugleich zum personifizierten Gegenüber des teils erzählenden, teils reflektierenden Text- und Titel-Ichs“,17 formuliert Rainer Schönhaar. Dabei verhält sie sich entsprechend ihrer Anlage indifferent zu allem, nicht zuletzt auch zu ihrer eigenen Realisierung. Denn versteht man „meine Sprache“ als Prosopopöie im Sinne eines poetischen Prozesses des Zur-Person-Machens – das meint einen Vorgang, der abstrakten Begriffen oder leblosen Dingen und Naturerscheinungen Eigenschaften, Tätigkeiten und Sprache verleiht –, so bewegt sich die Sprache hier an der Grenze zu ihrer Realisierung. Etymologisch verstanden meint Prosopopöie ‚ein Gesicht geben‘, rhetorisch hingegen ist mit ihr die Strategie der Verstimmlichung verbunden. Aichinger verleiht der Abstraktion Sprache zwar ein Gesicht, oder 15 Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 10, 1. Abt., Leipzig 1905, Sp. 2718–2742, hier Sp. 2719. 16 Schmitz-Emans: Schlechte Wörter, lebendige Wörter, S. 64. 17 Schönhaar, Rainer: „Der Erzählwelt Schweigen abfordern“. Ilse Aichingers Prosaminiaturen seit dem Band „Eliza, Eliza“, in: Bartsch, Kurt/Melzer, Gerhard (Hg.): Ilse Aichinger, Graz und Wien 1993, S. 102–137, hier S. 129 f.

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besser: die hierzu nötigen Sinnesorgane, nämlich Augen und Ohren, um mit „ihrem grauen Blick“ (222) auf die immer gleiche Stelle des Meeres zu starren und auf die Brandung zu horchen. Dazu erhält sie einen zu langen Hals, den sie nach dem Verlust ihres lilafarbenen Schals und ohne aufgestellten Kragen nun schutzlos den Winden aussetzt. Folglich ist die Andeutung von Physis und Gesicht also gegeben, nicht aber eine vernehmbare Stimme, selbst wenn das Ich die Existenz einer solchen Stimme anerkennt: „Wenn meine Sprache die Stimme verliert, hat sie einen Grund mehr, das Gespräch mit mir sein zu lassen“ (220 f.), mutmaßt das Ich an einer Stelle. Insgesamt verharrt die Sprache im Status einer „unausgesprochenen Erscheinung“ (221), in besseren Zeiten war es mittels des Schals offenbar gelungen, die „gegensätzlichen Ausprägungen der Gestalt“18 zu harmonisieren: „Mit ihrem überaus langen Hals ähnelt die Sprache einem ausgewachsenen Schwan, während die gedämpfte Mattigkeit ihrer Farben eher dem graubraunen Gefieder eines Jungtiers gleicht […]. Das attributiv gebrauchte Partizip ‚unausgesprochen‘ kann auf diese schwer zu fassende Mischung gegensätzlicher Merkmale und Eigenschaften bezogen werden, aber auch auf die schweigend in sich gekehrte Haltung der Sprache.“19 Vielleicht ist der Verlust des Schals aber auch ein Triumph, denn als ein langes um den Hals gewundenes Tuch kann es auch die Eigenschaft eines Gängelbands übernehmen. Die Sprache hätte sich somit aus den Fängen des Ichs befreit, bliebe seinen durch die Verwendung von Wörtern flottierenden Konnotationen entzogen: Treffend spricht Christine Ivanovic vom abhandengekommenen „Symbolon ihrer Bindung“.20 Auf der poetologischen Ebene scheint der Prozess der Verkörperung hier gezielt unterbrochen zu sein, denn die Sprache ist nach ihrer Ankunft im Grenzbereich mehr eine Art statische Rückenfigur mit einem Ohr für Zeitloses wie die Brandung und mit einem Auge allein für das Meer; (mythologische) Seeungeheuer wie (profane) Fischkutter entgehen ihrer Aufmerksamkeit, liegen nicht in ihrem Horizont: Meine Sprache blieb ruhig, den Blick aufs Meer geheftet, wie ich glaube immer auf dieselbe Stelle. Sie scheint mir das Gegenteil gewisser Bilder zu sein, deren Blicke einem überall nachgehen. Ihr Blick geht keinem nach. Seeungeheuer und Fischkutter wären gleichmäßig an ihr verloren, es kommen auch keine. Ich breite dann unsere kalte Mahlzeit aus, gieße den kalten Kaffee ein, aber vergeblich. Ich habe unsere Decke sorgfältig gedeckt, oft sogar eine Strandblume in die Mitte gelegt, oder neben ihr Gedeck. Sie wendet sich nicht um. (220)

18 Ratmann: Spiegelungen, ein Tanz S. 130. 19 Ebd. 20 Ivanovic: Meine Sprache und ich. Ilse Aichingers Zwiesprache, S. 110.

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Schließlich legt das Ich das Gedeck vor die Sprache hin, „zwischen sie und den Gischt“ (220). Dieses Starren und Horchen an der Küste in Meernähe ist Ausdruck für die Kapazitäten einer Sprache, die sich nicht durch ein Sprechen verausgabt und sich unter Verzicht auf Einschränkungen wie Schal und Kragen der rauen und in der Bewegung uneindeutigen Atmosphäre aussetzt. Alles auf dem Land zubereitete Warme oder auch Wärmende ist ein falscher Schutz, steht offenbar im Verdacht der Assimilation, der Anverwandlung oder Befriedung. Konsequent, dass die Sprache im Zustand der Ungerührtheit und dem Land den Rücken zukehrend an der Küste verweilt, ist doch das Meer „eine naturgegebene Grenze des Raumes menschlicher Unternehmungen“, dazu in der Dämonisierung eine „Sphäre der Unberechenbarkeit, Gesetzlosigkeit und Ordnungswidrigkeit“.21 Dass der Blick der Sprache aber gerade keinen Seeungeheuern oder Fischkuttern folgt, ist Indiz einer Fixierung auf das bewegte und unbeständige Meer als Kontrastmodell zum Land, das sich nach Art einer Beschreibefläche markieren lässt und folglich fortwährend Zeichen befördert. Dass das Meer als Überrest des vorweltlichen Chaos ein Bild der Alterität ist und an den Schrecken der Gestaltlosigkeit erinnert, ist seit Corbin ein Topos im Nachdenken über Meer- und Landnahme.22 Aichinger akzentuiert mit der Küste aber die Zone des Übergangs, die mit dem Gischt als willkommener Einsalzung der kalten Mahlzeit befriedend wirkt. Die weiter oben als spezifische Qualität der Sprache beschriebene Form der Spirale ist übrigens auch die für das Wasser typische Bewegung, durch die sich der Gischt erst bildet. Es scheint also, als habe die Sprache im Meer ihren wahren Freund gefunden, denn wie sie entzieht es sich der Kontrolle und bildet überdies ein Reservoir an Analogien und Metaphern,23 die Meer und Sprache mit gegensätzlichen Sinnanleihen, Beweglichkeit und Regenerativität auf der einen Seite, Auslöschung, Vernichtung und Grab auf der anderen Seite versehen. Oft stehen Land und Meer auch analog zu Erinnern und Vergessen; als gefurchte, markierte und ergo mit Zeichen übersäte Fläche bewahrt das Land die Spur von Ereignissen und Geschichte, während das Meer durch sein mal ruhiges, mal bewegtes Muster für ein Vergessen(machen) steht. Die in der Erzählung zunehmend gestaltete einseitige Abhängigkeit des Ich von seiner Sprache findet schließlich einen Haltepunkt zwischen dem windigen Ufer des Meeres und der Zollhütte: „Wir sind immer in Meernähe, dafür sorge ich. Ich, nicht sie. Ich möchte wissen, was mit ihr geschähe, wenn ich einmal 21 Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt am Main 1993, S. 10. 22 Corbin, Alain: Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste 1750–1840, Berlin 1990, S. 14–18. 23 Baader, Hannah: Gischt. Zu einer Geschichte des Meeres, in: Dies./Wolf, Gerhard (Hg.): Das Meer, der Tausch und die Grenzen der Repräsentation, Zürich 2010, S. 15–40.

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landeinwärts ginge, einfach einböge wie andere Leute auch, uns einen Steintisch zwischen den Mulden suchte, gehobelte Kiefern. Wie sie sich dann verhielte, ob sie mitkäme?“ (220) 3.

Die Rolle des Grenzverkehrs und die Wendung des Passierens

Das für den Text konstitutive Verhältnis zum Meer stellt auch Annegret Pelz in ihrem Essay Spracharbeit in Meernähe fest. Ihr zufolge erfüllt das offene Meer ein Versprechen auf Aichingers lebenslangen Wunsch nach dem Verschwinden und fordert darüber hinaus zur „Frage nach dem sprachlich Möglichen jenseits eingefahrener Sprachmuster“ auf.24 „Das Meer verfügt über die Kraft, die Worte semantisch zu entleeren und in einen Zustand ohne Paradigma und ohne Zeichen zu versetzen, was Schweigen letztlich bedeutet.“25 Kein Zufall, dass das Ich die Sprache landeinwärts zu treiben versucht. Denn das Grenzland, in dem die beiden in unmittelbarer Nähe zu den Zöllnern rasten, fungiert als Puffer zwischen dem überreich markierten Land und dem Gewässer, das sich nichts merkt und als fluides Element Bedeutung auflöst. An der Grenze wird im Dialog der Zöllner die Arbeit der Aufspaltung in zwei personae als eine unabschließbare realisiert. Die unterschiedlichen Pronomen „wir“, „meine“, „ich“ lösen sich ab, müssen ständig korrigiert werden: „Denen ist langweilig da drüben. Oder sind wir ihnen verdächtig. Meine Sprache ist ihnen verdächtig, nicht ich. Ich bin normal, ich esse und trinke […].“ (221) In bisher vermisster Deutlichkeit wird hier, wie Christine Ivanovic formuliert, „das eigenartige Zugehörigkeitsverhältnis pointiert, das das Ich an seine Sprache bindet“.26 Formulierungen und Wortwiederholungen verraten, dass kein einmaliges Geschehen erzählt wird, sondern das Hadern des Ichs um den Singular oder den Plural nicht aufzulösen ist. Ein dramaturgisches Mittel dieser Allgegenwart des Haderns ist die doppelte Temporalbestimmung des Wortes „manchmal“. Einmal heißt es nach Art eines Fluchs: „Zur Hölle mit uns sage ich ihr manchmal“, und das andere Mal in der Begegnung mit den Grenzbeamten: „Manchmal tauchen Zöllner auf. Ihre Ausweise?“ (219) Damit macht der Auftritt der Zöllner das zwangsläufige Moment, gleichsam den vom Ich und von seiner Sprache getätigten Fortschritt wider Willen, erst offenbar. Zudem überlagert sich mit Ivanovic dort, wo die Sprache als ein sich um sich selbst 24 Pelz, Annegret: Spracharbeit in Meernähe. Aichingers Grenzdialoge, in: Rabenstein-Michel, Ingeborg/Rétif, Françoise/Tunner, Erika: Ilse Aichinger – Misstrauen als Engagement?, Würzburg 2009, S. 63–71, hier S. 64. 25 Ebd., S. 65. 26 Ivanovic: Meine Sprache und ich. Ilse Aichingers Zwiesprache, S. 97.

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drehender, egozentrischer Wirbel erscheint und sich der selbst produzierten Bewegung überlässt („Sie dreht sich, sie antwortet nicht, sie läßt uns geschehen“, 219), der transitive Gebrauch von Geschehenlassen (ich lasse etwas geschehen) mit dem unpersönlich konstruierten intransitiven Geschehen (etwas geschieht) zu einem maximalen Ausdruck von Passivität und damit zu einer neuen Verbindung. Mit der Doppelbedeutung von „passieren“ im Sinne von Geschehen einerseits und Übertritt andererseits („Ihre Ausweise? Wir passieren, sie lassen uns passieren“, 219) ist „das narrative Grundmotiv des Textes umrissen“; es ist „die Passage im Sinne einer Grenzüberschreitung, die über die sprachliche Drehung umgewendet wird in das ereignishafte Moment des Passierens, eines Geschehens von historisch-existenzieller Bedeutung“.27 Schließlich wird die am Ende der Erzählung ins Auge gefasste Solidarisierung des Ichs mit den Zöllnern zunächst im Modus des Möglichen erprobt: Das Ich hat seine Kooperationsbereitschaft mit den Zöllnern durch ein wortloses, aber eilfertiges Nicken frühzeitig signalisiert, die Sprache hingegen tut, wie es heißt, nichts, um „uns unverdächtig zu erhalten“ (221). Im Gegenteil lenkt sie den Verdacht durch eine aufreizend-offensive Stummheit geradezu auf sich selbst und scheint das Ich zu einem Wechsel der Fronten gar zu nötigen. Doch noch ist die dergestalt durch die Sprache forcierte Emanzipation des Ichs eine bloße Option, imaginiert als ein Fremdgehen des Ichs bzw. als seine Entbindung von der selbstauferlegten Pflicht des Unterhalts: „Jeder wie er will, ich halte mich daran. Ich kann auch andere für die meinen halten. Kann Zollkoch werden. Zollunterhalter, Zöllner. Die beiden da drüben werden nicht liegenlassen, was ich ihnen vorsetze.“ (221) Das Ich ist hier im Begriff, von der eigenen zur Sprache der Anderen zu wechseln, künftig „im Reden der Anderen aufzugehen, um damit die ‚eigene‘ Sprache unverdächtig zu halten“.28 Damit verändert sich die anfängliche Gewähr eines bis dato handverlesenen Unterhalts der Sprache (durch das Heraussuchen und Heranholen von Fremdwörtern und die behutsame Zubereitung einer ‚kalten Küche‘) zur plaudernden Unterhaltung über sie: „Wir werden vom Zoll reden, von Zollgütern, Silber und Blei und ähnlichem. Von Kartenspielen, ich kenne auch Kartenspiele. Und von meiner Sprache, die sich, wie ich vermute, von hier nicht mehr wegrühren wird. Von ihrer eingesalzenen Mahlzeit, ihrem grauen Blick.“ (221 f.) Und auch die zu Beginn entfaltete Sorge um die weitere Existenz einer unkommunikativen Sprache verändert sich zu einem schützenden Sprechen über sie: „Ich werde hier und dort einen Satz einflechten, der sie unverdächtig macht“. (222) Auffällig ist, dass das Ich den Zöllnern gegenüber Zugeständnisse macht, indem es eine auf deren Gegenstände, auf Zoll und Güter wie Silber und Blei 27 Ebd. 28 Ebd., S. 109.

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bezogene Rede anstimmt. Verdächtig verhält sich hier also zuallererst das Ich selbst, in dessen Rede die eingangs erwähnten Fremdwörter gar nicht vorkommen, wohl aber letztlich die der Grenzwächter. Dabei erinnern Silber und Blei als zu wägende Güter nicht zufällig an die im Sprichwort empfohlene Diätetik von Reden und Schweigen, die da heißt: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Die auf die Eigenschaften sprachlicher Kommunikation gemünzten Wertigkeiten sind hier unter Auslassung des Goldes um das unedle Metall Blei ergänzt, um ein Metall also, das das Ich gleichfalls auf bestimmte Eigenschaften der Rede wie Gesprächigkeit, Wortwahl und Verschwiegenheit beziehen könnte: Zu denken wäre an „Blech reden“ oder an Wörter, die „wie Blei auf der Zunge“ liegen. 4.

Fazit: Meine Sprache und ich als Grenzfall

In Aichingers Prosatext Meine Sprache und ich ist das besitzanzeigende Pronomen „meine“ kein würdiger Begleiter, denn kein auch noch so behutsam vorgebrachter Anspruch auf die Sprache kann hier erhoben werden. Diese Geste korrespondiert einer später formulierten Einsicht über die vermeintliche Einsprachigkeit des Anderen, der zufolge niemand nur eine und erst recht nicht eine einzige Sprache spricht. Das Andere macht sich unweigerlich im Eigenen geltend und vice versa. „Ich habe nur eine Sprache, diese ist nicht meine Sprache“,29 heißt es über die Einsprachigkeit des Anderen bei Jacques Derrida. Und an anderer Stelle, in einem letzten Interview, universalisiert der Autor diese Einsicht, indem er schreibt: „[E]ine besondere Geschichte hat sich bei mir zu einem allgemeinen Gesetz zugespitzt: eine Sprache ist etwas, das nicht gehört“.30 Ob Aichingers sprachtheoretisch inspirierte und inspirierende Kurzprosa in diese Richtung geht oder nicht vielmehr durch die Insistenz auf der sprachlichen Neigung zu Fremdwörtern und ihrer bescheidenen Reichweite ein (essenzialisierendes) Eigenes geradezu ausschließt, sei dahingestellt. Ihre Protagonistin, die Sprache, jedenfalls affirmiert Alterität, besteht als „kleine Sprache“ (219) durch eine ausgesprochene Neigung zu Fremdwörtern geradezu aus ihr, wodurch sie keinem anderen zugehört. Bei Aichinger wird der Sprache ein Picknick bereitet, an dem sie jedoch nicht teilnimmt, obschon die Voraussetzungen hierzu geschaffen und (vermeintliche) Idiosynkrasien wie 29 Derrida, Jacques: Le monolinguisme de l’autre ou la prothèse de l’origine, Paris 1996, S. 13. Hier in der Übersetzung von Trabant, Jürgen: Sprach-Passion. Derrida und die Anderssprachigkeit des Einsprachigen, in: Arndt, Susan/Naguschewski, Dirk/Stockhammer Robert (Hg.): Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur, Berlin 2007, S. 48–65, hier S. 49. 30 Trabant: Sprach-Passion, S. 60.

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erkaltete Mahlzeiten und kalter Kaffee berücksichtigt werden. Fremdwort und Fremdheit beziehen sich hier ganz offenbar auf das fundamentale Verhältnis des Ichs zu seiner Sprache, das zu einer anderen Form des Sprechens ermächtigt, die das Schweigen bezeugt, ohne selbst ins Schweigen zu verfallen, wie es die zweisprachige Autorin Uljana Wolf formuliert.31 Die Sprache behauptet sich durch die Verweigerung jeder Äußerung „immer deutlicher als eigenständige Figur“,32 die darin autonom auf ein nur potenzielles Sprechen pocht und das Schweigen als „eine radikale Form der Rückbesinnung auf das produktive Potenzial der Wörter“ akzentuiert.33 Mit ihrem tauben Ohr, dem grauen Blick, dem zu langen Hals und der „eingesalzenen Mahlzeit“ hat sie sich spätestens durch den Verlust ihres Schals und die ihr abgenommenen Ausweise ebenso radikal wie absolut jeglicher Besitz- oder Zugehörigkeitsansprüche entledigt.

31 Uljana, Wolf: A Werldly (!) Country: Ilse Aichinger’s Prose Poems, in: The Poetry Project Newsletter Feb/Mar 10 # 22, 2010, http://poetryproject.org/wpcontent/uploads/PP_Newsletter_FEBMAR_toprintfinal_after-blues.pdf (letzter Zugriff: 30.08.2018). 32 Ratmann: Spiegelungen, ein Tanz, S. 134. 33 Ebd.

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Rose Ausländers Dichtung und die jüdischen Kulturen in der Bukowina des frühen 20. Jahrhunderts Im ersten Teil seiner Monographie über Rose Ausländers Dichtung Entgöttertes Leid setzt sich der Verfasser Martin A. Hainz mit verschiedenen „Wegen der Annäherung“ an ihre Lyrik auseinander.1 Hainz problematisiert die verschiedenen möglichen poetologischen Annäherungen an ihre Dichtung bzw. versucht sie im Rahmen der bekannten Kategorie und Diskussion Theodor Adornos über die „Dichtung nach Ausschwitz“ etwa ontologisch oder philosophisch zu kontextualisieren. Darüber hinaus wagt es Hainz, Rose Ausländers Dichtung unter Berücksichtigung der Poetologien von Peter Szondi und Jacques Derrida einzuordnen und auszulegen. Dennoch versäumt er es, ihre Dichtung in einem explizit jüdischen Zusammenhang zu betrachten und damit zu prüfen, ob weitere Erkenntnis- und Erlebnisfelder, die durch ihre Gedichte zum Ausdruck kommen, eine zusätzliche Dimension ihrer poetischen Leistung bestätigen. Aber dieses Versäumnis ist nicht untypisch in der Forschung und Rezeption von Ausländers Dichtung. Im Folgenden werden einige mögliche jüdische Annäherungen an ihre Gedichte erläutert, die alle in den jüdischen Kulturen der Bukowina des frühen 20. Jahrhunderts verankert sind. Meine Absicht ist es, eine Grundlage für jüdische Interpretationen ihrer Dichtung sowie für ihren Werdegang zu schaffen. Die Dichtung Rose Ausländers soll in den jüdischen Kulturen ihres Herkunftslandes platziert werden, um ihr dichterisches Schaffen geistig-räumlich in diesem spezifischen jüdisch-kulturellen Raum zu rahmen. Dadurch kann ihre poetische Produktivität jüdisch kontextualisiert werden als die einer der großen deutschsprachigen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts, deren Wurzeln und kultureller Hintergrund zwar in einem teilweise jüdischen Milieu liegen, dies allerdings am äußersten Rande des deutschsprachigen Europas. Inwiefern deutschsprachige Kulturproduzenten, die weit weg von den mitteleuropäischen Zentren tätig und produktiv sein konnten und auch Anerkennung als zentrale oder aber periphere Figuren in der deutschsprachigen Kulturwelt erhalten, ist eine Frage, die eng mit diesen Darlegungen verbunden ist.

1 Hainz, Martin A.: Entgöttertes Leid. Zur Lyrik Rose Ausländers unter Berücksichtigung der Poetologien von Theodor W. Adorno, Peter Szondi und Jacques Derrida, Tübingen 2008, S. 17–28.

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Meine Betrachtungen beziehen sich auf die Bukowina, das ehemalige östlichste Kronland des Habsburgerreichs. Heute liegt dieses Gebiet teilweise in der Ukraine und in Rumänien. Rose Ausländer wurde 1901 in der Hauptstadt der Bukowina, Czernowitz, geboren. Sie hat einmal die rhetorische Frage gestellt: „Warum schreibe ich?“ Eine ihrer zugespitzten vorläufigen Antworten war: „Vielleicht weil ich in Czernowitz auf die Welt gekommen bin, und die Welt ist in Czernowitz auf mich gekommen.“2 Diese Aussage reflektiert eine rhetorische und ironische Selbstverortung, die eine Ahnung oder einen Begriff der Inspiration oder der grundlegenden Orientierung des Ortes und eine geistige Einwirkung dieser einzigartigen Stadt auf sie als Dichterin vermittelt. Obwohl sie schon als junge Frau Osteuropa verließ, um in die Vereinigten Staaten auszuwandern, kehrte sie später in die Bukowina zurück und überlebte den Holocaust im Ghetto von Czernowitz, bevor sie wieder (und wieder) auswanderte. Alle Versuche, Rose Ausländer endgültig zu verorten, scheitern so letztendlich, treffen nur teilweise zu oder sind nur zu einer gewissen und begrenzten Zeit von Bedeutung. Sie hat einmal diese sich negativ auswirkende Unsicherheit ihrer Existenz allgemein knapp poetisch in dem Gedicht „Fragebogen“ folgendermaßen beschrieben: „Ich bin Untermieter/ in der Hölle.“3 In der Tat fokussiert dieser Essay einige Aspekte oder Ausdrücke des jüdischen Lebens in der Bukowina, genauer gesagt drei spezifische Teilaspekte desselben: Chassidismus, Jiddischismus (cum Diasporanationalismus) und Zionismus, sowie darauf, inwiefern Rose Ausländer sie atmosphärisch erlebte und inwiefern sie in ihrer Dichtung zum Ausdruck kommen. Es ist wichtig, diese drei einzigartigen jüdischen Phänomene zu verstehen, um Rose Ausländers Schaffen in Bezug auf die genannten Orientierungen oder Positionen jüdischen Lebens, die religiöse, linguistische, politische und soziale Aspekte manifestieren, kontextualisieren zu können. Gleichzeitig ist es praktisch unvermeidlich, sie und ihre Dichtung auch in Zusammenhang mit überraschenden Nahtstellen mit der deutschsprachigen Habsburger Kultur allgemein bzw. in Osteuropa und darüber hinausgehend zu betrachten, die ebenfalls einen Bezug zur Shoah aufzeigen. Rose Ausländer drückte dieses komplexe Gefüge in dem Gedicht „Meine Nachtigall“ poetisch und wahrscheinlich mit Hinweis auf sich selbst so aus: „…/ Sie singt das Zion der Ahnen/ sie singt das alte Österreich/ sie singt die Berge und Buchenwälder/ der Bukowina/ Wiegenlieder/…“.4

2 Ausländer, Rose: „Alles kann Motiv sein,“ in: Dies.: Gedichte und Prosa, 1966–1975, Frankfurt am Main 1984, S. 285. 3 Ausländer, Rose: „Fragebogen,“ in: ebd., S. 229. 4 Ausländer, Rose: „Meine Nachtigall,“ in: Dies.: Gedichte 1957–1965, Bd. 2, Frankfurt am Main 1985, S. 317.

Rose Ausländers Dichtung

Wie schon erwähnt, können Czernowitz und die Bukowina heute nicht mehr auf der Landkarte Osteuropas gefunden werden. In dem oben erwähnten Gedicht „Fragebogen“ schrieb Rose Ausländer in dieser Stimmung: „ Ja ich war einmal geboren/ mein Wiegenland ist tot.“5 Vielleicht kann man hier einen historischen Atlas zu Hilfe nehmen, der zeigt, wie sich die Grenzen der Donaumonarchie vom 18. Jahrhundert bis zu ihrem Zerfall während und nach dem Ersten Weltkrieg verändert haben. Auch ohne Landkarten und ohne einen Exkurs in die vergleichende Kartographie ist es durchaus legitim zu behaupten, dass die Bukowina einmal ein relativ wichtiges Zentrum deutschsprachiger Kultur war, das eine bedeutende deutsch-jüdische Literatur beherbergte. Ihre Hauptstadt Czernowitz war eine relativ kleine Stadt, die im Jahr 1910 weniger als 100.000 Einwohner zählte. Der Baedeker-Reiseführer von 1895 berichtet, dass die Bevölkerung von Czernowitz ungefähr 54.000 Einwohner betrug, von denen 16.000 jüdisch waren.6 Das Habsburgerreich erstreckte sich zu seiner Blütezeit von Böhmen über Salzburg, Südtirol in Norditalien und Triest an der Adria hinunter zur dalmatischen Küste nach Kroatien im Westen, zu Brody in Ostgalizien und Siebenbürgen in Ost-Ungarn (oder Rumänien), im Osten umfasste es ebenfalls einen relativ großen Anteil der nördlichen Balkanhalbinsel bis in deren Süden. In diesem Reich waren unterschiedlichste Nationalitäten und Ethnien vereint, die nicht immer harmonisch miteinander lebten. Das Habsburgerreich des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war bekannt für seine Nationalitätenkonflikte und ethnischen Auseinandersetzungen. In dieser Hinsicht war die Bukowina ein Mikrokosmos für das gesamte Reich, obwohl die nationalen und ethnischen Konflikte hier vielleicht weniger verbittert ausgetragen wurden als in anderen Teilen der Monarchie, im Gegensatz etwa zu Böhmen oder Galizien. Davon geht man in der Geschichtsforschung zumindest aus. Karl Emil Franzos (1848–1904), der als einer der größten Deutschnationalisten und zugleich auch als ein berühmter österreichisch-jüdischer Schriftsteller des späten 19. Jahrhunderts bekannt ist, nannte den östlichen Teil der Monarchie „Halb-Asien“, um metaphorisch dessen Status als konfliktreiche Grenzregion nicht nur zwischen Ost und West, d. h. zwischen Europa und Asien, sondern auch zwischen der Zivilisation (Europa) und der Barbarei (Asien) zu vermitteln.7 Die Stadt Czernowitz, in der Franzos aufwuchs und das deutschsprachige Gymnasium besuchte, war für ihn eine große Insel der Zivilisation mitten in der 5 Ausländer, Rose: „Fragebogen“, in: Dies.: Gedichte und Prosa, 1966–1975, S. 229. 6 Siehe http://www.ibiblio.org/yiddish/Tshernovits/baed895.htm (letzter Zugriff: 11.12.2019). 7 Siehe Gelber, Mark H.: Karl Emil Franzos, in: Hardin, James/Mews, Siegfried (Hg.): NineteenthCentury German Writers 1841–1900 (Dictionary of Literary Biography 129), Detroit und London, S. 86–91. Vgl. Ludewig, Anna Dorothea: Zwischen Czernowitz und Berlin. Deutschjüdische Identitätskonstruktionen im Leben und Werk von Karl Emil Franzos, Hildesheim

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„Barbarei des Ostens“ sowie auch Repräsentant der „heilbringenden“ deutschen Kultur im Osten. Viele von seinen Reiseberichten sowie Fiktionen bestätigen diese Ansicht. Er sah slawische und andere gegen die Germanisierung in Opposition stehende Gruppierungen, wie z. B. die osteuropäischen Chassidim, als bittere Feinde des Zivilisierungsprozesses der Menschheit an. Das kulturelle Erbe der Bukowina und Czernowitz’ galt innerhalb der deutschsprachigen Literatur als nahezu legendär und mythenhaft, während es innerhalb der jüdischen Kultur, ob zu seinem Vor- oder Nachteil sei dahingestellt, fast gänzlich verschwunden ist, trotz der Tatsache, dass bestimmte jüdische Aspekte dieser Stadt und Region in Erinnerung blieben. Die Schönheit der landschaftlichen Umgebung ist ein immer wiederkehrender Topos in der Literatur über Czernowitz, das am Pruth-Fluss in einem schönen Tal gelegen ist, das von dichten Wäldern am Fuße der wilden Karpaten umgeben wird. Rose Ausländer hat diese bewundernswerte Topographie wiederholt in ihre Dichtung einfließen lassen, so etwa im Gedicht „Pruth“ oder in „Bergpartie“: „Entrückte Landschaft eines Vogellieds/ vom Rot des Sommerodems übersprüht/ Karpartengipfel. Jede Felsfigur/ ist eine klar vollendete Skulptur.“8 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde Czernowitz für sein beeindruckendes urbanes Design, seine pompösen neuen Prachtstraßen, großflächigen öffentlichen Plätze und seine atemberaubenden architektonischen Meisterleistungen gefeiert. Es wurde sogar als „Wien des Ostens“ gepriesen. Darüber hinaus verfügte die Stadt über eine respektable deutschsprachige und österreichischjüdische Literaturproduktion. Immerhin nannten Dietmar Goltschnigg und Anton Schwab, zwei österreichische Germanisten, die Bukowina am Ende des 20. Jahrhunderts und fünfzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg „eine versunkene versunkene Literaturlandschaft“.9 Sie bezogen sich hier spezifisch auf den germanistischen Aspekt und meinten auch Paul Celan und Rose Ausländer – zwei Dichter, die das internationale Augenmerk auf Czernowitz und die Bukowina gelenkt hatten –, denn der spezifische lokale deutschsprachige und 2008; Giersch, Paula: Für die Juden, gegen den Osten? Umcodierungen im Werk Karl Emil Franzos’ (1848–1904), Berlin 2014. 8 Ausländer, Rose: Bergpartie, in: Dies.: Gedichte 1927–1956, Bd. 1, Frankfurt am Main 1985, S. 217. Vgl. Dies.: Pruth, in: ebd., S. 324. 9 Goltschnigg, Dietmar/Schwab, Anton (Hg.): Die Bukowina. Studien zu einer versunkenen Literaturlandschaft, Tübingen 1990. Vgl. Gutu, George/Motzan, Peter/Sienerth, Stefan (Hg.): Die Buche. Eine Anthologie deutschsprachiger Judendichtung aus der Bukowina, zusammengestellt von Alfred Margul-Sperber, München 2009; Goltschnigg, Dietmar: Forschungsprobleme der bukowinadeutschen Literatur, in: Gottzmann, Carola L. (Hg.): Unerkannt und (un)bekannt. Deutsche Literatur in Mittel- und Osteuropa, Tübingen 1991, S. 205–220; Werner, Klaus: Erfahrungsgeschichte und Zeugenschaft. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur aus Galizien und der Bukowina, München 2003.

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kulturelle Hintergrund, der ein Zustandekommen dieser Leistungen erst ermöglicht hatte, war ihrer Meinung nach schlicht aus dem mitteleuropäischen Bewusstsein verschwunden. Allerdings hat sich die jüdische Welt erst seit kurzem und auch da nur sehr zögerlich mit ihrem deutsch-jüdischen Erbe auseinandergesetzt, wozu sich sagen lässt, dass nach einem allgemeinen jüdischen Verständnis auch das jüdische Czernowitz keine Bedeutung im größeren jüdischen Bewusstsein (mehr) hat. Diese Behauptung entspricht ziemlich sicher den Tatsachen, obwohl sich eine starke und vielfältige jüdische Präsenz in dieser Stadt über einen längeren Zeitraum etablierte und sich ebenfalls viele spezifisch jüdische literarische und kulturelle Leistungen verzeichnen lassen. Trotzdem ist anzumerken, dass die Bukowina am Rande des jüdischen Bewusstseins liegt, oder vielleicht ist sie nicht einmal mehr da auffindbar, sondern vielmehr schon im Jenseits. Trotz wesentlicher Unterschiede kann man Böhmen und Prag – grob betrachtet – mit der Bukowina und Czernowitz als zwei verschiedene Zentren deutschsprachiger und jüdischer Literatur und Kultur vergleichen, denn beide lagen abseits der großen Zentren des deutschsprachigen Mitteleuropas, umgeben von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, die im Alltag nichtgermanische Sprachen anwandten. Prag war die Stadt, die Franz Kafka, Max Brod, Franz Werfel, Rainer Maria Rilke, Gustav Meyrink und viele andere wichtige deutschsprachige Dichter, Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle hervorgebracht hat und die regelmäßig als Prager-Deutsch-Phänomen gefeiert wurde und auch aufgrund der beeindruckenden Hochblüte ihrer deutschsprachigen Literatur eine deutsche Kulturenklave innerhalb einer tschechisch dominierten Stadt und Region bildete. Prag könnte auch eine lange Liste imposanter jüdischer Leistungen innerhalb der jüdischen Welt führen, da es als ein Zentrum rabbinischer und jüdisch mystischer Gedanken und Literatur galt, noch lange bevor es die Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts für die Prager Juden möglich gemacht hat, als Teil der deutschsprachigen literarischen und kulturellen Entwicklungen in die Moderne eintreten zu dürfen. Czernowitz war wie Prag ein Zentrum jüdisch-kultureller Aktivitäten, obwohl insbesondere sein jüdisches Erbe nicht mit dem von Prag mithalten kann und auch nur einen geringen Teil des jüdischen kollektiven Gedächtnisses ausmacht. Für diejenigen Menschen, die selbst aus Czernowitz oder der Bukowina stammen oder schlicht das deutschsprachig-jüdische Erbe der Stadt anerkennen, ist das Erbe von Czernowitz sehr wohl relevant. Hier sollte nicht ausgelassen werden, die beindruckenden dichterischen Leistungen ihres bekanntesten deutschsprachigen Dichters Paul Celan zu würdigen, dessen Dichtung innerhalb des jüdischen literarischen und kulturellen Kontexts zu interpretieren ist – dies trotz der Abneigung wie auch der Unfähigkeit der Germanistik allgemein, dies zu unternehmen.

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Meine These kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Es ist einerseits der überragenden Gestalt Paul Celans als maßgebender und vielleicht sogar wichtigster deutschsprachiger Dichter des 20. Jahrhunderts und andererseits den bedeutenden dichterischen Leistungen von Rose Ausländer, Alfred Margul Sperber, Moses Rosenkranz, Manfred Winkler, Ilana Shmueli u. a. zu verdanken, dass Czernowitz und die Bukowina einen ernst zu nehmenden und vielleicht sogar einzigartigen Platz innerhalb der deutschsprachigen Literaturund Kulturgeschichte beibehalten können. Dennoch ist Czernowitz trotz seiner historischen Bedeutung innerhalb der jüdischen Welt im Großen und Ganzen dem Vergessen anheimgefallen – mit Ausnahme ganz bestimmter jüdischer Gruppierungen, vor allem jener, die aus diesem Teil Osteuropas stammen. Am Anfang sind einige Worte zur generellen Zusammensetzung der Bevölkerung der Bukowina zu Beginn des 20. Jahrhunderts angebracht, die einerseits den unterschiedlichen kulturellen Ausdruck thematisieren und andererseits auch auf die Vielfalt der Sprachen und Kulturen eingehen. Die Bukowina sowie Czernowitz als Hauptstadt und größte Stadt der Region waren für ihre Zusammensetzung aus verschiedenen nationalen, ethnischen, sprachlichen und religiösen Gruppen bekannt. Von den 730.000 Einwohnern der Region im Jahr 1900 waren circa 40 Prozent Ukrainer (Ruthenen genannt) und 30 Prozent Rumänen, während 20 bis 25 Prozent als Deutsche oder Deutschsprachige verzeichnet waren, wobei den Großteil der letzten Gruppe Juden ausmachten, deren Muttersprache Jiddisch war. In dieser Zeit, vor mehr als hundert Jahren, galt Jiddisch nicht als offizielle selbstständige Sprache, sondern als Dialekt oder als eine jüdische Variante des Deutschen, eine Art niederer Jargon. Zudem gab es in der Stadt und Region noch kleinere Gruppierungen von Armeniern, Ungarn sowie Roma und Sinti, während Polen und Russen einer absoluten Minderheit angehörten. Da die Region von keiner dieser Gruppen dominiert wurde, waren Juden in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens toleriert bzw. mehr oder weniger akzeptiert, was dazu führte, dass sie sich überwiegend nicht marginalisiert oder diskriminiert sahen. Zu betonen aber ist die Diversität der jüdischen Seite, die eine facettenreiche Interaktion mit der nichtjüdischen, deutsch-österreichischen Kultur ermöglichte. Nachdem die Bukowina eine österreichische Provinz und österreichisches Kronland geworden war, wurde ihre politische, soziale und öffentliche Verwaltung, die zunächst von außen, danach von Czernowitz selbst koordiniert wurde, in jeder Hinsicht deutsch und auf die deutschsprachige Kultur ausgerichtet. Die Habsburger Kulturpolitik in der Region basierte auf der Idee einer schrittweisen Integration der unterschiedlichen Nationalitäten und Kulturen in die deutschsprachige österreichische Leitkultur, die ebenfalls dort verankert werden sollte. So wurde durch die Errichtung deutschsprachiger Kultureinrichtungen wie Schulen, Bibliotheken, kultureller Zirkel, einer deutschsprachigen Universität

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(die 1875 eröffnet wurde), Theater, Druckereien, einer aktiven deutschsprachigen Presse (das Morgenblatt und die Czernowitzer Allgemeine Zeitung) und Zeitschriften ein großer Umbruch gestaltet, um die Akkulturation, Assimilation und Integration unterschiedlicher nationaler und ethnischer Gruppen in die breit konzipierte und inklusive deutsch-österreichische Kultur zu fördern, darunter auch Juden. Viele Juden wurden relativ schnell in praktisch jeden dieser Bereiche integriert – Juden wirkten engagiert mit und übernahmen öfter auch Führungspositionen. Wahrscheinlich diente die jiddische Sprache als nützliche Basis dafür. Nicht alle Juden konnten für diese Entwicklung gewonnen werden, und sie blieben außerhalb oder jenseits dieser Tendenz. Obwohl die offizielle oder amtliche österreichische Vorgehensweise letztlich einen negativen Einfluss auf die Mehrsprachigkeit in Osteuropa hatte, die auch mit oder ohne das Modell der deutschsprachigen Leitkultur für viele Realität war, lebte man in der Bukowina und in vielen Teilen des Habsburgerreiches in einem mehrsprachigen, multi-ethnischen und multinationalen Umfeld, in dem trotz allem Diversität und Mehrsprachigkeit die Regel war. Das Gesamtbild an seiner Oberfläche betrachtend und sich ausschließlich auf Statistiken stützend, ist es manchmal nicht einfach bzw. kaum möglich, die jüdischen von den deutschen Komponenten des Kulturgefüges in der Bukowina zu trennen. Man darf nicht vergessen, dass viele sehr enthusiastische deutsche Nationalisten des Habsburgerreiches im 19. Jahrhundert Juden waren, die aus Osteuropa stammten. Eine der bedeutendsten Kultur- oder LiteraturFiguren in diesem Zusammenhang war Karl Emil Franzos, der schon bei der Begriffsprägung „Halb-Asien“ erwähnt wurde. Ein Großteil seiner literarischen Produktion, ob belletristisch, politisch oder anderweitig, kann als Berufung zur Verbreitung der deutschen Kultur in Osteuropa gesehen werden. Diese kulturpolitische und kolonisierende Absicht ist bei ihm als eine quasi-heilige Aufgabe zu verstehen. Franzos verleugnete seine jüdischen Wurzeln nicht und beteiligte sich gelegentlich an den Aktivitäten der jüdischen Gemeinde, besonders nachdem er in Wien und anschließend Berlin wohnhaft geworden war. Seine wahre Leidenschaft war jedoch die deutsche Kultur in all ihren Ausdrücken und Formen, denn er betrachtete sie als die führende authentische Weltkultur der Zukunft. Mit dem Aufstieg des modernen Antisemitismus am Ende des 19. Jahrhunderts und den damit verbundenen Versuchen, Juden aus deutschnationalen Gesinnungsgemeinschaften auszuschließen, wurde Franzos genau aus jenem Lager gedrängt, für das er sich zuvor so stark engagiert hatte. Dennoch konnten sich viele Juden akkulturieren und in die deutschsprachigen Gemeinden der Bukowina und von Czernowitz integrieren, sodass sie auch vom Zugang zu deutschsprachiger Erziehung und zu Arbeitsplätzen im öffentlichen Bereich sowie im Geschäftsleben profitieren konnten. In vielen Fällen bedeutete dieser Erfolg aber nicht automatisch die Abwendung von der

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jüdischen Gemeinde und der jüdischen Identität, da viele Juden versuchten, ihre deutschen und jüdischen Zugehörigkeiten aufeinander abzustimmen, um gleichzeitig in beiden Welten zu leben, sofern dies möglich war. Um kurz auf einige vor allem in der Bukowina und in Czernowitz auftretende besondere jüdische Lebensweisen einzugehen, möchte ich jene jüdischen Ausdrucksweisen und Orientierungen hervorheben, die im Gegensatz zur deutschen oder österreichischen Variante bestanden oder als Alternative zur deutschsprachigen Leitkultur existierten. Diese drei waren wie schon erwähnt: Chassidismus, Jiddischismus (und Diasporanationalismus) und Zionismus. Inwiefern eine deutschsprachige jüdische Dichterin wie Rose Ausländer Aspekte dieser drei verschiedenen jüdischen Orientierungen in ihre Dichtung integrierte, ist ein Schwerpunkt dieses Essays, denn diese Dimensionen ihrer Schriften sind in der Sekundärliteratur über sie praktisch unbekannt. Obwohl die Bukowina keineswegs als eines der Zentren des Chassidismus bezeichnet werden kann, rühmte sie sich zumindest, zwei große und wichtige chassidische Strömungen zu beherbergen, die bis heute im Judentum weit bekannt, aber in der Bukowina nicht länger verortet sind. Auch sind sie nicht mehr mit diesem spezifischen Ort assoziiert. Die eine ist Sadagora, die andere Wischnitz – beide nach Ortschaften benannt, wo sich die charismatischen chassidischen Rebbes und ihre jeweiligen Anhänger aufhielten.10 Paul Celan hat einmal gespöttelt, dass er aus „Czernowitz nahe Sadagora“ komme,11 als wollte er ironisch andeuten, Sadagora sei durch sein starkes chassidisches Leben geprägt und sei allgemein bekannter als Czernowitz selbst. Aber im Chassidismus ist dies keine Ironie, sondern eher die schlichte Wahrheit. Chassidische Strömungen sind meistens nach Ortschaften oder Städten benannt, in denen ihre geistigen Oberhäupter –ihre Rebbes –wirkten; allerdings behielten diese nach der Umsiedelung durch den Holocaust oder durch andere historische Umwälzungen ihre osteuropäischen Namen bei. Sowohl Wischnitz als auch Sadagora spielten im jüdischen Leben der Bukowina eine wichtige Rolle und haben diese weltweit auch noch jetzt inne, trotz ihrer Verschiebung und teilweisen Zerstörung während des Holocausts. 10 Celan, Paul: Eine Gauner- und Ganovenweise Gesungen zu Paris Empres Pontoise von Paul Celan aus Czernowitz bei Sadagora, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 1, Frankfurt am Main 1986, S. 229. Vgl. Corbea-Hoisie, Andrei/Rudell, Alexander (Hg.): „Czernowitz bei Sadagora“: Identitäten und kulturelles Gedächtnis im mitteleuropäischen Raum. (Jassyser Beiträge zur Germanistik 10), Jassy und Konstanz 2006. 11 Die Rebben und Zentren der Chassidim von Sadagora und Wischnitz befinden sich heutzutage in Israel, in Tel Aviv und in Bnei Brak aber auch anderswo im Land. Eigentlich sind Wischnitzer Chassidim heute weltweit an mehr als einem Ort anwesend, z. B. auch in Wien. In Israel ist Wischnitz für seine Bäckerei landweit bekannt. Siehe Abbildung 1, das Packpapier der Wischnitzer Bäckerei in Bnei Brank.

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Abb. 1: Packpapier der Wischnitzer Bäckerei in Bnei Brak.

Rose Ausländer verweist gelegentlich auf Sadagora, z. B. in ihrem Gedicht „Sadagora Chassid“: „Achtzigjähriger Greis/ sein Bart betete weiß auf der

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Brust“.12 Das mystisch-religiöse, strikt oder extrem orthodoxe, an der Thora und Halacha orientierte, jiddischsprachige jüdische Leben, das vom SadagoraRebben geschützt und gefördert wurde, war ein Gräuel für Franzos und seinesgleichen. Es wurde aber von vielen, ja von Tausenden frommen Juden als erwünschtes und erstrebenswertes Leben angesehen, weil sie dadurch einen Weg sahen, Gott zu dienen. Es garantierte auch den Weiterbestand einer authentischen, traditionellen und besonderen jüdischen Existenz in den nachfolgenden Generationen. Einige spezifisch chassidische Aspekte dieser Lebensform beinhalten den Glauben an die Zauberkräfte des Rebben und seine einzigartige Nähe zu Gott, die Anerkennung der Autorität des Rebben und die Abhängigkeit von seiner Gegenwart, um seine Weisheit und seinen Segen empfangen zu können, was ebenso das Befolgen eines bestimmten Gebetsrituses, der vom Rebben bestimmt wird, und fröhliche Gesänge, Händeklatschen und Tanzen umfasste sowie das Tragen einer traditionell chassidischen Tracht. Das Befolgen seiner Vorschriften kam zusätzlich zu der strikten Einhaltung zahlreicher Gebote und dem Festhalten an Richtlinien (jeweils nach chassidischem Brauch), die Teil des ultraorthodoxen jüdischen Lebens sind und auch von Juden befolgt werden, die keine Chassidim sind, wie etwa die Einhaltung der Sabbatgesetze oder die Befolgung der Speisegesetze, die Reinheitsgesetze der jüdischen Ehe und Familie, das Eintauchen in die Mikwe, was bei Chassidim auch für Männer erforderlich ist, und vieles mehr. Viele große deutschsprachige jüdische Schriftsteller vermittelten die Lehren und das Leben bzw. den mystischen Geist der Chassidim in den Westen, u. a. Martin Buber, Joseph Roth und Nelly Sachs. Im Gegensatz zu Franzos und seinesgleichen sind ihre Darstellungen und Charakterisierungen des chassidischen Lebens und Glaubens nicht ausschließlich negativ, im Gegenteil sind sie sogar empathisch und positiv. Es überrascht also nicht, Spuren des Chassidismus in der Dichtung Rose Ausländers zu finden. Sie erwähnt z. B. den „Baal Schem Tov“, den Begründer des Chassidismus im 18. Jahrhundert, in ihrem Gedicht „Wenn“ im Gedichtband Ohne Visum (1974). So ist sogar der Titel ihres Gedichtbandes 36 Gerechte (1967) eine Anspielung auf das mystische Konzept, das der Chassidismus aufgenommen und verbreitet hat, der 36 verborgenen Gerechten, der sogenannten „Lamed Vavnikim“, die über die Welt verstreut sind. Die hebräische Bezeichnung für die Zahl 36 ist „Lamed Vav“. Ohne ihre Existenz würde die Welt nicht weiter bestehen können, heißt es. Neben dem Chassidismus war der Jiddischismus die zweite speziell jüdische Variante oder Auslegung, die sich in der Bukowina und Czernowitz deutlich 12 Ausländer, Rose: „Sadagora Chassid“, in: Dies.: Gedichte 1957–1965, Bd. 2, S. 319. Vgl. Ausländers Gedicht „Sadagora/ Hof des Wunderrabbi...“, in: Dies.: Gedichte 1983–1987, Bd. 7, Frankfurt am Main 1988, S. 332.

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herausgebildet hatte. Dieser ist oft von verschiedenen Beobachtern mit jüdischem Diasporanationalismus verbunden worden, für den Czernowitz ein größeres Zentrum darstellte. Aber de facto kann und konnte der Jiddischismus ohne den Diasporanationalismus bestehen. Im Chassidismus wird Jiddisch normalerweise als Alltagssprache verwendet. Darüber hinaus entstand auch im Chassidismus eine umfassende jiddischsprachige Literatur, vor allem über die phantastischen Episoden und Abenteuer im Leben des Rebben, chassidische Märchen von Glauben und Drangsal und vom Rebben verfasste Weisheitsliteratur als auch Hagiographien, die den Rebben lobpreisen, während Hebräisch für eher streng religiöse Studien und andere rituelle Handlungen verwendet wurde. Die Chassidim waren keine Jiddischisten im eigentlichen Sinne, da sie das Jiddische an sich nicht zu ihrer Ideologie gemacht hatten. Der Jiddischismus förderte die jiddische Sprache und Kultur als eine Form jüdischen Lebens und jüdischer Identität, er ist eher als säkulare Bewegung zu verstehen – und Czernowitz war bestimmt eines der frühen Zentren des Jiddischismus in Osteuropa. Aber dieser Rolle von Czernowitz wird selten gedacht, wenn, dann meistens von Sprachwissenschaftlern des Jiddischen, weil der erste Weltkongress für Jiddisch im Jahre 1908 in Czernowitz abgehalten wurde. Die Stadt hatte einen wichtigen Platz auf der Landkarte der weltweiten jiddischen Kultur, in der es jiddische Zeitungen, Zeitschriften, Verlage, Theater und Schulen gab, die alle der Sache des Jiddischismus dienten. Einer der größten jiddischen Dichter des 20. Jahrhunderts, Itzik Manger, wurde 1901 in Czernowitz geboren, also im selben Jahr wie Rose Ausländer. Er besuchte in seinen ersten Lebensjahren den Cheder, d. h. einen religiösen jiddischsprachigen Kindergarten und eine entsprechende Volksschule, wechselte aber bald in eine deutschsprachige Schule und inskribierte sich dann in ein deutschsprachiges Gymnasium. Tatsächlich schrieb er seine ersten dichterischen Versuche auf Deutsch, entsprechend der österreichischen Kulturpolitik, die Deutsch gegenüber anderen Sprachen und Kulturen bevorzugte, um diese auf diesem Wege in die deutschsprachige Gemeinschaft zu integrieren. Aber wie auch Rose Ausländer wurde er mit seiner Familie aufgrund der Kämpfe des Ersten Weltkriegs aus seinem Lebensumfeld gerissen und zog nach Jassy in Rumänien, wo sich sein Interesse für Jiddisch verstärkte – im Gegensatz zu Rose Ausländer, die nach Wien zog, was ihre Beschäftigung mit einem deutschsprachigen Milieu sowie der deutschsprachigen Literatur förderte. Diese ortsbedingten Erklärungen stellen sicherlich Vereinfachungen einer komplexen Realität dar. Manger entschloss sich in der Folge, sich ganz dem Jiddischen zu widmen, und wurde zu einem berühmten jiddischen Schriftsteller und Dichter. So veröffentlichte er frühe Gedichte in der jiddischen Zeitschrift Kultur in Czernowitz. Aber seine Rastlosigkeit oder Wanderlust zusammen mit anderen Motivationen bewogen ihn dazu, seine erste Heimat – die Bukowina – zu ver-

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lassen, und er verbrachte den Großteil seines späteren Lebens in Deutschland, Polen, Frankreich, England, den USA und zum Schluss Israel. Trotz oder gerade wegen seines permanenten Umherziehens und seiner Heimatlosigkeit wurde er als der große reisende Troubadour des Jiddischen im 20. Jahrhundert gefeiert.13 Es ist zu erwähnen, dass Mangers ästhetische Leistungen vor allem auf der Fähigkeit basieren, die Einfachheit jüdischer Volksmärchen mit den anspruchsvollen poetischen Strukturen und Mustern der deutschsprachigen klassischen und romantischen Gedichte (wie z. B. Goethes Balladen) zu verbinden. Diese Kombination wurde jedoch von Mangers großer jiddischsprachiger Leserschaft nicht immer erfasst oder geschätzt. Es scheint, dass auch Rose Ausländer die jiddische Sprache, wenn nicht sogar den Jiddischismus geschätzt hat. Sie hat mehrere Gedichte von Itzig Manger aus dem Jiddischen ins Deutsche übersetzt,14 was in der Forschung über sie bislang kaum wahrgenommen wurde. In einem kurzen autobiographischen Prosastück mit dem Titel „Alles kann Motiv sein“ lobt sie Czernowitz dafür, Itzik Manger, den in ihren Worten „wichtigsten jiddischen Dichter aller Zeiten“, hervorgebracht zu haben.15 Sie nennt Czernowitz auch die Wahlheimat des genialen Erfinders der jiddischen Fabel, Elieser Steinbarg. Obwohl seine Werke in ein halbes Dutzend europäischer Sprachen übersetzt wurden, kennt man ihn außerhalb eines Experten- und Liebhaberkreises des Jiddischen kaum. Rose Ausländer nennt einmal Kafka ihre Inspirationsquelle, ohne dies aber näher zu erläutern; vermutlich steckt Kafkas Faszination für das Jiddische oder seine Liebe zum Jiddischen teilweise hinter dieser Inspiration. In der Tat weiß man zu wenig über Rose Ausländers Beziehungen zur jiddischen Sprache, aber man darf vermuten, dass es hier noch viel zu entdecken gibt. Über die Verbindung zwischen der Bukowina und bestimmten jiddischsprachigen Schriftstellern oder zwischen Rose Ausländer und Itzik Manger geht die Tatsache hinaus, dass die erste internationale Konferenz zur jiddischen Sprache im Spätsommer 1908 in Cernowitz stattfand: „Di konferents far der yidisher sprakh“. Die Absicht, diese internationale Konferenz zum Jiddischen abzuhalten, galt dem Wunsch, Jiddisch als Weltsprache zu fördern. Es wurden verschiedene Themen einbezogen und debattiert, wie etwa linguistische Probleme, z. B. die Orthographie und Grammatik, aber auch der Status des jiddischen Theaters und der jiddischen Presse sowie Übersetzungsprojekte, durch die ein weiteres Augenmerk auf das Jiddische gelenkt werden sollte. Das 13 Vgl. Liptzin, Sol: The Maturing of Yiddish Literature, New York 1970, S. 232–238; Beer, Helen: Itsik Manger, in: Kirbel, Sorrel (Hg.): Jewish Writers of the Twentieth Century, New York und London 2003, S. 353–355. 14 Vgl. Ausländer: Gedichte 1927–1956, Bd. 1, S. 311–316. 15 Ausländer, Rose: „Alles kann Motiv sein“, in: Dies.: Gedichte und Prosa 1966–1975, S. 285.

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Hauptanliegen der Konferenz war die Verabschiedung einer Resolution, die Jiddisch als Nationalsprache des jüdischen Volkes deklarieren sollte. Es nahmen etwa siebzig Personen an der Konferenz teil, unter anderem hervorragende jiddische Schriftsteller wie Peretz, Reisen, Asch und H. D. Nomberg – und die Konferenz stellte einen Meilenstein in der Entstehung des modernen jüdischen Bewusstseins dar.16 Eine der faszinierendsten jüdischen Persönlichkeiten seiner Zeit war der Hauptorganisator dieser Konferenz: Nathan Birnbaum. Er hatte den Begriff „Zionismus“ geprägt und ebnete den Weg für die zionistische Bewegung lange vor Herzl, bevor er diese zugunsten des Jiddischismus und des jüdischen Diasporanationalismus hinter sich ließ.17 Er war ein paar Jahre zuvor nach Czernowitz gezogen, gerade um die Anliegen des Jiddischismus und des jüdischen Diasporanationalismus voranzutreiben, und nutzte die Stadt als Rahmen und als Ausgangspunkt für seine Aktivitäten. In seiner „Efenungs-rede af der konferenz far der yidisher shprakh“ fragte Birnbaum: Warum, darf man fragen, wenn andere Völker mehrere Sprachen vermischen, um aus dieser Sprachmischung eine eigene Sprache zu schaffen, die ihre einzigartige Seele besitzt, wird dann diese Sprache als unabhängige Sprache legitimiert und respektiert? Aber wenn die Juden dasselbe mit Deutsch, Hebräisch und slawischen Sprachen schaffen, wird es als Jargon abgelehnt und verspottet?18

Aus Berichten über die Konferenz weiß man, dass einige Teilnehmer vom spezifischen Veranstaltungsort und von dessen Potenzial für das Vorantreiben der jiddischen Sprache als Zeichen des jüdischen Volkstums oder der jüdischen Nationalität begeistert waren. Ein Vertreter der klassischen jiddischen Literatur, der große jiddische Schriftsteller Jitzhak Leib Peretz, sagte bereits auf der Konferenz: 16 Vgl. Goldsmith, Emanuel S.: Architects of Yiddishism at the Beginning of the Twentieth Century, Rutherford, Madison und Teaneck 1976, S. 99–119; Bass, Hyman: The First Yiddish Language Conference (1908), in: Landis, Joseph C. (Hg.): The Life and Times of Yiddish: Studies in the Past and the Present of the Language, Flushing NY 2000, S. 219–227; vgl. http:// www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Czernowitz_Conference (letzter Zugriff: 11.12.2019). 17 Vgl. Fishman, Joshua A.: Identity, Society and Language. The Odyssey of Nathan Birnbaum, Ann Arbor 1987; Wistrich, Robert S.: The Clash of Ideologies in Jewish Vienna (1180–1918): The Strange Odyssey of Nathan Birnbaum, in: The Yearbook of the Leo Baeck Institute XXXIII (1988), S. 201–230; Gelber, Mark H.: Nathan Birnbaums Diasporakonzeptionen, in: Diaspora – Exil als Krisenerfahrung. Jüdische Bilanzen und Perspektiven, Zwischenwelt 10 (2006), S. 52–66. 18 Birnbaum, Nathan: Opening Address at the Conference for the Yiddish Language, http:// www.ibiblio.org/yiddish/Tshernovits/birnbaum-op.html (letzter Zugriff: 09.01.2020). Die ursprüngliche jiddische Fassung erschien 1908: „Efenungs-rede af der konferents far der yidisher sprakh“, D’r birnboyms vokhnblat, 1908, no. 1, S. 8.

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Und der beste Ort für unser Zusammentreffen war hier in der Bukowina, insbesondere ihre Hauptstadt Czernowitz. Bürger mehrerer Nationalitäten, die verschiedene Sprachen sprechen, wohnen hier nebeneinander, was uns erleichtert, unsere Arbeit in unserer Sprache zu leisten. Wir spazieren abends durch die Straßen und von den Fenstern strömen die Klänge der verschiedenen Sprachen, verschiedener Varianten von Volkmusik. Wir wollen unsere eigenen Fenster! Unser eigenes Motiv in der Volkssymphonie. Wir wollen nicht länger zersplittert werden. Wir sind ein Volk… und seine Sprache ist Jiddisch!19

Die dritte jüdische Option in der Bukowina, die eine Alternative zur deutschen bzw. österreichischen Akkulturation und Integration darstellte, war der Zionismus, eine Bewegung, die die Schaffung einer stolzen jüdischen Nation zum Ziel hatte. Dies sollte durch ein wachsendes nationales Bewusstsein sowie die Erschaffung einer jüdischen Heimstatt oder eines kulturellen Zentrums, vielleicht auch durch ein politisches Staatswesen im Lande Israel geschehen. Adolf Gaisbauer dokumentiert in seinem Buch Davidstern und Doppeladler den Anstieg von jüdischem Nationalismus und Zionismus in der Bukowina, wobei er sich vor allem auf die organisatorische Entwicklung, die Struktur der Bewegung und die rasche Vermehrung zionistischer Clubs und Organisationen wie auch Studentenverbindungen, Jugendgruppen, Männer- und Frauenvereine, akademischer Clubs und Sportclubs, Auswandererorganisationen usw. konzentriert.20 In einer Fußnote verfolgt Gaisbauer die zionistische Karriere von Josef Samuel Bierer, der zu einem der führenden Zionisten der Bukowina wurde. Der Fall Bierers stellt ein beispielgebendes Paradigma des wachsenden Einsatzes eines Einzelnen für den Zionismus dar. Bereits als Schüler des Czernowitzer Gymnasiums wurde Bierer ein jüdischer Nationalist. Er war maßgeblich an der Initiierung und Führung einer der ersten jüdisch-nationalen Organisationen beteiligt, wie etwa der jüdisch-nationalen Burschenschaft Hasmonea. Als Student in Wien wurde er Mitglied der Kadimah, der ersten und bekanntesten jüdisch-nationalen Universitätsverbindung, deren Vorsitzender er später wurde. Er war eine jener Personen, die sich dafür einsetzten, Kadimah zu einer „schlagenden“ oder „duellierenden“ Verbindung zu machen, um seine Mitglieder wehrfähig und satisfaktionsfähig zu machen; d. h., wenn Juden von Antisemiten angegriffen wurden, sollten sie die jüdische Ehre verteidigen können. So 19 Peretz, I. L.: Speech at the 1908 Czernowitz Language Conference, http://www.ibiblio.org/ yiddish/Tshernovits/peretz.html (letzter Zugriff: 09.01.2020). Die ursprüngliche jiddische Fassung erschien auch in: D’r birnboyms vokhnblat, 1908, no. 2. 20 Gaisbauer, Adolf: Davidstern und Doppeladler. Zionismus und jüdischer Nationalismus in Österreich 1882–1918, Wien, Köln und Graz 1988, S. 68–70.

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antiquiert es heute klingen mag, für viele jüdische Studenten um 1890 war dies von gravierender Bedeutung, denn sie wurden regelmäßig von antisemitischen, deutschnationalen Burschenschaftern dazu gezwungen, die Vorlesungssäle der Universität zu verlassen. Bierer schloss sein Medizinstudium in Wien ab und kehrte in die Bukowina zurück, um dort in Radautz als Arzt zu arbeiten. Er wurde in den Stadtrat gewählt und belebte auch die dortigen zionistischen Organisationen wieder. Als die Bukowina zum ersten Mal als Wahlkreis oder Bezirk der österreichischen Zionisten und später von der weltweiten zionistischen Organisation anerkannt wurde, konnte Bierer in die Bezirksvertretung gewählt werden und vertrat die Bukowina auch bei mehreren zionistischen Weltkongressen. Schließlich floss seine Energie in die Stärkung des Hebräischen, sowohl innerhalb des Zionismus als auch innerhalb der gesamten jüdischen Welt. Er war Mitglied der Vertretung des hebräischen Sprachverbandes „Safa Berura“ und wurde Präsident des hebräischen Schulrates der Bukowina.21 Das klassische Argument der Hebräisten war, dass Hebräisch sowohl für die jüdische Authentizität und das jüdische Selbstverständnis als auch für nationale Zwecke wichtig sei. Die Zionisten erkannten ganz pragmatisch, dass sie Jiddisch als sprachliches Medium nicht zurückweisen konnten, wenn sie ihre Botschaft an die Massen der osteuropäischen Juden (oder weltweit) weitergeben wollten, die durch den Gebrauch des Jiddischen vernetzt waren. Die Bewegung, die sich für das moderne Hebräische stark machte, war zahlenmäßig sehr klein, fand aber im Zionismus naturgemäß ihren Partner (wie auch der Diasporanationalismus in Osteuropa seinen Partner im Jiddischen fand). Aharon Appelfeld (1932–2018), einer der großen hebräischen Schriftsteller der letzten Generation, stammte ebenfalls aus der Bukowina und hat dieser Region und Czernowitz in seinen Romanen ein ewiges Denkmal in hebräischer Sprache gesetzt. Er war zu jung, um sich in den Zionismus und Hebräismus wirklich vertiefen zu können, bevor der Holocaust über sein Leben und das seiner Familie katastrophal hereinbrach. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg und Jahre nachdem er nach Jerusalem gekommen war, beschloss er, auf Hebräisch zu schreiben, d. h. hebräischer Schriftsteller zu werden. Nichtsdestoweniger zeugen in seinen Romanen der Fluss Pruth, dessen Wasser gewaltig durch das Flussbett rauschen, die hohen schneebedeckten Berggipfel in der Ferne, die dunklen Bäume wie auch das Sprachgemisch, das er auf Hebräisch als „teils Deutsch, teils Jiddisch, teils Ruthenisch“ (z. B. in seinem Roman El Eretz HaGomeh/ ‫ )אל ארץ הגומה‬beschreibt, von dem osteuropäischen Erbe der Bukowina in der modernen hebräischen Dichtung.22 21 Ebd., S. 71, Fußnote 79. 22 Appelfeld, Aharon: ‫( אל ארץ הגומה‬Kinneret), Zmora-Bitan 2009; To the Land of the Cattails, übersetzt von Jeffrey M. Green, New York 1986, S. 42.. Vgl. Sokoloff, Naomi B.: Aharon

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Mir scheint es wichtig zu betonen, dass hebräische Anleihen und zionistische Perspektiven typische Merkmale der deutschsprachigen Bukowina-Literatur sind. Besonders stark treten sie im Werk von Paul Celan, aber eben auch bei Rose Ausländer hervor, was in der Sekundärliteratur über sie bislang kaum wahrgenommen wurde. Ihr Gedicht „Le Cháim“ (Hebräisch „Auf das Leben“) thematisiert die Mühsal des jüdischen Wanderns, des Exils und der Aus- und Einwanderer, die mit traditionellen jüdischen Sabbatgästen verglichen werden. Das Gedicht gehört der bekannten Gattung der jüdischen Ahasvergedichte an.23 Ihr Gedicht „Israel I“ endet mit dem stark zionistisch angehauchten Vers: „Wir pflanzen Zedern/ Wir hoffen auf/ Anfang.“24 Im Gedicht „Israel II“ ist das zionistische Motiv des Zurückgehens nach Zion sowie des Aufbaus und Aufblühens des Landes Israel betont: „Zurück/ ins zukünftige/ Meinland Deinland… Komm/ ins Zurück/ die Stacheln grünen…“25 Oder in ihrem Gedicht „Phönix“: Phönix mein Volk das verbrannte auferstanden unter Zypressen und Pomeranzen Honig Von bitteren Bienen Salomos Lied Die uralte Landschaft Hügelbeflügelt Im Echo jerusalemneu …26

23 24 25 26

Appelfeld, in: Sicher, Efraim (Hg.): Holocaust Novelists (Dictionary of Literary Biography 299), Detroit und New York 2004, S. 17–30. Ausländer, Rose: „Le Cháim“, in: Dies.: Gedichte und Prosa 1966–1975, Bd. 3, S. 72. Ausländer, Rose: „Israel I“, in: Dies.: Gedichte 1957–1965, Bd. 2, S. 338. Ausländer, Rose: „Israel II“, in: Dies.: Gedichte und Prosa 1966–1975, Bd. 3, S. 244. Ausländer, Rose: „Phönix“, in: ebd., S. 222.

Rose Ausländers Dichtung

Ausdrücke jüdischer Solidarität und nationaler Identität, die durch Verweise auf das Biblische („Salomos Lied/ Die uralte Landschaft“), aber auch auf das Shoah-Verwandte („mein Volk/ das verbrannte“) deutlich werden, sowie das Versprechen eines nationalen Wiederauferstehens („jerusalemneu“) schwingen hier kraftvoll in eindeutig zionistischen Formulierungen mit. Zum Schluss darf folgendermaßen zusammengefasst werden: Die Juden, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Bukowina allgemein oder ganz spezifisch in Czernowitz gewohnt haben, lebten unterschiedliche Versionen jüdischer Existenz, sowohl was die religiösen als auch was die kulturellen Ausrichtungen betrifft. Die Option, die deutsche Kultur zu adaptieren, schien vielen Juden auf die Dauer am aussichtsreichsten und war bis zu einem gewissen Ausmaß logisch und lebbar – wie auch für Rumänen, Ruthenen und andere aus dieser Region stammende ethnische Gruppen ihre eigenen religiösen und volkstümlichen Orientierungen praktisch realisierbar blieben. Während die Shoah die Auslöschung jüdischen Lebens in Osteuropa bedeutete und dem Jiddischismus sowie dem jüdischen Diasporanationalismus den Todesstoß versetzte, konnte der Chassidismus nicht ausgelöscht werden – wohl aber wurde er zahlenmäßig dezimiert und seine Zentren wurden in andere Regionen verschoben, manchmal sehr weit weg von Osteuropa oder Europa überhaupt. Auch der Zionismus konnte nicht ausgelöscht werden. Im Gegenteil, das Schicksal der Juden in Osteuropa schien die Lehren des Zionismus zu bestätigen, was ihm gewissermaßen Glaubwürdigkeit bei jenen verlieh, die seine Botschaft zuvor abgelehnt hatten. Durch mein Augenmerk auf Chassidismus, Jiddischismus und Zionismus möchte ich keineswegs den Anschein erwecken, dass es keine anderen Formen religiöser und kultureller Identifikation bei Juden in Osteuropa gegeben hätte. Reformjudentum, Sozialismus, jüdische und zionistische Varianten des Sozialismus, jüdischer Nationalismus, der betont antizionistisch war, jüdischer Diasporanationalismus auf Jiddisch und der Hebräismus (ohne Zionismus) sind nur einige der Möglichkeiten, die erwähnt werden können. Es wird auch nicht behauptet, dass diese verschiedenen jüdischen Gruppierungen in Eintracht miteinander lebten, bestanden doch oft bittere Rivalitäten, Auseinandersetzungen und Konflikte innerhalb der größeren jüdischen Gemeinschaft und sogar innerhalb der einzelnen Strömungen. Dennoch kann es im Versuch, Rose Ausländer in diesem besonders diversen, aber auch komplexen linguistischen, kulturellen und religiösen Umfeld zu positionieren, nur von Nutzen sein, ihre besondere dichterische Leistung derart anders und vielleicht auch besser zu verstehen.

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Alfred Bodenheimer

Die Fähigkeit zu lachen Jüdischer Humor ohne Juden in der deutschen Nachkriegsgesellschaft

Die Beschäftigung mit „Übersetzung als methodisch-theoretischer Kategorie in den Jüdischen Studien“1 zählte zu den zentralen Forschungsthemen von Petra Ernst. Dabei genoss insbesondere die jüdische Literatur der Donaumonarchie und ihre vielfältige Anwendung transnationaler und transkultureller Übersetzung ihr Interesse. Es ist demzufolge auch im Sinne einer Fortführung von Petras Fragestellungen einzuordnen, wenn hier an drei Beispielen, einer Autorin und zwei Autoren, die aus unterschiedlichen Teilen der Donaumonarchie bzw. ihrer Nachfolgestaaten stammten, dargelegt wird, wie einer der komplexesten Übersetzungsversuche der Nachkriegszeit gelesen werden kann, nämlich das Übermitteln eines in ihrem Verständnis jüdischen Humors in die Sprache und Wahrnehmung jener, in deren Namen nur wenige Jahre zuvor das Judentum Europas zu großen Teilen vernichtet worden war. Es sei hier deshalb zurückgegriffen auf Überlegungen, die das Vermitteln eines solchen ‚jüdischen Humors‘ in einem Land ohne Juden insbesondere vor dem Hintergrund der zeitgenössisch viel rezipierten, von Alexander und Margarete Mitscherlich verfassten Unfähigkeit zu trauern zum Thema haben.2 Dabei wird sich zeigen, dass (kulturelles wie sprachliches) Übersetzen nach dem Holocaust durchaus ambivalente Folgen hinsichtlich einer intendierten oder imaginierten Versöhnungsfunktion haben konnte. Als Ephraim Kishon im Januar 2005 in seiner Wahlheimat der letzten Jahre, dem schweizerischen Appenzell, starb, war dies auch der deutschen Politik ein Wort des Gedenkens wert. Im Spiegel wurde Christina Weiss, die damalige Staatsministerin für Kultur, zitiert: „Er war ein Entwicklungshelfer im besten Sinne, der vielen Deutschen half, ihre antisemitischen Verblendungen zu überwinden.“ Die Deutschen hätten durch ihn gelernt, wieder gemeinsam mit den

1 Ernst, Petra: Übersetzen und jüdische Kulturen – eine Annäherung, in: Ernst, Petra/Hahn, Hans-Joachim/Hoffmann, Daniel/Salzer, Dorothea (Hg.): trans-lation – trans-nation – transformation. Übersetzen und jüdische Kulturen, Innsbruck [u. a.] 2012, S. 13–37, hier S. 15. 2 Der Aufsatz basiert auf meinem Vortrag zur Tagung „‚Die Unfähigkeit zu trauern‘ – Ambivalenz und Aktualität. 50 Jahre danach“, Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, 1.12.2017.

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Juden zu lachen.3 Das legt zunächst einen Beitrag des israelischen Satirikers zu einem Prozess von Versöhnung nahe, der, führt man den Gedanken von Weiss fort, im 21. Jahrhundert unter anderem deshalb in einem Stadium größerer Fortgeschrittenheit sei, weil seit den sechziger Jahren jemand wie Kishon sich darum verdient gemacht habe. Die Frage ist allerdings, ob an dieser Aussage, genauer genommen, irgendetwas stimmt. Dabei soll gar nicht erst die Frage gestellt sein, ob man Kishon mit dieser Beschreibung als „Entwicklungshelfer“ gerecht wird – denn sie insinuiert zunächst, dass er selbst vom Bestreben geleitet worden wäre, die Deutschen weniger antisemitisch zu machen. Das mag insofern der Fall gewesen sein, als er sich eine vor allem pointierter proisraelische Haltung der Deutschen wie aller westlichen Nationen gewünscht hätte – aber im Wesentlichen war der Erfolg in Deutschland für ihn als ungarischen Shoah-Überlebenden nebst einer finanziellen wohl vor allem eine persönliche Genugtuung. Die Fragen, ob Kishons Satiren den Deutschen geholfen haben, ihre antisemitischen Verblendungen zu überwinden und ob tatsächlich Juden und Deutsche dank Kishon gemeinsam gelacht haben, sollen in der Folge etwas vertiefter angeschaut und kontextualisiert werden. In seinem unlängst erschienenen Artikel über Kishons immensen Erfolg auf dem deutschen Buchmarkt zwischen den sechziger und achtziger Jahren hat Gabriel N. Finder wesentliche Punkte bereits hervorgehoben.4 Auch verweist er darauf, dass die Entdeckung dessen, was im weiteren Sinne als jüdischer Humor bezeichnet werden kann, und dessen kommerzieller Erfolg im Nachkriegsdeutschland seinen Anfang nicht mit Kishon nahmen, sondern mit dem 1960 erschienenen Buch Der jüdische Witz der 1911 im österreichisch-ungarischen Teil Galiziens geborenen Salcia Landmann. Auf dieses Buch soll hier der Fokus gerichtet und Kishons Wirkung gleichermaßen im Nachgang betrachtet werden. Landmanns Buch erlebte zwar keine Auflagenstärke wie insgesamt die Bücher Kishons, der allein im deutschen Sprachraum weit über 30 Millionen Exemplare seiner Werke verkaufte, aber es war als Einzelwerk mit unzähligen Auflagen und innerhalb von zwanzig Jahren über 800.000 verkauften deutschen Exemplaren dennoch zweifellos ein Bestseller. Dass insbesondere in jüdischen Kreisen das Werk der 1911 im zur Donaumonarchie gehörenden Galizien geborenen, aber schon vor dem Ersten Weltkrieg mit den Eltern in die Schweiz gekommenen Landmann nicht auf ungebrochenen Beifall stieß, ist hinlänglich

3 „Ein Genie des Humors“. Ephraim Kishon gestorben, in: Spiegel online, 30.1.2005, http://www. spiegel.de/kultur/literatur/ephraim-kishon-gestorben-ein-genie-des-humors-a-339343.html (letzter Zugriff: 05.10.2018). 4 Finder, Gabriel N.: An Irony of History: Ephraim Kishon’s German Triumph, in: Lederhendler, Eli (Hg.): A Club of Their Own: Jewish Humorists and the Contemporary World, Oxford 2016, S. 141–153.

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bekannt. Vielleicht am stärksten wahrgenommen wurde dabei die Kritik von Friedrich Torberg, von der noch die Rede sein wird. Im deutschen Feuilleton wurde der Band nach seinem Erscheinen in Deutschland im Jahr 1960 mit einer Haltung begrüßt, von der sich die Bemerkungen der Kulturstaatsministerin von 2005 als direkte Fortsetzung lesen lassen. Der Spiegel sprach in seiner Rezension vom 14. Dezember 1960 von einem Buch, „das mehr als manche offizielle Vergangenheitsbewältigung dazu angetan scheint, das Verständnis deutscher Nichtjuden für jüdisches Wesen zu fördern“.5 Der Humor sollte richten, womit sich die Politik und eine nicht selten als eher verordnet denn als notwendig erachtete Volkspädagogik schwertaten. Doch es mögen gerade diese Ansprüche an ein solches Buch gewesen sein, die sich in den blendenden Verkaufszahlen spiegelten, die aber letztlich die inneren und wohl unüberwindbaren Widersprüche, die dem Buch zugrunde lagen, besonders deutlich aufzeigen. Der jüdische Witz, so Landmanns These in ihrem ausführlichen Vorwort, hat sein Zentrum im Mittel- und Osteuropa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in jener jüdischen Welt also, die zwischen der profunden Kenntnis der Tradition und den Herausforderungen der Moderne oszillierte. Dass Landmann selbst diesen Witz für unwiederbringlich verloren hält, macht sie ohne Umschweife deutlich: „Diesen ständigen Zustrom talmudisch gebildeter Juden zur neuzeitlichen Form der Geistigkeit gab es bis zum Einmarsch der Hitler-Truppen in Polen. Erst mit der Vernichtung des dortigen Judentums hat er aufgehört. Und mit jenem Judentum zusammen ist denn auch der jüdische Witz gestorben…“6 Entsprechend stehen gegen Ende von Landmanns Vorwort die resignierten Sätze: Wir können den jüdischen Witz nur noch sammeln, analysieren und ihn, solange uns seine Voraussetzungen noch nicht zu fremd geworden sind, verstehen. Aber auch das Verstehen wird mit jedem Tage schwieriger werden, denn mehr als jede andere Form der Literatur ist der Witz auf ein gemeinsames kulturelles Niveau und Wissen angewiesen.7

Landmann sah ihre Sammlung also als eine Form der Erinnerungsarbeit an, orientiert an einer Lebenswelt, der sie selbst entstammte und die in Form nicht nur der Ermordeten, sondern auch einer mit diesen verbundenen Art, zu denken und sich die Welt zu erklären, verschwunden war. Damit rückte sie 5 Bin ich eine Forelle?, in: Der Spiegel 51/1960, 14.12.1960. 6 Landmann, Salcia: Der jüdische Witz. Soziologie und Sammlung, Freiburg und Olten 1960, S. 105. 7 Ebd., S. 111.

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jene Opfer in den Mittelpunkt, denen gegenüber Alexander und Margarete Mitscherlich den Deutschen in ihrem 1967 erschienenen Werk Die Unfähigkeit zu trauern eine „auffallende Gefühlsstarre“ attestierten,8 Symptom jener kollektiven Verdrängungsleistung einer narzisstischen Kränkung durch die Niederlage und den Tod Hitlers, aus der die Autoren ihre Befürchtungen bezogen hinsichtlich einer langfristig gelingenden Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. Sowohl Steffi Hobuß in ihrem Eintrag zur Unfähigkeit zu trauern in Torben Fischers und Matthias N. Lorenz’ Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland9 als auch, noch deutlicher, Falk Stakelbeck in seinem Artikel über die Behandlung des Schwellenbegriffs „1945“ im Buch der Mitscherlichs10 weisen auf die Aporie hin, die sich auftue zwischen deren zumindest indirektem Postulat einer Trauer um die Opfer, einerseits, und ihrem analytischen Befund, eine solche Trauer sei mit der psychischen Verfasstheit der Deutschen gar nicht vereinbar, andererseits. Dass diese Aporie, wie Stakelbeck aus der Perspektive des Psychiaters moniert, zur analytischen Unsauberkeit führt, mag richtig sein – doch für den Literaturwissenschaftler kann gerade in dieser scheinbar kaum verschließbaren Spalte der Ansatz dafür liegen, die Rolle des jüdischen Humors im Deutschland dieser Zeitgenossenschaft zu verorten, an den Ansprüchen, die er einzulösen versprach, und der Fragwürdigkeit einer Wirkung, die mit diesem scheinbaren Einlösen untrennbar verbunden ist. Um diese komplexe Rolle des jüdischen Humors im Kontext der Mitscherlich’schen Schrift zu verorten, sei noch auf eine andere Stelle bei den Mitscherlichs hingewiesen, die besonders deutlich die „Einfühlungslosigkeit“11 der Deutschen skizziert, und zwar dort, wo es unmittelbar in die Existenz der Überlebenden hineinwirkte, im Verfassen von Gutachten anlässlich des Restitutionsprozesses. Der Gutachter ist durchaus befangen und unbewusst mit der Seite der Verfolger identifiziert geblieben. Er kann sich nicht vorstellen, was es heißt, wenn eine vierzehnjährige Tochter eines Textilhändlers einer badischen Landstadt von der Macht eines Polizeistaates, von uniformierten, wohlgenährten, selbstbewussten Männern 8 Mitscherlich, Alexander und Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München und Zürich 2007, S. 40. 9 IV.A2 Alexander und Margarete, Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, in: Fischer, Torben/Lorenz, Matthias N. (Hg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2015, S. 193–195. 10 Stakelbeck, Falk: Lösen, was nicht zu lösen war. 1945 in Mitscherlichs Die Unfähigkeit zu trauern, in: Forum der Psychoanalyse 33, 4 (Dezember 2017), S. 459–473. 11 Mitscherlich/Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 81.

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ergriffen und in der Art eines Ungeziefers behandelt wird. Er kann sich nicht vorstellen, dass das auch seiner vierzehnjährigen Tochter hätte widerfahren können. Er kann sich nicht in ein Mädchen hineindenken, dessen Eltern im gleichen Lager, in dem es selbst gewesen ist, vergast wurden und in dem es dann allein zurückblieb und schließlich nur durch Zufall der Vernichtung entging.12

Wenn hier ein weithin gefühltes Defizit lag, in der Unfähigkeit nicht nur zu trauern, sondern sich in die Opfer hineinzudenken, so mag der jüdische Humor, wie ihn Landmann und Kishon präsentierten, just in diesem Bereich deutschen Lesern entgegengekommen sein. Der jüdische Witz versprach eben das, was eine auf die Juden als Opfer fixierte „Vergangenheitsbewältigung“ schon ihrem Wesen nach nicht leisten konnte: sich den Juden zu nähern. Landmann hatte in ihrem Vorwort, Freud folgend, den Witz als „die Waffe des Wehrlosen, der zwar mault, sich aber mit seiner Lage dennoch halbwegs abfindet“, beschrieben und den Satz angefügt: „Der Täter bedarf keines Witzes.“13 Gerade hier nun dürfte das Moment eingesetzt haben, aus dem sich letztlich der immense Erfolg von Landmanns Witzesammlung herleiten lässt: Wer in der Sammlung las, konnte dies nicht nur im Gefühl tun, es hier mit Juden zu tun zu haben, die (selbst wenn ein Teil der Witze sogar explizit in der Hitlerzeit angesetzt war) noch imstande waren, ihrer Lage mit Witzen wenn nicht beizukommen so zumindest doch zu begegnen. Der Reiz dieser Witze lag für die nichtjüdische Leserschaft insbesondere darin, dass sie von einer jüdischen Philosophin und Publizistin gesammelt und herausgegeben worden waren. So konnten diese Witze, auch da, wo sie Juden in kritischem Licht, „als sexuell übergriffig oder geldgierig“ zeigten, also mit Attributen versehen, die durchaus dem antisemitischen Judenwitz aus der Zeit vor oder während des Dritten Reiches hätten entnommen sein können, als eine Form des Lachens nicht so sehr über Juden, sondern (wie sich später Christine Weiss ausdrücken sollte) „mit den Juden“ verstanden werden, was zuvörderst heißen mochte, mit der Verfasserin. Indem Salcia Landmann in ihrem Vorwort (das manche ihrer Leser rezipiert haben mochten, andere nicht) von der Selbstkritik der Juden sprach, die variantenreich in diesen Witzen zur Geltung komme, lieferte sie eine Vorlage für eine Form der Identifizierung mit den Juden, die insofern nicht als eine angemaßte empfunden wurde, weil man jetzt nicht mehr als Täter lachte, sondern in eine Art der Komplizenschaft mit den Opfern eintrat. Indem 12 Ebd. 13 Landmann: Der jüdische Witz, S. 14. In den vergangenen Jahren ist die Rolle des Witzes durchaus auch als Mittel der Ausgrenzung betont und seine spezifische Funktion als ‚Waffe der Schwachen‘ erschüttert worden, etwa durch Studien von Martina Kessel über Humor und Gewalt im NS-Staat.

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man dazu noch zum Rezipienten von Witzen wurde, die von einer verlorenen Welt kündeten und von der – jüdischen – Herausgeberin selbst nicht zuletzt im Sinne einer Form der Rettung dieser Welt vor dem Vergessen erzählt wurden, beteiligte man sich sogar an einer sublimierten Form dessen, was mit nur wenig gutem Willen sogar als Trauer zu bezeichnen war – zumindest insofern als man sich als Resonanzraum für dieses Rettungswerk zur Verfügung stellte. Es ist interessant, dass die Kritik jüdischer Leser sich nicht zuletzt entlang der Frage orientierte, ob sie die Wirkung der Witze der Sammlung auf ein deutsches Publikum primär im Blick hatten oder nicht. Der spätere Literaturnobelpreisträger Isaac Bashevis Singer etwa, der die Sammlung im Mai 1961 in der amerikanisch-jüdischen Zeitschrift Commentary besprach und für den die Wirkung des Buches in Deutschland ein Thema von sekundärer Wichtigkeit gewesen sein dürfte, äußerte sich kritisch zu Landmanns These, der jüdische Witz sei ein klassisches Phänomen einer Moderne, die Emanzipation und Säkularisierung und damit eine Erschütterung des absoluten religiösen Erlösungsglaubens erlebt habe. Nicht nur die Einhegung jenseits strenger Religiosität fand er (mit Hinweis auf die Existenz vieler humorvoller Rabbiner) unzutreffend, dies galt ihm auch für die von Landmann behauptete zeitliche Begrenzung auf die europäische Moderne (denn auch den jüdischen Gemeinschaften in Israel und den USA sprach sie einen Witz nur insofern zu, als er noch dem europäischen Erbe entstamme). Darauf erwiderte Bashevis Singer: „Who knows? Archeologists may one day find a scroll of Jewish jokes in the caves at the Dead Sea. And when they are deciphered, they will be found to bear a strong family resemblance to the jokes published today in the Jewish Daily Forward.“14 Landmanns Sammlung selbst jedoch fand er reich, gut gewählt, und auch wenn jiddische Witze notgedrungen in der Übersetzung einiges von ihrem Charme verlören, gestand Bashevis Singer Salcia Landmann zu, sie durch Erklärungen gut erschlossen zu haben. Ganz anders der mit vollem Blick auf die deutsche Leserschaft kritisierende, 1908 geborene, in Wien und Prag aufgewachsene Friedrich Torberg. Seine im Oktober 1961 in der Zeitschrift Der Monat im Format eines ausgewachsenen Aufsatzes erschienene Rezension „Wai geschrien!“ Salcia Landmann ermordet den jüdischen Witz will schon im Titel nicht nur vernichtende Kritik vorwegnehmen, sondern insinuiert eine regelrechte Kollaboration der Autorin mit dem Werk der Nazis und eine Ergänzung zu deren Genozid. Im Gegensatz zu Bashevis Singer hält Torberg (dessen Feingefühl für die deutsche Sprache fraglos besser entwickelt ist als die des jiddischen Schriftstellers) die Witze für

14 Singer, Isaac Bashevis: The Everlasting Joke, in: Commentary, May 1, 1961, S. 458–460, hier S. 460.

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miserabel erzählt und ihrer eigentlichen Pointen beraubt, zuweilen auch redundant und durch die Erklärungen eher verfälscht und verdorben als bereichert, teilweise gar nicht für spezifisch oder authentisch jüdisch, sondern kulturell auswechselbar, kurzum für „die Hohe Schule der Humorlosigkeit“15 . Doch den eigentlichen Skandal sieht Torberg nicht in Landmanns Unvermögen, Witze zu erzählen, sondern in einer Kollaboration mit dem, was er als übelste Anbiederung an die niedersten Instinkte ihrer Leserschaft versteht. Dafür steht zum einen die „widerwärtige Nomenklatur“16 lächerlicher Namen, die Landmann ihren Figuren gibt und von denen Torberg eine ganze Sammlung vorlegt, oder die primitive Form der von Juden (zuweilen halb opportunistisch) geäußerten Abwertung des Christentums, die in einigen dieser Witze vorwaltet. „Das alles – man kann’s nicht oft genug sagen – sind keine zufälligen Entgleisungen, sondern organische Defekte“17 , erklärt Torberg, um wenig später noch deutlicher zu werden, indem er zwei Hypothesen äußert, die in gewisser Weise am Beispiel von Landmanns Buch die sechs Jahre später angestellte Gesellschaftsanalyse der Mitscherlichs in mancherlei Hinsicht vorwegnimmt. Torbergs erste Hypothese lautet: Das Buch ist gerade deshalb ein Erfolg geworden, weil es antisemitisch ist, weil es den Vorstellungen entgegenkommt, die sich ein deutscher Durchschnittsbürger von den Juden macht (nicht immer aus militantem Judenhass, sondern oft nur aus lieber Gewohnheit) oder die er sich von Hitler beibringen ließ (nicht unbedingt aus partei-aktivistischer Überzeugung, sondern einfach aus Folgsamkeit). Und jedenfalls kann einem heutigen deutschen Durchschnittsbürger nichts Besseres passieren, als – noch dazu von jüdischer Seite – bestätigt zu bekommen, dass der Führer auch in diesem Punkt recht hatte; mit den Bolschewiken und den Autobahnen hatte er’s sowieso …18

Hier treffen sich die Diagnose der Mitscherlichs von der andauernden Verliebtheit der Deutschen in den Führer, die auch in einem von dessen virulentem Judenhass gelösten Weltbild letztlich die narzisstischen Grundanschauungen prägt, mit einer vollständigen Empathie-Unfähigkeit gegenüber den Opfern, die sich mit diesen nur im Zustand ihrer Lächerlichkeit und in Anspielung auf 15 Torberg, Friedrich: In Sachen jüdischer Witz. „Wai geschrien!“. Salcia Landmann ermordet den jüdischen Witz. Anmerkungen zu einem beunruhigenden Bestseller (Oktober 1961), in: Torberg, Friedrich: PPP. Pamphlete, Parodien, Post Scripta, München und Wien 1964, S. 183–208, hier S. 196. 16 Ebd., S. 200. 17 Ebd., S. 201. 18 Ebd., S. 205.

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deren unangenehme Seiten spiegeln kann. Etwas weiter unten fährt Torberg fort: Von hier aus ergibt sich nun eine andere, nicht minder bedenkliche Hypothese, die obendrein mit dem Handicap der guten Absicht rechnen muss. Tatsächlich: die deutsche Literaturkritik, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, hat sich in der Beurteilung des Landmannschen Malheurs vor Begeisterung schier überschlagen, und eine angesehene Wochenzeitung versah ihre Rezension tatsächlich mit dem Untertitel: „Ein Buch, das helfen könnte, die deutsche Verkrampfung zu lösen“. Gott erhalte den Deutschen ihre Verkrampfung, eh dass sie sich mit Hilfe dieses Buches löse!19

Das Zitat, von Torberg der Zeit vom 5. Mai 1961 entnommen, erinnert stark an dasjenige des Spiegels einige Monate früher und klingt noch deutlicher an die Sehnsucht an, die sechs Jahre später von den Mitscherlichs diagnostizierte und angeklagte „Gefühlsstarre“, hier von Torberg als „Verkrampfung“ bezeichnet, zu überwinden. Wo Salcia Landmann für sich beanspruchte, ein noch weitgehend intaktes, wenn auch von den Zweifeln der Moderne angefressenes Judentum der Vergangenheit in seinem Kulturschatz des Humors abzubilden, sah Torberg antisemitische Karikaturen, die den Deutschen im schlechteren Fall als Bestätigung ihrer Abneigung, im besseren Fall als untauglicher Notbehelf eines Empathie-Aufbaus dienen würden. Torberg wirft Landmann vor, einen Weg der Annäherung zu bedienen, der nicht von Schuldanerkennung, Reue und Trauer um die Opfer geprägt sei, sondern von einem jüdischen Angebot, sich den Ermordeten auf heitere, gar herablassende Art zu nähern. Die Fähigkeit zu lachen, je nach Auslegung mit oder über Juden, wird hier zum vorweggenommenen spiegelbildlichen Ausdruck der Unfähigkeit, um Hitler zu trauern. Bei aller unterschiedlichen Einschätzung der Qualität der erzählten Witze ist sich Torberg mit Isaac Bashevis Singer einig in der Ablehnung von Landmanns enger Verortung des jüdischen Witzes im Mitteleuropa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Während Bashevis Singer hier eher inkludierend in Richtung der Vergangenheit jüdischer Witze und ihres Überdauerns in den USA argumentiert, richtet sich Torbergs Blick auf den israelischen Humor, dessen Existenz Landmann weitestgehend abstreitet. Als Beispiel für einen durchaus bestehenden eigenständigen israelischen Humor führt Torberg nicht zufällig den aus Ungarn stammenden Ephraim Kishon an, als dessen Übersetzer ins Deutsche (aus zuvor schon erschienenen englischen Übersetzungen) er in dieser Zeit zu arbeiten begonnen hat, was einiges zu Kishons Erfolg in Deutschland beigetragen haben dürfte. 19 Ebd., S. 206.

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Just diese letztere Tätigkeit brachte Torberg im Jahr nach seinem Aufsatz über das Landmann-Buch seinerseits eine geharnischte Kritik ein, die ihn und Kishon aus Sicht des Kritikers in die Nähe Landmanns rückte. Moshe Yaacov Ben-Gavriêl, ein ebenfalls aus Wien stammender israelischer Autor und Publizist, der zu jener Zeit in Deutschland über eine gewisse Bekanntheit verfügte, veröffentlichte im Merkur einen Artikel unter dem Titel „Der jüdische Witz: Ein Post Mortem“.20 Schloss nicht nur dieser Titel, sondern auch BenGavriêls zunächst ebenfalls geäußerte Kritik unmittelbar an Torbergs Klage über Landmanns „Ermordung“ des jüdischen Witzes an, so unterschied sich Ben-Gavriêls Haltung doch dort von Torberg, wo es um die Bewertung von Landmanns Einleitung ging, die Ben-Gavriêl als äußerst gelungen bezeichnete. Diese Übereinstimmung mit Landmann betrifft nicht zuletzt auch deren Einschätzung eines autochthon israelischen Humors als faktisch nichtexistent. Entsprechend registrierte er Torbergs Übersetzungsfunktion für Kishon mit Staunen und Ablehnung, auch deshalb, weil er darin gerade ein Element, das Torberg an Landmann kritisiert hatte, die lächerliche Namensgebung, wiederholt fand: Nicht nur dass er in Übersetzertreue die gleichfalls einem Personenverzeichnis des „Stürmer“ nicht fernen Namen des Witzboldes Kishon erhält: was soll ein deutsches Lesepublikum mit Beispielen, die vielleicht aus einer ehemaligen Budapester oder Wiener Kaffeehaus-Perspektive als lustig, aus der yissraelischen aber als schmierig und widerlich, allenfalls als grauenhaft witzlos gesehen werden.21

Nun ist es zunächst überhaupt so, dass es teilweise gar nicht Kishon, sondern Torberg war, der den Figuren in den deutschen Übersetzungen jiddelnde Namen gab. So heißt die deutschsprachigen Leserinnen und Lesern wohlbekannte Kishon’sche Figur Jossele im hebräischen Original „Ervinka“ (also die ungarische Diminutionsform von Erwin) – eine Figur übrigens, der in der hebräischen Wikipedia ein eigener, recht umfangreicher Eintrag gewidmet ist.22 Blickt man auf den Erfolg, den das deutsche Lesepublikum Kishon in der Folge bescherte und der Landmanns Bestseller gemessen an der Gesamtzahl verkaufter Bücher noch weit in den Schatten stellte, so wird deutlich, dass dieses Publikum gerade solche Geschichten hören und lesen wollte, mehr als alles andere. Gabriel N. Finder relativiert, ohne es andererseits gänzlich abzustreiten, dass Kishons Erfolg in Deutschland der dort herrschenden Mischung aus Schuldgefühl, fehlgeleitetem Philosemitismus und einer Faszination für den „exotischen 20 Ben-Gavriêl, M. Y.: Der jüdische Witz: ein post mortem, in: Merkur 16, 175 (1962), S. 893–896. 21 Ebd., S. 895 f. 22 https://he.wikipedia.org/wiki/ ‫( ארבינקא‬letzter Zugriff: 08.10.2018).

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Juden“ in einem Land fast ohne Juden zu verdanken war – alles Elemente, die Torberg auch, wie Finder bemerkt, dem Erfolg von Landmann zuschrieb.23 Finder sieht vielmehr auch die Underdog-Rolle Israels in jener Zeit und die Tatsache, dass Kishon Alltagsprobleme wie Autogeschichten oder Bürokratiesatiren ausbreitete, mit denen sich viele Deutsche identifizieren konnten, als Grund für den Erfolg. Dennoch: Kishon dürfte den Landmann-Effekt in Deutschland insofern prolongiert und ausgeweitet haben, als der Status der Juden als Opfer des Nationalsozialismus bei ihm ebenfalls übersprungen wurde. Die vor dem Eichmann-Prozess eklatante und auch danach lange nicht endende Loslösung des israelischen Selbstbewusstseins vom Holocaust wurde auch vom HolocaustÜberlebenden Kishon internalisiert und dürfte seinen Erfolg in Israel selbst und dann später in Deutschland maßgeblich mitbeflügelt haben. Wie sehr sich auch Kishon eminent außenpolitisch äußerte, nicht zuletzt mit Vorwürfen gegen die Passivität des Westens angesichts der Gefährdungslage Israels 1967 in seinem Band Pardon, wir haben gewonnen, er verschonte die Deutschen doch weitestgehend mit allem, was an den Holocaust angeklungen hätte. Man traf bei ihm Juden, die sich – was den deutschen Lesern vielleicht nicht so sehr bewusst, aber darum nicht weniger willkommen war – schon um ihrer israelischen Identität willen mit dem Holocaust nicht beschäftigten und ihr säkulares Judentum eher mit einer vagen biblischen als mit der untergegangenen europäischen Vergangenheit in Verbindung brachten. Die in Anlehnung an die Behauptung von Christine Weiss zu stellende Frage, ob die antisemitischen Verblendungen durch Kishon (bzw. die Rezeption jüdischen Humors im Deutschland der Nachkriegszeit) überwunden worden seien, lässt sich deshalb allenfalls ambivalent beantworten. Das Angebot jedenfalls, mit Juden zu lachen, ohne ihrer ermordeten Kinder zu gedenken, wie die Mitscherlichs es erwähnt haben, konnte kaum ausgeschlagen werden. Die versöhnende Funktion, die dem ‚gemeinsamen Lachen‘ zugeschrieben werden konnte, überhob einen in der Regel der Rückfrage, ob man sich von Hitler nicht lösen konnte oder nicht lösen wollte – auf paradoxe Art schien das grundsätzliche Verbinden von Verdrängen und Nichtverdrängen der Vergangenheit dort möglich, wo Juden es anscheinend ebenso taten. Man konnte mit ihnen die Vergangenheit retten und in die Zukunft schauen und sich dabei auch noch köstlich über sie (oder, wie man zu denken geneigt war, mit ihnen) amüsieren. Das böse Wort des österreichisch-israelischen Psychoanalytikers Zvi Rix, die Deutschen würden den Juden Auschwitz nie verzeihen,24 wurde teilweise sicher dadurch entkräftet, 23 Finder: An Irony of History, S. 146. 24 Als Urheber dieses Satzes ist Rix angegeben in: Heinsohn, Gunnar: Was ist Antisemitismus?, Frankfurt am Main 1988, S. 115.

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dass das, was vor allem von Deutschen als „gemeinsames Lachen“ mit de facto nicht oder sehr weit weg lebenden Juden empfunden wurde, die Unmöglichkeit der Beschäftigung mit ihnen abfederte.

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Autopoiesis und Avantgarde in Else Lasker-Schülers Frühwerk Else Lasker-Schüler gehört zu den wenigen weiblichen Autoren der deutschsprachigen Avantgarde. Zu ihren bedeutendsten Errungenschaften gehört ihre schon im Frühwerk ansetzende literarische Erkenntnis des autobiographischen Werdens. Anders als traditionelle Autobiographien, die aus einer Stellung des etablierten, arrivierten Ichs rückblickend einen künstlerischen oder existenziellen Werdegang rekonstruieren, beruft sich Lasker-Schüler bereits in ihren frühen Schriften im Schreiben selbst zur Dichterin. Die Reflexion auf diese Selbstberufung ist selbst ein wesentlicher Aspekt ihrer modernen Poetik. Von Anfang an fließen dabei die verschiedensten kulturellen Bezüge in ihr Werk ein. Lasker-Schülers Die Nächte Tino von Bagdads (wie das Buch in der Erstfassung noch heißt) ist exemplarisch für diese Schreibpraxis einer modernistischen Autopoiesis. In scheinbar unzusammenhängenden Textfragmenten und inmitten einer orientalischen Szenerie, in die ebenso biblische wie klassische Referenzen und Gegenwartsbezüge einfließen, inszeniert Lasker-Schüler die Entstehung der modernen Dichtung am synkretistischen Schnittpunkt zwischen alter und neuer, östlicher und westlicher, jüdischer, heidnischer und christlicher Welt. Lasker-Schülers Die Nächte – auch in dieser Hinsicht richtungsweisend für die frühe Avantgarde – richtet sich gegen eine repressive Vaterwelt, die das Werk in einem eigenwilligen und gewaltsamen Schreibakt bekämpft. Das Buch kann in diesem Sinne als Selbstdarstellung der eigenen Geburt als Dichterin gelesen werden: Es vermittelt durch die Persona Tino hindurch ihre Selbstberufung zu diesem subversiven Schreibakt, den die Nächte in vielfältiger Form gleichzeitig inszenieren und reflektieren. So vollzieht das Werk zwar die Tabularasa-Geste der Avantgarde, verweigert jedoch, den daraus entstehenden leeren Raum mit heroischen Beschwörungen einer neuen Macht zu füllen. In diesem Sinn können Die Nächte Tino von Bagdads als experimentelles Kunstprogramm und als rebellischer Selbstentwurf der Dichterin betrachtet werden, die das einengende Haus des pater familias verlässt und als poeta vates der bürgerlichen Ordnung den Kampf ansagt. Damit geht eine radikale Vorstellung vom „Neuen Menschen“ einher, der häufig den avantgardistischen Strömungen und Gebärden unterliegt und diese ideologisch in Verruf gebracht hat, deren Gefahren allerdings, wie im Folgenden gezeigt werden soll, im Text selbst aufgezeigt und abgewehrt werden.

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Der Anspruch des Erhabenen ist in der Selbstdarstellung der Dichterin als der einer auserwählten Erlöserfigur angelegt, deren eigenes Erwachen eine kosmische Erneuerung zur Vollendung bringen soll. Aspekte des Spielerischen und Grotesken verhindern jedoch die Überheblichkeit dieses „grandiosen Versuchs“ einer messianischen Selbstberufung und den damit verbundenen „Aristokratismus von Ganzheit und Stärke“.1 Sie manifestieren sich in der selbstironischen Auffassung des dichterischen Sendungsbewusstseins und der unorthodoxen Verwertung archaischer Kräfte verschiedenster Traditionen zur Erneuerung einer als im Untergang begriffenen Kultur. Sie reichen inhaltlich von expliziten Selbstdarstellungen als Andere der etablierten kulturellen Ordnung über die Aufhebung der Demarkationen zwischen Privatem und Kosmischem, zwischen Sakralem und Profanem, zwischen Wirklichkeit und Fiktion bis zum Widerstand und Aufstand gegen die Vorherrschaft der Vaterwelt und deren rechtmäßige Erben. Tino, die Hauptfigur der Nächte, ist das Alter Ego der Dichterin, die zwei typisierten Männerfiguren, die im Buch verschiedene Gestalten annehmen, gegenübersteht. Da sind einerseits ihre Geliebten: zumeist schöne, aber schwache Jünglinge. Diesen steht eine Reihe mächtiger Vaterfiguren gegenüber, weltliche und religiöse Würdenträger, die den schönen Jünglingen und, komplexer, Tino selbst antagonistisch gegenüberstehen. Während die männlichen Figuren als unterschiedliche Erscheinungsformen ein- und derselben Instanz auftreten, sprengen die wechselnden Personalformen die vorausgesetzte einheitliche Instanz des auktorialen Erzählers bzw. die konventionell einheitliche Distanz zwischen Autor, Erzählinstanz und Figur. Mit Ausnahme von vier Texten sind die Gedichte, die lyrischen Monologe und die Erzählungen in Ich-Form geschrieben. Drei der vier anderen Texte stehen in der dritten Person und erzählen von „Tino“ oder der „Prinzessin von Bagdad“. Ein einziger Text, die letzte eigentliche Erzählung des Buches, „Dichter von Irsahab“, enthält keinen offensichtlichen Verweis auf die weibliche Hauptfigur. Der Protagonist dieser Erzählung heißt „Grammaton“ – griechisch für Buchstabe. Die Bedeutung dieser Figur in Lasker-Schülers Frühwerk gilt es hier zu ergründen. Der Band Die Nächte erzählt sein eigenes Entstehen: Wie die Sequenz der Textsammlung zeigt, ist das Werk gleichzeitig Vergegenwärtigung, Prozess und Resultat der Überwindung einer auf Unterdrückung und Enttäuschung beruhenden Sprachlosigkeit. Das Buch beginnt mit dem Erwachen einer entgrenzenden Ausdruckskraft, einer Genesung von Mund und Lippen, die daraufhin von einer schmerzhaften und geheimen Liebeserfahrung erzählen. Die autobiographisch gefärbte Narration, die Spuren von Lasker-Schülers Verlassen ihres bürgerlichen Milieus und ihren Aufbruch in die Welt der Berliner Bohème 1 Bänsch, Dieter: Else Lasker-Schüler. Zur Kritik eines etablierten Bildes, Stuttgart 1971, S. 212.

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enthält, geht daraufhin weiter in die Vergangenheit zurück und vergegenwärtigt in mehreren Erzählungen das Ende der verbotenen Liebesbeziehung. An diesem Ende sind in erster Linie eine grausame und gewalttätige väterliche Figur und, in minderem Maße, die Untreue eines korrumpierbaren jungen Geliebten schuld. Die Begebenheiten dieser Liebesgeschichte, ihr Ende aufgrund der autoritären Väter und der Schwäche der Söhne, werden in der Mitte des Buches in vielfältigen Variationen und Verschlingungen fragmentarisch, lyrisch, als geschlossene Erzählung oder in groteskem Kontext aus unterschiedlichen Erzählperspektiven wiederholt. Aus dieser Erfahrung geht die Selbstbehauptung Tinos als Dichterin hervor: Sie übernimmt das Erbe des geliebten, aber schwachen Jünglings, des „Sohnes“, der aus dem Machtkampf mit dem Vater als Verlierer hervorgeht, und zieht die in Die Nächte aktualisierten Konsequenzen für die Bestimmung ihrer Poetik als spielerische Aneignung der patriarchalen Machtstellung, deren autoritäre und unterdrückende Voraussetzungen sie gleichzeitig von sich weist. Am Ende des Buches spitzt sich diese Konstellation zwischen dem Vater, dem Sohn und der rebellischen Dichterin in zwei Erzählungen zu. In „Der Sohn der Lîlame“ unternimmt Lasker-Schüler den für die gesamte Avantgarde prägenden Versuch „einer Überführung der Kunst in Lebenspraxis“2 . Sie entwirft ferner eine Vision der dichterischen Berufung und der Gefahr, diese aus Gefallsucht an ein philiströses Publikum zu verraten. „Der Dichter von Irsahab“ führt die Verweigerung dieser Gefahr vor und treibt die Provokation des Bürgertums in der Inszenierung einer ebenso grotesken wie grausamen Vision eines Vatermords auf die Spitze. In beiden hier näher zu besprechenden Texten probt eine rebellische, ikonoklastische Dichtung den Aufstand gegen eine repressive Ordnung mit allen Mitteln avantgardistischer Kunst. 1.

Dichterische Berufung als Provokation: „Der Sohn der Lîlame“

„Der Sohn der Lîlame“ ist eine groteske Parabel über die wahre Erhabenheit des poète maudit und die Überheblichkeit des käuflichen Künstlers. Sie kann als Warnung vor der Ruhmsucht des Dichters gelesen werden, der sich zur Erlösergestalt mit übermenschlichen Fähigkeiten verklären möchte und dabei doch weiterhin dem Publikum nach dem Munde redet. Die Figuren sind Tino, die Prinzessin von Bagdad, und ihr Vetter Mêhmêd, Sohn des Großwesirs. Mêhmêd wird von allen verlacht, bis Tino ihn über seine Besonderheit aufklärt, woraufhin ihm seine Größe buchstäblich so weit zu Kopf steigt, dass er sich

2 Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main 1974, S. 72.

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schließlich an die Schmeicheleien des Publikums verkauft und seine Berufung verrät. Mêhmêd wird mit blauen Haaren geboren. Sie sind die Zeichen seiner Auserwähltheit und somit gleichermaßen Fluch des Andersseins und himmlische Erleuchtung. Das himmlische Blau, das sein Haar widerspiegelt, kommt allerdings nicht von oben, vom konventionellen Ursprung des Erhabenen, sondern entstammt den Gauklern, die unter dem Fenster seiner schwangeren Mutter ihre Späße treiben. Über die blauen Haare ihres Sohnes wird Mêhmêds Mutter schwermütig, und sein Vater sucht nach Wegen, um dieses Merkmal des Andersseins verschwinden zu lassen. Mêhmêd ist zunächst böse, weil er wegen seiner blauen Haare verlacht wird, doch als er älter wird, nutzt er seine Macht als Sohn des Großwesirs und rächt sich an den ihn Verhöhnenden. Sie müssen sich zur Strafe „noch einmal so ungebührlich gebärden, wie sie sich’s vor ihm auf den Straßen Konstantinopels hatten zuschulden kommen lassen.“3 Er lässt seine Opfer in einer Mimikry ihrer eigenen „ungebührlichen“ Handlungen an sich vorbei defilieren: Diese „Strafe“ kann selbstreflexiv als Allegorie satirischer Grotesken gelesen werden, nur ist ihr Verursacher Mêhmêd selbst Objekt der Satire. Diese gesellschaftskritische Groteske zielt auf die Utopie einer Anerkennung des Dichters hin und warnt gleichzeitig vor der Versuchung, dem Publikum zu gefallen. Mêhmêds Strafe – ein Schauspiel, das die Täter durch Wiederholung und Entkontextualisierung „entstellt“ – hat vorübergehende Wirkung: Sie werden ehrfürchtig und erkennen Mêhmêd gar Zauberkräfte zu. Doch Mêhmêd kann sich mit seinen blauen Haaren nicht versöhnen, „war der Welt böse. Doch weil er sie so liebte, begann er seine außergewöhnlichen Haare mit Kalk zu weissen.“4 Diese Sätze lassen, wenn auch in ganz anderem Tonfall, an Verse aus Lasker-Schülers Gedicht „Mein stilles Lied“ denken, das 1905, also in ebenjener Zeit entstanden ist, in der sie auch Die Nächte schrieb. Und ich artete mich nach euch, Der Sehnsucht der Menschen wegen … Und meine Arme, die sich heben wollen Sinken … 3 Lasker-Schüler, Else: Die Nächte Tino von Bagdads, Erstausgabe, Axel Juncker Verlag, Berlin, Stuttgart und Leipzig 1907; in Anbetracht der Anmerkungen im Begleitband in der Version der Erstausgabe zitiert aus Lasker-Schüler, Else: Prosa 1903–1920. Werke und Briefe. Kritische Ausgabe 3.1., hg. v. Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky, Frankfurt am Main 1998, S. 67–97, hier S. 69. 4 Ebd., Nächte, S. 70.

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Das Gedicht geht von einer Beschuldigung jener, die das Ich verhöhnen, zu einer Selbstbeschuldigung über, sich nach „Euch“, nach den Menschen zu „arten“, sich ihnen anzupassen. Aus dieser Warnung an den Dichter (und sich selbst), sich nicht nach den Wünschen und Erwartungen des Publikums zu richten, ist eine romantisch-avantgardistische Auffassung dichterischer Berufung herauszulesen. Der Dichter soll sich davor bewahren, seine „Seele“ zu verraten, indem er, Anerkennung heischend, vor der Missachtung seiner anders gearteten, der herkömmlichen Kommunikation nicht entsprechenden Verse zurückschrickt. Das Publikum verhöhnt diese „Lippe“ und „redet mit ihr“; es mimt deren Worte und macht sie lächerlich. Die Groteske „Der Sohn der Lîlame“ kehrt eben diese Verhöhnung um und richtet sich gegen die Widersacher der Dichter, indem sie deren Worte verstellt, verzerrt, verhöhnt. Die Selbstbeschuldigung in „Mein stilles Lied“ enthält die Warnungen vor der Versuchung der Anbiederung, der der Dichter zu widerstehen hat. Mêhmêd, der seine blauen Haare kalkweiß färbt, um nicht mehr verhöhnt zu werden, verrät seinen „ihm anvertrauten Schatz – nennen wir es Begnadigung“, wie es in „Ich räume auf!“ leicht selbstironisierend heißt. Die satirische Form der Groteske und die (diese Form reflektierende) Ursprungsbestimmung von Mêhmêds „Begnadigung“ bei den Gauklern unterbindet den in der Auffassung vom „gottbegnadeten Poeten“ angelegten romantisierenden Kitsch und wirkt dem Vorwurf der Überheblichkeit von Lasker-Schülers dichterischem Selbstverständnis entgegen. Vielleicht gelingt ihr die Darstellung dieser Poetik nirgends so unbeschwert und überzeugend wie in diesem frühen, kurzen Prosastück, das die Überheblichkeit des „begnadeten Dichters“ selbst problematisiert, indem es dessen Ausnahmestellung gleichzeitig fordert und ins Groteske verzerrt. Die letzte Szene der Erzählung entlarvt die Konsequenzen von Mêhmêds verwerflichem Verrat an der „Begnadigung“ des Künstlers. Mêhmêds Unwürdigkeit wird in einer Konfrontation mit einer anderen Größe, dem „Elefantenriesenmonstrum Goliathofoles“ aufgedeckt, das in der Kaiserstadt der Deutschen (wohl dem Berliner Tiergarten) weilt. Goliathofoles ist noch größer als Mêhmêd: „[U]m gewissenhaft zu berichten, auf seinem Kopf lag Schnee.“5 Doch Goliathofoles hat, im Unterschied zu Mêhmêd, wahre Größe – er weigert sich stolz, „trotz der vielen Zuckerhüte“, die ihm dargeboten werden, das Publikum zu unterhalten, während der Prinz jegliche Würde verliert, indem er den Elefanten vergeblich mit allerlei Verlockungen zum Vorführen seiner Kunststücke bringen will: Mit zugespitzten Lippen, girrenden Tönen flötend, versuchte er das unfolgsame Riesentier zu ermutigen, Biskuitkrümel warf er in sein höhlen-aufgesperrtes Mäulchen. 5 Ebd., S. 74.

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Er duckte sich immer kleiner, damit Goliathofoles auch den aufmunternden Trommelwirbel seiner Hände auf dem Gesäß eines seiner Diener vernehmen könnte. „Gutes Kiehnd, gutes Kiehnd …!“ Einen so köstlichen Prinzen hat das Publikum in seiner fremden Hauptstadt noch nicht empfangen. Mir aber rannen schmerzende Tränen über das Herz …6

Goliathofoles lässt sich nicht kaufen, widersteht der Verlockung des Publikums. Sein Stolz ist der Widerstand des Avantgarde-Künstlers, der die Anpassung an das Publikum verweigert. Mêhmêd, der sich erst die blauen Haare seiner Auserwähltheit mit billigem Kalk einfärbt, der sich nach dem Publikum, „nach den Menschen artet“, wird zuletzt, wie es in „Mein stilles Lied“ heißt, „arm an ihrer bettelnden Wohltat“, ihrer verlockenden Schmeichelei, wenn sie Mêhmêd zurufen: „Gutes Kiehnd, gutes Kiehnd …!“ Er wird nicht nur zum „Schoßspielzeug“ der Bürger, sondern wird selbst zum Philister. Ganz klein geworden, trommelt er zuletzt selbst „auf dem Gesäß eines seiner Diener“, um den Elefanten zum Tanzen zu bringen: Auch hier entsteht aus dem WörtlichNehmen einer Metapher das groteske Bild des bürgerlichen Philisters, der sich Kunst auf dem Rücken der Untergebenen und Unterdrückten kaufen will. In grotesker Verkleidung und mikroskopischer Dichte enthält „Der Sohn der Lîlame“ einen Kernsatz der in der Romantik angelegten, jedoch erst in der Avantgarde zur vollen Blüte gekommenen Poetik, die in Benjamins bekanntem Diktum seinen Höhepunkt erreichte: „Nirgends erweist sich einem Kunstwerk oder einer Kunstform gegenüber die Rücksicht auf den Aufnehmenden für deren Erkenntnis fruchtbar […]. Denn kein Gedicht gilt dem Leser, kein Bild dem Beschauer, keine Symphonie der Hörerschaft.“7 Ebenso Benjamins wie LaskerSchülers Auffassung von der Bestimmung des Kunstwerks hat eine religiöse Dimension. Benjamin sieht darin – wie in der Sprache überhaupt – eine Form des Nennens, in dem „das geistige Wesen des Menschen sich Gott mitteilt“8 ; Lasker-Schüler spricht in „Mein stilles Lied“ von der Rückwärtsgewandtheit zur eigenen Seele, nennt in Mein Herz Kunst ein „Reden mit Gott“.9 Gemeinsam ist beiden jedoch vor allem der anti-bürgerliche Affekt einer avantgardistischen Verweigerung, Kunst als Konsumgut des Bildungsbürgers gelten zu lassen. 6 Ebd., S. 75. 7 Benjamin, Walter: Die Aufgabe des Übersetzers, in: Ders.: Illuminationen, Frankfurt am Main 1977, S. 50. 8 Benjamin, Walter: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Ders.: Angelus Novus, Frankfurt am Main 1988, S. 13. 9 Lasker-Schüler, Else: Mein Herz, Gesammelte Werke in acht Bänden, Bd. 2, München 1986, S. 46. „Kunst ist reden zu Gott“ steht dort in Klammern nach der Erwähnung Nietzsches als einer der „Himmelbegnadeten“.

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Die groteske Gestaltung von Mêhmêds Verrat ist ein Echo und eine Konsequenz anderer Erzählungen in Die Nächte, in denen die Schwäche, die Würdelosigkeit, die Untreue des schönen Jünglings, dieses Sohnes der Machthaber, beklagt wird. Sie löst Tinos „Rache“ an ihrem Geliebten ein; ihr Liebesverlust wird zur Befreiung, ihre Verachtung Mêhmêds ein Element ihrer dichterischen Selbstbehauptung. Sie beruft sich selbst an dessen Stelle zur neuen Dichterin und zur Dichterin des Neuen, tritt das Erbe des Palastes an, von dem sie zuvor ausgeschlossen war. Doch dazu muss erst noch der Vater sterben. Dies geschieht im unmittelbar auf „Der Sohn der Lîlame“ folgenden Prosatext, „Der Dichter von Irsahab“. 2.

Der große Vatermord als Groteske: „Der Dichter von Irsahab“

Wie „Der Sohn der Lîlame“ ist auch „Der Dichter von Irsahab“, wie der Untertitel der Erzählung im ursprünglichen Manuskript zeigt, als Groteske gekennzeichnet. Sie inszeniert die befreiende Destruktion einer autoritären Sprache und nimmt Rache an den Vätern, die die Liebe unterdrücken und die Dichtung verbannen. In dieser letzten längeren Erzählung der Nächte ist die weibliche Hauptfigur Tino verschwunden. An ihre Stelle tritt der Protagonist Grammaton, griechisch für Buchstabe. In dieser Verwandlung von Lasker-Schülers Alter Ego vollzieht sich deren Berufung zur Dichterin: Als poetischer Letter verschwindet sie in ihrem eigenen Text. „Neunhundertneunundsechzig Jahre war Methusalem alt, als er starb“,10 lauten die ersten Worte der Erzählung. Mit ihr kulminieren die Nächte in einer fröhlich-apokalyptischen Vernichtung des Vatergeschlechts als befreiende Erlösungsvision: Das Alte stirbt; das Neue, vereint mit einem Uralten, Mythischen, Archaischen, siegt und singt als Freiheitshymne – einen Kinderreim. Das Prinzip der Herrschaft, der Autorität, der Gewalt, verkörpert in mordenden Vätern und Vaterfiguren, die die Nächte durchziehen, wird vom Thron gestoßen und vernichtet. Der siegreiche Rebell ist der jüngste Sohn Methusalems, Grammaton. „Und Grammaton war ein Dichter“, geboren „mit dem neuen Sternbild Pegasus.“ Grammaton ist der Buchstabe der neuen Schrift, die Dichtung der Avantgarde im Zeichen einer schelmischen Subversion gegen die Autorität der Patriarchen. Grammaton trägt die Merkmale dichterischer Erhebung. Pegasus, sein Sternbild, ist das Symbol beflügelnder dichterischer Inspiration und erhebender Vorstellungskraft. Wie Mêhmêd hat auch er etwas Blaues an sich, aber während Mêhmêds blaue Haare von den Gauklern unter dem Fenster seiner Mutter 10 Lasker-Schüler, Nächte, S. 76.

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stammten, hat Grammaton seine blauen Augen vom Vater geerbt, „der der blauen Ferne näher war als der Erde.“11 Wie Mêhmêd ist Grammaton ein „Himmelbegnadeter“,12 ausgezeichnet durch Besonderheit. Doch er gibt der Erkenntnis seiner Auserwähltheit eine andere Wendung als Mêhmêd und die anderen Jünglinge im Buch: Er endet weder als Verräter an Liebe und Dichtung noch als Opfer der väterlichen Autorität, sondern als revolutionärer Erlöser. Die Hauptrollen in dieser Erzählung spielen Methusalem, der Vater, dessen zwei ältesten Zwillingssöhne und sein jüngster Sohn, Grammaton. Er ist der Dichter von Irsahab: Ir ist hebräisch für „Stadt“, sahab wahrscheinlich eine Transformation von sahib, arabisch für „Herr“. Grammaton ist Dichter in der Stadt des Herrn, der Großwesire und Moguln, Fakire und Khediven, der Priester und Propheten, die die Nächte bevölkern und den meisten anderen Erzählungen ihre Namen geben. In dieser Erlösungsvision geht das Zeitalter der Väter zu Ende. Methusalem ist müde, düster und traurig, er verkörpert die dunkle Autorität des Alten, der die jugendlichen Liebenden und die spielenden Kinder einschüchtert. Methusalem verlässt die blaue Ferne des erhabenen Geistes und kehrt, geleitet von den Wiegenliedern seiner am selben Tag gestorbenen Amme, in den mütterlichen Schoß der Erde zurück. So sterben das väterliche Prinzip alter Autorität und das mütterliche Prinzip des versöhnlichen Trostes zugleich und finden im ewigen Frieden zueinander. Doch Methusalem hinterlässt, wie es im letzten Gedicht der Nächte, „Das Lied meines Lebens“, heißt, „Geschwister, die sich tödlich stritten“13 : die älteren, rechnenden, feilschenden, bürgerlichen Zwillingsbrüder und Grammaton, den Dichter. Das ältere Brüderpaar betrügt Grammaton um sein Erbteil und verweist ihn aus dem Palast, weil er sich „an ihrem Eigentum“, an der Säule des Vaterhauses vergreift, in die er seine Dichtung einschreibt: „Und er dachte, ich kann meine goldenen Gedanken nur prägen in Sternen und Zeichen in die Säule, die das Dach meines Vaterhauses trägt.“14 Diese Säule ist zunächst, ebenso in ihrer Vertikalität und Höhe wie in ihrer Funktion als Stütze der hierarchischen Autorität des väterlichen Hauses, als dichterische Tradition des Erhabenen zu verstehen, die Grammaton ursurpiert. Er schreibt seine Buchstaben zunächst in diese Säule, weil er, wie es heißt, „dachte“, sie sei seine einzige Ausdrucksmöglichkeit, der „Tempel seiner Kunst“, doch im Zuge seiner Vernichtung des Geschlechts der Väter zerstört er dieses Medium seiner Dichtung selbst, weil er sie als Bestandteil, sogar als Stütze des 11 Ebd. 12 Lasker-Schüler verwendet diesen Begriff in Mein Herz in buntem Durcheinander zur Bezeichnung einiger von ihr verehrter Dichter, Denker und „Religionsstifter“. Lasker-Schüler, Mein Herz, S. 46. 13 Lasker-Schüler, Nächte, S. 82. 14 Ebd., S. 79.

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Systems erkennt. Nachdem er aus dem Hause des Vaters, aus dem himmlischen Paradies, vertrieben wird, rächt sich Grammaton nach biblischer Art: Und sein Hass dehnt sich aus auf die Kinder und Kindeskinder und er streute kranke Saat unter sie und eines riss das andere vom Erdboden fort. Aber ebenso schnell wuchsen sie wieder auf, von Kindeskind zu Kindeskindeskind, und starb der Vater, so ersetzte ihn ein Sohn in der Nacht. Und Grammaton sah ein, die ganze Stadt war mit ihm verwandt und sein Hass wuchs von Glied zu Glied und er zertrat das mutwillige Zieglein, was ihm in den Weg lief – ehe es wiederkehre einmal auf zukünftigem Sterne als irgendeines kommenden Urneffen SohnesSohnesSohn. Und es gelang ihm, das Geschlecht Methusalem auszurotten und das waren alle Einwohner der Stadt, und selbst der Tempel der Stadt, die Säule, die das Dach seines Vaterhauses trug, verschonte er nicht.15

Die biblische Sprache, in der Grammatons Vernichtung des Geschlechts der Väter beschrieben wird, erinnert an den Befehl Gottes an den Judenkönig Saul, die Amalekiter, die Feinde Israels, auszurotten: „Verschone sie nicht, sondern töte Mann und Frau, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel“ (1. Samuel 15,3). Saul befolgte jedoch nicht das göttliche Gebot, sondern ließ den Amalekiterkönig Agag und „die besten Schafe und Rinder und das Mastvieh und die Lämmer“ am Leben (1. Samuel 15,9); die Feinde Israels überlebten. Der biblische Prophet Bileam hatte jedoch den Sieg über die Amalekiter in einem messianischen Orakel vorausgesagt: „Sein König wird höher werden als Agag und sein Reich wird sich erheben.“ (4. Mose 24,7) Grammaton „erfüllt“ diese Ankündigung Bileams und tötet seine Feinde, und auch „das mutwillige Zieglein, was ihm in den Weg lief – ehe es wiederkehre einmal auf zukünftigem Sterne“, verschonte er nicht.16 Aufgestachelt wurde Grammaton zu diesem apokalyptischen Akt von einem Raben, der als „Schwarzer“ teuflische Züge trägt und unter dessen Eingebung Grammatons „Seele aufging unter Morgenleuchten und sich füllt mit Gold“: Durch ihn erkennt er seine Berufung zum rebellischen Erlöser, nimmt den Auftrag an. Dieser Rabe ist die Inkarnation Henochs, des Vaters von Methusalem. Der Großvater in Rabengestalt, heißt es, „konnte nicht mehr sterben“: Die Legenden um den biblischen Enoch beziehen sich tatsächlich auf den enigmatischen biblischen Ausspruch „[U]nd weil er mit Gott wandelte, nahm in 15 Ebd. 16 Rabbinische Legenden erklären das Wiederaufleben der Feinde Israels aus der Seelenwanderung der Amalekiter in die Gestalt ihrer Schafe und Rinder; wenn Grammaton das Zieglein tötet, dürfte das eine Anspielung auf diese Legende sein.

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Gott hinweg, und er ward nicht mehr gesehen“ (Gen. 5,24), der als Enochs Umgehung des Sterbens aufgefasst wird. In der apokryphen Tradition wurde Enoch als Held betrachtet, in rabbinischen Kreisen hingegen als Verkörperung des Bösen. In manchen apokryphen Schriften ist Enoch ein Bote Gottes und erscheint als göttlicher Schriftführer.17 Er ist der Held und Verfasser apokalyptischer Schriften; zwei der bedeutendsten apokalyptischen Werke werden ihm zugeschrieben, die das Kommen des Messias nach einer radikalen Vernichtung ankündigen. In einer Analogie dieser Funktion erscheint der Rabe Henoch in der Erzählung als Bote, der „in warnendem Tone“ zu Grammaton spricht, ihn zum Aufstand gegen die ungerechten Brüder aufruft und die Rolle des teuflischen, jedoch befreienden Aufrührers in der erlösenden Ausrottung der Väterwelt einnimmt. Henoch verkörpert die Hinwendung zum Archaischen, die die ganzen Nächte durchzieht und in den vielfältigen intertextuellen Verweisen auf biblische, mythische und antike Referenzen verwirklicht ist. Ist Grammatons Dichtung als Inschrift des „neuen Buchstaben“ in den Nächten vergegenwärtigt, so steht sein Begleiter Henoch für die mythisch-archaische Dimension, die die avantgardistische Ausrichtung des Buches begleitet. Dieses Zurückgreifen auf die Urzeit verweist auf die romantisch-expressionistische Auffassung einer „gefallenen“ bürgerlichen Gesellschaft, die den Menschen von seiner ursprünglichen Bestimmung entfremdet hat. Nur durch eine messianisch-revolutionäre Apokalypse und in einer neuen mythischen Zeit kann er zu einem „Neuen Menschen“ umgeformt und erlöst werden. Auf Henochs Drängen rächt sich Grammaton und vernichtet das Geschlecht Methusalems – „und das waren alle Einwohner der Stadt“: Grammaton räumt auf. Sein Aufstand und Umsturz hat gesellschaftliche, religiöse und ästhetische Dimensionen. In einer grotesk-apokalyptischen Zerstörung der Autorität der Alten beseitigt er dergestalt die ganze, mit ihm verwandte Stadt mit all den Bürgern und Philistern, Priestern und Patriarchen – und seien es die Verleger und Lektoren, die Lasker-Schüler in ihrem Pamphlet „Ich räume auf!“ anklagt –, die den „himmelbegnadeten“ Dichter aus der Stadt verbannten und seine revolutionäre Befreiungsbotschaft verhinderten. Der Schluss der Erzählung liegt in zwei Versionen vor, wovon eine der Erstausgabe, die andere einem als Vortragsexemplar verwendeten Manuskript entnommen ist. Beide Versionen sollen hier einzeln betrachtet und miteinander in Beziehung gebracht werden. Am Schluss der Manuskriptversion sitzt Grammaton mit Henoch „an seinem feuersicheren, unzerstörbaren Schreibtisch“ und singt: 17 „Enoch [is] the righteous scribe [who] acts as the intermediary between [men] and God.“ Encyclopedia Judaica, Bd. 6, 1974, S. 795.

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Was kommt dort von der Höh Was kommt dort von der Höh? Was kommt dort von der ledern’ Höh Zieh, zah ledern! Höh Was kommt dort von der Höh? Es ist Methusalem Es ist Methusalem Der lederne Herr Herr Papa Zieh zah Herr Papa Papa Methusalem!!!

Grammaton wurde von den Philister-Brüdern aus dem väterlichen Palast gejagt, weil er sich an ihrem Eigentum, an den Säulen des Vaterhauses vergriffen hatte. Im letzten Akt der Ausrottung des Vatergeschlechts vernichtet Grammaton auch den „Tempel seiner Kunst“: „[U]nd selbst seinen Tempel, die Säule, die das Vaterhaus trug, verschonte er nicht.“18 Mit der Vernichtung der Kunst als Tempel, als Säule des Vaterhauses, als vertikales, hierarchisches Erhabenes, die im verhöhnenden Kinderreim vom Vater, der von der Höh kommt, verwirklicht ist, besiegelt Grammaton, der neue Buchstabe, den Aufstand gegen die Autorität der Philister und Patriarchen. Er wird zur Erlöserfigur als Künder einer ikonoklastischen, blasphemischen Kunst: Dass mit dem Vater, der von der Höh’ kommt, auch der erhabenste aller Väter nicht ausgespart ist, zeigt eine Stelle im beinahe zwanzig Jahre später erschienenen Essay „Ich räume auf!“, an der Lasker-Schüler auf denselben Kinderreim anspielt, ja ihn als ihr Erkennungszeichen einsetzt. Sie erwähnt dort ihre Freundin Paula Dehmel, die Frau Richard Dehmels: Schon auf Erden trug sie zwei Flügel und schwebte über alle Undinge. Auf dem Weg zu ihr erkannte sie mich schon: „Was kommt dort von der Höh’“ – an meinem Pfeifen noch fern vom Tore … „Das Flackerlicht von Horeb kommt“. Aber heute flackere ich nicht mehr, ich brenne geliebte Spielgefährtin im Himmel, ich rauche – ein feuerspeiender Berg, ich speie glühenden Aschenregen, Unmenschen zu verschütten, aufzuräumen für mich, für dich, für die Lebenden, für die toten Dichter, für die Dichtungen aller Ewigkeit.19

18 Lasker-Schüler, Nächte, S. 80. 19 Lasker-Schüler, Else: Ich räume auf!, in: Dies.: Der Prinz von Theben und andere Prosa, Gesammelte Werke in acht Bänden, München 1986, Bd. 4, S. 332.

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„Das Flackerlicht von Horeb kommt“: Horeb ist bekanntlich ein anderer Name des Berges Sinai. Die da vom heiligen Berge flackert, ist Lasker-Schüler selbst: Ihre Usurpierung der göttlichen Höhe ist jedoch nicht als messianische Selbsterhebung zu lesen, sondern als schelmische Subversion der erhabenen Ursprünge der biblischen Sprache und ihrer Gebote, auf die sie anspielt. Ihr Ziel ist hier, wie am Schluss der Erzählung, das Aufräumen mit den „Unmenschen“, die den Dichter verbannen. Doch Grammatons Vernichtung der Säule, die das Dach des Vaterhauses trägt, kann auch in einem weiteren Sinn aufgefasst werden: Sie ist als „Tempel seiner Kunst“ nicht nur als dichterische Tradition des Erhabenen zu verstehen, sondern als Sprache überhaupt. Anstelle des Kinderreims, den Grammaton „am feuersicheren, unzerstörbaren Schreibtisch“ singt, endet die Erzählung in der Erstausgabe mit den Worten: „[U]nd er, Grammaton, saß auf dem Schwanz eines steinernen Affen und sang: „i! ü! h iii è!!“ / „i! ü! h iii è!!“.20 Ist der Kinderreim des Manuskripts als Aktualisierung von Grammatons Zerstörung erkennbar, so geht die gedruckte Version einen Schritt weiter im Sinne einer ikonoklastischen Kunst: Die Säule von Grammatons „Tempel seiner Kunst“ ist die Sprache als geregeltes Kommunikationssystem überhaupt, die Zerstörung dieser Stütze des Vaterhauses gilt daher der Sprache selbst. Der Nonsens der letzten „Verse“ – der allerhöchstens als wilder Triumphschrei gedeutet werden kann – vollzieht die für die radikale Avantgarde charakteristische Selbstaufhebung der eigenen Kunstsprache mitsamt ihrer immer schon durch die Tradition und ihre Autorität mitgeprägten Affirmation und Sinnhaltigkeit bis zur letzten Konsequenz. Noch weitreichender kann, da Grammaton der (geschriebene) Buchstabe ist,21 der diesen Tempel vernichtet, aus dieser Stelle eine Reflexion über das Verhältnis der Schrift zur Sprache gewonnen werden. In einer späteren Ausgabe der Nächte, in der der „Schwanz des steinernen Affen“ den „feuersicheren, unzerstörbaren Schreibtisch“ als Ort des triumphalen Aufstands ersetzt, ist der Affe zunächst ein „groteskes“ Tier und in dieser Eigenschaft das Attribut des mythologischen Schelms. In der griechischen Mythologie – und Grammaton ist Grieche – ist er ein Kerkope, ein in einen Affen verwandelter Gaukler, Possenreißer und Taschendieb. Der Sitz Grammatons auf dem Schwanz des Affen erscheint in dieser Hinsicht als ideale Kulisse seines Jubelgeschreis und als Steigerung des grotesken Elements der Erzählung. Dies erklärt jedoch noch nicht die Verbindung zwischen den beiden Versionen des Endes von „Der Dichter von Irsahab“. Der scheinbar willkürliche Zusammenhang zwischen dem Schreibtisch der ersten Version und dem Affen der zweiten erhellt sich, wenn 20 Lasker-Schüler, Nächte, S. 80. 21 Im Griechischen bezieht sich γραμμα spezifisch auf den geschriebenen Buchstaben, im Gegensatz zum allgemeineren στοιχειν.

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erinnert wird, dass der Affe in der ägyptischen Mythologie die Inkarnation des Gottes Thot (Bz. Theuth) ist, des Gottes der Schrift. In der ägyptischen Ikonographie ist Thot ein Vogel, ein Ibis, zur Seite gestellt, wie der Rabe, der in den Höhlen der Schultern Grammatons sitzt. Thot ist, wie Henoch, ein göttlicher Schriftführer. Die Zuordnung des Affen zu Hermes erfolgt über die Figur Thots, der den Kontext der Anspielungen am Ende der Erzählung erklären könnte: Thot ist häufig an subversiven Aktionen gegen den König beteiligt. Er hilft den Söhnen, sich von der väterlichen Macht zu befreien. Letztendlich ersetzt der Gott der Schrift selbst den König. Von daher eröffnet sich die Möglichkeit, einem fein gesponnenen Netz von unerwarteten Zusammenhängen nachzugehen. In welchem Kontext ist ein Verhältnis zwischen dem ägyptischen Gott Thot und dem griechischen Buchstaben Grammaton zu situieren? Eine überzeugende Quelle bietet sich an: Platons Phaidros, in dem Sokrates seinem Begleiter im Kontext einer Erwägung des Werts der Rhetorik (als Kunst) gegenüber der Dialektik (als Philosophie), der Schrift gegenüber der reinen Wahrheit des Logos, die Szene erzählt, in der Thot dem König von Theben, Thamus, seine Erfindung, die Kunst der Buchstaben, präsentiert und von diesem abgewiesen wird: Ich habe also gehört, zu Naukratis in Ägypten habe es einen der alten Götter des Landes gegeben, dem auch der heilige Vogel, den sie Ibis nennen, geweiht war. Diese Gottheit trage den Namen Theuth. Dieser habe zuerst Zahl und Rechnung erfunden, und Messkunst und Sternkunde, dann Brettspiel und Würfelspiel und schliesslich auch die Buchstaben [γραμματον oder Grammaton]. König über das gesamte Ägypten war damals Thamus in der grossen Stadt des oberen Landes, welche die Hellenen das ägyptische Theben nennen. Zu diesem kam Theuth und zeigte ihm seine Künste und sagte, man müsse sie auch anderen Ägyptern mitteilen. Thamus aber fragte von jeder, welchen Nutzen sie brächte und wie jener es erklärte, so lobte er und tadelte was ihm gut und nicht gut erklärt schien. Thamus soll nun dem Theuth vieles für und vieles gegen jede dieser Künste erklärt haben, was zu weitläufig zu erzählen wäre. Als er aber zu den Buchstaben kam, sagte Theuth: „Diese Kunde, o König, wird die Ägypter weiser machen und ihr Gedächtnis erhöhen, denn zur Arznei für Gedächtnis und Weisheit wurde sie erfunden.“ Der aber erwiderte: „O kunstreicher Theuth, ein anderer ist fähig, die Werkzeuge der Kunst zu erzeugen, ein anderer wieder zu beurteilen, welches Los von Schaden und Nutzen sie denen erteilen, die sie gebrauchen werden. Auch du sagtest jetzt als Vater der Buchstaben

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Vivian Liska

[πατερ ον Γραμματον oder pater ôn grammaton] aus Zuneigung das Gegenteil dessen, was sie bewirken“.22

In „La Pharmacie de Platon“ erläutert Jacques Derrida anhand dieser Stelle die Gründe für die Ablehnung der Buchstaben durch den König:23 Die Schrift wird von ihm als gefährliches Pharmakon gedeutet, weil sie die Anwesenheit des Ursprungs – die Gegenwart des Vaters – überflüssig macht. Die Schrift liquidiert somit die Autorität des Autors der Buchstaben, usurpiert den Vater des Logos und setzt sich an dessen Stelle, allerdings ohne diese endgültig und greifbar, also wiederum angreifbar, zu besetzen. In der Groteske „Der Dichter von Irsahab“ geschieht genau dies. Wenn Grammaton, zumal schon in seiner Funktion als Dichter, als Sprachrohr LaskerSchülers ausgewiesen werden kann, so spielt diese auch gleichzeitig mit ihrer Persona: Die ambivalente, mokierende Beschreibung von Grammatons „Edeltränen“ über den Verlust seines Erbteils und vom „mutwilligen Zieglein“, das Grammaton in seiner Vernichtungswut zertritt, ja der Exzess dieser Vernichtung selbst schaffen eine ironische Distanz, die die Aussage nicht etwa in ihr Gegenteil verkehrt, sondern die auktoriale Perspektive auf das beschriebene Geschehen verunsichert. Ebenso wird, quasi als Illustration des Vatermords, die biblische Sprache der Autorität, die in diesen Zeilen anklingt, gleichzeitig gebraucht und unterwandert. Diese Form sprachlicher Usurpierung entspricht der inhaltlichen Subversion der Stelle, die auf ein gewalttätiges Gebot des Gottvaters anspielt, um es gegen eben diese Autoritätsinstanzen zu wenden. Grammaton, der Buchstabe, der in aller Respektlosigkeit auf dem Schwanz des steinernen Affen, der Statue seines Vaters Thot, sitzt, deutet auf die Schrift als närrischer Vatermörder, der die hierarchische, ausgrenzende Wahrheit des allmächtigen Einen unterwandert. Grammaton wird allerdings nicht zum Meister der Schrift, sondern bleibt anarchischer Rebell, der am Schluss in sinnlosen Lauten, in stammelnden, höhnenden, triumphalen Kampfrufen die kreative Provokation der Avantgarde im Übergang vom Expressionismus zum Dadaismus vorwegnimmt. 3.

Coda

Lasker-Schülers Entwürfe des Untergangs der alten und der Geburt einer „neuen“ Welt, wie sie die Avantgarde mit großer Geste anvisierte, sind mit der Klage

22 Platon, Phaidros, (274 c,d), hg. v. Kurt Hildebrandt, Stuttgart 1991, S. 86. 23 Derrida, La Dissemination, S. 69–180, hier S. 99–101.

Autopoiesis und Avantgarde

über die Vergeblichkeit dieses Vorhabens verbunden. So enden die Nächte mit einem dunklen Gedicht: Das Lied meines Lebens Sieh in mein verwandertes Gesicht Tiefer beugen sich die Sterne Sieh in mein verwandertes Gesicht. Alle meine Blumenwege Führen auf dunkle Gewässer, Geschwister, die sich tödlich stritten. Greise sind die Sterne geworden…. Sieh in mein verwandertes Gesicht.24

Das Schlussgedicht von Die Nächte spricht von „sich beugenden Sternen“, „dunklen Gewässern“ und „Geschwistern, die sich tödlich stritten“25 . Gezeichnet von Schwermut, ist das Gedicht bedingt vom Wissen um die Wirkungslosigkeit der eigenen Botschaft, die nur von einer schwachen Hoffnung durchdrungen ist. Der letzte Versuch, sich in diesem Gedicht mitzuteilen, liegt in der Aufforderung an den Leser, die eigene Niederlage zu teilen und das Ausbleiben der Erlösung wahrzunehmen. So nimmt das Gedicht zuletzt Anspruch und Scheitern der avantgardistischen Hoffnung auf Erneuerung aus dem Geist der Dichtung vorweg. Diese trauernde Skepsis, die Lasker-Schülers Nächte beendet, beugt dem Abgleiten ihres Aufrufs zur Rebellion in pathetische und leere Gesten vor und sieht die Gefahr der Avantgarde voraus, sich selbst in Rivalitäten, Verbürgerlichung und der eigenen Selbstherrlichkeit aufzuheben. So zeigt sich Lasker-Schüler in ihrem Frühwerk nicht nur als Vorläuferin der Avantgarde, sondern auch als Prophetin von deren sich erst Jahrzehnte später vollziehendem Untergang.

24 Lasker-Schüler, Nächte, S. 82. 25 Ebd.

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Mediale Präsenzen

Hildegard Frübis

Zwischen den Welten Jüdisches Erinnern und die Fotografien Roman Vishniacs aus den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg

Als Roman Vishniac 1947 in Berlin eintraf, kehrte er in eine Stadt zurück, in der er bereits vor dem Zweiten Weltkrieg mehr als ein Jahrzehnt gelebt hatte. Berlin war die Stadt, in der er in den 1920er-Jahren – nach seiner Emigration aus Russland – seine Karriere als Berufsfotograf begonnen und wo er die neusten Tendenzen der Fotografie kennengelernt hatte – wie beispielsweise die der „street photography“. Es waren zugleich die Jahre, in denen er mit seinen Fotografien den Aufstieg des Nationalsozialismus verfolgte, wie einige Aufnahmen von Straßenszenen zeigen, die auch seine Tochter Mara festhalten. Eines dieser Fotos zeigt die damals Siebenjährige, wie sie vor einem Schaufenster posiert, das die Veränderungen Berlins im Zeichen des Nationalsozialismus dokumentiert (Abb. 1). Die fotografierte Szene ist gleich einem Bild im Bild komponiert. Verschiedene Bild- und Textträger sind zu erkennen, die mittlerweile in ihrem zeitlichen Abstand zu historischen Zeugen geworden sind. Zentral in der Mitte des Bildes ist ein Schaufenster platziert, das für den „Plastometer“ – ein Instrument zur Schädelvermessung – wirbt. Dieser wurde in der Auslage des Ladenfensters anschaulich auf dem Kopf einer Modellpuppe präsentiert. Der darüber angebrachte Schriftzug „Rassenpflege!“ – mit Ausrufezeichen – signalisiert den Einsatzbereich dieses Instruments. Die in dem Schaufenster aufgestellten weißen Schrifttafeln informieren über den Rasseforscher Burger-Villingen und den von ihm erfundenen Plastometer. Neben dem Fenster sind zu beiden Seiten Plakate zu erkennen, die, versehen mit Hakenkreuz-Symbolen, auf der linken Seite zu einer „Massenversammlung“ aufrufen und rechts zu einem „Wohltätigkeitsfest“ einladen. Wie den Erinnerungen von Vishniacs Tochter Mara zu entnehmen ist, war sich Vishniac der Gefahr, die das Fotografieren solcher Szenen 1933 für ihn bedeuten konnte, durchaus bewusst. Absichtlich ließ er seine Tochter vor dem Schaufenster posieren, um gegebenenfalls sein Foto als persönliches Erinnerungsfoto ausgeben zu können. 1947 kehrte Vishniac also in eine Stadt zurück, aus der er über ein Jahrzehnt zuvor hatte fliehen müssen und die mittlerweile zum Synonym einer „Ruinen-Stadt“ geworden war. Ähnlich wie sein berühmter Kollege Robert

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Abb. 1: Roman Vishniac, Vishniacs Tochter Mara vor einer Schaufensterauslage mit dem „Plastometer“, Berlin, 1933.

Capa hielt auch er die Stadt und ihre Trümmer in mehreren Fotografien von 1947 fest. Unter diesen Fotografien vom zerstörten Berlin findet sich auch eine Doppelbelichtung, in der zwei übereinander gelegte Bildmotive zu erkennen sind (Abb. 2): Durch die Ruinen eines Hauses sieht man auf eine noch stehende Häuserfront, während ungefähr in der Bildmitte – nur schemenhaft zu erkennen – Kinder beim Spielen in den Ruinen zu sehen sind. Mit dieser „Szene mit spielenden Kindern“ knüpft er an Bildmotive der Vorkriegszeit an, wie er sie beispielsweise Mitte der 1930er-Jahre mehrfach fotografiert hatte (Abb. 3). Auch in dieser Fotografie lassen sich die Zeichen der „neuen Zeit“ erkennen: In der Straßenflucht im Bildhintergrund sind an einzelnen Häusern die NS-Fahnen mit der Swastika zu erkennen. Nun nach dem Krieg und in den Trümmern wird die Doppelbelichtung zur Aussage über den Alltag im kriegszerstörten Berlin, in dem bereits wieder ein neues Leben beginnt. Zugleich zeigt die Überblendung, wie Vishniac seine Vorkriegseindrücke mit der Gegenwart der Nachkriegszeit verbindet.

Zwischen den Welten

Abb. 2: Roman Vishniac, Doppelbelichtung von Ruinen und spielenden Kindern auf der Straße, Berlin, 1947.

Während diese Fotografien auf Vishniacs privaten Streifzügen durch das Nachkriegsberlin – und das was von ihm übrig geblieben war – entstanden sind und seine persönliche, individuelle Erinnerung an die Stadt als sein ehemaliges Zuhause repräsentieren, gehören die Fotografien aus den Displaced-PersonsLagern – auch DP-Lager genannt – einer ganz anderen Gattung von fotografischen Bildern an.1 Vishniac kehrte in das Nachkriegsberlin mit einem Auftrag des Jewish Joint Distribution Committee – abgekürzt auch JDC oder Joint genannt – zurück. Mit seinen Fotografien für den Joint, die seit dem Ersten 1 Siehe auch Grossmann, Atina/Pratt, Avinoam: Vishniac and the Surviving Remnant, in: Benton, Maya (Hg.): Roman Vishniac Rediscovered, München, London und New York 2015, S. 205–210.

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Abb. 3: Roman Vishniac, Spielende Kinder auf der Straße mit Hakenkreuz-Fahnen, um 1935.

Weltkrieg zentrale amerikanische jüdische Hilfsorganisation, sollte er die Situation der heimat- und staatenlosen jüdischen Überlebenden in den DP-Lagern dokumentieren und für die finanzielle Unterstützung des JDC und seine Arbeit in Europa werben. Zwei Jahre nach Ende des Krieges mussten die meisten der Holocaust-Überlebenden noch immer unter meist unzulänglichen Bedingungen in den für sie eingerichteten Lagern leben. Dem Fotografen Vishniac kam hierbei eine durchaus nicht einfache Aufgabe zu. Seine Aufnahmen sollten mehrere Anliegen zugleich erfüllen: Einerseits ging es um die Unterstützung der Arbeit der Hilfsorganisationen, andererseits aber sollte Druck auf die amerikanische Militärregierung ausgeübt werden, um den unhaltbaren Zustand der

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Abb. 4: Roman Vishniac, Szene aus einem Displaced-Persons-Camp, wahrscheinlich Schlachtensee, Zehlendorf, Berlin, 1947.

DP-Lager endlich zu beenden: Nachdem die Flüchtlinge die Konzentrationslager, Flucht und Vertreibung überlebt hatten, befanden sie sich nun im besiegten und zerstörten Deutschland in überfüllten Lagern und in einem Wartezustand, der für viele immer unerträglicher wurde.2 Eine dieser Fotografien Vishniacs ist eine Momentaufnahme, die trotz ihres Realismus zugleich die Symbolik dieses „Wartezustands“ enthält (Abb. 4). Aufgenommen wurde das Foto wahrscheinlich im DP-Lager Schlachtensee im Südwesten Berlins. Auf einem leeren Platz, der im Hintergrund von einer Mauer und rechts von Lagergebäuden umzogen wird, sind mehrere Kinder und zwei Erwachsene – wahrscheinlich Mitarbeiter der amerikanischen Hilfsorganisation – zu sehen. Die leichte Unschärfe der Aufnahme wie auch die Leere des Platzes sowie die scheinbar ziellosen Bewegungen der Personen in diesem Raum

2 Grossmann, Atina: Der gerettete Rest. Jüdische Displaced Persons in der amerikanischen Besatzungszone, in: Dies.: Juden, Deutsche, Alliierte. Begegnungen im besetzen Deutschland, Göttingen 2012, S. 214–293.

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charakterisieren den Zustand des noch unentschiedenen Dazwischen – zwischen Vergangenheit und Zukunft –, in dem sich die Holocaust-Überlebenden gefangen sahen. Die ungeklärte Situation bedeutete für die Flüchtlinge zugleich ein Gefangensein in Europa: dem Ort ihrer Verfolgung und Vernichtung. In dem Foto Vishniacs wird hierfür eine Ikonologie entwickelt, die die Besonderheit dieses Zustands visualisiert: Die Mauer und die Gebäude, die den Platz innerhalb des Lagers bilden, symbolisieren die „Leere“ und das „in-between“ dieses Moments. Zugleich sind die Mauern ein Kennzeichen der Grenze zur Außenwelt: Zum einen beschreiben sie die Situation als die eines Gefängnisses, zum anderen unterscheiden sie zwischen dem Leben drinnen und draußen. Die meisten der jüdischen Überlebenden in den DP-Lagern stammten aus Ostund Mitteleuropa und betrachteten Europa als „blood soaked soil“3 , die es möglichst schnell zu verlassen galt: „Der Verlust ihrer Familien, die Zerstörung ihrer Gemeinden, der weiterhin virulente Antisemitismus, der in den Gewaltexzessen in Kielce im Juli 1946 gipfelte, führte dazu, dass sie in ihrer früheren Heimat keine Zukunft mehr sahen.“4 Während sich Europa langsam politisch und ökonomisch neu ordnete, waren die Überlebenden zu staatenlosen Flüchtlingen geworden, die auf ihre Weiterreise und den Beginn eines neuen Lebens warten mussten. Diese Situation des Transits bedeutete aus Sicht der Flüchtlinge, in einem Europa gefangen zu sein, das noch wenige Jahre zuvor der Ort ihrer Verfolgung und Vernichtung war. Vishniac fotografierte während seines zweimonatigen Aufenthalts in Berlin vor allem im DP-Lager Schlachtensee. Berlin bzw. Deutschland 1947 – das bedeutete die chaotische Situation der ersten Nachkriegsjahre. Nur einige Stichworte: Die beiden deutschen Nachkriegsstaaten formierten sich langsam, die amerikanischen Einwanderungsvorschriften wurden gelockert und für Israel begann sich eine Staatenlösung abzuzeichnen. Das JDC hatte die hauptsächliche Verantwortung für die Versorgung der meist traumatisierten und frustrierten jüdischen DPs übernommen, während die offizielle Autorität über die DPs bei der US-amerikanischen Militärregierung und dem UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) lag. Dass es tatsächliche überlebende Juden gab, die Fürsorge benötigten – etwa 250.000 zwischen 1945 und 1948 – war eine überraschende Feststellung, die sich erst langsam in der Arbeit der

3 Grossmann: Juden, Deutsche, Alliierte, S. 205. 4 Im fremden Land. Publikationen aus den Lagern für Displaced Persons, Einblicke in die Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. Begleitbroschüre zur Ausstellung, hg. v. der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz und der Stiftung Jüdisches Museum Berlin, Berlin 2015, S. 12.

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Behörden durchsetzte.5 Seit 1946 kamen Zehntausende sogenannter „Infiltrees“ hinzu. Dieser Begriff wurde für diejenigen verwendet, die unter den unterschiedlichsten Bedingungen Flucht, Vertreibung und Lager in Osteuropa überlebt hatten und die nun nach Berlin und in die DP-Lager im amerikanisch besetzten Bayern einreisten.6 Schlachtensee beispielsweise war ein ehemaliges sowjetisches Kriegsgefangenenlager, das 1946 unter dem Eindruck der zunehmenden Anzahl jüdischer Flüchtlinge aus dem Osten zusätzlich eingerichtet worden war. Zeitgenössische Beobachter konstatierten, dass es „sicherlich zu den Ironien der Geschichte [gehört], daß ausgerechnet Deutschland in den Nachkriegsjahren zum Rettungshafen für jüdische Flüchtlinge wurde.“7 Trotz aller Schwierigkeiten und Mängel entwickelten sich die Flüchtlingslager zu einer Beharrungsinstanz jüdischen Lebens.8 Die Überlebenden selbst fanden für sich die Bezeichnung der „She’erit Hapletah“ – ein Begriff, der aus den biblischen Schriften abgeleitet wurde und der so viel bedeutet wie „der gerettete Rest.“9 Schon in den ersten Monaten nach der Befreiung begannen sie in den Lagern ihre Selbstverwaltung zu organisieren und die Verantwortung für das Lagerleben zu übernehmen.10 Auch sprachlich äußerte sich dieses neue Selbstbewusstsein: Jiddisch wurde zur alt-neuen Verkehrssprache innerhalb der DP-Lager, und in der jiddischen Redewendung des „mir zaynen doh“ machten die Überlebenden ihren Anspruch auf ein neues Leben geltend.11 In dieser Situation des „in-between“ begann sich unter schwierigsten Bedingungen ein kulturelles Leben zu etablieren, das u. a. zur Gründung von Zeitschriften

5 In den Lagern lebten mehrheitlich Juden aus Mittel- und Osteuropa, die die Todesmärsche und Konzentrationslager überlebt hatten. Zumeist waren sie von den Alliierten auf deutschem Territorium befreit worden und konnten nicht mehr in ihre ehemaligen Heimatländer repatriiert werden. 6 Überwiegend waren dies polnische Juden, die den Krieg in Verstecken, im Untergrund oder in der Sowjetunion überlebt hatten. Siehe Grossmann/Pratt: Vishniac 2015, S. 206. 7 Brenner, Michael: Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945–1950, München 1995. 8 Grossmann: Juden, Deutsche, Alliierte, S. 214–293. 9 Ebd., S. 217. Der amerikanische Militärrabbiner Abraham Klausner erlebte die Befreiung des KZ Dachau und traf hier auf die osteuropäischen Überlebenden und ihre Suche nach Überlebenden. Dies führte zu dem begriffsprägenden Projekt „She’erit Hapletah“. Unter dieser Überschrift und mit Unterstützung der US-Armee begann er die Namen von Überlebenden zu sammeln. Vgl. ebd., S. 225. 10 Jüdische Flüchtlinge in den DPs organisierten sich umgehend als eigenständige politische Einheiten. Bereits am 1. Juli 1945 konstituierte sich das Zentralkomitee befreiter Juden in Bayern im DP-Lager Feldafing. Vgl. ebd., S. 226. 11 Die häufig genutzte Wendung stammt aus einem Partisanenlied, das Hirsch Glik nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto komponiert hatte. Vgl. ebd., S. 226.

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Abb. 5: Titelblatt, Jidischer Heftlings-Kongres in Bergen-Belsen, 25–27 September 1945, Broschüre des Zentralkomitees der befreiten Juden, Bergen-Belsen 1945.

sowie einer Vielzahl von Publikationen führte.12 Diese lieferten erste historische Bestandsaufnahmen des Massenmordes, waren politische Instrumente für die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina und Ausdruck der Hoffnung auf ein Leben weit weg von Europa. „Titel wie ‚Unser Mut‘, ‚Unser Weg‘, ‚Unsere Stimme‘, ‚Unser Wort‘ oder ‚Unterwegs‘ deuten den Aufbruch in ein neues Leben an und standen gleichberechtigt neben Zeitschriften, die wie fun leztn churbn (Von der letzten Zerstörung) die Geschichte der Juden während des Naziregimes zum Thema hatten.“13 Das aus dem Hebräischen abgeleitete „Khurban“ bedeutet in etwa „Verwüstung“ oder „Vernichtung“ und bezieht sich auf große historische, von Menschen gemachte Katastrophen. Lange bevor der Terminus „Holocaust“ eingeführte wurde, wurde in den Lagern der Begriff zur Bezeichnung der Vernichtung während des Nazi-Regimes verwendet. Eine dieser Zeitschriften erschien aus Anlass des Jüdischen Häftlingskongresses in Bergen-Belsen im September 1945 mit dem Abdruck des Konferenzprotokolls. Die Gestaltung des Titelblattes führt in emblematischer Weise die Verbindung von Zerstörung und nationalem Neubeginn vor (Abb. 5). „Auf schwarzem Grund steht das Wort ‚Jiskor‘ – gedenke. Darüber abgebildet ist ein gelber Stern. Flankiert werden die beiden Symbole von zionistischen Flaggen. Auf Englisch und Hebräisch wird gefordert, die Tore Palästinas, damals 12 Siehe hierzu ausführlich die Begleitbroschüre zur Ausstellung „Im fremden Land“ von 2015. 13 Im fremden Land, S. 8.

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noch britisches Mandatsgebiet, zu öffnen.“14 Verweist dieses Titelblatt auf die Perspektive des Neubeginns in Palästina, so verdeutlicht eine Sammlung von Gedichten aus dem Jahr 1947, die ebenfalls als Lagerpublikation erschien, den Blick auf Deutschland. „Im Zentrum des titelgebenden Gedichtbandes [Im Fremden Land, H.F.] von Mates Olitski stehen die traumatischen Begegnungen der DPs mit dem fremden und verhassten Deutschland. Den Gedichten über Deutschland sind zwölf Gedichte vorangestellt, die der Poet seinem Bruder Borech widmet, einem Schriftsteller, der 1941 ermordet worden war. Mates Olitski überlebte den Krieg in der Sowjetunion, von wo er 1946 nach Polen repatriiert wurde und zur Sche’erit Hapleta in Deutschland stieß.“15 Diese beiden Publikationen stehen stellvertretend für viele andere und beschreiben in nuce die Haltungen der DPs sowie die Selbstwahrnehmung ihrer Situation: Die Erinnerung richtete sich auf das, was in (Ost-)Europa zurück gelassen worden war – zum größten Teil die Toten –, die Gegenwart war durch ein „fremdes Land“ bestimmt und die Zukunft richtete sich auf den Neubeginn in Palästina. Inmitten dieser Paradoxien stehen auch die Fotografien Roman Vishniacs, die er während seines Aufenthalts in Europa anfertigte. Im DP-Lager Schlachtensee fängt er entscheidende Momente dieses Neubeginns jüdischen Lebens ein, in denen auch immer wieder Rückbezüge auf die europäisch-jüdische Geschichte vor dem Krieg zu finden sind. Ein häufiges Bildmotiv bilden die Szenen der Ankunft und der Wiedervereinigung von Familienangehörigen, Verwandten und Freunden (Abb. 6 und 7). Die Suche nach Verwandten gehörte zu den zentralen Anliegen der She’erit Hapletah in den DP-Lagern. Seit den ersten Tagen der Befreiung wurden in den Lagern Listen mit Vor- und Familiennamen, Geburtsort, Geburtsjahr und dem aktuellen Aufenthaltsort – meist in den Lagern – erstellt. Auf den Kontaktbögen oder auf der Rückseite der Abzüge notierte sich Vishniac Daten wie Namen, Alter und andere biografische Merkmale der abgebildeten Personen. Auch das Bildmotiv des Gruppenporträts, in dem sich Neuankömmlinge bewusst zu Erinnerungsfotografien aufstellten, findet sich hier häufig wieder (Abb. 8). Ebenfalls zu Schlachtensee gehören Szenen wie die von dem kleinen Mädchen Ruth Sternfeld mit seinem großen Reisekoffer, auf dem Name und Adresse in großen Buchstaben vermerkt sind (Abb. 9). Aus einer leichten Untersicht fotografierte Vishniac diesen Moment und machte damit den Koffer mit Namen und Adresse zum zentralen Bildmotiv. Von Ruth Sternfeld weiß man, dass sie 1939 in Berlin geboren wurde und entsprechend den NS-Gesetzen als Mischling galt. Trotz ihres prekären „Mischlings-Status 1. Grades“ gelang es ihr, in Berlin den Krieg zu überleben. Als Vishniac auf diese Szene in Schlachtensee 14 Ebd., S. 9. 15 Ebd., S. 26.

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Abb. 6: Roman Vishniac, Überlebende des Holocaust, wiedervereinigt am Bahnhof Wannsee, 1947.

traf, war Ruth Sternfeld inzwischen acht Jahre alt und bereitete sich auf ihre Emigration in die USA oder nach Palästina vor. In den Fotos von der Ankunft oder der Weiterreise – wie sie auf dem Bahnhof Wannsee entstanden – trifft man auf Bildmotive, wie sie nur vier Jahre zuvor und unter gänzlich anderen Bedingungen in den KZs entstanden waren. Auf Fotografien wie beispielsweise denen aus dem Lili-Jacob-Album,16 die im Sommer 16 Das Album wurde im KZ-Ausschwitz unter dem Titel „Umsiedlung der Juden aus Ungarn“ – ein entsprechend den SS-Begrifflichkeiten verklausulierter Titel – angefertigt. Nach dem neuesten Stand der Forschung wird auf den 56 Albumseiten eine Art Drehbuch entworfen,

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Abb. 7: Roman Vishniac, Überlebende des Holocaust erwarten Angehörige am Bahnhof Wannsee, 1947.

das „den aus Sicht der SS idealtypischen Ablauf des Massenmordes an den ungarischen Juden ab Mai 1944“ festhält. Hördler, Stefan/Kreutzmüller, Christoph/Bruttmann, Tal: Auschwitz im Bild. Zur kritischen Analyse der Auschwitz-Alben, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63, 7/8 (2015), S. 609–632, hier S. 616. Die im Mai 1944 nach Auschwitz deportierte ungarische Jüdin Lili Jakob fand das Fotoalbum nach ihrer Befreiung 1945 im KZ Mittelbau im Harz. Auf Fotografien des Albums erkannte sie sich und die Mitglieder ihrer Familie bei der Ankunft im Lager wieder. Schon 1946 wurde im Jüdischen Museum in Prag eine Kopie des Albums angefertigt; im Frankfurter Auschwitz-Prozess 1964 legte Lili Jakob das Album als Beweismittel vor. Gutman, Israel/Gutterman, Bella (Hg.): Das Auschwitz Album. Geschichte eines Transportes, Göttingen 2005.

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Abb. 8: Roman Vishniac, Verschiedene Szenen (Ankunft, Gruppenporträts) vom Bahnhof Wannsee und aus dem DP-Lager Schlachtensee, 1947, Kontaktabzug.

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Abb. 9: Roman Vishniac, Ruth Sternfeld, DP-Lager Schlachtensee, Zehlendorf, Berlin 1947.

1944 in Auschwitz bei der Ankunft der Transporte der sogenannten „UngarnAktion“ von Seiten der Täter aufgenommen wurden, sind die Motive der Gleise und Züge wie die Situation der Ankommenden, deren Gepäck sortiert wird, zu Ikonen der Vernichtung geworden (Abb. 10 und 11). In Erinnerung wie Bildgedächtnis werden in den Fotografien Vishniacs vom Neubeginn in den DP-Lagern somit die Spuren der Vergangenheit eingeschlossen. Sie erinnern an die nur wenige Jahre zurückliegenden Deportationen in die Konzentrationslager, die auf das Engste mit der Geschichte der DP-Lager verbunden sind. Mit der Erinnerung schaffen die Fotografien Vishniacs zugleich die Umkehrung der Situation: Bahnhöfe mit ihren Zügen und Gleisen, wie auch die Situation

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der Reise selbst, führen nun nicht mehr in den Tod, sondern stehen für den Neubeginn wie auch für die Rückeroberung des Lebens. Zu weiteren Fixpunkten des Alltags der Überlebenden in den DP-Lagern zählte die Vorbereitung auf ein neues Leben durch die zionistischen Verbände. In Szenen, wie sie auf einem der Kontaktabzüge zu sehen sind, fotografierte Vishniac die Aktivitäten eines Jugend-Sommercamps, das von der zionistischen Jugendbewegung Betar für die jungen Holocaust-Überlebenden, die auf ihre Emigration nach Palästina warteten, in München 1947 organisiert wurde (Abb. 12). Auf den Kontaktabzügen erhalten geblieben sind die Markierungen Vishniacs, mit denen er die für den Joint bestimmten Fotos auswählte, wie auch seine Einzeichnungen zur Beschneidung oder Vergrößerung der Reproduktionen. Für die meisten der überlebenden europäischen Juden stellte der Zionismus – als utopisches Ideal, wenn schon nicht als reales Ziel – letztlich die einzige Alternative dar.17 Die Präsenz des Zionismus in den DP-Lagern zeigt sich auch in einer Vielzahl von Aufnahmen, welche die Tätigkeiten der zionistischen Verbände zum Thema haben. In einer Fotografie Vishniacs steht das großformatige Porträt Theodor Herzls – aufgehängt an der Wand im Bildhintergrund – im Fokus der Darstellung (Abb. 13). Davor sitzen in Reihen geordnet jüdische Überlebende zusammen und singen. Mit dem als Bild im Bild gegenwärtigen Theodor Herzl ist in der Fotografie Vishniacs wieder ein Stück jüdischer (Vorkriegs-)Geschichte präsent. Die Aufnahme zeigt die Kopie eines der berühmtesten Herzl-Porträts, das 1903 von Hermann Struck als Radierung geschaffen wurde, sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu einer Ikone des Zionismus entwickelte und in zahlreichen Reproduktionen – bis hin zur Postkarte – massenmedial verbreitet wurde (Abb. 14). Wie schon in den Aufnahmen aus dem zionistischen Jugend-Sommercamp angedeutet (vgl. Abb. 12), repräsentierte die Idee des Zionismus eine Art „Konsens-Ideologie“ für die meisten der Überlebenden (der She’erit Hapletah). In der Ungewissheit der Nachkriegswelt war der Zionismus innerhalb der Lagerorganisation zu einer Art „Staat im Staate“ aufgestiegen, der sowohl den Traum eines jüdischen Staates in Palästina als auch ein Stück Sicherheit versprach.18 Gerade auf Fotografien wie „Beim Singen vor dem Herzl-Porträt“ oder der Ankunftsszene auf dem Bahnhof Wannsee (vgl. Abb. 13 und 7) zeigt sich eine der ästhetischen Praxen des Fotografen Roman Vishniac. Häufig verknüpfte er die Darstellung von Personen mit ausschnitthaften Szenen des sie umgebenden 17 Grossmann: Juden, Deutsche, Alliierte, S. 273. 18 Der Zionismus war in den zahlreichen kulturellen und politischen Aktivitäten des Lagerlebens präsent. Daneben wurden auch ganz praktische Dinge, wie das Erlernen der hebräischen Sprache oder das Erlernen von Berufen zur Vorbereitung auf die Alijah, die Rückkehr nach Eretz Israel, unterstützt.

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Abb. 10: Foto Nr. 32 aus dem Lili-Jacob-Album, Kap. Aussortierung, Yad Vashem.

Raumes. Mittels dieser Verbindung von Porträt und Raum entstand eine dokumentarisch orientierte Fotografie mit ethnographischen Akzentsetzungen. Wiederzuerkennen ist hier ein Modus, der an seine Fotografien aus der Vorkriegszeit anknüpft, in denen er das Leben der osteuropäischen Juden aufnahm. Zwischen 1935 und 1938 war Vishniac ebenfalls von Berlin aus und ebenfalls im Auftrag des Joint zu seinen Reportagen in das östliche Europa – u. a. nach Polen, Galizien und Rumänien – aufgebrochen. Er sollte mit seiner Kamera die Situation der notleidenden jüdischen Bevölkerung dokumentieren und für deren Unterstützung werben (Abb. 15). Betrachtet man sie im Vergleich, so lässt sich erkennen, dass Vishniac 1947 einmal mehr zum Chronisten jüdischen Lebens wurde (vgl. Abb. 7, 13 und 15). Wieder kombiniert er Porträts und Situationen, die in ihrer Auswahl und Konzentration zu „Ikonen“ jüdischer Lebensbeschreibungen im Bild wurden. Berichteten sie im Vorkriegseuropa über die ökonomische Notlage der osteuropäisch-jüdischen Gemeinden, so standen sie nun 1947 für „ein Leben aufs neu“19 – um eine weitere jüdische Redewendung dieser Jahre aufzugreifen.

19 Siehe Giere, Jacqueline/Salamander, Rachel (Hg.): Ein Leben aufs neu – Das Robinson Album. DP-Lager: Juden auf deutschem Boden 1945–1948, Wien 1995.

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Abb. 11: Foto o. Nr. aus dem Lili-Jacob-Album, Kapitel „Ankunft eines Transportzuges“, Yad Vashem.

Als Metapher der Vergegenwärtigung der Situation soll die eingangs beschriebene Fotografie noch einmal aufgegriffen werden (vgl. Abb. 4). Der dezidiert jüdische Anspruch auf ein „Leben aufs neu“ bezog sich auf das zeitlich und räumlich begrenzte Territorium der europäischen DP-Lager – allerdings in der Hoffnung, Europa möglichst bald zu verlassen. Für einen kurzen Zeitabschnitt entwickelte sich auf europäischem Boden ein Leben unter jüdischer Selbstverwaltung. Gekennzeichnet war dieses durch eine Lagersituation, die durch ihre Mauern oder Zäune klar zwischen drinnen und draußen unterschied. Trotz der – in einigen Fotografien angedeuteten – Erinnerungen an das europäischjüdische Leben vor der Vernichtung war Europa zu einem Kontinent geworden, zu dem man auf Distanz ging.

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Abb. 12: Roman Vishniac, Betar-Jugend-Sommercamp, unterstützt durch das JDC, München 1947.

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Abb. 13: Roman Vishniac, Jüdische Überlebende singen vor dem Porträt von Theodor Herzl, wahrscheinlich im Büro des jüdischen U.S.-Army-Kaplans Rabbi Mayer Abramowitz, Amerikanischer Sektor Berlin, 1947.

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Abb. 14: Hermann Struck, Bildnis Theodor Herzls 1903, Radierung.

Abb. 15: Roman Vishniac, Kontaktabzug mit Aufnahmen aus Osteuropa, zwischen 1935 und 1938. In den späten 1980er-Jahren markierte Vishniac einige Dutzend Fotografien mit „not in Vanished World“ – was sich auf seinen 1983 veröffentlichten Band „A Vanished World“ mit einer Auswahl an Fotografien aus Osteuropa bezog.

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Alexander Altmanns „Zum Wesen der jüdischen Aesthetik“1 Die Zeitschrift des Berliner Hildesheimer-Seminars Jeschurun eröffnete im Jahr 1927 die Mai/Juni-Nummer mit einem Artikel von „cand. phil. Alexander Altmann, Trier-Berlin“. Der Titel: „Zum Wesen der jüdischen Aesthetik“.2 Der Verfasser hatte beim Erscheinen gerade seinen 21. Geburtstag hinter sich und war naturgemäß ein unbeschriebenes Blatt. Gleichwohl wussten die Eingeweihten durch die Ortsangaben „Trier-Berlin“ sofort, um wen es sich handeln musste. Denn mit „Trier“ verwies man auf den Oberrabbiner der ältesten Stadt und auch der ältesten jüdischen Gemeinde Deutschlands, nämlich Dr. Adolf Abraham Altmann. Und mit Berlin war die Spur hin auf das eigene Seminar gelegt. Mit der Klassifizierung „cand. phil.“ war zudem eine Doppelung offengelegt, die Altmanns künftige Sonderstellung im orthodoxen Rabbinertum ausmachen wird: Er war zugleich auch immer Philosoph. Damit sind wir mitten im Leben und Werk eines bedeutenden Denkers, der als Gemeinderabbiner, Judaist, Philosoph und Wissenschaftsorganisator Außerordentliches leistete. 1. Bevor wir auf den Text eingehen, sei kurz auf die Familiengeschichte verwiesen, die für das Folgende eine eigene Bedeutung hat. Der am 16. April 1906 in Kaschau, wie das slowakische Košice3 bis 1918 hieß, geborene Alexander 1 Ich habe Petra Ernst zum letzten Mal im Dezember 2015 anlässlich eines Vortrages in Graz erleben dürfen. Petra moderierte meinen Vortrag, in dem es auch um Alexander Altmann ging. Es war alles wie immer – ein Zusammensein geprägt von intellektueller und persönlicher Freude an dem, was uns beide beschäftigte. Dass ich mich mit dem ersten Text Altmanns auseinandersetze, hat einen wesentlichen Grund in den Gesprächen, die ich mit Friedhelm Hartenstein während unseres gemeinsamen Forschungsaufenthalts am Maimonides Centre der Universität Hamburg 2017/18 führen konnte. Seinem gemeinsam mit Michael Moxter geschriebenen Standardwerk Hermeneutik des Bilderverbots. Exegetische und systematischtheologische Annäherungen (Leipzig 2016) verdanke ich meine Kenntnisse zum Thema. 2 Altmann, Alexander: Zum Wesen der jüdischen Aesthetik, in: Jeschurun 14 (1927), S. 209–226. Die Seitenzahlen im Text beziehen auf den hier vorgenommenen Wiederabdruck, der vom Autor und dem jungen Theologen Michel Stein durchgesehen und mit einigen wenigen Erläuterungen versehen wurde. Ich danke Michel Stein sehr herzlich für seine Mitarbeit. 3 Von 1938 bis 1945 gehörte die Stadt zu Ungarn und trug den Namen Kassa.

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Altmann war Teil einer bedeutenden Familie. Dies war der Geburtsort von Altmanns Mutter Malwine Sara Mindel, geborene Weisz, die mit 21 den knapp drei Jahre älteren Dr. Adolf Abraham Altmann heiratete. Aus der Ehe gingen neben Alexander noch die Kinder Erwin, Manfred, Wilhelm und Hilde hervor. Nach verschiedenen Stationen kam der Rabbiner Adolf Altmann 1907 in Salzburg an, wo er insgesamt acht Jahre verbringen sollte: bis 1914 und dann nach dem Ersten Weltkrieg nochmals von 1919 bis 1920. Seine Ausbildung hatte Altmann von 1893 bis 1899 an der legendären Landesrabbinerschule in Pressburg erhalten, wo später auch Alexander zeitweise studieren wird.4 Adolf Altmann gehörte zu den orthodoxen Rabbinern, allerdings war er gleichzeitig ein überzeugter Zionist. Eine Kombination, die nicht häufig anzutreffen war, die aber einen Hinweis gibt auf seine geistige Unabhängigkeit. In Salzburg schrieb der in Bern promovierte Literaturwissenschaftler und Philosoph Adolf Altmann wichtige seiner insgesamt 169 Schriften, so etwa den ersten Band der Geschichte der Juden in Stadt und Land Salzburg von den frühesten Zeiten bis auf die Gegenwart 5 , der in zahlreichen Rezensionen als Standardwerk gelobt wurde. Niemand geringerer als Martin Philippson würdigte das Werk in der Frankfurter Zeitung ausführlich.6 Während des Ersten Weltkriegs war Altmann, ebenso wie beispielsweise Leo Baeck oder die Brüder Albert und Julius Lewkowitz, Feldrabbiner.7 1920 kam es dann für die Familie Altmann zu einer entscheidenden Weichenstellung: Die Trierer Gemeinde wählte Adolf Altmann zum Oberrabbiner. Sehr schnell zählte er hier zu den angesehenen Bürgern der Stadt, der über alle konfessionellen Grenzen hinweg als Gesprächspartner geschätzt wurde. Ein Foto zeigt ihn neben dem Reichspräsidenten Hindenburg anlässlich eines Besuches in Trier. Zum Freundeskreis zählte auch der zeitweilige Vorsitzende der Zentrumspartei, Prälat Kaas. Altmann setzte seinen eigenwilligen Stil fort, in dem er sowohl dem 4 Zur Pressburger Jeschiva noch immer aufschlussreich Bettelheim, Samuel: Geschichte der Pressburger Jeschiva, in: Gold, Hugo (Hg.): Die Juden und die Judengemeinde Bratislava in Vergangenheit und Gegenwart, Brünn 1932, S. 61–70. Darüber hinaus siehe die Bemerkungen und weiterführende Literatur in Wilke, Carsten: „Den Talmud und den Kant“. Rabbinerausbildung an der Schwelle zur Moderne, Hildesheim 2003, S. 134–137, 167–169 u. ö. 5 Altmann, Adolf: Geschichte der Juden in Stadt und Land Salzburg von den frühesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Nach handschriftlichen und gedruckten Quellen bearbeitet und dargestellt. Erster Band: Bis zur Vertreibung der Juden aus Salzburg 1498, Berlin 1913. Der zweite Band erschien dann unter dem Titel Altmann, Adolf: Geschichte der Juden in Stadt und Land Salzburg von den frühesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Nach handschriftlichen und gedruckten Quellen bearbeitet und dargestellt. Zweiter Band: Von der Vertreibung der Juden aus Salzburg (1498) bis zur Errichtung der israelitischen Kultusgemeinde Salzburg (1911), Berlin 1930. 6 Philippson, Martin, Rez. Adolf Altmann, in: Frankfurter Zeitung Nr. 227, 19. August 1913. 7 Siehe Hank, Sabine/Hank, Uwe/Simon, Hermann (Hg.): Feldrabbiner in den deutschen Streitkräften des Ersten Weltkrieges, Berlin 2013.

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„Traditionell-gesetztreuen“ als auch dem „Allgemeinen Rabbinerverband“ beitrat. Außerdem gehörte er als sogenannter „Konservativer“ dem „Preußischen Landesverband jüdischer Gemeinden“ an. In Trier publizierte Altmann nahezu die Hälfte seiner Schriften. Besonders hervorzuheben ist hier ein zur Geschichte Salzburgs parallel geführtes Unternehmen über die Anfänge jüdischen Lebens in der einstmaligen Hauptstadt des Weströmischen Reiches.8 Darüber hinaus engagierte er sich als Lehrer und Organisator und war wichtiges Mitglied des lebendigen jüdischen Lebens in Trier. Leo Baeck, Martin Buber, Ernst A. Simon und viele andere kamen seinerzeit an die Mosel, um dort Vorträge zu halten und mit Altmann zu diskutieren. Besonders verbunden fühlte sich Altmann dem Hamburger Rabbiner Joseph Carlebach.9 Das Jahr 1933 bedeutete auch für die jüdische Gemeinde Trier einen existenziellen Einschnitt. Altmann blieb bis 1938 bei den ihm Anvertrauten und mühte sich, das Gemeindeleben aufrechtzuerhalten. 1938 floh die Familie nach Scheveningen, wo Altmann sich sofort in die Arbeit stürzte und vielfältige Gemeindeaktivitäten startete. Mit der deutschen Invasion am 10. Mai 1940 wurde auch in Holland das jüdische Leben zerschlagen. Für Altmann bedeutete dies zunächst, nach Groningen zu fliehen. Hier geriet zuerst der Sohn Wilhelm Altmann in die Fänge der Nationalsozialisten. Er starb am 30. September 1942 an den Qualen im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Auch die Tochter Hilde Altmann, ihr Ehemann und die beiden Söhne wurden im gleichen Lager im September 1943 ermordet. Trotz der von den verbliebenen Söhnen gestarteten internationalen Hilferufe – wobei sich allerdings alte Freunde der Familie wie der ehemalige Zentrumsvorsitzende Prälat Kaas taubstumm stellten – kamen Adolf und Malwine Altmann über Westerbork nach Theresienstadt und schließlich am 16. Mai 1944 ebenfalls nach Auschwitz-Birkenau. Wohl im Juni 1944 ist Adolf Altmann dort an Entkräftung gestorben, seine Frau trieb man Mitte Juli 1944 in die Gaskammern.10 8 Altmann, Adolf: Das früheste Vorkommen der Juden in Deutschland. Juden im römischen Trier, Trier 1932. 9 Siehe dazu Brämer, Andreas: Joseph Carlebach, Hamburg 2007. 10 Diese und die weiteren biographischen Informationen entnehme ich Altmann, Alexander: Adolf Altmann (1879–1944): A Filial Memoir, in: Leo Baeck Institute Year Book XXVI (1981), S. 145–168. Dieser Text ist auch als erweiterter Separatdruck des Leo Baeck Institute Jerusalem auf Hebräisch publiziert worden. Der Übersetzung von Daphna Amit und Debbie Eylon sind zwei Bilder beigefügt, von denen eines die Familie Altmann 1936 in Den Haag darstellt und das andere ein Porträt von Altmanns Ehefrau Malwine ist. Der vordere Umschlag zeigt ein Porträt des jungen Rabbiners Adolf Altmann, die Buchrückseite das Straßenschild „Dr.-AltmannStraße (Dr. Adolf Altmann, 1879–1944/45, Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Trier)“ in einem Trierer Neubaugebiet.

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Anders als seine Eltern und die beiden Geschwister samt deren Familien konnte Alexander Altmann den Nationalsozialisten entkommen. Ein Grund war, dass der 1931 in Berlin in Philosophie promovierte und im gleichen Jahr am Hildesheimer-Seminar ordinierte Altmann Anglistik für das höhere Lehramt studiert und die Prüfungen für die gymnasiale Oberstufe abgelegt hatte. So kam Altmann in letzter Minute zu einer Arbeitserlaubnis in England, wo er sich als Gemeinderabbiner in Manchester niederließ. Von dort führte ihn der Weg an die Brandeis University, wo er unter anderem neben Nahum Glatzer lehrte. Als Altmann 1987 in Boston verstarb, umfasste seine Bibliographie weit über 200 Einträge. Seine Forschungen umspannen die gesamte jüdische Philosophiegeschichte bis hin zu Autoren der Gegenwart, wie Harry Austryn Wolfson und Gershom Scholem, die Wiederbelebung der „Jubiläumsausgabe“ der Werke Moses Mendelssohns und die beiden Monographien zu dem jüdischen Aufklärer, die herausragende Monumente einer ebenso behutsamen wie konsequenten Fortführung der „Wissenschaft des Judentums“ sind. Nicht wenige der buchlangen Aufsätze wurden von Altmann zu Sammelbänden zusammengestellt. Und noch auf dem Krankenbett schrieb er ein Vorwort für den geplanten Band mit den frühen Aufsätzen, die er bis Ende 1938 in Deutschland veröffentlicht hatte. Dazu sollte es nicht mehr kommen.11 Wenn hier auch auf die genauere Nachzeichnung von Altmanns intellektueller Biographie verzichtet werden muss,12 so wird dennoch im Folgenden der eine oder andere Vorblick gewagt. Und das nicht, weil Altmanns Erstling das Kommende bereits enthielte, sondern weil der Text ein erster, geradezu unschuldiger Beitrag zu dem ist, was Leo Strauss 1935 mit dem Buch Philosophie und Gesetz inhaltlich auf den Punkt brachte – das Verhältnis von jüdischem und weltlichem, also griechischem, also philosophischem Denken.

11 In dem geplanten Sammelband sollte „Vom Wesen der jüdischen Aesthetik“ den Auftakt bilden. Der Autor dieses Beitrags bereitet die Herausgabe sämtlicher Schriften Altmanns bis Ende 1938 vor, inklusive der Dissertation über Max Scheler, die Altmann auf Anregung von Joseph Wohlgemuth vom Hildesheimer-Seminar an der Berliner Universität schrieb. 12 Siehe Meyer, Thomas: Alexander Altmann – Ein intellektuelles Porträt anläßlich seines 100. Geburtstages am 16. April 2006, in: Aschkenas 15 (2006), S. 535–571. Unverzichtbar für jede Beschäftigung mit Altmann ist zudem Mendes-Flohr, Paul: Introduction. Theologian before the Abyss in: Ivry, Alfred L. (Hg.): Alexander Altmann: The Meaning of Jewish Existence. Theological Essays 1930–1939, Hanover und London 1991, S. XII–XLVII und S. 146–157.

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2. In „Vom Wesen der jüdischen Aesthetik“ wendet sich der Autor Alexander Altmann mit einer erstaunlichen Einleitung an die Leser, die es verdient, vollständig zitiert zu werden: Es ist wohl unnötig, die Berechtigung der Problemstellung „Judentum und Aesthetik“ erst zu beweisen. Jeder Jude, der sich in den Aesthetizismus unserer Zeit hineingestellt erkennt, fühlt den Zwiespalt zwischen jüdischer und modern-ästhetischer Lebensform und legt sich selbst die Frage der Auseinandersetzung vor. Nur ein kurzes Wort zur Erklärung der Methode, die den Gang der folgenden Untersuchungen bestimmt, soll einleitend gesprochen werden. (X)

Der „Leser“ ist natürlich der orthodoxe Jude, aber einer, der sich in einem „Zwiespalt“ mit der „modern-ästhetische[n] Lebensform“ befindet. Ist dieser orthodoxe jüdische Leser also von der Aufklärung affiziert, gestört, irritiert? Nein, er nimmt den „Zwiespalt“ wahr und überführt ihn in eine Auseinandersetzung – er tut also das, was mit jedem Phänomen von „außen“ geschieht, das weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick für die Orthodoxie gemacht zu sein scheint. Mit diesen wenig spektakulären Sätzen, die nach einer Selbstverständlichkeit klingen, wird tatsächlich auf eine Diskussion rekurriert, die nicht nur die Orthodoxie intensiv beschäftigte. Im Zentrum der Diskussion stand die Frage, wie stark die Aufklärung und die aus ihr hervorgegangenen bürgerlichen Gesellschaften mit ihrem Emanzipationsangebot an die jüdischen Gemeinschaften das Selbstverständnis des Judentums beeinflusst haben. Schon die äußere Wahrnehmung einer – je nach Position – Ausdifferenzierung oder Zersplitterung jüdischer Gemeinschaften in liberale, konservative und orthodoxe, atheistische und agnostische Juden, um hier die gängig gewordenen und als Selbstzuschreibungen benutzten Begriffe zu verwenden, stellte spätestens mit den Verschärfungen während des Ersten Weltkriegs eine existenzielle Herausforderung jüdischen Lebens dar. Darauf wurde etwa mit der Ausrufung der Notwendigkeit einer „jüdischen Renaissance“ (Martin Buber) geantwortet – die diversen zionistischen Konzepte bezogen sich auf genau diese Situation, und es gab innerhalb der Orthodoxie heftige Debatten über die Stellung zur Moderne, wie sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft darstellte. Altmanns Lehrer Josef Wohlgemuth (1867–1942)13 etwa nahm zu diesen nicht bloß abstrakt über die „Dogmen“ oder „Ideen“ geführten scharfen Diskursen mittels einer 13 Eine Studie zu Wohlgemuth ist ein Desiderat: Wohlgemuth hatte erstmals 1899, durchgesehen 1909, gemeinsam mit Isidor Bleichrode (1867–1954) eine Übersetzung der Thora vorgelegt, die große Beachtung fand. Zusätzlich wurden die Haftarot in der Übersetzung von Lipman

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Kritik der Buber-Rosenzweig’schen „Verdeutschung der Schrift“ teil, die er 1926 ebenfalls in Jeschurun publiziert hatte. Neben theologischen Aspekten war vor allem Wohlgemuths Äußerung bemerkenswert, dass Buber und Rosenzweig gleichermaßen „nicht Geist von unserem Geist“ seien, und dass er zugleich den „Genius“ Hermann Cohens rühmte.14 Hier zeigte sich, wie komplex und ganz und gar nicht an den oben genannten Bezeichnungen entlang die Deutungskämpfe innerhalb der jüdischen Gemeinschaften geführt wurden.15 Altmanns Hinweis ist folglich als kondensierte Stellungnahme innerhalb dieser Formation zu sehen. Der darauffolgende Schwenk könnte radikaler nicht sein. Altmann führt nun kurz den aktuellen Stand philosophisch-ästhetischer Debatten vor, und zwar mittels Autoren, die zum allergrößten Teil in den Tiefen der ungeschriebenen Philosophiegeschichte jener Jahre versunken sind. Doch nicht dabei hält sich Altmann auf, vielmehr wählt er im Folgenden das Ausschlussverfahren, um die „unjüdischen“ Aspekte einer möglichen Bestimmung einer „jüdischen Aesthetik“ von vornherein auszuschließen. Bemerkenswert ist zudem, dass Altmann in diesem Zusammenhang von einer „Gewissensfrage“ spricht und über den Begriff der „Einfühlung“ zu einer „psychologischen“ Fragestellung kommt. Bemerkenswert deshalb, weil genau diese Wortwahl und die sich anschließenden Referenzen ganz aus der Philosophie jener Zeit stammen. Und wieder ist es notwendig, Altmann ausführlich zu zitieren, denn die folgende Äußerung verdeutlicht eine Position, die in den Rekonstruktionen der zwanziger Jahre kaum je aufscheint: Wie verhält sich nun die Psyche des Juden hinsichtlich der ästhetischen Norm der Einfühlung? Allgemein und typisch betrachtet, ist zu sagen: Die Forderung, den Einfühlungsakt zu vollziehen, stellt den Juden vor eine psychologische Schwierigkeit. Die BewegHirsch Loewenstein (1807–1850) beigegeben. Streng am mitabgedruckten masoretischen Text orientiert, lieferten Wohlgemuth und Bleichrode eine fast wörtliche Übersetzung. Zudem war Wohlgemuth, das fand bislang keinerlei Beachtung, ein intensiver Leser und auch Interpret von Max Scheler. Siehe vor allem: Wohlgemuth, Josef: Tschuvah. Grundgedanken der Religionsphilosophie Max Schelers in jüdischer Beleuchtung, in: Eisenmann, Heinrich/Landau, Josef (Hg.): Festschrift für Jakob Rosenheim. Anläßlich der Vollendung seines 60. Lebensjahres dargebracht von seinen Freunden, Frankfurt am Main 1931, S. 19–76. 14 Wohlgemuth, Joseph: Die neue Bibelübersetzung, in: Jeschurun 13 (1926), S. 1–16, hier S. 4. Siehe dazu Meyer, Thomas: Zwischen Philosophie und Gesetz. Jüdische Philosophie und Theologie von 1933 bis 1938, Boston und Leiden 2009, S. 173–175 mit weiterer Literatur. 15 Hermann Cohen galt als Galionsfigur des liberalen Judentums. Dass hinter diesen hier bloß angedeuteten Debatten die Frage nach der Stellung der Halacha sich nur schwach verbarg, dürfte aus dem Gesagten klar geworden sein.

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lichkeit seines Geistes hindert ein kontemplatives, geruhsames Sich-Versenken. Es fällt ihm schwer, auseinanderstrebende Eindrücke optischer Natur zu gliedern und zu binden, jeden Zug liebevoll mit Leben zu erfüllen und das Ganze durch tiefes In-Sich-Halten zur Harmonie auszuprägen. Er hat ein ungemein hohes Plus von Willenskraft nötig, um sich einem objektiven Kunstwerk hinzugeben. Dafür ist aber nicht etwa das Temperament verantwortlich zu machen. Denn es gibt Völker mit rascherem Temperament und gleichwohl leichterer Kontemplationsbegabung. Die Ursache liegt in der Wesensart der jüdischen Denkform begründet.

Altmanns typologische Betrachtung über „den Juden“ – das Thema seiner folgenden Betrachtungen – ist erläuterungsbedürftig. Aus Sicht der Rechtgläubigen sind Aussagen wie die eben angeführten nicht irgendwelche identitätspolitischen oder substanzialistischen Äußerungen. Altmann sieht sich hier an die durch die Gesetzestreue hervorgebrachte Eigenschaftenlehre gebunden. Gleichwohl tut er dies im Vokabular der Zeit. Die Rede von „Denkform“ ist in dieser Zeit neben „Denkstil“16 der letzte Schrei einer philosophischen Formenlehre, die ausgehend von Kants „Schematismus“-Kapitel in der Kritik der reinen Vernunft sich um die Fassung und Deutung einer genuinen philosophischen Form des Denkens bemüht. Weitaus wichtiger ist es jedoch, den Diskurs verstehen zu lernen, der hier geführt wird. Während Martin Buber oder Franz Rosenzweig, etwa in ihrer „Verdeutschung der Schrift“ oder den sie erläuternden Texten, ähnliche Aussagen als politische Stellungnahmen verstanden wissen wollen, sind Altmanns Formulierungen als Binnendiskurse zu verstehen. Hier geht es also im Gegensatz zu den Texten Nichtorthodoxer nicht um eine Analyse, die sich an Außenstehende wendet, sondern um die Behauptung eines im Wortsinne selbstverständlichen, also natürlichen orthodoxen Standpunktes. Der wird noch deutlicher, wenn wir uns folgende Passage ein wenig genauer anschauen: Es ist daher tief einzusehen, weshalb das zweite Gebot des Dekalogs nicht nur die primitive Triebverirrung der Bilderanbetung, sondern in umfassender und grosszügiger Stellungnahme den gesamten Komplex der plastischen Kunst ablehnt. Es wollte von vornherein jedes Verhältnis zur bildenden Kunst und die damit verbundenen Gefahren dadurch ausschalten, dass es die Plastik, das typische Objekt des Einfühlungsdranges, aus den Grenzen des jüdischen Lebens verwies. Das zweite Gebot richtet sich also nicht bloss gegen den blöden Götzendiener der Urzeit, sondern eben so scharf gegen den Natur- und Schönheitsanbeter etwa des hellenistisch eingestellten 20. Jahrhunderts. (X)

16 Systematisch entwickelt vor allem von Leisegang, Hans: Denkformen, Berlin 1928.

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Hier lässt Altmann erstmals die theologische Katze aus dem Sack, von der zudem längst zu erwarten gewesen war, dass es um sie gehen wird. Es ist das zweite Gebot des Dekalogs (Ex 20, 4/Dtn 5, 6), das mit dem Begriff pæsæl17 in erster Linie die Kultplastik meint, gleichwohl aber materialoffen ist. Liest man die entsprechenden Verse, legt man sie also, wie es Altmann hier tut und wie es von Friedhelm Hartenstein begriffsanalytisch ausgewiesen wird, Wort für Wort aus, dann erkennt man, dass in dem fraglichen Satz die „Präposition lamed mit dem Suffix der 2. Person (le ā ‚für dich‘)“ entscheidend ist. Verbaut man unter dieser Prämisse die fraglichen Verse in einen Syllogismus, dann unterstreicht der Schlusssatz, um was es geht – in den Worten Hartensteins: „Es soll kein ‚Bild‘ aus eigenem Antrieb und zur Befriedigung eigener Bedürfnisse (‚für dich‘) ‚gemacht‘ werden.“18 Diese personale Deutung wird von Altmann selbstverständlich für alle Juden zu allen Zeiten als uneingeschränkt gültig ausgelegt. Der Hinweis auf die griechische Kunst, den er gibt, soll die Zeit benennen, in der sich eine reflektierte Haltung zur Kunst ausbildete. Doch aus der zitierten Passage ist noch mehr zu erfahren: die auch von Altmann beobachtete und benannte Graecophilie, die in zahlreichen jüdischen Diskursen der Zeit weit verbreitet ist. Nicht wenige Legitimationserzählungen der jüdischen Moderne sehen im Athen des sogenannten Perikleischen goldenen Zeitalters die Ausbildung eines gemeinsamen Quellgrundes von Judentum und Nichtjudentümern. Das betrifft die Philosophie ebenso wie die Ausbildung von Ethik und Ästhetik als genuine griechische Errungenschaften, die zwar zunächst im schärfsten Gegensatz zum Judentum stehen, dann aber im Laufe der Zeit der Zerstreuung mit zum Band dessen werden können, was Juden mit ihren wechselnden Umwelten verbindet. Und mehr noch: Die griechischen Quellen werden nach und nach angeeignet und dann jüdisch ausgelegt.19 Diese quasi natürliche Amalgamierung von jüdischem und nichtjüdischem Wissen und die damit ebenso natürlich erscheinende Übernahme von nichtjüdischen „Denkformen“ und Begriffen kann gleichwohl nicht Altmanns Position sein. Seine Warnung speist sich aber nicht aus dem zweiten Gebot, sondern, auch das ist natürlich, aus dem orthodoxen Verständnis der Halacha. Der Halacha aber gilt dann gar nicht der Hauptteil seines Textes. Weit mehr als für den historisch belegbaren Amalgamierungsvorgang – aus der Sicht der Orthodoxie 17 Hebräisch: ‫ֶפֶּסל‬. 18 Hartenstein, Friedhelm/Moxter, Michael: Hermeneutik des Bilderverbots. Exegetische und systematisch-theologische Annäherungen, Leipzig [2016], S. 103, Fußnote 1. 19 Siehe dazu mit umfänglicher Literatur die Studien von Grözinger, Karl Erich: Jüdisches Denken: Theologie – Philosophie – Mystik. Bd. 1: Vom Gott Abrahams zum Gott des Aristoteles, Frankfurt am Main und New York 2004; Bd. 2: Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus, 2006; Bd. 3: Von der Religionskritik der Renaissance zur Orthodoxie und Reform im 19. Jahrhundert, 2009; Bd. 4: Zionismus und Schoah, 2015.

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Altmanns formuliert – und weitaus mehr als für die historische Herleitung dieses Vorganges selbst interessiert sich der Autor für das Zustandekommen der modernen Ästhetik und dann für die spezifische jüdische Ästhetik. Hier arbeitet er einen Gegensatz heraus, der durchaus überrascht, weil seine argumentative Beschaffung nicht den Bildern bzw. Klischees entspricht, die man von konservativen und liberalen Positionen her zu kennen glaubt. Der Gegensatz ist ein absoluter, er wird also nicht apologetisch als Abgrenzung verstanden. Altmanns Gegensatzbildung beruht ganz auf dem Eigensinn der jüdischen Tradition, so wie er sie als Kontinuum des bloßen Binnenwandels von Argumenten und Begriffen versteht. Worin also besteht der Gegensatz und wie wird er konstruiert? Sammel- und Zielpunkt dessen, was Altmann unter der „modern-europäischen Ästhetik“ fasst, ist Friedrich Schillers Begriff des „ästhetischen Scheins“, wie er ihn in „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, die in Briefform von Januar bis Juni 1795 in der Zeitschrift Die Horen und erstmals 1801 zusammengefasst erscheint, entwickelt. Inwieweit die von Schiller dort eingenommene Position mit, wie bei Altmann geschehen, Kants Rede vom „interesselosen Wohlgefallen“ und Schillers komplexem Begriff des „Spiels“ zusammenhängt, soll nicht untersucht werden, zumal darüber ganze Bibliotheken an Literatur existieren. Wichtig ist für uns der Weg, den Altmann zurücklegt, um sein Argument darzulegen. Danach kann in der idealistischen Ästhetik Schillers eine Verfestigung beobachtet werden, die sich als methodologisch notwendige Abstraktion verstehen lässt. Es ist der Formbegriff, der über die Kunst gelegt wird, also eine platonische, mehr noch aristotelische Sichtweise. Der Formbegriff, den Altmann im Sinn hat, ist noch nicht wie bei Hegel logifiziert, sondern an die Idee der „Lebendigkeit“ gebunden. Gleichwohl sieht er in Kant und Schiller eine Traditionslinie sich bilden, die diese Lebendigkeit wiederum verselbstständigt. Diese Verselbstständigung führt dann nach Altmann zu einem von der „groben Wirklichkeit ablösbare[n], autonom existierende[n] Prinzip des Lebens“, das als solches „anerkannt wird“. Die Verschiebung der Lebendigkeit der Kunst zu einem Prinzip, das wiederum eines des Lebens sein soll, ist durchaus eine auch historisch adäquate Wiedergabe der idealistischen Ästhetikdebatten.20 Aber nicht nur das, Altmann rahmt dieses bekannte und heute wieder intensiv diskutierte Konzept mit Hinweisen auf Leibniz und Wagner, sieht darin einen – unausgesprochen bleibenden – deutschen Weg. Wir wollen das an dieser Stelle festhalten, ohne Schlüsse zu ziehen. Wichtig für Altmann ist, dass dieser nunmehr autonome Lebens- und Wissensbereich des Ästhetischen einer eigenen Sinnfüllung und damit erneuten Verlebendigung bedarf. Hier aber tut

20 Siehe dazu jüngst Seubert, Harald: Ästhetik – Die Frage nach dem Schönen, Freiburg 2015.

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sich nun ein Dualismus auf, den Altmann für entscheidend hält: jener zwischen dem Ausgangspunkt der „modern-europäischen Ästhetik“, die sich den methodischen und logischen Notwendigkeiten des Formbegriffs unterwirft, und dem Versuch, nach dem Abschluss der Formalisierung das Gebilde wieder zu verlebendigen. Dieser Dualismus bestimme in gegensätzlicher Weise den „Charakter“ sowohl der „Kunst“ als auch des „Lebens“. An dieser Stelle erhebt sich dann der Einspruch Altmanns und wirft die angekündigte Entgegensetzung auf: Aesthetik des Judentums aber stellt sich als eine Aesthetik der lebendigen Wirklichkeit dar. Der Jude sieht im Schönen nicht eine neben oder über der Wirklichkeit schwebende Eigenwelt des Scheins, sondern ihm ist das Schöne ein Attribut der Wirklichkeit, eine ganz lebendig-wirkliche Eigenschaft der Dinge, eine reale Qualität, die eingebettet ist in den übrigen Seinskomplex der Welt. Das Schöne hat für ihn keine absolute Eigenexistenz als Schönes, kein Eigenleben als autonomes Prinzip. Es ist nur, weil es Teil hat am Leben. Es gibt kein Prinzip des Schönen, sondern nur ein Prinzip des Lebens. Das Prinzip des Lebens aber ist identisch mit der sittlichen Idee. Das Schöne existiert mitten in dieser Welt des Sittlichen, und es bezieht seinen Wert bloss vom absoluten Wert des Sittlichen. Einen absoluten Selbstwert des Schönen kann es im Kosmos der sittlichen Idee nicht geben.

Die Doppelung „lebendige Wirklichkeit“ ist zwar immer wieder seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Philosophie anzutreffen, gewinnt dort aber keine feststehende Bedeutung. Hier hingegen wird die Doppelung zur zentralen Aussage. Die Rückbindung der Ästhetik führt zu einem Einheitsbegriff, einer einheitlichen Vorstellung, die letztlich eine jüdische Einheit abbildet – jene, die das Korrelat von Ästhetik und Sittlichkeit darstellt. Dass Altmann diese Einheit als „Kosmos“, also als „Ordnung“ bezeichnet, ist kein Zufall oder gar ein Rückfall in die von ihm selbst zurückgewiesene Graecophilie. Vielmehr entspricht diese Ordnung der Ordnung, die die Halacha natürlicherweise ist. Die Folgerung ist nicht logisch erzwungen, sondern entspricht der Auslegung des vorgenommenen Gegenentwurfes zur nichtjüdischen Ästhetik. Mit der „lebendigen Wirklichkeit“ wird aber nicht nur der althergebrachte Dualismus abgewiesen, sondern das Feld für das „Wesen der jüdischen Ästhetik“ und damit der Zugang zum Judentum im Sinne Altmanns selbst eröffnet. Die an die „lebendige Wirklichkeit“ geknüpften Überlegungen kulminieren eben nicht in einem rationaltheologischen oder philosophischen Anderen. Sie verweisen auf die Lebendigkeit dessen, worüber der Begriff der „lebendigen Wirklichkeit“ selbst gewonnen wurde. In den Worten Altmanns:

Zum Wesen der jüdischen Aesthetik

So wird das Problem vom Wesen der jüdischen Aesthetik aus einem Erkenntnisund Wertproblem letzten Endes zu einem Problem der praktischen Aufgabe. Es erhebt sich die Frage: Wie gewinnt der Jude von heute die natürliche, jüdischorganische Beziehung zum Aesthetischen? Wie wird er als Jude schöpferischer Künstler? Die Antwort darauf bildet ein besonderes pädagogisches Problem der jüdischen Kulturpolitik und kann im Rahmen unseres Themas nicht mehr behandelt werden. Nur ein grundlegender Hinweis soll hier noch erfolgen. […] Das Wesen des westeuropäischen Juden muss erst die sterile Periode der bloss begrifflichen Auseinandersetzung mit der Welt und sich selbst überwinden, muss erst durch Glauben zur Kraft und durch Kraft zum Glauben gelangen, um ästhetisch eigenschöpferisch zu werden. Das Problem der jüdischen Künstlerschaft wird sich von selbst lösen, wenn der Westjude sein religiöses Wesen wiedergewonnen hat. Erst Jude, dann jüdischer Künstler! (X)

Man mag an dieser Stelle sagen: „Ach so, hier spricht also letztlich der orthodoxe Seminarist, der die anderen ‚Strömungen‘ innerhalb des Judentums mit dem klassischen Vorwurf der intellektuellen ‚Sterilität‘ belegt, die sich in der Beschäftigung mit dem Formalen erschöpfe und damit zugleich das Judentum aufgebe.“ Das ist in der Beobachtung richtig, würde aber Altmanns Argumentation unberücksichtigt lassen. Dass am Ende des Textes ein Appell steht, der dem eigenen Judentumsverständnis folgt, ist nicht ein Rückfall, sondern lediglich konsequent. Wichtiger ist aber zu sehen, dass selbst dieser Appell in der Begriffssprache formuliert ist, die die vermeintlich abgefallene Seite der formalen Ästhetiker zu benutzen gewohnt ist. Altmanns Plädoyer für eine „jüdische Aesthetik“ kann also durchaus in einer Sprache erfolgen, die seiner Intention scheinbar gänzlich entgegengesetzt ist. Damit ist noch nichts in Bezug auf die versprochene „Wesens“-Bestimmung gewonnen. Aber die Fähigkeit zur Reformulierung innerhalb der orthodoxen Position, die Altmann einnimmt, liefert einen Nachweis der behaupteten „lebendigen Wirklichkeit“ exakt an jener Stelle, an der die andere Seite immer erst glaubt begründen zu müssen, warum eine Beschäftigung mit der Ästhetik „überhaupt“ möglich ist. Altmann hat dieses Problem erst gar nicht, weil er nicht die Umwege über den behandelten Dualismus gehen muss, sondern eine Wertehierarchie begründen kann – „Erst Jude, dann Künstler!“ –, die nicht abstrakt gewonnen, sondern aus dem lebendigen Glauben selbst hervorgehen kann. Wie immer man die Überlegungen Altmanns bewerten mag, sie zeigen ein klares Konzept, das sich sowohl philosophisch und theologisch begründen als auch weiter ausfalten ließe. Das hat der junge Rabbiner und Philosoph Altmann

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auch in seinen weiteren Schriften bis 1938 durchaus getan. Ich werde aber nur einen wenn auch entscheidenden Moment herausgreifen. 3. Dass Alexander Altmann lebenslang die Auseinandersetzung mit Fragen der Ästhetik gesucht hat, ließe sich leicht etwa in seinen späten Abhandlungen zu Moses Mendelssohn und Lessing zeigen.21 Doch nicht um die Kontinuität oder Diskontinuität von Fragestellungen und Antworten soll es im letzten Abschnitt des Textes gehen. Ich will zumindest vorsichtig andeuten, wie sich der zentrale Begriff in Altmanns Erstlingsschrift, also der der „lebendigen Wirklichkeit“, fortentwickelt hat. Dazu greife ich bewusst auf den am 15. April 1933 in der von Ludwig Feuchtwanger geleiteten Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung publizierten Text „Religion und Wirklichkeit“ zurück.22 Zunächst aber eine prononcierte Zusammenfassung des Textes. „Religion und Wirklichkeit“ setzt ein mit einer kurzen und prägnanten Geschichte des Verhältnisses der beiden Relata. Ausdrücklich hebt der Untertitel „Zur Problematik der Gegenwart“ hervor, dass eine Beziehung zwischen Altmanns Ausführungen und der neuen Situation herrscht. Altmanns Geschichte von „Religion und Wirklichkeit“ beginnt mit dem gegenüber dem Altertum – es kannte die Trennung gar nicht – und dem Mittelalter – es fragte ausschließlich nach „Offenbarung und Vernunft“ (114) – veränderten Bewusstsein, das seinen vollständigen Ausdruck in der Neuzeit durch die „autonome Gesetzlichkeit der Natur, dann besonders intensiv mit dem Erstarken der technischen Wissenschaften“ (ebd.) erhalten habe. Altmann zählt anschließend mittels bekannter, daher unausgewiesener Zitate oder mithilfe von Schlagworten auf, wie die „Konturen“ von „Religion“ in „ungewissen Fernen verschwimmen“: Sie werde zur „Illusion, bestenfalls zur Trösterin, zur Poesie, zum Opium fürs Volk, bei den Idealisten zur Idee, zur Ethik“ (ebd.). Man könne leicht zeigen, wie hinter jeder Kennzeichnung jüdische Strömungen oder Intellektuelle stehen, so von der Haskala über Karl Marx bis hin zu Hermann Cohen, doch mit dem Verständnis des Judentums zur Frage nach „Religion und Wirklichkeit“ hätten diese nichts zu tun. Sie stünden lediglich in 21 Interessant könnten hier etwa die Diskussionen sein, die Altmann in seiner Kommentierung von Mendelssohns Text über die „Bildsäule“ aufwirft. Siehe Altmann, Alexander: Moses Mendelssohn: Die Bildsäule. Ein psychologisch-allegorisches Traumgesicht, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 6 (1981), S. 1–26. 22 Altmann, Alexander: Religion und Wirklichkeit. Zur Problematik der Gegenwart, in: Bayerische Israelitische Gemeindezeitung IX, 8 (1933), 15. April, S. 113–118. Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die Erstveröffentlichung.

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einer Linie, die in der Renaissance ihren Anfang genommen habe und in der der Mensch sich zur „menschlichen Weltbeherrschung“ aufgeschwungen habe. In diesem Moment, da homo creator und homo faber in eins fielen, entstehe ein neuer Begriff von Wirklichkeit, die jetzt „autonom“ sei. Man sieht hier das gleiche Motiv wie in der Erstlingsschrift: Altmann geht es auch hier um die Geschichte von Abspaltung oder Autonomisierung von Teilsystemen einer einheitlich zu verstehenden „lebendigen Wirklichkeit“ des Judentums. Die „Wirklichkeit“ ist in diesem historischen Stadium also weder gottgegeben noch gotthörig, sie ist „selbständig“, und daraus werde schnell das „Pathos der Wirklichkeit“. Dass sich dabei die „Wirklichkeit“ in die „Blutlosigkeit der Idee verflüchtigt“ habe, verwundert als Diagnose nicht mehr. Fatal werde diese Entwicklung in dem Moment, da die neue Wirklichkeitswissenschaft die Religion verdünne und das oben angeführte Ergebnis zeitige. Die neue Auffassung von „Wirklichkeit“ habe keinen Platz mehr für die „Religion“. Sie werde „degradiert“ (ebd.). Zur Verdeutlichung des fundamentalen Unterschieds geht Altmann zu einer Interpretation der Propheten über, die in ihrer Wirklichkeitserkenntnis über den genannten Degenerationsformen stünden. Sie hätten die „Wirklichkeit“ in ihrer „autonomen, soziologisch-biologischen Realität“ erkannt, was noch kein Kunststück sei, doch sie verbänden diese Oberflächenanalyse mit etwas Entscheidendem, nämlich der Forderung, genau diese Realität in eine vollkommen andere „Wirklichkeit“ umzuformen: „[G]eht hin und schafft sie um, diese unsere Wirklichkeit!“ (ebd.) Diese eigentliche, das heißt hier: jüdische Wirklichkeitsauffassung wird von Altmann als „zwei miteinander in dynamischer Spannung existierende Potenzen“ (115) begriffen. Sie haben einen Ort, in dem sie sich vereinen: die Welt. In ihr wird es das geben, was Altmann die „Verwirklichung“, das „Wort, das in das Zentrum tritt“, nennt. „Verwirklichung“ ist das, was geschieht, wenn der Gedanke des Umbaus der vorgefundenen Wirklichkeit und der sich in einer Parallelwelt befindlichen Religion umgesetzt wird. Dieser Idee widerspricht nach Altmann auch nicht die fundamentale Entgegensetzung von „dieser Welt“ („olam hazeh“) und der „kommenden Welt“ („olam haba“). Da der Messianismus, der natürlich der „kommenden Welt“ zugeordnet ist, sich nur in der „Welt“ wird abspielen können, hat „diese Welt“ Teilhabe an der künftigen. Wenn also Altmann die „kommende“ in „dieser Welt“ bereits vorhanden sein lässt, also messianisch argumentiert, dann tut er dies gerade im Sinne eines „Utopisch-Überwirklichen“. Er unterstreicht folglich, dass dieser spezifisch weltliche Messianismus sich durch die Geschichte selbst legitimiert. Es gibt in der jüdischen Geschichte zwar ebenso die Konflikte, Prozesse und Verläufe wie in der profanen Geschichte, doch jüdische Geschichte ist geschichtlich offenbar gewordene Heilsgeschichte. „Religiöse Wirklichkeit kann werden,

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weil sie war.“ Mittels eines klassischen Syllogismus23 fasst Altmann das bisher Gesagte zusammen: [1] Es besteht ein unzerreißbarer Zusammenhang zwischen dem Wissen um die Vergangenheit und dem Glaubendürfen an die Zukunft. [2] Dieser Zusammenhang wird gestiftet durch das Problem der Verwirklichbarkeit. [Folgt 3] Der Garant für die messianische Verwirklichung ist die Wirklichkeit des heilsgeschichtlichen Ausgangspunktes. (115)

Dieser Satz, der der Jetztzeit die messianische Aufgeladenheit sichern soll, wird mit einer weiteren traditionellen korrelativen Begrifflichkeit erläutert. Das „kulo chayav“, von Altmann mit „absoluter Gegnerschaft des Menschen“ übersetzt (116), benötigt in der messianischen Dimension ein Gegenüber: die vollständige Tugendhaftigkeit des Menschen – diese aber fehlt bei Altmann. Doch nur durch Opposition ist die berühmte Stelle im Babylonischen Talmudtraktat Synhedrin verständlich: „Der Sohn Davids kommt nur dann, wenn das Zeitalter entweder vollständig tugendhaft oder vollständig schuldbeladen ist.“24 Es lohnt sich, hier einen Moment zu verweilen. Denn Altmann setzt der „absoluten Gegnerschaft des Menschen“ nicht die Tugend entgegen, sondern das menschliche Tun selbst. Die Gegenwart des kommenden Göttlichen selbst ist Verpflichtung zum Handeln. Und zwar ein Handeln oder Tun, das sich ausdrücklich darum bemüht, die Gegenwart des kommenden Göttlichen zu verdienen. Das Vertrauen wiederum darauf, dass solches Handeln oder Tun zur „Verwirklichung“ des Göttlichen führt, liegt in der Anerkennung der biblischen Geschichte als andauernder Realität. Sie ist weder ein erst durch theologische Reflexion herzustellender Raum, noch ist sie ein Mythos der Gläubigen. Sie ist wahr, wenn man bereit ist und, so wäre zu ergänzen, die Fähigkeit hat, die „ganze Erlebnisgeladenheit und Wirklichkeitsfülle“ zu „spüren“ (ebd.). Dieses „Spüren“ findet aber nicht irgendwann statt. Der Ort ist die Welt, der Zeitpunkt die Gegenwart, diese verstanden als „Bindeglied“ (117) zwischen Vergangenheit und Zukunft. Altmann interessiert sich folglich für etwas anderes. Dieses „Andere“ muss aber erst einmal eingekreist, d. h. aus den historischen Wurzeln wieder in die Gegenwart gerufen werden. Denn dieses „Andere“ kommt vom Fremden, Nichtjüdischen her auf die Juden zurück. Es sind die Wahrheiten der Romantik, genauer die von Görres, Bachofen und die des späten Schelling. Deren Mythengläubigkeit sei eine rationale gewesen, die zwar der jüdische Glaube 23 Die Ziffern stammen vom Autor des Aufsatzes. 24 BT Syn. 98a. Übersetzung nach Lazarus Goldschmidt. „Kulo chayav“ steht dort „kulo zaqai“ gegenüber.

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nicht braucht, um die „Ur-Traditionen“ und die „Urgeschichte“ (117) als wahr zu begreifen, doch die Genannten zeigten mit ihren Werken für das jüdische Denken an, dass die historisch bedingten Disseminationen des Judentums das ursprünglich Eigene, die durch die mündliche Tora gestiftete „Einheit“, gefährdet haben und sie erst wieder zurückerobert werden muss. Wie soll das Mitte April 1933 geschehen können? Zunächst wird die jüdische Wirklichkeit als eine notwendig durch und durch religiöse bestimmt. Wenn die Vergegenwärtigung der „Ur-Traditionen“ möglich ist, weil sie bereits in der Gegenwart lagern und lediglich aktiviert werden müssen, und wenn die Zukunft eine ist, die sich schon immer in der Gegenwart zeigt, weil ihre Verwirklichung ständig geschieht, dann ist all das nur möglich, weil diese Zeit und ihre drei konstitutiv miteinander verstrebten Ebenen – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – ursprünglich den Raum ausmachen, in dem jüdische Existenz geschieht. Nicht ein auch nur irgendwie geartetes Fremdes, d. h. ein durch intellektuelle, kulturelle, politische oder soziale Prägungen von außerhalb Eindringendes, spannt diesen explizit jüdischen Lebens- und Zeithorizont auf, sondern das Judentum selbst. Diese Abdichtung erlaubt es, den maßlos scheinenden Satz niederzuschreiben: „Aber wir wissen eben im Tiefsten doch: diese sogenannte Wirklichkeit deckt sich nicht mit der wahren jüdischen Wirklichkeit.“ (ebd.) Die Synthese aus der „Realität der Tradition und des Messianismus“ (118) muss der „Entwurzelte“, der die Gegenwart als „Tragödie“ (117) erlebt, erst noch ergreifen lernen. Klar bei all dem ist, dass Altmann die Möglichkeit einer jüdischen Schein-Existenz in einer Schein-Wirklichkeit ein für alle Mal zerstört sieht. Die Aufdeckung nicht einer Alternative, sondern der nach seiner Rekonstruktion einzig wahren – und das heißt: einzig historisch-lebendig verstandenen kohärenten – Form, jüdisch zu sein und jüdisch zu leben, ist möglich, weil sie nie verschwunden war. Das Wechselspiel zwischen freier Entscheidung und dem von außen erlassenen Diktat wird von Altmann in einen gänzlich freien Akt verwandelt, indem er sich auf die wechselseitige Durchdringung und Angewiesenheit von „Religion und Wirklichkeit“ als einer Lebensform bezieht. Ist das aber der schon vollständige Gegenwartsbezug? Wenn die Gegenwart in dieser Weise aufgeladen werden kann als die Zeit der „Verwirklichung“, was hat sich dann verändert? Gibt es nicht immer „Gegenwart“ in einem ganz naiven Sinn? Zunächst kann auf diese Fragen mit einer Referenz geantwortet werden, deren ausführliche Analyse ungewöhnlich weitreichende Übereinstimmungen in den zentralen Begriffen ergäbe. Heinrich Maiers dreiteilige, in vier Bänden erschienene Philosophie der Wirklichkeit bildet das Rückgrat

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von „Religion und Wirklichkeit“.25 Dessen These, dass es nur ein Sein in der „Wirklichkeit“ geben und diese wiederum nur in der Form einer spezifisch auf sie zugeschnittenen Logik in den Blick geraten kann, steht bei Altmann seit seiner Dissertation stets im Hintergrund. Auch wenn Altmann sich schließlich ganz von der herkömmlichen Philosophie löst, bleibt doch Maiers Vorstellung von einer „Metaphysik“, deren „Gegenstand“ die „formale Struktur der Wirklichkeit“ sei, erhalten.26 Diese Form der Metaphysik ist, dies betont Maier auf jeder Seite der vier voluminösen Bände, von ihrer natürlichen Konkurrentin nicht mehr zu unterscheiden. Beide machen nach seiner Auffassung wahre philosophische Wirklichkeitswissenschaft erst möglich. Die Gegenwartsfixierung Maiers hat für Altmanns eigene Ambitionen eine hohe Attraktivität. Wenn sich die Gegenwart nämlich als „coincidentia“ entpuppt, dann ist dieses Jetzt auch immer der Handlungsgrund. Dieses Jetzt muss allerdings ein bewusstes werden. Gegenwart ist insofern nicht immer, weil sie nicht so weit verschärft ist, dass ein Jetzt sich als Handlungsgrund zeigt. Die jeweilige Gegenwart bettet zwar das oben ausführlich geschilderte jüdische Bewusstsein ein, doch nur wenn es gefährdet ist, entwickelt es das Potenzial zur Veränderung, eben der „Verwirklichung“, in aller Radikalität aus. An dieser Stelle wäre mit einer Analyse von Altmanns Text „Was ist jüdische Theologie?“ fortzufahren, der erst in vier Teilen im Israeliten, dann als Broschüre ebenfalls 1933 erschien. Doch es würde den Rahmen dieser Abhandlung sprengen, die lediglich anzeigen wollte, inwieweit Altmanns Versuch über das „Wesen der jüdischen Aesthetik“ eine politische Aussage erhielt, die im Moment der Bewährung, also mit der sogenannten „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten auch klar ausgesprochen werden konnte. Man könnte noch anmerken, dass es um den Begriff der „Verwirklichung“ als Folge der „lebendigen Wirklichkeit“ eine Debatte gab, in deren Zentrum Martin Buber stand. Ohne auf Altmann je zu rekurrieren, sprach auch der Initiator der „jüdischen Renaissance“ gerne von „Verwirklichung“, meinte damit aber, dass den angeblich erstorbenen Formationen des liberalen und orthodoxen Judentums Leben erst wieder eingehaucht werden müsse. Leo Strauss setzte dem in seinerzeit unveröffentlichten Manuskripten den polemischen Begriff der „Entwirklichung“ entgegen. Mit beiden Positionen hatte Altmann im Jahr 1933 nichts zu tun. Erst nach den sogenannten „Nürnberger Gesetzen“ 1935 wandte er sich dem Verhältnis 25 Maier, Heinrich: Philosophie der Wirklichkeit. Erster Teil: Wahrheit und Wirklichkeit; Zweiter Teil: Die physische Wirklichkeit. Erste Abteilung: Die Realität der physischen Welt; Zweite Abteilung: Der Aufbau der physischen Welt; Dritter Teil: Die psychisch-geistige Wirklichkeit, hg. v. Anneliese Maier, Tübingen 1926, 1934 und 1935. 26 Maier: Philosophie der Wirklichkeit. Erster Teil, S. 551.

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von „Philosophie und Gesetz“ zu, einem Verhältnis, das, so nun Strauss, aber auch Buber und viele andere mehr, die Situation des Judentums am besten fasse. Aber das wäre eine andere Geschichte. Hier galt es lediglich ganz im Sinne von Petra Ernst „Bausteine“ für „künftige Forschungen“ zu liefern. In diesem, also ihrem Sinne sollen der Abdruck von Altmanns Text und mein Kommentarversuch begriffen werden. Zum Wesen der jüdischen Aesthetik. Von cand. phil. Alexander Altmann, Trier-Berlin. Es ist wohl unnötig, die Berechtigung der Problemstellung „Judentum und Aesthetik“ erst zu beweisen. Jeder Jude, der sich in den Aesthetizismus unserer Zeit hineingestellt erkennt, fühlt den Zwiespalt zwischen jüdischer und modern-ästhetischer Lebensform und legt sich selbst die Frage der Auseinandersetzung vor. Nur ein kurzes Wort zur Erklärung der Methode, die den Gang der folgenden Untersuchungen bestimmt, soll einleitend gesprochen werden. Fechner,1 der Begründer der psychologischen Aesthetik, fordert vor aller normativen und metaphysischen Behandlung des Aesthetischen zunächst den Aufbau „von unten“, die Klarstellung des psychischen Tatbestandes. Ohne die Analysis des Gegebenen sei die Lösung der Wesens- und Wertfrage des Aesthetischen unmöglich. Auch die Bearbeitung des Spezialproblems der jü d is che n Aesthetik kann einer solchen Methode nicht entraten. Mag auch das Motiv der Problemstellung einer religiösen Gewissensfrage entstammen und daher religiös Verankertes als Ziel erstreben, ein Ueberblick über das Wesen des Phänomens, das erkannt, verglichen und bewertet werden soll, wird trotzdem unbedingt erforderlich sein. Daher wird im folgenden der psychologischen Betrachtungsweise ein verhältnismässig weiter Raum gewährt. Bevor aber das Gebiet der jüd is che n Aesthetik skizziert werden kann, ist es nötig, seine Grenzen abzustecken, d. h., alle ästhetischen Faktoren, die unjüdischen Charakter aufweisen, von vornherein auszuschliessen. Eine solche Abtrennung wird sich nun am ehesten dadurch vornehmen lassen, dass der Kunstzweig, dem das Judentum ablehnend gegenübersteht, die bildende Kunst, auf Elemente hin geprüft wird, die eine solche Stellungnahme verursacht haben könnten oder rechtfertigen. Wenn dann die dem jüdischen Wesen heterogenen Bestandteile des ästhetischen Verhaltens erkannt und beiseite geschoben sind, kann die eigentliche positive Betrachtung der jüdischen Aesthetik erfolgen, 1 Fechner: „Vorschule der Aesthetik“.

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die gegenüber der mehr trocken-theoretischen Voruntersuchung naturgemäss stärker von der Lebendigkeit der Tatsachengegebenheiten durchsetzt sein wird. I. Der Begriff der „Einfühlung“, der in den Systemen von Lipps2 und Volkelt3 eine zentrale Stellung einnimmt, ist für die psychologische Behandlung unseres Fragenkomplexes von wesentlicher Bedeutung. Zwar ist die Einfühlungstheorie in der neueren Zeit scharf kritisiert worden.4 Vor allem wird ihr unumschränkter Geltungsanspruch bekämpft. So bezweifelt Meumann, dass elementare Fälle ästhetischen Verhaltens durch Einfühlung zu erklären seien. Ebenso meint Dessoir: „[…] wo es sich um einfache Proportionen handelt, findet sicher keine Einfühlung statt“. Paul Stern rügt den terminus „Einfühlung“, weil er den ästhetischen Akt zu allgemein in „Bausch und Bogen“ charakterisiere. Wilhelm Worringer stellt der „Einfühlungsästhetik“ eine „Abstraktionsästhetik“ gegenüber. Doch alle diese und noch andere Einwände hat Volkelt sehr überzeugend widerlegt.5 Die Berechtigung der Einfühlungstheorie scheint/ also von neuem erwiesen. Jedenfalls aber ist die Anwendung, die die Einfühlungstheorie im folgenden erfährt, unproblematisch. Sie wird durch die erwähnten Bedenken nicht berührt; denn sie beschränkt sich auf Fälle bildender Kunst, also komplizierte ästhetische Objekte. Zudem liegt es im Wesen der Bildkunstgegenstände, dass sie, die an sich unlebendig sind, nur durch Beseelung die ideal-ästhetische Wirkung erzeugen, die ihr Daseinszweck vorschreibt. Worin besteht nun das Wesen der Einfühlung? In einem unterbewussten psychischen Akt, dessen Resultat sich als „beseelte Form“ dem Bewusstsein präsentiert.6 Die Seele gibt gewissermassen ihren Inhalt her, um dem toten Stoff Leben einzuhauchen. Je gefühlsfarbiger das Ich, desto lebendiger das Kunstwerk. Und je tiefer es sich in die materiale Form versenkt, je beschaulicher und gefühlswärmer es sich sammelt, umso intensiver ist der ästhetische Genuss. Das ästhetische Schaffen benötigt natürlich mehr Aktivität der Strebungen und Leidenschaften und wird daher über das rein Beschauliche der Einfühlung hinausdrängen, aber die grundlegende Voraussetzung der Einfühlung: die 2 Lipps, Theodor: „Aesthetik“. 3 Volkelt, Johannes: „System der Aesthetik“. 4 Von Paul Stern, Max Dessoir, Richard Müller-Freienfels, Ernst Meumann, Wilhelm Worringer u. a. 5 In seinem Buche „Das ästhetische Bewusstsein“. 6 Auf die psychologische Zergliederung des Einfühlungsprozesses und seiner mannigfachen Nebenbestandteile wie des „Mitgesehenwerdens“, der „fühlenden Miterregtheit“ (Volkelt) u. a. m. braucht hier nicht eingegangen zu werden. Auch die Variation der Einfühlungstheorie bei Lippe, der das Gefühl des Sich-Selbst-Geniessens als typisch betont, ist in diesem Zusammenhang von untergeordneter Bedeutung.

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Hingabe an den Stoff, an das Gegebene, das gestaltet werden soll, wird auch der Künstler erfüllen müssen. Wie verhält sich nun die Psyche des Juden hinsichtlich der ästhetischen Norm der Einfühlung? Allgemein und typisch betrachtet, ist zu sagen: Die Forderung, den Einfühlungsakt zu vollziehen, stellt den Juden vor eine psychologische Schwierigkeit. Die Beweglichkeit seines Geistes hindert ein kontemplatives, geruhsames SichVersenken. Es fällt ihm schwer, auseinanderstrebende Eindrücke optischer Natur zu gliedern und zu binden, jeden Zug liebevoll mit Leben zu erfüllen und das Ganze durch tiefes In-Sich-Halten zur/ Harmonie auszuprägen. Er hat ein ungemein hohes Plus von Willenskraft nötig, um sich einem objektiven Kunstwerk hinzugeben. Dafür ist aber nicht etwa das Temperament verantwortlich zu machen. Denn es gibt Völker mit rascherem Temperament und gleichwohl leichterer Kontemplationsbegabung. Die Ursache liegt in der Wesensart der jüdischen Denkform begründet. Im Laufe der Geschichte wuchs der Jude immer bewusster in seine ethische Lebensidee hinein. Sein Geist konzentrierte sich immer schärfer auf die sittliche Aufgabe und konnte daher – schon rein psychologisch notwendig – der stofflichen Welt, die ihn umgab, keine tiefversunkene Hingabe mehr spenden. Je mehr das jüdische Volk sich von der Scholle trennte und auf Vergeistigung hingewiesen war, umso stärker löste sich das Denken des Juden von der Dimension des Räumlich-Gegenwärtigen und wandte sich dem Zeitlich-Zukünftigen zu. Sein Denken begnügt sich nicht mehr mit Objekten einer fertigen Wirklichkeit, sondern erstrebt Schauobjekte geistiger Natur. Der sinnliche Eindruck fesselt die Seele nicht mehr. Das Denken drängt nach geistiger Erkenntnis und sittlicher Vertiefung. Das Gefühl soll sich nicht vom Augenblick bestricken lassen, sich nicht dem Genuss des Seienden, Fertigen hingeben. Das ungeheure Streben, dem sittlichen Ideal nahezukommen, treibt es aus dem Bannkreis der unvollkommenen Gegenwart. Kein Stehenbleiben in geniessender Schau, ein unermüdlich zielbewusstes Weiterstreben, Weiterdenken, Weiterhandeln! Der Jude hört fast auf, sein Denken über die Ebene des Raumes schweifen zu lassen, er denkt in die Zeit hinein. Was soll ihm das Prangende, Reife dieser Welt des abgeschlossen Vollendeten? Sich an ihrer Schönheit zu sättigen? Er hat höhere, heiligere Aufgaben. Er soll ja eine andere Welt bauen, die Welt der Zukunft, für die er ohne Unterlass die Quadern des Fundaments aneinanderfügen muss. Diese auf das „Weiter!“ eingestellte Denkweise ist jüdisches Erbgut geblieben, und so fällt es selbst dem Juden ohne jüdischen Gedankeninhalt und jüdisches Wollen schwer, sich/ auf den räumlichen Eindruck eines Objektes in Hingebung zu konzentrieren. Er ist gedrängt, einen, neuen Eindruck zu erstreben, der, wenn nicht ethischer, so doch zumindest utilaristisch-wertvoller Natur ist. Ist er im ästhetischen Verhalten geübt, so wird er die Ablenkung überwinden können,

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ist er aber von der jüdisch-ethischen Gedankenrichtung beherrscht, so wird der leidenschaftliche Trieb, sich vom Augenblick zu emanzipieren und geistigen Denkobjekten zuzuwenden, stark genug sein, um eine intensive Einfühlung unmöglich zu machen. Dieser Mangel an Einfühlungsvermögen7 wirkt sich aber bloss in der Beziehung zur bildenden Kunst hemmend aus. In der Tonkunst und Dichtung spielt das Moment der Einfühlung eine weit bescheidenere Rolle. Zwar ist das Wortbild und das Tongemälde auch ein Objekt, das ausserhalb des Ichs besteht, in das sich der Geist einfühlen kann. Für das menschliche Empfinden ist aber der materiale Objektcharakter des Gehörten geringer als der des Geschauten,8 wenn auch beide Sinnesobjekte, physiologisch betrachtet, gleichen Wesens sind. Wenn ich ein Lied höre, brauche ich mich weniger in den Stoff und in die Klangfarbe des Gehörten hineinzuversetzen, sondern, umgekehrt, die Töne singen sich förmlich in mein Inneres ein. Nicht: i ch f ü h l e m i ch in das Tonbild ein, sondern: i ch f ü h l e u nm ittelb ar beim zauberhaften Klang, der mich gefällig in meinem Innern aufspürt. Es wird also nicht von mir verlangt, mich auf das Tonwerk zu konzentrieren. Es überfällt mich und lässt mich in musikalischer Erregung Gefühle erleben. Aber selbst die tatsächliche E i nf ü h lu ng in das musikalische Gehörsobjekt zeigt einen wesentlichen Unterschied von der Einfühlung in Gegenstände der bildenden Kunst. Es handelt sich auch hierbei weniger um objektive Einfühlung als um ein subjektiv-betontes Zusammenklingen eigenen Erlebens mit dem gegebenen Toncharakter.9 Ferner: Musik und Dichtung sind Künste, deren Dimension die Zeit ist. Nicht ein räumliches Ganzes wird mit einem Mal vor meiner Seele ausgebreitet, sondern Ton auf Ton und Wort auf Wort entfaltet sich die harmonische Architektonik des Kunstwerks. Der Geist braucht nie zu verweilen. Das Gefühl findet immer neue Formen zu seiner Anregung, und was es empfangen hat, verschmilzt von selbst mit dem Neuen zur Harmonie des Ganzen. Zwei Gründe sind es demnach, die dem Juden das ästhetische Verhalten gegenüber Musik und Dichtung ermöglichen: Das Fehlen des einfühlungsbedürftigen Objektcharakters und das Wesen der Zeitdimensionalität. Objektiver Raumkunst aber kann sich der Jude, wie gezeigt, infolge der spezifischen Struktur seines Denkens nur schwer hingeben. Die ästhetische Norm der Einfühlung stösst aus rein psychologischen Gründen auf Widerspruch.

7 Die Annahme, dass der Jude demnach die Objekte der Kunst ohne Einfühlung betrachtet, sofern er sie betrachtet, kann als durchaus möglich gedacht werden. So behauptet auch Worringer, dass z. B. die Aegypter ihren Plastiken ohne Einfühlung gegenüber standen. 8 Vgl. Volkelt: „Das ä. Bewusstsein“, S. 59. 9 Ebd.

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Die ablehnende Haltung des Juden gegenüber der Einfühlung ist aber noch tiefer als in der Sphäre des Könnens begründet. Sie entstammt dem Wesen seiner Beziehung zur Welt überhaupt. Die ideal-ästhetische Einfühlung ist nur vollziehbar, wenn eine Willenstendenz zu ästhetischem Geniessen vorhanden ist, mag sie auch nur vom Unterbewusstsein heraufdrängen. Immer aber wird im Schosse der Seele ein Hang zu ästhetischer Hingabe, ein dunkles Sich-Ergreifen-Lassen-Wollen wirken müssen. Dieses Tendieren nach dem ästhetischen Objekt entspringt in letzter Wurzel einer eigenartigen Lebensstimmung, einem schwärmerischen Harmoniebedürfnis, einem Aufgehen-Wollen in die göttliche Einheit des Alls. In der Harmonie des Kunstwerks tritt der Seele ein mikrokosmisches Abbild der Weltharmonie entgegen. Trägt nun der Harmonieerlebnisdrang pantheistischdiesseitige Färbung, so wird sich die Sehnsucht nach Verschmelzung mit dem Göttlich-Einen in das Kunstwerk ergiessen wollen. Denn das Absolute, dem die Seele sich nähern möchte, wird ja als der Welt des Sichtbaren immanent gefühlt. Der Pantheismus ist also der Stimmungsboden des Einfühlungsdranges.10 Auch die jüdische Seele kennt den Drang nach Harmonie. Aber dieser Drang hat eine zielbewusste Richtung. Er sucht nicht erst das Objekt, das Harmonie in sich verkörpert, denn er kennt es längst. Im Wesen G’ttes offenbart sich dem Juden die Einheit der Welt. Und wenn er diese Einheit erleben will, so muss er seinen G’tt über die Natur hinaus erleben; denn sein G’tt steht über der Natur, er muss ihn erleben als das, was er seinem Wesen nach ist, nicht bloss als Gestalter der sichtbaren Harmonie, sondern vor allem als den Gesetzgeber der Welt. Das bedeutet: die jüdische Seele erlebt G’tt erst, wenn sie sich ihm sittlich unterworfen fühlt. Die jüdische Sehnsucht nach Harmonie kann sich also in der Hingabe an ein der sinnlichen Welt angehörendes Kunstwerk unmöglich befriedigen. Daher fehlt dem Juden die eigentliche Triebursache der Einfühlung, der pantheistische Erlebnisdrang nach dem ästhetischen Objekt hin. Es läge nun der Gedanke nicht fern, gerade weil der pantheistische Stimmungsgrund mit seinen seelischen Gefahren dem Juden fremd ist, von ihm eine rein ästhetische, absolut realistisch schauende Einfühlung zu fordern. Ein solches Verlangen aber ist zunächst psychologisch sinnlos, da ohne die Wurzel des Seelisch-Triebhaften die psychische Leistung der Einfühlung der Tiefe und Lebendigkeit entraten müsste. Ein solcher Verlust aber macht die ganze Einfühlung hinsichtlich ihres Wertes illusorisch. Es bliebe nichts übrig als der

10 Auch Worringer bezeichnet das pantheistische Vertraulichkeitsverhältnis zur Welt, das satte Harmoniegefühl im Erleben des Diesseitigen, als Voraussetzung des Einfühlungstriebes. Worringer: „Abstraktion und Einfühlung“, S. 17.

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trocken-wissenschaftliche Erkenntniswert, den die realistische Einfühlung vermitteln kann. Eine tiefinnere Bereicherung der Gefühlswelt wäre durch den Mangel an pantheistischer Erlebnissehnsucht ausgeschlossen. Aber das wäre noch kein Grund, die Einfühlung positiv abzulehnen. Zur Stellungnahme gegen sie zwingt eine weitere psychologische Ueberlegung. Es sei zunächst angenommen, dass Einfühlung in Objekte der Kunst rein ästhetisch, ohne Ver-/ wobenheit mit religiös-pantheistischer Grundstimmung möglich sei. Es ist aber undenkbar, dass sich aus einer so innigen Kunsthingabe, wie sie die Einfühlung voraussetzt und bestärkt, nicht eine noch tiefere Beziehung zur Kunst entwickelt, die schliesslich den Weg zwischen Pantheismus und Einfühlung in umgekehrter Richtung zu Ende geht. Durch ein sattes Kunsterleben wird sich ferner die Spannung nach dem Transzendenten hin lockern und die jüdisch-religiöse Erlebnissehnsucht vom Diesseitigen bezaubern lassen. So wird aus der Hingabe an die Kunst eine Vergöttlichung des Schönen hervorkeimen. Hellenischer Schönheitskult und bildende Kunst stehen eben in einer Wechselwirkung. Der Weg zur Akropolis ist gezeichnet durch die Statuen des Praxiteles. Dass der Jude überhaupt imstande ist, das Diesseitig-Schöne als göttlich zu erleben, beweist unsere Gegenwart besonders krass.11 Es ist daher tief einzusehen, weshalb das zweite Gebot des Dekalogs nicht nur die primitive Triebverirrung der Bilderanbetung, sondern in umfassender und grosszügiger Stellungnahme den gesamten Komplex der plastischen Kunst ablehnt. Es wollte von vornherein jedes Verhältnis zur bildenden Kunst und die damit verbundenen Gefahren dadurch ausschalten, dass es die Plastik, das typische Objekt des Einfühlungsdranges, aus den Grenzen des jüdischen Lebens verwies. Das zweite Gebot richtet sich also nicht bloss gegen den blöden Götzendiener der Urzeit, sondern eben so scharf gegen den Natur- und Schönheitsanbeter etwa des hellenistisch eingestellten 20. Jahrhunderts. Die Gegensätzlichkeit zwischen ideal-jüdischer und bildästhetischer Wesensart wird aber durch die halachische Erweiterung des göttlichen Verbots noch deutlicher bezeugt. Wäre die darstellende Kunst dem Wesen des Judentums nicht heterogen, sondern bloss zufällig fremd, so wäre die Steigerung des Urverbots zu einem Verbot sämtlicher Zweige der Plastik eine/ unbegreifliche Erscheinung. Es ist aber der, wie gezeigt, ausgesprochen unjüdische Charakter des Bildkünstlerischen, seine pantheistisch-schwärmerische Grundstimmung und sein Anspruch auf einfühlende Kontemplation, der die Entwicklungslinie der Halacha auch in dieser Ebene weitergetrieben hat. Die Tatsache, dass 11 Vgl. Saul Tschernichowskis Bekenntnis zur Göttlichkeit des Schönen: „Ich neige mein Knie vor der Statue Apollos; denn sein Standbild ist das Symbol alles Lichten im Leben. Ich neige mich vor dem Leben, vor der Kraft, vor der Schönheit...“ Schirim: S. 120 ff.

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vereinzelt halachische Abweichungen von dieser Richtung auftreten, kann die Gesamttendenz der Entwicklung nicht übersehen lassen.12 II. Das unjüdische Wesen der darstellenden Kunst tritt aber noch schärfer in die Erscheinung, wenn wir das spezifisch jüdische Verhalten zum Reich der Aesthetik erkannt haben. Bisher ist die Ablehnung der Bildkunst nur aus Gründen hergeleitet worden, die ausserästhetischer Natur sind. Eine Einsicht in das Wesen der jüdischen Aesthetik aber wird ergeben, dass diese Kunstzweige schon aus Gründen der positiven jüdischen Einstellung zum Aesthetischen bei uns verkümmern mussten. Eine klare Erkenntnis der jüdischen Aesthetik lässt sich nun am besten dadurch gewinnen, dass das Wesen der modern-europäischen Aesthetik, zu der sie in Gegensatz steht, in ihren Grundlagen beleuchtet wird. Es ergibt sich hierbei folgendes Anschauungssystem: Bildende Kunst gestaltet tote Materie zur Form. Ihr Zweck ist die Lebendigkeit dieser Form durch Schönheit. Schönheit soll dem Stoff zum Lebensausdruck und zum Lebenswert seiner Form verhelfen. Denn der Schönheit haftet Leben und Wert unmittelbar an. Würde Schönheit ihr Eigenleben und ihren Eigenwert nicht in sich tragen, so wäre es widersinnig, von ihr die Belebung und Wertsteigerung einer toten materialen Form zu verlangen. Wäre Schönheit nur eine Qualität des Lebendigen, nicht aber ein in sich ruhendes Lebensprinzip, so verlöre die unlebendige Gestaltmasse, die der bildende Künstler geformt, jeglichen Sinn. Nur dann gewinnt das Bildkunstwerk ein Eigenleben im Sinne einer höheren Wirklichkeit und damit einen Eigenwert, wenn Schönheit als ein von der groben Wirklichkeit ablösbares, autonom existierendes Prinzip des Lebens anerkannt wird. In welcher Form offenbart sich nun die Eigenlebendigkeit des Schönen? Welcher reale Seinscharakter kommt dem Schönen an sich, von seinem stofflichen Träger befreit, sinnlich gesehen, zu? Die moderne Aesthetik führt als Antwort auf diese Frage den Begriff des ästhetischen Scheins an. Die reine Bildhaftigkeit, das über dem Stoff schwebende Scheinhafte ist das eigentliche Schöne. Erst wenn die Form als blosses Bild, als wirklichkeitsbarer Schein erlebt wird, ist das Erleben ästhetisch, wird das Schöne ästhetisch genossen. Je geringer der Wirklichkeitscharakter des Kunstwerks, je intensiver der Schein, desto reiner ist der ästhetische Genuss. Und es ist sinnvoll, sagt die moderne Aesthetik, das Schöne rein ästhetisch zu geniessen. Denn die Welt des Schönen ist ein Seinsbezirk, der seinen Zweck 12 Vgl. Rambam, Hilch: ab. Sara III. 6; ebenda III, 10; Or Sarua 4,55; Jore Dea § 141; hierzu Ture Sahab § 12, 13; Chatam, Sofer/Jore, Dea: Response Nr. 128; Samuel Archevolti aus Padua, Response, veröffentlicht von D. Kaufmann in Jewish Quarterly Review IX, 266–9.

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in sich trägt. Seitdem Kant die Lehre vom „interesselosen Wohlgefallen“ ausgesprochen und Schiller den Spieltrieb als das ideale Charakteristikum des ästhetischen Verhaltens verherrlicht hat, ist die Auffassung vom Selbstzweck des ästhetischen Erlebens immer wieder in den ästhetischen Systemen betont worden. So schreibt z. B. Richard Hamann in seiner „Aesthetik“: „Jenes Erleben ist ästhetisch, das in sich ruht, in sich beschlossen liegt, nicht Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck ist.“ Von allen sonstigen kulturellen Lebensäusserungen müsse reine Aesthetik sich frei machen, meint Volkelt in seinem „System der Aesthetik“; tue sie es nicht, dann sei sie nicht mehr reine Aesthetik. Jede Verquickung des Schönen mit anderen Lebenserscheinungen verwische den scheinhaften Charakter des Aesthetischen. Daher erhebt Volkelt die „Herabsetzung des Wirklichkeitsgefühls“, die „Entstofflichung des Schauobjektes“ zu einer ästhetischen Norm. Die Sphäre der künstlerischen Haltung sei eine über der Wirklichkeit lagernde Region des Scheins.13 Schopenhauer lässt den Willen im ästhetischen Zustand schweigen. Denn die Welt des blossen Scheins sei frei vom Mangel. Leibniz sagte vom Schönen, dass es in einer dunkel vorgestellten Harmonie bestehe. Richard Wagner sah das Wesen der Kunst darin, dass sie „den bewussten Wahn an die Stelle der Realität setzt“. In allen diesen Definitionen des Aesthetischen spricht sich durch die Annahme einer ästhetischen Eigenwelt, der Sphäre des Scheins, eo ipso die Anerkennung des Selbstzwecks dieser Welt aus.14 Gibt es aber einen sinnvollen Idealbezirk ausserhalb der Wirklichkeit, so gewinnt jede Lebensgestaltung auf seinem Territorium ebenfalls einen Sinn. Die Forderungen der Ethik sind in der trägen Wirklichkeit des Stoffes nur schwer realisierbar. Das seelische Wesen des Menschen drängt aber nach Sublimierung des Tierischen. Da eröffnet sich ein idealer Mittelweg, der beiden Wesenssubstanzen, der Leib und Seele, „Sinnentrieb“ und „Formtrieb“ gerecht wird, die abstrakte Region der Kunst. Der Mensch erhält die Möglichkeit, die ethischen Probleme des Daseins, die Veredelung seiner Persönlichkeit in einem Reich des Irrealen zu lösen. Kunst bietet sich ihm als Ersatzkomplex des Lebens dar. Schon die ästhetische Haltung der „Willenlosigkeit“, die durch das Erleben des Scheins erzeugt wird, birgt die Gefahr, dass durch blosses Scheingestalten und Scheingeniessen, wie es der Künstler fast dauernd übt, eine Passivierung und Verdorrung des sittlichen Willens erfolgt. Aber selbst abgesehen vom Moment der Willensausschaltung, die Möglichkeit, sittlich Wertvolles in der Kunst zu realisieren und dadurch die ethischen Triebkräfte zu entspannen, zieht den Menschen allzu leicht von der realen Gestaltung seines Wesens ab. Kunst wird mehr noch als Ersatz der Wirklichkeit, sie 13 Volkelt: „System der Aesthetik“, I. S. 501 ff. 14 Vgl. ferner Lipps: „Aesthetik“ I. Teil, S. 157; II. Teil S. 36 ff.

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wird oft Ersatz für Religion und Sittlichkeit. Der häufig bemerkbare Dualismus im Wesen von Künstlern, der Zwiespalt zwischen dem Charakter ihrer Kunst und dem Charakter ihres Lebens15 ist letzten Endes durch den allgemeinen Charakter der neu-europäischen Kunst verursacht, wurzelt in der Aesthetik des autonomen Scheins, die das Schöne als Selbstzweck und sinngebendes Prinzip des Daseins anerkennt. III. Die Aesthetik des Judentums aber stellt sich als eine Aesthetik der lebendigen Wirklichkeit dar. Der Jude sieht im Schönen nicht eine neben oder über der Wirklichkeit schwebende Eigenwelt des Scheins, sondern ihm ist das Schöne ein Attribut der Wirklichkeit, eine ganz lebendig-wirkliche Eigenschaft der Dinge, eine reale Qualität, die eingebettet ist in den übrigen Seinskomplex der Welt. Das Schöne hat für ihn keine absolute Eigenexistenz als Schönes, kein Eigenleben als autonomes Prinzip. Es ist nur, weil es Teil hat am Leben. Es gibt kein Prinzip des Schönen, sondern nur ein Prinzip des Lebens. Das Prinzip des Lebens aber ist identisch mit der sittlichen Idee. Das Schöne existiert mitten in dieser Welt des Sittlichen, und es bezieht seinen Wert bloss vom absoluten Wert des Sittlichen. Einen absoluten Selbstwert des Schönen kann es im Kosmos der sittlichen Idee nicht geben. Als Phänomen der Wirklichkeit aber darf das Aesthetische mit dem ganzen Schwergewicht seiner realen Existenz Beachtung fordern. Der ästhetische Schein kann wie Gewölk zerblasen werden, die Schönheit der lebendigen Wirklichkeit ist unlösbar eingebaut in den Gesamtbestand der Dinge. Fehlt daher einem Objekt Schönheit, so fehlt ihm ein Stück der Wirklichkeit, es ist nicht mehr vollkommen. Der moderne Aesthetiker würde sagen: es ist ästhetisch unwirksam, aber seine reale Wirklichkeit ist davon unberührt. Der Jude jedoch sieht in der Schönheit einen Teil der Wirklichkeit selbst. Aesthetik und Ethik kann er sich empirisch nur verbunden vorstellen. Eine Welt des Schönen ohne das Sittliche und eine Welt des Sittlichen ohne das Schöne gibt es für ihn nicht. Die scheinästhetische Betrachtungsweise trennt das Sittliche vom Schönen; sie ist imstande, das Schöne ästhetisch zu finden, auch wenn es unsittlich ist, und dem Hässlichen mit Sympathie gegenüber zu treten, wenn es sittlich wertvoll ist.16 Der jüdische Mensch ist auf das Totale, Geschlossene der Wirklichkeit eingestellt und vermag derartige Wirklichkeitsabgrenzungen nicht vorzunehmen. Das Unmoralische empfindet er unter allen Umständen als hässlich, und 15 Vgl. Tolstois sittliche Entrüstung über den Dualismus unserer Künstler. 16 „Man nehme“, sagt Schiller, „die Selbstverbrennung des Peregrinus Proteus zu Olympia; moralisch beurteilt, kann ich dieser Handlung nicht Beifall geben, ästhetisch beurteilt, gefällt sie mir.“ (Aesthetische Schriften.)

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das Unästhetische erscheint ihm mangelhaft, auch wenn es sittliche Werte umschliesst. Das jüdische Synhedrion musste aus Männern zusammengesetzt sein, die von keinerlei körperlichen Fehlern behaftet waren, mochten sie auch sittlich die höchste Vollendung aufweisen!17 ‫ כלך יפה רעיתי ומום אין בך‬Das gleiche wurde von den diensttuenden Priestern verlangt. Für den Hohepriester18 und den König19 wurde ausdrücklich Schönheit für nötig erachtet. Ein beispiellos gewaltiges Bekenntnis zur Idealität von Schönheit mit Sittlichkeit! Ueberaus massgebend ist der Halacha das Moment des Aesthetischen. Der Begriff des ‫הדור מצוה‬, der Aesthetik in der Gebotserfüllung, ist zu einem selbstverständlichen Bestandteil des jüdischen Religionsgesetzes geworden. Wieder typisch jüdisch!20 Einheit und Untrennbarkeit von Ethik und Aesthetik! Der Grundsatz 21 ‫זה אלי ואנוהו‬ist ästhetische Norm und halachische Formel zugleich. Der ethisch-ästhetische Monismus der jüdischen Wirklichkeit offenbart sich aber am deutlichsten, wenn von/ der Tora selbst gesagt wird: ‫דרכיה דרכי נועם‬ „Ihre Wege sind die Wege der Schönheit.“22 Schönheit gilt also dem Juden als eine nicht hinwegzudenkende Qualität des Wirklichen, damit aber ist ihr Sinn als Wertfaktor erschöpft. Schönheit ist die sinnliche Vollendung der Materie, aber nicht Vollendung in sich. Schönheit ist geknüpft an das Lebendige; Schönheit, vom Lebendigen, Wirklichen abstrahiert, ist sinnlos. G’tt hat die Welt schön gemacht, hat dem Lebendigen eine Qualität mitgegeben, die die Majestät der Schöpfung nicht bloss bewundern, sondern lieben lässt. Wo aber existiert ein Schönes ausser dem von G’tt geformten Leben? Dem Schönen ist ein schlechter Dienst erwiesen, meint die jüdische Psyche, wenn der Mensch in eigener Schöpferkraft sie in tote Materie einpflanzt. Schönheit ist nicht Leben des Marmors, sondern Leben der G’ttesgeschöpfe. Schönheit ist die Pracht der Natur und die Herrlichkeit des Menschen. Schön ist, was lebt und das lebendige Fluidum der Schönheit ausstrahlt. Wozu sich in tote Schönheit „einfühlen“, wenn lebendige Schönheit uns millionenfach umglänzt und magnetisch in Bann schlägt? Der Talmud ist erfüllt vom Entzücken über Schönheit; aber immer ist es nur das Lebendige, was ästhetisch wirkt.23 Der ästhetische Sinn für Objekte der bildenden Kunst besitzt nicht die Stärke, das wahre Erleben von Schönheit zu vermitteln, weil eben die ästhetische Grundeinstellung im Schönen nicht 17 18 19 20 21 22

Cant. 4, 7; Sanhedrin 36 b, Kidduschin 76 b, Jebamot 101 a u. b. Tor. Koh. zu III. 21, 10. Joma 78 b. Keine andere Religion erhebt das Schöne zu solcher Bedeutung des Religionsgesetzlichen. II. 15, 2; Sabbat 133 b. Prov. 3, 17. Vgl. die halachische Konsequenz dieser Anschauung in Sukka 32 a, Jebamot 87 b u. a. 23 Vgl. Brach. 5b, 20a, Megilla 15a, Nedarim 9b, Baba Mezia 84a, Aboda Sara 20a.

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einen absoluten Schein, sondern eine Qualität des Lebendigen erblickt. Dass Schönheit an leblosen Stoffen nur in schwachem Grade ästhetisch wirksam ist, gilt allerdings mit einer Einschränkung, die aber völlig in der Linie der entwickelten Betrachtungsweise des Aesthetischen liegt. Die Schönheit etwa eines Bauwerkes oder der Kleidung erzeugt auch im Juden den Zustand ästhetischer Befriedigung.24 Aber nicht, weil er darin das Prinzip des Aesthetischen rein und scheinhaft erlebt, sondern weil solche Schönheit als Ornament, als einem Zweckmässigen beigegeben, also in nächster Beziehung zum Lebendigen erscheint. Der Wirklichkeitscharakter und der Sinn solcher Schönheit ist durch den realen Zweck seines Trägers gewährleistet und nicht auf die Autonomie des Aesthetischen angewiesen. Die Schönheit eines Tallit führt kein ästhetisches Eigenleben, sondern ist Schmuck des religiösen Objektes. Die Pracht des Bet Hamikdasch ist nicht ästhetischer Selbstzweck, sondern Ornament der G’ttesstätte. Und gerade diese unlösliche Verknüpfung des Aesthetischen mit der Wirklichkeit verleiht dem Schönen eine ungeheure Erlebbarkeit, die der Intensität nach noch stärker ist als die eines isoliert geschauten Schönen. Denn das Schöne als absolute Bildhaftigkeit wird im Hintergrund der Seele immer das hemmende Gefühl einer Disharmonie erzeugen, eines Dualismus von Schein und Realität. Der Blick des Juden aber umschliesst synthetisch die gesamte Welt der Erscheinungen zur Einheit der Wirklichkeit und gibt so dem Schönheitserleben die ungebrochene Kraft des Wirklichkeitserlebens.25 Im System der Wirklichkeit hat also die Aesthetik ihren Platz. Aber sie ist gerade dadurch der Ethik als dem Prinzip des Lebens untergeordnet. Das Schöne besitzt nur einen Wert, wenn es sittliche Inhalte birgt. Nicht l’art pour l’art, sondern die Kunst des ethisch-bedeutungsvollen Gehalts! Der beziehende jüdische Geist verlangt vom Aesthetischen die positive Beziehbarkeit auf den absoluten Wert. Denn das Schöne ist nicht autonomer Schein, sondern Wirklichkeit. Im Aesthetischen muss das Sittliche bewusst erlebt werden. Einen bloss ästhetischen Gefühlsakt gibt es daher für den Juden eigentlich nicht. Denn, enthält das Objekt blosse Schönheit, so stört der Mangel an sittlichem Gehalt den Genuss des Aesthetischen; ist aber der ethische Wert vorhanden, so weitet sich das

24 Vgl. Berachot 57 b: ‫דירה נאה ואשה ובלים נאים‬. Anmerkung d. Herausgeber. Die Passage lautet im Zusammenhang, Übersetzung nach Goldschmidt: „Drei Dinge erheitern den Sinn des Menschen, und zwar: eine schöne Wohnung, eine schöne Frau und und schöne Geräte.“ 25 Die dargelegte Auffassung vom Wirklichkeitscharakter der jüdischen Aesthetik wird eindeutig bestätigt durch eine Betrachtung der hebräischen Ausdrücke für den Begriff des Schönen. ‫ יפה‬wird etymologisch zusammengestellt mit den Bedeutungen „passend“ und „heil, ganz“, ‫ נאה‬bedeutet ebenfalls „schön“ und „geziemend“ (vgl. Gesenius, Hebr. u. aram. Handwörterbuch). Schon hieraus ergibt sich der Wesenszug des jüdischen Schönheitsgefühls. Der Wert des Schönen wird nicht als absolut, sondern als bezogen gedacht.

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Schauen der Schönheit zu einem überästhetisch-religiösen Harmonieerleben der Wirklichkeit. Das ideale jüdisch-ästhetische Verhalten stellt also ein synthetisches Erfassen der Wirklichkeit dar, der sinnlichen und sittlichen Gegebenheit. Ein solches Erkennen des Verbundenseins geistiger und sinnlicher Schönheit entzündet erst jenen Enthusiasmus der Seele, der das Schöpferische der Persönlichkeitsformung gebiert. Ein rein ästhetisches Kunstwerk ist wohl auch imstande, das Selbstschöpferische zu entflammen, wie Giordano Bruno begeistert verkündet. Aber die Tiefe und Kraft der religiösen Idealbewunderung allein vermag Seelen mit dem Feuer der Reinheit zu läutern und Persönlichkeiten von ewigem Ausmass zu schaffen. Der bloss sinnliche Reiz des Kunstwerks hingegen entbehrt der Urgewalt religiöser Bedeutsamkeit. Das jüdisch-ästhetische Verhalten ist demnach als Harmonieschau von Schönheit und Sittlichkeit der Idealzustand der unmittelbaren Weltbetrachtung. Es versetzt den Menschen nicht in die Region der Willenlosigkeit, des blossen Spiels; es bringt Stoff- und Gestalttrieb nicht in die indifferente Lage des Gleichgewichts, sondern begeistert für die Idee der Sittlichkeit, die sich in Schönheit hüllt, und spannt das sittliche Wollen bis zum Heroischen an. Schiller charakterisiert den ästhetischen Zustand als Versöhnung von Stoffund Formtrieb.26 Das biblische Attribut des Künstlers kennt keine derartige Koordination von Vernunft und Sittlichkeit. ‫ חכם לב‬ist der Mensch, dessen Stofftrieb (‫ )לב‬bereits vergeistigt (‫ )חכם‬ist.27 Das Ziel des ästhetischen Erlebens ist nicht der Zustand des Gleichgewichts der Triebkräfte, sondern die Aktivität des sittlichen Wollens, angeregt durch das Schauen von schöner Sittlichkeit. Natürlich wird die Aesthetik des Scheins über eine solche Aesthetik sittlicher Kraftentfaltung lächeln. Aber man darf erinnern, dass z. B. schon Nietzsche umgekehrt über die „Aesthetik des ausgehängten Willens“ gespottet und von einer „Aesthetik des Rausches, des erhöhten Machtgefühls“ usw. gesprochen hat.28 Oder dass Guyau29 es zum Wesen der Kunst rechnet, dass sie zum Handeln antreibt. Es bedeutet also gar keinen Bruch mit dem spezifisch Aesthetischen, wenn wir der Welt des Schönen eine Aufgabe zuteilen, die über das blosse Erleben des Aesthetischen hinauswächst. Allerdings ist durch die Verknüpfung der jüdischen Aesthetik mit der Welt des Sittlichen der Geltungsanspruch der jüdischen Kunst a priori beschränkt. In allen Fällen, wo die Kunst, statt der sittlichen Idee zu helfen, die vorhandenen Kräfte zu absorbieren droht, wird sie bescheiden zurücktreten müssen. So darf 26 27 28 29

Vgl. auch Hegel: Vorlesungen über die Aesthetik, 2. Aufl., Bd. I, S. 78 ff., 197 ff. Anmerkung der Herausgeber: Also alle die, die kundigen Herzens sind. Sieh II, 28, 3. Nietzsche: „Zur Genealaogie der Moral“, S. 105 ff.; „Zur Physiologie der Kunst“, S. 375 ff. u. a. Guyau: „Les problèmes de l’esthétique contemporaine“.

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der Kunst beim G’ttesdienst nur soweit Spielraum gewährt werden, als eine Ablenkung von der religiösen Andacht nicht zu befürchten ist. Aber abgesehen von den Hemmungen, die der übergeordnete Gesichtspunkt der Religion hervorruft, soll sich die jüdische Kunst aus ihrer Tiefe heraus aussprechen und ihr Heiligstes geben. Denn auch wir brauchen die wahre Kunst, die unser Volk wieder zur Natur führt und die Seelen zur Einheit des Erlebens verknüpft. Yrjö Hirn leitet die Tatsache der Kunst aus dem Bedürfnis nach sozialer Uebertragung der Gefühle ab. Kunst ist demnach ein Kulturmittel der Volksverbrüderung, ein Organ der religiösen Idee, eine mächtige Helferin des sittlichen Fortschritts. Die Erkenntnis, dass das jüdisch-ästhetische Harmonieerleben von idealer Bedeutung ist, erweitert sich also noch um die Einsicht von der Idealität einer jüdischen sittlich fundierten Kunst. So wird das Problem vom Wesen der jüdischen Aesthetik aus einem Erkenntnis- und Wertproblem letzten Endes zu einem Problem der praktischen Aufgabe. Es erhebt sich die Frage: Wie gewinnt der Jude von heute die natürliche, jüdisch-organische Beziehung zum Aesthetischen? Wie wird er als Jude schöpferischer Künstler? Die Antwort darauf bildet ein besonderes pädagogisches Problem der jüdischen Kulturpolitik und kann im Rahmen unseres Themas nicht mehr behandelt werden. Nur ein grundlegender Hinweis soll hier noch erfolgen. Ermatinger sagt in seinem Buche über „Das dichterische Kunstwerk“: „Die Weltanschauung des Dichters darf nicht Wissenschaft, sondern Glauben, nicht eine Sammlung von Begriffen, sondern eine Spannung von Kräften sein.“30 Das Wesen des westeuropäischen Juden muss erst die sterile Periode der bloss begrifflichen Auseinandersetzung mit der Welt und sich selbst überwinden, muss erst durch Glauben zur Kraft und durch Kraft zum Glauben gelangen, um ästhetisch eigenschöpferisch zu werden.31 Das Problem der jüdischen Künstlerschaft wird sich von selbst lösen, wenn der Westjude sein religiöses Wesen wiedergewonnen hat. Erst Jude, dann jüdischer Künstler!

30 Ermatinger: „Das dichterische Kunstwerk“, S. 65, 66. 31 Im Ostjudentum verhindern hauptsächlich äussere Lebensverhältnisse das Emporwachsen einer starken jüdischen Aesthetik.

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Die Jüdische Korrespondenz (1915–1920) – orthodox, politisch und modern Die jüdische Presse ist eine Meinungspresse. Die einzelnen Publikationen repräsentieren eine bestimmte Strömung oder Gruppierung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Jüdische Zeitungen und Zeitschriften wollen nicht nur informieren, sondern auch beeinflussen, und zwar nach innen und nach außen. Im Untersuchungszeitraum, also während des Ersten Weltkriegs, wollte die jüdische Presse nach innen das jüdische Gruppengefühl stärken, die Assimilation bekämpfen und die jüdische Tradition in einer der Leserschaft angemessenen Form an diese herantragen. Zielpublikum war eine reale jüdische Leserschaft, die angesprochen und im Sinne der Herausgeber beeinflusst werden sollte. Was die Einflussnahme nach außen betraf, so waren die Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung, an die sich die jüdische Presse mit ihren Anliegen wandte, oft nur imaginiert. Man hoffte, dass die Publikation auch in diesen Kreisen rezipiert werden würde. Zentrales Anliegen war dabei seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts der Kampf gegen den Antisemitismus. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs, als die Jüdische Korrespondenz in Wien erschien, sah die jüdische Presse ihre Aufgabe darin, die Loyalität und Opferbereitschaft der jüdischen Bevölkerung für Kaiser und Vaterland unter Beweis zu stellen. Die Hoffnung der ersten Kriegsmonate, dass die Jüdinnen und Juden durch ihre willige Beteiligung am Krieg endgültig gleichberechtigt und gleichwertig in die österreichische Gesellschaft integriert würden, verflog bald angesichts eines Antisemitismus, den nicht einmal die strenge Kriegszensur zu verhindern vermochte. Die jüdische Presse bemühte sich, diesen Antisemitismus durch Fakten zu entkräften oder behördlich unterdrücken zu lassen. Diese Bemühungen schlugen fehl. Die hauptsächlichen Ziele des Antisemitismus waren die Zehntausende jüdischer Kriegsflüchtlinge, die aus Galizien und der Bukowina vor der russischen Armee nach Wien flohen. Aus dem ersten Kriegsjahr sind keine genauen Zahlenangaben überliefert. Bekannt ist, dass am 1. Oktober 1915, nachdem etwa 70.000 Personen bereits repatriiert worden waren, noch immer 137.000 Flüchtlinge in Wien lebten, von denen 77.000 jüdisch waren.1 Auch die ansässigen Wiener Jüdinnen und Juden standen diesen in ihren Augen rückständigen Flüchtlingen oft ablehnend gegenüber, weil diese, wie sie 1 Walter, Mentzel: Kriegsflüchtlinge und Cisleithanien im Ersten Weltkrieg, phil. Diss., Wien 1997, S. 268.

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meinten, den Antisemitismus verursachten. Die Presse sah ihre Aufgabe auch als innerjüdische Vermittlerin und publizistische Unterstützerin des Hilfswerks für die Flüchtlinge. Um den Abfall der sich modernisierenden und akkulturierenden Jüdinnen und Juden von der jüdischen Tradition und Gemeinschaft zu verhindern und die Bindung an das Judentum zu stärken, präsentierte die jüdische Presse Politik, Kultur und Gesellschaft vom jüdischen Standpunkt aus und bot daneben Lesestoff zur religiösen Erbauung. Innerhalb dieser Parameter zeigte die Presse eine große Meinungsvielfalt. Die verbreitetsten Blätter wie Dr. Blochs österreichische Wochenschrift oder Die Wahrheit vertraten eine liberale moderne Orthodoxie – Josef Samuel Bloch war Rabbiner und Jacob Bauer, Herausgeber der Wahrheit, war Oberkantor der türkisch-israelitischen Kultusgemeinde in Wien – und waren gesellschaftlich fortschrittlich. Sie waren treue Untertanen der Habsburgerdynastie, insbesondere von Kaiser Franz Joseph, der den Juden die bürgerliche Gleichberechtigung verliehen hatte und unter dessen Regentschaft sie eine Blüte erleben durften. Mit den Zionisten kam eine neue Stimme in die Wiener jüdische Presselandschaft. Denn nicht nur setzten sie die jüdische Nation an die Stelle der Religion, sie traten auch lautstark für nationale Rechte der Juden ein. Was jedoch in der Wiener jüdischen Presselandschaft fehlte, war eine streng orthodoxe Zeitung, wie sie in Deutschland mit der Wochenzeitschrift Der Israelit. Ein Centralorgan für das orthodoxe Judenthum bereits seit 1860 existierte.2 Diese Lücke füllte Jonas Kreppel, als er im Sommer 1915 die Jüdische Korrespondenz. Wochenblatt für jüdische Interessen herausbrachte. 1.

Jonas Kreppel

Jonas Kreppel wurde am 28. Dezember 1874 in Drohobycz in Galizien als eines von acht Geschwistern geboren. Sein Vater, Hirsch Kreppel, war ein strenggläubiger chassidischer Tuchhändler. Jonas Kreppel genoss bis 1890 eine traditionelle religiöse Ausbildung in Cheder und Jeschiwa und begann mit 16 Jahren eine Schriftsetzerlehre bei Aron Hersch Župnik, einem Druckereibesitzer und Verleger von rabbinisch-wissenschaftlichen Schriften. Angesichts der doppelten Funktion von Druckerei und Verlag lernte Kreppel hier nicht nur das Handwerk des Schriftsetzers, sondern wurde auch in journalistisches Arbeiten eingeführt. Wie Jonas Kreppels Biograph, Klaus Kreppel, festhält, war Aaron Hersch Župnik ein jüdischer Aufklärer, der den jungen Kreppel mit Literatur und Gedankengut der jüdischen Aufklärung, aber auch des Frühzionismus 2 Der Israelit erschien 1860–1938.

Die Jüdische Korrespondenz (1915–1920)

bekanntmachte. Im Dezember 1896 bewog Župnik Kreppel, in den „neugegründeten philanthropischen Verein ,Ahawas Zion‘ (Zionsliebe) einzutreten“, der, so Klaus Kreppel, „sozialpolitisch motiviert und religiös verwurzelt“ war.3 Laut Hubert Gaisbauer zerfiel die zionistische Bewegung Galiziens in den 1890erJahren in zwei Gruppen: die nationaljüdische, aus der 1893 die nationaljüdische Partei hervorging, und die kolonisatorische, auch „praktische“ genannt.4 Bei „Ahawas Zion“ handelte es sich vermutlich um einen Kolonisationsverein, obwohl er sich auch für notleidende jüdische Arbeiter in Galizien einsetzte.5 Selbst nach dem Bruch mit Herzls politischem Zionismus, der wenige Jahre später erfolgte, bezeichnete Kreppel sich stets als „praktischen Zionisten“, der die Besiedlung Palästinas befürwortete, was, wie später zu zeigen sein wird, auch aus der Jüdischen Korrespondenz hervorging. Auch nachdem Kreppel von Drohobycz nach Krakau übersiedelt war, setzte er sein zionistisches und soziales Engagement fort. Er unterstützte, ebenso wie Aron Hersch Župnik, den Krakauer Verein „Ahawat Zion“, der fünfzig religiösen Familien die Auswanderung nach Palästina ermöglichte. 1900 nahm Kreppel als Delegierter des Arbeitervereins „Ahawas Zion“ am Zionistenkongress in London teil.6 Drohobycz war eine multiethnische und multikulturelle Stadt, in der mehrere Sprachen wie Deutsch, Polnisch, Ukrainisch, Jiddisch und andere gesprochen wurden. Jonas Kreppel war ein Sprachentalent, der sich einige dieser Sprachen aneignete. Seinem Personalakt ist zu entnehmen, dass er neben Deutsch auch „englisch, polnisch, einige slawische und orientalische Sprachen“ beherrschte.7 Diese Fähigkeiten brachte er auch in sein Berufsleben ein. 1895, nach Abschluss seiner Lehre, übernahm Kreppel die hebräische Abteilung der Druckerei Župnik sowie die Redaktion der dort produzierten Wochenschrift Drohobyczer Zeitung. Bei dieser handelte es sich um eine deutschsprachige Zeitung, die in hebräischen Buchstaben gedruckt war, um das einfache Volk anzusprechen, es mit modernen, aufgeklärten Ideen vertraut zu machen und ihm den habsburgischen Staatspatriotismus näherzubringen. 1896 übernahm Kreppel auch die Herausgabe von Zijon, der monatlich erscheinenden hebräischen Literaturbeilage der Drohobyczer Zeitung. Dies brachte ihn in Kontakt mit den 3 Zur Biographie von Jonas Kreppel vgl. wenn nicht anders angeführt: Kreppel, Klaus: Jonas Kreppel – Glaubenstreu und vaterländisch. Biographische Skizze über einen österreichischjüdischen Schriftsteller unter Mitwirkung von Evelyn Adunka und Thomas Soxberger, Wien 2017, S. 13–41, das Zitat S. 37. 4 Gaisbauer, Adolf: Davidstern und Doppeladler. Zionismus und jüdischer Nationalismus in Österreich 1882–1918, Wien, Köln und Graz 1988, S. 66. 5 Kreppel: Jonas Kreppel, S. 37. 6 Ebd., S. 47. 7 Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), BKA/Präs., Personalakt (PA) Kreppel, Jonas, zitiert in: Kreppel: Jonas Kreppel, S. 27.

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örtlichen „Maskilim“, den Aufklärern und Intellektuellen, mit Schriftstellern und Dichtern. Schließlich wurde Josef Fischer, Besitzer einer überregionalen Verlagsdruckerei in Krakau, auf Kreppel aufmerksam. Er bot ihm nicht nur einen Wechsel in seinen Betrieb an, sondern schlug ihm darüber hinaus vor, seine nach einem Unfall gehbehinderte Tochter Helene zu heiraten und später den Verlag zu übernehmen. Die Hochzeit fand 1898 statt, Kreppel übernahm die Leitung des Verlags, der vor allem literarische, wissenschaftliche und religionsgeschichtliche Werke in deutscher, polnischer, jiddischer und hebräischer Sprache druckte. Durch diese Tätigkeit und die Redaktion mehrerer hebräischer und jiddischer Zeitungen machte Kreppel sich einen Namen vor allem unter den jiddischen Literaten Westgaliziens. 1907 zog Josef Fischer sich aus dem Verlag zurück und übergab diesen an Jonas Kreppel. Neben anderen jiddischen und hebräischen Zeitschriften redigierte Kreppel in den Jahren 1909–1914 die jiddische Zeitung Der Tog.8 Damit begann seine Tätigkeit für den österreichischen Staat, wie er 1926 in einem Schreiben an das Bundeskanzleramt festhielt: Seit Dezember 1909 bis Ende September 1914 war der Gefertigte [Kreppel] – der bereits vorher viele Jahre sich publizistisch betätigte – Mitherausgeber und Chefredakteur der Tageszeitung Der Tag in Krakau, eines mit der Hilfe von ausgiebigen Staatssubventionen gegründeten und erhaltenen halboffiziösen Blattes. Während dieser Jahre war der Gefertigte inoffizieller korrespondierender Mitarbeiter des Pressedepartments beim damaligen Ministerratspräsidium, bei wichtigen Anlässen Referate und Vorschläge unterbreitend. Diese publizistische Arbeit lag entschieden im Staatsinteresse und erhielt der Gefertigte wiederholt den allerhöchsten Dank ausgesprochen.9

Der Tog zeigte eine dritte Form der Einflussnahme durch jüdische Presseorgane: Durch ihn wollte der österreichische Staat die galizischen Juden in seinem Sinn beeinflussen, sie zu modernen, staatstragenden Bürgern machen. Daneben verfolgte Der Tog auch die Anliegen der „Maskilim“, die Leserschaft zu aufgeklärten Juden zu machen. Seine zufriedenstellende Arbeit für das Pressedepartment ermöglichte Kreppel 1914 den Sprung nach Wien, wohin er mit seiner Familie – seine Söhne Salo und Leo waren 1899 bzw. 1906 zur Welt gekommen – übersiedelte. Hier arbeitete er ab Jänner 1915 als Honorarbeamter 8 Standesausweis von Jonas Kreppel, ÖStA, Neue Administrative Registratur, Karton 88; Wininger, Solomon: Große Jüdische National-Biographie. Bd. 3: Czernowitz 1925–1936, Wienbibliothek TP 026477. 9 Schreiben von Jonas Kreppel an das Bundeskanzleramt (BKA) vom 4.8.1926, ÖStA BKA 7720 – Pr/26.

Die Jüdische Korrespondenz (1915–1920)

des Pressedepartments des k. u. k. Ministeriums des Äußeren, ab 1. Juli 1915 dann als Vertragsbeamter des staatlichen Pressedienstes. In dieser Tätigkeit verfasste er wiederholt Expertisen für den Pressedienst sowie mehrere patriotische propagandistische Schriften über die Lage der Habsburgermonarchie im Krieg und zur Judenfrage.10 Die Republik übernahm ihn dann in den Staatsdienst. 1921 wurde Kreppel zum Regierungsrat ernannt, 1924 auf einem Dienstposten des höheren Verwaltungsdienstes im Personalstand des Bundeskanzleramts pragmatisiert, obwohl er den dafür notwendigen Hochschulabschluss nicht besaß, sondern nach Eigendefinition „Autodidakt“ war.11 Neben dieser Beamtenkarriere betrieb Kreppel publizistische Projekte. So gab er von 1915 bis 1920 in Wien die Jüdische Korrespondenz heraus und war seit 1919 Wiener Korrespondent des New Yorker Jiddischen Tagblatts, wo er u. a. einige historische Erzählungen aus dem jüdischen Leben veröffentlichte. Nach der Einstellung der Jüdischen Korrespondenz 1921 redigierte er von 1921 bis 1923 die literarisch-bibliographische Zeitschrift Das Buch. 1925 erschien sein 800 Seiten umfassendes Monumentalwerk Juden und Judentum heute,12 ab 1927 das Handwörterbuch für Politik und Wirtschaft 13 sowie andere kleinere Publikationen wie chassidische Erzählungen und Groschenromane.14 Kreppels publizistischer Eifer machte ihn nicht reich, im Gegenteil: Er verschuldete sich zunehmend. Dazu kam, dass er 1926, nach der Scheidung von seiner ersten Ehefrau, wieder heiratete und ein Haus erwarb. Kreppels finanzielle Probleme belasteten auch seine Karriere. 1929 lehnte der Bundespressedienst seine Beförderung ab, denn: Regierungsrat Kreppel hat sich dem Vernehmen nach in mancherlei Geschäfte publizistisch-technischer Natur eingelassen, Herausgabe von Büchern, eines Nachschlage-Lexikons, die ihn scheinbar mit erheblichen Schulden belasten. Dazu tritt noch die Alimentationspflicht gegenüber seiner ersten Frau und schliesslich

10 Der Weltkrieg und die Judenfrage (1914); Österreich-Ungarn nach dem Friedensschlusse (1915); Der Kampf für und wider den Frieden (1917); Der Friede im Osten (1918). Vgl. Kreppel: Jonas Kreppel, S. 81–117. 11 Standesausweis von Jonas Kreppel, ÖStA, Neue Administrative Registratur, Karton 88; Ansuchen des Regierungsrates Jonas Kreppel um Anrechnung von Dienstzeiten für die Bemessung des Ruhegenusses vom 16.12.1927, ÖStA BKA 9549 – Pr/26. 12 Kreppel, Jonas: Juden und Judentum heute,Wien, Zürich und Leipzig 1925. 13 Kreppel, Jonas: Handwörterbuch für Politik und Wirtschaft, Wien 1930. 14 Zur Biographie Kreppels vgl. auch Wininger, Solomon: Große Jüdische National-Biographie, Bd. 3, Czernowitz 1925–1936.

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hat er jetzt noch ein Haus angekauft. Wozu er sich die dafür notwendigen Mittel wahrscheinlich ebenfalls zur Gänze wieder im Kreditwege beschaffen musste.15

Da Kreppels „finanzieller Niederbruch mit gerichtlichem Nachspiel“ zu befürchten war, wurde die Beförderung bis zur Regelung der Angelegenheit aufgeschoben. Doch Kreppels finanzielle Lage verschlechterte sich weiter. Sein zweite Frau Mina erkrankte schwer. Obwohl Kreppel ihr teure Privatbehandlungen ermöglichte, verstarb sie am 13. Januar 1933 im Alter von nur 33 Jahren.16 Am 9. Juli 1933 heiratete Jonas Kreppel zum dritten Mal, Rifka Itte Goldmann, geb. Schek.17 Kreppel suchte wiederholt um Gehaltsvorschüsse an, die ihm zum Teil gewährt wurden. Trotzdem konnte er seine Schulden nicht begleichen. Es kam zur Gehaltpfändung, und 1936 erkrankte Kreppel an einer „Erschöpfungsneurose“.18 Kreppel hatte den Übergang vom kaisertreuen zum loyalen republikanischen Beamten klaglos geschafft. Sein Vorgesetzter, Bernhard Fuchs, war ebenso wie er ein strenggläubiger Jude, beide waren Prälat Ignaz Seipel, christlichsozialer Politiker und Bundeskanzler von 1922 bis 1924 und von 1926 bis 1929, freundschaftlich verbunden, obwohl dieser Antisemit war. 1933 trat Kreppel der Vaterländischen Front, der Einheitspartei des autoritären christlichen „Ständestaats“, bei. Seine Nähe zum christlichsozialen Regime sowie seine gehobene Beamtenstelle waren mit ein Grund dafür, dass Kreppel nach dem „Anschluss“ Österreichs ans Deutsche Reich verhaftet und am 16. Juli 1938 ins KZ Dachau verbracht und danach als „politischer Jude“ ins KZ Buchenwald überstellt wurde. Am 21. Juli 1940 erlag er den Arbeits- und Haftbedingungen. Seine Frau Rifke Itte wurde am 5. Juni 1942 nach Izbica deportiert und ermordet.19 Jonas Kreppel war ein guter Journalist und ein eifriger Propagandist der Habsburgermonarchie, später ein loyaler publizistischer Vertreter der Republik ebenso wie des autoritären „Ständestaates“. Gleichzeitig war er ein strenggläubiger Jude. Den Unterlagen über Kreppel ist zu entnehmen, dass er seine dritte Ehe im Polnischen Tempel, der Vereinssynagoge Beth Israel im zweiten Wiener

15 Antwort des Bundespressedienstes an Ministerialrat Dr. Troll vom 24.7.1929, ÖStA BKA 9549 – Pr/26, Schreiben Kreppel an das BKA. 16 Schreiben von Jonas Kreppel an das BKA vom 30.11.1931, ÖStA PA Kreppel, Jonas – 9631 –Pr/31; Schreiben von Jonas Kreppel an das BKA vom 15.2.1933, ÖStA BKA – PA Kreppel, Jonas 1837 – Pr/33; Friedhofsdatenbank der IKG Wien (2019-01-18). 17 Schreiben von Jonas Kreppel an das BKA vom 9.4.1937, ÖStA 10425 – Pr/37. 18 PA Kreppel, Jonas – ÖStA 22115- Pr/35 BKA GZ 22.115 Pr/35; BKA GZ 7748 – Pr/36; BKA 23646 – Pr/36; BKA 28816 – Pr 1936; BKA 21.960 – Pr/36. 19 Kreppel: Jonas Kreppel, S. 221–228; http://ldn-knigi.lib.ru/JUDAICA/Kreppel/Kreppel_Jonas. htm (letzter Zugriff: 10.01.2020); Matrikenamt der IKG Wien.

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Gemeindebezirk in der Leopoldsgasse 29, schloss.20 Beth Israel war das größte der etwa achtzig polnischen Bethäuser, die es nach dem Ersten Weltkrieg in Wien gab. Die Mitglieder von Beth Israel waren meist akkulturierte galizische Juden, die jedoch zum Lager der strengen Orthodoxie gehörten und diese auch im Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde Wien vertraten.21 Ein Foto von Jonas Kreppel zeigt diesen als bartlosen, modern gekleideten Mann – das typische Erscheinungsbild eines akkulturierten Orthodoxen.22 Nach seinem Bruch mit dem politischen Zionismus Herzls fand Jonas Kreppel seine neue weltanschauliche Heimat bei der „Agudas Jisroel“, welche die sich akkulturierende und sich modernisierende strenge Orthodoxie vertrat. 2.

Die „Agudas Jisroel“

Angesichts der raschen Ausbreitung von Akkulturation und religiöser Reform im 19. Jahrhundert entstanden in Deutschland und in Ungarn streng orthodoxe, antimodernistische Bewegungen. In Deutschland führte Mitte des 19. Jahrhunderts der Rabbiner der Frankfurter orthodoxen Gemeinde, Samson Raphael Hirsch (1808–1888), das Konzept von „Thorah we-Derech Erez“ ein. Er forderte von seinen Anhängern strikte Thoratreue, also Einhaltung aller Vorschriften des jüdischen Religionsgesetzes, gestattete jedoch moderne Erziehung als Basis für berufliche Betätigung. Die jüdische Reformbewegung lehnte er ab, und er war auch nicht bereit, mit Reformjuden in einer Einheitsgemeinde zu verbleiben. 1876 erhielt er die staatliche Genehmigung zur Gründung einer „Austrittsgemeinde“ in Frankfurt am Main. Bereits vor Samson Raphael Hirsch hatte der ebenfalls aus Frankfurt am Main stammende Rabbiner Moses Sofer (Schreiber, 1762–1839) in Pressburg (Bratislava) ein ungarisches Zentrum der strenggläubigen Orthodoxie geschaffen und wurde Stammvater einer prominenten Rabbinerdynastie. Die Pressburger Jeschiwa wurde zu einem der bedeutendsten orthodoxen Lehrhäuser in Europa. Auch die ungarische Orthodoxie war akkulturiert und deutschsprachig. Und auch sie konnte zu keinem Modus Vivendi mit der ungarischen Reformbewegung, der Neologie, kommen. Auf dem 1868 von der ungarischen Regierung einberufenen Allgemeinen Jüdischen Kongress spaltete sich das ungarische Judentum in drei Bewegungen: in orthodoxe, neologe und sogenannte Status-quo-Gemeinden, die sich keiner der beiden

20 Matrikenamt der IKG Wien. 21 Zur galizischen Orthodoxie in Wien siehe Pass Freidenreich, Harriet: Jewish Politics in Vienna, 1918–1938, Bloomington und Indianapolis 1991, S. 138–146. 22 http://ldn-knigi.lib.ru/JUDAICA/Kreppel/Kreppel_Jonas.htm (letzter Zugriff: 10.01.2020).

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Seiten anschließen wollten. Die osteuropäischen Orthodoxen hatten noch keinen solchen Prozess der Modernisierung und Verwestlichung durchgemacht und wollten solche Entwicklungen auch in Zukunft unter allen Umständen vermeiden. Doch das Aufkommen des politischen Zionismus, der eine säkulare Besiedlung von Palästina anstrebte, beunruhigte sie. Bisher waren Juden vor allem zum Beten und zum Thorastudium ins Heilige Land gegangen, wobei sie von den Diasporagemeinden unterstützt wurden. Auch die Choveve Zion, die vorherzlianischen Zionisten, die ab den 1880er-Jahren nach Palästina emigrierten, um das Land zu kolonisieren, waren meist glaubenstreue Juden. Herzl und die politischen Zionisten machten aus der Rückkehr nach Eretz Israel ein säkulares, modernes und westliches Projekt. Die frommen Osteuropäer sahen damit die Heiligkeit der jüdischen Ansiedlung in Eretz Israel gefährdet. Teile der osteuropäischen orthodoxen Führung kamen zu dem Schluss, dass der politische Zionismus nur mit seinen eigenen Waffen geschlagen werden könne: durch Politik – allerdings durch eine heilige Politik, die vom Geist der Thora getragen war. Der zionistischen Weltorganisation sollte eine orthodoxe Weltorganisation entgegengestellt werden.23 Die Konferenz in Kattowitz, die im Mai 1912 zu diesem Zweck zusammengerufen wurde, zeigte zunächst einmal die tiefen Klüfte, welche die Orthodoxen aus unterschiedlichen Teilen Europas trennten. Dennoch einigten sich die zweihundert Delegierten auf ein Programm, das aus vier Punkten bestand: Unterstützung des Thora-Studiums in der Diaspora und in Palästina; wirtschaftliche Unterstützung des jüdischen Gemeindelebens in Palästina und armer Gegenden der Diaspora; Organisation für Hilfe in Notsituationen; Unterstützung von Literatur und Presse mit einem wahren jüdischen Geist. Das Programm bezog sich also auf die Diaspora ebenso wie auf Palästina. Allerdings sollte die in Kattowitz feierlich gegründete „Agudas Jisroel“ zunächst keine Aktivitäten entfalten.24 Unter den Delegierten in Kattowitz befand sich auch Jonas Kreppel.25 3.

Die Jüdische Korrespondenz

Das erste Heft der Jüdischen Korrespondenz. Wochenblatt für jüdische Interessen erschien am 12. August 1915, als ihr Herausgeber, Jonas Kreppel, Vertragsbe23 Mittelman, Alan L.: The Politics of Torah. The Jewish Political Tradition and the Founding of Agudat Israel, Albany, NY 1996, S. 6–22. 24 Ebd., S. 121. 25 Siehe Präsenzliste der Konferenz von Kattowitz in: Provisorisches Comité der Agudas Jisroel zu Frankfurt/M. (Hg.): Agudas Jisroel. Berichte, Materialien, Frankfurt am Main o. D. [1912], S. 35.

Die Jüdische Korrespondenz (1915–1920)

amter im Pressedienst war. Inwieweit die Zeitschrift staatlich subventioniert wurde, ist nicht klar. Jedenfalls fällt auf, dass sie bis Ende 1917 so gut wie keine bezahlten Annoncen brachte, was zumindest in ihren Anfangsjahren auf staatliche Unterstützung schließen lässt. Die Zeitschrift profitierte jedenfalls insofern von Kreppels Position, als sie gut über das politische Geschehen informiert war. Allerdings vertrat sie in der Berichterstattung streng die Linie der Regierung und brachte nur selten kritische Anmerkungen. Ihre Aufmachung und ihr Stil waren modern und zeugen von Kreppels journalistischer Begabung. Denn es ist anzunehmen, dass er einen erheblichen Teil der Beiträge selbst schrieb. Allerdings umfasste die Jüdische Korrespondenz in der Regel nicht mehr als vier Seiten. Aufmacher des ersten Hefts war eine Huldigung Kaiser Franz Josephs, der am 18. August 1915 seinen 85. Geburtstag feierte. Dieser ausgeprägte Patriotismus war zur Zeit des Ersten Weltkriegs auch in anderen jüdischen Publikationen wie etwa Dr. Blochs österreichischer Wochenschrift zu finden und reflektierte, bisweilen übertrieben, das Gefühl der Dankbarkeit, das die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung der Monarchie ihrem Regenten entgegenbrachte. Bei Kreppel kam noch dazu, dass er als Vertragsbeamter des Pressedepartments und vermutlicher Fördernehmer ein Sprachrohr der Regierung war. Inhaltlich wandte sich die Jüdische Korrespondenz an ein orthodoxes Publikum, für das Staatstreue ein religiöses Gebot war. Wie Klaus Kreppel aufzeigt, wandte sich die Jüdische Korrespondenz in ihren Anfangsjahren vor allem an galizische Orthodoxe, denen sie einerseits die Anliegen der Regierung, andererseits die der „Agudas Jisroel” nahebringen wollte.26 Denn durch den Zustrom Zehntausender Kriegsflüchtlinge aus Galizien und der Bukowina nach Wien – darunter auch eine Reihe prominenter Rabbiner – war die osteuropäische Orthodoxie in der Residenzstadt wesentlich gestärkt. Die spezifische Ausrichtung der Jüdischen Korrespondenz lässt sich an einem frühen Artikel über eine „Kriegs-Slicha“ aus dem 16. Jahrhundert zeigen. „Slichot“ (Mehrzahl von Slicha) sind Bußund Bittgebete, die Juden im Monat vor dem jüdischen Neujahrsfest27 täglich sprechen. Die alte „Kriegs-Slicha“ erflehte, so die Jüdische Korrespondenz, „das Waffenglück der vaterländischen Armeen“.28 Aufgrund der langen Friedenszeit fehlte die „Kriegs-Slicha“ jedoch in den gängigen Gebetsbüchern. Die ungarischen orthodoxen Rabbiner ließen sie daher zu Kriegsbeginn in jüdischen Zeitungen abdrucken und erklärten sie neuerlich für verpflichtend. Die Jüdische Korrespondenz empfahl nun auch den österreichischen und insbesondere den

26 Kreppel: Jonas Kreppel, S. 124. 27 Rosch Haschanah, das jüdische Neujahr, fällt auf September oder Oktober. 28 Eine Kriegs-Slicha, in: Jüdische Korrespondenz (JK), 12. August 1915, S. 3.

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galizischen Rabbinern, diesem Vorbild zu folgen.29 Bei der genannten „KriegsSlicha“ handelt es sich nicht um eine liturgische Neuerung – was die strenge Orthodoxie ablehnte –, sondern um die Wiedereinführung eines altehrwürdigen Gebets aus Krakau aus dem Jahr 1568. Damit wird auch der Bogen von der ungarischen zur galizischen Orthodoxie geschlagen. 1917 behauptete die Jüdische Korrespondenz dann, dass es gelungen sei, eine Annäherung zahlreicher bedeutender galizischer Rabbiner, die als Flüchtlinge in Wien weilten, an die ungarische Orthodoxie und die „Agudas Jisroel“ herbeizuführen.30 Die orthodoxen Juden leisteten ebenso Kriegsdienst wie die liberalen oder die Zionisten. Da die überwiegende Mehrheit der österreichischen Juden in Galizien und der Bukowina lebten, bildeten die strenggläubigen Juden eine Mehrheit im Heer. Die Jüdische Korrespondenz betrachtete es als ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie dabei die Gesetze ihrer Religion möglichst genau einhalten konnten. Dies war den Juden zwar gesetzlich zugesichert, wurde im Kampfeinsatz aber nicht immer verwirklicht. Um die orthodoxen Soldaten über ihre Rechte zu informieren, veröffentlichte die Jüdische Korrespondenz vor jüdischen Feiertagen die Anordnungen der Heeresoberkommandos, wonach jüdischen Soldaten Gelegenheit für die Abhaltung von Gottesdiensten gegeben werden sollte. Solche Artikel betonten gleichzeitig die gute Behandlung der jüdischen Soldaten in der k. u. k. Armee, die ihnen diese Möglichkeiten einräumte. 1917 sah sich die „Agudas Jisroel“ jedoch zu einer Eingabe beim Landesverteidigungsministerium veranlasst, den jüdischen Soldaten die gesetzlich zugesicherte Sabbat- und Feiertagsruhe auch wirklich zu gewähren und ihnen koschere Kost zu verabreichen.31 Die Eingabe war erfolgreich und wenig später appellierte die Landesorganisation der „Agudas Jisroel“ an alle Feldrabbiner, die staatlich bewilligte rituelle Kost auch wirklich zu den Mannschaften zu bringen, denn: „Der Soldat, der seine heiligsten Gefühle befriedigt sieht, erfüllt seine Pflichten mit doppelter Begeisterung und Hingebung.“32 Nach Meinung der Jüdischen Korrespondenz war die Sorge um rituelle Kost eine jüdisch-religiöse wie auch eine patriotische Pflicht.

29 Der Badener Rabbiner Wilhelm Reich (1852–1929), Absolvent der Pressburger Jeschiwa, also der ungarischen Orthodoxie angehörig, hatte bereits am 28.9.1914 in Dr. Blochs österreichischer Wochenschrift, die von dem galizischen Rabbiner Dr. Josef Samuel Bloch herausgegeben wurde, angeregt, die „Kriegs-Slicha“ ins Jom-Kippur-Gebet einzufügen. 30 Eine religiöse Aktion der galizischen Rabbiner, in: JK, 25. Oktober 1917, S. 2. 31 Sabbat- und Feiertagsruhe und rituelle Verköstigung für die Kriegsdienst, in: JK, 27. September 1917, S. 2. 32 Rituelle Fürsorge für die jüdischen Soldaten (Ein Appell an die k. u. k. Feldrabbiner), in: JK, 15. November 1917, S. 1. Vgl. auch: Sabbath- und Feiertagsruhe für die jüdischen Kriegshilfsdienstleistenden, in: ebd.

Die Jüdische Korrespondenz (1915–1920)

Da die staatliche Unterstützung für Flüchtlinge nicht ausreichte, entstand eine Vielzahl privater Hilfsaktionen. Diese wollten nicht nur die größte Not lindern, sondern auch die rückständigen Flüchtlinge an das Leben in Wien anpassen, sie modernisieren und an Hygiene, aber auch an die Berufsausbildung zur Sicherung des Lebensunterhalts heranführen. Ebenso wie die anderen jüdischen Presseorgane berichtete auch die Jüdische Korrespondenz über solche Initiativen.33 Ebenso wie die anderen jüdischen Publikationen warb auch sie um Sympathien für die Flüchtlinge, indem sie deren Glaubenstreue mit dem Patriotismus in Beziehung setzte. Die „Agudas Jisroel“ nutzte diese Tatsache, wie die Jüdische Korrespondenz berichtete, um den rückständigen strenggläubigen Flüchtlingen modernes staatsbürgerliches Verhalten beizubringen. So gründete sie z. B. einen Verein im zweiten Wiener Gemeindebezirk, wo die meisten Flüchtlinge lebten, der es ihnen ermöglichte, mit kleinsten Beträgen Kriegsanleihen zu zeichnen und damit ihre staatsbürgerliche Pflicht zu erfüllen.34 Gleichzeitig war es ihr auch ein wichtiges Anliegen sicherzustellen, dass die Flüchtlinge ihre religiösen Pflichten erfüllen konnten. Ein großes Problem waren die schlechten Lebensbedingungen in den im Herbst 1914 hastig errichteten Flüchtlingslagern in Niederösterreich, Böhmen und Mähren.35 Jüdische und zionistische Organisationen machten so genannte „Inspektionstouren“ und berichteten von Missständen wie überfüllten, unhygienischen Quartieren, schlechter Verpflegung usw. und ersuchten die zuständigen Behörden, diese zu beheben. Unter dem Druck der Zensur zeigte sich die jüdische Presse stets überzeugt, dass ihre Eingaben positiv behandelt würden.36 Dennoch waren solche kritischen Berichte über Flüchtlingslager rar. Der Präsident der galizischen „Agudas Jisroel“, Isaak Jakob Thumim, der aus Przemyśl nach Wien geflohen war, und Rabbiner L. Leiter besuchten das Flüchtlingslager in Deutsch-Brod (Havlíčkův Brod), nachdem es dort Beschwerden religiöser Natur gegeben hatte. Nach der bei solchen Inspektionen üblichen Begrüßung durch den Bezirkshauptmann folgte die Bestandsaufnahme der religiösen Mängel im Lager. Daraufhin schritten die beiden Besucher selbst sogleich zu deren Behebung. Sie installierten eine streng koschere Küchenführung und richteten ein Ritualbad (Mikvah) sowie Religionsschulen für die Jüngsten (Chadarim) ein. Rabbiner Leiter blieb im Barackenlager, um, wie die Jüdische Korrespondenz berichtete, die Durchführung der Anordnungen zu überwachen.37 33 34 35 36

Arbeit für Flüchtlings-Frauen und Mädchen, in: JK, 30. Jänner 1917, S. 3. Kriegsanleihezeichnung der „Agudas Jisroel“, in: JK, 29. November 1917, S. 4. Vgl. Mentzel, Kriegsflüchtlinge und Cisleithanien, S. 271, 290–345. Siehe z. B.: Hilfsaktion für Flüchtlinge, in: Jüdische Zeitung, 27. November 1914, S. 1; Aus dem Massenquartier der galizischen Flüchtlinge in Eger, in: Wahrheit, 11. Dezember 1914, S. 4. 37 Die Flüchtlinge in Deutsch-Brod, in: JK, 7. Juni 1916, S. 3.

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Was die Repatriierung der Kriegsflüchtlinge betraf, so vertrat die Jüdische Korrespondenz die Regierungslinie. Obwohl die zugesagte Unterstützung für jene, die zurückkehrten, durch die Regierung oft auf sich warten ließ, riet die Jüdische Korrespondenz nach der Wiedereroberung Galiziens 1915 zur zügigen Heimkehr.38 Einige Monate später kamen die ersten Spendenaufrufe und man musste eingestehen, dass angesichts der verheerenden Zerstörungen in Galizien die öffentlichen Gelder für die Zurückkehrenden nicht ausreichten und durch private Mittel aufgestockt werde müssten.39 Gleichzeitig betonte die Jüdische Korrespondenz die Freude, mit der die Flüchtlinge ihre Heimfahrt antraten.40 Zionistische Forderungen nach Minderheitenrechten und Minderheitenschutz vor allem in Galizien wies die Jüdische Korrespondenz zurück: Nun heiße es durchhalten bis zum Sieg, alle anderen Fragen werde das Vaterland später gebührend behandeln.41 Überhaupt betonte das Blatt, dass die Orthodoxen an nationalen Minderheitenrechten nicht interessiert seien. Sie hofften auf Anerkennung ihrer Verdienste und einen „Platz unter des Kaisers Gnadensonne“, was bedeutete: „Die vollste bürgerliche und politische Gleichberechtigung, die Berücksichtigung ihrer speziellen religiösen und kulturellen Interessen.“42 Als klar wurde, dass das Königreich Polen wiedererstehen und Galizien eine erweiterte Autonomie erhalten, also der Einfluss der Polen stärker werden würde, setzte die Jüdische Korrespondenz ihre Hoffnung ebenfalls in die Regierung bzw. die Zentralmächte, welche die Rechte der Juden absichern würden.43 Dieser politische Quietismus war nicht nur Kreppels Position als Staatsbeamter geschuldet, sondern entsprach auch der traditionellen orthodoxen Politik. Anfang 1917 änderte sich der Ton der Zeitschrift. Am 4. Januar berichtete sie von der „Gründung eines Verbandes galizischer Rabbiner“ auf Initiative der Wiener „Agudas Jisroel“. „Der Verband soll gewissermaßen die religiösen Interessen der galizischen Juden vertreten und die Rabbiner sollen endlich einmal wirkliche Führer des Volkes sein“, hieß es in der Jüdischen Korrespondenz.44 Man hoffte offenbar auf einen baldigen Frieden und wollte rechtzeitig als politische Kraft Position beziehen.45 Angeregt zu dieser Gründung hatte offenbar die Schaffung einer „Agudas Jisroel“ in Polen im Jahr 1916. Trotz

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Brief aus Galizien, in: JK, 12. August 1915, S. 2. Hilfe für galizische Juden, in: JK, 23. September 1915, S. 2. Galizische Flüchtlinge auf der Heimfahrt, in: JK, 15. Oktober 1915, S. 4. Jüdisch-politische Zeitfragen, in: JK, 19. August 1915, S. 1. Das neue Österreich, in: JK, 28. Oktober 1915, S. 1. Das Königreich Polen; Die Sonderstellung Galiziens, beide in: JK, 9. November 1916, S. 1. JK, 4. Jänner 1917, S. 2. Vgl. dazu auch den unmittelbar vor dem genannten Artikel stehenden Beitrag: Die Friedensfrage und die Juden, in: JK, 4. Jänner 1917, S. 1 f.

Die Jüdische Korrespondenz (1915–1920)

dieser Wiener Initiative blieb die „Agudas Jisroel“ in Galizien wesentlich schwächer, als sie es in Polen war, wo sie mit dem Gerer Rebben eine prominente Führungspersönlichkeit hatte.46 4.

Der Kampf um Palästina

Das Jahr 1917 brachte wichtige Entwicklungen für Palästina, insbesondere die Balfour-Deklaration der britischen Regierung. Am 15. November 1917 brachte die Jüdische Korrespondenz einen ersten Bericht über die Balfour-Deklaration, die sie nicht völlig, aber annähernd korrekt zitierte. Sie wies auch sogleich auf die große immanente Schwäche der Erklärung hin, die einerseits den Juden Unterstützung bei der Errichtung eines Nationalstaates [sic!] zusage, andererseits aber stipuliere, dass damit die Rechte der anderen dort lebenden Völker nicht beeinträchtigt werden dürften. Damit habe England, wie die Zeitschrift meinte, jede Handhabe, sein Versprechen gegenüber den Juden nicht zu halten – ganz abgesehen davon, dass Palästina noch nicht ganz in britischer Hand sei.47 Die größte Gefahr der Deklaration sah sie jedoch darin, dass die Engländer ihr Versprechen gegenüber den Zionisten gemacht und damit Tür und Tor für eine säkulare Besiedlung Palästinas geöffnet hätten. Die strengen Orthodoxen befürchteten, dass die säkularen zionistischen Einflüsse das religiöse Leben im Land vergiften könnten. Noch im Januar 1918, als die Briten Jerusalem bereits erobert hatten, forderte die Jüdische Korrespondenz „die freie Kolonisation und die freie wirtschaftliche Entwicklung im religiösen Sinn, wobei die Erhaltung der türkischen Oberherrschaft unter allen Umständen als wünschenswert erklärt wird, ohne Rücksicht auf die weitgehenden Versprechungen seitens der Entente“.48 Palästina sei Eigentum des ganzen jüdischen Volkes, weshalb die Orthodoxie, welche die Mehrheit der Juden vertrete, den ihr gebührenden Einfluss haben müsse: „In dem Momente, da dank einer politischen Konstellation die Möglichkeit eines stärkeren Jischub [jüdische Siedlung] in Palästina vorhanden sein dürfte, ist die Orthodoxie keineswegs gewillt, sich in den Hintergrund schieben zu lassen, oder zu dulden, daß die moderne Kultur das heilige Land entweihe.“49 Fortan waren die Zionisten die hauptsächlichen Gegner der Jüdischen Korrespondenz. Es gab kein Heft, in dem sie nicht angegriffen wurden. Im Februar 1918 fand in Wien eine von Jonas Kreppel organisierte Rabbinerkonferenz 46 47 48 49

Freidenreich, Jewish Politics, S. 117. Der Kampf um Palästina, in: JK, 15. November 1917, S. 2 Kohelet, Jüdische Friedensfragen, in: JK, 24. Jänner 1918, S. 1. Freidenreich, Jewish Politics, S. 117.

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statt, die das Ziel hatte, die Orthodoxie der Habsburgermonarchie zu vereinen und ihr damit zu dem Einfluss zu verhelfen, der ihrer zahlenmäßigen Stärke zustünde. Ihre Forderungen bezogen sich einerseits auf die Möglichkeit, ihre Religion in der Monarchie ausleben zu können, wofür religiöse Autonomie und das Recht auf Sabbatruhe Voraussetzung waren. Die jüdischen Gemeinden sollten auf eine streng religiöse Basis gestellt werden. Gleichzeitig verlangten sie volle Gleichheit auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet. In der Besiedlung Palästinas sahen sie einerseits die Erfüllung eines religiösen Gebots, andererseits die Möglichkeit der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage vieler Juden. Daher forderten sie den Ausbau des alten, streng religiösen Jischub anstelle der Förderung des neuen zionistischen.50 Diese Politik, die glaubenstreuen Juden in der Diaspora zu organisieren, um sich dadurch wirkungsvoller für die Bewahrung der Religion in der Diaspora und in Palästina einsetzen zu können, setzte die „Agudas Jisroel“ im Februar 1919 mit ihrem Weltkongress in Zürich fort. Es war dies, wie die Jüdische Korrespondenz wiederholt betonte, der erste internationale Kongress nach dem Krieg, an dem Delegierte aller kriegführenden Länder teilnahmen. Diskutiert wurden hier die Forderungen der Orthodoxie an die Friedenskonferenz, also die Rechte der Orthodoxie sowohl in Palästina als auch in der Diaspora. Wichtig war es den Organisatoren der Konferenz zu zeigen, dass die Orthodoxie politisch aktiv geworden war: „Die Orthodoxie ist aus ihrem bisherigen engen Rahmen herausgetreten und sowohl die jüdische wie die nichtjüdische Öffentlichkeit wird von nun an mit dieser Tatsache zu rechnen haben.“51 Als äußeres Zeichen, dass sich die „Agudas Jisroel“ nun zu einer politischen Gruppierung entwickelt hatte, übernahm sie im Juni 1919 die Eigentümerschaft über die Jüdische Korrespondenz, die sich fortan „Organ für die Interessen des orthodoxen Judentums“ nannte.52 Trotzdem fiel es der „Agudas Jisroel“ schwer, sich zur Teilnahme an den Wahlen zur Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG), die im Jahr 1920 abgehalten wurden, zu entschließen. Aufgrund des neuen proportionalen Wahlrechts hatte sie Aussichten auf Mandate. Doch mit einer Kandidatur musste sie ihre traditionelle Distanz zur Israelitischen Kultusgemeinde aufgeben, die sie bislang wegen der, wie sie meinte, dort vorherrschenden laxen Religiosität gewahrt hatte. Zentrum der „Agudas Jisroel“ in Wien war die „Schiffschul“, der Tempel der ungarischen und Bukowiner orthodoxen Juden. Gerade weil sie mit den ungarischen Verhältnissen vertraut waren, 50 Die Konferenz der Orthodoxie in Österreich, in: JK, 21. Februar 1918, S. 1–4. 51 Die Weltkonferenz der Orthodoxie (Zürich, 19.–26. Februar 1919), in: JK, 13. März 1919, S. 1–8, hier S. 1. 52 Die „Jüdische Korrespondenz“ – Organ der Organisation der Orthodoxie in Wien, in: JK, 15. Juni 1919, S. 1.

Die Jüdische Korrespondenz (1915–1920)

wo sich die jüdischen Strömungen getrennt hatten, konnten sie es nur schwer akzeptieren, dass es ihnen in Österreich gesetzlich verwehrt geblieben war, eine Austrittsgemeinde zu gründen. Nun drohte noch dazu ein Erstarken der Zionisten, welche die IKG in eine säkulare Volksgemeinde umwandeln wollten. Die Agudisten sahen demgegenüber der Möglichkeit, mit ihren Mandataren eine strikte Einhaltung des Religionsgesetzes in den Gemeindeorganisationen durchzusetzen. Nach lang andauernden, lebhaften Diskussionen innerhalb der „Adass Jisroel“-(Schiffschul-)Gemeinde kündete die Jüdische Korrespondenz im Mai 1920 die Kandidatur der „Agudas Jisroel“ mit einer eigenen Liste an.53 Bei den Wahlen am 27. Juni errangen die Orthodoxen drei von 36 Mandaten, was die Jüdische Korrespondenz als Erfolg feierte.54 Ihr Einfluss in der IKG blieb jedoch bescheiden. Wolf Pappenheim, ihr Spitzenkandidat, war nur ein Jahr im Präsidium, bevor er abgewählt wurde. Auch in den Kommissionen waren sie häufig nicht vertreten. Einfluss auf die Kultuspolitik konnten die Orthodoxen erst ab 1924 nehmen, als sie eine Koalition mit den Liberalen und Nationalisten (!) eingingen,55 doch das war bereits nach der Erscheinungszeit der Jüdischen Korrespondenz. Erfolgreicher waren die Wiener in der Weltorganisation der „Agudas Jisroel“. Deren Weltkonferenz vom August 1920 wurde zwar in Pressburg (Bratislava), dem geistigen Zentrum der ungarischen Orthodoxie abgehalten, doch wurde die Arbeit der Wiener „Agudas Jisroel“ – nicht zuletzt ihrer galizischen Mitglieder und der Jugendgruppe – während und nach dem Krieg lobend gewürdigt. Außerdem wurde das Zentralbüro, das die Weltorganisation der „Agudas Jisroel“ nach außen vertreten sollte, von Zürich nach London verlegt, was ein Hinweis auf die Bedeutung war, die Palästina in der „Agudah“-Arbeit zugemessen wurde. Die oberste Leitung sollte ein Zentralrat mit Sitz in Wien innehaben. Daneben sollte ein Rabbinischer Rat Entscheidungen in religiösen Fragen fällen.56 Die Jüdische Korrespondenz wurde mit der in Bratislava erscheinenden Jüdischen Presse zusammengelegt. Wie der ersten Ausgabe vom 15. Oktober 1920 zu entnehmen war, sollte die Redaktion in Wien bestehen bleiben.57 Doch gleichzeitig verabschiedete sich Jonas Kreppel von seinen Lesern. Er legte die Redaktion wegen „anderweitiger Inanspruchnahme“ zurück. Kreppel begann 53 Generalversammlung der Adass Jisroel (Schiffschul), in: JK, 14. November 1919, S. 1–3; zu den Kultuswahlen: JK, 23. April 1920, S. 1; Kultusgemeinde Wahlen, in: JK, 20. Mai 1920, S. 1. 54 Der Erfolg der orthodoxen Liste; Das Ergebnis der Wahlen, beide in: JK, 2. Juli 1920, S. 1. 55 Freidenreich, Jewish Politics, S. 29–37. 56 Die Pressburger Konferenz (10.–13. Elul 5680) [24.–27. August], in: JK, 9. September 1920, S. 2. 57 Die Vereinigung der „Jüdischen Korrespondenz“ und der „Jüdischen Presse“, in: Jüdische Presse. Organ für die Interessen des orthodoxen Judentums, Wien und Bratislava, 15. Oktober 1920, S. 1.

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nach Jahren als Vertragsbediensteter eine wirkliche Beamtenkarriere und widmete sich daneben seinen Buchprojekten.58 Klaus Kreppel vermutet, dass Jonas Kreppels Rückzug aus der agudistischen Pressearbeit mit seinem vehementen Antizionismus zu tun gehabt haben könnte, den er in der Jüdischen Korrespondenz vertreten hatte. Denn die Mehrheit der galizischen Juden in Wien – auch der orthodoxen – sei dem Zionismus positiv gegenübergestanden, was zu einer Entfremdung von Kreppel geführt habe. Dieser wandte sich daher ganz der überwiegend ungarischen „SchiffschulGemeinde“ zu, die seine antizionistische Haltung teilte. Als sich Jonas Kreppel 1926 um den Posten des österreichischen Generalkonsuls in Jerusalem bewarb, reagierte die zionistische Presse darauf mit einer Schmutzkampagne, die seine Berufung verhinderte. Die Zionisten konnten jedoch auch nicht ihren eigenen Kandidaten, Egon Zweig, durchsetzen. Stattdessen wurde am 15. März 1927 der katholische Berufsdiplomat Walter Haas zum Konsul ernannt.59 Jonas Kreppel sah sich nicht als Politiker, sondern als Journalist. Als solcher wollte er der Orthodoxie eine Stimme geben. Mit der Jüdischen Korrespondenz war ihm dies in den Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren gelungen. Darüber hinaus leistete die Zeitschrift einen wichtigen Beitrag zur Organisation der „Agudas Jisroel“ als nationaler und internationaler Vertretung der strengen Orthodoxie.

58 An die geehrten Leser, in: ebd., S. 2. 59 Kreppel: Jonas Kreppel, S. 146 f., 156–168.

Kulturelle Übersetzung

Daniel Hoffmann

Anna Seghers’ Lektüre der Bibel als sittliches Korrektiv des faschistischen Zeitalters 1.

Anna Seghers’ Judentum

Christa Wolf hat in ihrem Aufsatz „Glauben an Irdisches“, der 1969 einer Auswahl aus Anna Seghers’ essayistischem Schaffen als Vorwort diente, Seghers’ geistige Gestalt, mit der sie ihr selbst, aber auch ihren Zeitgenossen erschien, folgendermaßen beschrieben: „Die Welt, in der Anna Seghers lebt, ist keine Jedermann-Welt und doch eine Welt für jedermann. Man kann sie eigenartig finden. Man kann in sie eintreten und ihre Gesetze anerkennen, man kann draußen bleiben. Man kann mit ihr in Berührung kommen, ohne berührt zu werden: ihre Welt wird bleiben.“1 Dass zu dieser dichterischen Formung ihrer Welt in einer besonderen Weise auch das Judentum beigetragen hatte, in dessen Glaubenswelt neoorthodoxer Ausrichtung Seghers im Jahr 1900 hineingeboren wurde und in der sie auch aufwuchs, könnte man nach der Lektüre ihres Werks und nach der Auseinandersetzung mit der Forschung zu diesem Werk nicht annehmen. Außer in der Dissertation Jude und Judentum im Werke Rembrandts und in einer Erzählung Post ins Gelobte Land spielt das Judentum in Seghers’ Schriften keine Rolle. In Transit, dem Roman, in dem Seghers ihre Flucht durch Frankreich vor den Nazis verarbeitete, erscheint zwar eine Vielzahl jüdischer Figuren, aber sie wirken wie Randgestalten, präzise beobachtet in ihrer verzweifelten Lage, aber so distanziert dargestellt, dass man, hätte man vergessen, dass die Autorin selbst Jüdin gewesen ist, oder hätte man dies gar nicht erst gewusst, ihr selbst das Versagen von Empathie zusprechen müsste. Die jüdischen Figuren werden so thematisiert, als hätte Seghers nur eine gewisse Chronistenpflicht erfüllen wollen. Dieser Eindruck täuscht jedoch. Anna Seghers hat selbst im Brief vom 26. Mai 1941 an F. C. Weiskopf von ihrer Methode der Distanzierung durch Verfremdung bei der Abfassung von Transit geschrieben, um mit der „teuflischen Situation“ dieser Zeit fertig werden zu können.2 Dass in diese Verfremdung für sie selbst auch der Blick auf die jüdischen Flüchtlinge gehörte, versteht 1 Wolf, Christa: Glauben an Irdisches, in: Dies.: Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959–1985, Darmstadt und Neuwied 1987, S. 293–322, hier S. 321 f. 2 Siehe Seghers, Anna/Schlenstedt, Silvia (Hg.): Transit. Werkausgabe, Berlin 2001, S. 318.

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sich von selbst, wenn man die Auswirkung auf die grundlegende Konzeption des Romans betrachtet und nicht nur annimmt, Anna Seghers hätte diese Verfremdung schon vorgenommen, indem sie eine männliche Figur, einen deutschen Handwerker, als Erzähler ausgewählt hätte. Dass auf diese Weise vielen Zeitgenossen Anna Seghers’ und auch späteren Lesern die Verfolgung der europäischen Juden nur als ein Nebenschauplatz des mörderischen Nationalsozialismus erschien, dem sie genauso wenig Interesse entgegenbrachten, wie sie es bisher mit Blick auf die Lebensformen der ewig verfolgten und gesellschaftlich ausgegrenzten Juden getan hatten, haben erst heutige Leser des Romans wirklich als Manko erkennen können. Doch wird Seghers mit dieser Einstellung durchaus der Konzeption ihres Protagonisten und seinen ersten Rezipienten gerecht. Sie ist aber nicht auch schon als ihre eigene Einstellung anzusehen, sondern die der entworfenen Figur. Jedoch hat ebendiese lapidare, gar unsensibel scheinende Behandlung jüdischer Figuren sowie das fast völlige Fehlen der jüdischen Thematik in Anna Seghers’ Werk zu der Ansicht beigetragen, das Judentum hätte ihr nichts mehr bedeutet, es sei ein von ihr durch das Bekenntnis zum Kommunismus überwundenes Thema gewesen. Doch weil Anna Seghers’ Welt keine „Jedermann-Welt“ ist, wie Christa Wolf zu Recht bemerkt hat, wird sich in dieser Welt das Judentum, mit dem sie aufgewachsen ist, auf eine Art und Weise wiederfinden lassen, die nicht plakativ ist, auch nicht bekenntnishaft. Zumal ein Bekenntnis zum Judentum von einer in einer neoorthodoxen Lebenswelt aufgewachsenen Jüdin auch nicht zu erwarten wäre. Denn das Judentum verlangt gar kein Bekenntnis, wie z. B. das Christentum, das aus dem Bekenntnis zu Jesus Christus lebt, sondern eine Lebenshaltung der Gerechtigkeit, die sich in einem den von Gott gegebenen Gesetzen folgenden gerechten Handeln in der Welt ausdrückt. Von dieser Grundeinstellung ist Anna Seghers ihr Leben lang nicht abgewichen, auch wenn für sie das Judentum nicht mehr als Rahmen dieser Existenz gültig gewesen ist.3 Wenn sich Seghers in späteren Jahren über „ewig koschere Sachen“4 beklagt, die sie von einer Tante zugeschickt bekommt, so bedeutet das nicht, dass sie vom Judentum als Religion abgerückt wäre, sondern dass ihr zu diesem Zeitpunkt die religionsgesetzlichen Speisevorschriften nichts bedeutet haben. Zu einem früheren Zeitpunkt, in ihrer Jugend, hat die jüdische Soziosemiotik für ihr

3 Zum Unterschied von Judentum als Religion des Gewissens und Christentum als Religion des Bekenntnisses siehe Baeck, Leo: Wahrheit und Gerechtigkeit, in: Baeck, Leo/Friedlander, Albert H. (Hg.): Briefe, Reden, Aufsätze. Werke, Bd. 6, Gütersloh 2003, S. 87–91, hier S. 88. Der Aufsatz stammt aus dem Jahr 1911. 4 Aus einem Brief vom 9.7.1947, zitiert in: Zehl Romero, Christiane: Anna Seghers. Eine Biographie. 1900–1947, Berlin 2000, S. 33.

Anna Seghers’ Lektüre der Bibel

Alltagsleben durchaus noch eine selbstverständliche Bedeutung gehabt. ZehlRomero schreibt dazu: „Ihr späterer Mann betrachtete […] in der Zeit, in der er um sie warb, das Jüdische als selbstverständlichen Teil ihrer Identität. […] Vor sich selbst verleugnete sie ihre jüdischen Wurzeln nicht, nachdem sie sich von der jüdischen Religion endgültig abgewandt hatte.“5 Für diese Beurteilung gibt es in dem 2003 erschienenen Tagebuch Anna Seghers’ aus den Jahren 1924/25 zahlreiche Belege, die jedoch im Anhang der Buchausgabe bedauerlicherweise sämtlich nicht entschlüsselt worden sind. Das Tagebuch beginnt mit der Eintragung vom 15. November 1924, einem Samstag, also einem Schabbat. Es ist eine ganz persönliche Notiz. In der Handschrift des späteren Ehemannes Rodi ist jedoch ein Vers aus Jesaja hinzugefügt, Kp. 40, 31: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“6 Warum aber fügt er diese Worte gerade jetzt, am 15. November, in das Tagebuch ein? Zu der persönlichen Notiz haben sie keinen Bezug. Eine Erklärung wäre: Dieser Samstag war Schabbat Wajeira, am Samstag zuvor jedoch, am Schabbat Lech Lecha, gehörte dieser Vers in den als Haftara vorgetragenen Prophetenabschnitt. Und im Jahr darauf heißt es: „26.5.25: Heute ist ein ganz schlechter Tag. Freudlos und einsam und Gott weit weg. Wie wird’s die Feiertage gehn?“ Mit den Feiertagen ist keineswegs Pfingsten gemeint, sondern das am Abend beginnende Schawuotfest.7 In den Jahrzehnten, in denen die bipolare Welt des Ost-West-Konfliktes das politische Denken ideologisch vereinfachte, hielt man sich auch in den Literaturwissenschaften an einfache Interpretationsmodelle und zitierte für Seghers’ Verhältnis zum Judentum vorwiegend zwei Äußerungen von ihr, die als Absage an die überlieferte Welt des jüdischen Glaubens verstanden werden könnten und es damals auch wurden. In einem Brief an den Germanisten Klaus Müller-Salget vom 17. Januar 1974 schreibt sie: „Meine Anspielungen oder sogar festen Erinnerungen an biblische oder antike oder Märchenstoffe sind nicht immer bewußt gestaltet. Sie befinden sich vermutlich in Ihrem und in meinem Denken und wir wenden sie an.“8 Aber diese Bemerkung, die dazu verleiten könnte, diese Anspielungen nicht allzu ernst oder allzu wichtig zu nehmen, ist eine falsche Fährte. Anna Seghers war die Bibel so wichtig,

5 Ebd., S. 102. 6 Seghers, Anna/Zehl Romero, Christiane (Hg.): Und ich brauch doch so schrecklich Freude. Tagebuch 1924/1925, Berlin 2003, S. 7. 7 Ebd., S. 32. Die Datums- und Wochentagsangaben passen jedoch nicht zusammen. Donnerstag war bereits der 28. Mai. Das war nach jüdischem Kalender der 5. Siwan, an dessen Abend das Schawuotfest begann. Pfingsten war 1925 am 31. Mai. 8 Zitiert in: Seghers: Transit, S. 291.

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dass sie sie in ihrer Wohnung in Adlershof im Bücherregal in Griffweite ihres Arbeitsplatzes gestellt hatte, zusammen mit dem Siddur.9 In einem Aufsatz über Dostojewskij und Tolstoj aus dem Jahre 1944 schreibt Seghers: „Viele Menschen haben sich von den religiösen Bindungen gelöst, nicht weil sie ihre ethischen Forderungen für ungültig erklärten, sondern weil sie sich an neue, der Epoche erwachsene, erweiterte ethische Forderungen gebunden fühlen.“10 Diese Erkenntnis wird häufig als Seghers’ eigene Überzeugung angesehen, dass traditionelle religiöse Ethik nicht mehr in der Lage sei, die ethischen Forderungen der Gegenwart angemessen zu formulieren. Aber war das tatsächlich ihre eigene Position?11 In ihrem Roman Transit lässt sie den Protagonisten sagen – auch das oft als Meinung der Autorin zitiert: „Darauf schlug ich endlich die Lehren in den Wind, die mir meine Eltern gegeben hatten und die mir immer noch im Blut steckten: daß der Mensch standhalten müsse, seine Sache immer erst aufgeben, wenn es unumgänglich geworden sei.“12 Doch das, was – metaphorisch verstanden – im Blut steckt, lässt sich eigentlich gar nicht so einfach aus ihm herausbekommen. Deshalb vermag man der Bedeutung, die Anna Seghers auch nach ihren Jugendjahren ihrem jüdischen Glauben zugemessen hat, nachzuspüren, indem man auf ihre Deutung von wiederholt verwendeten Bibelzitaten in ihrem Werk achtet. Direkte Bibelzitate sowie Anspielungen auf biblische Szenen gehören nämlich durchaus zum Grundbestand ihres erzählerischen und essayistischen Werks. Resümierend kann man festhalten, dass Seghers aus der Bibel heraus bzw. mit ihrer Hilfe ethische Forderungen der faschistischen Epoche bedacht hat bzw. für das faschistische Zeitalter prägnante Vorkommnisse aus der Konfrontation mit der Bibel heraus gedeutet hat. Verhaltensweisen und Einstellungen gegenüber sittlichen Herausforderungen bilden ja den Kernbestand einer jüdischen Identität. Seghers vermag für die sittlichen Herausforderungen, die an die Menschen durch die NS-Zeit gestellt werden, keine besseren Vorbilder zu finden als die, die in der Bibel enthalten sind, in der sich das jüdische Volk in strikter Abwehr einer Tyrannei zu seiner ihm bestimmten Identität hin ausformt. 9 Bei dem Gebetbuch handelt es sich um das Israelitische Gebetbuch (Tefillat Jisrael), hebräischdeutsch, Kauffmann, Frankfurt am Main 1885. 10 Seghers, Anna: Fürst Andrej und Raskolnikow, in: Dies.: Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Erlebnis und Gestaltung, bearbeitet von Sigrid Bock, Berlin 1971, S. 148–151, hier S. 151. 11 Erika Haas versteht diese Aussage als Absage an die jüdische Religion. Siehe Haas, Erika: Anna Seghers und das Judentum. Beschreibung eines schwierigen Verhältnisses, in: Argonautenschiff, Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft, 2001, S. 79–90, hier S. 87. Zur Diskussion siehe Bischoff, Simone: „Gottes Reich hat begonnen“. Der Einfluß chiliastischer Hoffnung auf die DDR-Romane von Anna Seghers, Frankfurt am Main 2009, S. 53. 12 Seghers: Transit. Werkausgabe, S. 75.

Anna Seghers’ Lektüre der Bibel

Es sind drei biblische Motive, die in Seghers’ Werk häufiger Verwendung finden, ein Motiv aus dem Buch Exodus, eins aus dem 2. Buch Samuel und eins aus dem 2. Korintherbrief. Seghers setzt sie an Stellen ihres Werks ein, an denen es um grundlegende Fragen sittlichen Verhaltens in einer vom Faschismus überwältigten Welt geht, um Fragen, denen sie nicht nur mithilfe der traditionellen Religionen das nötige Gewicht zu verschaffen vermag, sondern die sie auch durch eine säkulare Ethik nicht adäquat formulieren könnte. Es geht zum einen um die Möglichkeit des Wunders in einer säkularen Welt, zum anderen um die Frage nach der Legitimität von Macht sowie drittens um die Haltung des verfolgten Menschen. 2.

Wasser aus dem Felsen

Im 17. Kapitel des Buches Exodus wird von dem durstigen, mit Gott hadernden und ihn so versuchenden Volk der Israeliten berichtet, denen Mosche auf Geheiß Gottes Wasser aus dem Felsen schlug. Es ist derselbe Stab, mit dem Mosche das Rote Meer spaltete. Aber es ist eher dieser Schlag gegen den Stein, der auch im 20. Jahrhundert noch seine Wirkung auf Bibelleser gehabt hat, als das Ereignis der Teilung der Wasser. An einer bedeutsamen Stelle im Transit-Roman verwendet Seghers dieses biblische Wunder, um eine unerwartete Verhaltensweise, die an ein Wunder grenzt, in der Zeit des Faschismus zu verdeutlichen. Der Protagonist des Romans kommt beim Anblick eines Matrosen, der seinem Freund Heinz, einem aufrechten Kämpfer gegen die Nazis, zur Flucht verholfen hat, aufgrund seiner Physiognomie ins Nachdenken. „Der Blick aus seinem Mausegesicht verblüffte mich. Wenn es Heinz wahrhaftig gelungen war, diesen Burschen zu einer uneigennützigen Handlung zu bewegen, dann war das Wasser, das Moses aus einem Felsen geschlagen hatte, die pure Spielerei.“13 Seghers geht es darum, dass ein Mensch, dem man aufgrund seiner Verbrechervisage eigentlich nur Schlechtes zutraut, unerwartet eine uneigennützige Handlung begangen hat. Von einer solchen Konstellation ist aber in Ex. 17,5 f. nicht unmittelbar die Rede. An anderer Stelle habe ich ausführlicher dargelegt, dass Seghers hier höchstwahrscheinlich auf Raschis Bibelkommentar zurückgegriffen hat. Möglich auch, dass ihr dessen Interpretation noch aus einer Drascha, die sie in ihrer Jugendzeit gehört hatte, in Erinnerung war.14 Das Mausegesicht ist von etwas Bösem zu etwas Guten übergegangen. Bei Raschi ist es Mosches 13 Ebd., S. 185. 14 Siehe das Kapitel „Anna Seghers’ Erinnerung an Raschi“ in meinem Buch: Heimat, bist du wieder mein. Autobiografische Erinnerungen an das deutsche Judentum, Würzburg 2015, S. 165–172.

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Stab, der Gutes bewirkt, nachdem er zuvor am Nil den Ägyptern Unheil gebracht hat. In der Bibel heißt es nur: „[N]imm deinen Stab in die Hand, mit dem du den Nil schlugst.“ Raschi erklärt: „Jetzt sollen sie sehen, dass er auch zum Guten bereitet ist.“15 Zum Abschluss dieser biblischen Szene heißt es, dass die Israeliten an diesem Ort Gott versuchten und sagten: „Ist der Herr unter uns oder nicht.“ Er ist es. Aus der Perspektive einer gottlos gewordenen Welt muss diese Szene der Bibel aber wie pure Spielerei aussehen. In einer Zeit, in der Gott auf die Menschen einwirkt, ist es leicht, zu einer solchen Verwandlung des Schlechten in Gutes zu gelangen. Jetzt aber, ohne Gott, ist diese Verwandlung kaum glaubhaft, bleibt der schlechte Mensch ein schlechter Mensch, sodass es wie ein Wunder erscheint, wenn die Verwandlung doch einmal gelingt. In Die Toten bleiben jung verwendet Seghers das biblische Motiv, um der Anwendung eines politischen Instruments der unterdrückten Klasse, des Generalstreiks, den passenden Ausdruck zu verleihen. Der Generalstreik, auch heute noch in Deutschland quasi illegal, da vom Streikrecht juristisch nicht gedeckt, hat in der deutschen Geschichte selten stattgefunden. In Die Toten bleiben jung ist es der Kapp-Putsch 1920, der durch einen Generalstreik schließlich zum Scheitern gebracht wurde. Bei Seghers dreht ein junger Bursche den Wasserhahn an einem Fabriktor an und demonstriert lächelnd, dass kein Wasser mehr fließt. Damit wird das Wunder des Generalstreiks angezeigt. „Das Wunder klappte“, heißt es bei Seghers.16 Dass dieser Generalstreik klappt, ist so unerwartet, dass Seghers ihn mit einer der seltenen Wunderhandlungen in der Thora, die – anders als das Neue Testament – sehr vorsichtig mit Zauberei und Wundern umgeht, vergleicht. Wenn man bedenkt, dass Fabrikarbeitern seinerzeit das Tragen von Armbanduhren auf dem Fabrikgelände und damit während der Arbeitszeit verboten war, sodass letztlich der Besitzer der Fabrik seinen Arbeitern die Uhrzeit vorgab bzw. den Lauf der Zeit bestimmte, ist der Vergleich mit dem biblischen Wunder an dieser Stelle durchaus berechtigt.17 An einer anderen Verwendung des Motivs zeigt sich, dass Anna Seghers mit der Bibel innig vertraut war, da sie sich sogar eine spielerische, aber nicht unernste Verwendung von Bibelmotiven erlaubt hat. In einem Artikel zum 50. Geburtstag von Gisela Kisch, Ehefrau von Egon Erwin Kisch, erwähnt sie besonders den Kaffee, den Gisl Kisch stets den zahlreichen Besuchern servierte. Dieses private Detail erhält aber vor dem Hintergrund, dass sich sämtliche

15 Raschis Pentateuchkommentar, übers. von Rabbiner Dr. Selig Bamberger, 4. Auflage, Basel 1994, S. 213. 16 Seghers, Anna: Die Toten bleiben jung, Berlin und Weimar 1991, S. 83. 17 Siehe dazu Brunner, Karl: Zeit als soziale Kategorie im vorindustriellen Zeitalter, in: Goltschnigg, Dietmar (Hg.): Phänomen Zeit. Dimensionen und Strukturen in Kultur und Wissenschaft, Tübingen 2011, S. 135–139, hier S. 138.

Anna Seghers’ Lektüre der Bibel

Besucher und auch die Gastgeber selbst auf einem Exodus vor den Nazis befanden, eine andere Gewichtung. In ihrem bedrängten Schicksal wurde das gemeinsame Kaffeetrinken zu einem großen Labsal, dem vergleichbar, das die Israeliten durch das aus dem Felsen geschlagene Wasser empfanden. „Aber überall haben sich die Menschen um Gisls Kaffee gedrängt, wie einstmals die Juden um das Wasser, das aus dem Felsen geschlagen wurde.“18 Gisls Kaffee ist wie das zum Überleben wichtige Wasser. Denn es stiftet zugleich mit dem Überleben eine Gemeinschaft, die im Hadern mit dem Schicksal, wie auch schon bei den Israeliten, gefährdet gewesen wäre. In dieser spielerischen Verwendung eines biblischen Motivs weiß sich Seghers übrigens mit Paul Claudel einig, dessen Eigenart, Religiöses mit leichter Hand auch einmal „quer“ zu lesen, sie in diesem Artikel am Beispiel von Claudels Amüsement über den heiligen Martin, der mit einer Mantelhälfte zu seiner Legion zurückgekehrt war, ausdrücklich erwähnt.19 3.

Die Hand am Heiligtum

Die Frage nach der Legitimierung von Macht im 20. Jahrhundert illustriert Seghers wiederholt durch den Verweis auf das 2. Buch Samuel 6,6. Als König David im Festzug die Bundeslade nach Jerusalem bringen will, greift einer der Israeliten an den von Ochsen gezogenen Wagen, weil dieser umzustürzen droht. Für diese scheinbare hilfreiche Tat wurde er von Gott mit dem Tod bestraft. Anna Seghers hat diese biblische Szene als Beispiel für die Anmaßung eines Amtes verstanden. Sie bezieht sich auf sie jedoch in durchaus unterschiedlichen, ja entgegengesetzten Kontexten. In ihrem Roman Der Kopflohn von 1932 ist diese Amtsanmaßung letztlich auf den die Macht anstrebenden Hitler gemünzt. Der Pfarrer eines Dorfes im Rheinhessischen hält am Sonntag seine Predigt vor den Bauern. Heute morgen hatte Braumüller in der Predigt von dem Ochsenwagen erzählt, auf dem die Juden ihre Bundeslade mitschleppten – man konnte zur Erntezeit schwer ohne den alten Bund auskommen. Der Wagen war auf den Stoppelfeldern ins Holpern gekommen, hatte Braumüller den erstaunten Bauern erzählt, und die Bundeslade war gerutscht, und ein Mann hatte sie festgehalten. Der Himmel aber hatte ihm diese Vorsicht schlecht gelohnt, er hatte ihn auf der Stelle mit dem Blitz erschlagen.

18 Seghers, Anna: Gisl, in: Dies.: Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Ergänzungsband, bearbeitet von Sigrid Bock, Berlin 1979, S. 31–33, hier S. 32. 19 Siehe ebd.

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‚Diesen Mann nennt die Heilige Schrift als Beispiel für einen, der sich ein Amt anmaßen wollte.‘20

Von Amtsanmaßung ist in der Bibel aber nicht direkt die Rede. Anna Seghers’ Deutung dieser Stelle ist sicherlich politisch gemeint. Sie bezieht sich auf Hitler, der sich anmaßte, Reichskanzler zu werden, wenn sie im Nachsatz des eben zitierten Satzes eine Figur sagen lässt: „Daß das auch wieder ein Katholischer sein muß.“21 Aber wie kommt Anna Seghers zu dieser Deutung? Ist sie ihre eigene? Der christlichen Auslegungstradition wird sie sie wohl kaum entnommen haben. Aber sie kannte sie mit Sicherheit aus der jüdischen Tradition, in der sowohl das fremde Feuer der beiden Söhne Aarons (Lev. 10,1 f.) als auch Korachs Anspruch (Num. 16), Gott ebenso nahe zu sein wie Mosche, zusammen mit dieser Szene des Samuelbuches als Beispiel für Amtsanmaßung verstanden wird. Man muss die entsprechende Bibelstelle noch einmal genau anschauen, um zu erkennen, dass Seghers hier nicht selbstständig auslegt, sondern einer Auslegungstradition folgt. Bei 2 Samuel 6,6 ist von einer anmaßenden Tätigkeit nicht die Rede, sondern es scheint eher so zu sein, dass der Mann ein Unglück verhindern wollte. Doch seine Tat entsprach nicht Gottes Intention. Er war nicht befugt, auf diese Weise an einem heiligen Gut zu handeln. Seghers überträgt das auf die politische Situation in Deutschland. Hitler war nicht nur nicht der richtige Mann für den Posten des Reichskanzlers, er besaß auch nicht eine höhere Legitimation für dieses Amt. Um diese höhere, göttliche Legitimation geht es in der Auslegung der Bibelstelle. Interessanter ist jedoch Seghers’ Verwendung in Die Toten bleiben jung. Hier predigt der Pfarrer zum Mord an Walther Rathenau und erzählt die Geschichte aus dem Buch Samuel als Beispiel für eine Amtsanmaßung. Wo aber liegt hier das vergleichende Moment? Der Israelit, der die Lade berührte, befand sich im Festzug unter seinesgleichen, Rathenau aber wird hier in der Predigt durch den Vergleich mit der biblischen Szene als Jude bloßgestellt, der sich ein Amt angemaßt hat, das ihm nicht zustand, weil er sich eben nicht unter seinesgleichen befand. Funktioniert der Vergleich dadurch überhaupt noch? In der Predigt heißt es jedoch, dass das „auserwählte Volk […] ein Volk von Ackerbauern [war], das die Ochsen zu Zugtieren benutzte, genau wie ihr, meine Söhne und Töchter.“22 Durch diesen Verweis schafft die Predigt einen

20 Seghers, Anna: Der Kopflohn, Darmstadt und Neuwied 1976, S. 75. 21 Ebd., S. 76. Im November 1932 wurde jedoch Kurt von Schleicher Reichskanzler, ein preußischer Offizier. Deshalb könnte hier schon ein Vorblick auf den 30. Januar 1933 vorliegen. 22 Seghers: Die Toten, S. 109.

Anna Seghers’ Lektüre der Bibel

Anknüpfungspunkt für die Zuhörer und gibt diesen eine Möglichkeit, die fremde Geschichte, die Geschichte aus dem Alten Testament der Heiligen Schriften als ihre eigene Geschichte zu verstehen. Denn Seghers lässt den Pfarrer stets von dem „auserwählten Volk“ sprechen, als das sich die Bauern, seine Zuhörer, verstehen dürfen, abgesehen einmal davon, dass das Christentum durch den Anspruch, der neue Bund zu sein, die Auserwähltheit auf sich hat übergehen lassen. Diesem auserwählten Volk steht der Jude gegenüber, der sich also nicht mehr unter seinesgleichen befindet, sondern sich, weil er Jude ist, aus der Reihe scherend ein Amt glaubt anmaßen zu dürfen. Durch diese Verschränkung von jüdischer Welt, Christentum und aktueller politischer Geschichte macht Seghers die Perfidie dieser Predigt deutlich, zu der alle Zuhörer, Bauern so wie die Honoratioren des Ortes, beifällig lächeln. 4.

„Dreimal hab ich Schiffbruch erlitten“

Das dritte Bibelzitat, das Zitat aus dem 2. Korintherbrief des Paulus, verwendet Seghers in dem Roman Transit, um das Lebensgefühl des verfolgten Menschen im 20. Jahrhundert zu verdeutlichen. Zudem ist mit ihm ein Hinweis auf die Art und Weise verbunden, wie Seghers dieses Lebensgefühl für sich selbst zu verarbeiten versucht hat, mitten im Prozess der Flucht. Hier liegt eine Erläuterung dafür, welcher Art die Verfremdung ihrer persönlichen Situation in dem Roman Transit gewesen ist, mit der sie sich von ihr zu distanzieren versuchte. Seghers zitiert den sogenannten Peristasenkatalog aus dem 11. Kapitel des 2. Korintherbriefs. „Ich bin dreimal gestäupt, einmal gesteinigt, dreimal hab ich Schiffbruch erlitten, Tag und Nacht zugebracht in der Tiefe des Meeres, ich bin in Gefahr gewesen durch Flüsse, Gefahr durch Mörder, Gefahr unter Juden, Gefahr unter Heiden, Gefahr in den Städten, Gefahr in der Wüste, Gefahr auf dem Meere, Gefahr unter falschen Brüdern.“23 Dieses Kapitel wird zugleich als Narrenrede des Paulus bezeichnet, in der er gegen die Aufschneiderei der falschen Propheten selbst zur narrenhaften Angeberei als Hilfsmittel greift, um sich letztlich doch seiner Schwäche zu rühmen, einer Schwäche aber, die voller Kraft ist, wie es der von Seghers oft zitierte neutestamentliche Satz von der „Kraft der Schwachen“ aussagt.24 Paulus’ Rede ist eine „Polemik von unerhörter Schärfe, hinter der tiefe persönliche Verletzungen sichtbar werden.“25

23 Seghers: Transit, Zitat von 2. Korinther 11,25 f. auf S. 99 und 186. 24 Siehe zur Narrenrede des Paulus Roloff, Jürgen: Einführung in das Neue Testament, Stuttgart 1995, S. 121. 25 Ebd., S. 115.

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Diese Charakterisierung der Stilform der Polemik bei Paulus gilt uneingeschränkt auch für den Stil, in dem Anna Seghers ihren Roman Transit abgefasst hat. Er ist ruppig, ungehobelt, oft herausfordernd unmoralisch formuliert. Um die Sequenz „Auf den Pont d’Alma gehn und ihn [d. i. der Koffer mit dem Manuskript des Dichters Weidel – D. H.] in die Seine werfen? Da hätte ich lieber ein Kind ertränkt!“26 hat bisher noch jeder Interpret einen Bogen gemacht, weil die Aussage zu ungeheuerlich ist. Als Ausdruck einer Narrenrede, einer Polemik aus tiefster Verletzung, ist sie nachvollziehbar. Dass Seghers’ „Roman vom Paradoxon“27 lebt, lässt sich von der Perspektive der Narrenrede aus erst umfassend nachvollziehen. Der Protagonist von Transit, ein aus Deutschland geflohener Monteur, kann sein Heil nur in dieser Kraft der Schwachen suchen, in einem narrenhaften Verhalten, das er beweist, indem er gegen die Flucht vor den Nazis, den falschen Propheten der Neuzeit, seinen unbedingten Wunsch setzt, im Transitland Frankreich sesshaft zu werden. 5.

Weitere Bibelbezüge

Zu dem Erzählzyklus, dem Anna Seghers den Obertitel Kraft der Schwachen gegeben hat, gehört die Erzählung „Der Führer“. Sie handelt von einer Gruppe von Wissenschaftlern, die in einem eroberten Land, es handelt sich um Äthiopien, die weitere Ausbeutung von Bodenschätzen vorbereiten soll. Der einheimische Junge, der sie zu ihnen führen soll, führt sie letztlich aber in die Irre. Indem er dies tut, zeigt er den Wissenschaftlern auf, dass sie eigentlich selbst Verirrte sind. Von dem unterworfenen Volk der Äthiopier heißt es bei Seghers, dass es durch die Eroberung den Sinn seiner Existenz verloren habe. „Wenn es keine Zukunft mehr gibt, ist das Vergangene umsonst gewesen.“28 Der Junge behauptet immer wieder, es sei der richtige Weg, den sie gingen, obwohl die Wissenschaftler, die am Ende des Weges bisher unentdecktes Gold zu finden hoffen, merken, dass sie in die Irre gehen. Als sie an einem Punkt 26 Seghers: Transit, S. 28. Dabei ist das Motiv des Kindesmordes uralt. Es begegnet z. B. in der Bibel (Pharaos Befehl, die neugeborenen Kinder zu töten) und in Goethes Faust (Margarete: „Mein Kind hab’ ich ertränkt“; V 4508). Im 20. Jahrhundert ist der die Treppen herabstürzende Kinderwagen in Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin ein Schreckensbild des Anschlags auf das Leben des Kindes. 27 Thielking, Sigrid: Warten – Erzählen – Überleben. Vom Exil aller Zeiten in Anna Seghers’ Roman ‚Transit‘, in: Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna-Seghers-Gesellschaft, 1995, S. 127–138, hier S. 128. 28 Seghers, Anna: Der Führer, in: Dies.: Erzählungen 1963–1977, Berlin und Weimar 1981, S. 32–49, hier S. 32.

Anna Seghers’ Lektüre der Bibel

angekommen sind, dessen Topographie sinnlos ist, eine zerklüftete Steinlandschaft ohne Orientierungspunkte, erklärt der Junge ihnen, dass sie am Ziel seien. Doch an diesem Ziel ist nichts. „Nichts. Es ist aus“, sagt der Junge.29 Was dieses Nichts ist, verdeutlicht Anna Seghers durch den letzten Satz der Erzählung. „Es ward Morgen. Der letzte Tag.“30 Weil die Quintessenz dieser Erzählung in Anlehnung an die biblische Schöpfungsgeschichte formuliert ist, ist es sinnvoll, sie auch mit Bezug auf sie zu interpretieren. Der letzte Tag der Schöpfungsgeschichte ist der Schabbat, der Tag der Vollendung der Schöpfung und der Tag der Ruhe bzw. der Tag der Vollendung durch die Ruhe. Die Menschen, die das Zeitalter des Faschismus prägen, leben aber in einer Zeit, in der ihnen der letzte Tag keine Vollendung verspricht, sondern das Nichts, damit aber die Entleerung alles Wirklichen, des Vergangenen und Zukünftigen, von Sinn. Seghers setzt damit einen Kontrapunkt zum Schöpfungsbericht, um die fundamentale Zerstörungskraft des Faschismus aufzuzeigen. In ihrer Erzählung „Das Ende“ von 1945 erhängt sich der ehemalige KZWärter Zillich nach einer langen verzweifelten Flucht an einem Fensterhaken. Volpel, der Mann, der als KZ-Häftling unter Zillich gelitten hat und nun für seine Festnahme sorgen sollte, überbringt Zillichs minderjährigem Sohn die Nachricht. Der Junge, der von seinem Vater gequält worden ist, freut sich über diese Nachricht. „Von allen Schrecken der letzten Jahre erschien ihm [d. i. Volpel – D. H.] der Freudenausbruch des Kindes der eisigste und der schneidendste. Er wollte ein Wort sagen; er schluckte. Er fuhr mit der Hand durch das zottige, kurze Haar. Der Junge hatte nichts anderes als Schande und Ekel von seinem Vater erfahren. Der Vater hatte ihn in die Welt gesetzt und dann im Stich gelassen. Jetzt mußte ein anderer, ein fremder Vater, jetzt mußte er selbst für ihn sorgen.“31 „In die Welt gesetzt und im Stich gelassen“ – was heißt das? Im Stich lassen, das ist eine häufig gebrauchte Redewendung in Anna Seghers’ Werk, vor allem in ihrem Roman Transit. Diese Redewendung ist häufig als der Kernpunkt der von Seghers auf die Erfordernisse des Zeitgeistes hin formulierten Ethik angesehen worden.32 Abgesehen davon, dass dieser Begriff eher zum Vokabular der Biologie und der Rechtswissenschaft gehört, also zu Bereichen, die nur indirekt mit Ethik etwas zu tun haben, vielmehr Verhaltensweisen beschreiben, 29 Ebd., S. 47. 30 Ebd., S. 49. 31 Seghers, Anna: Das Ende, in: Dies.: Erzählungen 1945–1951, Berlin und Weimar 1981, S. 5–66, hier S. 66. 32 Siehe dazu im Überblick: Strickhausen, Waltraud/Hoffmann, Daniel (Hg.): Exil. Berthold Viertel, Ernst Waldinger, Anna Seghers, Albert Drach, Hans Sahl, in: Handbuch zur deutschjüdischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Paderborn u. a. 2002, S. 363–397, hier S. 383.

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hat dieser Begriff durchaus seine Wurzeln in einer religiösen, also traditionellen Ethik. „Im Stich lassen“ bedeutet nicht: verraten, jemanden einfach stehenlassen und seinem Schicksal überlassen. Es heißt vielmehr, und das wird gerade an dieser hier ausgewählten Stelle deutlich: seiner Verantwortung nicht gerecht werden. Der Sohn ist vom Vater gezeugt worden. Damit hat der Vater zugleich eine Verantwortung für das Kind auf sich genommen, der dieser Vater nicht gerecht geworden ist. Nach jüdischem Glauben besteht diese Verantwortung in der Übermittlung der Thora, dem Buch der Rechtlichkeit und des gerechten Lebens. Im 5. Buch Mose 11,19 heißt es: „[…] und lehrt sie [d. i. die Thora – D. H.] eure Kinder, dass du davon redest, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst.“ Nur mithilfe dieser Bibelstelle versteht man die letzten Sätze der Erzählung „Das Ende“. „Von allen Schrecken der letzten Jahre erschien ihm der Freudenausbruch des Kindes der eisigste und der schneidendste.“ Warum ist Volpel, der doch im KZ so viel hat erleiden müssen, so tief erschüttert von der Reaktion des Jungen? Weil er dessen tiefe seelische Verwahrlosung erkennt, die eine Folge des Verhaltens des Vaters ist, der ihn nicht zu einem gerechten Menschen erzogen hat. Aber es gibt noch Hoffnung für den Jungen. Deshalb fährt er ihm mit einer Geste des Wohlwollens oder der Liebe durchs Haar. 6.

Fluchtbewegungen

Die Beschreibung von Fluchtbewegungen von Menschen oder Menschengruppen gehört zu den thematischen Grundkonstanten von Anna Seghers’ Erzählwerk. Menschen sind auf der Flucht, weil sie den rücksichtslosen Zerstörern ihrer Heimatwelt entgehen wollen, oder sie sind selbst Verbrecher, die sich der Verantwortung für ihre Taten entziehen wollen. Die Bewegung der „guten“ Menschen auf der Flucht ist jedoch von einer zentripetalen Kraft beherrscht, die sie zu ihrer Heimatwelt zurückzieht. Seghers thematisiert dies besonders deutlich in der Erzählung „Die Heimkehr des verlorenen Volkes“, die als anspielungsreiche Erzählung auf das Schicksal des jüdischen Volkes gelesen wurde. Die Bewegung der „schlechten“ Menschen auf der Flucht endet dagegen im Niemandsland. Beispielhaft ist dafür die Erzählung „Steinzeit“, in der der Protagonist, ein ehemaliger Vietnamkämpfer, sich nach einer räuberischen Erpressung auf der Flucht vor der Gerichtsbarkeit befindet. Ruhelos zieht er in immer einsamere Landschaften Südamerikas. Er gehorcht einer zentrifugalen Kraft, die ihm keinen Ruhepunkt gönnt, sondern seine Flucht in einer toten Steinwüste auslaufen lässt. Der Wissenschaftler, der den Flüchtenden kennengelernt hatte, löscht am Ende sogar die ihn betreffenden Eintragungen aus seinem Notizbuch.

Anna Seghers’ Lektüre der Bibel

„Als könne jemand in diesem Heft ihn doch noch aufstöbern, löschte er jede Spur für jetzt und immer.“33 Der Wissenschaftler bekundet mit dieser Geste der Annihilation sein Einverständnis mit der Intention des Geflüchteten. Ihn aufzustöbern hieße nämlich, die zentrifugale Kraft seiner Flucht zu stoppen und zurückzuleiten. Das aber verhindert er, indem er alle Spuren der Flucht beseitigt. Damit billigt er jedoch nicht die Flucht des Protagonisten, mit der dieser sich seiner Strafe entzieht. Vielmehr führt er ihn mit der Auslöschung einer Strafe zu, die ursprünglicher ist als die der menschlichen Gerichtsbarkeit. „Er wollte allein sein, dachte Hilsom, soll er.“34 Der flüchtende Kain aus dem Buch Genesis befürchtet, weil er allein ist, auch vogelfrei zu sein. Der Verbrecher hat sich durch sein Verbrechen aus der menschlichen Gemeinschaft abgesondert und ist allein. Dieses Alleinseinlassen, das Hilsom, der Wissenschaftler, dem Protagonisten gewährt, ist also Strafe genug. Während Kain jedoch durch das ihm von Gott aufgedrückte Kainszeichen von seinem Ausgeliefertsein befreit wurde und zum Begründer eines großen Volkes werden konnte, wird den Sündern/Verbrechern im Buch Hiob ein anderes Schicksal zuteil, an das sich Seghers bei ihrer Konzeption der flüchtenden Verbrecher angelehnt haben könnte. Hiob 38,13 erwähnt die „Abschüttelung der Sünde von den Ecken der Erde“.35 Auch in der Erzählung „Das Ende“ stirbt der Verbrecher Zillich in verlassenem Gelände. 7.

Resümee: Das „ganze Volk“

Gegen diese beiden gegensätzlichen Fluchtbewegungen hat Anna Seghers jedoch als Alternative ein Modell des Beharrens thematisiert, das der bindenden Kraft der Heimatwelt gerecht zu werden vermag. Dieses Modell verteidigt sie vehement, indem sie es mit einem der stärksten Motive des Eingreifens in das menschliche Leben konfrontiert, die das biblische Schrifttum parat hat, mit den Reitern der Apokalypse. Um das Gewicht, das das alltägliche Leben für den Menschen selbst in Zeiten des Faschismus besitzt, herauszustellen, verstärkt sie ihr Plädoyer für dieses Leben durch das Motiv der apokalyptischen Reiter. Mir scheint, dass diese Konfrontation zugleich als Indiz gelten kann, dass Seghers bei ihrem Rückgriff auf die Bibel durchaus Unterschiede zwischen Zitaten aus der hebräischen Bibel und denen aus dem Neuen Testament macht. Während Zitate aus der hebräischen Bibel, dem Tanach, als Verstärkung ihrer Aussage dienen, weil sie das Handeln der betreffenden Personen hervorheben, 33 Seghers, Anna: Steinzeit, in: Dies.: Erzählungen 1963–1977, S. 531–582, hier S. 582. 34 Ebd. 35 Siehe Ahren, Yizhak: Gelebtes Judentum, Köln 2006, S. 84.

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dienen die Bezüge zum Neuen Testament dazu, eine Wirkungslosigkeit der einst mächtigen religiösen Formation für das Leben der europäischen Menschheit herauszustellen. Das gilt für die apokalyptischen Reiter an dieser Stelle, das gilt zudem für das „Vaterunser“, das einzige Gebet, das Seghers in ihrem Werk als Motiv verwendet. In Die Toten bleiben jung zitiert sie es, um die Ausweglosigkeit der betenden Figur, Elisabeth Lieven mit ihrem Baby auf der Flucht vor der Roten Armee, herauszustreichen. „Ja, wenn es dich gäbe, unser Vater im Himmel, dann würde dein Name geheiligt sein.“36 Weil es diesen Gott des „Vaterunser“ nicht gibt, werden Elisabeth und ihr Kind rettungslos dem Tod verfallen. In einer der letzten Szenen des Siebten Kreuzes schildert Seghers das sonntägliche Apfelkuchenessen der Familie Marnet. Selbst die apokalyptischen Reiter – heißt es da – könnten dieser Feier der Familie – die Seghers als ein „ganzes Volk“37 tituliert – nichts anhaben. Bauern und SA-Leute sitzen einträchtig zusammen und lassen es sich schmecken. Dass solche Szenen im Dritten Reich ebenso an der Tagesordnung waren wie auf der anderen Seite Folter und KZs, hat Anna Seghers natürlich gewusst. Aber sie hat auch gewusst, dass es inmitten des Terrors und trotz der Allmacht des Terrors ein von ihm unberührtes, unbeeindrucktes Alltagsleben des Volkes gibt, das weiterhin so lebt, wie es immer gelebt hat. Christa Wolf nennt das in einem Aufsatz über das Siebte Kreuz „die Faszination des Volksalltags“.38 Auch Markus Wolf hat in seinem Buch Die Troika auf diese Eigentümlichkeit des Nebeneinanders von absolutem Terror und Alltagsleben im Moskau der Schauprozesse und Säuberungen während der 1930er-Jahre hingewiesen.39 Vielleicht ist es das Wissen um dieses Janusgesicht des Alltagslebens gewesen, das sowohl Seghers als auch Wolf die Rückkehr in ihre Heimat ermöglicht hat. Die Hoffnung, dass trotz der Brutalität des faschistischen Zeitalters ein Zug zum Guten in den Menschen liegt, ist bei Anna Seghers sicherlich auch durch die jüdischen Denkmuster, die – wie ihr Werk zeigt – noch immer in ihr wirksam waren, befeuert worden.

36 Seghers: Die Toten, S. 623. In ihrer Erzählung „Das Vaterunser“ von 1933, in der Seghers eine Szene aus der Anfangszeit des Massenterrors der Nazis gegen ihre politischen Gegner schildert, dient den Nazischergen das „Vaterunser“, das die gefangen genommenen Antifaschisten nachzusprechen haben, als Strafmaßnahme, als Zwangsinstrument, um ihren Willen zu brechen. Seghers, Anna: Das Vaterunser, in: Dies.: Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Für den Frieden in der Welt, bearbeitet von Sigrid Bock, Berlin 1971, S. 179–181. 37 Seghers, Anna: Das siebte Kreuz, Berlin 2004, S. 388. 38 Wolf, Christa: Das siebte Kreuz, in: Dies.: Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959–1985, Darmstadt und Neuwied 1987, S. 263–278, hier S. 271. 39 Wolf, Markus: Die Troika, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 22.

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Neu entdeckt Das Schtetl in deutschen Übersetzungen von Werken von Scholem Asch und David Bergelson

Die historischen Spannungen zwischen deutschen und osteuropäischen Juden sind in der Wissenschaft wohlbekannt. Inzwischen gibt es nicht wenige wissenschaftliche Studien, die sich mit dem Thema befassen, und unter der aschkenasisch-jüdischen Bevölkerung in Europa, den USA und Israel gilt die Existenz dieser Spannungen als längst etablierte Tatsache.1 Ein Grund für diese Spannungen liegt in der Einstellung im deutschen Sprachraum zur jiddischen Sprache, was auch in der Vermittlung und Übersetzung moderner jiddischer Literatur für ein deutschsprachiges Publikum zum Ausdruck kommt. Frühe Versuche solcher Übersetzungen tendierten dazu, den Ausdruck „Schtetl“ allzu selbstverständlich mit dem Begriff „Ghetto“ zu beschreiben. Dieser blieb dominant, selbst wenn ein/e Übersetzer/in in einzelnen Fällen einen passenderen Ausdruck einführte. In einem Band mit übertragenen Erzählungen von Scholem Asch (1880–1957) gebrauchte Stefania Goldenring für „Schtetl“ den eher passenden Begriff „Städtchen“, der sich aber gegenüber dem Begriff „Ghetto“ im Bandtitel Bilder aus dem Ghetto (1907) nicht durchsetzen konnte.2 Dieses Phänomen ist in weit mehr als einer Veröffentlichung festzustellen. In einer Reihe von Besprechungen und Rezensionen für die vielgelesene Allgemeine Zeitung des Judentums (AZJ) ordnete der renommierte Literaturhistoriker und deren letzter Chefredakteur Ludwig Geiger die Werke von jiddischen Schriftstellern wie J. L. Perez, Scholem Alejchem3 oder Scholem Asch der in der AZJ 1 Die wichtigste Studie hierzu ist im Bereich der Kulturgeschichte nach wie vor Aschheim, Steven E.: Brothers and Strangers: The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, Madiscon, Wis. 1982; weitere Studien und eine kurze Zusammenfassung der Forschungslage bis 2015 findet sich bei Grossman, Jeffrey A.: The Yiddish-German Connection: New Directions, in: Poetics Today 36/1–2 (2015), S. 62–78. In der heutigen jüdischen Welt findet man Spannungen, die den früheren am ehesten ähneln, wohl in Israel zwischen den aschkenasischen Juden und den sephardischen und Misrachi-Juden. 2 Asch, Scholem: Bilder aus dem Ghetto, übers. v. Stefania Goldenring, Berlin 1907; das Wort „Städtchen“ findet sich z. B. auf S. 9, 44, 74, 75, 163, 199, 252. Gelegentlich steht es im Deutschen auch an Stellen, an denen im Jiddischen „Schtetl“ gar nicht vorkommt, so z. B.in der Erzählung „Oykh a mame“, S. 68, oder in „Auch eine Mutter“, S. 162. 3 Die Transkription von Namen bekannter Schriftsteller oder bekannter Termini wie „Schtetl“ folgt der im Deutschen etablierten Schreibweise. Die Transkription von sonstigen jiddischen

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laut Hans Otto Horch4 sehr geschätzten Gattung „Ghettoliteratur“ zu.5 Dies hinderte Ludwig Geiger jedoch nicht, den jiddischen Schriftsteller Scholem Asch dem von ihm höher geschätzten englischen Schriftsteller Israel Zangwill gegenüberzustellen und zu erklären: „Bei Asch ist alles fremd, die Welt in der er lebt und die er beschreibt, ist eine, die wir nicht kennen und in der uns, wenn wir in sie träten, der Atem verschlägt.“6 Man findet aber auch verschiedene Versuche, das Bild vom „Schtetl als Ghetto“ und seine Implikationen für die Vermittlung des jiddischen Kulturguts ins Deutsche in Frage zu stellen. Solche Versuche konkretisierten sich in weiteren Übersetzungen von jiddischen Werken, in Rezensionen zu Übersetzungen sowie in Berichten und Aufsätzen, die sich mit jiddischer Literatur und Kultur befassten. Im Folgenden versuche ich zunächst zu erörtern, warum die Übersetzung von „Schtetl“ mit dem Terminus „Ghetto“ fraglich ist, und zeige dann am Beispiel von David Bergelson, weshalb die Darstellung der jiddischen Literatur als eine Form der deutschen Ghettoliteratur ebenfalls ein Problem darstellt.7 Im Anschluss daran untersuche ich die Bestrebungen im frühen 20. Jahrhundert, das gängige Bild im Deutschen vom „Schtetl als Ghetto“ in Frage zu stellen. Dabei befasse ich mich vor allem mit Scholem Asch und David Bergelson. Beide gehören zu den bedeutendsten Schriftstellern, die auf die erste Generation der „klassischen“ jiddischen Schriftsteller (Scholem Alejchem, Scholem Abramovitsch/Mendele Mojcher Sforim und J. L. Perez) folgten; und beide erhofften, dass ihre Werke ein breites deutsches Publikum erreichen würden.8 Dabei vertrete ich die These, dass bestimmte Aspekte in den Werken von Asch, so auch

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Namen, Wörtern und Buchtiteln orientiert sich an dem vom heute in New York ansässigen YIVO-Institut entwickelten Standardsystem, in dem die Orthographie der englischen bzw. amerikanischen Aussprache folgt. Horch, Hans Otto: Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der Allgemeine Zeitung des Judentums (1837–1922), Frankfurt am Main 1985, S. 192. Ausführlich dazu samt bibliographischen Hinweisen Grossman, Jeffrey: From Shtetl to Ghetto: Recognizing Yiddish in the Allgemeine Zeitung des Judentums, in: Naharaim 10/2 (2016), S. 215–244, und mit einem etwas anderen Ansatz Grossman, Jeffrey A.: Vom Schtetl zum Ghetto: Oder wie man einst in Deutschland die jiddische Kultur (v)erkannte, in: Kanz, Christine/Stamm, Ulrike (Hg.): Anerkennung und Diversität, Würzburg 2018, S. 57–86. Geiger, Ludwig: Zangwill und Asch, in: Allgemeine Zeitung des Judentums 71/41 (1907), S. 486–89, hier S. 487. Der Terminus „Ghettoliteratur“ ist ein spezifisch deutscher Begriff, der z. B. im Englischen – sowie im Jiddischen – generell unbekannt ist außer bei denjenigen, die ihn aus dem deutschen Kontext kennen. Asch, Sholem: Schalom Asch erzählt sein Leben: Rückblick, in: Menorah 8/11–12, S. 511–538, hier S. 530–532; und: Bergelson, Dovid: in: Leksikon fun der yidisher literatur, prese un filologiye, von Zalmen Reyzn, rev. 3. Ausgabe, Bd. 1, S. 347–352, hier S. 351.

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seine Behandlung des Schtetls, zur Popularität seiner Werke in deutscher Übersetzung beitrugen, was von seiner bekannten Fähigkeit zur Selbstdarstellung sicherlich nicht geschmälert wurde. Ein Erfolg dieser Art war David Bergelson nicht beschieden, obwohl er zwischen 1921 und 1934 meistens in Berlin lebte und heute im Allgemeinen als angesehener gilt. Doch jenseits der Frage nach der Qualität der Übersetzung ist es genau Bergelsons Stärke als jiddischer Schriftsteller – nämlich seine Innovationen in der jiddischen Literatur –, die einen populären Erfolg im deutschen Sprachraum einschränkte. 1.

Warum ist die jiddische Literatur keine Ghettoliteratur?

In ihrer wichtigen Studie Schtetl, Stadt, Staat. Raum und Identität in deutschsprachig-jüdischer Erzählliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (2017) überzeugt Petra Ernst mit ihrer Analyse vom Bild des Ghettos und davon, wie dieses Bild den Diskurs zum osteuropäischen Schtetl aufnahm. Sie zeigt, dass ab dem 19. Jahrhundert „[d]ie aus westlicher Sicht ursprünglich mit dem Ghetto im Zusammenhang gebrachte Rückständigkeit […] vor allem auf das osteuropäische Schtetl projiziert [wurde].“9 Außerdem bietet Petra Ernst eine der bisher ausgewogensten Behandlungen der deutschsprachigen Ghettoliteratur. Während sie die didaktischen und teils deutsch-nationalen Tendenzen (die auch als kulturnationalistisch bezeichnet werden könnten) bestimmter Werke der Ghettoliteratur anerkennt, zeigt sie, dass die Autoren vieler Werke der Gattung bestrebt waren, die Erinnerung an „traditionelle jüdische Lebenswelten“ aufrechtzuerhalten, und zugleich in „Richtung einer Emanzipation“ hinwiesen, „die nicht nur staatsbürgerliche Rechte und Freiheiten bringen, sondern zu weitreichenden Verlusten althergebrachten Wissens führen sollte“.10 Diese Feststellung gilt zweifellos für viele Ghettogeschichten. Doch muss man auch erkennen, dass es einem Schriftsteller wie Karl Emil Franzos, der die chassidische bzw. ultraorthodoxe Welt „vergegenwärtigt“, keineswegs darum geht, eine vergessene oder verloren gehende Tradition in irgendeiner Hinsicht positiv darzustellen. Vielmehr liegt ihm daran, Sympathien für diejenigen zu erwecken, die den Bruch mit der Ultraorthodoxie vollziehen, vor allem wenn sie sich an die westliche, d. h. deutsche Kultur assimilieren.11 Im Erzählungsband Die Juden von Barnow stellt Franzos die 9 Ernst, Petra: Schtetl, Stadt, Staat. Raum und Identität in deutschsprachig-jüdischer Erzählliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, hg. v. Gerd Kühr, Gerald Lamprecht und Olaf Terpitz (Schriften des Centrums für Jüdische Studien 27), Wien 2017, S. 80–81. 10 Ebd., S. 98. 11 Ebd.; so auch Petra Ernst, wenn sie sich spezifisch zu Franzos äußert (S. 95); vgl. Franzos’ Feststellung: „das Schlimme an ihnen [den ultraorthodoxen Juden des Ghettos] hatten wahrlich

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chassidische Welt wiederholt und sehr kritisch als kulturell rückständig und ohne jegliche kreative und emanzipatorische Energien dar.12 Im Gegensatz zu Ghettoerzählern wie Aron Bernstein oder Leopold Kompert scheint Franzos das Verschwinden von „althergebrachtem Wissen“ nicht im Mindesten zu bedauern. Sicherlich stellten nicht wenige jiddische Schriftsteller, darunter Bergelson und der frühe Scholem Asch, das Schtetl ebenfalls als geistig und kulturell rückständig dar.13 Doch ihre Entscheidung, über das Schtetl auf Jiddisch zu schreiben und sich damit eindeutig innerhalb des kulturellen und sozialen Rahmens des osteuropäischen Judentums zu bewegen, zeugt von einer anderen Orientierung, nämlich vom Wunsch, diese kulturelle und soziale Welt von innen her zu verändern. Für sie wurde das oft pejorativ angesehene Jiddische, die Sprache des Schtetls, selbst zur Verkörperung von dessen Gedächtnis und zum Anzeichen von Kontinuität trotz des Bruchs mit und des Abschieds von der traditionellen Welt. Diese Unterscheidung erklärt zum Teil, warum der Literaturwissenschaftler Kenneth Ober die jiddische Literatur von der Gattung der Ghettoliteratur ausschließt. Petra Ernst fragt nach einer Erklärung dafür, obwohl sie selbst die bisher wohl beste anbietet. In Reaktion auf die Kritik, die an der Ghettoliteratur aufgrund ihrer didaktischen Tendenzen geübt wird, bemerkt sie: Da diese Texte letztlich allerdings nur im Kontext der außerliterarischen Debatten über jüdische Identitätskonzeptionen zu verstehen sind, muss dieser vermittelnde Gestus des Schreibens gewissermaßen als ästhetisches Grundelement dieser Gattung akzeptiert werden. Diese neue literarische Form […] kam in erster Linie einem Bedürfnis nach diskursiver Auseinandersetzung entgegen – und gerade deshalb ist dieses Genre für eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Literaturwissenschaft, in

nicht sie allein zu verantworten. Aber des Schlimmen war viel, besonders peinlich berührte es mich, in welchen Aberglauben nun diese einstigen Bannerträger des reinsten Monotheismus versunken waren“; Franzos, Karl Emil: Mein Erstlingswerk. Die Juden von Barnow, in: Franzos, Karl Emil: Kritik und Dichtung (Austrian Culture 3), hg. v. Fred Sommer, New York 1992, S. 125–143 (Erstdruck in: Franzos, Karl Emil (Hg.): Die Geschichte des Erstlingswerks. Selbstbiographische Aufsätze, Leipzig 1894). 12 Franzos, Karl Emil: Die Juden von Barnow. Geschichten, Reinbek bei Hamburg 1990. 13 In dieser Hinsicht weisen Asch und Bergelson ähnliche Tendenzen wie ihre „klassischen“ Vorgänger Scholem Abramovitsh/Mendele Moykher Sforim und zum Teil auch J. L. Perez und Scholem Alejchem auf, obwohl sie alle und insbesondere die beiden Letzteren eine sehr komplizierte und keine rein negative Beziehung zum Schtetl hatten; vgl. Miron, Dan: The Literary Image of the Shtetl, in: The Image of the Shtetl and Other Studies of Modern Jewish Literary Imagination, Syracuse, NY, 2000, S. 1–49, hier S. 46.

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der Fragen der literarischen Wertung eher in den Hintergrund treten, von besonderem Interesse.14

Obwohl sie hier vorwiegend auf die eher geringe Rolle von ästhetischen Fragen in dieser Art kulturwissenschaftlicher Studien abzielt, stimmt Petra Ernst generell der Meinung zu, dass man heutzutage die Ghettoliteratur nicht aufgrund ihres ästhetischen Werts lese, sondern wegen ihrer Rolle in den damaligen Diskussionen darüber, wie jüdische Identität(en) in der Moderne praktisch zu konzipieren sei(en). Auf die moderne jiddische Literatur trifft dies weniger zu. Welche Interessen ihre Leserschaft auch haben mag, befasst sich bis heute ein bestimmter Teil von ihr, u. a. auch zeitgenössische Schriftsteller, mit der jiddischen Literatur ebenso wegen ihrer ästhetischen Versuche und Leistungen. Viele moderne jiddische Schriftsteller eiferten der modernen europäischen und amerikanischen Literatur nach. Sie debattierten mitunter heftig über ästhetische Fragen in der Presse, gründeten literarische und kulturell engagierte Zeitschriften, veröffentlichten literarische Manifeste. Sie waren generell bestrebt, einen dauerhaften Einfluss auf die Literatur der jüdischen Welt auszuüben, indem sie deren häufig verunglimpfte (allerdings von der Mehrheit der jüdischen Bevölkerung gesprochene) Sprache in eine der Hochkultur verwandeln wollten. Diese Bestrebungen fanden und finden bis heute noch eine bedeutsame Resonanz in bestimmten Kreisen der modernen jüdischen Kultur: in der hebräischen (z. B. David Grossman), in der amerikanisch-jüdischen (z. B. Nicole Krauss) und wohl auch in der deutsch-jüdischen Literatur (z. B. Jurek Becker), außerdem in Film und Theater. Eine solche Erbschaft hat die Ghettoliteratur, so wichtig sie für ein historisches Verständnis der derzeitigen deutschsprachig-jüdischen Kultur bleibt, nicht hinterlassen.15 In Bergelsons oft düsteren Darstellungen des Schtetls finden sich ein Experimentieren mit literarischen Formen, die Anwendung von neuen stilistischen Repertoires und der Versuch, die jiddische Sprache selbst als Material zu behandeln, das er auf kreative Weise verarbeiten und verwandeln wollte.16 Schon in seiner ersten Erzählung „Der toyber“ („Der Taube“) führt Bergelson ein komplexes Strukturieren der Ereignisse und der Handlungen seines Protagonisten

14 Ernst: Schtetl, Stadt, Staat, S. 93. 15 Vgl. Cohen, Richard I.: Nostalgia and “The Return to the Ghetto”, in: Ders.: Jewish Icons: Art and Society in Modern Europe, Berkeley, Ca. 1998, S. 158–185, hier S. 184. 16 Montovan, Daniela: Language and Style in Nokh alemen (1913): Bergelson’s Debt to Flaubert, in: Sherman, Joseph/Estraikh, Gennady (Hg.): David Bergelson: From Modernism to Socialist Realism (Legenda Studies in Yiddish 6), Oxford 2007, S. 89–112, hier S. 90 f.

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vor, wie vom Jiddisten Avraham Novershtern ausführlich dargelegt wurde.17 In die Erzählung von einem verwitweten und tauben Arbeiter, der in einer Mühle beschäftigt ist und dessen erwachsene Tochter Esther ebenfalls in der Küche des Mühlenbesitzers arbeitet, führt Bergelson zwei thematische Stränge ein: Der erste befasst sich mit zwischenmenschlichen Beziehungen, der zweite mit ökonomischen Verhältnissen bzw. der ökonomischen Ausbeutung im Schtetl. Der taube Protagonist (hiernach als „Der Taube“ bezeichnet – die Metonymie fungiert im Prinzip als dessen Name in der Erzählung) kann seine Umwelt wenig und nur langsam verstehen. Er hat z. B. Schwierigkeiten, die sexuellen Avancen des Sohns des Mühlenbesitzers namens Mendel seiner Tochter Esther gegenüber zu verstehen. Dieser Aspekt der Erzählung samt der schweren Verletzung des Tauben, die er durch das Hinunterfallen eines Aufzugs in der Mühle im Laufe der Erzählung erleidet, dienen dazu, den Ablauf der Handlung zu verlangsamen. Diese Verlangsamung wiederum erlaubt es Bergelson, Details, die anfangs als eher unbedeutend oder zusammenhangslos erscheinen (Esthers Arbeit im Haushalt des Mühlenbesitzers, ihre Selbstständigkeit dem Vater gegenüber, der tägliche Kampf des Tauben, mit anderen zu kommunizieren, und Hinweise auf die Kuh des Mühlenbesitzers), in die übergreifende Struktur einzuweben. Obwohl die Erzählung um das Doppelthema von zwischenmenschlichen Beziehungen und Ausbeutung (beim Tauben ökonomischer, bei Esther sexueller Art) konstruiert ist, gestattet die Erzählung mittels dieser übergreifenden Struktur es nicht, den Zusammenhang dieser Details und deren Bedeutung im Erzählschema bereits vor dem Ende der Erzählung zu enthüllen. Dies geschieht erst, als der Taube beim Versuch, gegen den Mühlenbesitzer zu rebellieren, die Kuh eines anderen nachts versehentlich umbringt, neben deren Kadaver er am nächsten Tag selbst tot aufgefunden wird. So verbindet die Erzählung realistische Details und ernüchternde Lebensbedingungen mit dem Bild einer trügerischen, aber mächtigen Welt, gegen die die Schwachen schließlich machtlos sind. Wie verschiedene jiddische Literaturwissenschaftler und Kritiker aus Bergelsons Schaffenszeit, etwa Nakhman Mayzl und Shmuel Niger, bis zu denjenigen 17 Bergelson, Dovid, Der toyber, in: Arum vokzal un andere dertseylungen, in: Geklibene verk, Vilna [Vilnius], 1929, v. 1, S. 93–122; übersetzt als Der Taube, übers. von X, in: Ost und West 13 (1913), Spalten 163–168, 261–266, 467–472; und Der Taube, in: Bergelson, Dowid: Am Bahnhof und andere Novellen, übers. von Alexander Eliasberg (Ostjüdische Bibliothek), Berlin 1922, S. 159–192; vgl. Novershtern, Avraham: Der held un zayne handlungen in Dovid Bergelsons friye dertseylungen, in: Di goldene keyt 94 (1977), S. 132–143, hier S. 135–137. Bergelson schrieb „Der toyber“ im Jahr 1906, veröffentlichte die Erzählung aber erst 1910, ein Jahr nach seiner erster Veröffentlichung, Arum vokzal (Am Bahnhof). Der Begriff „Ausbeutung“ stammt von mir, wird aber von Novershtern impliziert, wenn er Bergelsons Darstellung von ökonomischen und sexuellen Beziehungen behandelt, und er ist auch evident in der Erzählung selbst.

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in den letzten Jahrzehnten, wie Novershtern, Daniela Montavon oder Joseph Sherman, bemerkt haben, hatte sich Bergelson tief in die europäische Literatur eingelesen. Dabei nahm er Erzähltechniken und Motive auf, die er bei Schriftstellern wie Tschechow (z. B. Wortwiederholungen, wiederkehrende Bewegungsmuster und die Verlegung des Schauplatzes in die Provinz) oder Flaubert (insbesondere der style indirect libre, die erlebte Rede, samt der ironischen Darstellung von Gedanken und Worten der Romanfiguren) fand, und wandelte sie für seine eigenen Zwecke um.18 Derart führte er in die jiddische Literatur eine Variante des Impressionismus ein, mit der er den Eindruck der langsamen Entwicklung seiner Erzählungen vermittelte. Diese wurden weniger durch die Handlung selbst vorangetrieben als durch die Stimme des Erzählers, die sich wiederholt in die Gedanken und die subjektiven Zustände der Figuren hineinversetzt, deren Eindrücke von ihrer Umwelt, von anderen Figuren und von den Ereignissen um sie herum sowie deren oft scheinbar alltägliches Handeln oder eben auch Nicht-Handeln sie vermittelt. So ermöglicht es diese Erzähltechnik, dass die Geschichte mittels dieser vielfachen Eindrücke entsteht und nicht durch vermeintlich realistische Beschreibungen und Darstellungen von Ereignissen, die durch einen allwissenden Erzähler vermittelt werden. Auf diese Weise versuchte Bergelson, wie andere jiddische Schriftsteller seiner Zeit auch, die jiddische Sprache und das jiddische Schreiben selbst als Teil des Projekts einer Transformation des jüdischen Lebens neu zu formen. In dieser Hinsicht, wenn auch nicht in Bezug auf ihre Sujets oder sozialen Anliegen, wäre es passender, Bergelson und andere jiddische Schriftsteller eher mit deutschsprachigen Schriftstellern und Dichtern wie Schnitzler, Hofmannsthal oder Rilke als mit den Verfassern von Ghettogeschichten zu vergleichen. 2. Asch und Bergelson in deutschen Übersetzungen, oder: Vom Schtetl zum Ghetto und zurück Sollte anhand der bisherigen Auseinandersetzung mit Bergelson dessen jiddisches Schreiben von der deutschen Ghettoliteratur unterschieden werden, bleibt nun zu betonen, dass die Präsentation von jiddischen Werken in deutscher Übersetzung oft mit dem Bild des „Ghettos“ verknüpft wurde. Und dies geschah, indem man die jiddische Literatur mit der Ghettoliteratur gleichsetzte 18 Mayzel, Nachman: Forgeyer un mittsaytler, New York 1946, S. 304–317; Niger, Samuel: Shmuesn vegn bikher, New York 1922, S. 137–161; Novershtern: Der held, S. 132–143; Sherman, Joseph: Bergelson and Chekhov: Convergences and Departures, in: Ders./Robertson, Ritchie (Hg.): The Yiddish Presence in European Literature (Legenda Studies in Yiddish 5), London 2005, S. 117–133; Montavon, Daniela: Language and Style in Nokh alemen (1913): Bergelson’s Debt to Flaubert, in: Sherman/Estraikh (Hg.): David Bergelson, S. 82–112.

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oder die jiddische Literatur schlicht als Ausdruck des „Ghettos“ bezeichnete. Letzteres erfolgte aus verschiedenen Gründen: als Projektion, auf die Petra Ernst uns aufmerksam macht, oder als einfache Konvention oder auch als Mittel der Vermarktung. Es war Scholem Asch, der, ungeachtet der heutigen wie auch schon der zeitgenössischen Bewertung seiner künstlerischen Leistung, früher und auch häufiger als Bergelson in deutscher Übersetzung erschien. Freilich hatte der vier Jahre ältere Asch früher begonnen, auf Jiddisch zu veröffentlichen, zu seinem verhältnismäßig größeren Erfolg im deutschen Sprachraum haben aber weitere Faktoren beigetragen. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass hierbei zum einen die unterschiedlichen Schtetl-Darstellungen bei Asch und Bergelson eine Rolle spielten, zum anderen aber auch, dass die Erzählformen und -techniken, die ihre Werke prägen, zum größeren Erfolg Aschs beitrugen. Zwei Bände mit Werken Aschs zum Schtetl erschienen schon früh in deutscher Übersetzung: der eingangs erwähnte Erzählband Bilder aus dem Ghetto sowie der oft als „Prosagedicht“ bezeichnete Band A Shtetl (1904), der 1909 unter dem Titel Das Städtchen auf Deutsch erschien.19 Der Band Bilder aus dem Ghetto versammelt eine Auswahl von Erzählungen, die in verschiedenen Zeitschriften sowie in Aschs erstem jiddischen Erzählband, In a shlekhte tsayt (In einer schlechten Zeit), erschienen waren.20 Wie im Titel schon angedeutet, stellen die Erzählungen das Schtetl vorwiegend in einem düsteren und kritischen Licht dar, wenn auch nicht völlig ohne magische, mystische oder fantastische Momente und Motive, die wohl von Aschs Mentor J. L. Perez inspiriert waren. Die Erzählung „Oykh a mame“ („Auch eine Mutter“) beschreibt die Entfremdung zwischen einer ungebildeten Witwe namens Toybe (Taube) und ihrem ältesten Sohn Itzik (Jizchok). Der junge und aufstrebende Talmudgelehrte Itzik/Jizchok hält sich zunehmend von seiner armen und etwas einfältigen Mutter fern und begegnet ihr mit Kälte.21 Im Alter von 14 Jahren reicht Jizchok das Bildungsniveau im örtlichen Bethaus nicht mehr aus. Mit Unterstützung des Unterrabbiners verlässt er das Schtetl, um eine weit entfernte Jeschiwe zu besuchen. Über sein neues Leben schreibt er Briefe an die Mutter, in denen er blumige und komplexe Ausdrücke aus dem Jiddischen und Hebräischen kombiniert, die sie nicht ohne Hilfe entziffern kann. Laut den gelehrten Männern, an die sie sich wendet, stammen beinahe alle aus einem 19 Asch, Schalom [Sholem]: Das Städtchen, Übersetzer unbekannt/unbenannt, Berlin 1909; vgl. Krutikov, Mikhail: Yiddish Fiction and the Crisis of Modernity, 1905–1914 (Stanford Series in Jewish History and Culture), Stanford, CA 2001, S. 28; Bal-Makshoves: Dray shtetlekh, in: Ders.: Geklibene shriften, Vol. 3, Varshe [Warsaw] 1929, S. 5–25; zu Asch siehe S. 14–20. 20 Asch, Sholem: In a shlekhte tsayt: bilder un dertseylungen, Varshe [Warsaw] 1903. 21 Asch, Sholem: Oykh a mame, in: Ders.: In a shlehkte tsayt, S. 68–77; Asch: Auch eine Mutter, in: Ders.: Bilder, S. 161–181.

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ihr nicht verständlichen talmudischen Kommentar. Die Briefe sprechen sie außerdem kaum persönlich an. Auktorial erzählt, aber primär fokussiert durch Taubes Perspektive – der Erzähler bezeichnet den Sohn häufig als „Ihr Jizchok“ („ir Itzik’l“22 ) –, werden in der Erzählung die Rollen eines in der jiddischen Literatur häufig auftretenden Motivs seit der Aufklärung, bei dem entfremdete Kinder gegen ihre frommen und repressiven Eltern rebellieren, vertauscht. Die Sympathien liegen hier eindeutig bei der Mutter, und die Erzählung zögert nicht, das herabwürdigende Verhalten ihr gegenüber vor allem durch ihren begabten Sohn darzustellen, der ihr Stolz sein sollte, sich ihretwegen aber nur schämt. Auch eine zweite Erzählung im selben Band mit dem jiddischen Titel „A broygez“, übersetzt als „Ein Ärgernis“, handelt von einem Jungen bzw. jungen Mann („bokher“ auf Jiddisch) namens Schmul, der als Ich-Erzähler erklärt, wie er sein Schtetl und seinen engsten Familienkreis verlässt.23 Bald aber stellt sich heraus, dass er aus dem Schtetl geflohen ist, um einer arrangierten Ehe, die er bald eingehen sollte, zu entkommen. Als er bei seiner Tante in einem anderen, weit entfernten Schtetl ankommt, wird er nach einer geschwinden Begrüßung von ihr mit seiner Cousine allein gelassen. Von ihr, der er von seinem spontan erdachten Plan erzählt, im örtlichen Bethaus zu lernen, wird er freundlich empfangen.24 Als die Tante von der Arbeit zurückkehrt, bestellt sie einen Bauern mit Fuhrwerk, der Schmul am nächsten Tag nach Hause bringt. Bei seiner Heimreise bricht das Narrativ mit der realistischen Darstellung ab und geht in einen fantastischen Modus über, in dem sich die Beschreibungen der Natur mit traumartigen Vorstellungen eines zukünftigen idyllischen Lebens für Schmul in einem eben vorbeigezogenen Schloss vermischen. Schmuls Fantasien, die die der Erzählung selbst sind, verlassen ihn schließlich, und er und der Leser kehren ins Reich des Realen zurück. Dort akzeptiert er angesichts der physischen Androhungen seines Bruders, seine versprochene Braut zu treffen. Diese wiederum erklärt ihm unter Tränen (deren genaue Bedeutung unklar bleibt), dass sie um seinen Widerwillen gegen die Ehe weiß und dass er sie ohnehin nur wegen der von seiner Familie erwünschten Mitgift heiraten wird. Am Ende ist das idyllische Bild vom Leben im Schloss verschwunden. An dessen Stelle tritt ein Bild, das zugleich vertraut und düster wirkt: „Dann taucht ein Wäldchen hervor. Regungslos, traurig und dunkel steht es im Regen … Die Bäume scheinen sich aneinander zu schmiegen … Hinter dem Wald ragt der 22 Diminutive im Jiddischen lassen ihre Stimme noch klarer zum Ausdruck kommen als in der Übersetzung. Siehe z. B. Asch, Oykh a mame, S. 70, sowie Auch eine Mutter, S. 166. 23 Asch: A broygez, in: Ders.: In a shlekhte tsayt, S. 10–18; Asch: Ein Ärgernis, in: Ders.: Bilder, S. 235–252. 24 Ebd., S. 13–14 bzw. S. 239–242.

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Kirchturm und das Städtchen hervor … Ich höre mein Herz klopfen.“ Diese Beschreibung endet dann mit der ironischen Feststellung: „Ich bin zu Hause.“25 Zur deutschen Übersetzung können hier nur wenige Aspekte angemerkt werden, so z. B. die Tendenz, Ausdrücke aus dem Hebräisch-Aramäischen (loshn-koydesh) entweder ganz ins Deutsche zu übertragen oder stehen zu lassen und mittels parenthetisch eingeführten Übersetzungen zu erklären. Auch verwendet die deutsche Übersetzung ein etwas höheres Sprachniveau als die jiddische Erzählung, der Titel „Ein Ärgernis“ ließe sich alternativ mit „Ein Streit“ übersetzen, was wiederum dem Erzähler mehr Agens zuschreiben würde, ungeachtet seines schließlich unterlegenen Zustands. Diese Erzählungen entsprechen dem Stereotyp des Ostens als einer hinter den Ghettomauern verborgenen rückständigen Welt – sie würden Ludwig Geiger den Atem verschlagen. Auf die Übersetzung von Aschs A shtetl trifft dies nicht zu, was sich schon im deutschen Titel – Das Städtchen – andeutet. Zusammen mit anderen Aspekten bietet die Erzählung in der Übersetzung einen ganz anderen Rahmen für die Lektüre. Bereits der Beginn des ersten Kapitels, „Die Stube“ („Di shtub“), eröffnet eine Atmosphäre von allgemeiner sozialer Harmonie im Schtetl, die sich in einem idyllisch-harmonischen Zusammenleben von Mensch und Natur äußert. Auf Deutsch liest sich dies so: Die Tür der „Stube“ ist den ganzen Tag und die ganze Nacht auf. Und wie in einem Gasthause herrscht hier ein beständiges Kommen und Gehen. Es ist Reb Jecheskil Gombiners „Stube“, aber sie ist zugleich eine Art „Stadtstube“, ein öffentlicher Ort, wo jeder Fremde hereinkommen und sich hinsetzen darf, ohne gefragt zu werden, was er da zu suchen hat. Hier sind alle wie zu Hause. Wenn ein Hausvater am Morgen sein Heim verlassen hat, ohne etwas Warmes getrunken zu haben, geht er einfach mit Gebetbuch und Riemen in die Stube zu Reb Jecheskil hinüber und läßt sich von der Magd ein Glas Tee geben […]. Ist eine Hausfrau zu faul, ihren Herd zu heizen, so nimmt sie den Topf und trägt ihn in Malkeles Küche hinüber. In Malkeles Küche sind sämtliche Stadttöpfe zu finden […]. Wenn ein Bursche sich im Hause verkracht, hält er sich in Reb Jecheskils Stallungen auf. Er braucht sich nicht zu sorgen, denn Schwarz- und Weißbrot werden bei Reb Jecheskil nicht eingeschlossen – alles findet sich in der Küche und steht einem zur Verfügung.26

Der jiddische Text liest sich folgendermaßen:

25 Ebd., S. 16–18 bzw. S. 248–252. 26 Asch: Das Städtchen, S. 11.

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Di tir fun der „shtub“ iz ofn a gantsn tog un a gantse nakht, un vi in a gast-hoyz dreyt men zikh dort tomed arayn un aroys. Iz’n iz es Reb Yekheskl Gombiners „shtub.“ Nor dokh –a stodt-shtub, a reshus-horabim azoy, az a vild-fremder kumt arayn un zetst zikh anider. Geyt nit on di kasha: „vos vet ir zogn, reb yid?“ Do zaynen ale in der heym. Farlozt a shtot balebos zayn heym in der fri on a gloz varems, geyt er zikh prost mit tales un tefillin ariber tsu Reb Yekheskln in „shtub“ arayn, un vi a heymisher, heist er eyner fun di dienstn, az zi zol im a gloz tey derlangen […]. Foylt zikh nor a shtot-baleboste dem oyvn untertsuhaytn, nemt ir tepl un trogt es tsu Malkeles kikh ariber. Un in Malkeles kikh gefinen zikh di gantse shtot teplekh […]. Makht zikh a yingl a „broygez“ in der heym, halt er zikh oyf in Reb Yekheskels shtaln. Tsu zorgn iz nishto vos, broyt un zemel vern bay Reb Yekheskel nit farshlosn—alz iz in kikh fray vi vaser.27

Diese harmonische Bildhaftigkeit der deutschen Übersetzung (die der des jiddischen Texts entspricht) zieht sich durch die ganze Erzählung, und sie schafft es dennoch, Hinweise auf mögliche soziale Konflikte oder Drohungen durch die Natur aufzunehmen. Ebenfalls werden, wie Mikhail Krutikov gezeigt hat, Geld und die oft damit verbundene Darstellung von Handel und Geschäft in A shtetl zum Thema. Doch geschäftliches Handeln und Konflikte verschiedener Art werden geschwind und freundschaftlich geregelt und die Drohungen der Natur gehen schnell vorüber. Als z. B. die bevorstehende Ankunft eines chassidischen Rebbes einen Konflikt auszulösen droht, beschließt der inzwischen vom Alter geschwächte orthodoxe Rabbiner kurzerhand zurückzutreten. Zugleich beschließen die Bürgerlichen („balebatim“) im Schtetl, den neuen Rebbe positiv zu empfangen, da sie weitere Chassidim erwarten, die zum Wohlstand des Schtetls beitragen sollen.28 Und als eine Holzlieferung von Reb Jechezkel Gombiner am Fluss durch Eis und turbulentes Wasser verloren zu gehen droht, beruhigt sich das Wasser bald nach den ersten Rettungsversuchen, so als wäre ein göttlicher Eingriff erfolgt.29 Dieser Art der Schtetl-Darstellung, eine Darstellung, bei der in der deutschen Übersetzung erneut die Tendenz zu einem höheren Sprachniveau als im Originaltext festzustellen ist,30 ersetzt die düsteren Darstellungen, die in Aschs jiddischen Bildern aus dem Ghetto vorherrschen. Zugleich passt Aschs A shtetl nicht in die Gattung der Ghettoliteratur – und zwar aus anderen Gründen 27 28 29 30

Asch, Sholem: A shtetl, in: Gezamelte shriften, Varshe [Warsaw], 1929, S. 3–4. Asch: Das Städtchen, S. 84–92; Ders.: A shtetl, S. 54–61. Ebd., S. 39–40, 45–48 bzw. S. 23–24, 28–30. Vergleiche die letzten Worte in den oben zitierten jiddischen und deutschen Stellen: „alz iz in kikh fray vi vaser“ vs. „alles findet sich in der Küche und steht einem zur Verfügung“; ebd., S. 4 bzw. S. 11.

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als den bisher erwähnten. In einer 1895 verfassten Behandlung der Gattung argumentiert Karl Emil Franzos, dass die Ghettoliteratur zwei Tendenzen aufweise, von denen die eine, beispielsweise in den Novellen Vögele der Maggid (1857) und Mendel Gibbor (1859)31 von Aron Bernstein, generell zu einer Form des poetischen Realismus tendiere und Aspekte aufweise, die dem Realismus zugeschrieben werden (detaillierte Beschreibung, eher zuverlässige Erzähler, identifizierbare Schauplätze usw.), die aber dennoch häufig zur Idealisierung und zur Nostalgie neigen. Die andere Tendenz, die bei Franzos selbst zu finden ist, sieht dieser in einer scharf kritisch-realistischen Darstellung des Ghettos.32 Obwohl man versucht sein könnte, Aschs A shtetl im Sinne der ersten dieser beiden Formen von Ghettoliteratur zu lesen, ist es wichtig, hier an Petra Ernsts oben erwähnte Beobachtung zu erinnern, die Ghettogeschichten würden generell auf die „weitreichenden Verluste althergebrachten Wissens“ hinweisen, die mit der Emanzipation erwartet wurden. Dazu gehört, dass die Ghettoliteratur generell Teil eines Diskurses ist, der um den Kampf zwischen einer präemanzipierten traditionellen Welt einerseits und der von außen kommenden Emanzipation samt der damit verbundenen Modernisierung andererseits kreist.33 Das trifft auf Bernsteins Vögele der Maggid und dessen zentralen Konflikt zu, der sich um die traditionelle Ausbildung in der Kleinstadt und den Drang nach moderner säkularer Ausbildung jenseits ihrer Grenze dreht. Er bleibt auch in ihrer Umwelt relevant, und zwar auf eine Art und Weise, die in den Konflikten in Aschs A shtetl nicht angelegt ist (selbst wenn die Konflikte bei Bernstein auch harmonisch geregelt werden).34 Selbst das kurze Vorwort von A shtetl, das einen „Wanderer“ von außen einführt, den der Erzähler in das Schtetl gewissermaßen hineinbegleitet, um es zu erkunden, verzichtet auf jeden Hinweis auf einen möglichen Konflikt oder Kampf mit der Außenwelt oder auf Verluste jedweder Art. Als die eigentliche Erzählung über die Innenwelt des Schtetls ansetzt, bleibt der erzählerische Blick allein dieser Welt verhaftet.35 Aus der Sicht des Schtetls existiert die Außenwelt nicht, sie bleibt derart irrelevant, dass niemand auf sie hinweist. Nur kurz wird ihre Existenz am Ende angedeutet, als der Erzähler daran erinnert, dass der Wanderer nun das Schtetl in die Außenwelt verlasse, der die ruhigen 31 Bernstein, A.: Vögele der Maggid. Mendel Gibbor. Zwei Novellen, Berlin 1860. 32 Franzos, Karl Emil: Ueber Aron Bernstein, in: Allgemeine Zeitung des Judentums 59/21 (1895), S. 248, und 59/28 (1895), S. 331; vgl. Grossman: From Shtetl to Ghetto, S. 230–231. 33 Ernst: Schtetl, Stadt, Staat, S. 98. 34 In der frühsten Fassung dieser Novelle spricht Vöggele eine Form des Westjiddischen, aber Bernstein tilgte das Jiddische relativ früh aus den folgenden Fassungen; vgl. Richter, Matthias: Die Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (1780–1933). Studien zur Form und Funktion, Göttingen 1995, S. 215, Anm. 1. 35 Asch: Das Städtchen, S. 7.

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und friedlichen Töne des Schtetls fehlen.36 Sogar die einzige Stelle, die einen möglichen Niedergang des Schtetls suggerieren könnte, an der der Erzähler im Anschluss an die eben vergangenen Hohen Feiertage einen dunklen Ort ohne Lebenszeichen beschreibt, erweist sich als ironische Beschreibung. Es folgt eine sozusagen kurze, schnell vergehende Ruhepause, bevor im Anschluss daran das Bild eines lebendigen Markttags aufscheint, das sich selbst als Übergang zu einem neuen und besonderen Moment im Schtetl erweist, in dem drei bedeutsame Hochzeiten gefeiert werden.37 Aschs Darstellung des Schtetls war so idealisiert und zuversichtlich, dass sich der einflussreiche zeitgenössische Kritiker Bal-Makhshoves (Isidor [Yisroel] Eliashev) veranlasst sah, die Erzählung (oder das Prosagedicht) in seinem Artikel „Dray shtetlekh“ (Drei Schtetl) einer heftigen Kritik zu unterziehen. Asch, behauptet er, betrachte das Schtetl von einer einsamen und fernen Bergspitze aus, auf der er eine Reihe von Instrumenten und Melodien höre, die sich in der Realität mitten in einem intensiven Konflikt befänden, die er aber aufgrund seines Begehrens nach Harmonie nur als eine im Einklang tönende Melodie wahrnehme: „Im hot mit a kivn nisht interesirt dos nit-harmonishe, er hot nur tsunoyfgeport dos, vos harmonirt, un vu nur es hot zikh genumen bilden a shtikl konflikt, a shtikl tserisnkeyt, hot er es bald mit zayn poetisher fantaziye oysgeglaykht“ („Ihn hat mit Absicht das Nichtharmonische nicht interessiert, er hat einfach das zusammengebracht, was harmonisiert, und überall wo nur ein Stück Konflikt, ein Stück Zerrissenheit entstanden ist, hat er dieses mit seiner poetischen Fantasie ausgeglichen“).38 Bal-Makhshoves hingegen beschreibt das Schtetl als eine Lebensweise und als einen sozialen Raum, die sich im Niedergang befinden, dazu bestimmt, verloren zu gehen. Aschs Erzählung betrachtet er als ein naives und kindliches Werk, das sich angesichts der Tatsachen im Zustand der Verleugnung befindet. Er vergleicht Aschs Darstellung des Schtetls mit einer Kindheitserinnerung oder einer träumerischen Fantasie und beschreibt diese Darstellung als „ein Schtetl von Kindern mit Bärten und Schläfenlocken“ („a shtetl fun kinder mit berd un payes“), dessen kindliche Figuren noch „in der Wiege liegen oder Synagoge und Paläste aus Klötzchen bauen“ („lign nokh in vign oder vos boyen kletslekh shuln un palatsn“), woraus er schlussfolgert: „Ein Traum dieser Art könnte nur im Kopf des Dichters erscheinen, als das Schtetl als wirkliche und aktive Kraft aufhörte, eine Sache der Realität zu sein“ („Aza kholem hot ober gekont tsaytik vern in kop fun poet nur dan ven dos

36 Ebd., S. 214. 37 Ebd., S. 195–197, 205–214; S. 131–132, 139–145. 38 Bal-Makshoves: Dray shtetlekh, S. 16.

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shtetl, als reale lebedike nonte makht, hot shoyn oyfgehert tsu zayn a dover shbemamesh“).39 Mikhail Krutikov befindet wiederum, dass Asch, indem er „his shtetl with a functioning economic system“ ausgestattet und als „integralen Teil der Naturordnung“ dargestellt habe, etwas völlig Neues in die jiddische Literatur eingeführt habe, was auch zum Erfolg der Erzählung beigetragen habe: „Money as the ‘truth-creating device’ made Asch’s fiction plausible and alive“.40 Dies mag auch diejenigen angesprochen haben, die die Erzählung an ein deutsches Publikum vermitteln wollten. Auf jeden Fall hebt sich die Erzählung mit ihrer affirmativen Darstellung des Schtetls von denen des Bandes Bilder aus dem Ghetto deutlich ab. Der Vergleich weist auch auf Veränderungen im Bild des Ostens hin, die verschiedene Publizisten im deutschen Sprachraum einzuführen versuchten, so z. B. Nathan Birnbaum, Martin Buber, Leo Winz und andere Autoren der Zeitschrift Ost und West (1901–1923) oder Fritz Mordechai Kaufmann und die kurzlebige Zeitschrift Die Freistatt (1913–1914) sowie der, wenn auch unter etwas anderen Vorzeichen, überaus produktive Übersetzer Alexander Eliasberg. Sie versuchten dieses Bild mithilfe von Übersetzungen und publizistischen Beiträgen zu ändern, und dies führte zu einer allgemeinen Aufwertung der ostjüdischen Welt, des Schtetls und der jiddischen Sprache und Literatur. Dieses Ansinnen, das pejorative Bild des jüdischen Ostens abzubauen, fand genau in jener Zeit statt, da eine zunehmende Anzahl von Juden aus dem Osten nach Deutschland und Österreich einwanderte. 3.

Die unzeitgemäße neue Poetik von David Bergelson

Bergelsons Werk wird in diesem Kontext zum ersten Mal übersetzt. Nach meinen bisherigen Forschungen handelt es sich hierbei um die Veröffentlichung der oben erwähnten Erzählung „Der toyber“, die als „Der Taube“ im Jahr 1913 in Ost und West erschien.41 Die historischen Spannungen zwischen deutschen und osteuropäischen Juden nahmen infolge des Ersten Weltkriegs, der bolschewistischen Revolution und der Gegenrevolution zu, die wiederum zu einem Anstieg der Zahl von Immigranten und Flüchtlingen aus dem Osten, darunter auch eine hohe Anzahl von Juden, führte.42 Bergelson selbst kam 1921 nach 39 Ebd., S. 16, 18, 19; vgl. Krutikov: Yiddish Fiction, S. 32. 40 Krutikov: Yiddish Fiction, S. 34. 41 Die Zeitschrift Ost und West wurde 1901 begründet. Die Redaktion erklärte im ersten Jahrgang: „Es ist eine der wesentlichsten Aufgaben unserer Zeitschrift, zwischen dem jüdischen Osten und dem westlichen Judentum Brücken zu schlagen“; Ost und West 1, 9 (1901), Sp. 673–674. 42 In derselben Zeit aber entstand in gewissen Kreisen auch das, was Steven Aschheim als ein „cult of the East European Jew“ bezeichnet; Aschheim: Brothers and Strangers, S. 139–184.

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Berlin, wo er bis auf wenige Unterbrechungen bis 1934 lebte.43 Im Jahr nach seiner Ankunft erschien der Band Am Bahnhof auf Deutsch, der in der Übersetzung von Alexander Eliasberg die jiddischen Erzählungen „Arum vokzal“ („Am Bahnhof “), „In a fargrebter shtot“ („In einer gottverlassenen Stadt“) und in einer neuen deutschen Fassung „Der toyber“ (wieder als „Der Taube“) beinhaltet.44 Es folgte ein Jahr später Bergelsons erster Roman Nokh alemen mit dem deutschen Titel Das Ende vom Lied, wiederum von Eliasberg übersetzt. Die beiden unterschiedlichen Romantitel in der englischen Übersetzung können als Ausdruck der Mehrdeutigkeit und Komplexität des Werks verstanden werden: The End of Everything und When All Is Said and Done.45 Wie am Beispiel von „Der toyber“ schon erläutert, könnte sich in dieser Erzählung das Bild vom Schtetl nicht stärker von dem in Aschs A shtetl abheben. Dasselbe gilt auch für die anderen hier zitierten Werke.46 Im Gegensatz zu Asch bietet Bergelson niemals Bilder vom Schtetl an, die man bereits „vorgefertigt“ einfach übernehmen könnte, um das negative Bild eines stagnierenden Lebens im östlichen Ghetto abzubauen. Um nur ein weiteres Beispiel zu nennen: An einer der Schlüsselstellen in Nokh alemen (Das Ende vom Lied) begegnet die Protagonistin Mirel kurz vor dem Sabbatanfang dem Schriftsteller Herz, der ihr, wie es scheint, den Hof macht. Während die rötliche Sonne untergeht, weist Herz auf ihre herrliche Schönheit hin und beschreibt für Mirel das wunderbare Bild von Juden, die an den Hauseingängen in Erwartung des Sabbats stehen. Dabei weist er auf eine scheinbar magische Verwandlung der Landschaft, worauf ihm Mirel nüchtern antwortet, dass sie nichts als einen armen Bauer beim Pflügen der Felder sehe.47 Diese Stelle im Roman bezieht sich deutlich auf den Schluss von J. L. Perez’ beliebter Erzählung „Tsvishn tsvey berg“ („Zwischen zwei Bergen“), in der die zauberhaft verwandelte Welt der chassidischen Anhänger des Bialer Rebbes durch eine völlig unromantische Bemerkung vom antichassidischen Brisker Rabbi zunichtegemacht wird (der Rebbe ist auch der ehemalige hochgeschätzte Schüler des Rabbis).48 Im Gegensatz zu Perez 43 Sherman, Joseph: David Bergelson: A Biography, in: Sherman/Estraikh (Hg.): David Bergelson, S. 7–78, hier S. 25. 44 Siehe Anm. 17. 45 Bergelson, David [Dovid]: Nokh alemen, in: Geklibene verk, Bd. 2, Vilna [Vilnius] 1929; Das Ende vom Lied, übers. v. Alexander Eliasberg, Frankfurt am Main [1923] 1965; The End of Everything, übers. v. Joseph Sherman, New Haven 1989; When All Is Said and Done, übers. v. Bernard Martin, Athens und Ohio 1978. 46 Krutikov merkt an, dass sowohl Asch als auch Bergelson an ökonomischen Fragen interessiert seien, betont aber deren unterschiedliche Zugänge; Krutikov: Yiddish Fiction, S. 38. 47 Bergelson: Das Ende vom Lied, S. 145–146; Ders.: Nokh alemen, S. 173. 48 Perets, Y. L. [Perez, I. L.]: Tsvishn tsvey berg, in: Ders.: Ale verk, Bd. 4, New York 1947, S. 103–117.

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sympathisiert Bergelson mit Mirels Verweigerung, sich von idealisierten romantisierten Bildern des Schtetls verführen zu lassen, wie Dan Miron zutreffend anmerkt.49 Dieser Unterschied steht beispielhaft für die Schwierigkeiten, die den Übersetzungen von Bergelsons Werken anhaften. Perez’ „Tsvishn tsvey berg“ gehört zu den frühesten Erzählungen eines modernen jiddischen Schriftstellers, die ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht wurden; sie erschien in der ersten Nummer von Ost und West.50 Bis in die dreißiger Jahre erschienen mindestens drei weitere Übersetzungen derselben Erzählung auf Deutsch.51 Sie war also eine der zentralen Erzählungen im Repertoire von jiddischen Werken, die deutschsprachige Übersetzer und Publizisten beim Versuch, das Bild der osteuropäischen Juden zu ändern, nutzten, um die vorherrschende Assoziation mit der dunklen, rückständigen Welt des Ghettos zu widerlegen. Neben der Frage aber, wie Bergelsons Bild des Schtetls zum deutschen Repertoire dieser Bilder passt, gilt es, Folgendem nachzugehen: Ließen sich Bergelsons bedeutsame Innovationen für die jiddische Literatur ins Deutsche übersetzen und positiv rezipieren? Zu diesen Neuerungen zählt die von Avrom Novershtern in Hinsicht auf Bergelsons „Arum vokzal“ beschriebene „virtuosic harmony between theme and style“.52 Dies, so Novershtern, leiste die Erzählung, „because the style parallels the static nature of its plot, the slow rhythm of its sentences, and the hypnotic repetition of words and phrases“53 , mithin ein Schreibstil, der selbst sehr erfahrene Übersetzer vor besondere Herausforderungen stellt. Zu Bergelsons Innovationen zählen zudem seine Einführung des literarischen Impressionismus in die jiddische Literatur und die komplexe Erzählstimme in Nokh alemen, eine Stimme, die mithilfe von erlebter Rede der Protagonistin Mirel nahesteht, sich aber weiterhin wiederholt von ihr unterscheidet. Mirel selbst ist eine Figur von seltener Komplexität in der Literatur zum Schtetl, eine Figur, deren Bewusstsein samt ihrem Wunsch, den Zweck und Sinn ihres 49 Miron, Dan: The Literary Image of the Shtetl, in: The Image of the Shtetl and Other Studies of Modern Jewish Literary Imagination, Syracuse, NY 2000, S. 43–44, hier S. 39 [Erstdruck in: Jewish Social Studies (New Series) 1/3 (1995), S. 1–43]. 50 Perez, J. L. [Perez, I. L.]: Der Rabbi und der Zaddik. Ein Bild aus dem chassidischen Leben, übers. v. Unbekannt, in: Ost und West 1, 1 (1901), Sp. 41–48. 51 Siehe Zwischen zwei Bergen, in: Perez, Jizchok Leib: Chassidische Geschichten, übers. v. Alexander Eliasberg, Wien und Berlin, 1917, S. 177–193; Zwei Welten, in: Perez, Jizchok Leib: Aus dieser und jener Welt: Jüdische Geschichten, übers. v. Siegfried Schmitz, o. O. 1919, S. 194–205; Zwischen zwei Bergen, in: Perez, Jizchak Leib: Chassidische Erzählungen, übers. v. Ludwig Strauß, Berlin 1936, S. 7–27. 52 Novershtern, Avraham: Dovid Bergelson, übers. v. Marc Caplan, in: The Yivo Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Bergelson_Dovid (letzter Zugriff: 24.01.2019). 53 Ebd.

Neu entdeckt

Lebens zu finden, sie dem Schtetlleben entfremdet, während ihr zugleich die sowohl inneren als auch äußeren Mittel fehlen, die sie benötigte, um aus den Zwängen des Schtetls auszubrechen.54 Eine Schwierigkeit bei der Übersetzung und Vermittlung von Bergelsons Werk ins Deutsche bestand auch darin, dass der Impressionismus wohl nicht mehr als solcher im deutschsprachigen Raum der zwanziger Jahren wirken konnte, nachdem schon vor dem Ersten Weltkrieg Schriftsteller und Dichter wie Detlev von Liliencorn, Arthur Schnitzler (z. B. Der Weg ins Freie, 1908) oder Rainer Maria Rilke (z. B. Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, 1910) mit solchen Stilmitteln und Erzähltechniken gearbeitet hatten.55 Inzwischen waren neue literarische Experimente sowohl in der Lyrik als auch in den Erzählformen aktuell, mit denen man die Lebenswelten der Figuren darzustellen versuchte, wie z. B. im Expressionismus, in der Neuen Sachlichkeit oder im epischen Theater von Brecht. Im Unterschied zu Scholem Asch war Bergelson kein Verfasser von leicht zugänglichen sentimentalen Werken, die ohne weiteres ein breites Publikum ansprechen konnten. Er war viel eher im intellektuellen Milieu zu Hause. Neben den Besonderheiten, die die Übersetzung und Vermittlung der jiddischen Literatur ins Deutsche ohnehin erschwerten, war Bergelsons Eintritt in den deutschen Sprachraum zudem möglicherweise unzeitgemäß. Hieraus erwuchs eine verpasste Gelegenheit genau zu dem Zeitpunkt, als deutschsprachige Vermittler das Bild vom Osten verwandeln wollten. Es handelte sich um eine Gelegenheit, deren Bedeutung darin lag, dass man einer neuen und raffinierten Darstellung des Schtetls begegnen konnte, die, so kritisch sie auch war, von einem Schriftsteller stammte, dessen eigener Ursprung im Schtetl lag. In Verbindung mit Bergelsons auffällig raffinierter Erzähltechnik und seinen komplexen Figuren hätte dies eventuell das Bild von einer intellektuell unfruchtbaren Umwelt, das er selbst dem Schtetl zuschrieb, in Frage gestellt. Anders formuliert: Der Versuch, die jiddische Literatur samt ihrer Darstellung des Schtetls ins Deutsche zu übersetzen, musste sich mit einem zentralen Problem auseinandersetzen, nämlich mit der Tendenz im Westen, auf das Milieu und die daraus entstehenden literarischen und kulturellen Ausdrücke ein Bild des Ostens zu projizieren, das eher in der Fantasie des Westen vorherrschte. Auf verschiedene Weise konnte man versuchen, dieses Bild zu verwandeln, auch durch die Veröffentlichung eines Werks wie Scholem Aschs A shtetl, das rein

54 Ebd. 55 Zum literarischen Impressionismus in der deutschen Prosa siehe z. B. Baßler, Moritz: Deutsche Erzählprosa 1850–1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren, Berlin 2015, S. 176–187. Ich danke Justus Fetscher für diesen Hinweis.

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inhaltlich ein anderes, wenn auch stark idealisiertes Bild präsentierte. Bergelsons Werk fungierte dagegen auf der Ebene der Poetik, und seine Verwandlung des Bildes hing eher davon ab, ob man Bergelsons poetische und intellektuelle Leistung auch als Produkt der ostjüdischen Kultur und bis zu einem gewissen Grad des Schtetls anerkennen wollte. Wie im Bereich der Übersetzungswissenschaft oder „Translation Studies“ (und inzwischen sogar auch „Post-Translation Studies“) wiederholt behauptet, besitzt übersetzte Literatur meist dann die besten Erfolgsmöglichkeiten, wenn das übersetzte Werk etwas in die Zielliteratur und -kultur einführt, was dort als „benötigt“ aufgenommen wird, also eine Innovation bedeutet, eine Lücke ausfüllt oder eventuell eine Neuerung bereitstellt, die ein Dichter in der Zielkultur selbst einführen möchte.56 Im Falle eines Erfolgs kann ein übersetztes Werk neue intellektuell ästhetische Anerkennung gewinnen und den Status der Kultur erhöhen, aus der es stammt, und zwar auch dann, wenn das Werk ein kritisches Bild seines eigenen kulturellen Milieus entwirft. Hält man weniger von der russischen, norwegischen oder österreich-ungarischen Kultur, wenn man die düsteren Darstellungen von Ibsen, Tschechow oder Kafka liest? Oder haben ihre Texte nicht eine eigene Kraft, die eine gewisse Anerkennung für deren Kulturen erweckt? Diese Fragen zu stellen heißt, auf den potenziell positiven Beitrag zum Ort des Jiddischen in der deutschen Kultur zu verweisen, den deutsche Übersetzungen von Bergelsons Werk eventuell leisten konnten, selbst wenn sein Zeitgenosse Scholem Asch ein breiteres Publikum erreichte. Zugleich ist Aschs Bedeutung mit Blick auf die neuen Bilder vom Osten und vom Schtetl, die er eingeführt hat, ebenfalls anzuerkennen.57 Nur indem man am Ende beide Autoren berücksichtigt, kann untersucht werden, ob und wie sich das Bild des Schtetls und das Ansehen des Jiddischen im deutschsprachigen Raum des frühen 20. Jahrhunderts wandelten.

56 Siehe z. B. Genztler, Edwin: Translation and Rewriting in the Age of Post-Translation Studies (New Perspectives in Translation and Interpreting Studies), New York 2017, S. 2–4; Lefevere, André: Translation, Rewriting and the Manipulation of Literary Fame (Translation Studies), New York 1992, S. 38–40; beim Einsatz für seine „Imagist“-Lyrik ist bekannt, dass Ezra Pound behauptete, das Vorbild dafür sei in der alten und etablierten chinesischen Tang-Poesie zu finden. 57 Ein etwas komplizierteres Beispiel eines Werks von Asch auf Deutsch ist das provokative Drama Der got fun nekome (Der Gott der Rache, 1907), dessen Uraufführung von Max Reinhardt noch im Erscheinungsjahr inszeniert wurde. Es handelt von dem Besitzer eines Bordells, der versucht, seine Tochter vor einem Leben als Prostituierte zu retten. Das Drama wurde zu einem Skandal bei Zuschauern von Berlin bis New York; zur deutschen Inszenierung siehe Warnke, Nina: God of Vengeance: The 1907 Controversy over Art and Morality, in: Stahl, Nanette: Sholem Asch Reconsidered, New Haven 2004, S. 63–77, hier S. 63–68.

Stephan Braese

„Alliteration hat im Deutschen etwas Fatales“ Der Übersetzer Wolfgang Hildesheimer

In seinem Nachruf auf den am 21. August 1991 verstorbenen Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer verwies Rolf Michaelis auf jenes erste Buch, mit dem der Künstler sich „in die deutsche Literatur eingeschrieben“1 habe – es war Hildesheimers Übersetzung von Djuna Barnes Nightwood, das für den Kritiker der ZEIT diese paradigmatische Stellung einnahm. Das darf zunächst überraschen im Blick auf das Werk eines Autors, dessen Rang in der Geschichte deutschsprachiger, genauer: europäischer Literatur der Moderne durch die großen Monologtexte Tynset und Masante, die Vergeblichen Aufzeichnungen, den in zahlreiche Sprachen übersetzten Groß-Essay Mozart und die fiktive Biographie Marbot bestimmt scheint. Tatsächlich verwies Michaelis mit dieser Bewertung jedoch auf eine Dimension des Schaffens von Hildesheimer, die bereits 1991 – Jahre, nachdem der Schriftsteller mit dem Schreiben aufgehört hatte –, zusehends aber auch heute in Vergessenheit zu geraten droht: seine kontinuierliche Tätigkeit als Übersetzer literarischer Texte. Zu den von Hildesheimer übersetzten Texten zählen zwar heute kaum mehr bekannte Werke wie Anne Pipers Unterhaltungsroman Jack and Jenny, Frederick Chapmans The Jungle Is Neutral – ein Bericht vom Kriegsschauplatz Malaia im Zweiten Weltkrieg –, einige Erzählungen des Briten Edward Gorey sowie die Bearbeitungen von Dramen William Congreves, Edward Sheridans sowie von Goldoni und Shaw.2 Höhere Anforderungen – so darf man auch aus Hildesheimers eigenen Äußerungen schließen – hatte jedoch eine Reihe anderer Übersetzungen gestellt: die eines Gedichts von Stefan George und der Erzählung „Elf Söhne“ von Franz Kafka – diese vom Deutschen ins Englische – sowie die eines Kapitels aus James Joyces Finnegans Wake und eines kurzen Prosatextes von Samuel Beckett unter dem Titel „As the Story Was Told“.3 In diese Reihe gehört auch das Schlüsselwerk der amerikanischen Schriftstellerin Djuna Barnes, das unter dem Titel Nightwood 1937 ersterschienen war. Der Verleger Günter Neske gab gegenüber Hildesheimer 1958 an, er habe 1 Michaelis, Rolf: Endlich allein, in: DIE ZEIT, 30. August 1991. 2 Vgl. Jehle, Volker: Wolfgang Hildesheimer – Eine Bibliographie, Frankfurt am Main u. a. 1984, S. 116–119. 3 Ebd., S. 116, 118, 119.

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die Rechte des von T. S. Eliot geleiteten Faber & Faber Verlags in London nur unter der Bedingung erhalten, dass Hildesheimer die Übersetzung verfasse; ebenso war Hildesheimer selbst davon überzeugt, dass, wie er Hans Paeschke vom Merkur mitteilte, „wohl in Deutschland ausser mir niemand weiß, wie schwierig sie ist.“4 Tatsächlich besaß Wolfgang Hildesheimer wahrscheinlich wie kein anderer Deutsch-Muttersprachler, der in diesen Jahren im westdeutschen Kulturbetrieb verfügbar war, sowohl die rein sprachliche Expertise als auch ein singuläres, authentisches Nahverhältnis zu jener angelsächsischen Moderne, in deren Kontext Nightwood entstanden und erschienen war.5 Diese Expertise ist jedoch untrennbar von Hildesheimers kultureller Sozialisation im englischsprachigen Raum – einer Sozialisation, deren Hintergrund in dem brachialen historischen Faktum bestand, dass für den deutschen Juden eine – gar gleichberechtigte – Existenz in seinem Heimatland ab 1933 nicht mehr vorgesehen war. England, wo Hildesheimer die Jahre 1937 bis 1939 verbrachte, und Palästina, wo er von 1933 bis 1937 und von 1939 bis 1946 lebte, waren Zufluchtsorte vor Nazi-Deutschland gewesen. Hildesheimers sprachliche – und nicht zu unterschätzende kulturelle – Qualifikation für die Übersetzung von Barnes, Joyce und Beckett fußte auf einer Erfahrung aus dem jüdischen Traditionsraum: der Verfolgung, der Flucht und dem Erfordernis, eine neue, andere Sprache zu erlernen, die der neuen sozialen Umgebung. Sehr zu Recht ist aus der jüdischen Geschichte von Exil und Diaspora wiederholt eine „seither bestehende besondere Affinität jüdischer Lebenswelten zu Fragen der Übersetzung“6 abgelesen worden. Petra Ernst kommt das Verdienst zu, diese besondere, innige Beziehung zwischen Übersetzung und jüdischen Kulturen in den Kontext neuerer und neuester Übersetzungstheorien gerückt und Letztere auf ihre Erträge für ein besseres Verständnis der Texte jüdischer Autoren hin befragt zu haben. Petra Ernsts Aufsatz „Übersetzen und jüdische Kulturen – eine Annäherung“, der den von ihr, Hans-Joachim Hahn, Daniel Hoffmann und Dorothea Salzer herausgegebenen Band trans-lation – trans-nation – trans-formation eröffnet, bildet in diesem Sinn einen Grundlagentext, der die vielfältigen Dimensionen, auch: Optionen des Übersetzens an herausragenden Paradigmen abschreitet und auf ihre Virulenz für das Schreiben von Juden hin mustert. Im Folgenden 4 Vgl. Braese, Stephan: Jenseits der Pässe: Wolfgang Hildesheimer. Eine Biographie, Göttingen 2017, S. 234; zu weiteren Details der Entstehungsgeschichte vgl. auch Kühn, Walter: Vermischte Zustände – Heidegger im literarisch-philosophischen Leben der fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, Würzburg 2015, S. 179–191. 5 Vgl. Braese: Jenseits der Pässe, S. 234. 6 Hans-Joachim Hahn, hier nach Ernst, Petra: Übersetzen und jüdische Kulturen – eine Annäherung, in: Ernst, Petra/Hahn, Hans-Joachim/Hoffmann, Daniel/Salzer, Dorothea M. (Hg.): trans-lation – trans-nation – trans-formation – Übersetzen und jüdische Kulturen, Innsbruck, Wien und Bozen 2012, S. 13–37, hier S. 14.

Der Übersetzer Wolfgang Hildesheimer

sei der Versuch unternommen, den Ort von Wolfgang Hildesheimers Arbeit als Übersetzer im Raum dieser Paradigmen näher zu bestimmen – und durch diese Kontextualisierung ein genaueres Verständnis seiner Übersetzungspraxis zu gewinnen. Exophonie, duale Übersetzungstypologien, ‚kulturelle‘ Übersetzung und die Polysystemtheorie – dies sind die vier übersetzungstheoretischen Ansätze, die Petra Ernst nach ihrer Produktivität in Kontexten befragt, die von den Bedingungen jüdischer Existenz geprägt sind. Exophonie wird dabei – nach Michiko Mae – als eine „spezifische Form literarischen Schreibens, das ‚jenseits einer bestimmten Sprache und Kultur‘ ihre Impulse erhält“,7 bestimmt; aber auch die Definition von Christine Ivanovic wird angeführt, der zufolge Exophonie zu verstehen ist als eine „‚Strategie von Autoren […], die über mehrere Sprachen verfügen und die in ihren Texten ihre Zugehörigkeit zu bestimmten kulturellen Räumen, in deren Sprachen sie sich artikulieren, zu transzendieren versuchen.‘“8 Als markantes Beispiel führt Ernst Elias Canetti an, der etwa den Bericht seiner Kindheit, „die er in verschiedenen Sprachen erlebte“,9 ins Deutsche – und damit „in eine Sprache“10 – gleichsam erst habe übersetzen müssen. Die Voraussetzung einer solchen bereits in der frühen Sozialisation eingeübten Mehrsprachigkeit teilte Hildesheimer nicht. Im Gegenteil: Seine Eltern – der Vater stammte aus einer Familie von Berliner Rabbinern, die Mutter aus einer Hamburger Buchhändlerfamilie – gehörten jenem verbreiteten Milieu deutscher Juden an, das auf mustergültige Beherrschung des Standarddeutschen hohen Wert legte. Die gleichsam historiographische Verdichtung dieses Sachverhalts mag man darin erkennen, dass Hildesheimers Urgroßvater Esriel Hildesheimer, neben Samson Raphael Hirsch geistlicher Führer der deutschen Orthodoxie, bei Isaac Bernays in Hamburg studiert hatte – jenem noch von Heine bewunderten jüdischen Schriftgelehrten, der als erster Rabbiner in Deutschland in deutscher Sprache predigte und an der Hamburger Talmud-Tora-Schule Deutschunterricht erteilen ließ.11 Nicht weniger mag im Urteil von Hildesheimers italienischem Freund Camillo de Piaz, er habe „Deutschland das schönste Deutsch seiner Schriftstellergeneration [ge]schenkt“,12 die – vermeintlich – singuläre Bedeutung nachklingen, die der 7 Ebd., S. 15. 8 Ebd., S. 16. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Vgl. Braese, Stephan: Eine europäische Sprache. Deutsche Sprachkultur von Juden 1760–1930, Göttingen 2010, S. 109 f. 12 Hier zitiert nach der Übersetzung ins Deutsche durch Christa Geitner, vgl. Braese: Jenseits der Pässe, S. 553.

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Kompetenz in dieser Sprache in Hildesheimers Leben zukam. Anderen Sprachen – Latein und Griechisch, Englisch und Französisch – begegnete der junge Hildesheimer nicht anders als seine nichtjüdischen Altersgenossen lediglich in den reduzierten Formaten, die der schulische Unterricht – in seinem Fall der der Odenwaldschule – bereitstellte.13 Die im Elternhaus rege überlieferten Anekdoten vor allem über Esriel Hildesheimer, aber auch die geistliche Tätigkeit des Großvaters Hirsch Hildesheimer, erinnerten gleichwohl fortwährend an die Tradition genuin jüdischer Mehrsprachigkeit, die seit vielen Generationen in der Trias des Hebräischen der Heiligen Schrift, der Sprache der Umgebungsgesellschaft sowie – über lange Zeit – des Jiddischen als Binnensprache der jüdischen Gemeinschaft gründete. Auch wenn dem Jiddischen in Hildesheimers Sozialisation keine Rolle mehr zugefallen war, hatten die Rabbiner unter seinen Vorfahren in besonders prägnanter Weise die kulturelle Tradition des Judentums verkörpert, wonach die Welt, die Gegenwart und die Stellung des Menschen in ihr nie nur im Medium einer einzigen Sprache als begreiflich und erkennbar gedacht worden waren.14 Zu solcher kulturellen Erinnerung an die Bedeutung der Mehrsprachigkeit mag auf den ersten Blick jene Stärkung der Autonomie passen, die die „‚moderne Translationswissenschaft‘“ – Petra Ernst zitiert hier Jekaterina Lebedewa – dem Übersetzer „‚und auch de[m] Dolmetscher‘“ zugesteht, der „‚selbstund verantwortungsbewusst, […] erlöst vom ‚Treuefetisch‘ dem Original dient, ihm aber nicht sklavisch unterliegt‘“.15 Eine solche Auffassung, die Ernst im Zusammenhang der Exophonie anführt, stand ebenfalls in eklatantem Gegensatz zu Hildesheimers eigenen subjektgeschichtlichen Erfahrungen. Als Simultandolmetscher während der Nürnberger Folgeverfahren im Rahmen der Kriegsverbrecherprozesse hatte für Hildesheimer von einer ‚Erlösung vom Treuefetisch der Übersetzung‘ keine Rede sein können. Im Gegenteil: Keiner der Verfahrensbeteiligten hatte sich darüber hinwegtäuschen können, dass von der Genauigkeit der Übersetzung – insbesondere der Aussagen der Angeklagten – Existenzen abhängen konnten, in Verfahren, in denen nicht nur Haft-, sondern auch Todesstrafen verkündet wurden. Folgerichtig hatten die meisten Verteidiger, wie Cornelia Vismann berichtet, „so genannte Sprachspione engagiert, die zwischen den Kanälen der Dolmetscheranlage hin- und herschalteten, um Fehler der Übersetzung rügen zu können.“16 Auch die tägliche akribische 13 Vgl. das Zeugnis, das Hildesheimer durch die Odenwaldschule ausgestellt wurde, in: ebd., S. 58. 14 Vgl. ebd., S. 233. 15 Ernst: Übersetzen und jüdische Kulturen, S. 15. 16 Vismann, Cornelia: Sprachbrüche im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, in: Braese, Stephan (Hg.): Rechenschaften – Juristischer und literarischer Diskurs in der Auseinandersetzung mit den NS-Massenverbrechen, Göttingen 2004, S. 47–66, hier S. 63.

Der Übersetzer Wolfgang Hildesheimer

Kontrolle der Abschriften17 folgte der in Nürnberg undiskutierbaren Sorgfaltspflicht. Natürlich verwechselte Wolfgang Hildesheimer nicht seine literarische Übersetzungstätigkeit der späteren Jahre mit seiner Arbeit als Dolmetscher im Nürnberger Gerichtsgebäude. Doch in Anbetracht der konstitutiven Bedeutung, die der Nürnberger Erfahrung für die Entwicklung seines Hörsinns, für den Status der NS-Ära und ihrer Verbrechen in seiner Wahrnehmung nicht nur der deutschen Gesellschaft und schließlich für seine Poetologie vor allem seit Anfang der 1960er-Jahre zukommt, liegt die Vermutung nahe, dass die drei Jahre fast täglicher Arbeit als Dolmetscher für seine Auffassung von den Zwischenräumen zwischen den Sprachen und von dem gebotenen Umgang des Vermittlers zwischen ihnen ebenfalls prägend waren. Exophonie als Modus, die subjektive Verfügbarkeit über mehrere Sprachen dazu zu nutzen, Bedeutungsräume zwischen und möglicherweise jenseits der Sprachen zu öffnen, war Hildesheimer dabei durchaus vertraut. Die markantesten Beispiele dafür bilden die improvisierten Privat- und Phantasiesprachen in den Briefwechseln etwa mit Peter Ustinov und Wolf Rosenberg.18 Und auch die augenfällige Integration nichtdeutschsprachiger Zitate in Tynset und Masante deuten auf eine Sinnschicht „‚jenseits einer bestimmten Sprache und Kultur‘“,19 deren systematischere Bestimmung noch aussteht. Henrike Walter hat schon vor einiger Zeit auf die Bedeutung „linguistischer Diffusionen und interlingualer Verbindungen“20 wie überhaupt der Suche nach dem „‚richtigen Wort‘“21 für Hildesheimers Poetologie hingewiesen. Doch es hieße, die Herausforderung, die Hildesheimer in seinen konkreten Übersetzungsaufträgen erlebte, zu verkennen, würde man seine Antwort darauf mit einer Haltung identifizieren, die auf die Transzendierung der Zugehörigkeit zu bestimmten kulturellen Räumen zielte.22 In eine sich von der Exophonie deutlich unterscheidende Position rückt Ernst jene dualen Übersetzungstheorien, die auf Gegensatzpaaren beruhen: „Als Stichworte wären in diesem Beziehungsfeld von Ausgangs- und Zieltext 17 Vgl. Braese: Jenseits der Pässe, S. 138. 18 Vgl. Peter Ustinov an Wolfgang Hildesheimer, o. D., in: Hildesheimer, Wolfgang: Briefe, hg. v. Silvia Hildesheimer und Dietmar Pleyer, Frankfurt am Main 1999, S. 61–63, und Wolf Rosenberg an Wolfgang Hildesheimer, o. D., in: Hildesheimer, Wolfgang: „Alles andere steht in meinem Roman“ – Zwölf Briefwechsel, hg. v. Stephan Braese u. a., Berlin 2017, S. 506. Vgl. jetzt auch Blank, Olga: Hildesheimer als Briefautor, in: Braese, Stephan (Hg.): Offene Ordnungen – Zur Aktualität Wolfgang Hildesheimers, Bielefeld 2018, S. 239–252, hier S. 242–247. 19 Ernst: Übersetzen und jüdische Kulturen, S. 15; vgl. auch oben. 20 Henrike, Walter: Schreiben in Zwischen-Räumen. Wolfgang Hildesheimers Prosa im Spiegel von Migration und Akkulturation, in: Exil 26/2006, 1, S. 71–93, hier S. 74. 21 Ebd., S. 79. 22 Vgl. Ernst: Übersetzen und jüdische Kulturen, S. 16, und oben.

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– gemessen am ‚Verhalten [der Übersetzung] zur Fremdheit des Originals‘ – zu nennen: Sinn versus Wort […], treu versus frei, Leser-orientiert versus Text-orientiert […], philologisch versus poetisch, dokumentarisch versus transponierend […]“23 u. a. In welch hohem Maß das Treue-Ideal gegenüber dem Original für Hildesheimer verpflichtend war, legen – ungeachtet der bereits gemutmaßten Bedeutung seiner Nürnberger Dolmetscher-Jahre – vor allem sein umfangreicher Briefwechsel mit Djuna Barnes, aber auch seine diskursiven Äußerungen zu Übersetzungsfragen offen – so seine Ausführungen in dem wichtigen Aufsatz „Übersetzung und Interpretation einer Passage aus ‚Finnegans Wake‘ von James Joyce“ von 1969 sowie sein 1985 an der Universität Lausanne gehaltener Vortrag „Der Autor als Übersetzer. Der übersetzte Autor“.24 Die dieser Tage in signifikanten Auszügen veröffentliche Korrespondenz mit Barnes dokumentiert nicht nur die superlative Wertschätzung von Nightwood durch Hildesheimer – „(which I more and more believe to be the greatest work of fiction of this century)“25 –, sondern vor allem in zahlreichen, oftmals gelisteten Nachfragen nach der Bedeutung einzelner Worte und Wendungen das unersättlich scheinende Begehren, die jeweils von der Verfasserin intendierte Bedeutung so exakt wie möglich zu kennen – um sie in seiner Übersetzung berücksichtigen zu können. Gerade sein in Lausanne geäußertes Bekenntnis, sich zur Übersetzung nur dann in der Lage zu fühlen, wenn er das fragliche Buch „gern selbst geschrieben hätte“,26 deutet gerade nicht auf die Selbstlegitimation einer Lizenz zur Freiheit, eines besonderen Spielraums poetischer Autonomie auf Seiten des Übersetzers. Im Gegenteil: Gerade in dem Maß, in dem das Original den Übersetzer daran gemahnt, dass nicht er sein Urheber gewesen war – wohl auch stets: nicht hatte sein können –, erhärtet sich für Hildesheimer das Gebot an ihn als Übersetzer, so wenig wie möglich von sich selbst in das Translat einzubringen. Wenn für Hildesheimer die ideale Übersetzung darin besteht, dass der Übersetzer hinter dem Autor „tatsächlich verschwindet, im Wissen, dass ihm seine Arbeit dann gelungen ist, wenn der Leser weder seine Leistung noch seine Existenz zur Kenntnis nimmt“27 – und 23 Ebd., S. 17f. 24 Hildesheimer, Wolfgang: Übersetzung und Interpretation einer Passage aus ‚Finnegans Wake‘ von James Joyce, in: Ders.: Interpretationen – James Joyce, Georg Büchner. Zwei Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt am Main 1969, S. 5–29; Hildesheimer, Wolfgang: Der Autor als Übersetzer. Der übersetzte Autor, in: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Bd. VII: Vermischte Schriften, hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbrig und Volker Jehle, Frankfurt am Main 1991, S. 211–217. 25 Wolfgang Hildesheimer an Djuna Barnes, 7. März 1959, in: Hildesheimer: Zwölf Briefwechsel, S. 138. 26 Hildesheimer: Der Autor als Übersetzer, S. 215. 27 Ebd., S. 217.

Der Übersetzer Wolfgang Hildesheimer

zwar jener Leser, der Ausgangs- und Zielsprache gleichermaßen beherrscht –, dann wird deutlich, in welch hohem Maß für ihn die Treue zum Original verbindlich war und wie reserviert er eine ‚Autonomie‘ des Übersetzers bewertete. Selbst die Autonomie, sich seinen zu übersetzenden Text zu wählen, sieht er noch eingeschränkt, gleichsam diktiert durch „Empathie und Affinität“28 zu Werk und Autor, nicht zu reden von Hildesheimers Überzeugung, dass man ausschließlich „aus Sprachen übersetzen“ sollte, „die man so beherrscht wie die eigene“.29 Durchaus kritisch klingt seine nachträgliche Einschätzung seiner Kafka-Übersetzung von 1946, wenn er im Lausanner Vortrag knapp drei Jahrzehnte später anmerkt, er habe sie unternommen, als er „jung, sorglos und vermessen“30 gewesen sei. Unvergessen ist ihm aber die an diese Übersetzung geknüpfte Erfahrung geblieben, dass man „eben ein Buch nicht [kennt], wenn man es nicht übersetzt hat. […] da haben sich auch ungeheuerliche Dinge mitgeteilt“.31 Die letzten Bemerkungen machen offenkundig, dass Hildesheimer in seinem Begehren, dem Original so nah als irgend möglich zu kommen, die eigene Subjektposition nie vergaß. Das mag eher seiner Erfahrung mit der Psychoanalyse – bereits 1940/41 in Jerusalem bei Margarete Brandt – als einer systematischen Auseinandersetzung mit Übersetzungstheorien geschuldet gewesen sein. Diese Akzentuierung der Position des Übersetzers gewinnt Bedeutung im Kontext von Bachtins Modell der Dialogizität, das Ernst im Raum der dualen Übersetzungstheorien ansiedelt, erwachse doch – dabei zitiert sie zustimmend eine Feststellung Rolf Kloepfers – „‚Sinn im Zwischenraum der menschlichen Dyade‘“32 – hier also jener zwischen Autor und Übersetzer. In einer Anmerkung fügt Ernst den Hinweis an, in welchem Maß die Semantik verschiedener Sprachen „die immanente Unmöglichkeit identitärer Übereinstimmung von Ausgangsund Zieltext“ andeutet: „Vgl. z. B. das Wort ‚trans-lation‘ im Englischen, das durch das Präfix ‚trans‘ bereits eine Verschiebung anzeigt. Das englische Wort für Dolmetscher, ‚inter-preter‘, verweist wiederum auf die Deutungshoheit, die der Übersetzer als Mittler, als ‚Figur des Zwischenraums‘ innehat. Ähnliches gilt für das Deutsche, Italienische, Spanische etc.“33 Von diesem Sachverhalt besaß Hildesheimer das genaueste Bewusstsein, war er doch auch ganz jenseits

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Ebd., S. 215. Ebd., S. 214. Ebd., S. 215. Wolfgang Hildesheimer im Gespräch mit Dierk Rodewald, in: Rodewald, Dierk: Über Wolfgang Hildesheimer, Frankfurt am Main 1971, S. 141–161, hier S. 160. 32 Ernst: Übersetzen und jüdische Kulturen, S. 19. 33 Ebd., S. 35.

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der Problemstellungen des Übersetzens davon überzeugt, „daß nur durch Intersubjektivität ein objektives Bild des Gegenstandes entstehen kann“.34 Das Walten des Übersetzers in einem Zwischenraum und seine dadurch unweigerlich eingebrachte Subjektivität konkretisiert er am Beispiel einer Übersetzung des Deutschen ins Italienische: „Wie ich es sehe, kann eine deutsch-italienische Übersetzung nur in Annäherungswerten unternommen und gemessen werden, weil die semantischen Bezugspunkte nicht übereinstimmen. Wir haben, sozusagen, zwei Raster verschiedener Dichte, so daß sich punktuelle Übereinstimmungen nur zyklisch und daher scheinbar zufällig ergeben, da meist die Wörter der einen zwischen die der anderen Sprache fallen, und der Übersetzer sich entscheiden muß, nach welcher Richtung er den Begriff ausdehnen will.“35 Der „seit den 1990er Jahren expandierende Kulturbegriff “36 hat auch zu einer Erweiterung des Begriffs der Übersetzung geführt – etwa in jenen Ansätzen, die in Übersetzungen von einer Sprache in die andere die an sie geknüpften kulturellen Transferprozesse nicht nur mitzulesen, sondern als ihren archimedischen Punkt, zuweilen auch als ihre zentrale Leistung zu erkennen versuchen. In einer solchen Perspektive sind zahlreiche Zeugnisse auch aus der deutschsprachig-jüdischen Literatur – die Ghetto-Geschichten sind hierfür vielleicht ein besonders prägnantes Beispiel – stets auch lesbar als Übersetzungen aus dem lebensweltlichen und kulturellen Traditionsraum von Juden in Mittelund Ostmitteleuropa in die säkulare Gegenwart insbesondere von Nichtjuden, aber auch Juden in der sich beschleunigenden Moderne des 19. Jahrhunderts. Aber auch die Schwierigkeiten, die die Mitteilung der Erfahrungen von Flüchtlingen, Exilanten, Displaced Persons und Holocaust-Überlebenden aufwerfen, „könn(t)en“, wie Ernst unter Bezug auf Beiträge von Stefanie Leuenberger und Primus-Heinz Kucher schreibt, „unter Berücksichtigung übersetzungstheoretischer Ansätze in einem anderen Licht als bisher betrachtet werden.“37 Der hier angedeutete Begriff einer kulturellen Übersetzung ist durchaus auf Hildesheimers Übersetzungsarbeit anwendbar – als eine der in der deutschen Nachkriegskultur wahrscheinlich entwickeltsten Bemühungen, die angelsächsische Moderne einer Barnes, eines Joyce und eines Beckett – einschließlich der in ihr mitgeteilten „Nacht um uns und in uns“38 – in eine deutschsprachige Welt ‚kulturell zu übersetzen‘, die zwölf intensive Jahre lang abgeschnitten gewesen war von jenen kulturellen Entwicklungen, die insbesondere die westliche 34 Hildesheimer, Wolfgang: Die Subjektivität des Biographen, in: Ders.: Das Ende der Fiktionen. Reden aus fünfundzwanzig Jahren, Frankfurt am Main 1988, S. 123–138, hier S. 136. 35 Hildesheimer: Der Autor als Übersetzer, S. 211. 36 Ernst: Übersetzen und jüdische Kulturen, S. 21. 37 Ebd., S. 22. 38 Hildesheimer, Wolfgang: Nachwort, in: Barnes, Djuna: Nightwood. Deutsch von Wolfgang Hildesheimer, Frankfurt am Main 1985, S. 188–192, hier S. 191.

Der Übersetzer Wolfgang Hildesheimer

Welt unterdessen durchlaufen hatte. Wie hochgradig kulturell aufgeladen die Differenz zwischen dem Englisch von Joyce und Beckett auf der einen Seite und dem Deutsch der unmittelbaren Nach-Nazi-Ära auf der anderen Seite war, mag kaum jemand besser gewusst haben als Wolfgang Hildesheimer, der zum Zeitpunkt der Entstehung wichtiger ihrer Werke in ihrem Sprachraum gelebt hatte, aber wenig später auch das Deutsch der Tätergesellschaft und ihrer zahllosen Mitläufer auf das Akribischste im Gerichtssaal, aber auch in seinem Alltag in Bayern hatte kennenlernen müssen. Seine Kenntnis dieser Differenz in Rechnung gestellt, mag womöglich erst der historische Rang – aber auch das Ethos – von Hildesheimers kontinuierlichen Versuchen erkennbar werden, das deutsche Publikum an das literarisch erarbeitete Reflexionsniveau im übrigen Europa wieder anzuschließen. In welch hohem Maß, gleichsam auf Schritt und Tritt, im Arbeitsgang des Übersetzens unweigerlich oftmals hoch virulente, zugleich komplexe kulturelle Implikationen begegneten, legen Hildesheimers überlieferte Kommentare zu seinen Übersetzungen offen. Bei der Arbeit an der Übersetzung aus dem Anna-Livia-Plurabelle-Kapitel aus Finnegans Wake fällt ihm etwa auf, dass die spezifische Klangstruktur dieses Textes wesentlich auf Alliterationen beruhe. Hildesheimer muss aber feststellen: „Alliteration hat im Deutschen etwas Fatales. Als Richard Wagners unseliges Erbe wirkt sie, vor allem in der Akkumulation, nicht selten komisch.“39 Umfassender noch stellt sich für seine Übersetzungsarbeit der „Umstand“ dar, „daß Deutsch die Sprache der abstrakten Begriffe ist“, bringe er doch, so der erfahrene Übersetzer, auch eine gewisse Willkür des Gebrauchs mit sich, der einem, dauernd latenten, Walten des ‚Nicht-zu-Ende-Gedachten‘ Vorschub leistet, einen Jargon der ‚Eigentlichkeit‘, wie Adorno es nannte, in dem die Nebelhaftigkeit, die Ungefährheit des Gedankens nur allmählich zu erkennen gibt, daß es sich um einen solchen gar nicht handelt. […] In diesen verschwommenen Bereichen entsteht dann, vor allem wenn es sich um Liebe und ihre Grenzgebiete handelt, ein gewisser Herzenston, eine gedämpfte Stimme schlichter Erhabenheit, die das kollektive Innenleben erreichen soll und in der Tiefe der Empfindung alle Menschen zu Brüdern machen will. Übersetzung dieses Tones in andere Sprachen ist nicht möglich, so daß dieserart Literatur durch Übersetzung nur gewinnen kann.40

Die Ironie dieser Zeilen kann über das zentrale Problem nicht hinwegtäuschen, dem sich Hildesheimer in seinen bedeutenden Übertragungen ausgesetzt 39 Hildesheimer: Übersetzung, S. 22. 40 Hildesheimer: Der Autor als Übersetzer, S. 216.

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sah: dass die – gerade auch dem Treue-Ideal verpflichtete – Übersetzung stets auch die Aufgabe einer kulturellen Übersetzung in sich barg. Dieser Aufgabe lag nicht nur die Differenz der kulturellen Räume zugrunde, die jede Sprache um sich bildet und tradiert; sie war verstärkt worden durch eine radikale Kulturpolitik, die die traditionellen Austauschbeziehungen zwischen Sprachen und Kulturen stillzustellen, zumindest jedoch einer totalen Kontrolle zu unterwerfen versucht hatte – mit allen Mitteln, die die technische und die Verwaltungsmoderne zur Verfügung gestellt hatte. Gegen Ende ihres Aufsatzes skizziert Ernst die von Itamar Even-Zohar eröffnete Polysystemtheorie, die der Übersetzung eine große Eigenständigkeit innerhalb eines komplexen literarischen Systems zuspricht. Ernst nennt – unter Hinweis auf eine Untersuchung Jeffrey Grossmans – Martin Bubers „populäre Nachdichtungen“ der chassidischen Erzählungen, die „auf ein Problem in der deutsch-jüdischen Kultur jener Zeit“ geantwortet hätten. Eine rational-liberale Orientierung hätte für viele Juden nicht mehr ihren Bedürfnissen entsprochen, andererseits entlehnte Buber der wieder neu entdeckten Mystik des Mittelalters eine Form, „die es möglich machte, die Werke den deutsch-jüdischen Lesern als zugleich fremd und vertraut, unetabliert und dennoch wertvoll darzustellen.“41

Einen konstitutiven Unterschied zur kulturellen Übersetzung darf man darin erkennen, dass dieser Ansatz sich deutlich programmatischer – so Ernst – „von der letztlich nie erreichbaren ‚Äquivalenz‘ der Übersetzung abwendet“.42 Wie bereits ausgeführt, steht eine solche, genauer: wohl jede Abwendung von dem Ziel, eine wie auch immer zu erarbeitende Nähe zum Ausgangstext herzustellen, im Gegensatz zu Hildesheimers Übersetzungsarbeit. Ein genauerer Blick zeigt, dass gerade die fortdauernd wirksame Verpflichtung auf die Äquivalenz eine enorme, spezifische Produktivität in Hildesheimers Übertragungen entfaltet hat. Das vielleicht markanteste Beispiel dafür bildet ein Projekt im Kontext seiner „Anna Livia Plurabelle“-Übersetzung. In den Ausführungen zu seiner Übersetzung legt Hildesheimer dar, dass er im Kontinuum des Originaltextes die Stimmen zweier Wäscherinnen am Fluss Liffey wahrnimmt, die sich über die Gerüchte um Humphrey Chimpden Earwicker drehen. Eine weitere Stimme lasse, so Hildesheimer, „Mythos, Bibel, Sage und Geschichte anklingen“, eine vierte travestiere „Sprichwörter und Redensarten (in unserer Passage aus vier Sprachen), fromme Sprüche und Heiratsformeln“.43 „All dies“, 41 Ernst: Übersetzen und jüdische Kulturen, S. 25. 42 Ebd. 43 Vgl. Hildesheimer: Übersetzung, S. 25.

Der Übersetzer Wolfgang Hildesheimer

so Hildesheimer, „ist einzeilig in einer einzigen Stimme eingefangen, die unaufhörlich Mehrschichtiges zu artikulieren und Mehrdeutiges zu formulieren hat.“44 Zugleich zeigt Hildesheimer auf, in welch hohem Maß „Klangwerte“45 sowie „Euphonie und Rhythmus“46 den Joyce-Text prägen, überhaupt „Laut und Inhalt […] nicht voneinander zu trennen […], Sprache und Gegenstand, der Laut und sein Sinn identisch“47 seien. Diese besondere doppelte Beschaffenheit aus Simultaneität und Klang mündet für den Übersetzer Hildesheimer in das Projekt einer akustischen Umsetzung. Seinem Verleger Siegfried Unseld gegenüber hat Hildesheimer den Sachverhalt in folgenden Worten dargestellt: Je mehr man sich nämlich mit ALP beschäftigt, desto vielfältiger erschliesst sich der Text, die Themenkreise werden immer größer und damit natürlich auch die Qual der Wortwahl für das Ein-Spur-System der Übersetzung. Ich könnte nämlich heute schon von etwa der Hälfte des Textes eine Alternativ-Übersetzung herstellen, die genau so richtig ist wie die erste. Dennoch, ich versuche natürlich, so viel wie möglich einzufangen. Aber wirklich wiedergeben kann man das Ganze natürlich nur in einer Hörversion, in der alle Allusionen und abgewandelten Zitate, die Namen und Übersetzungen als Hintergrundstimmen echohaft mit- oder vielmehr nachschwingen. Visuell wäre das eine Partitur. Auf diese Weise würde sich dem Hörer / Leser, ideal gesehen, tatsächlich der Gesamte [sic] Text erschliessen können.48

Auch gegenüber seinem englischen Freund Christopher Holme, der in der BBC wirkte, entwarf er diese Idee: [to] divide up the two main speaking voices of the chapter and underlay a chorus of background voices, echoing the main drift but changing the words into all the other words contained and their various meanings and allusions. […] it will make the understanding of this particular chapter very much easier as it will make all the voices contained in this one-system-score audible.49

44 45 46 47 48

Ebd., S. 14. Ebd., S. 26. Ebd., S. 20. Ebd., S. 11. Wolfgang Hildesheimer an Siegfried Unseld, 5. Januar 1970, Deutsches Literaturarchiv Marbach; SUA: Suhrkamp / 01 Verlagsleitung / Autorenkonvolut / Hildesheimer. Ich danke dem Suhrkamp Verlag für die Abdruckerlaubnis. 49 Zitiert nach Braese: Jenseits der Pässe, S. 358.

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Mit der für Hildesheimer charakteristischen Selbstironie, die jedoch keine Einschränkung seiner Emphase für das vorgestellte Projekt bedeutete, nannte er dies Unternehmen „a radio play to end all radio plays“.50 Das Unseld vorgeschlagene Medienensemble sollte nicht nur eine entsprechende Schallplatte enthalten, sondern zugleich ein Buch, das den englischen Text, die Partitur einer englischen Hörversion, die Partitur einer deutschen Hörversion unter Berücksichtigung sowohl von Hildesheimers Übersetzungen als auch von denen anderer Joyce-Übersetzer sowie eine nach Zeilen angeordnete Entschlüsselung von Fritz Senn und Hildesheimer umfassen sollte. – Zwar bekundete Unseld Interesse, doch das Projekt blieb unverwirklicht.51 So skurril und ‚marktfern‘ dieses ehrgeizige Projekt auf den ersten Blick anmuten mag, so sehr verdeutlicht es jedoch zweierlei: zum einen, in welchem Maß Reichtum und Komplexität des Ausgangstextes für Hildesheimer nichts Geringeres als die Autorität eines Diktates annahm, das ‚übliche‘ Übersetzungsroutinen überschrieb; zum anderen Hildesheimers fortgesetzte Arbeit an einer Überschreitung der Gattungsgrenzen, schließlich einer Verschmelzung der Gattungssprachen, der eine konstitutive Funktion in seinem Schaffen insgesamt zukommt.52 Wenn Petra Ernst in ihrer Betrachtung des Theaterzettels in Karl Emil Franzos’ Pojaz von „verschiedenen Schriftsystemen“53 spricht – in Anspielung auf das Hochdeutsche und das Jiddische –, so ist an Hildesheimers unverwirklichtem ALP-Projekt ablesbar, wie die intensive Auseinandersetzung mit – vielleicht präziser: das radikale Sich-Aussetzen gegenüber – dem Ausgangstext nicht nur Routinen des Ausdrucks und der Sprachen, sondern selbst der Gattungen und der Aufschreibesysteme zu sprengen droht. Hildesheimers Übersetzungsarbeit führte in diesem Sinn ins Offene. „Übersetzen“, so Petra Ernst, „gleichgültig, ob als linguistischer, skripturaler, performativer und/oder kultureller Akt gedacht, stellt […] immer eine vermittelnde Handlung dar und nicht nur einen Transport oder Transfer von einer Seite auf die andere.“54 Hildesheimers Arbeit als Übersetzer ist tief geprägt von diesem Bewusstsein – und zugleich dialektisch geknüpft an die TreueVerpflichtung: Denn gerade in der fortwährenden und niemals gänzlich erfolgreichen Anstrengung der Äquivalenz erfährt sich der Übersetzer als jener „inter-preter“, der, indem er unweigerlich immer ein anderer als der Urheber 50 Ebd. 51 Vgl. ebd., S. 359. 52 Die Beobachtung dieses Aspekts der künstlerischen Arbeit von Hildesheimer durchzieht Braese: Jenseits der Pässe. 53 Ernst: Übersetzen und jüdische Kulturen, S. 28. 54 Ebd., S. 26.

Der Übersetzer Wolfgang Hildesheimer

bleiben wird, notwendig seine Subjektgeschichte einbringt. An dieser Konstellation ist, als struktureller, zunächst nichts exklusiv ‚jüdisch‘. In der historisch konkreten Anordnung, in der Hildesheimers Übersetzungen stehen, geben sich hingegen grundlegende Dispositive zu erkennen, die untrennbar sind von seiner Subjektgeschichte als ein jüdischer Schriftsteller aus Deutschland: jüdisches Traditionswissen um die kategoriale Bedeutung der Mehrsprachigkeit; die Erfahrung des Exils in nichtdeutschsprachiger Umgebung; die exzeptionelle Einsicht in die Deformationen deutscher Sprachlichkeit – und damit in eine entscheidende Bedingung der Übersetzung –, die die Arbeit in Nürnberg eröffnet hatte. Womöglich lässt sich eine letzte Schärfung von Hildesheimers Übersetzungsarbeit als kulturelle Arbeit in Deutschland im Blick auf die große paradigmatische Übersetzung in der deutschsprachig-jüdischen Kulturgeschichte gewinnen: auf Mendelssohns Pentateuch-Übersetzung. Mendelssohn und seine Mitarbeiter zielten mit ihrem Projekt darauf, Juden, die sich unter der Bedingung des Exils vom Hebräischen entfernt hatten, durch die Übersetzung ins Standarddeutsche wieder an die zentralen Glaubenswahrheiten heranzuführen. Rund 180 Jahre später gibt es für Wolfgang Hildesheimer keine Glaubenswahrheiten mehr, an ihre Stelle ist vielmehr das „Generalthema“ gerückt, das er im Zentrum der Werke von Djuna Barnes, James Joyce und Samuel Beckett aufgefunden hat: „die Nacht um uns und in uns“.55 So verschieden die Welten waren, aus denen heraus und in denen beide Übersetzer sprachen, so teilten sie ein gemeinsames Ziel: ihre Leserschaft in die Unmittelbarkeit einer Textbegegnung zu führen, die an die Grundlagen ihrer Existenz rührte. Dazu gab es aus Sicht beider Übersetzer – 1780 wie 1959 – keine Alternative mehr.

55 Hildesheimer: Nachwort, S. 191; vgl. auch oben.

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Räume, Landschaften, Kriegsschauplätze

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Was hat Gymnasium mit Krieg zu tun? Ausgewählte Motive bei Soma Morgenstern

1.

Soma Morgenstern und seine Raumbezüge

Petra Ernst, die wir schmerzlich vermissen, hat sich intensiv mit dem Thema der deutsch-jüdischen Kultur in Zentraleuropa beschäftigt. Einer ihrer Vertreter war der 1890 in der heutigen Westukraine geborene und 1976 in New York verstorbene Soma Morgenstern. Er ist in mehrfacher Hinsicht ein exemplarischer und doch einzigartiger Vertreter dieser Kultur, exemplarisch als Exilant, als Grenzen-Überschreiter, polyglott und vielseitig gebildet, dabei vielleicht ungewöhnlich in der Mischung aus stark linker Weltanschauung und chassidisch-konservativer Geisteshaltung, in seiner tiefen und nie verleugneten Bindung an das rabbinisch geprägte Judentum. Kaum einer hat so faszinierend über Alban Berg geschrieben und die atemberaubende „neue“ Musik verehrt, kaum einer war Joseph Roth näher, kaum einer schrieb in eindringlicherer Sprache über die religiöse Tiefe der Shoah. Morgenstern erweckte die Orte seines Lebens auf großartige Weise zum Leben. Dabei bediente er unterschiedliche Genres. Einmal erinnerte er in autobiografischer Weise sowohl an seine Jugend in Ostgalizien1 als auch an seine Fluchterfahrung2 . Beide Texte sind nicht im strengen Sinne Autobiografien, sondern nähern sich in Romanform den Geschehnissen an. In seiner großen Trilogie mit dem Titel Funken im Abgrund 3 beschreibt Morgenstern eine Zeit des Umbruchs in Ostgalizien, macht die sozialen, kul-

1 Morgenstern, Soma: In einer anderen Zeit. Jugendjahre in Ostgalizien, Lüneburg 1995. 2 Morgenstern, Soma: Flucht in Frankreich, Lüneburg 1998. 3 Morgenstern, Soma: Der Sohn des verlorenen Sohnes. 1. Teil von Funken im Abgrund, Lüneburg 1999 (FiA I); Idyll im Exil. 2. Teil von Funken im Abgrund, Lüneburg 1999 (FiA II); Das Vermächtnis des verlorenen Sohnes. 3. Teil von Funken im Abgrund, Lüneburg 1999 (FiA III).

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turellen, religiösen Räume anschaulich.4 In Die Blutsäule5 nähert er sich der Shoah in einer Mischung aus Midrasch, Roman, fantastischer Erzählung an. Während die Trilogie neben Wien vor allem in der räumlichen Umgebung der Jugendjahre von Soma Morgenstern spielt, verortet er die Blutsäule an einem nicht näher genannten Grenzort am Fluss Seret.6 Damit spielt er zwar auch an die Orte seiner Jugend an, lässt jedoch die genauere Zuordnung bewusst offen. In seinem letzten, unvollendeten Roman Der Tod ist ein Flop7 begibt sich Morgenstern auf eine Reise in das fiktive Land Edenia, eine paradiesische Insel, die der Zeit, dem Altern und Sterben trotzt. Als Judaist nähere ich mich Soma Morgenstern vor allem unter Bezugnahme auf die bei ihm umfassend aufgenommene jüdische Traditionsliteratur von der Bibel bis zum Chassidismus und auch darüber hinaus an. Hier haben Räume eine ganz spezifische Notation, auf die ich in der Folge kurz eingehen möchte, wobei ich nur wenige Aspekte aufgreife. In den FiA I heißt es auf Seite 86: Das ist ja das Komische, Onkel! Ich kann natürlich nicht Jiddisch, und meine Großmutter würde sich sonst auch schön bedanken, daß ihr Enkel Jiddisch können sollte. Wo denkst du hin, Onkel! Aber mit den Westjuden und den Ostjuden verhält sich die Sache nach meinen geringen Erfahrungen etwa so: Für einen Krakauer Juden ist der Lemberger ein Ostjude. Für den Mährisch-Ostrauer ist es der Krakauer. Dem Wiener Juden gilt der Mährisch-Ostrauer selbstverständlich als ein Ostjude. Und für den Berliner ist gar schon der Wiener ein Ostjude. Man darf annehmen, daß der Pariser Jude den Berliner für einen Ostjuden hält. Weiter geht das Spiel nicht. Von dem Pariser kann keiner mehr westwärts abrücken. Da ist schon bald der Ozean, und mit dem Ozean sind die Juden seit jeher vorsichtig.8

Morgenstern spielt hier ironisch mit dem Begriff des Ostjuden, der in seiner ganzen Brüchigkeit und Problematik erkannt wird. 4 Zu den galizischen Raumbezügen ist auf einen Artikel von Larissa Cybenko zu verweisen. Sie beschreibt darin „Ostgalizien als Natur-, Kultur- und Sozialraum der erzählten Welt“; Cybenko, Larissa: Ostgalizien als Natur-, Kultur- und Sozialraum der erzählten Welt, in: Lajarrige, Jacques (Hg.): Soma Morgenstern – Von Galizien ins amerikanische Exil / Soma Morgenstern – De la Galicie à l’éxil américain, Berlin 2015, S. 111–148. Die unterschiedlichen Raumkonzepte bei Soma Morgenstern werden von Cybenko sehr anschaulich unter Zuhilfenahme theoretischer Modelle aufgearbeitet. 5 Morgenstern, Soma: Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth, Lüneburg 1997. 6 Ebd., S. 19. 7 Soma, Morgenstern: Der Tod ist ein Flop, Lüneburg 1999. 8 FiA I, S. 86.

Was hat Gymnasium mit Krieg zu tun?

Auch an anderen Stellen wird mit Humor Geschichte beschrieben und auf ein Standardmotiv verwiesen. So unternimmt der wichtige Bedienstete der Familie, Jankel, während des Wien-Aufenthalts der Familie Mohylewski im Jahr 1929 einen Ausflug durch die große Stadt. „Fahren wir an der kaiserlichen Hofburg vorbei“, heißt es da, und danach: „Jankel bedauerte, nicht rechtzeitig daran gedacht zu haben, denn wie alle bärtigen Juden war auch Jankel kaisertreu und die Stadt Wien war für ihn immer die Kaiserstadt“.9 Danach fährt er die Mariahilferstraße ab, die größte Straße Wiens, und landet schließlich in Schönbrunn. „Es ist nur in Ordnung, dachte Jankel, wenn das Schloß des Kaisers finster ist. Kein Kaiser, kein Licht“.10 Die Mariahilferstraße, über deren Länge sich Jankel wundert, denn welchen Sinn sollte es haben, dass eine so lange Straße nur einen Namen trägt, spielt hier die Rolle eines Erinnerungsträgers. Sie symbolisiert geradezu das eine Reich, zu dem auch einst Jankels kleiner und überschaubarer Herkunftsort in Ostgalizien gehörte. In der Mariahilferstraße, die noch nicht in kleine Straßen zerschlagen wurde, ist etwas von der Größe des Kaiserreiches spürbar. Nicht zufällig ist es genau dieser Weg die Mariahilferstraße und an Schönbrunn vorbei, den Soma Morgenstern in seinen eigenen Erinnerungen an seine lange Zeit in Wien besonders herausstreicht. Hier fuhr seinerzeit der 59er, eine Straßenbahnlinie. Er kommt von Speising über Alt-Hietzing um im weiteren Lauf, schon im Begriffe, an dem Prunkstück der Habsburger, an dem Schloß von Schönbrunn vorbeizurollen, macht er fast in geradem Winkel ein Knie, um gleich an der ersten Straße haltzumachen und so die kürzeste direkte Verbindung zwischen Penzing und Innerer Stadt herzustellen. Diesem Nanafuchziger habe ich viele Bekanntschaften zu verdanken,11

schreibt Morgenstern selbst. Heute fährt dort zumindest teilweise die Linie 60. Neben Orten wie Dobropolje – sein eigentlicher Heimatort –, Wien oder New York spielen Plätze, Felder, Wiesen, Landschaften, Straßen etc. eine große Rolle, oder auch Orte wie die Synagoge oder das Gymnasium. Ich möchte Letzteres exemplarisch herausgreifen und in der Folge etwas genauer ausführen.

9 Ebd., S. 163. 10 Ebd., S. 164. 11 Morgenstern, Soma: Alban Berg und seine Idole. Erinnerungen und Briefe, Lüneburg 2009, S. 42.

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2.

Gymnasium, Uniform

Das Gymnasium spielte bei Morgenstern eine spezifische Rolle im jüdischen Kontext, war es doch im Rahmen der traditionellen chassidischen Bildung nicht unbedingt vorgesehen, den Weg des weltlichen Wissens einzuschlagen. Auch Soma Morgensterns Vater wollte als talmudisch gebildeter Chassid von einer nichtjüdischen Bildung über die Volksschule hinaus nichts wissen. Allerdings ermutigte er seine Kinder, Deutsch zu lernen. Mit starker Hilfe durch seine Mutter bestand Salomo heimlich eine Aufnahmeprüfung für das Gymnasium. Sein Vater gab nach und ließ den Traum seines Sohnes in Erfüllung gehen. Morgenstern wurde 1904 Schüler eines Gymnasiums in Tarnopol, das im Übrigen wie Brody eine Hochburg der jüdischen Aufklärung war. Diese Gymnasialzeit war für ihn ungemein prägend. Morgenstern wurde Mitglied einer zionistischen Gruppe, lernte Griechisch, Latein, Englisch und Französisch, spielte Cello im Schulorchester, interessierte sich für Literatur und Theater. Eine Aufführung des polnischen Versdramas Sędziowie (Die Richter) von Stanisław Wyspiański übte solche Faszination auf ihn aus, dass er später in Wien eine Übersetzung ins Deutsche anfertigte. In der Gymnasialzeit spielten einige Professoren eine wichtige Rolle für ihn, darunter Arian Heilpern, der polnische Literatur unterrichtete. Morgenstern nutzte seine Privatbibliothek. Manche Bücher, die sich darin befanden, übten eine starke Wirkung auf Morgenstern aus, darunter Kraft und Stoff von Ludwig Büchner, Geschichte des Materialismus von Albert Lange und Wilhelm Wundts Einleitung in die Philosophie. Diese Texte, aber auch der Kontakt mit dem nichtjüdischen Milieu und die säkulare Bildung führten zu einer religiösen Krise. Auch der Tod seines Vaters an einem Jom Kippur infolge eines Reitunfalls stürzte ihn in eine Krise, von der er sich nur langsam erholte und nach der er erst allmählich seinen Glauben wiederfand. In Morgensterns Romanen wird das Gymnasium zur Stätte der Bedrohung der jüdischen Identität oder besser der Herausforderung derselben. An dieser Stelle sei erwähnt, dass der aschkenasische Oberrabbiner Palästinas und bedeutende orthodoxe Denker Abraham Isaak Kook (1865–1935), den Morgenstern in Der Tod ist ein Flop mit großer Sympathie zitiert, ein entschiedener Gegner des Gymnasiums war und dessen Erziehung mit den Gefahren verglich, die dem Judentum durch die Missionare drohe. So spielt denn auch bei Morgenstern die Uniform mehrmals eine Rolle als Marker für Identität, nicht zuletzt im Kontext des Gymnasiums. „‚Gewiß‘, sagte Jankel, ‚die Schaufäden sind das wichtigste Uniformstück der Juden. Und für Uniformen hat Jankel immer was übrig gehabt‘“, heißt es in FiA II.12 Die Schaufäden, Tzitzit, sind jene an den Ecken des Gebetsschals (Tallit) orthodoxer Juden mehrfach geknoteten Fäden, welche 12 FiA II, S. 109.

Was hat Gymnasium mit Krieg zu tun?

die Gebote symbolisieren. Sie stehen also im Kontrast zur Schuluniform des „verlorenen Sohnes“ Josef und schließlich vor allem zu seiner Soldatenuniform, in der er als junger Mann stirbt.13 In seinen Jugenderinnerungen In einer anderen Zeit lässt Morgenstern mehrmals seine ambivalente Haltung gegenüber Uniformen anklingen, so etwa bei einem unbeliebten Geschenk seiner Schwestern, einem Matrosenanzug.14 Andererseits sieht er in den Gymnasialuniformen ein „Verdienst, äußerlich sichtbare Standesunterschiede in den Schulen Galiziens zu verwischen“15 , wenngleich die Motivation dazu eher auf das Misstrauen der habsburgischen Verwaltung gegenüber den Mittelschülern zurückging, die mithilfe der Uniformen im Auge behalten werden sollten. Das Gymnasium ist auch Josef Mohylewskis erster Versuch einer Emanzipation gegenüber den Christen, vor allem den beiden Pfarrerssöhnen (!) Tolek und Tadek, die sich in ihren Schuluniformen als etwas Besseres vorkommen. Schließlich aber geht es in FiA I16 auf das Konto der Mutter, dass Josef die Aufnahmeprüfung im Gymnasium macht und als Gymnasiast stolz die Uniform trägt. Schon in diesem Zusammenhang aber erwähnt Morgenstern, dass zum Glück der Vater nicht zu Hause war, denn sonst wäre er entsetzt gewesen. Welwel Mohylewski erzählt seinem Sohn Alfred schließlich genau in diesem Kontext, dass

13 Die Gymnasialuniform bestand aus einer blauen Bluse mit silbernen bzw. goldenen Streifen, grauen Hosen und einer blauen Kappe und ähnelte der eines preußischen Soldaten. 14 Vgl. FIA II, S. 62 f. Dazu ist wichtig zu erwähnen, dass am 18. September 1904 der „Verein zur Förderung der österreichischen Schifffahrt“ im Rittersaal des niederösterreichischen Landhauses in der Herrengasse in Wien gegründet wurde, der 1907 in „Österreichischer Flottenverein“ umbenannte wurde. Dieser Verein sollte den Ausbau der ÖsterreichischUngarischen Kriegsmarine fördern. „1908 übernahm der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este das Protektorat und der Verein wächst schnell zur Massenbewegung mit 1914 etwa 200 Ortsgruppen (mit jeweils mindestens 20 Mitgliedern) im In- und Ausland an. Zahlreiche Werbemaßnahmen, wie die Eröffnung des ‚Flottenkino‘ am 11. November 1913 auf der Wiener Mariahilferstraße 85–87 machen den Verein zu einem der größten der alten Monarchie: Vor Kriegsausbruch zählt der Verein am 14. Juli 1914 44.617 Mitglieder, gegen Kriegsende dann 80.000. Diese Massenbewegung beeinflußte sogar die Mode, der ‚Matrosen-Anzug‘ in marineblau oder weiß als Festtagskleidung für Buben entsteht. 1919, nach Kriegende, endet der ‚Österreichischer [sic!] Flottenverein‘ und zerfällt in mehrere kleine Nachfolgevereine. Der ‚Matrosen-Anzug‘ für Buben hält sich bis in die späten 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Seit 1924 ist er auch offizielle Uniform der ‚Wiener Sängerknaben‘“; https://www.familia-austria.at/index.php/forschung-undservice/forschung-in-der-gesamtmonarchie/volljaehrigkeit-in-oesterreich/833-zeittafel-zumheereswesen-oesterreichs (letzter Zugriff: 12.12.2017). 15 FiA II, S. 138. 16 FiA I, S. 182 f.

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dein Großvater im Jahre neunzehnhundertzehn an einem Herzschlag gestorben ist, eine Woche, nachdem er die Nachricht zugestellt bekommen hatte, daß sein Sohn Josef Mohylewski mit einem Fräulein Peschek in einer Kirche getraut worden ist. Am Abend jenes Tages, da meine Mutter so stolz mit einem Gymnasiasten heimgekommen war, dürfte die Gesundheit meines Vaters den ersten Stoß erhalten haben.17

Gymnasium und Taufe werden so in einen engen Zusammenhang gebracht, als wäre damit die Abkehr vom Judentum eingeleitet. Immerhin aber lässt sich der Vater Josefs vom Czortkower Rebben beruhigen, der „unerwartet zugunsten Josseles“18 entschied. Damit reflektiert Morgenstern seine eigene Erfahrung mit dem Vater, der dem Czortkower anhing und von ihm die Meinung übernahm: „Mit dem Gymnasium fängt es an, und es endet mit dem Schmad [Taufe]“.19 Der Vater akzeptiert schließlich Somas Wunsch, ins Gymnasium zu gehen, lässt aber nicht unerwähnt, dass dem Knaben die Schuluniform nicht passe und er darin wie ein Kriegsherr, ein „kleiner Bal-milchome“ aussehe.20 In diesen Lebenserinnerungen, In einer anderen Zeit, gibt uns Soma Morgenstern auch einen Einblick in sein erstes intimes Erlebnis mit einem Mädchen namens Carmela, der Tochter des Ökonomen. Mit zwölf Jahren, sie war bereits dreizehn, kommt es auf dem Moosboden einer Schlucht, auf dem Heimweg von der Schule, zur sexuellen Begegnung, die beim Mädchen wenig Freude hinterlässt. Einige Zeit später versöhnen sie sich und Carmela äußert sich noch Jahre später als in Soma verliebt. Interessant ist folgende kurze Bemerkung: „Als Carmela mich zum ersten Mal in der Uniform des Gymnasiasten sah, strahlte sie vor Stolz, aber mit Tränen in den Augen“21 . Morgenstern verbindet an dieser Stelle sehr geschickt das Motiv der sexuellen Energie, die mit Problemen belastet ist, mit der Schuluniform, deren ambivalente Symbolik vor allem im großen Gericht der FiA deutlich herauskommt. Dort nämlich werden Studentenuniform und Soldatenrock eins, ebenso wie in der verhängnisvollen und indirekt tödlichen Vision des Rabbi Abba.22 Der Cellobogen repräsentiert hierbei das Gewehr, das Buch, das Josef zur Erbauung liest, thematisiert die Frage nach dem Tod eines Einzelnen für die Gruppe, dem wiederum Rabbi Abbas Mischnaspruch „Wer ein lebendiges Wesen tötet, der tötet die ganze Welt“ gegenübersteht. Diese Geschichte muss kurz erzählt werden, da sie zu

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Ebd., S. 183. Ebd., S. 184. Morgenstern: In einer anderen Zeit, S. 189. Ebd., S. 203. Ebd., S. 204. FiA I, S. 194–208.

Was hat Gymnasium mit Krieg zu tun?

den Schlüsselstellen des Werks gehört und sehr bewusst auch mit Orten bzw. Räumen spielt. Josef Mohylewski, der „verlorene Sohn“ in Funken im Abgrund, kommt in den Schulferien (Weihnachten-Chanukka) nach Hause, muss aber wegen der Entfernung der Bahnstation von seinem Bruder mit dem Schlitten abgeholt werden. Wegen eines Schneesturms verirren sich der Kutscher und die beiden Brüder und landen wie im Kreis wieder an der Ausgangstation in Rembowlja. Die kreisförmige Reise besagt nichts Gutes, sie lässt Schicksal erahnen, genauso wie der Schneesturm, der als Bedrohungsszenario im Blick ist. Das Kreisen erinnert an die biblische 40-jährige Umrundung des Sinai durch das jüdische Volk während der Wüstenwanderung, die als Strafe angesehen wird. Josef und sein Bruder werden nun durch Zufall vom Urgroßonkel Rabbi Abba für die Nacht aufgenommen, ohne dass dieser sie erkannt hätte. Dieser kleine „kindergestaltige“23 Gelehrte hatte immer den Traum, in dem ihm der Todesengel in Gestalt eines Soldaten in Uniform mit einem Messer wie ein Fiedelbogen während eines Schneesturms begegnet. Die Schuluniform hatte deshalb auch die besorge Frau des Rabbis irritiert, die sich aber doch schließlich hatte erweichen lassen, die Leute aufzunehmen, „wenn er wirklich ein Student ist und kein Soldat“.24 Der Rabbi befragt Josef schließlich über seine Jüdischkeit, ob er den Sabbat halte und ob es möglich sei, auch als Student jüdisch zu leben. In dem weiteren Gespräch, das Josef schließlich mit dem Rabbi führt, wird vor allem das Lesen von Büchern ohne religiösen Inhalt thematisiert. Rabbi Abba möchte den tiefen Sinn des Buches verstehen, das Josef gerade liest. Josef antwortet: Der Verfasser des Buches stellt hier die Frage: ob es erlaubt sein darf, ein wertloses Leben eines unbedeutenden menschlichen Wesens zu einem höheren Zweck zu vernichten.25

Rabbi Abba reagiert darauf verärgert: Der Verfasser? Er stellt die Frage? Solche Frage stellt er? Ein wertloses Leben?! Ein unbedeutendes Wesen?! Ein Bösewicht ist er, dein Verfasser! Nur ein Bösewicht kann so fragen! Ein wertloses Leben?! Wer sagt ihm das?! Wer sagt es ihm, dem Bösewicht, welches Menschenleben wertvoll und welches wertlos sei?! Woher weiß

23 Ebd., S. 197. 24 Ebd., S. 199. 25 Ebd., S. 203.

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er es, der Verfasser, welches Wesen bedeutend, welches unbedeutend sei? Wer so fragt, hat schon gemordet! […] Du sollst nicht töten! Das ist ganz klar. Entschieden für alle Tage. Aber der Mensch hat seinen Fürwitz. Das wußten unsere Weisen. Und der Fürwitz ist ein Bösewicht. Und der Bösewicht hat immer zu fragen. Das wußten unsere Weisen. Und so haben sie die Frage, die dein Verfasser, der Bösewicht, in seinem Fürwitz verkleidet, schon vorausgeahnt und ein für alle Mal klar entschieden. Ich werde dir, Student, gleich einen Satz vorlesen, einen einzigen Satz aus einem Buch, das nicht zum Lesen ist, Student! […] Drittes Buch, fünfter Abschnitt, achtzehnte Schure…, sang der Rabbi bereits in der Tonart des halblauten Talmudlehrers, das große Buch aufschlagend.26 In diesem Moment geht Josef ohne böse Absicht zum Rabbi, nimmt seinen Cellobogen mit sich, „wie ein kurzes Stäbchen schwingend“ und lauscht dem, was kommen soll, ohne zu ahnen, dass er jetzt gleich den bösen Traum des Alten Wirklichkeit werden lässt. Hör gut zu, Student! Vielleicht wirst auch du einsehen, daß wir es nicht nötig haben, uns an fremdem Herd zu wärmen, in fremden Töpfen zu suchen. Unsere Weisen – – In diesem Moment muß Rabbi Abba den Bogen in der Hand meines Bruders erblickt haben. In seinen Augen der Triumph erlosch. Es erlosch der Blick der Augen. Die Augen erloschen. Das ganze Gesicht erlosch. Seinen Händen entfiel das Buch. Als wollten sie das heilige Buch vorm Fall bewahren, griffen die schwächlichen Arme in die Luft. Der Sessel neigte sich, und ohne den leisesten Laut des Erschreckens stürzte Rabbi Abba dem Buch nach, das mit den Blättern aufrauschend, mit den offenen Deckeln zu Boden schlug – – –27

Der Tod des Rabbis aufgrund des Traumes gehört zu den tragischen Verwicklungen, die das Leben Josefs prägen. Gerade an dieser Stelle eröffnet sich Morgensterns faszinierender Umgang mit jüdischer Tradition, die dem verborgen bleiben muss, der den Text auf der Oberfläche liest. Morgenstern lässt an keiner Stelle Josef selbst daran glauben, dass der Wert eines Menschenlebens zu verhandeln wäre. Und dennoch genügt die Verteidigung des Buchautors – natürlich kommt einem sofort Dostojewskijs Verbrechen

26 Ebd., S. 203 f. 27 Ebd., S. 205.

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und Strafe28 in den Sinn – für eine kritische Sicht auf den jungen Mann. Die rabbinische Weisheit, wonach kleine Vergehen große nach sich ziehen, wird hier auf eindrückliche Weise illustriert. Rabbi Abba jedenfalls symbolisiert die „traditionelle“ jüdische Welt mit ihrer Skepsis gegenüber der profanen Weltdeutung und den weltlichen Fragen, die letztlich die überzeitliche Wahrheit der Tradition bedrohlich in Frage stellt. Auch wenn Morgenstern selbst sich als Gymnasiast und in seinem alltäglichen Leben von dieser Tradition unterschied, so schildert er sie dennoch mit großer Sympathie. Doch diese Welt ist intensiv bedroht. Am Ende der FiA berichtet Josef seinem Sohn in einem langen Brief u. a. auch von einem langen Traum, in dem er vor einem rabbinischen Gericht steht, das ihn angesichts seiner Konversion zum Christentum verurteilt. Dort tritt auch Rabbi Abba als „Kleiner Alter“ auf. Der Richter verkündet das Urteil, das Josef als Bild zu sehen bekommt. Darin ist ein Soldat zu erkennen, der über Schnee schreitet. „Wohin gehst du?“ frage ich ihn. „Ich gehe deines Wegs“, sagte der Student. „Hier ist kein Weg für mich“, sagte ich. „Was weißt du von deinem Weg?“ sagte er. „Was weißt du von meinem Weg, Student?“ „Ich bin kein Student“, sagte der Student. „Nein“, sage ich. „Du bist kein Student. Du hast ja einen Fiedelbogen in der Hand. Du bist ein Spielmann.“ „Ich bin kein Spielmann“, sagte er, „und was ich da habe, sieh nur her: ist denn das ein Fiedelbogen?“ „Ich sehe“, sagte ich, „das ist ein Cellobogen.“ „Es war ein Cellobogen. Sieh nur gut her: was ist es jetzt?“ „Du bist ja kein Student“, sagte ich, „du trägst ja einen Soldatenrock.“ „Jossef ben Jehuda“, sagte der Soldat. „Ich bin du. Und du bist ein Soldat. So bin ich auch ein Soldat. Und ich gehe deines Wegs.“ „Du gehst ja schon mit mir“, sagte der Soldat. „Wohin führt der Weg?“ frage ich. „Dein Weg ist kurz“, sagte der Soldat. „Wie bald wird er zu Ende sein!“ Auf einmal wurde es dunkel in der Schneelandschaft, und ich fühlte, wie ich langsam in den Schnee sank, tief, immer tiefer. Ich schrie um Hilfe. Ich schrie mit ganzer Kraft

28 Dostojewskij, Fjodor: Verbrechen und Strafe. In der Neuübersetzung von Swetlana Geier, Frankfurt am Main 1994.

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meiner Stimme, aber meine Stimme war stumm. Eine finstere Schlucht saugte mich ein, tiefer, immer tiefer.29

In der Traumvision verschwimmen die Unterschiede zwischen der Uniform des Studenten und der des Soldaten. Die Geschichte um Rabbi Abba ist allgegenwärtig. Er erscheint ein zweites Mal im selben Traum. Josef sieht ihn in seiner Stube, vor einem großen, offenen Buch. Die Buchstaben in dem Buch waren so groß, daß ich darin lesen konnte. Ich las den Satz: Wer ein lebendes Wesen tötet, der tötet die ganze Welt. Denn die Welt besteht nicht für sich allein. Die Welt besteht nur im Namen der Wesen. Wer also ein Wesen tötet, und wäre es das geringste Wesen, der tötet die ganze Welt. Da griff der Kleine Alte nach seiner Brille, setzte sie mit zittrigen Bewegungen seiner eingeschrumpften Greisenhände auf, und mit einer Hand noch die Brille schattend, als schaue er gegen die Sonne, sah er zum Fenster her. Da erkannte ich ihn. Das ist ja der Rabbi Abba, mein Urgroßonkel, wollte ich ausrufen. Da ging das Fenster mit beiden Flügeln auf, ein starker Windstoß warf mich zu Boden, und ein Berg, eine Lawine welken Laubs stürzte aus dem Fenster über mich und begrub mich in Nacht und Finsternis. Schon erstickend, stieß ich einen Schrei aus und – – –30

Josef trifft also die Verurteilung für eine Schuld, die er objektiv nicht hat, die er jedoch subjektiv erkennt und trägt. Er hat durch seine Uniform und seinen Cellobogen indirekt den Tod des Urgroßonkels, eines Wesens, verschuldet. Dafür trägt er nun die Strafe. Der bekannte Ausspruch „Wer ein lebendes Wesen tötet, der tötet die ganze Welt“ wird mehrfach in der rabbinischen Tradition verwendet, zuerst in der Mischna Sanhedrin 4.5. Dort heißt es: Deshalb wurde ein einziger Mensch [Adam] geschaffen, um dich zu lehren, dass jedem, der ein (einziges) lebendes Wesen (nefesch) [aus Israel]31 vernichtet, die Schrift anrechnet, als ob er eine ganze Welt vernichtet hätte, aber jedem, der ein lebendes Wesen [aus Israel] erhält, die Schrift anrechnet, als ob er eine ganze Welt erhalten hätte.

Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass aufgrund der Abstammung aller Menschen von dem einen ersten Menschen Adam jeder Mensch die Einzigartigkeit des Menschseins in sich trägt. Adam ist im Abbild des einen Gottes 29 FiA I, S. 299 f. 30 Ebd., S. 301 f. 31 Dieser Zusatz ist nicht in allen Handschriften zu finden.

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erschaffen und wurde zum Siegel aller Menschen. Jedes Leben wiegt daher die ganze Menschheit auf, mit der eine Welt zu Ende geht. In gewisser Weise wird mit dem Tod des alten Rabbis auch der Untergang einer Kultur beschworen, die nicht nur vom Antisemitismus bedroht war, sondern auch von der Aufklärung, für die das Gymnasium zum Symbol wurde. Hier ist Andrea Bartl recht zu geben, die schreibt: „Den Bibliotheken, Großvaters Zimmer und Rabbi Abbas Stube, stehen die bedrohlichen Schneewehen und (geträumten) Laubmassen gegenüber, die ein Sinnbild sein könnten für die Gefahr des Vergessens, des Untergehens im Chaos der Zeit.“32 Gegen Ende des Briefes an seinen Sohn schreibt Josef einen zentralen Abschnitt, der hier in großen Ausschnitten zitiert werden soll: Zeit meines Lebens habe ich es als ein Mißverständnis, wenn auch als ein verhängnisvolles Mißverständnis angesehn, daß mein Urgroßonkel Rabbi Abba mich mit einem Soldaten verwechselt hat, als ich in einer argen Winternacht Zuflucht in seinem Haus suchte und fand. Ich trat zusammen mit meinem Bruder Welwel in seine Stube, weil ich aber meine Gymnasiastenuniform trug, glaubte er, ich wäre ein Soldat. Und weil der hochbetagte Greis, er war zweiundneunzig Jahre alt, am Ende seiner Tage oft vom Engel des Todes träumte, der in Gestalt eines Soldaten mit einem Messer in der Hand den Tod ihm verkündete, sah er in mir, dem vermeintlichen Soldaten, seinen Todbringer und – er starb in meinen Armen in jener Nacht. Zwei Jahre später war ich eingerückt, ich war bei den Soldaten, ich trug des Kaisers Rock, aber innerlich war ich sehr weit davon entfernt, mich für einen Soldaten zu halten. Was bin ich ein Soldat? sagte ich mir. … Nun ist der Krieg da. Wieder trage ich des Kaisers Rock, und es ist kein Spiel mehr. … Ich fühle jetzt, Rabbi Abba hat klargesehen. Ich bin ein Soldat. … Habe ich auch nicht als Soldat gelebt, werde ich doch als Soldat sterben. Erst jetzt vermag ich meinen oft geträumten Traum vom Gericht in seinem wahren Zusammenhang zu fassen. Erst jetzt verstehe ich jenes Urteil, das mir im Bilde gezeigt wurde: Der Soldat, dessen Weg im Bild mir so verkürzt erschien, bin ich. In Worte gefaßt, müßte das Urteil heißen: Soldatentod. Das Urteil ist, strenggenommen, nur eine Auslegung, eine Deutung des vierten Gebots. Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit deine Tage verlängert werden. Ich habe mich gegen dieses Gebot vergangen, also werden meine Tage nicht verlängert, sondern gekürzt. Ein gerechtes Urteil. Ein mildes Urteil. Das Milde ist darin, daß meine Tage durch einen Soldatentod verkürzt werden 32 Bartl, Andrea: Der „unkontrollierte Assoziationsprozeß der Gedanken“. Erinnerung in Soma Morgensterns Trilogie Funken im Abgrund, in: Weigel, Robert G. (Hg.): Soma Morgensterns verlorene Welt. Kritische Beiträge zu seinem Werk (New Yorker Beiträge zur Literaturwissenschaft 4), Frankfurt am Main u. a. 2002, S. 51–67, hier S. 63 f.

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sollen. Ein gerechtes Urteil, ein mildes Urteil, vielleicht schon ein himmlisches, kein irdisches Urteil mehr. Denn in der Milderung ward dem Urteil eine Verschärfung zugleich beigegeben. Wurde mir doch nebst dem Bilde des Urteils noch ein anderes Bild gezeigt, das Bild der Schrift. Von der Schrift aber – was bekam ich im Bild zu sehn? Das Schriftbild jenes Spruches, der mit den Worten anhebt: Wer ein Wesen tötet, der tötet die ganze Welt. Mit diesem Spruch im Herzen ein Soldat im Krieg zu sein, ist nicht leicht. Aber vielleicht liegt gerade in dieser Verschärfung die wahre Gnade des Gerichts? Vielleicht wird ein Soldat wie ich, der vor dem Töten bei weitem mehr Grauen empfindet als vor dem Tod, noch Erbarmung finden vor dem höchsten Richter?33

Tatsächlich lässt der Roman keinen Zweifel daran, dass Josef im Krieg umkommen wird, ohne selbst getötet zu haben. In einem Garnisonsspital liegend wird er den Russen auf deren Vormarsch ausgeliefert. Fast nebenbei erzählt Josef vom Irrsinn des Krieges, in dem z. B. Ukrainer, auf beiden Seiten in Uniformen gesteckt, aufeinander losgehen. Morgenstern schlägt damit einen weiten Bogen von der Gymnasialuniform zum Ersten Weltkrieg, von der biblischen und rabbinischen Botschaft der Verwandten- und Menschenliebe zum Pazifismus und der Verweigerung des Tötens im Krieg. Entscheidend ist die Verantwortung jedes einzelnen Menschen für seine Tat, eine Verantwortung, die ihm niemand abnehmen kann, wie Morgenstern an vielen Stellen unermüdlich betont. 3.

Die Synagoge und Jerusalem

In einem gewissen Gegensatz zum Gymnasium steht die Synagoge als Ort, an dem Raum und Zeit aufs Engste ineinanderfließen, als zentraler Raum der Liturgie in FiA II, wo der junge Protagonist Alfred sein erstes Vorbeten am Sabbat erlebt, eine Schlüsselszene, die sich über mehrere Seiten hinzieht.34 In der Blutsäule wiederum ist die Synagoge sowohl Symbolstätte des furchtbaren Zivilisationsbruchs der Nazis, die sie zu einem Bordell umgestalten und darin morden, als auch aufgeladen mit den Hinweisen auf Befreiung und Rettung. Jerusalem bzw. genauer der Tempel in Jerusalem ist indirekt in der Blutsäule in der Synagoge repräsentiert, in der sich der Großteil der Handlung abspielt. Hier geschehen alle Gräuel, die in der jüdischen Tradition besonders schwer wiegen, nämlich Götzendienst, Mord und sexuelle Vergehen. Denn „äußerlich 33 FiA I, S. 310 f. 34 FiA II, S. 160–183.

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erschien sie fast unversehrt, drinnen war sie tot. Alles Bewegliche war gestohlen worden; alles Zerreißbare zerrissen; alles Zerbrechliche zerbrochen; alles Biegbare verbogen; alles Brennbare verbrannt; alles Reine verunreinigt; alles Heilige geschändet“, heißt es auf Seite 25 gewissermaßen als Zusammenfassung aller Verbrechen. In der Ostwand-Mitte war das Herzstück der Alten Schul, der Toraschrein, herausgerissen und mitsamt den vielen Torarollen verbrannt worden, wie die Herzen ihrer Leser und Beter herausgerissen und verbrannt worden waren. Die Luft im großen Betraum stand still in der Totenstarre von tausend Gebeten, die hier ermordet, von tausend Gesängen, die hier erdrosselt, von tausend Seufzern, die hier erstickt worden waren.35

Die Torarollen werden nach dem großen Morden als Ausschmückung für ein Bordell verwendet, in das die „Alte Schul“, wie die Synagoge heißt, von der SS kurzerhand „umgebaut“ wird, die sie „Großtempel am Sereth“36 nennen. Wenigstens vermag Mechzio – eine bei Morgenstern auch in FiA wichtige Figur – gerade noch eine Torarolle zu retten, ehe das „Lusthaus“ eröffnet wird.37 Aber nachdem ein höherer Nazioffizier an zwei Bildern Anstoß nimmt, die sich, versucht man sie abzuwaschen, immer wieder neu bilden, wird das Bordell aufgegeben und die Synagoge in Brand gesteckt. Die abscheulichen Bilder in der Synagoge wurden von einem SS-Offizier gemalt. In ihnen findet sich das für Morgenstern wichtige Motiv von Jesus als leidendem Juden wieder: Dort heißt es: Inmitten der Nordwand, wo oben der Betraum der Frauen war, hatte jene ruchlose aber kundige Hand zwei Bilder aufgemalt: Das eine, große, darstellend die Gestalt des Gekreuzigten als polnischen Kaftanjuden, mit Schläfenlocken, die samtene Sabbatmütze mit den dreizehn Marderschwänzchen auf dem Haupt voll Blut und Wunden, die Figur in Kreide von roter Farbe, mit einem roten Sowjetstern als Herz. Zur linken Seite des Gekreuzigten, das kleinere, alfresco, stellte einen Judenjungen von etwa dreizehn Jahren dar, auch dieser kindlich dürftige Leib im Kaftan, mit gleichfalls gedrehten, überlangen Schläfenlocken, die samtene Sabbatmütze mit den dreizehn Marderschwänzchen tief und schief überm kindlichen Gesicht. Auch die jüngere Gestalt in der Positur der Kreuzigung, doch nicht an ein Kreuz genagelt, sondern deutlich an der Stirne, an den Händen wie an den gefalteten Füßen mit Kugeln 35 Ebd., S. 25. 36 Ebd., S. 110. 37 Ebd., S. 112.

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an die Wand geschossen. Diese Figur in blauer Kreide, mit einem roten Sowjetstern als Herz. Die zwei Bildnisse der zwei Gekreuzigten waren rundherum umkränzt mit Gruppenbildern, darstellend Frauen und Männer in zuchtlosem Reigentanz, die Frauen augenscheinlich jüdischen Geblüts, nackt in obszöner Haltung und lüsternen Gebärden, die Männer in mittelalterlicher Kleidung, augenscheinlich germanischen Geblüts, mit höhnischen Grimassen, Peitschen und Feuerwaffen in den Händen. Über dem farbenbunten Gemälde stand in schwarzer Schrift in gotischen Zeichen zu lesen: Die Bluthochzeit am Sereth. Unten, in abwechselnd roten und schwarzen Zeichen, stand der Name des Künstlers sowie die Nummer der Schutzstaffel, der er also mit Herz und Hand diente.38

Am Ende wird aus einer Nische der Synagoge ein Mann befreit, der als Einziger im Roman einen jiddisch-jüdischen Namen, Avrejml, trägt. Er stirbt allerdings gleich nach seiner Befreiung. Die Rettung kommt aus dem Osten, wird hier durch das Eintreffen der Roten Armee repräsentiert, in der auch jüdische Offiziere eine wichtige Rolle spielten. Rettung bezieht sich jedoch auch auf das „Symbol“ Jerusalem, das bei Morgenstern zu einem wichtigen Raum wird. Als ein Sowjetkommissar der Befreier sagt, dass Jerusalem keine Zuflucht sein könne, weil es verödet daliege, antwortet ein Protagonist: „Unser Jerusalem war nie Stein“, sprach der Erzählende Richter. „Unser Jerusalem war Licht, unser Herzlicht, und das Herzlicht der Menschen wird es bleiben. Unser Land ist nicht groß, das ist wahr. Aber ein Drittel unseres Volkes ist in die Bluternte dieses Weltteils gefallen. Wir, die trauernden Hinterbliebenen dieses Weltteils, wollen hier nicht bleiben. Das Buch dieses Weltteils ist geschlossen. Das Nachwort mag eure Sache sein, unsere nicht.“39

Jerusalem als Hoffnung des Judentums soll auch Licht für die Völker bleiben. Der Zionismus Morgensterns ist weit weniger von realen politischen Hoffnungen getragen als von religiösem Eifer eines Handelns angesichts der Not, der Situation in einem sich selbst zerfleischenden Europa. Vielleicht ist es Zufall, vielleicht jedoch auch programmatisch, dass Morgenstern gerade bei einem Israelbesuch die Struktur der Blutsäule quasi visionär erschien. Wie Jerusalem sowohl ein irdischer als auch ein geistig verklärter Ort ist, so kommen manche Räume zur Sprache, die außerhalb der irdischen Realität, 38 Ebd., S. 25 f. 39 Ebd., S. 154.

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jedoch nicht weniger wirklich sind. Am Ende des zweiten Bandes von FiA erinnert sich der Protagonist Alfred an seine Ankunft in der scheinbaren Idylle des Dorfes. „Hier ist ein anderer Himmel“, hatte er gedacht und die Stille bewundert, die er eine Zeit lang später nicht mehr wahrnahm. Nach der Ermordung des jungen Lipusch durch bösartige polnische Antisemiten erfährt er eine neue Stille: „ – heute hörte ich die Stille wieder. Aber es war eine andere Stille. Sterne waren heute keine am Himmel. Heute dachte ich: hier ist eine andere Hölle –.“40

Seine ukrainische Geliebte Donja vermag diese Aussage nicht zu kommentieren, nur weinend zu verstehen und zu wiederholen. Pesje aber, die kluge Haushälterin, kommentiert: „Die Hölle ist nicht von Gott, mein Kind“, sagte Pesje: „Es heißt: Am Anfang erschuf Gott den Himmel und die Erde – von der Hölle ist da nichts gesagt. Die Hölle ist nicht von Gott“ … „Die Hölle ist von den Menschen, weh ist mir“.41

4.

Eden

Lassen Sie mich damit zu einem anderen Ort kommen, den ich zum Schluss exemplarisch herausgreife. Es ist dies Edenia, eine paradiesische Insel, die Morgenstern in seinem letzten Buch Der Tod ist ein Flop beschreibt. Edenia verkörpert die gerechte soziale Utopie. Die Anklänge an den Garten Eden sind nicht zufällig und werden auch deutlich gemacht. So findet sich hier ein genialer Filmemacher, dessen großes Werk die Urgeschichte um Adam und Eva darstellt, die gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit dem Tod darstellt. Das Bedürfnis Adams und Evas und auch das der Schlange, hier als Teufel mit Namen Samael ganz in alter jüdischer Tradition dargestellt, vom Baum der Erkenntnis zu essen, wird ausdrücklich als positiv geschildert. Gott selbst, so heißt es, habe daran Gefallen gefunden. Es freute ihn, daß du weiteressen wolltest, weil du wißbegierig bist. Und das gefiel ihm. Der Mensch soll zusehen, daß er immer mehr wissen will. Immer mehr wissen. Das kann ihm die Erlösung bringen42 , 40 Ebd., S. 362. 41 Ebd. 42 Morgenstern: Der Tod ist ein Flop, S. 128.

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heißt es da an zentraler Stelle. Aus Fragmenten und Stellungnahmen von Morgenstern weiß man, dass vor allem in seinen letzten Lebensjahren seine Hoffnung auf die Wissenschaft gerade in Bezug auf die Bekämpfung des Todes groß war. Anders hingegen sein Vertrauen in die klassischen Religionen, vor allem in das Christentum. So ist der erste Eindruck von der utopischen Insel folgender: Es gibt auf dieser Insel der Glückseligen drei gutbevölkerte Siedlungen. Ich habe bereits alle drei besucht. In keiner von den dreien habe ich auch nur die Spur von einer Kirche gefunden! Keine Kapelle. Keine Synagoge. Keine Moschee. Kein Bethaus. Und alle tun so, als fühlten sie sich gut versorgt.43

Später heißt es, dass es doch ein religiöses Gebäude gebe, dieses aber nur der Meditation und der freien Meinungsäußerung diene.44 In Edenia gibt es keine Uhren und keine Geburtstage. Damit versucht man sich dem Tod zu entziehen. Gemeinschaftlicher Besitz und soziale Absicherung, hoher Lebensstandard bei gleichzeitiger hoher Bildung stellen den Normalzustand dieser von Morgenstern positiv sozialistisch gedachten Utopie dar, in der sogar die Hunde geteilt werden. Dieses Spätwerk versucht also eine gewisse Distanzierung zu den vorherigen Werken, es rückt ab vom Fokus Galizien und macht Edenia zum neuen Jerusalem, zu einem Ort paradiesischer Freuden, in dem jedoch die Erinnerung an den Zivilisationsbruch und nicht zuletzt an die Rolle der Kirchen darin stets präsent bleibt. Aus der bei Morgenstern immer spürbaren Nähe zum chassidischen orthodoxen Judentum ist eine vage Hoffnung auf den menschlichen geistigen Fortschritt vor allem im Kampf um den Tod geworden und eine recht irdische – sozialistische – Paradiesesvorstellung. In Zeiten wie diesen vielleicht utopischer denn je.

43 Ebd., S. 105. 44 Ebd., S. 136 f.

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Aspekte der Konstruktion und Dekonstruktion kultureller Räume und Identitäten in L. Komperts Zwischen Ruinen (1875) und K. E. Franzos’ Judith Trachtenberg (1891) 1. Blickt man auf das Gesamtwerk des 1822 in Mnichovo/Münchengrätz geborenen Leopold Kompert, des über den deutschsprachigen Raum hinaus anerkannten Mitbegründers der Genres ‚Ghettoerzählung‘ und ‚Ghettoroman‘,1 so wird man rasch feststellen, dass sich bereits in einzelnen der ab 1842 entstandenen und in Wiener Zeitschriften veröffentlichten Reisebildern bzw. Skizzen aus dem Ghetto bis hin zu seinem letzten Roman Zwischen Ruinen (1875) ein Spannungsverhältnis, vielfach aufgegriffen und beständig ausdifferenziert, entfaltet, das unter drei Leitvokabeln gestellt werden kann: Raumerfahrung, kulturelle Optionen und Identitätsreflexion. Es sind dies Kategorien, die wiederholt auch im Fokus der Forschungsinteressen von Petra Ernst standen. So heißt es z. B. in den einleitenden Anmerkungen zum wegweisenden Sammelband Jewish Spaces (2010): Räume werden durch Grenzen oder Grenzbereiche markiert, die wiederum Identitäten auslösen, binden oder bedingen (können). Komplexe Überlagerungen räumlicher Strukturen provozieren darüber hinaus (temporäre) Mehrfachidentitäten, seien sie kulturell, sozial, national oder religiös motiviert.2 1 Vgl. dazu den richtungsweisenden Beitrag des Heine-Übersetzers und Literaturkritikers Taillandier, Saint-René: Le roman juif en Allemagne. M. Léopold Kompert, in: Revue des deux mondes 14 (1852), S. 5–32. Zur Rezeptionsgeschichte im deutschsprachigen Raum vgl. Glasenapp, Gabriele von/Horch, Hans Otto (Hg.): Ghettoliteratur. Eine Dokumentation zur deutsch-jüdischen Literaturgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. 2 Teile in 3 Bänden (Conditio Judaica 53–55), Tübingen 2005, zu Komperts Rezeption durch die Zeitgenossen bes. Bd. 1, S. 284–367 (mit Beiträgen von K. E. Franzos, G. Freytag, H. Lorm, E. Kulke, F. Kürnberger u. a.) sowie mit Blick auf die Besprechung einzelner Ausgaben Bd. 2, S. 543–581 (mit Beiträgen von I. Busch, G. Karpeles, M. Letteris, L. Philippson, R. Prutz, G. Wolf u. a.). 2 Vgl. Ernst, Petra/Lamprecht, Gerald (Hg.): Jewish Spaces. Die Kategorie Raum im Kontext kultureller Identitäten (Schriften des Centrums für Jüdische Studien 17), Innsbruck 2010, S. 7. Ausdifferenziert dargestellt wird die ‚Semantisierung des Raumes‘ in ihrer Habilitationsschrift. Vgl. Ernst, Petra: Schetl, Stadt, Staat. Raum und Identität in deutschsprachig-jüdischer Erzählliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Wien, Köln und Weimar 2017, bes. Kap II,

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Zwar noch verhalten, aber doch wahrnehmbar, kommen erste Verbindungen zwischen räumlichen Koordinaten und solchen der Identität, des Jüdisch-Seins, schon in Komperts frühesten, unter die Genrebezeichnung Reisebilder aus Ungarn gestellten Texten, erschienen 1842 in der Zeitschrift Wiener Sonntagsblätter, zur Sprache. Man denke z. B. an die assoziativen Anklänge im engen Ghetto von Pressburg an einen weiteren, aber „verlorenen Orient“, eine Jerusalemoder Palästina-Chiffre, sowie an die in diesem Kontext formulierten „scharf geschnittenen“ Gesichtszüge jüdischer Mädchen.3 In der nur wenige Jahre später entstandenen Skizze Auf der Beschau aus dem Zyklus Skizzen aus dem Ghetto (1845) ist es wiederum die Erfahrung des urbanen jüdischen Lebens in Prag, die in der Familie Mandelzweig, die sonst in einer böhmischen Landgemeinde lebt, einen Prozess langsamen Umdenkens auslöst, der vordergründig mit der Frage der sprachlichen Bildung, d. h. dem Ersatz des ›Jargons‹ durch das HochDeutsche, verknüpft erscheint, aber, im Zuge dieses von einem Hauslehrer unterstützten Substitutionsprozesses (v. a. die älteste Tochter Golde betreffend), auch grundlegendere Problemlagen anzusprechen unternimmt. Inwieweit vermag z. B. die sprachliche Akkulturation mit einer kulturellen parallel gehen und inwiefern können kulturelle Muster der deutschen und christlichen Kultur Angebote für die jüdische enthalten? Im konkreten Fall geht es um potenzielle weibliche Bezugs- oder Leitfiguren, eine Frage, die im Zuge der vom Hauslehrer vorgeschlagenen Lektüre von Schillers Jungfrau von Orleans virulent und auf die – so die Erzählerstimme – unbefriedigend wirkende Rolle der vergleichsweise zurückgedrängt wirkenden Judith-Gestalt ausgeweitet wird. Zu ihr würde man in der Synagoge gerne beten (was Frauen verwehrt sei, so ebenfalls der Text, d. h. dem Mädchen Golde in der Stimme des Autors). Mit dem Verweis auf Jean d’Arc und Judith, der implizit das Buch Judith als Referenztext aufruft, das bekanntlich nicht in den Tanach aufgenommen worden ist, wie der Erzähler eigens anmerkt, spricht Kompert ein auch in weiteren Texten präsentes Thema an, nämlich die Frage, welchen Stellenwert jüdische Heroinen für eine der Zeit entsprechende Identitätsbildung übernehmen könnten. Komperts Antwort, die nicht die eines Theologen, sondern eines Schriftstellers und kulturellen Mittlers ist, versucht den Identifikationsraum behutsam auszuweiten, dem Judentum kulturell aus einer realen Ghettolage und potenziellen Autoghettoisierung überlegenswerte Wege anzuzeigen und auf diese Weise auch dem realen Assimilationsdruck gegenüber eine Alternative zu skizzieren S. 79–189, zur Ghettogeschichte und zu den spezifisch ‚jüdischen Räumen‘, die mit ihr verknüpft sind bzw. waren. 3 Vgl. Kompert, L.: Pressburg und der Königshügel, in: Sonntagsblätter, 19.6.1842, S. 437; dazu: Steiger-Schumann, Ingrid: Jüdisch-christliche Liebesbeziehungen im Werk Leopold Komperts, Berlin u. a. 2015, S. 92.

Aspekte der Konstruktion und Dekonstruktion

(ähnlich dem Christentum, um die Distanz zwischen Mensch und Gott ein wenig verkürzen zu können).4 Verlaufen die Grenzen in diesen frühen Texten noch entlang identifizierbarer Differenzen, auch über raumsemantisch auflösbare Oppositionen (GhettoOrient; urbane Dynamik – ländliche Statik; deutsche Bildung – jüdische Tradition etc.), die kurz angesprochen oder im Sinn der Bewahrung der Tradition ‚gelöst‘ werden, so kommen mit den eigentlichen, Kompert als Autor durchsetzenden ‚Ghettoerzählungen‘ von 1848, d. h. im Band Aus dem Ghetto, komplexere Konstellationen ins Spiel. Zu diesen Konstellationen gehört vor allem eine doppelte Ausdifferenzierung: neben innerjüdischen Diskursen jene in nationalkultureller Hinsicht. Denn indem er das Aufkommen der tschechischen (in den Texten: böhmischen) Nationalbewegung thematisiert, welche die gängige Konfliktsituation zwischen jüdischer Land- bzw. Ghettobevölkerung kleinerer Städte und der deutsch-christlichen Elite um jene des nationalböhmischen Katholizismus erweitert, besetzt Kompert geradezu visionär ein bis weit ins 20. Jahrhundert hinein reichendes Problemfeld. Auch innerhalb der slawischen nichtjüdischen Bevölkerung bilden sich damit unterschiedliche Haltungsoptionen aus (wie in den Romanen Am Pflug oder in Zwischen Ruinen ersichtlich), geraten doch die traditionsbeharrenden wie die akkulturalistischen Konzepte und Optionen unter Druck oder üben selbst Druck aus. Das heißt, Kompert kann man wohl als einen der ersten Autoren ansehen, der die Brisanz nationaler Fragen (über den deutschnationalen Antisemitismus hinaus) erkannt, thematisiert und in präzisen kulturellen Räumen platziert hat. Deren Plausibilität erscheint nicht nur durch den Augenzeugen- oder durch einen Erinnerungsstatus des Erzählers abgestützt, sondern auch durch präzise räumlich-kulturelle Verortungen. Schließlich beziehen seine Texte weiträumigere Dimensionen (den polnischrussischen Osten, Palästina-Projektionen), aber auch, wenngleich nie im Mittelpunkt stehend, über Wien als Referenzraum, urbane Realitäten und ihnen korrelierende Dynamiken in die jeweiligen Narrative und Konfliktmuster ein.5 Als Beispiel sei nur auf die längere Erzählung „Die Kinder des Randars“ verwiesen oder an „Der Dorfgeher“, hier insbesondere auf erstere. Wir finden dort 4 Kompert, Leopold: Auf der Beschau, in: Ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Stefan Hock, Leipzig 1906, Bd. 9.10, S. 115: „Wie gern würde ich zu dieser Judith beten, sie sollte mich erhören, sie sollte meine Fürsprecherin werden!“ 5 Auf diese räumliche Dimension, wenngleich sehr zwiespältig, ging auch schon Otto v. Leixner in seiner Besprechung des Romans Zwischen Ruinen für die Zeitschrift Die Gegenwart (10/1876) ein, wobei er den Osten und Südosten dem „alten Judentum“ zurechnete, insbesondere Polen, Südostungarn und Rumänien. In allen diesen genannten Räumen würden die sogenannten „Stammeseigenthümlichkeiten“ deutlich hervortreten. Zitiert nach Glasenapp/Horch: Ghettoliteratur, Bd. 2, S. 579.

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einen jüdischen Pächter (Arrendator), der in einem zu einer Grundherrschaft gehörenden Dorf von (so in der Diktion der Erzählung) böhmischen Bauern umgeben ist und seinen Sohn Moschele/Moritz nicht mehr nur in den Cheder, sondern in die städtische, katholisch-deutsche Schule zwecks weiterer Ausbildung und später an die Universität schickt. Dessen Jugendfreund Honza, Sohn eines böhmischen Kleinbauern, der die gleiche Schule besucht, entwickelt sich schrittweise zum katholischen und tschechisch-nationalen Eiferer mit einem dezidiert missionarischen Zug. Daher ist diese Freundschaft, zu der im Hintergrund eine (einseitige) Feindschaft der Väter tritt, bald zum Scheitern verurteilt. Zum Scheitern verurteilt ist aber auch die kurzfristig erwogene Option des jüdischen Jungen (Moschele/Moritz), in der böhmisch-tschechischen Kultur, der er auch sprachlich aufgeschlossen gegenübersteht, sein ‚Vaterland‘ zu finden. Auffällig an dieser Option ist der Gegenstand der einschlägigen Gespräche zwischen Moschele und Honza: Jan Hus und Jan Žižka, die nicht nur nationaltschechische Ikonen verkörpern, sondern auch in religiöser Hinsicht als Rebellen und Reformatoren die Idee eines alternativen Vaterlands pointiert zum Ausdruck bringen. Moritz erinnern diese Figuren an die Makkabäer, weshalb sie in diesen (bald abgebrochenen) Gesprächen eine mögliche Synthese aus jüdischer und böhmisch-nationaler Geschichte bzw. Zukunftsvision in den Raum stellen.6 Die sich dabei ausbildenden Zweifel und Gewissheiten über die eigene Identität sind wieder eng an zeittypische Raumerfahrungen gekoppelt: an jene der tendenziellen Offenheit eines gemischtkulturellen böhmischen Dorfes, an die der strengen Regeln und Hierarchien des katholischen Gymnasiums, das als Raum auch Ab-Geschlossenheit signalisiert, in gewisser Weise parallel zu jenen der engen Gasse und engen Wohnung seiner Gasteltern in Jungbunzlau, die zu ungebührlichen Grenz-Verletzungen im Hinblick auf die Einhaltung ritueller Vorschriften führen, und schließlich an die des durch Brandlegung zerstörten elterlich-kindheitlichen Raums, einer fortan beschädigten Intimität. Identität formt sich dabei in den durchaus gegenläufigen wie sich wechselseitig kommentierenden und kontrastierenden Alltagserfahrungen zwischen unterschiedlichen, aber zugleich ineinandergreifenden Räumen, Sprachen und Kulturen, die im Akt des erinnernden Schreibens auch Versuche kultureller Übersetzungen des Anderen ins Eigene und umgekehrt sind sowie zu davon mitgeprägten Prozessen der Selbstvergewisserung führen.

6 Kompert, Leopold: Die Kinder des Randars, in: Ders.: Aus dem Ghetto. Leipzig 1848; hier zitiert nach Ders.: Die Kinder des Randars (Edition Mnemosyne 9), hg. v. Primus-Heinz Kucher, Klagenfurt 1998, Kap. 7 mit dem programmatischen Titel „Wo ist des Juden Vaterland?“, S. 65 f.

Aspekte der Konstruktion und Dekonstruktion

2. Die vielleicht komplexeste Gestaltung von kulturellen Räumen und ihnen korrelierenden Identitätsdebatten legte Kompert in seinem schon vom Titel her signalhaften Roman in zwei Teilen Zwischen Ruinen vor, den ich, ungeachtet seiner literatur- und kulturgeschichtlichen Marginalisierung zu einem sehr aufschlussreichen Text nicht nur der österreichischen, sondern der deutschsprachigen Prosa zwischen Realismus und Moderne zählen möchte. Für die Fragestellung hier muss es genügen, auf die wesentlichsten innerjüdischen Konfliktfelder das Augenmerk zu legen, die freilich auch auf gesamtgesellschaftliche Konfliktfelder im Hinblick auf die kulturellen Identitätsparameter der Zeit um 1850–1870 (der erzählten Zeit im Roman) verweisen. Zwischen Ruinen ruft schon im Titel als paratextliches Signal auseinander gebrochene Lebensräume oder zumindest „Zerbröckelungsprocesse“ auf, wie dies kurz nach Kompert auch schon Wilhelm Goldbaum im Zusammenhang mit Identitätsdebatten aufgrund des anwachsenden Drucks der nationalen wie soziokulturellen Veränderungen festgehalten hat.7 Dabei scheint die RomanExposition dies zunächst nur vage anzuzeigen: Es steht da nämlich eine Eheschließung an zwischen einer deutschsprachigen Handwerkstochter und einem verwitweten jüdischen Fabrikanten in einem gemischtsprachigen, de facto jedoch tschechischen Dorf. Etwas über sozialen Stand, Sprache, Kultur und Religion hinaus Verbindendes scheint im letzten Moment auf Anfeindungen zu treffen, hier, wie sich bald herausstellt, auf den Widerstand des katholischen Geistlichen. Als Leser kennt man die Zusammenhänge zunächst nicht, weshalb Kompert in extenso auf die Vorgeschichte dieser angestrebten Beziehung zurückblendet. In diesem Rückblick, der den Großteil der Romanhandlung ausmacht, stehen zwei Beziehungen sowie ein familiäres Drama und deren soziale und kulturell-religiöse Kontexte im Mittelpunkt: zunächst die Beziehung zwischen dem Fabrikanten Jonathan und seiner Frau Bella, die aus einer kulturell deutschassimilierten urbanen Familie stammt, sich in die Gasse hineinverweht, geradezu entwurzelt und somit als Fremdkörper unzugehörig fühlt, was sie in ostentativer und spöttischer Ablehnung der traditionellen Lebensformen mit ihren Ritualen (etwa der gastfreundlichen Aufnahme von jüdischen Bettlern zum Sabbatmahl oder der Kontakte zu den lokalen jüdischen Frauen) sowie in Fluchthoffnungen offen zeigt, insbesondere nach der Erfahrung einsetzender

7 Vgl. Goldbaum, Wilhelm: Ghetto Poeten, in: Ders.: Literarische Physiognomien, Wien 1884, S. 339–345. Der Roman wird im Folgenden nach der einzigen zugänglichen Ausgabe, d. h. der Ausgabe in zehn Bänden von St. Hock (s. Anm. 4), zitiert und im Text mit der Sigle ZR, Band-, Kapitel- und Seitenangabe zitiert.

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antisemitischer und nationalistischer Hetze.8 Die beiden haben einen hochsensiblen, sprachlich verschlossenen Sohn, Benjamin, den die Mutter beharrlich Bernhard nennt, ohne zu ihm eine im üblichen Sinn mütterliche Beziehung entwickeln zu können. Die zweite Beziehung ist jene zwischen Jonathan und Dorothea Maria, die zunächst als Tauschkind in die Familie des (böhmisch-)tschechischen Dorfschmieds Patek kommen sollte, während dessen Sohn in jene der deutschen Handwerksfamilie, aus der Dorothea stammt, geschickt worden ist, um auf diese Weise im familiären Umfeld (und durch dieses geschützt) sprachlich-kulturelle Beziehungen zu vertiefen. Doch das Mädchen schreckt vor dem Slawischen, für sie etwas völlig Fremdes, zurück, weshalb Jonathan, zufällig Zeuge dieser Szene und mit dem Schmied bekannt, sie vorübergehend aufnehmen will. Aus diesem „vorübergehend“ wird jedoch ein Dauerzustand, nicht zuletzt deshalb, weil sich das Mädchen um Benjamin kümmert, dessen „geschlossene Lippen“ (ZR, I, Kap. 3, S. 52–72, so eine Kapitelüberschrift) sich durch ihre Zuwendung langsam zu öffnen beginnen. Mit dem Heranwachsen des Mädchens, das schrittweise auch in die jüdische Kultur hineinwächst und nahezu alle Pflichten übernimmt, die der Mutter zustünden, geht ein langsamer Erkrankungsprozess der Mutter, d. h. Bellas, einher. Kompert spricht hier nicht nur die Attraktivität und den impliziten assimilatorischen Druck der deutschen Kultur an, er modelliert den familiären Raum dieses jüdischen Fabrikanten zugleich als einen durchaus attraktiven Raum für eine gegenläufige Akkulturationsoption, d. h. die Annäherung an die jüdische (Land-)Kultur. Allerdings korrespondiert der steigenden Bedeutung Dorotheas (zunächst für den Sohn, dann auch für den Vater) die zunehmende Entfremdung Bellas, der Mutter, womit auch ein innerjüdisch hochbrisantes Thema – überlagert vom Erziehungsprozess – angesprochen wird. Beschleunigt durch die bedrängende Wahrnehmung von Fremdheit, Isolation, aber auch durch die gewaltsamen antijüdischen Übergriffe am Rosh-Hashana-Neujahrsfest und die Weigerung Jonathans, die Gasse zu verlassen, mündet Bellas Krankheit schließlich in ihren Tod.9 Zuvor vertraut sie sich jedoch der anfangs brüsk zurückgewiesenen alten Lehrerswitwe (Veile Oberländer) an, die in vielfacher Hinsicht Tradition verkörpert, aber auch eine 8 Siehe z. B. ZR, I, Kap. 5: Die Stimme des Volkes; in: Kompert, SW, 6, S. 94: „Ich will ja gerne mit dir und dem Kinde, wohin du willst, bis ans Ende der Welt! Nur hier bleiben will ich nicht.“ Die Stelle nimmt Bezug auf eine Wahlrede, in der ein „Wahlagent aus der Hauptstadt“ (S. 88) gegen Jonathan die „slawische“ Vampirsage öffentlich als Drohung ausspricht: „Soll der Spuk in unserem Lande aufhören, daß sich fremde Menschen gegen den Willen der ‚Nation‘ auflehnen, so muß man mit ihnen machen wie unsere slawischen Brüder mit ihren Vampiren.“ (S. 90 f.) 9 Vgl. ebd., S. 139: „[…] vermochte sein junges Weib von den Schrecknissen jener Nacht sich nicht mehr zu erholen. Alles, was Leben in ihr hieß, war damals für immer zerstückt und gebrochen worden […] Bella hatte seit jener Nacht das Bett nicht mehr verlassen können“.

Aspekte der Konstruktion und Dekonstruktion

Mentorinnen-Rolle – sowohl Jonathan als auch Dorothea gegenüber – innehat, womit Kompert eine sichtbare Aufwertung des weiblichen Selbstverständnisses und damit auch eine Modifikation des potenziellen Wirkungsraums einer weiblichen Stimme im innerjüdischen Diskurs vollzieht. Dieser reicht immerhin soweit, dass Veile selbstbewusst auch die üblicherweise den Vätern vorbehaltene Segnungsrolle für die sterbende Bella übernimmt (ZR, I, Kap. 8, S. 153 f.): „Der Herr segne und behüte dich! Der Herr lasse leuchten sein Angesicht über dich und sei dir gnädig! Es wende Gott sein Angesicht dir zu und gebe dir den Frieden! Amen! Amen!“ Indem sich Bella dieser Veile anvertraut – „das Geständnis einer schuldbeladenen Seele…“ (ebd., S. 156) – gelingt es ihr, die sich selbst gezogenen Grenzen, vielfach Abgrenzungen, zu übersteigen, eine Aussöhnung mit der stets als bedrückend, als kleinräumig empfundenen Atmosphäre der Gasse und ihrer Familien in extremis zu erreichen, ja mehr noch: Sie trägt der Alten auf, insgeheim dahingehend zu wirken, dass Dorothea, inzwischen zu einer jungen Frau herangewachsen, ihre Mutter- und später auch die GattinRolle übernehmen möge. Veile verrät zunächst weder Jonathan noch Dorothea diesen letzten Wunsch Bellas; sie unterzieht jedoch Jonathan einer Art Prüfung, aus der seine Zuneigung zu Dorothea offenbar klar erkennbar wird, denn Veile trägt ihm auf: „Ausreißen sollst du das Feuer, das von dir ausgeht, Jonathan, mein Sohn, und auf dem Boden austreten den Funken, wenn einer noch in dir glimmt!“ (ZR, I, Kap. 10, S. 174). Dorothea ihrerseits steht als Christin eigentlich außerhalb jeglicher Option, d. h. in Richtung Haushaltsführung, Kinderbetreuung und Gedanken an eine interkonfessionelle Ehe, obgleich sie einige dieser Funktionen im Alltag partiell bereits übernommen hat, was – auf religiös-kultureller Ebene – eine tiefgreifende Krise, einen auch für sie steinigen Nachdenkprozess auslöst. Kurz nachdem Jonathan ihr nur nach einer guten Woche nach dem Tod seiner Gattin die Mutterrolle für Bernhard/Benjamin (als „Geschenk“, wie sie es auffasst), aber auch die Ehe anträgt (ZR, I, Kap. 11, S. 197), kommt es – um die Konversionsfrage, die von nun an mit im Raum steht, aufzugreifen – zum Wiedersehen mit dem verschollen geglaubten, einst aus dem Vaterhaus verjagten, weil konvertierten Bruder Adolf/Aaron. Dieser kehrt unangemeldet als landstreichender Bettler und nun wieder gläubiger, dem Chassidismus anhängender Jude ins ehemals gemeinsame Haus zurück und verkörpert das traumatische innerfamiliäre Narrativ der Verstoßung, das seit dem Eheversprechen ja auch Jonathan und Dorothea überschattet. Vor dem Hintergrund der in Bewegung geratenen Identitätskonzepte spricht Kompert gleich mehrere kulturell-religiöse Entwicklungen an: über die Jonathan-Figur, den Vertreter eines patriarchalischen Identitäts- und Raumkonzepts, zudem Hüter der landjüdischen, väterlich vererbten Alltags-Riten, der in seiner Beziehung zu Bella, der säkular ausgerichteten, urbanen jüdischen Gattin scheitert, während sie ihrerseits wiederum an den ihr lange fremden

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Verhältnissen des Dorfes, der Gasse zerbricht, den langsamen Erosionsprozess der Tradition, um im Zuge der Begegnung mit Dorothea eine überraschende Grenzüberschreitung, d. h. die Konversion, ins Auge zu fassen. Über Aaron schließlich kommt eine grundlegend andere Perspektive ins Spiel: jene einer tiefen ‚Frömmigkeit‘ (ZR, II, Kap. 16, S. 59 f.), die auf den ‚rechten‘ Glauben anspielt, auf Rückkehr pocht und chassidisch-chiliastische Züge trägt sowie den Osten (gemeint ist Polen) als Quelle des Lichts ins Gespräch einführt: Aus dem Osten kommt das Licht, von dort bricht es an; es wandert vom Morgen bis zum Abende. Wehe denen, die sich vermessen seinem Laufe entgegenstemmen wollen, die da glauben, weil es noch klein ist und unbedeutend, sei es ein Lichtstümpfchen. Wie feurige Ruten wird es auf sie niederregnen, und sie werden wie dürres Stroh verzehrt werden. (ZR, II, Kap. 16, S. 60)

Damit bringt Kompert gleichsam die diametral entgegengesetzte Position zur Erosionslinie Säkularisierung – Glaubensverlust – Assimilation in den Text ein, lässt sie aber ins Offene auslaufen. Vom Erzählfluss her gesehen – wir haben es mit einem Roman und nicht mit einem Traktat zu tun –, wirkt sie zwar als retardierendes Moment, das jedoch Möglichkeiten zur Überprüfung der jeweils eingeschlagenen Wege und anstehenden Entscheidungen schafft. Wenn am Ende Kompert sich für die Option rationaler Sentimentalität ausspricht, d. h. für eine Verbindung über die konfessionellen Grenzen hinweg in Gestalt einer Zivil-Ehe,10 die keinem der Partner einen Glaubenswechsel abnötigt, so treten die Protagonisten in diese allerdings nicht mehr als Repräsentanten festgefügter Identitäten ein: Dorothea nicht mehr als Katholikin, die der Autorität der Kirche und dem priesterlichen Wort gehorcht – dieses hat immerhin den Brandanschlag auf Jonathans Fabrik gutgeheißen –, sondern de facto auch im jüdischen Alltag, einschließlich der Kenntnis der Festrituale, gut verankert; Jonathan nicht mehr als Verfechter der vom Vater übernommenen Ideen, sondern nunmehr bereit, sich auch anderen, radikalen Optionen zu stellen. Zwischen Ruinen vermag also, ungeachtet des Erosionssignals, des Zerfallens vertrauter, auch räumlich präziser Ordnungen, unkonventionelle Wege abzustecken. Im Sinn eines radikalen Sich-Selbstexponierens aus potenziellen Ruinen hinaus zielt der Roman auf nichts Geringeres als darauf, neue Konstellationen anzuzeigen, eine „dynamische Versuchsanordnung“ selbst dort auszuloten, wo das Kompromisshafte die Entscheidung des Protagonisten zu konditionieren scheint. Trotz mancher Vorbehalte, die auch in der Kompert-Forschung formuliert wurden, eröffnet diese zwar von Melancholie geprägte, zugleich aber auch 10 In Österreich-Ungarn 1868 eingeführt, auch unter der Bezeichnung ‚Notzivilehe‘ verbreitet.

Aspekte der Konstruktion und Dekonstruktion

angestrebte Option zweierlei: individuelle Glückserfahrung mit dem Gebot des Familienstatus zu vereinen sowie mit sich selbst und indirekt auch mit Figuren und deren Perspektiven aus seinen vorangegangenen Texten in ein reflexives inter- wie transtextuelles Zwiegespräch eintreten zu können.11 3. Franzos’ Romanerzählung Judith Trachtenberg, erstveröffentlicht 1891,12 auch ein Schwellentext hin zur Moderne, thematisiert, in umgekehrter religiöskultureller Konstellation, ebenfalls Unwägbarkeiten bzw. (Un-)Möglichkeiten einer interkonfessionellen Beziehung. Im Zentrum stehen einerseits ein jüdisches Mädchen (Judith), andererseits der polnisch-katholische Graf Agenor Baranowski, beide gerahmt durch Familie (im Fall Judiths) sowie durch die sozialen Eliten (Freunde und k. k. Beamte im Fall Agenors) einer galizischen Kleinstadt. Durch Handel und Gewerbe zu Wohlstand sowie durch Reisen in den Westen zu Bildung gekommen, darüber hinaus des Deutschen in „reiner“ Form (JT, S. 7) mächtig, steht bzw. sieht sich diese Familie, bestehend aus dem alten Nathaniel Trachtenberg und den Kindern Judith und Raffael, dem zum Studium in Heidelberg bestimmten Sohn, in einem Schwellenraum. In diesem haben einerseits traditionelle Wertvorstellungen noch ihr Gewicht, andererseits hat jedoch bereits ein Ablöseprozess von ihnen eingesetzt, und zwar in Richtung eines Kompromisses zwischen Akkulturation an die deutsche Kultur – Wiener Zeitungen, Lessing und Schiller als Leitvokabeln –, um dem rückständigen, „dumpfen Brodem des Ghetto“ (JT, S. 7) zu entgehen, und fortbestehender Vereinbarkeit mit jüdischem Leben im Zeichen einer sich an die Zeit und deren Wandel anpassenden jüdischen Identität. Judith präsentiert sich von den ersten Seiten an nicht mehr als das Mädchen, das sich nur auf den engeren familiären Raum beschränkt, passiv ihrer Beschau entgegenzittert (obwohl diese als Thema am Horizont steht und die fehlende Verheiratung vor dem 20. Lebensjahr ihrem Vater von jüdischen Mitbürgern 11 Vgl. Steiger-Schumann: Jüdisch-christliche Liebesbeziehungen, S. 314. Die Einschätzung von M. Theresia Wittemann teilt der Verfasser nicht, wenn sie die Auffassung vertritt, der Roman sei eine Art „Zwischenglied zwischen der Heimatdichtung Ranks und den späteren ‚Grenzlandromanen‘. Vgl. Wittemann, M. Theresia: Draußen vor dem Ghetto. Leopold Kompert und die ‚Schilderung jüdischen Volkslebens‘ in Böhmen und Mähren (Conditio Judaica 22), Tübingen 1998, S. 290. 12 Vgl. Franzos, Karl Emil: Judith Trachtenberg. Erzählung, Breslau 1891. Im Folgenden wird der Text zitiert nach der Ausgabe im Verlag der Nationen (Berlin 1987) und im Fließtext mit der Sigle JT und Seitenangabe gekennzeichnet. Dazu in der Erzählung eine aufschlussreiche Stelle, nämlich die erste.

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bereits zum Vorwurf gemacht wird). Vielmehr versteht sie sich als junge Frau, die zum Missfallen der mehrheitlich orthodoxen Juden und ihres nach anfänglicher Tolerierung ebenfalls irritierten Vaters ihren Eintritt in das soziale und sentimentale Leben in die eigene Hand zu nehmen gewillt ist. Das bedeutet nichts Geringeres, als Grenzen zu überschreiten, auch den Bruch mit ihrer Herkunft mit einzukalkulieren, und zwar spätestens, als sie gegen das väterliche Verbot der Fortführung ihrer heftig hervorbrechenden Liebesbeziehung zu dem polnischen Grafen Baranowski, der ihr gegenüber als galanter Verführer auftritt, das Vaterhaus verlässt, um ihn heimlich zu treffen. Von außen wird sie alsbald mit dem Stereotyp der ‚schönen Jüdin‘ belegt – „Es war zwischen ihm und der schönen Jüdin gekommen wie es kommen mußte…“ (JT, S. 56) –, was sie zwar mit Attributen wie Liebesfähigkeit, aber auch gefährlichem Begehren ausstattet (insbesondere bei Lesern, die sie in eine Tradition solcher Frauentypen bzw. Weiblichkeitsimaginationen stellen), vielmehr aber noch den Projektionen ihrer christlichen Umgebung, in der sie anerkannt werden will, aussetzt.13 Als Tochter eines zwar vermögenden, aber in seinen Rechten beschnittenen jüdischen Vaters ist sie im sozialen Feld, in dem sie sich bewegt – und das geprägt ist von Korruption der Beamten, nicht funktionierender Rechtsstaatlichkeit sowie von Standesdünkel der Aristokraten und ihrer Entourage –, mehrfach exponiert: Ihre Ehre gilt nicht als satisfaktionsfähig, zugleich ist sie nahezu wehrlos den Avancen und Beleidigungen gegenüber ausgeliefert; ihre Aufstiegsträume haben sich an Vorurteilen abzuarbeiten bzw. zerschellen an ihnen, gelten letztlich bloß als Usurpation nicht zustehender sozialer Rollen. Franzos arbeitet in den Beziehungskonflikt mit dem nur nach außen hin aufgeschlossen wirkenden polnischen Grafen Baranowski eine ganze Reihe von innerjüdischen Debatten und gesamtgesellschaftlichen Aspekten ein, die sich zu voreiligen und einfach-schlüssigen Identitätskonfigurationen – dem assimilatorischen wie dem traditionsbewahrenden Paradigma – querlegen und in komplexere Reflexionen, auch im Scheitern, ausdifferenzieren. Vor allem aber scheint es ihm darum zu gehen, die Problemfelder von vermeintlich klar an der gesellschaftlich-kulturellen Oberfläche nachzeichenbaren Figuren in deren Inneres zu verlegen, insbesondere bei Judith, aber auch – im Sinn eines begleitenden skeptischen Kommentierens – bei Raffael. Als im Zuge sich einstellenden Geredes nachfolgende Gespräche zwischen Vater und Tochter über den Abbruch dieser Beziehung ergebnislos verlaufen, will sie ihr Vater vor diesem blendenden „Wahn“ buchstäblich retten, indem

13 Vgl. Krobb, Florian: Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg (Conditio Judaica 4), Tübingen 1993, S. 201.

Aspekte der Konstruktion und Dekonstruktion

er ihr weiteren gesellschaftlichen Umgang verbietet, damit aber auch die eigenen liberalen Maximen mit Berufung auf die Tradition aufkündigt: „Du wirst die Leute da oben und den Grafen nie mehr sehen und sprechen, du wirst auf deinem Zimmer bleiben und es ohne meinen Befehl nicht verlassen.“ (JT, S. 75) Die Segregation von der Außenwelt umgeht Baranowski indes mit der Entführung Judiths, was wiederum das langsame Sterben ihres Vaters zur Folge hat. Knapp vor seinem Tod wird schließlich der letzte Wunsch des sterbenden Trachtenberg erfüllt: das makaber wirkende Begräbnisritual (an Judiths Stelle wird ein „großer vollblühender Rosenstrauch“ zerknickt und seine Blätter werden ausgerissen), das ihre Verstoßung aus der Gemeinde symbolisch vollzieht, jedoch noch eine Option offenhält: für den Fall, dass sie nicht vom Glauben abfällt, eine Grabstätte zwischen ihren Eltern (JT, S. 97 f.). Judith wiederum muss rasch die Verlogenheit zur Kenntnis nehmen, mit der der stolze wie feige, die Familienehre über alles stellende Graf – „Mein Stolz auf unser Geschlecht, unseren Namen, unser Blut […] das Rückgrat meines Lebens“ (JT, S. 109) – eine standesgemäße Heirat mit Judith im Gespräch mit dem Regimentsarzt von sich weist – „eine Heirat wäre moralischer Selbstmord“ (JT, S. 103). Nur zu einer rechtlosen Scheintaufe und Scheinehe, für Judith inszeniert und vorgegaukelt, „um jenes lästerlichen Segens willen“ (JT, S. 129), lässt sich der Graf überreden. Allerdings wird gerade diese Täuschung sie später frei für die langsame Rückbesinnung auf ihre Herkunft machen. Und sie macht sie, nach einer entwürdigenden Rückkehr aus einem Exil in Italien am Ostufer des Gardasees, nach der Konfrontation mit der Judenfeindlichkeit der bäuerlichen Massen, aber auch der Ablehnung durch die jüdische Bevölkerung, die in ihr nur noch eine Abtrünnige sieht, auch frei für die finale Opfergeste: den Freitod. Dieser trägt sowohl dem schuldhaft empfundenen Verrat am Vater, von dessen Tod sie erst nach einem Jahr und der Geburt eines Kindes erfährt (JT, S. 147), als auch der zwischenzeitlich eingetretenen Ernüchterung – „die entfremdeten Gemüter“ (JT, S. 156); die heimkehrende Judith als „Todfeindin“ (JT, S. 183) – sowie der damit einhergehenden psychophysischen Krise und Krankheit Rechnung. Zuvor aber ist sie noch imstande, unter Aufbietung aller verbliebenen Kräfte die Re-Konstitution von Rechtsverhältnissen (über eine Zivilehe, in die der Graf nach anfänglichem Zögern einwilligt, sowie über Absicherungen für den gemeinsamen Sohn) zu erreichen. Judith geht also nicht aus dem Leben, ohne tiefe Spuren in ihrem Umfeld hinterlassen zu haben: Sie darf, wie ihr Vater gehofft hatte, im vorbestimmten Familiengrab beigesetzt werden, und sie lässt selbstbewusst ihren komplexen Status, die rechtlich sanktionierte Verbindung als Tochter des jüdischen Vaters und Gattin eines christlichen Aristokraten, aber auch ihre Kritik an den herrschenden Vorurteilen und praktizierten Demütigungen wie ihre Hoffnung auf deren Überwindung in den Grabstein meißeln:

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„JUDITH GRÄFIN BARANOWSKA, die Tochter des Nathan ben Manasse aus dem Stamme Israel“. (JT, S. 230) 4. Mag uns Komperts Perspektive aus Zwischen Ruinen als die in sich stimmigere, auf Dialogizität setzende und dabei den individuellen Gedächtnisraum der Protagonisten an säkulare Aspekte des Modernisierungsprozesses heranführende erscheinen, so wird man Franzos konzedieren müssen, die letztlich schärfere, desillusionierende Gestaltung desselben Leitthemas skizziert zu haben. Indem Franzos die Unfähigkeit der dominanten Kulturen, d. h. der polnischkatholischen wie der habsburgischen Bürokratie mit ihrer Anfälligkeit für Korruption, zu einem fairen Dialog herausstellt, aber auch falsche Erwartungen der jungen jüdischen Generation sowie ein im Ansatz „unterwürfiges Anempfinden fremder Lebenshaltung“ kritisch durchscheinen lässt, so in der Allgemeinen Zeitung des Judentums, tritt die ganze Ambivalenz dieser Romanerzählung schärfer zutage.14 Und sie wirkt auch in ihren Brüchen durchaus stimmig, weil der Haupthandlung mehrere Episoden und Mitakteure eingeschrieben sind, die auf verschiedenen sozialen Ebenen und in unterschiedlicher Nähe/Ferne zu den Protagonisten die vordergründig ablaufende Konfliktdynamik wie die Reflexionseinschübe mitkommentieren und somit ausdifferenzieren. Letzteres erlaubt auch eine Anmerkung zur sprachlichen, diskursiven Verfasstheit der Texte: Während bei Kompert eine inklusive Praxis überwiegt, sichtbar im Ringen um interkulturelle Begegnung, um Dialogizität sowie in der Sensibilität für eine Sprachkultur, die signalhaft auf dem Weg in den zeitgenössischen Kanon der deutschsprachigen Literatur (ohne in ihm nachhaltig Fuß fassen zu können) auf das je Eigene, auch Eigenwillige und Differente beharrt und die von mancher zeitgenössischen Besprechung auch anerkannt wurde,15 führt Franzos, stärker von seinem geradezu kulturmissionarischen deutschen Habitus geprägt, letztlich die Unfähigkeit der nebeneinander existierenden Kulturen, Religionen und Sprachen vor, Differenzen auszuhandeln und sie auch in produktive Potenziale zu verwandeln.

14 Vgl. Frank, Ulrich: Judith Trachtenberg. Erzählung, in: Allgemeine Zeitung des Judentums 55 (1891), S. 32 f., hier S. 32; zitiert nach: Glasenapp/Horch: Ghettoliteratur, Bd. 1, S. 473. 15 Vgl. Honegger, Johann Jakob: [Zwischen Ruinen], in: Blätter für literarische Unterhaltung 51 (1875), S. 666 f., zitiert nach Glasenapp/Horch: Ghettoliteratur, Bd. 1, S. 578 f., wobei allerdings wiederholt auf „eine ganz fremde Welt“ verwiesen wird, zugleich aber auch im Sinne eines „der originellsten Producte neuester Romanliteratur“.

Joachim Schlör

Transit Berlin A Memory Void in the Metropolis of Exile

1. On January 15, 2013, some Berlin newspapers reported that a historic building in the district of Spandau-Ruhleben, despite having been listed as a monument only three years earlier, had been torn down by its owner: “Der alte Berliner Auswandererbahnhof in Ruhleben wurde in einer Nacht- und Nebelaktion abgerissen.”1 Not many people knew of its existence, although a group of local historians had initiated a plan to build a museum there and had already established contact with the Ellis Island Immigration Museum.2 “Substantially”, as a member of the administration responsible (Landesdenkmalamt Berlin) pointed out, “there was no way to keep the building” – and while this bureaucratic formula of course refers to the building’s substance in technical terms, it might as well be read metaphorically: Both the historical event that the train station symbolically stood for, the transmigration of Eastern European Jews, between 1880 and 1924, through Berlin and onward to Western countries, and the manifold narratives connected to this event, have not yet found their place in Berlin’s memorial landscape (Fig. 1 and 2). Berlin’s landscape of memory – more than a simple “lieu de mémoire” – has been the topic of many discussions in recent years. Brian Ladd has analysed the “Ghosts of Berlin”,3 Jennifer Jordan has made us familiar with the city’s “structures of memory”,4 and many other authors contributed to a debate on the question how Germany’s capital lives (or can live, or should live) with the physical and mental remnants of the past or, rather, the layers of so many different pasts. For obvious reasons, this discussion has focussed, firstly, on the 1 Krüger, Ole: Baracke weg. Historischer Bahnhof einfach abgerissen, in BZ, January 15, 2013; Uhde, Michael: Entscheidung wurde mit Denkmalschutz-Behörde getroffen, in: Spandauer Volksblatt, January 15, 2013. 2 http://www.ellisisland.org/genealogy/ellis_island_visiting.asp (last access: 07.06.2014). 3 Ladd, Brian: The Ghosts of Berlin: Confronting German History in the Urban Landscape, Chicago 1997. For Germany’s “lieux de mémoire” cf. François, Etienne/Schulze, Hagen (eds.): Deutsche Erinnerungsorte, Munich 2001–2002. 4 Jordan, Jennifer A.: Structures of Memory. Understanding Urban Change in Berlin and Beyond, Palo Alto 2006.

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Fig. 1: The emigrants’ train station of Ruhleben.

“heritage” of the National Socialist regime of 1933–1945, on the persecution and deportation of Berlin’s Jews and other ethnic minorities and political opponents and, secondly, on the “legacy” of the Communist regime in East Germany and East Berlin. Neither “heritage” nor “legacy” seem quite adequate terms here, but they both at least contain a necessary reference to the fact that more than just narratives – memories, stories, images – have remained and continue to disturb our national, and urban, conscience. There are also very many spaces, built, destroyed, erased, rebuilt, that confront citizens and visitors with (sometimes visible/audible, sometimes silent) messages from the past; and although lately the city has become a leading tourist attraction for its relaxed atmosphere, its clubs and riverside beaches, still many people come to Berlin because they want to see, to experience, maybe even to “feel” history on site – and, as is indeed possible, between the sites, in a dialogue of historical evidence, with Brandenburg Gate and the Memorial for the murdered Jews of Europe in close walking distance, or at the excavation site of the former Gestapo building, reconfigured as the “Topography of Terror” exhibition hall and study centre, in sight of the thinned-out concrete structure of the Berlin Wall. The following article is based on research undertaken some ten years ago, together with a group of students at Potsdam University. Studying “Transit Berlin” meant for us to dig deep into both transnational and local history: to learn about the life conditions of Jews in imperial Russia and to discuss the

Transit Berlin

Fig. 2: The emigrants’ train station of Ruhleben.

possible reasons why so many of them, nearly three and a half millions, left their homelands and migrated westward;5 to work out a map of transitory stations from Odessa and Brody via Vienna or Berlin to Paris, London, and New York (Fig. 3). We have also tried to place Berlin within this map which has been formed by “geographical imagination” (Derek Gregory6 ) in many different forms (and developed by a variety of agents, governments, shipping companies, aid organisations) and by the migrants’ own cultural practice of travelling, of leaving, staying at intermediate places, and arriving;7 to find sources – written, visual and, indeed, architectural – within the Berlin landscape and to document them:

5 Klier, John: Imperial Russia’s Jewish question, 1855–1881, Cambridge and New York 1995. 6 Gregory, Derek: Geographical Imaginations, Oxford 1994. 7 Schlör, Joachim: “Solange wir auf dem Schiff waren, hatten wir ein Zuhause“. Reisen als kulturelle Praxis im Migrationsprozess jüdischer Auswanderer, in: Voyage. Jahrbuch für Reise- und Tourismusforschung 2013: Mobilität, ed. by Johanna Rolshoven and Dunja Sporrer, pp. 226–246; ibid.: “Menschen wie wir mit Koffern”. Neue kulturwissenschaftliche Zugänge zur Erforschung jüdischer Migrationen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Kriebernegg, Ulla/Lamprecht, Gerald et al. (eds.): “Nach Amerika nämlich!” Jüdische Migrationen in die Amerikas im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2011, pp. 23–54.

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Fig. 3: The official routes of Jewish emigrants through Germany.

A central place in this context was the “Auswandererbahnhof ” in Ruhleben. Although I did present our research in my inaugural lecture at Potsdam University in June 2004, I have never used the collection of documents for my publications but rather handed them over to Tobias Brinkmann, who was then still based at Leipzig University and has made the best use of those sources (and, of course, so many others) in his own research.8 The news that the one building that had embodied the history of transmigrancy in Berlin has vanished brought me back to the sources. Even ten years ago it wasn’t easy to find, because the formerly isolated place – and not without reason had it been placed in isolation – was already overgrown with urban sprawl, supermarkets, gas stations and the like: an old, partly wooden structure,

8 Brinkmann, Tobias: Migration und Transnationalität: Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte, Paderborn 2012; ibid.: Profit vs. Solidarität? Jacob Schiff, Albert Ballin und die jüdische Auswanderung aus Osteuropa 1890–1914, in: Zeitschrift für Weltgeschichte 14 (2013), pp. 81–100; ibid.: From Immigrants to Supranational Transmigrants and Refugees: Jewish Migrants in New York and Berlin before and after the “Great War”, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 30 (2010), pp. 47–57; ibid.: Traveling with Ballin: The Impact of American Immigration Policies on Jewish Transmigration within Central Europe, 1880–1914, in: International Review of Social History 53 (2008), pp. 459–84; ibid.: From Hinterberlin to Berlin: Jewish Migrants from Eastern Europe in Berlin before and after 1918, in: Journal of Modern Jewish Studies 7 (2008), pp. 339–55; ibid.: “Grenzerfahrungen, zwischen Ruhleben und Ellis Island: Das System der deutschen Durchwandererkontrolle im internationalen Kontext 1880–1914”, in: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 2 (2004), pp. 209–229.

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looking more like a garage than a train station, and quite lost in its surroundings. And just like post-War urban development has grown over the site, the dominant post-War, post-Holocaust, and also post-Wall, memory cultures have pushed this specific aspect of Berlin’s memorial network to the side. Trying to reconstruct its place both in the history of concrete events and in the cultural dialectics of remembering and forgetting in an urban context may be a useful exercise at a time when Berlin is taking on new responsibility as a place of exile for contemporary refugees.9 Like the lake Stechlin in Theodor Fontanes’s eponymous novel from 1898 – a place that somehow receives underground news from all over the world and awakens to life, “wenn es weit draußen in der Welt, sei’s auf Island, sei’s auf Java, zu rollen und zu grollen beginnt”10 – this site acquired importance not so much through its own role but because of its connection with events that took place thousands of miles to the East and to the West; because it was placed between, say, Odessa and New York City, and it saw (and managed) the intermediate arrival of those who had left Russia, and Russian Poland, and again their departure to far-away destinations in the Americas. The emigrants’ train station of Ruhleben has been a focal point where different cultural practices, information and news, plans, narratives – and, finally, memoirs – relating to the mass emigration of 1880–1924 came together. The narrative of the departure has been written, and is still being discussed, in the framework of Russian-Jewish and Eastern European Jewish history, while the narrative of the arrival became part of the national narratives of the United States, Argentina and other destinations. The history of Ruhleben begins with “a rumbling and thundering” in the Tsarist Empire, in “The East”; it forms part of a greater narrative that connects it to places such as Brody, Vienna, Paris, London, Southampton and many others across Europe; and it ends during World War I, even before the time when “The West” closed its gates – and (at least partly) the great book that contains the stories of free immigration to the United States.

9 Cf. Snyder, Donald: Jews Stream Back to Germany. Thousands of Israelis and Diaspora Jews Seek Citizenship, in: Jewish Daily Forward, April 13, 2012, http://forward.com/articles/154277/ jews-stream-back-to-germany/?p=all#ixzz38bCdmckp (last access: 26.07.2014); Will Coldwell, Refugees tell a different Berlin story, in: The Guardian, November 28, 2015, https:// www.theguardian.com/travel/2015/nov/28/refugees-tell-a-different-berlin-story (last access: 15.01.2020). 10 “That happens when far off in the outside world, perhaps on Iceland or in Java, a rumbling and thundering begins, or when the ash rain of the Hawaiian volcanoes is driven far out over the southern seas. Then things start to heaving at this spot too, and a waterspout erupts and then sinks down once more into the depths.” Fontane, Theodor: The Stechlin, Columbia 1995, p. 1.

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When mass emigration from “here” and mass immigration “there” reached numbers that seemed more and more difficult to manage on all sides, the agencies concerned with the organisation of the exodus and the transportation of the masses, mainly the shipping lines, demanded the establishment of new, intermediate border and control stations in the vast in-betweenness. Potential immigrants who had been rejected by medical (or social) control at Ellis Island, needed to be shipped back to Europe; to prevent this (and the high costs coming with it), Hapag-Lloyd and other firms asked the countries of transit to build stations where such measures of control could be taken before the migrants would reach even the port cities of Germany and France, Bremerhaven, Hamburg, Cuxhaven, or Cherbourg.11 2. The local newspaper for the city of Spandau (which became a part of Greater Berlin only in 1920), Der Anzeiger für das Havelland, reported on October 15, 1882: Since a fortnight the number of emigrants on the Lehrter Bahn [the train line connecting Berlin and Hannover, the interchange station for the sea ports] has increased considerably. Every day 100 to 120 persons arrive here from Berlin and completely occupy the 3rd and 4th class waiting room for hours. With bed sacks and clothes bundles and with all kinds of tools they occupy all available space and often block the entrance. These people come from Hungary, Serbia, Romania etc. and, in their traditional garb and their customs, provide us with a colourful picture. Disturbances and inconveniences provoked by these people’s stay at the local station have led to complaints directed at the railway division which has taken into consideration the plan to establish the shack (formerly Wagner’s, now Schulze’s) on Hamburger Chaussee, used for commercial purposes, as a space for the sojourn of migrants, presuming that emigration will soon come to an end for this year. Last Thursday the railway company’s architect has inspected the shack and the place for this purpose.12 11 Cf. Brinkmann, Tobias (ed.): Points of Passage. Jewish Migrants from Eastern Europe in Scandinavia, Germany, and Britain 1880–1914, New York and Oxford 2013. 12 Anzeiger für das Havelland. Spandauer Anzeiger, October 15, 1882 (“Über die durch den Aufenthalt dieser Leute auf dem hiesigen Bahnhof entstehenden Störungen und Unannehmlichkeiten sind bei der Eisenbahn-Direktion Beschwerden eingegangen und hat dieselbe in Erwägung gezogen, den früheren Wagnerschen, jetzigen Schulzeschen Schuppen an der Hamburger Chaussee, der bisher zu gewerblichen Zwecken benutzt wurde, für nächstes Jahr als einen Raum zum Aufenthalt für Auswanderer einrichten zu lassen, da doch wohl mit Ende

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Sometimes world history begins at unsuspected places; here it is Wagner’s shack which formerly belonged to Schulz.13 In October 1882, the local officials in Spandau were not yet sure what kind of development they were witnessing, and they seemed to hope for a quick ending of such unheard-of and strange movements – not quite accurately, one could say from hindsight. A rise in migrants’ movements had been reported earlier in that year, for example – in the same paper – on June 3, 1882: The interchange of migrants on our local train stations is a completely new phenomenon [Erscheinung]. While such people, in earlier times, used to be transported from Berlin’s East or Silesian Train Station [Ostbahnhof, Schlesischer Bahnhof] to Hamburger or Lehrter Bahnhof [both within Berlin], today the authorities translocate them at Schlesischer Bahnhof and put them on a local train to Spandau where they stay until the next passenger train to Hamburg arrives here. This way, last Thursday morning c. 400 migrants camped at Hamburger Bahnhof, and on Friday morning at a quarter to eleven the local train from Lehrter Bahnhof again brought about 50 persons, men, women, and children, Jewish emigrants from Galicia, who immediately camped on the platform and restored themselves from the supplies they had brought. In the afternoon, these people boarded the passenger train to Hamburg from where they will cross the ocean to reach their longed-for Eldorado, America.14

The newspaper puts some emphasis on the fact that the trains in question carry a sign on their front that marks them as local trains, with destinations between Spandau and maybe Neuruppin (and surely not, as we read between the lines, “America”), meaning: We locals have nothing to do with these events. But the hope that Spandau would escape from world history was futile. In November of 1882 we find more regional reports “aus dem Havellande” stating that the wave of emigration, contrary to what had been expected, does not decrease “in spite of the advanced season“ and that “agents strongly keep

dieses Monats für dieses Jahr die Auswanderung aufhören dürfte.”) All translations from the historical sources are mine, JS. 13 For local research, cf. also Hengsbach, Arne: Station der Europamüden. Die Geschichte des Auswandererbahnhofs Ruhleben, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins 70 (1974), pp. 420–429; Schulz, Karin: Der Auswandererbahnhof Ruhleben – Nadelöhr zum Westen, in: Die Reise nach Berlin (Ausstellungskatalog), Berlin 1987, pp. 237–241; Der Auswanderer-Bahnhof in Ruhleben bei Spandau, in: Zentralblatt der Bauverwaltung 13, No. 14 (1893), pp. 142–143. 14 Anzeiger für das Havelland. Spandauer Anzeiger, June 3, 1882.

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up the momentum”.15 District magistrate Schulz’ old shack has by now been converted into a “provisional waiting hall for emigrants”, and a special ramp for the processing of the migrants has been erected as well. This improvised and rather makeshift situation will last for several years to come. After nearly a decade the local authorities begin to understand that the wave of transmigrants (as they perceive it) will not come to an end so quickly. On July 15, 1891, the Anzeiger reports about the new development: “Ruhleben’s emigrants’ train station [Auswanderer-Bahnhof] has been used this morning for the first time. A train coming in from Berlin, consisting of ten waggons with emigrants, stopped there for about an hour while the passengers had the opportunity to provide themselves with food. Then the train moved on, slowly passing the local station.”16 The article goes on with a description of the place: Three barracks serve about 200 persons. Rooms for the sale of tickets, for the railway officials, and the emigration agents are attached to the central hall. There is a disinfection station, a quarantine station with 24 beds, a canteen, a massive building with four sleeping halls for six persons each. Iron ovens provide heating.17 For the moment Spandau sees those “tired of Europe” (“die Europamüden”18 ), who are not allowed to leave their waggons, only in passing. But the local authorities had the indication that they would have to “provide shelter for those strangers both by day and by night” (“den Fremden sowohl während der Nacht als auch am Tage in angemessener Weise Unterkommen gewähren”19 ) before they could be transported further, in special trains (Sonderzügen) to Hamburg. The industrial area of Striesow, west of Ruhleben – today the place boosts to be 15 For the role of agents in the migration process, cf. Pollack, Martin: Der Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien, Munich 2010. 16 Anzeiger für das Havelland, July 15, 1891. 17 In more detail: “Auf dem Gelände befanden sich drei Unterkunftsbaracken für jeweils ungefähr 200 Personen. An die mittlere Halle waren Räume für den Fahrkartenverkauf, die Aufsichtsbeamten und für die Auswandereragenten angebaut. Hinzu kamen eine Desinfektionsanstalt mit Duschräumen, eine Isolierstation mit 24 Betten, eine Kantine, sowie ein massives Gebäude mit vier Schlafräumen für jeweils sechs Personen. Später kam noch ein vom Jüdischen Hilfswerk errichtetes Gebäude mit einem Küchentrakt hinzu. Die aus Wellblech errichteten Baracken waren mit Holz verkleidet. Die beiden Größten waren 80 Meter lang, 10 Meter breit und 6 Meter hoch. Geheizt wurde mit in der Mitte des Raumes aufgestellten eisernen Öfen, von denen ein eisernes Abzugsrohr direkt durch die Decke ins Freie führte. Die Desinfektionsanstalt wurde aufgrund der großen Hamburger Choleraepidemie von 1892 eingerichtet. Hamburg und Bremen drohten den Transportgesellschaften mit einer vollständigen Sperrung ihres Stadtgebiets für Auswanderer und verlangten fortan eine ärztliche Kontrollkarte aus Ruhleben als Bedingung für die Einschiffung. Zudem wurde neben den Baracken des Auswandererbahnhofs auch ein Lazarett mit 12 Betten errichtet”. 18 Anzeiger für das Havelland, July 15, 1891. 19 Anzeiger für das Havelland, June 17, 1891.

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the site of Europe’s largest garbage incineration plant – turned, between 1891 and 1914, unplanned and unforeseen, into a place of Jewish history – between Russia and America. In 1892, as cholera broke out in Hamburg, the immigration authorities in the United States and other destinations such as Argentina requested from the shipping lines (and, by consequence, from the governments concerned, especially Prussia) the establishment of medical (as well as political) border control stations to prevent the spread of diseases and epidemics: Eydtkuhnen on the Russian-Prussian border, Ruhleben, and the “Auswandererstadt Hamburg-Veddel”. This put even more pressure on the authorities at Spandau – in their dealing with the transmigrants, but also in their relationship to the city of Berlin and the Jewish institutions and aid organisations responsible for the procedure. The fate of the transmigrants – caught between the pressures, decisions, and regulations in the East where they came from and in the West where they intended to arrive – was an important incentive to action and propaganda both for the assimilationist Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) and the Jüdischer Hilfsverein on the one side and for the emerging Zionist movement on the other. Author and lawyer Sammy Gronemann remembers how real and concrete help for transmigrants stuck on a train in Hannover was an important moment in the development of the local Zionist organisation.20 Why did the Berlin Jewish community support (or, at least, not protest against) the removal of the transmigrants from the inner-city stations to an improvised shack far outside where those “Eastern Jews” were less visible? How did representatives of the different fractions within German Jewry regard those “brothers and strangers”21 who rested, for an intermediate period, in their midst? How did the events shape and influence German-Jewish relations in the years leading up to the Great War? And, beyond that: (How) does the history of these trains – closed wagons, with passengers stuck in different forms of in-betweenness – relate to the deportation trains that started to leave from Berlin-Grunewald on October 18, 1941?22 3. Trying to understand this episode in Berlin’s history, and trying to “read” the forlorn place outside of the city centre then and today, would require a large 20 Gronemann, Sammy: Erinnerungen. Aus dem Nachlass hg. v. Joachim Schlör. Erster Teil, Berlin 2002. 21 Aschheim, Steven: Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800–1923, Madison, Wisc. 1982. 22 Presner, Todd: Mobile Modernity: Germans, Jews, Trains, New York 2007.

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research project. Both would have to be contextualised within the framework of the history of mass migration from East to West, within the history of Berlin’s changing topography of migration (into the city and away from it), but also within the history of Jews in Germany – many of whom had arrived from places in “the East” before they made their way into German society. While teaching at Potsdam University, and especially at the Leo Baeck Summer University, I have used the idea of a “spatial imagination” to encourage students to think about concepts such as “the East”, “the West”, “Berlin”, “Europe”, and “America” (as well as “Israel”) in our discussions of German-Jewish history and culture both within and outside of Germany. “East” and “West”, in this context, obviously mean more than just points of the compass – for Jews arriving in Berlin since the age of enlightenment they were, as Sammy Gronemann so succinctly put it, “less geographical and more temporal notions”, since after arrival “making one’s way” in the city usually meant attempting to move westward, to leave the eastern parts of the city, including the notorious “Scheunenviertel”, behind and settle in Schöneberg or Charlottenburg, more prestigious parts of the city.23 The notion of “Berlin” itself means much more than just the urban entity first mentioned in 1237 that happened to become the capital of Prussia in 1701 and of unified Germany in 1871; the name is closely connected to the figure of the “Berliner”, the maskil (often in a light-weight form) who brings the light, or so he thinks, of emancipation to his poor eastern brothers and sisters. And for many of those Berlin did indeed symbolise something quite similar to “America”, a beacon of hope and a destination of refuge, an exile indeed24 – until 1933, when – a period which is not under discussion here but very clearly present in our minds – “Berlin” became the symbol of Nazi power and the city’s Jews realised the urgent need to leave and to take their personal memories and images of a lost Berlin elsewhere, to other exiles. Ruhleben, the intermediate place of sojourn for thousands of emigrants and future immigrants between 1882 and 1914, has not yet found a clearly defined point in this network of place-meanings. Furthermore, it would be necessary to discuss it in more abstract geographical terms as well, exile, diaspora, yes, but also mobility and travel,25 and we would 23 Saß, Anne-Christin: Berliner Luftmenschen. Osteuropäisch-jüdische Migranten in der Weimarer Republik, Göttingen 2012; Saß, Anne-Christin: Das Scheunenviertel. Zur Urbanität eines Stadtquartiers, in: Berlin Transit, Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren, ed. by the Foundation of the Jewish Museum in cooperation with the research project “Charlottengrad and Scheunenviertel“, Göttingen 2012, pp. 62–64; Saß, Anne-Christin/Dohrn, Verena: Einführung, in: Dohrn, Verena/Pickhan, Gertrud (eds.): Transit und Transformation. Osteuropäisch-jüdische Migranten in Berlin 1918–1939, Göttingen 2010, pp. 9–22. 24 Metzler, Tobias: Tales of three Cities. Urban Jewish Cultures in London, Berlin, and Paris (c. 1880–1940) (Jüdische Kultur 28), Wiesbaden 2014, pp. 150–239. 25 Schlör: “Solange wir auf dem Schiff waren”.

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also need much more sources, beyond the Anzeiger für das Havelland, literary sources,26 visual ones, memoirs, diaries, letters, and in so many languages: Yiddish, Hebrew, Russian, Polish, Rumanian, Hungarian, in order to form a clearer picture of what has happened at a spot (a time-and-place-model) in history that once belonged to Amtmann Schulze and doesn’t exist anymore – leaving a void in the metropolis of exile, yet another “Void” in addition to those created by architect Daniel Libeskind for the Jewish Museum Berlin. A void “is not really a museum space” (Daniel Libeskind, 1999). The voids represent the central structural element of the New Building and the connection to the Old Building. From the Old Building, a staircase leads down to the basement through a void of bare concrete which joins the two buildings. Five cavernous voids run vertically through the New Building. They have walls of bare concrete, are not heated or air-conditioned and are largely without artificial light, quite separate from the rest of the building. On the upper levels of the exhibition, the voids are clearly visible with black exterior walls. The Israeli artist Menashe Kadishman’s steel sculpture “Shalechet” (Fallen Leaves) covers the entire floor of one of the five voids (Fig. 4). The Museum’s voids refer to “that which can never be exhibited when it comes to Jewish Berlin history: Humanity reduced to ashes.” (Daniel Libeskind, 2000)27 This is a moment in our narrative where historians and writers of literature usually part ways. Tobias Brinkmann has quoted, and many other documentaries in the Jewish Museum and elsewhere have used, Mary Antin’s memoirs of Ruhleben.28 Her autobiography The Promised Land was published in 1912,29 and I think it is fair to say that this source aims more at an atmospheric reconstruction of the migration experience (and at a celebration of immigration within the United States) than at a detailed presentation of the facts, including the situation at Ruhleben where Antin passed through in 1894. It is a story. During the long and mysterious process that constitutes a German Habilitation (with the inaugural lecture as its final destination) I have come across some doubts regarding my approach to research which can be summarised in the question of a colleague: Shouldn’t I rather write novels? Or, to put it differently: How much “fantasy” do we allow ourselves when writing history? Even a quick look at the motives and interests behind the current rise in the establishment of migration museums – all over the world, but specifically in Germany, Britain, 26 Antin, Mary: Vom Ghetto ins Land der Verheißung, Stuttgart 1913, pp. 196–198. 27 The Voids, http://www.jmberlin.de/main/EN/04-About-The-Museum/01-Architecture/01libeskind-Building.php (last access: 19.07.2014). 28 From green borders to paper walls: Jewish migrants from Eastern Europe in Germany before and after the Great War, http://www.history.ac.uk/ihr/Focus/Migration/articles/brinkmann. html (last access: 15.01.2020). 29 Antin, Mary: The Promised Land, Boston and New York 1912.

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Fig. 4: The “Void” in Berlin’s Jewish Museum.

and other areas of transmigration – should make us aware of the problem: how to tell and to represent the history of transmigration. Hamburg’s Ballinstadt memorial complex (where Brinkmann’s Point of Passage conference was opened in 2008) has been financially supported by the Hapag-Lloyd shipping company,

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and it is not too surprising that no critical word about the firm’s role in the migration process can be heard.30 The curators there constructed “typical” migration stories which are told to visitors by “figurines”, stories that have been compiled from a number (and variety) of sources.31 Visitors are encouraged to “identify” with these stories: “Follow the footsteps of people striving to fulfill their hopes and dreams on their journey to a new homeland while visiting our exhibition.”32 From a traditional historian’s point of view this may seem lamentable; but the curators’ choice at least reflects the necessity to find a narrative, a tellable form for the presentation of a historical event (and place) whose original actors and settings have long since vanished. The colourful descriptions in the old newspapers, the stories about “foreign” people with their “strange” customs, the amazing variety of life stories amongst which only a tiny part can be “exhibited” even in a place like Ballinnstadt or Bremerhaven’s “Auswandererhaus” – all these elements require, I would argue, maybe not a novel – this seems to be a different profession after all – but the development of research projects that bring history and memory, past and present, fact and fantasy, into a fruitful dialogue. From a literary person’s point of view, Polish writer Adam Zagajewski has made a most convincing case for a co-operation between historiography and fiction: I cannot be a writer of history, but I would like literature to take upon itself the function of historical recording, not inspired by contemporary historians, though, who spend their lives in over-heated archives and write in a non-human, deformed, wooden, bureaucratic language from which all poetry has evaporated, in a language flat as pill bugs and trivial as daily journals, but following the tradition of Greek models, the model of the historian who is also a poet, who has seen himself and lived through what he describes or who draws on lively oral culture, from the human tradition of man and of family, who doesn’t shy away from emphasis and emotion but respects genuineness.33

30 Willkommen in der Ballinstadt!, https://www.ballinstadt.de/dauerausstellung-imauswanderermuseum-ballinstadt/ (last access 27/02/2020). 31 Schlutow, Martin: Das Migrationsmuseum: geschichtskulturelle Analyse eines neuen Museumstyps, Berlin 2012, p. 225. 32 Emigration Museum Ballinstadt Hamburg, https://www.ballinstadt.de/?lang=en (last access: 25.01.2020). 33 “Ich kann kein Geschichtsschreiber sein, aber ich möchte, daß Literatur bewußt die Funktion der historischen Aufzeichnung übernimmt, sich dabei aber nicht von Zeitgeschichtlern inspirieren läßt, meist trockene Typen, die ihr Leben in überheizten Archiven verbringen und in einer unmenschlichen, häßlichen, hölzernen, bürokratischen Sprache schreiben, aus der alle

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Translated into the field of Cultural Studies, we could say with Lutz Musner and Gotthard Wunberg (Internationales Forschungszentrums Kulturwissenschaften, Vienna) that most historical research today is still in lack of a relational, process-oriented notion of culture, a notion that would conceptualise the social beyond functionalist, structuralist, or simplified materialist approaches, a notion that would help us not just to identify the functional or systemic aspects of human cultural practice and its echo in the artefacts of their life worlds, but also to analyse the symbolic content that conveys meaning to practice, ritual, and artefact.34

I hope this becomes clearer when we take another look at the presentation of Ruhleben as a “station” shortly before the war, in 1912, when a fire destroyed some of the newly erected buildings and reporters came to see what had happened.35 In Die Gartenlaube, Richard Nordhausen writes, with illustrations by W. Zehme: Dreary and dull, these buildings stand there in a dreary and dull scenery. Black fences and twiggy heathland seal off the area from the outside world, and the officials watch strictly so that no unauthorised person can enter it. To the right we see the train station facilities, and behind them the walls of the fortified city of Spandau, maybe an emblem of the life these immigrants want to escape from now, the blue

Poesie verdunstet ist, in einer Sprache, flach wie Kellerasseln und trivial wie Tageszeitungen, sondern daß sie an frühere, vielleicht sogar griechische Vorbilder anknüpft, an das Modell des Historikers und Dichters, der selber gesehen und erlebt hat, was er beschreibt, oder der aus lebendiger mündlicher Überlieferung schöpft, aus der Familien- und Stammestradition eines Menschen, der Emphase und Emotionen nicht scheut, aber die Wahrhaftigkeit achtet.” Zagajewski, Adam: Ich schwebe über Krakau. Erinnerungsbilder, Munich 2000, p. 58. 34 Musner, Lutz/Wunberg, Gotthard: Kulturwissenschaft/en – eine Momentaufnahme, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde, Sondernummer 1999: Kulturwissenschaften (Verein für Geschichte und Sozialkunde), Wien 1999, without pagination: “Was weithin im deutschsprachigen Wissenschaftsraum und seinen Varianten von Kulturwissenschaft nach wie vor fehlt, ist ein relationaler, prozessorientierter Begriff von Kultur, der das Soziale jenseits funktionalstrukturalistischer bzw. simplifizierend materialistischer Zugänge konzeptualisiert. Dieser würde es möglich machen, in den Lebenspraxen der Menschen und in den mannigfaltigen Artefakten ihrer Lebenswelten nicht nur deren systemisch-funktionalen Aspekte festzumachen, sondern auch die symbolischen Inhalte zu analysieren, wodurch Handlungen, Rituale und Artefakte überhaupt erst mit Sinn aufgeladen und mit Bedeutung versehen werden.” 35 Keuschner, Kurt Rudolf: Ein Bild aus der modernen Völkerwanderung, in: Anzeiger für das Havelland, February 17, 1902, cited in Metz, Heiko: Der Auswandererbahnhof in Ruhleben. Stadtgeschichtliche Forschungen mit Blick auf Amerika, in: Museumsjournal 6, III (July 1992), ed. by Museumspädagogischer Dienst Berlin, pp. 60 f.

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and black pine treetops greet them from the South, like a land of promise, of hope, and of freedom.36

This is seen from the wide angle, an overview from above. Then the reporter’s inner camera moves closer, describing huts of corrugated sheet, large waiting halls that also serve as night quarters, disinfection halls, administration offices where the emigrants find “help and advice”. Finally, the reporter’s eye takes us even closer, to the migrants and their luggage: Several hours before the train’s departure the barracks and the platforms are overfilled with people and luggage – it is hard to believe which amount of household goods an emigrant, and even a female emigrant carries with them – and intensely captivating, sometimes dramatic scenes unfold. The whole scenery offers, without doubt, a much more impressive sight than those of other often-used train stations within the country. As long as the train has not yet been announced and the unrest connected to the announcement has not yet begun, we can observe a kind of holiday mood which expresses itself not only in the emigrants’ garments but even more on their faces and in the conversations among them. America has to ‘cut it’, has to bring the hotly longed-for happiness for which they had been struggling at home for so long and without avail.37

Emphasis and emotion, as required by Zagajewski, can challenge us to place our research on migration processes within wider contexts of the human experience; notions such as “wandering”, “diaspora”, or even “home” (Heimat) reach beyond the mere fact of Ruhleben’s short existence. The author even 36 “Trostlos und einförmig liegen diese Bauten in trostloser, einförmiger Gegend da. Schwarze Zäune und dürres Heideland sperren das Gebiet von der Außenwelt ab und streng wird darüber gewacht, daß kein Unbefugter es betritt. Zur Rechten erheben sich die Bahnhofsanlagen und dahinter die Wälle der festen Stadt Spandau, den Auswanderern vielleicht ein Sinnbild des Lebens, dem sie jetzt entrinnen wollen; vom Süden herauf grüßen die blauschwarzen Kiefernwipfel des Grunewalds wie ein Land der Verheißung, der Hoffnung und der Freiheit.” 37 “Sind einige Stunden vor Abgang des Zuges die Baracken wie der Bahnsteig mit Menschen und Gepäckstücken überfüllt – wer es nicht gesehen hat, glaubt es ja nicht, was so ein einziger Auswanderer oder gar eine Auswandrerin an Hausrat mitschleppt! – dann entwickeln sich hier ungemein fesselnde, manchmal dramatische Scenen, und das Ganze gewährt unzweifelhaft einen weit imposanteren Anblick als andere von Auswanderern viel benutzte Bahnhöfe im Binnenland. So lange der Zug noch nicht angekündigt ist und die damit verbundene Unruhe sich nicht geltend macht, herrscht eine gewisse Feiertagsstimmung, die sich nicht allein in den Gewändern, mehr noch auf den Gesichtern, in den laut und lebhaft geführten Gesprächen ausprägt. Amerika muß es ja bringen, das heiß ersehnte Glück, nach dem man in der Heimat so lange vergebens rang.”

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voices some criticism towards the Prussian way of “dealing with” the migrants – the rough tone the officials use, Nordhausen says, is at least directed against everyone, as if they wanted to make it easier for all these “wanderers” to leave the continent of Europe behind them: If we didn’t know better we could believe that the sometimes alarmingly harsh soldierly tone which is so popular in Ruhleben was inescapably necessary in order to keep these people in check. Since the roughness of the railway officials’ voices and gestures is directed against everyone, without distinction, the assumption seems justified that it is meant to make the farewell from our continent as easy as possible for all emigrants, no matter which confession or nationality they belong to.38

Would it make sense to see a connection between the many and varied transEuropean and transatlantic movements in the 19th and 20th centuries, along with their reverberations in places such as Palestine or South Africa? And can we write history in such a way that a philosophical discussion of migrations as a general human experience will still be connected to the necessary groundwork done by local historians in Ruhleben, in Brody, in Southampton, and elsewhere? The city of Berlin has been chosen as the main seat of a “Zentrum gegen Vertreibungen” (Center against Expulsions).39 As the capital of (re-united) Germany, 38 “Wenn man’s nicht besser wüßte, würde man glauben, der manchmal beängstigend schroffe Unteroffizierston, der in Ruhleben beliebt ist, sei unumgänglich notwendig, um diese Leute in Schach zu halten. Da die Rauheit der bahnbeamtlichen Stimmen und Gebärden aber in schöner Gleichheit ohne Ansehen der Person angewandt wird, scheint die Vermutung gerechtfertigt, daß man damit allen Auswanderern, gleichviel welcher Konfession und Nationalität sie angehören, den Abschied von unserem Kontinent möglichst leicht machen wollte.” 39 “In an overview in Berlin, the fate of more than 15 million German victims of deportation and expulsion from all over central, eastern and south-eastern Europe with their culture and their history of settlement is to be made accessible, as is the fate of the 4 million German late repatriates who have been coming to the Federal Republic of Germany or came to the former GDR since the 1950s, above all since the end of the 1980s. These expelled and deported persons had their homes in the whole of central, eastern and south-eastern Europe, where they had settled for centuries. Many thousands of them suffered years of forced labour and internment. Almost 2.5 million children, women and men did not survive the pains of displacement, torture, forced labour or months of being raped. People must not be left alone with this fate. It is a task for the whole of Germany. The complex processes are to be reproduced in a modern form of museum. Additional space for sadness, sympathy and forgiveness is to be accommodated in a requiem rotunda. […] [Thirdly], Expulsion and genocide of other peoples, especially in Europe, are an indispensable part of the ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN. In Europe alone, more than 30 ethnic groups are or have been affected by such breaches of human rights. From Albanians, Armenians, Azeris, including Estonians, Georgians, Ingushetians, Crimean Tatars, Poles, Chechen and Ukrainians right down to Belorussians and Greek Cypriots as well

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Berlin contains the memory of its former role as the capital of national-socialist Germany, the place where the decision for the extermination of the Jews of Europe has been taken. Situated at the crossroads of the Cold War political divide, Berlin seems to be a good vantage point to develop a pan-European view on the century of migrations and expulsions. At the same, it seems, Berlin’s own history as a city of emigration, transmigration, and immigration, has not yet been researched in a comprehensive way.40 While Nordhausen’s text in Die Gartenlaube is full of clichés – for example in his depiction of the female migrants: “The Russian Jew, by the way, brings a trait to the emigration image of Ruhleben which I wouldn’t want to miss from an artistic point of view. Under their young women and girls, beauties of downright demonic allurement can be found, models of Judith and Herodias for every painter.”41 –, at the same time it asks important questions, not least about the difference between quiet, long-term migrations on the one hand and the hasty, forced movements of the 1890s on the other: But then one comes to read the haunting account of a deeply tragic fate on the unsmiling face of many a man. In broken German, strangely mingled with Russian and Hebrew expressions, one of them told me his history of suffering in a colourful way. Very close relatives of these people reside in Berlin and Hamburg, wealthy and wellregarded, millionaires whose fathers and grandfathers had understood the tactics of moving slowly, step by step, further west, from Moscow through the Polish government, the province of Posen, into the heart of Germany. This same trajectory, which brings enormous riches and a good standing in society when passed in a measured way and marked by phases of rest and achievement every few years, means deprivations and endless disappointments, maybe even ruin for those who try to cover the distance in a flash.42 as the singular persecution and mass destruction of Europe’s Jews by National Socialism.” Zentrum gegen Vertreibungen. Unsere Stiftung. Aufgaben und Ziele, https://www.z-g-v.de/ zgv/unsere-stiftung/aufgaben-und-ziele/ (last access: 25.07.2014). 40 Mattenklott, Gerd/Mattenklott Gundel: Transit Berlin, Berlin 1987. 41 “Übrigens trägt der russische Jude in das Auswandererbild von Ruhleben einen Zug hinein, den ich vom künstlerischen Standpunkt aus nicht missen möchte. Einmal finden sich unter ihren jungen Frauen und Mädchen Schönheiten von geradezu dämonischem Reiz, Judithund Herodias-Modelle für jeden Maler.” 42 “Dann aber liest man doch auch auf manchem ernsten Männergesicht die ergreifende Kunde tieftragischen Schicksals. In gebrochenem, mit russischen und hebräischen Wendungen seltsam vermischten Deutsch erzählte mir einer recht anschaulich seine Leidensgeschichte. Sehr nahe Verwandte von diesen Leuten sitzen reich und angesehen in Berlin und Hamburg, Millionäre, deren Väter und Großväter die Taktik verstanden, langsam, im Lauf vieler Jahrzehnte, immer weiter gegen Westen zu ziehen, von Moskau her durch das Gouvernement Polen, die

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I have already mentioned Sammy Gronemann’s important observance of the inner dynamic that the movement of migrants within Berlin developed: The Bellevue quarter (which the vernacular calls the “nebbich west”) lies between the proletarian East (Berlin-O) and the aristocratic West (Berlin-W). Berlin-O was the domain of the Eastern Jews who, strangely enough, settled in streets named after the military – Artilleriestraße, Grenadierstraße, Dragonerstraße –, while those who had ‘made it’ lived in the West, in Charlottenburg, Wilmersdorf, or the particularly posh Grunewald quarter. Eastern Jew and Western Jew, in Berlin, were not so much geographical but rather temporal notions. It often happened that Jews who had immigrated from the East took up quarters in the aforementioned streets and moved, after having acquired some prosperity, to the more upmarket Bellevue quarter, the home of the upper middle classes, and from there upwards on the social ladder to Charlottenburg where they became ‘Western Jews’ and looked down upon the immigrated elements of the Eastern quarter with tremendous contempt.43

A deeper knowledge of the transmigratory process for which Ruhleben stands symbolically could help us to understand more about these dynamics. It clearly affected the relationship between Berlin’s established Jewish community and the new arrivals, most visibly in the creation of aid organisations, as the Zentralblatt der Bauverwaltung illustrates: The never-resting philanthropy of the German Jews and their self-sacrificing brotherly love for their hard-pressed co-religionists have sought and found a field of action. The ‘German Central Committee for Russian Jews’ had a building erected next Provinz Posen, ins Herz von Deutschland. Derselbe Weg, der ungeheure Reichtümer und hohes Ansehen bringt, wenn man ihn bedächtig, überall ein paar Jährchen rastend und erwerbend, entlang schreitet, bedeutet denen, die ihn im Fluge durchmessen, bittere Entbehrungen, Enttäuschungen ohne Ende, vielleicht das Verderben …” 43 “Zwischen dem proletarischen Osten Berlins (Berlin O) und dem aristokratischen Westen (Berlin W) liegt das Bellevue-Viertel (Berlin NW, im Volksmunde Nebbich-Westen genannt). Berlin O war die Domäne der Ostjuden, die seltsamerweise alle militärisch benannten Straßen besiedelten wie Artilleriestraße, Grenadierstraße, Dragonerstraße, während im Westen in Charlottenburg, Wilmersdorf oder dem besonders vornehmen Grunewaldviertel die Arrivierten wohnten. Ostjude und Westjude waren in Berlin nicht sowohl geographische wie zeitliche Begriffe. Gar oft kam es vor, daß aus dem Osten eingewanderte Juden zunächst in den obengenannten Straßen ihr Quartier nahmen, dann allmählich zum Wohlstand gelangten, in das vornehmere Bellevue-Viertel zogen, der Heimat des besseren Mittelstandes, und dann auf der sozialen Leiter aufsteigend ihren Wohnsitz nach Charlottenburg verlegten und Westjuden wurden, die dann oft mit ungeheurer Verachtung auf die eingewanderten Elemente jenes östlichen Viertels herabsahen.” Gronemann: Erinnerungen, p. 256.

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to one of the halls and established institutions for food provision, medical examinations, etc., all of which, evidently built with great sacrifices of money and labour, have been used extensively and were of benefit for Christians in need as well.44

The topic of “Migrationen und Metropolenkultur in Berlin vor 1933”, to quote an article by Claus-Dieter Krohn, is still awaiting further research.45 Berlin has been – and still is today – a “Metropole des Exils”, a place of refuge for immigrants from Eastern Europe, the “Ostbahnhof Europas” (Karl Schlögel); a place of longing for migrants from the German provinces hoping for a better life in the big city; a place of exodus for German Jews after 1933; a place of arrival for German refugees from the East after 1945; the site of a vibrant migrants’ culture in our days – and, throughout the whole period, a place of transit and passage. Some aspects of the narrative have been researched, as far as possible under the circumstances of a one-term project, in the Potsdam University course I mentioned above: some of the places of origin of migrants, mainly in Galicia (Barbara Richter);46 the “Durchreisekommission” or “Kommission zur Unterstützung hilfebedürftiger durchreisender Juden”, documented in the Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin (Judith Kirschke); the internment of Eastern European Jews in camps both during and after World War I (Daniel Mahla); the transit from Berlin to the ports in Cuxhaven and Bremerhaven (Anne-Marie Wolf); the ship voyage as a transitory experience that lead migrants to write down thoughts about their situation between departure and arrival (Barbara Buschke);47 and the feelings of arrival in the Americas, especially in Ellis Island (Gerlind Mittelstädt). Further research could help to at least approach the task Wolfgang Frühwald, in his “Prolegomena zu einer Theorie des Exils”, has required from migration and exile studies. It should be possible, 44 “Die nie rastende Mildtätigkeit der deutschen Juden und die aufopfernde Nächstenliebe für ihre bedrängten Glaubensgenossen haben auch ihr Feld der Thätigkeit gesucht und gefunden. Das ‚Deutsche Centralcomité für die russischen Juden‘ hat neben der einen Halle ein Gebäude errichten lassen, in dem sich die zur Verpflegung, zur ärztlichen Untersuchung usw. erforderlichen Anstalten befinden, und von diesen Einrichtungen, offenbar mit großen Opfern an Geld und Mühen, reichlich Gebrauch gemacht, der auch häufig christlichen Bedürftigen zu gute gekommen ist.” 45 Krohn, Claus-Dieter: Migrationen und Metropolenkultur in Berlin vor 1933, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 20: Metropolen des Exils, Stuttgart 2002, pp. 14–35. 46 Cf. also Alroey, Gur: Bread to Eat and Clothes to Wear: Letters from Jewish Migrants in the Early Twentieth Century, Detroit 2011. 47 Cf. also the Call for Articles for Mobile Culture Studies: The Sea Voyage as a transitory experience, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=25347 (last access: 25.07.2014).

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he writes, “to use the model of exile for a test of the new historical anthropology which seems to establish itself as a new paradigm in Cultural Studies: exile, as a prototypical transitory state, documented even in the self-interpretation of those exiled and expulsed, and at the same time the experience in which the universal and the individual, the human and the historical, the unchangeable and the variable meet and mix in such an exemplary way that we can identify the components of this ‘anamnetic culture’ (Johann Baptist Metz) which has disappeared from Germany since its bearers, the German Jews, have been expelled or exterminated.”48 While this programme is still concentrated on the German-Jewish experience after 1933, it might be valuable for an understanding of the larger context as well: Exile, Thomas Mann writes on February 18, 1941, to Karl Kerenyi, “has become something completely different from what it was before; it is not a state of waiting any longer, but already hints to a dissolution of the nations and a unification of the world.”49 This has been written in a surprisingly optimistic mood – and things might not have turned out the way Thomas Mann had hoped. Exile might as well be the future condition of all those who do not belong, or are prevented from belonging, to any of the new nationalisms running wild at the time I write this piece. Both options are imaginable (part of our fantasies), but any future discussion about them will need to know what happened in Ruhleben once upon a time.

48 “[…] da bis in die Selbstdeutung der Verbannten und Ausgestoßenen hinein sich im Exil, als dem prototypischen transitorischen Zustand menschlichen Daseins und zugleich als dem historisch als vernichtend und einmalig erfahrenen Zustand, Universelles und Individuelles, Menschheitliches und Historisches, Unveränderliches und Variables so exemplarisch mischen, daß daraus die Komponenten jener ‚anamnetischen Kultur‘ (Johann Baptist Metz) erkannt und gewonnen werden können, die aus Deutschland entschwunden ist, seit die Träger dieser Kultur, das deutsche Judentum, vernichtet oder vertrieben sind.” Wolfgang, Frühwald: Die „gekannt sein wollen“. Prolegomena zu einer Theorie des Exils, in: Haarmann, Hermann (ed.): Innen-Leben; Ansichten aus dem Exil – ein Berliner Symposium, Berlin 1995, pp. 56-69, here p. 57. 49 “Exil ist etwas ganz anderes geworden als es früher war; es ist kein Warte-Zustand mehr, sondern spielt schon auf eine Auflösung der Nationen an und auf die Vereinheitlichung der Welt.” Mann, Thomas/Kerenyi, Karl: Gespräch in Briefen, Munich 1967, p. 106.

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S. H. Mosenthal und die jüdischen Alpen 1.

Zwischen Alpentourismus und Theaterspekulation

Im Sommer 1877 veröffentlichte der Wiener Schriftsteller Josef von Weilen in der Wiener Abendpost ein Lebensbild seines vor kurzem verstorbenen Freundes Salomon Hermann Mosenthal.1 Mosenthal, der Autor der Erfolgsstücke Deborah (1849) und Der Sonnwendhof (1854), spielte zeit seines Lebens eine zentrale Rolle im Wiener Kulturleben. Deborah, ein Melodrama einer jungen Jüdin, deren christlicher Liebhaber sie im Stich lässt, galt als das populärste deutschsprachige Theaterstück seiner Zeit. Es wurde in fünfzehn Sprachen übersetzt und wurde jahrzehntelang in Europa und Nordamerika vor ausverkauften Häusern aufgeführt. Die Kehrseite des internationalen Ruhms, den dieses sogenannte „Judenstück“ dem Wiener Dramatiker brachte, war die kritische Ablehnung, auf die es stieß, vor allem unter Zeitgenossen, die den Handelsgeist der Unterhaltungskultur beklagten.2 Angesichts von Berthold Auerbachs beliebten Schwarzwälder Dorfgeschichten (1843) verlieh Mosenthal Deborah die Gattungsbezeichnung „Volksschauspiel“. Mit dem Sonnwendhof, seinem zweiten Erfolgsstück, kehrte der deutsch-jüdische Dramatiker ins volkstümliche Milieu zurück, diesmal ohne jegliche jüdische Thematik. In dem Stück dienten die österreichischen Alpen als Schauplatz für das Melodrama einer verwitweten Bäuerin, die sich in ihren Knecht verliebt, der seinerseits der geheimnisvollen jungen Magd auf dem Sonnwendhof zugetan ist. Nach der Uraufführung im Wiener Burgtheater wurde Der Sonnwendhof schnell zum Repertoirestück auf österreichischen und deutschen Bühnen, und bis in die 1930er-Jahre wurde es immer wieder aufgeführt. Wie Deborah erlangte auch Mosenthals Alpenmelodrama internationalen Ruhm. Nicht nur wurde Der Sonnwendhof ins Dänische, Englische, Französische, Kroatische, Polnische, Slowenische, Tschechische und Ungarische übersetzt. In England verwandelte George Alexander Macfarren das Drama in eine Oper, Helvellyn (1864), in Österreich gab es ei-

1 Weilen, Josef: Mosenthal, ein Lebensbild, in: Beilage zur Wiener Abendpost, 30. Juni bis 11. Juli 1877, wieder abgedruckt in: S. H. Mosenthal’s Gesammelte Werke, Stuttgart 1878, Bd. 6, S. 1–72. 2 Zu Mosenthal und Deborah siehe Hess, Jonathan M.: Deborah and Her Sisters: How One Nineteenth-Century Melodrama and a Host of Celebrated Actresses Put Judaism on the World Stage, Philadelphia 2017. Diese Studie erwähnt den Sonnwendhof nur am Rande.

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nen Stummfilm (1918) und in Deutschland ein Radiospiel (1929), daneben Dialektübertragungen ins Bayerische (1892) und Schweizerdeutsche (1950).3 Der Titel meines Beitrags bezieht sich also nicht auf den sogenannten „Borscht Belt“, sondern auf das umstrittene und manchmal schwer zu fassende Jüdische am Mosenthal’schen Bild des Alpenlebens. Dieses Phänomen gestalteten Kritiker und Rezensenten mit, indem sie in den Jahrzehnten nach 1854 die Bedeutung des Sonnwendhofs in der theatralischen Öffentlichkeit debattierten.4 Eine Gegenüberstellung der zwei herrschenden Narrative, die man in der Presse des 19. Jahrhunderts über die Entstehung dieses heute weitgehend vergessenen Dramas erzählte, verschafft uns einen Zugang zu dieser Problematik. Wir fangen mit Weilens Nachruf in der Wiener Abendpost an, den der Stuttgarter Verleger Eduard Hallberger im darauffolgenden Jahr Mosenthals Gesammelten Schriften anhängte. Nachdem er Deborah geschrieben hatte, verfasste Mosenthal, wie Weilen betont, Libretti für zwei prominente Opern mit jüdischer Thematik: Anton Rubinsteins Die Makkabäer (1875) and Karl Goldmarks Die Königin von Saba (1875). In den Jahren vor seinem Tod veröffentlichte Mosenthal eine Reihe an Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben in illustrierten Zeitschriften wie der Gartenlaube und Über Land und Meer. Unter den vielen Dramen, die Mosenthal ab Mitte der 1840er-Jahre verfasste, spielten aber nur in Deborah Juden und das Judentum eine Rolle. Die Auerbach-Forschung wies schon vor 30 Jahren nach, dass das Interesse am Judentum, das Auerbachs Frühwerk prägt, auf versteckte Weise auch in den Schwarzwälder Dorfgeschichten zu spüren ist.5 Die Geschichte, die Weilen erzählt, verortet aber die Genese von Mosenthals Volksschauspiel in einem 3 Die Übertragungen ins Dänische, Slowenische und Tschechische wurden veröffentlicht. Siehe En Landsbyhistorie. Folkeskuespil i fem Acter: efter S. H. Mosenthals „der Sonnwendhof “ med tildigtede Sange og Chor, übersetzt von Hans Christian Andersen, Kopenhagen 1855; Na Osojah: ljudski igrokaz v petih dejanjih, Ljubljana 1882; Svatojansky dvůr, aneb: Mocnost slova božiho. Obraz ze života v pěti jednanich, V. Prze 1871. Die englische Übertragung J. V. Bridgemans, Sunny Vale Farm, spielte 1864 im Londoner Haymarket Theatre. Siehe The Musical World, 3. Dezember 1864, auch The Theatrical and Musical Examiner, in: The Examiner, 10. Dezember 1864. Zur Aufführung des Dramas im Kroatischen siehe Tod auf der Bühne, in: Neue Freie Presse, 31. Dezember 1891; im Französischen: Wiener Zeitung, 25. April 1865, auch Fremden-Blatt, 13. Mai 1865; im Ungarischen: Kunstnotizen, in: Blätter für Musik, Theater und Kunst, 8. September 1857; im Polnischen: Kleine Chronik, in: Wiener Zeitung, 12. Oktober 1863. Die Oper Helveyllyn wurde im November 1864 im Londoner Covent Garden uraufgeführt. Siehe die Gesangspartitur und den Klavierauszug: Macfarren, G. A./Oxenford, John: Helvellyn: An Opera in Four Acts, London [187?]. Die Film-, Radio- und Dialektübertragungen werden im Folgenden diskutiert. 4 Zum Begriff der „theatralischen Öffentlichkeit“ vgl. Balme, Christopher B: The Theatrical Public Sphere, Cambridge 2014. 5 Vgl. Sorkin, David: The Transformation of German Jewry, 1780–1840, New York 1987, S. 140–155. Siehe aber auch die neuere Auerbach-Forschung, vor allem: Grossman, Jeffrey A.:

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schlichtweg nichtjüdischen Milieu und verzichtet auf jegliche Beziehung zur jüdischen Thematik Deborahs oder zum Judentum seines bekannten Autors. Weilen erklärt in der Wiener Abendpost, dass die Entstehung des Sonnwendhofs auf eine Erfahrung zurückzuführen sei, die Mosenthal im Urlaub im Salzkammergut mit seiner Frau Lina gemacht hatte: In diesem herrlichen Alpenlande wandelte 1854 [tatsächlich 1853] unser Poet eines Abends mit seiner Frau von Aussee gegen den Grundelsee. Auf einer saftig grünen Matte stand ein ansehnliches Bauernhaus mit weit vorspringendem Dache und am Thore lehnte die stattliche Bäuerin und blickte wohlgefällig nach dem rothwangigen jungen Knechte, welcher Heu von einem Wagen lud; dieser aber schielte, verstohlen lächelnd, nach einer blassen, schlanken Magd, die sich über den Brunnen beugte, und aus dem Hintergrunde schlenderte, den Knotenstock schwingend und vor sich hin pfeifend, ein zerlumpter Kerl dem Gehöfte zu! Ein Hauch des Friedens und des Glücks lag über der ganzen Landschaft. „Linele,“ rief der Dichter, „wenn jetzt der dem Hause zuschreitende Vagabund als Störenfried unter das Dach träte, wenn die stolze Bäuerin eine stille Neigung zu dem schmucken Burschen im Herzen trüge, dieser aber der bleichwangigen Dirne seine Neigung geschenkt hätte, dann, dann—“ „Mann, das ist eine Idee zu einem Stücke“, flüsterte die rasch fassende junge Frau. „Nein“, rief der Dichter begeistert, „das ist keine Idee, das ist ein ganzes Stück“.

„Noch in derselben Nacht“, erklärt Weilen weiter, fing Mosenthal an, den Sonnwendhof zu entwerfen. Als er im Herbst bei Heinrich Laube das fertige Manuskript einreichte, nahm der Direktor des Burgtheaters das neue Drama sofort an, ohne Mosenthal um Änderungen zu bitten.6 Weilens Darstellung von Mosenthals Begeisterung für das Tableau eines möglichen Liebesdreiecks mit Bösewicht im Hintergrund verbindet den Sonnwendhof mit der Suche des städtischen Touristen nach dem Pittoresken, dem Malerischen, und dem Authentischen. Den Zeitgenossen fiel deutlich auf, dass Mosenthal – sei es in Deborah oder im Sonnwendhof –immer wieder nach Handlungen griff, wo ein junger Mann sich zwischen zwei Frauen gefangen

Auerbach, Heine, and the Question of Bildung in German and German Jewish Culture, in: Nexus 1 (2011), S. 85–108; Skolnik, Jonathan: Jewish Pasts, German Fictions: History, Memory, and Minority Culture in Germany, 1824–1955, Stanford 2014, S. 23–44; und Rose, Sven-Erik: Jewish Philosophical Politics in Germany, 1789–1848, Waltham, MA 2014, S. 200–240. 6 Weilen, Josef: S. H. Mosenthal, in: Beilage zur Wiener Abendpost, 7. Juli 1877.

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fühlt.7 Es war gerade die Überraschung, auf diese formelhafte Szene im Alpenurlaub zu stoßen, die den Wiener Dramatiker ermutigte, sich wieder der Gattung des Volksschauspiels zuzuwenden. Das Drama, das er verfasste, weist freilich nur eine oberflächliche Beziehung zu den eigentlichen Leuten auf, die er und seine Frau vor dem Bauernhof im Salzkammergut erblickten. In der oben zitierten Textstelle fehlt dem städtischen Touristen jegliches ethnographische Interesse an den Alpenbewohnern. Das Alpenleben war Mosenthal nur wichtig, insofern es ihn mit Stoff für ein Drama ausstattete, das sich im Wiener Burgtheater aufführen ließ. Was immer seine Absichten gewesen sein mögen, so betont Weilen weniger die Authentizität des Mosenthal’schen Volksschauspiels als dessen touristische Aneignung des Alpenlebens. In einem Aufsatz in den Blättern für literarische Unterhaltung fällt Gottfried Keller ein anderes Urteil über Mosenthals Alpendrama: Keller beschreibt den Sonnwendhof als einen typisch jüdischen Diebstahl. Nach der Berliner Uraufführung im Juni 1854 nahm der Journalist Ernst Kossak zur Kenntnis, dass Anna, die junge Magd, in die sich Mosenthals Knecht Valentin verliebt, an die Titelfigur von Jeremias Gotthelfs „Elsi, die seltsame Magd“ (1843) erinnert.8 In Gotthelfs Dorfgeschichte, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts im Vorgebirge des Berner Oberlands spielt, bewahrt die Magd Elsi ein Geheimnis. Sie erzählt niemandem von ihrem Vater, der sein Vermögen in Wirtshäusern verschwendete und seine Familie ins Unglück stürzte. Die stolze Elsi weist ihren Freier mit Namen Christen zurück und enthüllt das Geheimnis ihres Vaters erst dann, als es schon zu spät ist. Gotthelfs Erzählung endet tragisch. Inmitten der Versuche der Schweizer, die Angriffe des französischen Directoires abzuwehren, stirbt Elsi neben Christen auf dem Schlachtfeld. Im Sonnwendhof verbirgt Anna auch eine geheimnisvolle Vergangenheit. Ihr Vater Balthasar war der Brandstifter, der die Dorfschmiede niederbrannte. Nachdem Anna ihre Geschichte enthüllt hat, stellt sich jedoch heraus, dass der Bösewicht Mathias – der Schwager der Sonnwendbäuerin Monika – und nicht ihr Vater die Schmiede in Brand gesteckt hatte. In den letzten Momenten des Stückes, nachdem Mathias sein Verbrechen eingesteht, von einer Bergklippe stürzt und dabei stirbt, kommt es zu einer Liebeserklärung zwischen Anna und Valentin. Monika gibt dem Paar ihren Segen, und die Zuschauer bekommen ein Happy End. Bevor er einer Vorstellung des Sonnwendhofs in Berlin beiwohnte, hoffte Keller insgeheim, Gotthelfs Dorfgeschichte als Grundlage für ein Trauerspiel 7 Mosenthals „Sonnwendhof “, in: Die Presse, 19. Februar 1854; München, in: Allgemeine Zeitung, 21. November 1854. Die gleiche Dynamik liegt der Handlung der Königin von Saba zugrunde. 8 Zitiert nach: Saphir, M. G.: Fliegende Reise-Blätter und Briefe, in: Der Humorist, 2. Juni 1854.

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verwenden zu können. Als Mosenthal ihm jedoch zuvorkam, diesen Stoff „aufschnappte“ und mit seinem fröhlichen Alpenmelodrama Erfolg hatte, wandte sich Keller schnell von dem Plan ab, „Elsi“ zu einem Drama umzuformen.9 In einem Brief an den Literaturhistoriker Hermann Hettner beklagte sich Keller, dass Mosenthal auf dem Theater „spekulirt“, er missbrauche die „Schwächen des Publikums“, um den Theaterbesuchern „eine mit ächt jüdischer Gemeinheit und Frechheit zusammengestoppelte Sammlung kleiner Effektchen“ vorzulegen.10 Diese persönlichen Ressentiments Kellers erscheinen aber relativ harmlos, wenn man sie seinem Angriff auf Mosenthal in den Blättern für literarische Unterhaltung gegenüberstellt. In einem Aufsatz, in dem Keller den jüngst verstorbenen Gotthelf als „das größte epische Talent […], welches seit längerer Zeit und vielleicht für lange Zeit lebte“, bejubelt, kritisiert er Mosenthal auf eine noch schärfere Art und Weise. Mosenthal habe die tragische Novelle Gotthelfs in ein Melodrama verwandelt, dessen Erfolg auf dem Markt als durchaus „jüdisch“ zu begreifen sei: Will man die Echtheit des Gotthelf ’schen Stoffs recht schätzen lernen, so vergleiche man damit den „Sonnenwendhof “, welchen Mosenthal daraus gemacht hat. Nachdem er erst die Geschichte in steirische Jodelei übersetzt hat, trug er mit eifrigster Wegwerfung aller guten und begründeten Gotthelf ’schen Motive ein melodramatisches Effektsammelsurium zusammen, wie es nur der Kram des gewinnlüsternsten und verschmitztesten Schacherjuden aufweist.11

Beim Autor des Sonnwendhofs handele es sich also nicht einfach um einen Dichter aus der Metropole, der das Alpenleben ausbeutet, damit er zu Ruhm und Ehre gelangt. Laut Keller ist Der Sonnwendhof eine jüdische Entwendung der deutschsprachigen Literatur: Mosenthal habe einen Text, der die Grundlage eines großen deutschen Trauerspiels hätte werden können und sollen, in die gröbste Form der Unterhaltungskultur verunstaltet. So beschwört Keller ein Szenario herauf, das an Richard Wagners Das Judenthum in der Musik (1850) erinnert und eine „Verjüdung der modernen Kunst“ evoziert. Mosenthals Aneignung des Gotthelf-Stoffes gilt Keller als ein weiteres Beispiel dafür, wie der 9 Keller erwähnt seine einstigen Pläne, aus „Elsi“ ein Drama zu machen, in einem Brief an Emil Kuh vom 6. Dezember 1874, in: Baechtold, Jakob (Hg.): Gottfried Kellers Leben. Seine Briefe und Tagebücher, Berlin 1897, Bd. 3, S. 168–174, hier S. 171. 10 Keller, Gottfried: Brief an Hermann Hettner vom 26. Juni 1854, in: Ders.: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, Frankfurt am Main 1996, http://www.gottfriedkeller.ch/briefe/ (letzter Zugriff: 05.12.2019). 11 Keller, Gottfried: Rezension von Gotthelfs Erlebnisse eines Schuldenbauers, in: Blätter für literarische Unterhaltung, 1. März 1855, S. 48–164, hier S. 160, 162.

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jüdische Handelsgeist die europäische Kultur nachahmt, entheiligt und „in Kunstwaarenwechsel umsetzt“.12 In den folgenden Jahrzehnten wurde Kellers Polemik gegen Mosenthals „melodramatisches Effektsammelsurium“ oft zitiert, reproduziert und wieder abgedruckt. So prägten diese Aussagen Mosenthals literatur- und theatergeschichtliches Vermächtnis letzten Endes weit mehr als das Bemühen Weilens, Mosenthal und den Sonnwendhof positiv darzustellen. Die einzige MosenthalDissertation in der Nachkriegszeit beschreibt ihn dementsprechend als einen „jüdischen Theaterspekulant[en]“, der zur Kommodifizierung der Hochkultur beigetragen habe.13 Mitte des 19. Jahrhunderts aber bildete Kellers Urteil kaum die herrschende Meinung ab. Nach einer Vorstellung des Sonnwendhofs im Wiener Burgtheater im Jahre 1854 war der dänische Schriftsteller Hans Christian Andersen dermaßen inspiriert, dass er zu Mosenthals großer Begeisterung sofort anfing, an einer dänischen Übersetzung zu arbeiten. Schon 1855 wurde Andersens En Landsbyhistorie (Eine Dorfgeschichte) in Kopenhagen uraufgeführt und in den Lokalzeitungen positiv rezensiert. En Landsbyhistorie galt in Dänemark nicht als billiges Gotthelf-Imitat, sondern als eines der besten neueren Dramen aus der deutschsprachigen Welt.14 Ein Vergleich zwischen „Elsi“ und dem Sonnwendhof lässt freilich keinen Zweifel daran, dass Mosenthal sich gewisse Handlungselemente von Gotthelf aneignete, indem er die Szene, die er im Salzkammergut beobachtet hatte, dramatisch ausgestaltete.15 In den Dramentexten des 19. Jahrhunderts jedoch war 12 Wagner, Richard: Das Judenthum in der Musik, Leipzig 1869, S. 12. Wagner veröffentlichte seinen Aufsatz 1850 anonym; erst die neue Ausgabe 1869 trug seinen Namen. Da Keller Wagner persönlich in den 1850er-Jahren in Zürich kennengelernt hatte, ist anzunehmen, dass er von seiner Autorschaft wusste. 13 Schug, Karl: Salomon Hermann Mosenthal. Leben und Werk in der Zeit: Ein Beitrag zur Problematik der literarischen Geschmacksbildung, Dissertation, Universität Wien 1966. Es liegt der Dissertation von Schug keine anhaltende antisemitische Absicht zugrunde. Schug weist meistens nur dann auf Mosenthals Judentum hin, wenn es darum geht, den Publikumserfolg seiner Theaterstücke zu erklären. Zur Geschichte des Arguments, dass Mosenthal die geheiligte Hochkultur auf eine jüdische Art kommodifiziert habe, siehe Hess: Deborah and Her Sisters, S. 61–63. 14 Siehe den Brief Hans Christian Andersens an Mosenthal vom 21. Januar 1855, http:// andersen.sdu.dk/brevbase/brev.html?bid=23060&s=ot4bmlm7u8kd6u6bqr6brmtgr2&st0= %2BKunstsammlungen%20%2Bder%20%2BVeste%20%2BCoburg&f0=32 (letzter Zugriff: 05.12.2019). Zu Andersens Übertragung vgl. Kuhn, Hans: En Landsbyhistorie – Andersen’s Forgotten Success Play, in: Andersen, Hans Christian: A Poet in Time, Odense 1999, S. 471–484. 15 Der Sonnwendhof wird nach der ersten Ausgabe zitiert: Der Sonnwendhof. Volksschauspiel in fünf Aufzügen, Leipzig, 1857. Vgl. Gotthelf, Jeremias: Elsi, die seltsame Magd, in: Ders.: Erzählungen, München 1960, S. 5–32, zuerst in: Neues schweizerisches Unterhaltungsblatt für gebildete Leser aller Stände, Bde. 9 und 10 (1843), S. 129–136, 152–154.

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diese Art Aneignung keineswegs außergewöhnlich.16 Sobald man sich von den Literaturblättern der Elite ab- und den Theaterrezensionen und -diskussionen in der Tagespresse zuwendet, wird jedoch deutlich, dass diese Aneignung Zeitgenossen kaum auffiel und sie in der Regel wenig interessierte. Wenige Zeitgenossen teilten Kellers Meinung, dass der Publikumserfolg des Sonnwendhofs irgendwie auf Mosenthals Judentum, wie immer es zu definieren sei, zurückgeführt werden könne. Unter der Elite mögen Kellers Bemerkungen die Rezeption des Sonnwendhofs lange geprägt haben. Es ist aber Weilens Darstellung der Beziehung zwischen Mosenthals Theaterstück und der touristischen Entdeckung des idyllischen Alpenlebens, die die entscheidende Perspektive auf den Markterfolg dieses beliebten Stücks und die kulturelle Arbeit, die es leistete, erschließt. In ihrem 2012 erschienenen Buch Becoming Austrians: Jews and Culture between the World Wars setzt sich Lisa Silverman mit der zentralen Bedeutung auseinander, die das Alpengebiet Tirol in symbolischen Konstruktionen der jüdischen Differenz in der Zwischenkriegszeit annahm.17 In der neugegründeten Republik Österreich, so Silverman, stellte man oft die überwiegend katholischen, ländlichen Alpengebiete der angeblichen „Jüdischkeit“ der Wiener Metropole gegenüber. Mit seinem Sozialismus, seiner modernen Kunst und Literatur und seinem säkularen Ethos erschien Wien oft als ein „jüdischer“ Gegensatz zu den österreichischen Alpen. Tait Keller weist nach, dass die symbolische Konstruktion der Alpen als nichtjüdischer Raum in den 1920er-Jahren mit dem konkreten Bemühen einherging, Juden aus österreichischen (und deutschen) Alpenvereinen auszuschließen; auf diese Art und Weise habe man die lange Geschichte des jüdischen Alpentourismus und der jüdischen Beteiligung an den Bergtouren in den Alpen zunichtezumachen versucht.18 Mein Beitrag befasst sich mit einem historischen Zeitraum, der die erste große Blütezeit des Alpentourismus und die Massenproduktion idyllischer Bilder des Alpenlebens erzeugte. In diesem Zusammenhang ist die symbolische Rolle zu erforschen, die die Jüdischkeit in der Verbreitung populärer Klischees über das Alpenleben spielte. Die folgende Analyse untersucht somit die Rolle, die die Aufführungen des Sonnwendhofs und deren Besprechung in der Presse bei der Konstruktion der Alpen als unberührter Raum spielte, der Touristen aus 16 Vgl. Pargner, Birgit: Zwischen Tränen und Kommerz. Das Rührtheater Charlotte BirchPfeiffers (1800–1868) in seiner künstlerischen und kommerziellen Verwertung, Bielefeld 1999; vgl. auch meine Bemerkungen zur Neigung Mosenthals, sich Stoffe anderer Autoren anzueignen, in: Hess: Deborah and Her Sisters, S. 39–41. 17 Silverman, Lisa: Becoming Austrians: Jews and Culture between the World Wars, Oxford 2012. 18 Keller, Tait: Mountaineering and Nation Building in Germany and Austria, 1860–1939, Chapel Hill 2016; siehe auch Loewy, Hanno/Milchram, Gerhard (Hg.): Hast du meine Alpen gesehen? Eine jüdische Beziehungsgeschichte, Hohenems 2009.

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der Metropole zu sich lockte. In diesem Kontext geht es gerade um die Verbindungen – und manchmal um den Mangel an Verbindungen – zwischen dem Judentum Mosenthals und der Konstruktion der Erfahrungen der Alpen. Der starre Gegensatz zwischen der jüdischen Metropole und dem Alpenleben, der den Diskurs der Zwischenkriegszeit prägte, tritt hier nicht zutage. Stattdessen wird sich eine Welt eröffnen, in der populäre Bilder der Alpen immer schon jüdisch waren, und oft ohne negative Betonung. 2.

Die Poetik der Ansichtskarte

Die Macht, die Deborah auf Theaterbesucher ausübte, ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass es als Rührstück meisterhaft und genial konstruiert war. Deborah zerriss den Zuschauern das Herz und wirkte auf die innersten Gefühle mit einer Gewandtheit, die nicht zu übertreffen war.19 Theaterkritiker warfen Deborah daher emotionelle Manipulation vor – ein Kritiker sprach z. B. von einer „Erregung des Mitleidens bis zum Ekel“.20 Das Interesse des Stücks an der Judenemanzipation führte auch dazu, dass viele Zeitgenossen Deborah als Tendenzstück abwiesen. Mosenthal nahm sowohl den Erfolg Deborahs an der Kasse als auch die Vorwürfe in der Presse zur Kenntnis. In seinen späteren Dramen beschäftigte er sich dementsprechend nie wieder mit aktuellen Themen. Einige Rezensenten hielten den Sonnwendhof in der Tat für besser als Deborah, gerade weil ihm die Tendenz fehlte.21 Der fachgerecht hergestellte Theatertext, den Mosenthal für sein Alpendrama verfasste, wagte sich dennoch nie über das Formelhafte, das Gebräuchliche und das Vorhersehbare hinaus, vor allem wenn es sich um Handlung, Figurenkonstellation und dramatische Gliederung handelte. Nach einer Vorstellung des Stücks in Karlsruhe im Jahre 1879 fand Auerbach am Happy End und an Annas plötzlicher Entdeckung, dass Mathias und nicht ihr Vater der Brandstifter war, viel auszusetzen. An einen Freund schrieb Auerbach, Mosenthal fehle einfach „das Wissen von den Bedingungen des echten Volksstücks“. Nicht ohne Neid jedoch gab der gefeierte Autor der Schwarzwälder Dorfgeschichten zu, Mosenthal habe Talent. Mosenthal verstehe

19 Zur Erläuterung dieses Arguments siehe Hess: Deborah and Her Sisters, S. 26–64. 20 Müller-Samswegen, Emil: Das bürgerliche Drama, in: Brendel, Franz/Pohl, Richard (Hg.), Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft, Bd. 3, Leipzig 1858, S. 161–168, 201–213, 220. 21 Siehe z. B. Kulke, Eduard: S. H. Mosenthal, eine Studie, in: Illustrierte Monatshefte für die gesammten Interessen des Judentums 2 (1865/66), S. 25–38, oder Laube, Heinrich: Das Burgtheater von 1848 bis 1867, in: Neue Freie Presse, 29. März 1868.

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„das Theatralische in wunderbarer Weise“, er besitze wahre „Virtuosität“ im Verfassen von Effektstücken.22 Als eine Sammlung von Effekten konnte Der Sonnwendhof seinen mangelnden Reichtum an dramatischer Form leicht ausgleichen. 1858, drei Jahre nach Kellers Missbilligung, merkt ein Artikel in den Blättern für literarische Unterhaltung an, Mosenthals Sonnwendhof sei ein Meisterwerk, wenn es darum gehe, „dem Decorateur und Regisseur Gelegenheit zur Entfaltung ihrer Talente“ anzubieten.23 Schauplatz des Dramas ist einerseits der Sonnwendhof, der in verschiedenen Szenen aus verschiedenen Perspektiven von innen und von außen gezeigt wird, und andererseits die Sennhütte oben auf der Stern-Alm, wo Anne und eine andere Magd sich um die Kühe kümmern. Die Regieanweisungen im Theatertext schrieben einen Bauernhof mit holzgeschnitzten Altanen, gemalten Heiligen und vielen hölzernen Kreuzen und Kruzifixen vor, alles vor dem Hintergrund majestätischer Berge mit schneebedeckten Felsgipfeln. In einer berühmten Szene in Deborah kommt der Mond plötzlich hinter den Wolken hervor und beleuchtet die Bühne. Mosenthals Vorliebe für Effektbeleuchtung war legendär. Der erste Auftritt auf der Stern-Alm erfordert entsprechend eine Spezialbeleuchtung für einen Sonnenuntergang. Die Szenen auf der Stern-Alm am Schluss des Dramas, wo Matthias zu Tode stürzt und sich Anna und Valentin ihre Liebe bekennen, verwenden noch weitere Beleuchtungseffekte; eine Öllampe soll das Innere der Sennhütte schwach beleuchten, wobei die Berge draußen in der Abenddämmerung glühen. Die visuelle Pracht der Alpenidylle wird durch die typischen auditiven Zeichen des Berglebens ergänzt. Die Figuren sprechen Hochdeutsch, allerdings mit Spuren des Lokaldialekts vermischt, und die Regieanweisungen schreiben oft Kuh- und Kirchenglocken vor. Mosenthal bewunderte Die Alpenzither. Gedichte und Erinnerungsblätter aus den Jahren 1848 bis 1850, ein populäres Buch von Johann Nepomuk von Alpenburg, das im gleichen Jahr erschien, als er im Salzkammergut Urlaub machte und den Theatertext verfasste.24 Im Sonnwendhof darf daher auch ein Volkslied mit Zitherbegleitung nicht fehlen. 22 Siehe Auerbach, Berthold: Brief vom 20. November 1879 an Jakob Auerbach, in: Auerbach, Berthold: Briefe an seinen Freund Jakob Auerbach. Neuedition der Ausgaben von 1884 mit Kommentaren und Indices, hg. v. Hans Otto Horch, Oldenbourg 2015, 3 Bde., hier Bd. 2, S. 461–462; vgl. auch die Briefe vom 22. April 1866, 17. Mai 1881 und 7. Januar 1858, alle in Bd. 2, S. 312, 457 und 461–462. 23 Der Sonnwendhof, in: Blätter für literarische Unterhaltung, 7. Januar 1858. 24 Alpenburg, Johann Nepomuk von: Die Alpenzither. Gedichte und Erinnerungsblätter aus den Jahren 1848 bis 1850, Innsbruck 1853. Schon 1854 nahm Mosenthal eine Auswahl aus diesem Band in einen von ihm herausgegebenen Sammelband zur Gegenwartsliteratur auf. Vgl. Mosenthal, Salomon Hermann (Hg.): Museum aus den deutschen Dichtungen österreichischer Lyriker und Epiker der frühesten bis zur neuesten Zeit, Wien 1854, S. 412–413.

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Mosenthal arbeitete seine Urlaubserfahrung dadurch aus, dass er eine formelhafte Handlung in ein konventionelles und klischeehaftes Bild des Berglebens einbettete. Dabei beraubte er das Volksschauspiel als Genre all dessen, was Deborah interessant machte. Deborah drehte sich um die Spannungen zwischen den Einwohnern eines ungenannten Dorfs in der Steiermark und einer Gruppe jüdischer Flüchtlinge, die Gewalt und Verfolgung in Ungarn erlebt hatten. Wie Gotthelfs „Elsi“ spielte Deborah außerdem in einer Zeit der großen politischen Umwandlungen, in den Jahren kurz vor und nach dem Toleranzpatent Josephs II. Der Sonnwendhof aber ist einfach im „Hochgebirge“ in der „Gegenwart“ angesiedelt, wie in den Regieanweisungen, auf den Theaterzetteln und in der Werbung zu lesen war. Der Schauplatz des Alpendramas befindet sich letztendlich außerhalb der Geschichte. Es zeigt den Theaterbesuchern eine insulare Bergwelt, die von der Industrialisierung, der Eisenbahn, der Bevölkerungsabwanderung, den politischen und sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts weder berührt noch von ihnen verwandelt wurde. Keine einzige Figur im Drama erwähnt auch nur einmal die Welt außerhalb ihrer fiktiven Berggegend. Es ist aufschlussreich, dass der einzige Außenseiter, der Bösewicht Mathias, gar nicht von außen kommt. Seine vagen kommunistischen Aussagen über das Übel des Privateigentums – der einzige Hinweis im Sonnwendhof auf eine Gegenwartsthematik – werden im Stück selber durch seine Machenschaften in Misskredit gebracht, mit denen er versucht, den Sonnwendhof, den sein verstorbener Bruder seiner eigenen Frau, der Witwe Monika, vermachte, als sein Eigentum in Anspruch zu nehmen. In den Dorfgeschichten des 19. Jahrhunderts gibt es oft einen Erzähler, der der städtischen Leserschaft das Landleben vermittelt und manchmal dabei über den eigenen Erzählprozess und das Projekt der Dorfgeschichte reflektiert.25 Im Gegensatz dazu verschafft Der Sonnwendhof seinen Zuschauern die voyeuristische Freude, zwei Stunden mit einer Konstellation von Bergbewohnern zu verbringen, die die Existenz städtischer Theaterbesucher nicht zur Kenntnis nehmen. In diesem Sinne simuliert Der Sonnwendhof die Erfahrungen eines Touristen. Das Volksschauspiel verschafft den Zuschauern einen uneingeschränkten Zugang zu einem angeblich authentischen Alpenmilieu, das sich, was Zeit, Raum, Licht und Klang anbelangt, radikal von der Welt außerhalb der Theater, in denen man das Stück aufführte, unterscheidet. Der „Dichter der Deborah“ – so nannte man Mosenthal in ganz Europa – trägt ganz explizit nicht Jüdisches 25 Vgl. z. B. Auerbach, Berthold: Vorreden spart Nachreden, in: Schwarzwälder Dorfgeschichten, Stuttgart 1869, Bd. 1, S. vii–xi. Zur Dorfgeschichte siehe Bauer, Uwe: Dorfgeschichte. Zur Entstehung und gesellschaftlichen Funktion einer literarischen Gattung im Vormärz, München 1978; Moretti, Franco: Graphs, Maps, Trees: Abstract Models for a Literary History, London 2005.

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zu dieser Alpenidylle bei. Hinweise auf katholische Festtage tauchen in der Figurenrede auf, ebenso wie die Regieanweisung katholische Ikonen erfordert. Die erste Szene enthält sogar einen Hinweis auf den Gebrauch des Schweinefetts in der Küche; die traditionelle Alpenwelt, die auf der Bühne simuliert wird, enthält also keine Spuren des Judentums ihres Urhebers oder seines Blockbusters, auf dem Mosenthals Ruhm beruhte. Das Judentum ist im Sonnwendhof nur in seiner Abwesenheit präsent, im Versuch Mosenthals, das Genre des Volksschauspiels ohne jegliche Spur der exotischen Darstellung des Judentums, die für den Erfolg Deborahs ausschlaggebend war, wiederaufzugreifen. Die Diskussionen zum Sonnwendhof in der Presse äußerten sich oft explizit zu der Art und Weise, wie das Stück als Ersatzurlaub funktioniert. An einem warmen Juniabend 1881 berichtete ein Wiener Kritiker, die Theaterbesucher seien froh, „das Mosenthal’sche Schauspiel ‚Der Sonnwendhof ‘, mit der stärksten Sehnsucht nach kühler Alpenluft, die durch die Scenerei des Stückes in dem heißen Theater so lebhaft angeregt wird“, genießen zu dürfen.26 Rezensenten, die den ersten Vorstellungen in Wien und anderswo beiwohnten, priesen die „frische Waldluft“, die „Natur und Einfachheit“ und die „Naturtreue in Hinsicht auf Dekorationen und Kostüme“ dieses Volksschauspiels, das „getreu aus dem wirklichen Leben gegriffen“ sei.27 Eine Münchner Zeitung lobte Mosenthals Dichtung dafür, „daß sie uns mitten in die kräftige Alpenwelt versetzt, auf grüne Almen, in das schmucke Gehöft der behäbigen Bäuerin, dann wieder in die arme Hütte hoch oben auf der Alp – in das Gebiet des stillen heimischen Friedens, aber auch wieder auf den schwindelnden Bergstieg, wo der wankende Fuß des, den zerstörenden Unsegen mit sich schleppenden Heimathlosen unaufhaltsam dem Abrunde zueilt, der ihn endlich als dunkle Grabesluft dem entfremdeten Leben, strafend und mitleidig zugleich, entzieht. So gibt uns der Dichter ein naturtreues Alpenbild, durchgrollt vom rollenden Gewitter, durch dessen Wolken endlich als versöhnender Himmelsstrahl das letzte milde Glühen der Abendsonne bricht“.28 Die klischeehafte Sprache dieser Rezension reproduziert die Logik des Stücks, und in der Tat zelebrierten viele Kritiker die wesentlich touristische Erfahrung, die Der Sonnwendhof den Zuschauern bot, eher als Stärke denn als Schwäche. In den 1850er-Jahren galt das Volksschauspiel vielen Kritikern als großes Desiderat der Gegenwart. In diesem Zusammenhang wurde Mosenthals Neigung zu Theatereffekten zwar wahrgenommen. Der Sonnwendhof erhielt dennoch 26 J. B.: Theater- und Kunstnachrichten, in: Die Presse, 26. Juni 1881. 27 Mosenthal’s „Sonnwendhof “, in: Die Presse, 19. Februar 1854; Zur Tagesgeschichte, in: Wiener Zeitung, 1. Juni 1854; Kunst-Salon. Theater in Ischl, in: Ischler Fremden-Salon, 27. September 1856. 28 München, 15. Nov., in: Neueste Nachrichten aus dem Gebiete der Politik, 16. November 1854.

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Lob als „eines der besten Stücke, welche in dieser Art noch geschrieben wurden“, oder als das Produkt einer „vorzüglichen Begabung für die dramatische Gestaltung des Volkslebens“, die die „Herausbildung des nationalen Dramas“ ankündige.29 Auch nachdem die viel raffinierteren österreichischen Volkstücke Ludwig Anzengrubers in den 1870er-Jahren den Beifall der Kritik erhielten, gaben Rezensenten zu, das Theaterpublikum finde immer wieder Vergnügen an Mosenthals weniger anspruchsvollem Drama. „Zwar hat Anzengruber“, schrieb ein Rezensent in der Neuen Freien Presse, „inzwischen neue Pfade für das Volksstück gewiesen, welche nur von Jenen, die ein gutes poetisches Gewissen in der Brust tragen, gewandelt werden können; allein wenigstens geht durch den ganzen ‚Sonnwendhof ‘ ein wohlthuender Zug nach Natürlichkeit; manch einfacher Herzenston spricht uns wahr an.“ Das Urteil ist klar: „[E]s scheint, das Publicum befreundet sich doch noch lieber mit dem alten Mosenthal“.30 Hier gilt auch, dass das Judentum in seiner Abwesenheit präsent ist. Man nannte Mosenthal regelmäßig den „Dichter der Deborah“ und verwies dabei auf eine Beziehung zwischen dem Sonnwendhof und Mosenthals „Judenstück“. Selten aber kamen konkrete Hinweise auf Juden oder auf Mosenthals Judentum vor. Die gelegentlichen Bezüge darauf sind auch eher positiv gemeint. 1886 bewunderte z. B. ein Linzer Rezensent die Figur des katholischen Priesters, den Mosenthal entwarf: „Der Menschenkenner und Seelenarzt, der von echt christlicher Nächstenliebe und Toleranz beseelte Pfarrer von Achau, wurde von Herrn Knorr ebenso ideal erfaßt, wie er von dem Juden Mosenthal vor 30 Jahren gezeichnet worden war.“31 Im Oktober 1860, eine Woche nach Jom Kippur, lobte die Wiener Tageszeitung Das Vaterland den Spielplan des Burgtheaters; es sei klar, dass die Direktion Werke mit jüdischer Thematik in der Zeit der Hohen Feiertage benutzt habe, um jüdische Theaterbesucher herbeizulocken. Ein paar Tage nach Rosch ha-Schana gab man Otto Ludwigs Die Makkabäer, und am zweiten Abend des Erntefests Sukkoth wurde Der Sonnwendhof vor übervollem Haus aufgeführt.32 Die Strategie des Linzer Rezensenten, einen 29 Kunst-Salon. Theater in Ischl, in: Ischler Fremden-Salon, 27. September 1856; Mosenthals „Sonnwendhof “, in: Die Presse, 19. Februar 1854; siehe auch Wiener Zeitung, 19. Februar 1854; Theater, in: Morgen-Post, 19. Februar 1854; Theater in Freising, in: Freisinger Wochenblatt, 13. November 1859. Vgl. auch Yates, W. E.: Theatre in Vienna: A Critical History, 1776–1995, Cambridge 1996, S. 118–124, und Schmitz, Thomas: Das Volksstück, Stuttgart 1990. 30 Theater- und Kunstnachrichten. Wien, 18. Januar, in: Neue Freie Presse, 19. Januar 1876. Zu Anzengruber vgl. McInnes, Edward: Ludwig Anzengruber and the Popular Dramatic Tradition, in: Maske und Kothurn 21 (1975), S. 135–152. 31 Tages-Post, 1. April 1886. 32 Hofburgtheater, in: Das Vaterland, 4. Oktober 1860. Siehe auch Theaterzettel zu Oper und Burgtheater in Wien, 22. September 1860, und 1. Oktober 1860, Österreichische Nationalbibliothek.

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jüdischen Dramatiker für die Echtheit der Gestalt eines wohlwollenden katholischen Pfarrers zu loben, unterscheidet sich freilich von der Absicht der Wiener Zeitung, seiner vorwiegend katholischen Leserschaft kundzugeben, dass die Wiener Juden das Laubhüttenfest zelebrieren, indem sie das Theater besuchen, um ein Alpenmelodrama von einem ihresgleichen zu sehen. In beiden Fällen ist aber klar, dass die Jüdischkeit des Sonnwendhofs signifikant war, wenn man sie auch für nebensächlich hielt und als selbstverständlich betrachtete. Eine Spannung etwa zwischen der Jüdischkeit des Stücks und der touristischen Erfahrung der Authentizität des Alpenlebens, die es möglich machte, scheint es nicht gegeben zu haben. In seinem Brief an Hettner verglich Keller Mosenthals Volksschauspiel mit einem „Guckkasten“33 , und es gab in der Tat Rezensenten, die der touristischen Ästhetik Mosenthals kritisch gegenüberstanden. Ernst Kossak, den wir zuvor schon zitierten, meinte, in seiner Darstellung der Bergbewohner leide Mosenthals neues Schauspiel an einem deutlichen Authentizitätsmangel. Es biete den Zuschauern „gewiß die kühnste Abweichung von der Naturwahrheit. Wer den ‚Sonnwendhof ‘ gesehen hat“, fuhr der Berliner Journalist ironisch fort, „kann sein Geld wieder ruhig in den Kasten legen und sich eine Reise durch Tirol, Steiermark, Salzburg und die Schweiz ersparen.“34 Die Beliebtheit, die der Ersatzurlaub des Sonnwendhofs unter Theaterbesuchern genoss, rief genauso viel Kritik wie Bewunderung hervor. Kritiker wiesen gerne darauf hin, dass sich Der Sonnwendhof ein zuvor schon existierendes Interesse an der Schilderung der Volkstümlichkeit und der Alpen zunutze mache.35 Einigen Kritikern erschien Mosenthals Drama als Imitat von Der Toni und seine Walburg (1850), einer Operette des sogenannten „Kuhstall-Dichters“ Franz Prüller, die in München, Wien und anderen Städten kurzlebigen Erfolg gefunden hatte.36 Von Anfang an bestand deshalb der Wiener Satiriker Moritz Gottlieb Saphir darauf, es sei lächerlich zu behaupten, Mosenthals Drama würde einen vielversprechenden Neubeginn des Volksschauspiels ankündigen. Der Sonnwendhof, so Saphir, habe keinen „Heuduft“: „Diese Natur ist Unnatur, so denkt, so fühlt, so handelt dieses Volk nicht!“ Die Handlung des Stücks 33 Keller, Brief vom 26. Juni 1854, an Hettner. 34 Zitiert nach Saphir, M. G.: Fliegende Reise-Blätter und Briefe, in: Der Humorist, 2. Juni 1854. 35 Siehe z. B. Theater von gestern, in: Der Humorist, 18. Februar 1854; Theater, in: Bohemia, 6. Juli 1854; Aus Pest, in: Der Humorist, 20. Juli 1854; Theater, Kunst und Literatur, in: MorgenPost, 28. September 1871; Figaro: Wien, in: Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft 2 (1877), S. 876–880, hier S. 878. 36 Siehe Beobachter auf der Mathiesl-Gallerie, in: Jörgel Briefe, 20. Februar 1854, und Saphir, M. G.: Didaskalien, in: Der Humorist, 4. März 1854. Vgl. Prüller, Franz: Der Toni und seine Walburg. Charakterbild aus dem Hochland mit Gesang in 3 Akten. Musik von J. Prummer, Wien 1850.

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folge außerdem der „Schablone aller Rührspiele mit obligaten Bösewichtern und turtelirenden Schmachtlappen, aber auf Milchkannen und Heuschoppen gezogen“.37 Ein paar Monate später äußerte sich ein Münchner Rezensent auf ähnliche Art und Weise zu Mosenthal, nur mit weniger Sarkasmus: „[E]s fehlt ihm […] die Kenntniß und die treue Wiedergabe der Volkssitte und Volksweise im Gebirg“.38 Noch ein Neinsager aus München gab in einem satirischen Blatt zu, die Handlung des Stücks sei „sehr erhaben“. In diesem Zusammenhang heiße „erhaben“ aber „über die Meeresfläche nämlich“, Der Sonnwendhof „spielt im Hochgebirg, theilweise sogar auf der Stern-Alm“. Das Theaterstück mache sicherlich „beim Publikum Effekt“, und „wir müßten lügen, wenn wir sagten, daß wir das Stück nicht mit Spannung verfolgt hätten“. Durch solch ein Volksschauspiel aber sei „der darniederliegenden deutschen Literatur nicht auf die Beine [zu] helfen“. Dichter solcher Stücke, fährt der Rezensent fort, setzten sich „keine Denkmäler der Zukunft“; „bei ihnen, die auf momentane Wirkung, auf die Sentimentalität der oberflächlichen Gebildeten spekuliren, trifft das Wort der Schrift ein: ‚Sie haben ihren Lohn hier schon empfangen‘“39 . Sogar in diesem Zusammenhang erschien die Tatsache, dass Mosenthal Jude ist, nicht einmal erwähnenswert. Außer Keller berief sich Kossak als Einziger auf Mosenthals jüdischen Hintergrund, indem er ihn einmal nebenbei als „Theaterjuden“ bezeichnete.40 Der Sonnwendhof wurde wiederholt als ein oberflächliches, formelhaftes Stück ohne Authentizität in seiner Darstellung des Alpenlebens angeprangert, wobei oft zugegeben wurde, dass es meisterhaft dahingehend angelegt war, ein Kassenerfolg zu werden. Ein Kritiker, der der Berliner Uraufführung beiwohnte, beschrieb Mosenthal in der Berliner National-Zeitung als einen „geschickten Techniker“: „[E]r kennt das Theater und sein Publikum. Er weiß Situationen herbeizuführen, in denen der Schauspieler sich zeigen kann, und wo ihn alles im Stich läßt, muss der Theatermaler mit einer schönen Alpenlandschaft, der Maschinist mit einem überraschenden Alpenglühn und Mondschein seinem Talente unter die Arme greifen“.41 In den 1850er-Jahren gab es den Begriff „Kitsch“ noch nicht, und erst später im 19. Jahrhundert trugen Neuerungen in Techniken der Bilderreproduktion und der Aufstieg der Fotografie zum Phänomen der Ansichtskarte als Massenware bei. In diesem Zusammenhang funktionierte Der Sonnwendhof als kitschige Ansichtskarte avant la lettre. Das Drama Mosenthals machte eine Form der 37 38 39 40 41

Saphir, M. G.: Didaskalien, in: Der Humorist, 5. März 1854. München, in: Allgemeine Zeitung, 21. November 1854. Kgl. Hof- und National-Theater, in: Münchener Punsch, 9. November 1854. Zitiert nach: Saphir, Fliegende Reise-Blätter und Briefe, in: Der Humorist, 2. Juni 1854. Ebd.

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kommerziellen Kultur aus, die den städtischen Theaterbesuchern en masse ein sentimentales, nostalgisches Bild des Alpenlebens vermittelt, das Authentizität für sich in Anspruch nimmt – trotz der andauernden Einwände der Zyniker, die es für oberflächlich, unauthentisch und eskapistisch hielten. Der überwiegenden Mehrzahl derjenigen, die die Mosenthal’sche Alpenidylle entweder begrüßten oder zurückwiesen, war dessen Judentum jedoch Nebensache. 3.

Zurück in die Provinz: Das beharrliche Nachleben von Mosenthals Alpenmelodrama

Nach Mosenthals Tod im Jahre 1877 machte der Wiener Schriftsteller Karl von Thaler in einem Nachruf in der Gartenlaube den Witz, Mosenthals Grabschrift könnte lauten: „Hier ruht ein Dichter von den Schlägen der Kritik aus“.42 Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde Der Sonnwendhof zwar immer wieder aufgeführt. Die ablehnenden Stimmen der Kritiker hörten aber kaum auf. Die Tiraden, die man in den 1850er- und 1860er-Jahren gegen Mosenthals Volksschauspiel losließ, wurden mit der Zeit nur noch intensiver. Im Jahr 1895 teilte ein Münchner Kritiker, nachdem er von einer Neuinszenierung des Sonnwendhofs am Wiener Burgtheater gelesen hatte, seiner Leserschaft diese Information mit als unanfechtbaren Beleg für den „Niedergang der großen Tragödie im Repertoir des Burgtheaters“.43 1899 wunderte sich ein Wiener Rezensent über eine Neuinszenierung des Mosenthal’schen Schauspiels am Pratertheater. Empört schrieb er von „den unnatürlich gespreizten Bauern, die seinerzeit, ehe noch Anzengruber wirkte, für echt gehalten wurden, uns heute aber anmuthen wie Stadtleute, die auf einem Costümball Bauern nachahmen wollen“.44 Ein Innsbrucker Kritiker hatte bei einer Vorstellung dieses „ganz und gar unmodernen, von Sentimentalitäten aller Art triefenden Stücks“ im gleichen Jahr das Gefühl, der Schauspieler, der Valentin spielte, wolle auf der Bühne ausschreien: „O Anzengruber, wo bist du? Wo bleiben deine herrlichen Werke?“45 Zwei Jahre später in Linz beschrieb ein Rezensent den Sonnwendhof schlicht als „das geleckte Bauernstück […], das seit Anzengruber geradezu unerträglich in seiner Unnatur wirkt“.46 42 Von Thaler, Karl: Der Dichter der „Deborah“. Ein Erinnerungsblatt, in: Die Gartenlaube, 1877/11, S. 181–183, hier S. 183. 43 Aus dem Burgtheater. Jeremias Gotthelf, Mosenthal und Gottfried Keller – Niedergang der Tragödie, in: Allgemeine Zeitung, 28. Mai 1895. Dieser Artikel zitiert die Polemik Kellers, beschreibt ihn mit Nachdruck aber als Befürworter der Judenemanzipation. 44 Theater und Kunst, in: Neues Wiener Journal, 1. Februar 1899. 45 J. R. Ch.: Theater und Musik, in: Innsbrucker Nachrichten, 7. Februar 1899. 46 Theater, Kunst und Literatur, in: Tages-Post, 12. November 1901.

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In den 1880er-Jahren tauchte ein neuer Einwand unter den Kritikern auf. Rezensenten fingen an, auf das Missverhältnis zwischen Mosenthals Schauspiel und dem neuen Vorbild des naturalistischen Theaters hinzuweisen. 1881 meinte ein Wiener Rezensent, die „merkwürdigen“ Bühnenbilder aus den 1850erJahren, die das Burgtheater immer weiter benutze, würden kaum eine Sehnsucht nach kühler Alpenluft erregen. Im Zeitalter des Naturalismus müsste eigentlich „der Realismus am Platze“ sein.47 Immer wieder wurde die Sprache Mosenthals der Kritik ausgesetzt, und man empfand oft einen Widerspruch zwischen den Forderungen des Naturalismus einerseits und den langen Selbstgesprächen sowie dem stilisierten Hochdeutsch des Dramas andererseits. Die „moderne Richtung“ im Drama mit ihrer Forderung nach einer authentischen Sprache auf der Bühne habe zur Folge, so ein Kritiker, dass ein einst beliebtes Volksschauspiel wie Der Sonnwendhof plötzlich „in Mißkredit“ gerate, „da auf unsere realistische Anschauung die in Ohnmacht fallenden Bauernburschen und die glühend monologisierenden Bauernmädchen einfach lächerlich wirken“.48 Ein wohlwollender Fan schlug 1899 einen Rettungsversuch vor: Man müsse den Sonnwendhof einfach modernisieren und in den lokalen Dialekt übertragen.49 Auch in ihrer Verspottung räumten diese Kritiker die anhaltende Beliebtheit des Mosenthal’schen Volksschauspiels ein. Aufschlussreich ist, dass die Printausgabe, die der Leipziger Verleger J. J. Weber 1857 auf den Markt brachte, bis ins 20. Jahrhundert immer wieder aufgelegt wurde. 1908 erschien Der Sonnwendhof zum ersten Mal sogar in der prominenten und preiswerten Buchreihe „Reclams Universal-Bibliothek“.50 Trotz aller Einwände von Seiten der Kritiker zirkulierte Der Sonnwendhof immer weiter in gedruckter Form und wurde auch noch aufgeführt. Der Konsens über den Authentizitätsmangel des Dramas, der sich am Ende des 19. Jahrhunderts unter Kritikern etablierte, verdient unsere Aufmerksamkeit aber nicht nur deshalb, weil er eine Spannung zwischen dem Eliten- und dem Publikumsgeschmack in der Metropole aufdeckt. Der öffentliche Ruf nach einer Dialektübertragung des Sonnwendhofs im Jahre 1899 kam bezeichnenderweise zu einem Zeitpunkt, als sich unter Ortsansässigen in Tirol schon längst die Tradition entwickelt hatte, Mosenthals Volksschauspiel in den Alpengemeinden im Dialekt aufzuführen. Spätestens 1881 begann das Bauern-Theater in Pradl, damals noch ein Dorf außerhalb von Innsbruck, den Sonnwendhof regelmäßig in den Sommermonaten aufzuführen, mit Liedern im Original und einem Schauplatz, den man 47 Theater, in: Wiener Zeitung, 27. Juni 1881. 48 Betram, A.: Das soziale Drama und seine Entwicklung, in: Österreichische Kunst-Chronik, 1. Dezember 1894; Theater- und Kunstnachrichten, in: Die Presse, 25. Mai 1895. 49 Jantsch-Theater, in: Arbeiter-Zeitung, 1. Februar 1899. 50 Mosenthal: Der Sonnwendhof, Leipzig [1908].

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typischerweise ins „bairische Hochland“ verlegte.51 Schon 1892 veröffentlichte Anny Schaefer Auf ’m Sunnwendhof, eine Neubearbeitung, die Mosenthals „zu wenig bäuerliches Volksschauspiel“ ins Oberbayerische übertrug. Dieser Versuch, den Sonnwendhof „etwas mehr mit der Seele des Gebirglers zu beleben“, erfolge, so Schaefer, aus größtem Respekt vor dem verstorbenen Dichter und seinem „hochdramatischen“ Volksschauspiel.52 Schon 1909 war Schaefers oberbayerische Umarbeitung nur eine unter vielen Mosenthal-Adaptionen, die im Sommer an den sogenannten Bauerntheatern in der Nähe von Innsbruck aufgeführt wurden.53 Es waren vor allem lokale Schauspieler und zum Teil auch Amateure, die mitspielten. Typischerweise bestand die Unterhaltung am Bauerntheater aus einer Vorstellung des Sonnwendhofs, tirolischen Volkstänzen, die vor dem Stück aufgeführt wurden, sowie Vokalquartetten und Zither- und Gitarrenmusik in den Pausen. In der Presse des 19. Jahrhunderts findet man allerdings keine Nachweise, dass man diese Theatervorstellungen als unauthentisch empfunden hätte. Ganz im Gegenteil, wie ein Innsbrucker Rezensent nach einer Vorstellung des Sonnwendhofs am Tiroler Bauerntheater in der „Alpenrose“ bemerkte: „Versäume niemand, einen Abend dort zu verleben, der natürliche Volkskunst sucht!“54 Gerade zu der Zeit, als sich in den größeren Städten ein Konsens über den Authentizitätsmangel des Sonnwendhofs entwickelte, wendeten sich Alpengemeinden Mosenthals Drama zu und hielten es für einen Modus der Selbstdarstellung, den Sonnwendhof für sich und für Sommertouristen zugleich aufzuführen. Diese Tradition hielt auch ohne die Teilnahme der städtischen Außenseiter Jahrzehnte lang an. Der Sonnwendhof wurde bis in die 1930erJahre immer wieder aufgeführt, sei es in Linz, in Dörfern in Tirol, in Vorarlberg oder in kleineren Städten in Niederösterreich, sei es im Amateurtheater, auf der Gesellenvereinsbühne oder im katholischen Arbeiter-, Männer-, Frauenoder Jugendverein. In diesem Zusammenhang sang man Lobeshymnen auf Mosenthals „tiefe[s] Verständnis für die Psyche des Gebirglers“, man pries Schaefers Neubearbeitung des Stücks und man zelebrierte den Sonnwendhof

51 Inserat, in: Innsbrucker Nachrichten, 20. August 1881; Sommertheater in Pradl, in: Innsbrucker Nachrichten, 26. Juni 1886; Bauerntheater in Pradl, in: Innsbrucker Nachrichten, 29. Juli 1892; Bauerntheater in Pradl, in: Innsbrucker Nachrichten, 16. Juli 1892; Inserat, Innsbrucker Nachrichten, 29. Juli 1892. 52 Schaefer, Anny: Auf ’m Sunnwendhof. Volksstück in 4 Aufzügen von S. H. Mosenthal in neuer Bearbeitung und Dialektübertragung, München 1892, S. 1 f. 53 Siehe Theater, in: Innsbrucker Nachrichten, 10. Juli, 21. Juli, 24. Juli 1909. 54 Siehe Rezension der Vorstellung des Sonnwendhofs am Innsbrucker Bauerntheater in der Alpenrose, in: Innsbrucker Nachrichten, 29. Juli 1909.

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als ein Musterbeispiel des Volkstücks, das in der Lage sei, „den katholischen Gedanken“ voranzutreiben.55 Die Theaterbesucher waren sich bewusst, dass dieses Stück, das einst „Repertoirestück der Großstadtbühnen“ war, inzwischen bei der Kritik in Ungnade gefallen war.56 In den Landgemeinden gefiel das Stück oft gerade deshalb, weil es traditionell und altmodisch war. Diejenigen, die bei den Lokalvorstellungen des Sonnwendhofs mitmachten – sei es als Schauspieler oder als Zuschauer –, wussten wohl, dass diese Art Volkskultur sich von dem, was auf dem Spielplan der noblen Großstadttheater stand, deutlich unterschied. Egal, welcher Fassung des Stücks die jeweilige Vorstellung folgte, schrieb man es fast immer dem Dichter Mosenthal mit seinem unverkennbar jüdischen Nachnamen zu. Einige in den 1920er-Jahren meinten dennoch, der „echt christliche Geist“, der Mosenthals Stück belebe, sei in der Lage, gegen eine Großstadtkultur, die deutlich als „jüdisch“ zu bezeichnen sei, heftigen Widerstand zu leisten. 1921 berichtete der Allgemeine Tiroler Anzeiger über eine Vorstellung dieses „kernigen, echt tirolischen Bauernstücks“ in Kematen in Tirol. Der Rezensent beklagte die Tatsache, dass „solche Stücke […] aus dem Spielplan dieser großen Bühnen freilich geschwunden [sind] und der seichten, inhaltsschweren, aber umso mehr sittenverderbenden Operette und dem sogenannten ‚modernen Schauspiel‘ [haben] Platz machen müssen“. Zum Teil sei dieses Problem darauf zurückzuführen, dass die großen Theater in den Städten sich „fast ausnahmslos in glaubenslosen, jüdischen Händen“ befänden. Die Christen seien aber gleichermaßen dafür verantwortlich, wegen ihrer „eigenen Nachlässigkeit und Verkennung der Dinge“. In diesem Zusammenhang solle man dankbar sein, dass die „Volksbühne […] in den Alpenländern und namentlich bei uns in Tirol seit fast Jahrhunderten […] innig mit der Volksseele verwachsen“ sei. Die dringendste Aufgabe der Gegenwart sei dementsprechend, dass die „christliche Volksbühne“ der Alpenländer der Großstadtkultur Widerstand leiste. Mosenthals Der Sonnwendhof sei hervorragend dazu geeignet, einen wichtigen Beitrag zu diesem Projekt der kulturellen Erneuerung zu liefern.57

55 Gesellenvereinsbühne, in: Tages-Post (Linz), 17. November 1919; Korrespondenzen. Puchenau. Theater, in: Tages-Post, 5. April 1930; Kath. Arbeiterverein für Innsbruck und Umgebung, in: Allgemeiner Tiroler Anzeiger, 28. September1932; siehe auch Oberinntal. Theater in Kematen, in: Allgemeiner Tiroler Anzeiger, 7. Mai 1921; Theatervorstellung in Brixlegg, in: Allgemeiner Tiroler Anzeiger, 22. September 1921; Ybbser Zeitung. Illustrirtes Wochenblatt für das christliche Volk, 6. Juli 1929; Festvorstellung im kath. Gesellenverein, in: Tages-Post, 6. November 1929; Ybbser Zeitung, 2. April 1932. 56 Oberinntal. Theater in Kematen, in: Allgemeiner Tiroler Anzeiger, 7. Mai 1921; Festvorstellung im kath. Gesellenverein, Tages-Post, 6. November 1929. 57 Oberinntal. Theater in Kematen, in: Allgemeiner Tiroler Anzeiger, 7. Mai 1921.

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In den 1920er-Jahren war es keine ungewöhnliche rhetorische Strategie, die angeblich authentische christliche Volkskultur der Alpengebiete der Künstlichkeit, dem Geld, dem Säkularismus und dem Judentum Wiens gegenüberzustellen. Was unsere Aufmerksamkeit verdient, ist, was der begeisterte Theaterbesucher im Allgemeinen Tiroler Anzeiger nicht erwähnt: Im Falle des Alpenmelodramas Mosenthals war die „Volksbühne, [die] in den Alpenländern und namentlich bei uns in Tirol seit fast Jahrhunderten […] innig mit der Volksseele verwachsen“ sei, gar kein einheimisches Erzeugnis. Es war gerade ein jüdischer Schriftsteller in Wien, der diese Entwicklung entfesselt hatte, und ihm ging es kaum darum, zur Erneuerung der katholischen Kultur in den Alpen einen wichtigen Beitrag zu leisten. Er wollte ein Erfolgsdrama für das städtische Publikum verfassen. In dieser Hinsicht beruht die Macht der Volkskultur der Alpen, die dieser Artikel der „jüdischen“ Metropole gegenüberstellt, ironischerweise sowohl auf dem Handelsgeist der städtischen Kultur des 19. Jahrhunderts mit seinem touristischen Interesse an den Alpen als auch auf dem jüdischen Dramatiker in Wien, dessen formelhaftes Melodrama den Wünschen der städtischen Theaterbesucher nach einem Ersatzurlaub in den Alpen entgegenkam. So scheint sich Weilens Entstehungsgeschichte des Sonnwendhofs, den wir anfangs zitierten, in ihr Gegenteil zu verkehren. Die Figuren, die Mosenthal und seine Frau im Salzkammergut erblickten, kehren hier gewissermaßen ins Leben zurück, um Mosenthals touristische Fantasie für sich selbst auszuspielen. Die Alpenbewohner eignen sich Mosenthals Fantasie als ein Volksschauspiel an, das ihre eigene Kultur und deren Bestrebungen in der Gegenwart authentisch darstellt. Was immer ihre Absichten gewesen sein mögen, die Rezension der Aufführung des Sonnwendhofs in Kematen steht letzten Endes kaum für einen eindeutigen Gegensatz zwischen der dekadenten, jüdischen Metropole und ihren katholischen Alpenprovinzen. Sie ist ganz im Gegenteil eher ein Beweis für die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Wiener Metropole und den Alpengemeinden. Die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des Sonnwendhofs beschreibt so eine Wechselbeziehung zwischen Großstadt und Provinz, die die touristische Aneignung des Lokalkolorits, die kommerzielle Kultur der Großstadt und die angebliche Authentizität des christlichen Volksstücks zugleich hervorrief. 4.

Die Mosenthaler Alpen

Im August 1929 sendete der Münchner Rundfunk an einem Sonntagabend eine Liederstunde und eine Lesung aus der oberbayerischen Bauernbibel des Tirolers Rudolf Greinz. Darauf folgte etwas Neues: eine Neubearbeitung des

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Sonnwendhofs als Hörspiel.58 Die Sendung, die in Süddeutschland, Österreich und auch in der Tschechoslowakei simultan übertragen wurde, wäre ohne die vorangegangene Tradition der Aufführungen des Dramas im lokalen Dialekt nicht denkbar gewesen. Die andauernde Popularität des Sonnwendhofs ungeachtet der Bemühungen der Kritiker, das Stück Mosenthals in Verruf zu bringen, wurde auch durch die Übertragungen seines Volksschauspiels in andere Medien bestätigt. 1918 erschien eine Verfilmung von Emil Leyde mit dem jungen Fritz Kortner als Mathias. Dieser Stummfilm wurde in der Presse wegen seiner schönen Landschaftsfotografie gelobt. Als Der Sonnwendhof mit dem neuen Titel Die Vroni vom Sonnwendhof 1930 wieder ins Kino kam, pries man ihn als „erschütterndes Volksstück aus den Tiroler Bergen.“59 In Österreich und Deutschland war Mosenthals Volksschauspiel zwar nicht in der Lage, die Nazizeit zu überleben. In der Schweiz aber erschien 1950 Anna, die Magd, eine Übersetzung des Sonnwendhofs ins Schweizerdeutsche, die 1995 noch aufgeführt wurde. Man kann sich vorstellen, dass der Schweizer Keller, der in den 1850er-Jahren den Publikumserfolg des Sonnwendhofs und dessen vermeintliche Trivialisierung von Gotthelfs „Elsi“ als „jüdisches“ Phänomen anprangerte, über die Langlebigkeit des Mosenthal’schen Alpenmelodramas entsetzt gewesen wäre.60 Kaum überraschender fand Kellers Polemik Widerhall beim Literaturhistoriker Josef Nadler, einem Liebling der Nazis, der Mosenthal als „einen geschäftstüchtigen jüdischen Literaten“ klassifizierte.61 Das Judentum des „Dichters der Deborah“ war Zeit seines Lebens bekannt, und es war auch eine bekannte Tatsache, dass dieser jüdische Schriftsteller auf seine zwei Erfolgsdramen besonders stolz war.62 Die Quellen, mit denen wir uns auseinandergesetzt haben, sind 58 Siehe Rundfunkprogramme, in: Bregenzer/Vorarlberger Tagblatt, 23. August 1929; Radio Wien, 23. August 1929; Europäisches Radio-Programm, in: Salzburger Volksblatt, 24. August 1929; Allgemeiner Tiroler Anzeiger, 24. August 1929; Pilsner Tagblatt, 25. August 1929; Tagblatt (Linz), 25. August 1929. 59 Im Herbst 2017 gab es auf der Viennale eine Vorstellung dieser nur schwer zugänglichen Verfilmung des Sonnwendhofs. Zum Film siehe Die neue Kinospielzeit, in: Deutsches Volksblatt, 1. September 1918; Das Kino-Theater, in: Wiener Allgemeine Zeitung, 20. November 1918; Kino, in: Feldkircher Anzeiger, 19. März,1919; Neuerwerbungen des Hauk-Filmverleihs, in: Das Kino-Journal, 14. Juni 1930; M. J.,: Neuheiten-Vorführungen der Woche, in: Das Kino-Journal, 28. Juni 1930; Inserate in: Das Kino-Journal, 5. Juli 1930; Die rote Fahne, 12. und 14. September 1930; Illustrierte Kronen-Zeitung, 13. September 1930; Tages-Post (Linz), 24. und 26. März 1931; Tagblatt (Linz), 22. November 1931. 60 Heß, Ernst: Anna, die Magd (Der Sonnwendhof). Volksschauspiel in fünf Aufzügen von S. H. Mosenthal ins Schweizerdeutsche übertragen, Aarau 1950. 61 Zitiert nach Klüger, Ruth: Nachwort, in: Mosenthal. Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben, Göttingen 2001, S. 197. 62 Hess: Deborah and Her Sisters, S. 21 f., 190.

S. H. Mosenthal und die jüdischen Alpen

aber wichtig, weil sie uns eine Welt erschließen, in der Zeitgenossen in der Regel keine Kausalzusammenhänge zwischen Mosenthals Judentum, seinem Geschäftserfolg und seiner Alpenidylle sahen. Diejenigen, die sich von 1854 bis in die 1930er-Jahre für den Sonnwendhof begeisterten, empfanden nichts Widersprüchliches zwischen Mosenthals Judentum und dem populären Bild des Alpenlebens, das sein Melodrama verbreitete. Ebenso wichtig ist, dass fast alle, die den Sonnwendhof für seinen Authentizitätsmangel tadelten, den jüdischen Hintergrund seines Urhebers für irrelevant hielten. In der Rezeptionsgeschichte Deborahs sieht man immer wieder, dass Juden und Nichtjuden zusammenarbeiteten, um sentimentale Spektakel des Judentums zu erzeugen und zu genießen, und damit eine liberale Kultur der Empathie mit dem jüdischen Leid ins Leben riefen.63 In vieler Hinsicht löste Der Sonnwendhof ein ähnliches Phänomen aus. Weilen, Mosenthal, der Satiriker Saphir oder der Filmstar Kortner – viele der oben erwähnten Individuen waren entweder Juden oder jüdischer Abstammung. Dass Wiener Juden den Sonnwendhof 1860 als säkularen Ersatz für das Laubhüttenfest benutzten, deutet darauf hin, dass jüdische Theaterbesucher manchmal eine besondere Beziehung zu diesem Stück pflegten. Wegen des überdurchschnittlich hohen Anteils der Juden im journalistischen Betrieb im 19. Jahrhundert ist auch anzunehmen, dass mehr als ein paar der anonym veröffentlichten Theaterrezensionen, die wir zitierten, auch von jüdischen Journalisten stammten. Juden spielten also beim Verfassen sowie bei der Aufführung und Rezeption dieses Volksschauspiels bestimmte Rollen. Das sollte freilich nicht dazu führen, mit Keller den Sonnwendhof etwa als „jüdisch“ einzustufen. Im Gegensatz zu Deborah und den Operntexten mit jüdischem Inhalt, die Mosenthal verfasste, war Der Sonnwendhof in der Tat kein jüdisches Stück. Dieses Alpenvolksschauspiel war aber doch das sichtbare Produkt jüdisch-nichtjüdischer Interaktionen, sei es im Theater oder in der Theater-Öffentlichkeit. Der Sonnwendhof bot seinen Zuschauern ein populäres Alpenerlebnis an, das als Ersatzurlaub begrüßt, wegen Authentizitätsmangel abgelehnt und als echte katholische Volkskultur zelebriert wurde. Dieses Erlebnis selbst ergab sich aus einem gemeinsamen 63 Siehe Hess: Deborah and Her Sisters. Die neuere Forschung zum Thema Juden und Populärkultur im 19. und frühen 20. Jahrhundert betont oft die Art und Weise, wie die Populärkultur als ein Raum funktionierte, wo Juden und Nichtjuden zusammenkamen und -arbeiteten, und dies nicht unbedingt in ihren Eigenschaften als Juden und Nichtjuden. Siehe Aschheim, Steven E.: In Times of Crisis: Essays on European Culture, Germans, and Jews, Madison 2001; Malkin, Jeanette R./Rokem, Freddie (Hg.): Jews and the Making of Modern German Theatre, Iowa City 2010; Otte, Marline: Jewish Identities in German Popular Entertainment, 1890–1933, Cambridge 2006; Hödl, Klaus: Wiener Juden, jüdische Wiener. Identität, Gedächtnis und Performanz im 19. Jahrhundert, Innsbruck 2006; Ders.: Zwischen Wienerlied und Der kleine Kohn. Juden in der Wiener populären Kultur um 1900, Göttingen 2017.

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Mitwirken von Juden und Nichtjuden. Dabei bestand diese Zusammenarbeit zwischen Juden und Nichtjuden freilich nicht immer aus persönlichen Begegnungen; nicht alle, die für den fortbestehenden Erfolg des Mosenthal’schen Alpendramas verantwortlich waren, befanden sich zur gleichen Zeit im gleichen Raum. Wie sonst hätten Tiroler Theaterbesucher in den 1920er-Jahren den Sonnwendhof als deutliche Alternative zur „jüdischen“ Kultur der Großstadt Wien begreifen können? Die andauernde Popularität des Sonnwendhofs bis in die 1930er-Jahre soll als überzeugende Erinnerung daran dienen, dass das Bild der Alpen als malerisches Touristenziel voller Authentizität und Einfachheit in gewissem Maße schon immer ein jüdisches Erzeugnis war. Der Aufstieg des Antisemitismus und der Antisemitismus der Alpenvereine in den 1920er-Jahren verlieh den Bemerkungen Kellers aus den 1850er-Jahren eine Bedeutung, die der Schweizer Dichter nie hätte voraussehen können. Danach wurde die bloße Idee der „jüdischen Alpen“ gewissermaßen zum Oxymoron. Den Theaterbesuchern in den sieben Jahrzehnten nach der Uraufführung des Sonnwendhofs aber konnte das Postkarten-Erlebnis der Alpen im Blockbuster Mosenthals als ein kulturelles Phänomen dienen, das letztendlich problemlos als jüdisch und als nichtjüdisch zugleich galt.

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Kriegslandschaften Jüdisches Leben im Ersten Weltkrieg

Als am Vorabend der Jahrhundertfeier zum Ersten Weltkrieg eine Reihe von Historikerinnen und Historikern sowie Intellektuellen von der FeuilletonRedaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung um Empfehlungen hinsichtlich der „besten Bücher über den Ersten Weltkrieg“ gebeten wurden, hatte der Historiker Gerd Krumeich – der sich wie kaum ein anderer Historiker in Deutschland um die Aufarbeitung dieses Krieges verdient gemacht und insbesondere den wissenschaftlichen Austausch mit Frankreich gefördert hat – auf diese Frage anstelle eines Buches die Betrachtung des Gemäldes „Flandern“ von Otto Dix empfohlen (Abb. 1). „Der Erste Weltkrieg“, so notierte Krumeich, „hatte viele Gestalten, aber die emblematische Figur ist die Westfront, die genau so aussah, wie sie hier als Weltuntergang gemalt wurde“.1 Die Landschaften Flanderns gehörten neben Verdun und der Somme zu den Räumen, in denen der Bewegungskrieg in den Stellungskrieg umschlug, und sie wurden zu einer Stätte des Massentodes.2 Otto Dix, der im Krieg eine Fülle von Skizzen und Entwürfen erstellt hatte, auf die er für dieses Gemälde zurückgreifen konnte, zeigte die Verwüstung einer Frontlandschaft.3 Er schuf das Bild einer Landschaft, über der die Ruhe des Todes lag. Von Bäumen sind nur fahle Stümpfe übrig, Bombenkrater sind zu toten Tümpeln geworden, in einem dieser Tümpel treibt eine Leiche. In den Bildmittelpunkt hat Dix einen Baumstumpf gesetzt, an dem ein toter Soldat lehnt; oder lebt er noch und schläft nur? Es ist nicht zu erkennen; seine Augen sind von seinem Stahlhelm verdeckt. Links neben ihm kauert ein sterbendes – oder nur schlafendes? – Kind, hinter dem wieder die Hand eines getöteten Menschen aus dem Morast 1 Die Hölle der Schlachtfelder begreifen. Er war die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts: Die besten Bücher über den Ersten Weltkrieg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 300, 27. Dezember 2013. 2 Bourne, John M.: Flandern, in: Hirschfeld, Gerhard/Krumeich, Gerd/Irina, Renz (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2003, S. 489–494. 3 Zum Gemälde „Flandern“ von Otto Dix siehe Lil, Kira van: Otto Dix und der Erste Weltkrieg. Die Natur des Menschen in der Ausnahmesituation, Diss., München 2000, S. 307–316; siehe auch: Sofsky, Wolfgang: Der Sieger des großen Metzelns war der Schlamm – ‚Flandern‘ war das letzte Bild von Otto Dix über den Ersten Weltkrieg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. November 1998.

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Abb. 1: Flandern, 1934–1936. Otto Dix (1891–1969).

herausragt. Im Hintergrund zeigt sich eine brennende Ortschaft, von der nur noch Ruinen unter den Rauschschwaden aufscheinen. Eine bizarr verdeckte Sonne auf der linken Bildseite gibt kein Licht mehr, sie färbt allein vorüberziehende Wolkenschwaden blutrot, im kalten Blau eines kleinen Himmelfeldes auf der rechten oberen Bildhälfte steht ein fahler Mond, neben dem Rot die einzige Farbe in diesem Bild. Es dominieren das silbrig schimmernde Graubraun des Morastes und das trübe Graugrün der Sümpfe. Es ist kein Leben mehr in der Landschaft. Eine entseelte Ruhe liegt über ihr. Otto Dix hat mit diesem Gemälde das Bild einer Kriegslandschaft geschaffen, wie sie etwa in einem Kriegsbrief vom November 1914 beschrieben ist: „Alle Bäume zerschossen, die ganze Erde metertief zerwühlt […], und dann wieder Tierleichen und zerschossene Häuser und Kirchen“.4 Der Krieg hinterließ an den Fronten vollkommen zerstörte Landschaften, aus denen jedes Leben gewichen war. Der industrielle Krieg und die neuen Waffentechnologien brachten, wie Christoph Nübel in seiner Studie über Raumwahrnehmung und Körpererfahrung im Ersten Weltkrieg herausgearbeitet hat, „das 4 Witkop, Philipp: Kriegsbriefe gefallener Studenten, München 1928, S. 90.

Kriegslandschaften

Ende der bekannten Landschaftsformen und schufen mit der Kriegslandschaft ein neuartiges Gebilde“.5 Doch der Krieg formte auch die Wahrnehmungen der Landschaft jenseits der Front. Der junge Wissenschaftler Kurt Lewin, der später zu einem einflussreichen Sozialpsychologen werden sollte und vor allem durch seine Feldtheorie die Sozialwissenschaften bereichert hat,6 beschrieb 1917 in einem in der Zeitschrift für angewandte Psychologie erschienenen Aufsatz die Wahrnehmung der Kriegslandschaft und betonte dabei die sich verschiebenden Horizonte und Perspektiven im Blick auf die Landschaft.7 Lewin zeigte, wie sich die Landschaft von der Front zur Etappe, zu den Räumen der Versorgung oder des Nachschubs umformt; er beobachtete, wie sich die Grenzzonen im Krieg verschieben, wie aus diesen Verschiebungen Gefahrenzonen hervorgehen und wie aus der Diskrepanz zwischen Grenzen und Gefechtslinien wieder neue Raumerfahrungen sich ergeben. Diese kommen insbesondere in den Gefechtsfeldern zum Tragen, jenen Kriegslandschaften, die durch Schützengräben und Unterstände den militärischen Zwecken des Stellungskrieges angepasst sind. Sind die Stellungen verlassen, „künstliche Bauten, die Infanteriegräben und Artilleriedeckungen“ ebenso hinterlassend wie die Toten, bleiben, wie Lewin schrieb, „Kriegsgebilde“ zurück, ein Graben bleibt ein Kriegsding.8 Ähnliche Kriegsgebilde erscheinen nach Lewin in der Wahrnehmung von abgebrannten Dörfern, die nach dem Krieg gleichsam als Kriegsinseln auftreten. Lewin gibt mit diesen frühen erhellenden Beobachtungen eine phänomenologische Beschreibung der Kriegslandschaft, auf deren Bedeutung Petra Ernst immer wieder mit Nachdruck hingewiesen hat. Dabei ging es ihr nicht zuletzt als Literaturwissenschaftlerin darum zu zeigen, wie die Erzählungen von Kriegslandschaften als „topographische Brennpunkte“ in die Literatur eingingen.9 Und weil Petra Ernst diesem Aufsatz eine solche Bedeutung gegeben hat, ist die Fotografie einer Kriegslandschaft als Titelbild für die von ihr mit herausgegebene Nummer der Zeitschrift Quest. Issues in Contemporary Jewish History mit dem Titel The Great War. Reflections, Experiences and Memories

5 Nübel, Christoph: Durchhalten und Überleben an der Westfront. Raum und Körper im Ersten Weltkrieg, Paderborn 2014, S. 207–354, hier S. 353. 6 Lück, Helmut E.: Kurt Lewin – eine Einführung in sein Werk, Weinheim und Basel 2001; Kretschmar, Olaf: Sozialwissenschaftliche Feldtheorien – von der Psychologie Kurt Lewins zur Soziologie Pierre Bourdieus, in: Berliner Journal für Soziologie 1, 4 (1991), S. 567–579. 7 Lewin, Kurt: Kriegslandschaft, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie, 12 (1917), S. 440–447. 8 Ebd., S. 447. 9 Ernst, Petra: Der Erste Weltkrieg in deutschsprachig-jüdischer Literatur und Publizistik in Österreich, in: Siegfried, Mattl u. a. (Hg.): Krieg. Erinnerung. Geschichtswissenschaft, Wien 2009, S. 47–72, hier S. 60.

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of German and Habsburg Jews gewählt worden.10 Auch in diesem Foto ragen die zerschundenen Bäume als fahle Stümpfe wie in dem Gemälde von Otto Dix hervor. Es handelt sich um die Aufnahme einer Kriegslandschaft aus dem Jahr 1916 beim Fort Vaux, einer französischen Festung in der Nähe der Stadt Verdun.11 Wie der Titel dieses Themenheftes zeigt, sind in es nicht nur die Reflexionen von Petra Ernst über die Phänomenologie von Kriegslandschaften, sondern auch ihre konzeptionellen Überlegungen zu dem methodologischen Dreischritt von „Erwartung, Erfahrung und Erinnerung“ eingegangen. Sie hat damit nicht nur die von Reinhart Koselleck in die Diskussion eingebrachte Spannung zwischen „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ als grundlegende historische Kategorien aufgegriffen12 und diese für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Kriegsschriften jüdischer Autorinnen und Autoren genutzt. Sie hat darüber hinaus diese von Reinhart Koselleck entwickelte Gegenüberstellung um die Dimension „Erinnerung“ erweitert und gefragt, wie sich in der Zeit nach dem Krieg, nicht zuletzt aufgrund des sich radikalisierenden Antisemitismus, jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ihrem literarischen Schaffen eine ganz eigene Erinnerung sowohl an den Krieg als auch an die Zeit vor dem Krieg geschaffen haben.13 Im Folgenden soll der von Ernst für die Literaturwissenschaft konzipierte Dreiklang für eine geschichtswissenschaftliche Untersuchung der spezifischen Erwartungen, Erfahrungen und Erinnerungen von Jüdinnen und Juden im und nach dem Ersten Weltkrieg aufgegriffen werden, um zu zeigen, wie hilfreich diese Begriffe für die Erkenntnis der politischen und sozialen Aspekte der jüdischen Kriegserlebnisse – konzentriert auf die deutsch-jüdische Geschichte – sind.

10 Ernst, Petra/Grossman, Jeffrey/Wyrwa, Ulrich (Hg.): The Great War. Reflections, Experiences and Memories of German and Habsburg Jews (1914–1918). Quest. Issues in Contemporary Jewish History. Journal of Fondazione CDEC, Issue 9, October 2016, www.quest-cdecjournal.it/index.php?issue=9 (letzter Zugriff: 10.01.2020). 11 Kriegslandschaft in der Vaux-Schlacht, Juli 1916, https://www.europeana.eu/portal/de/record/ 2020601/https___1914_1918_europeana_eu_contributions_1323.html?q=fort+vaux#dcId= 1582822496517&p=1 (letzter Zugriff: 10.01.2020). 12 Koselleck, Reinhart: ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien [1976], in: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 349–375. 13 Ernst: Der Erste Weltkrieg in deutschsprachig-jüdischer Literatur, S. 59–68.

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1. Die Erwartungen der Mehrheit der deutschen Jüdinnen und Juden war zunächst überschwänglich, optimistisch und kriegsbejahend.14 Mit großem Erfolg ist es den führenden politischen Klassen in Deutschland gelungen, das Land als Opfer fremder Aggressionen dastehen zu lassen. Effektvoll proklamierte Kaiser Wilhelm II. einen Burgfrieden und versuchte, so die Zustimmung aller Klassen der Bevölkerung zum Krieg zu erlangen.15 Diese Strategie ging in weiten Teilen des Bürgertums auf, und mit Emphase begrüßte auch die Mehrheit der jüdisch-bürgerlichen Klasse den Krieg. Sie sahen, wie es der Journalist und Sprachwissenschaftler Heinrich Loewe in der markanten Überschrift des Leitartikels in der zionistischen Jüdischen Rundschau im August 1914 zum Ausdruck gebracht hat, „Feinde ringsum“.16 Selbst ein so aufmerksamer Beobachter wie Martin Philippson klagte in seinem Rückblick auf das Jahr 1914 über die „tiefe Verlogenheit und unsittliche Heimtücke, mit der Deutschlands Gegner diesen Krieg seit Jahren vorbereitet, zum Ausbruche gebracht haben und noch führen“.17 Emphatisch suchte gar der aus Hessen stammende und in Thorn, Westpreußen, tätige Rabbiner Isaac Rosenberg den Krieg durch die Lektüre der Psalmen zu rechtfertigen.18 Jüdinnen und Juden in Deutschland unterstützten den Krieg nicht zuletzt deshalb, weil in ihrem Erwartungshorizont die ersehnte Überwindung der letzten Barrieren ihrer bürgerlichen und staatsbürgerlichen Gleichstellung eine prägende Rolle spielte und sie hofften, durch ihren patriotischen Einsatz die antisemitischen Unterstellungen und Anfeindungen erfolgreich bekämpfen zu können. Darüber hinaus traten sie bereitwillig in den Krieg ein, weil er gegen Russland gerichtet war, jenes Land, in dem die überwiegende Mehrheit der europäischen Jüdinnen und Juden lebte und in 14 Magill, Stephen: Defense and Introspection. The First World War as a Pivotal Crisis in the German Jewish Experience, Phil. Diss., Los Angeles 1977; Picht, Clemens: Zwischen Vaterland und Volk. Das deutsche Judentum im Ersten Weltkrieg, in: Wolfgang, Michalka (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994, S. 736–755. 15 Nübel, Christoph: Die Mobilisierung der Gesellschaft. Propaganda und Alltag im Ersten Weltkrieg in Münster, Münster 2008; Lipp, Anne: Meinungslenkung im Krieg. Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und ihre Deutung 1914–1918, Göttingen 2003. 16 Loewe, Heinrich: Feinde ringsum, in: Jüdische Rundschau Nr. 32, 7. August 1914; siehe dazu das Kapitel ‚Feinde ringsum – Enemies all around‘, in: Magill, Stephen: Defense and Introspection, S. 89–135. 17 Philippson, Martin: Rückblick auf das Jahr 4574, in: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur 18 (1915), S. 1–14, hier S. 1. 18 Rosenberg, Isaac: Der Weltkrieg im Spiegel des Psalmbuches, Berlin 1916; siehe auch Rosenbergs Kriegstagebuch: Gottlieb, Fred (Hg.): My Opa. The Diary of a German Rabbi, Jerusalem 2005. Ich danke Herrn Fred Gottlieb, Jerusalem, sehr herzlich für die Zusendung dieses Vortrags sowie des von ihm edierten Kriegstagebuches seines Großvaters.

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dem die Lage der jüdischen Bevölkerung erschreckend war.19 Und schließlich befürworteten sie diesen Krieg, weil sie die Legende von der Einkreisung Deutschlands durch aggressive Feinde, wie sie von der deutschen Reichsleitung wirkungsvoll inszeniert wurde, glaubten und daher überzeugt waren, zu einem Verteidigungskrieg gezwungen zu sein.20 Die große Anteilnahme am Krieg unter der jüdischen Bevölkerung überbrückte gar die überkommenen politischen, weltanschaulichen und generationellen innerjüdischen Konflikte: Im Moment des Krieges hatten sowohl bürgerlich etablierte Kreise des Judentums als auch die junge Generation zionistischer Jüdinnen und Juden sowie schließlich die Anhänger der Orthodoxie an diesem Kriegspatriotismus Anteil.21 Gleichwohl war die Begeisterung unter der jüdischen Bevölkerung für den Krieg keineswegs so einhellig, wie es spätere Erinnerungen bisweilen nahezulegen scheinen. Nach wie vor gab es Stimmen, die ihre Hoffnung auf Frieden setzten und sich der bellizistischen Sprache widersetzten. Aber es waren nur wenige, und vor allem Intellektuelle, die sich diesem Sog haben entziehen können.22 Auch unter der nichtjüdischen Bevölkerung waren Kriegsbegeisterung und Kriegseuphorie bei weitem nicht so einhellig, wie nach dem Krieg vor allem in der Erinnerung von rechter Seite immer wieder behauptet wurde.23 Der Mythos der im Krieg geeinten und gestählten Volksgemeinschaft ist in späteren Jahren gar zu einem wirkungsmächtigen Moment der nationalsozialistischen Propaganda geworden.24 Die Paradoxie der Begeisterung, mit der weite Teile der jüdischen ebenso wie der nichtjüdischen Bevölkerung diesen Krieg begrüßt hatten, lag darin, dass diese, nicht zuletzt wegen des überwiegend bürgerlichen Charakters der jüdischen Bevölkerung, unter Jüdinnen und Juden noch deutlicher ausfiel als in der übrigen Gesellschaft. Die positiven Erwartungen, mit denen weite Teile des deutschen Judentums in den Krieg hineingingen, brachte sie nun in die paradoxe Lage, nicht nur in 19 Grady, Tim: A Deadly Legacy. German Jews and the Great War, New Haven und London 2017, S. 25–48; Panter, Sarah: Jüdische Erfahrungen und Loyalitätskonflikte im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2014, S. 39–46. 20 Zur Legende der „Einkreisung“ siehe Fischer, Fritz: Der Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18 [1961], Königstein/T, 1979, S. 87. 21 Panter: Jüdische Erfahrungen, S. 42. 22 Sieg, Ulrich: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrung, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001. 23 Stöcker, Michael: Augusterlebnis 1914 in Darmstadt. Legende und Wirklichkeit, Darmstadt 1994. 24 Verhey, Jeffrey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000; zum Begriff der Volksgemeinschaft siehe Wildt, Michael: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007, S. 26–68.

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einen Bruderkrieg gegen Juden in anderen europäischen Ländern einzutreten,25 sondern auch die Verletzung der belgischen Neutralität durch die deutsche Reichsführung legitimieren zu müssen, und sie haben dies mit zum Teil gänzlich abwegigen biblischen Argumenten getan.26 Darüber hinaus bedurfte es nicht unerheblicher intellektueller Anstrengungen, einen Krieg gegen Frankreich und Großbritannien zu befürworten, jene Länder, die aus jüdischer Perspektive die Vorreiter und Protagonisten der Emanzipation der Juden waren.27 Keine Legitimationsprobleme hatten sie hingegen mit dem Krieg gegen Russland, galt dieses doch als das letzte Bollwerk der Reaktion und Hort der gewalttätigsten Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung in Europa.28 In diesem Punkt hatten vielmehr britische und französische Jüdinnen und Juden Probleme in ihrem Erwartungshorizont, da sie nun Argumente dafür finden mussten, dass ihre Länder als Bündnispartner des zaristischen Russlands in diesen Krieg eintraten.29 2. Ein aufmerksamer jüdischer Beobachter wie der aus Warschau stammende Johann von Bloch hatte schon um die Jahrhundertwende in einem sechsbändigen Werk nachdrücklich vor dem Zerstörungspotenzial eines Krieges im Zeitalter seiner technischen Totalisierung gewarnt und alle Potenziale der seinerzeitigen Kriegstechnik dargestellt.30 Auch ein so hellsichtiger Zeitgenosse wie Martin Philippson hatte in seinem bereits zitierten Rückblick auf das Jahr 1914 die Beispiellosigkeit dieses Krieges in der industriellen Welt erkannt. Was sind, so fragte Philippson, die Kriege der Vergangenheit gegenüber diesem Krieg, „wo zwölf bis fünfzehn Millionen Menschen sich mit allen Mitteln der modernen Technik gegenseitig zu morden suchen, wo jeder Stand, jeder Beruf, jede Familie unmittelbar […] in Mitleidenschaft gezogen wird, wo blühende Städte, 25 Panter: Jüdische Erfahrungen, S. 12, 92, 357. 26 Wyrwa, Ulrich: German-Jewish Intellectuals and the German Occupation of Belgium, in: Quest. Issues in Contemporary Jewish History, Issue 9, October 2016, http://www.quest-cdecjournal.it/focus.php?id=379 (letzter Zugriff: 10.01.2020); Magill: Defense and Introspection, S. 123 f. 27 Magill: Defense and Introspection, S. 121–123; Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg, S. 77–85. 28 Panter: Jüdische Erfahrungen, S. 47–52. 29 Panter: Jüdische Erfahrungen, S. 66–70; Landau, Philippe E.: Les Juifs de France et la Grande Guerre. Un patriotisme républicain 1914–1941, Paris 1999. 30 Bloch, Johann von: Der Krieg. Der zukünftige Krieg in seiner technischen, volkswirtschaftlichen und politischen Bedeutung, 6 Bde., Berlin 1899.

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zahllose Dörfer, ja ganze Länder der furchtbarsten Verwüstung anheimfallen“.31 Und doch legitimierte Philippson diesen Krieg, und doch wollte es kaum ein Zeitgenosse sowohl auf jüdischer als auch auf nichtjüdischer Seite wahrhaben, dass dieser Krieg nicht in wenigen Wochen siegreich zu beenden sein würde. Im Verlauf dieses nicht endenden, länger und länger sich hinziehenden Krieges mussten die Jüdinnen und Juden die Erfahrung machen, dass ihre Erwartungen zutiefst enttäuscht wurden. Die Feindseligkeiten wurden keineswegs weniger. Im Gegenteil mussten sie in den Kriegsjahren miterleben, dass die antisemitischen Vorhaltungen nicht nur nicht zurückgingen, sondern sich vielmehr verschärften.32 Da antisemitische Veröffentlichungen als Verletzungen der Burgfriedenspolitik verboten waren, mussten sich die antisemitischen Medien zwar zunächst wegen der drohenden Zensur mit antisemitischen Aussagen zurückhalten.33 Wie Egmont Zechlin in seiner umfassenden Studie über die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg festhielt, war der Antisemitismus „mit dem Kriegsausbruch von 1914 […] zunächst aus der öffentlichen Diskussion verschwunden. Wo sich antisemitische Stimmen noch vereinzelt zu Wort meldeten, wurden sie meistens im Zeichen des Burgfriedens von der Militärzensur unterdrückt.“34 Im persönlichen Umgang an der Front wie auch an der Heimatfront jedoch traten antisemitische Vorurteile immer deutlicher hervor, und im Zuge der immer katastrophaler werdenden Kriegslage brachen sich antisemitische Anschuldigungen und Beleidigungen immer mehr Bahn. Die Motive, die diese Sprache des radikalisierten Antisemitismus auszeichneten, waren der jüdische Drückeberger, Kriegsgewinnler, Schwarzhändler, der Spion oder Verräter.35 Eine dramatische Zunahme antisemitischer Übergriffe musste vor allem die zahlreiche jüdische Bevölkerung Galiziens erleiden, zumal Galizien eine der erbittertsten Kampfzonen des Krieges war, in dessen Folge das Kronland zur

31 Philippson: Rückblick auf das Jahr 4574, S. 1. 32 Bergmann, Werner/Wyrwa, Ulrich: Antisemitism, in: 1914–1918 online. International Encyclopedia of the First World War, https://encyclopedia.1914-1918-online.net/pdf/1914-1918Online-antisemitism-2017-03-02.pdf (letzter Zugriff: 10.01.2020). 33 Pulzer, Peter: Der Erste Weltkrieg, in: Lowenstein, Steven M. u. a.: Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit. Bd. 3: Umstrittene Integration 1871–1918, München 1997, S. 356–380, hier v. a. S. 358–362. 34 Zechlin, Egmont: Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1969, S. 516. 35 Ullrich, Volker: Drückeberger, in: Schoeps, Julius H./ Schlör, Joachim (Hg.): Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus, Vorurteile und Mythen, Frankfurt am Main 1995, S. 210–217; Stölting, Erhard: Verräter, in: ebd., S. 218–228; Jochmann, Werner: Die Ausbreitung des Antisemitismus, in: Mosse, Werner E./Paucker, Arnold (Hg.): Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916–1923, Tübingen 1971, S. 409–510.

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Kriegslandschaft par excellence wurde.36 Die Erfahrung von Antisemitismus mussten galizische Jüdinnen und Juden aber nicht nur zwischen den Fronten machen, sondern auch dort, wohin sie vor dem Krieg geflohen waren, vor allem in Wien.37 Im Oktober des Jahres 1916, in das die desaströsen Schlachten von Verdun und an der Somme im Westen sowie die Brussilow-Offensive im Osten fielen,38 ordnete der preußische Kriegsminister die sogenannte Judenzählung an, mit der die antisemitischen Unterstellungen, Juden seien Drückeberger und Kriegsgewinnler, geradezu sanktioniert wurden.39 Auch wenn in einigen neueren Studien gefragt wird, wie weit die Erschütterung über die Judenzählung unter deutschen Jüdinnen und Juden reichte,40 waren weite Teile der jüdischen Öffentlichkeit in Deutschland entsetzt und empört über diesen Erlass. Angesichts dieser Erfahrungen brachen die zuvor noch optimistischen Erwartungen nahezu vollständig in sich zusammen.41 Das „unmögliche Jahr“ 1917 brachte nicht nur eine Expansion des Krieges und eine „Dynamik steigender Erwartungen“, sondern für die jüdischen Erfahrungen vor allem eine weitere Verschärfung des Antisemitismus.42 Hintergrund der neuen antisemitischen Agitationswelle war erstens der Eintritt der Vereinigten Staaten von Amerika in den Krieg im April 1917.43 Damit trat jenes Land an die Seite der Alliierten, das von antisemitischer Seite als materialistisch und von Juden beherrscht diffamiert wurde.44 Das zweite Ereignis des Jahres 1917, mit dem ein neues und folgenreiches Motiv in die Sprache des Antisemitismus 36 Schuster, Frank M.: Zwischen allen Fronten. Osteuropäische Juden während des Ersten Weltkrieges (1914–1919), Köln, Weimar und Wien 2004. 37 Lamprecht, Gerald: Juden in Zentraleuropa und die Transformationen des Antisemitismus im und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 24 (2015), S. 63–88; Rechter, David: The Jews of Vienna and the First World War, London 2001. 38 Leonhard, Jörn: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, S. 430–613. 39 Angress, Werner T.: Das deutsche Militär und die Juden im Ersten Weltkrieg, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 19 (1976), S. 98–105; Ders.: The German Army’s „Judenzählung“ of 1916: Genesis – Consequences – Significance, in: Leo Baeck Institute Year Book 23 (1978), S. 117–138; Rosenthal, Jacob: „Die Ehre des jüdischen Soldaten“ Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen, Frankfurt am Main und New York 2007. 40 Grady, Tim: The German-Jewish Soldiers of the First World War in History and Memory, Liverpool 2011; Fine, David J.: Jewish Integration in the German Army in the First World War, Berlin 2012; Becker, Hans-Joachim: Von der konfessionellen Militärstatistik zur „Judenzählung“ (1916). Eine Neubewertung, Nordhausen 2017. 41 Pulzer: Der Erste Weltkrieg, S. 366–373. 42 Leonhard: Die Büchse der Pandora, S. 614-805, hier v. a. S. 751, 770, 796 f. 43 Panter: Jüdische Erfahrungen, S. 327–346. 44 Beyer, Heiko/Liebe, Ulf: Antiamerikanismus und Antisemitismus. Zum Verhältnis zweier Ressentiments, in: Zeitschrift für Soziologie 39, 3 (2010), S. 215–232.

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einging, war der Oktoberumsturz der Bolschewiki in Russland,45 mit dem das Schlagwort vom jüdischen Bolschewisten oder der Judaeo-Kommune aufkam.46 In diesem für die Erfahrungen der jüdischen Bevölkerung in Deutschland so zentralen Jahr setzte zudem eine Sammlungsbewegung der deutschen Rechten ein, die im September 1917 zur Gründung einer neuen nationalistischen Partei, der Deutschen Vaterlandspartei, führte, in der auch zahlreiche Antisemiten aktiv waren. Allerdings hielt sich diese Partei mit antisemitischer Agitation zurück, zumal auch deutsch-nationale Juden in sie eingetreten waren.47 Wie grundlegend die Erwartungen, mit denen weite Teile der jüdischen Bevölkerung in den Krieg gegangen waren, enttäuscht wurden und wie sehr sie nun die Erfahrung eines forcierten Antisemitismus machen mussten, brach im Jahr 1918 mit der sich abzeichnenden Niederlage der Mittelmächte durch.48 Extreme nationalistische und antisemitische Akteure gaben, so Werner Jochmann, „jede Form der Zurückhaltung“ auf.49 Das neue politische Schlagwort, mit dem Juden – aber nicht nur Juden allein, sondern auch die sozialistischen Arbeiter – angegriffen wurden, war die Legende vom Dolchstoß.50 Der neue Antisemitismus kam aber nicht nur in diesem neuen Motiv zum Ausdruck, Antisemiten traten nun wieder offen als Antisemiten auf. Organisationen wie der Alldeutsche Verband, die sich zuvor noch in ihrer Sprache mit einem antisemitischen Vokabular zurückgehalten hatten, brachten nun unmissverständlich ihren Hass zum Ausdruck.51 Mit den Revolutionen der Jahre 1918/19 und dem demokratischen Aufbruch in Mitteleuropa wiederholte sich in einer kurzen Periode dann noch einmal der Umschlag von Erwartungen und Erfahrungen, den weite Teile der jüdischen Bevölkerung während des Krieges durchgemacht hatten.52

45 Leonhard: Die Büchse der Pandora, S. 661–688; siehe dazu auch die Erinnerungen von Dubnow, Simon: Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit. Bd. 2: 1903–1922, Göttingen 2005, S. 240–248. 46 Herbeck, Ulrich: Das Feindbild vom „Jüdischen Bolschewiken“: Zur Geschichte des russischen Antisemitismus vor und während der Russischen Revolution, Berlin 2009. 47 Hagenlücke, Heinz: Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreiches, Düsseldorf 1997. 48 Zechlin: Die deutsche Politik und die Juden, S. 550–553. 49 Jochmann: Die Ausbreitung des Antisemitismus, S. 437. 50 Barth, Boris: Dolchstoßlegende und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg, 1914–1933, Düsseldorf 2003; Groß, Gerhard P.: Das Ende des Ersten Weltkriegs und die Dolchstoßlegende, Ditzingen 2018. 51 Lohalm, Uwe: Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bundes 1919–1923, Hamburg 1970. 52 Angress, Werner T.: Juden im politischen Leben der Revolutionszeit, in: Mosse/Paucker (Hg.): Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916–1923, S. 137–315.

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3. Nach dem Krieg und dem Ende der von Revolution und Konterrevolution geprägten frühen Nachkriegszeit kam die Erinnerung.53 Bevor sich eine Erinnerungspolitik herausbilden konnte, wurde der Kampf um die Aufarbeitung der Verantwortung für diesen Krieg geführt. Die Gesellschaft der Weimarer Republik weigerte sich nachhaltig, die Ursachen des Krieges aufzuarbeiten und die Mitschuld des Deutschen Reiches an diesem Krieg einzugestehen. In diesem Prozess trat ein sozialpsychologischer und gesellschaftlicher Mechanismus hervor, der später als Komplex der Schuldabwehr beschrieben wurde.54 Nur wenige Zeitgenossen hatten den Mut, sich gegen den auf Verdrängung und Verweigerung ausgerichteten Zeitgeist zu stellen und die deutsche Mitschuld einzugestehen, sodass in dieser Phase gleichsam eine erfolgreiche Erprobung des sozialpsychologischen Mechanismus der Schuldabwehr absolviert wurde. Zu den wenigen zeitgenössischen Beobachtern, die sich diesem sozialpsychologischen Druck zu entziehen vermochten, gehörten nicht zuletzt jüdische Politiker und Wissenschaftler wie Eduard Bernstein,55 der 1919 etwa die Legende von der Einkreisung Deutschlands widerlegt hatte,56 Kurt Eisner,57 der sich nachdrücklich um die Aufklärung der Verantwortung der deutschen Reichsleitung für den Ausbruch des Krieges bemühte, von der Reichsleitung die Veröffentlichung aller Akten über die Vorgeschichte des Krieges verlangte und den Mut aufbrachte, diplomatische Berichte zu veröffentlichen, die Deutschlands Schuld belegen,58 oder Hermann Kantorowicz,59 der im Auftrag eines Untersuchungsausschusses des Reichstages eine fundierte Untersuchung über die Kriegsursachen und die deutsche Mitverantwortung für den Krieg vorgelegt

53 Winter, Jay: Remembering War. The Great War between Memory and History in the Twentieth Century, New Haven 2006. 54 Adorno, Theodor W.: Schuld und Abwehr. Eine qualitative Analyse zum Gruppenexperiment [1954], in: Ders.: Soziologische Schriften II.2, Frankfurt am Main 1975, S. 121–324. 55 Zu Bernsteins Verhältnis zum Judentum siehe Kapitel 2 in: Jacobs, Jack: Sozialisten und die „jüdische Frage“ nach Marx, mit einem Vorwort von Susanne Miller, übersetzt von Cornelia Dieckmann, Mainz 1994, S. 50–71. 56 Bernstein, Eduard: Die Wahrheit über die Einkreisung Deutschlands, Berlin 1919. 57 Grau, Bernhard: Kurt Eisner. 1867–1919. Eine Biographie, München 2001. 58 Aus den Papieren der bayerischen Gesandtschaft, in: Berliner Tageblatt Nr. 601, 24. November 1918, siehe auch Grau: Kurt Eisner, S. 385–403. 59 Muscheler, Karlheinz: Hermann Ulrich Kantorowicz. Eine Biographie, Berlin 1984; Frommel, Monika: Hermann Ulrich Kantorowicz (1877–1940). Ein Rechtstheoretiker zwischen allen Stühlen, in: Heinrichs, Helmut u. a. (Hg.): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, S. 631–641.

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hatte.60 Sie fanden aber mit ihren mahnenden Worten kein Gehör, Kantorowicz’ Studie blieb gar aus politischen Gründen in der Zeit der Weimarer Republik unveröffentlicht. Gleichzeitig formierte sich in der Nachkriegszeit, wie es Petra Ernst für die nichtjüdische Bevölkerung Österreichs beschrieben hat, „nicht zuletzt aufgrund des sich radikalisierenden Antisemitismus und der zunehmenden Ausschlussmechanismen […] eine eigenständige jüdische Erinnerung an den Krieg“,61 eine Beobachtung, die in gleicher Weise für Deutschland gilt. Noch im Krieg hatten Jüdinnen und Juden begonnen, Dokumente für das spätere Gedenken zu sammeln, sich um den Aufbau von Soldatenfriedhöfen bemüht oder gar, so im Fall von Dresden, erste Kriegerdenkmale errichtet.62 Im Januar 1919 gründeten von den Schlachtfeldern zurückgekehrte Juden in Berlin den Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten, der zur wichtigsten Organisation des Gedenkens an den Krieg und zur Erinnerung an die, wie es hieß, gefallenen jüdischen Soldaten wurde.63 Der Bund kümmerte sich mit seinen Aktivitäten am Volkstrauertag oder mit der Eröffnung von Gedenktafeln, ferner der Edition von Kriegsbriefen deutscher Juden und der Herausgabe eines Gedenkbuches zur Erinnerung an die toten jüdischen Soldaten, um das Gedenken an den Krieg. Darüber hinaus nahm er auch aktiven Anteil am Kampf gegen den Antisemitismus.64 Nicht zuletzt weil die Kriegslandschaften, von denen Kurt Lewin in seiner phänomenologischen Betrachtung gesprochen hatte, jenseits der deutschen Grenzen lagen und die Landschaften des Reiches selbst unversehrt geblieben waren, richtete sich die Politik des Gedenkens in erster Linie darauf, die Erinnerung an die getöteten – im Wortgebrauch der Zeitgenossen: gefallenen 60 Hermann, Kantorowicz: Gutachten zur Kriegsschuldfrage 1914. Aus dem Nachlass hg. v. Imanuel Geiss, Frankfurt am Main 1967; siehe dazu Alff, Wilhelm: Hermann Kantorowicz und sein Kritiker, in: Ders.: Materialien zum Kontinuitätsproblem der deutschen Geschichte, Frankfurt am Main 1976, S. 136–141. 1929 hatte Kantorowicz wie zuvor Bernstein das „Gespenst der Einkreisung“ aufgearbeitet; vgl. Kantorowicz, Hermann: Der Geist der englischen Politik und das Gespenst der Einkreisung Deutschlands, Berlin 1929. 61 Ernst: Der Erste Weltkrieg in deutschsprachig-jüdischer Literatur, S. 66. 62 Kirsch, Ingrid: 80 Jahre Denkmal zu Ehren der im ersten Weltkrieg gefallenen Mitglieder der Dresdner Jüdischen Gemeinde auf dem Friedhof Dresden-Johannesstadt, in: Sächsische Heimatblätter 42, 6 (1996), S. 363–368; siehe auch Grady: The German-Jewish Soldiers of the First World War in History and Memory, S. 39. 63 Dunker, Ulrich: Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten 1919–1938. Geschichte eines jüdischen Abwehrvereins, Düsseldorf 1977. 64 Kokalj, Hans-Christian: „Kampf um die Erinnerung“. Jüdische Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs und ihr Widerstand gegen die rechtspopulistische Propaganda in der Weimarer Republik, in: Arand, Tobias (Hg.): Die „Urkatastrophe“ als Erinnerung. Geschichtskultur des Ersten Weltkriegs. Münster 2006, S. 81–98; siehe dazu auch die ausführliche Berichterstattung in dem Verbandsorgan: Der Schild, Zeitschrift des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten, Berlin 1921–1938.

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– Soldaten zu bewahren.65 Das Motiv des Totengedenkens bestimmte schon das vom Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten um 1920 herausgegebene Flugblatt „An die deutschen Mütter!“.66 Um 1923 schuf Max Liebermann das Blatt „Den 10.000 gefallenen jüdischen Frontsoldaten“.67 Und in der wiederum vom Reichsbund 1935 herausgegebenen Edition Kriegsbriefe gefallener Deutscher Juden hat Max Liebermann erneut eine Zeichnung veröffentlicht, in der dieses Motiv des Totengedenkens im Vordergrund stand.68 Die Kriegslandschaften traten in der jüdischen Erinnerung somit hinter dem Totengedenken zurück, und auch Kurt Lewin kam auf seine phänomenologischen Beobachtungen zur Kriegslandschaft nicht wieder zurück. Aufgrund der politischen Situation in Deutschland in den letzten Jahren der Weimarer Republik hatte er den wissenschaftlichen Austausch mit Amerika gesucht und schon 1932 eine Gastprofessur an der Universität Stanford erhalten.69 Hier konzentrierte er sich ganz auf sozialpsychologische Studien und seinen Entwurf einer Feldtheorie für die Sozialwissenschaften. Otto Dix aber, der nach 1933 aus der Akademie der Künste in Dresden ausgeschlossen und mit einem Ausstellungsverbot belegt worden war, griff seine eigenen Skizzen und Entwürfe von Kriegslandschaften auf und schuf zwischen 1934 und 1936 im Gedenken an den Großen Krieg das Gemälde „Flandern“.70 Er hatte es genau in dem Moment abgeschlossen, als die Uhr, wie es Ian Kershaw in seinem Werk Höllensturz so prägnant formuliert hat, für einen neuen europäischen Krieg tickte.71

65 Mosse, George L.: Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, Stuttgart 1993. 66 Grady, Tim: Krieg der Erinnerung – Krieg um die Erinnerung. Das Gedenken an die jüdischen Gefallenen nach 1918, in: Heikaus, Ulrike/Köhne, Julia B. (Hg.): Krieg! 1914–1918. Juden zwischen den Fronten, Berlin 2014, S. 265–284. 67 Abgedruckt in Grady: Krieg der Erinnerung, S. 267; zu Max Liebermanns Zeichnungen zur Erinnerung an den Krieg siehe Frübis, Hildegard: “To Mothers of the Twelve Thousand”. Max Liebermann and the Commemoration of Front-Line Jewish Soldiers in the First World War, in: Lamprecht, Gerald/Lappin-Eppel, Eleonore/Wyrwa, Ulrich (Hg.): Jewish Soldiers in the Collective Memory of Central Europe. The Remembrance of World War I from a Jewish Perspective, Wien, Köln und Weimar 2019, S. 301–310. 68 Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten (Hg.), Kriegsbriefe gefallener Deutscher Juden, Berlin 1935. 69 Schönpflug, Wolfgang: Kurt Lewin – Person, Werk, Umfeld. Historische Rekonstruktionen und aktuelle Wertungen, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2007. 70 Lil: Otto Dix und der Erste Weltkrieg, S. 307–316. 71 Kershaw, Ian: Höllensturz. Europa 1914 bis 1949, München 2016, S. 319.

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Abbildungsverzeichnis Beitrag: Mark H. Gelber Abb. 1: Packpapier der Wischnitzer Bäckerei in Bnei Brank © Mark Gelber Beitrag: Hildegard Frübis Abb. 1: Roman Vishniac, Vishniacs Tochter Mara vor einer Schaufensterauslage mit dem „Plastometer“, Berlin, 1933 (Benton, Maya (Hg.): Roman Visniac Rediscovered, München, London und New York 2015, S. 22.) Abb. 2: Roman Vishniac, Doppelbelichtung von Ruinen und spielenden Kindern auf der Straße, Berlin, 1947 (Benton: Rediscovered, S. 215.) Abb. 3: Roman Vishniac, Spielende Kinder auf der Straße mit HakenkreuzFahnen, um 1935 (Benton: Rediscovered, S. 25.) Abb. 4: Roman Vishniac, Szene aus einem Displaced-Persons-Camp, wahrscheinlich Schlachtensee, Zehlendorf, Berlin, 1947 (Benton: Rediscovered, S. 263.) Abb. 5: Titelblatt, Jidischer Heftlings-Kongres in Bergen-Belsen, 25–27 September 1945, Broschüre des Zentralkomitees der befreiten Juden, Bergen-Belsen 1945 (Im fremden Land. Publikationen aus den Lagern für Displaced Persons, Einblicke in die Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. Begleitbroschüre zur Ausstellung, hg. v. der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz und der Stiftung Jüdisches Museum Berlin, Berlin 2015, S. 12.) Abb. 6: Roman Vishniac, Überlebende des Holocaust, wiedervereinigt am Bahnhof Wannsee, 1947 (Benton: Rediscovered, S. 265.) Abb. 7: Roman Vishniac, Überlebende des Holocaust erwarten Angehörige am Bahnhof Wannsee, 1947 (Benton: Rediscovered, S. 268.) Abb. 8: Roman Vishniac, Verschiedene Szenen (Ankunft, Gruppenporträts) vom Bahnhof Wannsee und aus dem DP-Lager Schlachtensee, 1947, Kontaktabzug (Benton: Rediscovered, S. 208.) Abb. 9: Roman Vishniac, Ruth Sternfeld, DP-Lager Schlachtensee, Zehlendorf, Berlin 1947 (Benton: Rediscovered, S. 271.) Abb. 10: Foto Nr. 32 aus dem Lili-Jacob-Album, Kap. Aussortierung, Yad Vashem (Gutman, Israel/Gutterman, Bella (Hg.): Das Auschwitz Album. Geschichte eines Transportes, Göttingen 2005, S. 28.) Abb. 11: Foto o. Nr. aus dem Lili-Jacob-Album, Kapitel „Ankunft eines Transportzuges“, Yad Vashem (Gutman /Gutterman (Hg.). Auschwitz Album,

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S. 112.) Abb. 12: Roman Vishniac, Betar-Jugend-Sommercamp, unterstützt durch das JDC, München 1947 (Benton: Rediscovered, S. 269.) Abb. 13: Roman Vishniac, Jüdische Überlebende singen vor dem Porträt von Theodor Herzl, wahrscheinlich im Büro des jüdischen U.S.-Army-Kaplans Rabbi Mayer Abramowitz, Amerikanischer Sektor Berlin, 1947 (Benton: Rediscovered, S. 267.) Abb. 14: Hermann Struck, Bildnis Theodor Herzls 1903, Radierung (Hermann Struck 1876–1944. Begleitbuch zur Ausstellung Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum/Open Museum Tefan Industrial Park, Israel 2007, hg.v. Ruthi Ofek und Chana Schütz, Berlin 2007, S. 42.) Abb. 15: Roman Vishniac, Kontaktabzug mit Aufnahmen aus Osteuropa, zwischen 1935 und 1938. In den späten 1980er-Jahren markierte Vishniac einige Dutzend Fotografien mit „not in Vanished World“ – was sich auf seinen 1983 veröffentlichten Band „A Vanished World“ mit einer Auswahl an Fotografien aus Osteuropa bezog (Benton: Rediscovered, S. 186.) Beitrag: Joachim Schlör Fig. 1: The emigrants’ train station of Ruhleben, (© Alexrk2, CC BY-SA 3.0, commons Wikimedia.org) Fig. 2: The emigrants’ train station of Ruhleben, (© Alexrk2, CC BY-SA 3.0, commons Wikimedia.org) Fig. 3: The official routes of Jewish emigrants through Germany, http://www. jmberlin.de/main/DE/01-Ausstellungen/03-RRLC/01-geschichten/transit_ amerika.php (letzter Zugriff: 13.4.2018) Fig. 4: The “Void” in Berlin’s Jewish Museum © Jewish Museum Berlin Beitrag: Ulrich Wyrwa Abb. 1: Otto Dix (1891–1969): Flandern, 1934–1936 © Bildrecht, Wien 2020

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Alfred Bodenheimer, geboren 1965, ist seit 2003 Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel und leitet das dortige Zentrum für Jüdische Studien. Er ist Mitgründer und seit 2009 Präsident der Gesellschaft für Europäisch-Jüdische Literaturstudien und hat Publikationen zu zahlreichen Themen der neuen jüdischen Literaturgeschichte sowie zu religionsgeschichtlichen Themen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart vorgelegt. Derzeit ist er Co-Projektleiter im internationalen Forschungsprojekt „Deutschsprachig-jüdische Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Neue Forschungszugänge in Paradigmen“. Daneben ist er Verfasser der RabbiKlein-Kriminalromane. Stephan Braese, Ludwig-Strauß-Professor für Europäisch-jüdische Literaturund Kulturgeschichte am Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Veröffentlichungen u. a.: Die andere Erinnerung – Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur, 2001; Eine europäische Sprache – Deutsche Sprachkultur von Juden, 2010; Jenseits der Pässe: Wolfgang Hildesheimer. Eine Biographie, 2016; zusammen mit Olga Blank und Thomas Wild Herausgeber von: Wolfgang Hildesheimer – „Alles andere steht in einem Roman“. Zwölf Briefwechsel, 2017. Hildegard Frübis studierte Kunstgeschichte und Ethnologie und promovierte 1993 an der Universität Tübingen (Die Wirklichkeit des Fremden. Zur Entdeckung Amerikas in den Bildprägungen des 16. Jahrhunderts). Die Habilitation erfolgte 2005 an der Humboldt-Universität zu Berlin (Die Illustrationen Max Liebermanns zu Heinrich Heines Rabbi von Bacherach. Bilder der Jüdischen Moderne im Kontext von Judenfrage und Kunstwissenschaft); Forschungsstipendien u. a. der Studienstiftung des Deutschen Volkes in London, Paris, Madrid sowie am DHI Washington. Seit 2006 verschiedene Gast- und Vertretungsprofessuren; April 2015 bis Mai 2017 Lise-Meitner Stelle am Centrum für Jüdische Studien, Karl-Franzens-Universität Graz. Forschungsschwerpunkte sind die Kunst- und Bildgeschichte der Frühen Neuzeit und der Moderne, Gender- und Postcolonial Studies, Kunst und Kunstdiskurs der Jüdischen Moderne. Mark H. Gelber, (Ph.D. Yale University, 1980) ist emeritierter Ordinarius für Komparatistik und Deutsch-Jüdische Studien sowie ehemaliger (2008–2019)

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Leiter des Zentrums für Österreichische und Deutsche Studien an der BenGurion University (Beer Sheva). Er hat 19 Bücher geschrieben, herausgegeben oder mitherausgegeben, etwa 85 wissenschaftliche Essays in Fachzeitschriften oder Kapitel in Sammelbänden veröffentlicht sowie mehr als 100 kürzere Arbeiten, Katalogessays, Rezensionen, Beiträge in Enzyklopädien und Lexika verfasst. Er ist seit 2001 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Darmstadt), 2018 erhielt er das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse von der Republik Österreich. Er war Alexander-von-Humboldt-Forschungsstipendiat und Humboldt-Gastforscher in Tübingen, Berlin (Freie Universität) und an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder sowie Gastprofessor in Österreich (Graz), Deutschland (Aachen), Slowenien (Maribor), Belgien (Antwerpen), Neuseeland (Auckland), China (Renmin-Universität Beijing) und in den USA (University of Pennsylvania, Yale University, New York University). Er lernte Petra Ernst 1991 in Graz kennen und stand seitdem regelmäßig in wissenschaftlichem Kontakt mit ihr. Er hat sie eingeladen, den – wie es sich im Nachhinein herausgestellt hat – letzten Vortrag ihrer akademischen Karriere zu halten, und zwar im Rahmen einer in Salzburg abgehaltenen Konferenz über „Stefan Zweig – ein jüdischer Schriftsteller aus Europa.“ Der Konferenzband – Stefan Zweig - Jüdische Relationen – ist dem Gedenken an Petra Ernst gewidmet. Jeffrey Grossman, Professor für Germanistik an der University of Virginia. Seine Forschungsinteressen umfassen deutsche und deutsch-jüdische Literatur und Geistesgeschichte, jiddische Literatur sowie Fragen der Übersetzung. Zu seinen Publikationen zählen die Monografie The Discourse on Yiddish in Germany from the Enlightenment to the Second Empire (2000), eine mit Petra Ernst und Ulrich Wyrwa herausgegebene Sondernummer von Quest sowie zahlreiche Beiträge zu Heinrich Heine, Walter Benjamin, Franz Kafka und zu jiddisch-deutschen literarischen Interaktionen. Hans-Joachim Hahn, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im D-A-CHProjekt „Deutschsprachig-jüdische Literatur seit der Aufklärung – Neue Forschungszugänge in Paradigmen“ am Zentrum für Jüdische Studien der Universität Basel und lehrt als Privatdozent am Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft der RWTH Aachen. Gast- und Vertretungsprofessuren sowie Dozenturen u. a. an der Karl-Franzens-Universität Graz, der Universität Bern und der RWTH Aachen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die deutschsprachig-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, Literaturtheorie und Allgemeine Literaturwissenschaft, Europadiskurse, historische Antisemitismusforschung, Text-Bild-Verhältnisse und Transmedialität,

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Populärkultur, kulturelle Übersetzung, Wissensgeschichte, Modernekritik und antiemanzipatorisches Denken. Jonathan Hess (1965–2018) lehrte und forschte an der University of North Carolina, Chapel Hill als Germanist, Literaturwissenschaftler und Komparatist zu Themen der deutschsprachig-jüdischen Literatur und Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts. Unter seinen vielzähligen Publikationen ist seine wegweisende Studie Middlebrow Literature and the Making of German-Jewish Identity von 2010 zu nennen. Daniel Hoffmann, apl. Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft; Lehrbeauftragter der Universität Düsseldorf. Seit 2019 Mitherausgeber von Kirche und Israel. 2018 Gastprofessur am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung an der Universität Luzern. Neueste Buchveröffentlichung: Religiöse Turbulenzen. Essays zur literarischen Darstellung des Religiösen im 20. Jahrhundert, 2019. Helmut Konrad, emeritierter Professor für Zeitgeschichte an der Universität Graz. Geb. 1948 in Wolfsberg, Kärnten. Studium in Wien, Habilitation in Linz. Seit 1984 Lehrstuhlinhaber in Graz. Arbeitsschwerpunkte: Sozialgeschichte, Kulturgeschichte. Primus-Heinz Kucher lehrt Neuere Deutsche Literatur an der Universität Klagenfurt; Habilitation 1997 mit Ungleichzeitige/verspätete Moderne. Prosaformen in der österreichischen Literatur 1820–1880, 2002. Max-Kade-Gastprofessur an der University of Illinois/Chicago (2008), Bostiber-Fulbright Visiting Professor an der University of Burlington (UVM, 2013). Forschungsschwerpunkte: Literarisch-kulturelle Beziehungen in Zentraleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, Deutsch-jüdische Literatur, Moderne und Avantgarde, Exil-Postexil und (Im)Migration. Leiter mehrerer FWF-Projekte („Moderne-Antimoderne. Transdisziplinäre Konstellationen in den 1920ern“; aktuell: „Deutsch-jüdische Literatur seit der Aufklärung. Neue Forschungszugänge in Paradigmen“. Zuletzt Mitherausgeber der Bände Der lange Schatten des ‚Roten Oktober‘ (2019) und Exploration urbaner Räume – Wien 1918–1938 (2019). Mona Körte, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie europäisch-jüdische Literatur an der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: deutsch-jüdische Literatur der Moderne, Epistemologie des Sammelns und der Dinge, Literatur- und Theoriegeschichte des Gesichts, Rückwärtsvorgänge in Literatur und Wissenschaft. Jüngste Veröffentlichungen: Die Rache roher Texte. Treue zum Unsinn in den Kinder- und Hausmärchen Jacob und Wilhelm Grimms, in: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und

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Kultur, 111, 3, 2019, S. 240–261; Rückwärtsvorgänge. Retrogrades Erzählen in Literatur, Kunst und Wissenschaft, 2019 (Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie, Bd. 138). Gerald Lamprecht, Professor für jüdische Geschichte und Zeitgeschichte sowie Leiter des Centrums für Jüdische Studien (CSJ) der Karl-Franzens-Universität Graz. Zu seinen Forschungsinteressen zählen die jüdische Geschichte und Kultur Österreichs und Zentraleuropas im 19. und 20. Jahrhundert sowie Holocaust-Forschung und Memory Studies. Neben seiner Mitherausgeberschaft der Schriftenreihe des CJS ist er Herausgeber der Reihe „Vorlesungen des CJS“. Zuletzt erschienen: Jewish Soldiers in the Collective Memory of Central Europe. The Remembrance of World War I from a Jewish Perspective (2019) (mit Eleonore Lappin-Eppel und Ulrich Wyrwa). Gerhard Langer, Professor für Judaistik am gleichnamigen Institut in Wien. Schwerpunkte: Rezeptionsgeschichte des Alten Testaments, rabbinische Texte und Kultur, Erziehung und Identität, Dialog der Religionen, Literatur und Religion. Jüngere Publikationen: Midrasch. Ein Lehrbuch (Lehrbuchreihe Jüdische Studien; UTB), 2016; Menschen-Bildung. Rabbinisches zu Lernen und Lehren jenseits von PISA, 2012; Herausgeber (mit Constanza Cordoni) von Let the Wise Listen and Add to Their Learning (Prov 1:5). Festschrift for Günter Stemberger on the Occasion of his 75th Birthday, 2016. Schreibt in seiner Freizeit Krimis. Eleonore Lappin-Eppel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theatergeschichte und Kulturwissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Dort leitet sie das Projekt „Jüdische Reaktionen auf die nationalsozialistische Verfolgung in Österreich 1941–1945. Eine Quellenedition“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die NS-Judenverfolgung in Österreich und jüdische Presse im deutschsprachigen Raum. Neueste Publikationen: Jewish Soldiers in the Collective Memory of Central Europe. The Remembrance of World War I from a Jewish Perspektive, 2019, hg. zusammen mit Gerald Lamprecht und Ulrich Wyrwa; Topographie der Shoah, Gedächtnisorte an das zerstörte jüdische Wien, zusammen mit Dieter Hecht und Michaela Raggam Blesch, 2., erweiterte Ausgabe, 2018; Jüdische Publizistik und Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs, hg. zusammen mit Petra Ernst, 2016. Vivian Liska, Professorin für deutsche Literatur und Direktorin des Instituts für jüdische Studien an der Universität Antwerpen, Belgien. Seit 2013 Distinguished Visiting Professor an der Hebrew University, Jerusalem. Forschungsschwerpunkte: Neuere deutsche Literatur, Literaturtheorie, Deutsch-jüdische Denker und Autoren. Jüngste Buchveröffentlichung: German-Jewish Thought

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and its Afterlife: A Tenuous Legacy (2017). Trägerin des Ehrenkreuzes der Republik Österreich für Wissenschaft und Kunst. Thomas Meyer wurde 2003 mit einer Arbeit über Ernst Cassirer an der LMU München promoviert. 2009 habilitierte er sich dort mit der Studie Zwischen Philosophie und Gesetz. Jüdische Philosophie und Theologie zwischen 1933 und 1939. Fellowships, Gast- und Vertretungsprofessuren hatte er u. a. in Jerusalem, Graz, Zürich, Chicago und Boston, Kiel und Hamburg inne. Zurzeit arbeitet er an einer Biographie Hannah Arendts, die 2021 im Piper Verlag erscheinen wird. Zuletzt erschienen: (Hg.) Hannah Arendt, Wir Flüchtlinge, 9. Auflage, 2018; (Hg.) Hannah Arendt, Die Freiheit, frei zu sein, 8. Auflage, 2019; (Hg. mit George Y. Kohler, Andreas Brämer) Wissenschaft des Judentums-Science of Judaism, 2019. Anika Reichwald, Studium der Allgemeinen Rhetorik, Neuen deutschen Literatur und Neueren und Neuesten Geschichte an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Ab 2011 Promotions-Stipendiatin des Schweizer Nationalfonds sowie wissenschaftliche Assistentin an der Professur für Literatur- und Kulturwissenschaften, ETH Zürich. Promovierte 2016 mit der Arbeit Das Phantasma der Assimilation – Interpretationen des Jüdischen in der deutschen Phantastik 1890–1930. Seit Juli 2015 Leiterin Archiv und Sammlungen sowie Kuratorin am Jüdischen Museum Hohenems; seit Januar 2020 ist sie zudem für literatur:voralberg netzwerk tätig. Joachim Schlör wurde 1990 in Tübingen promoviert (Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840–1930) und habilitierte sich 2003 an der Universität Potsdam (Das Ich der Stadt: Debatten über Judentum und Urbanität, 1822–1938). Seit 2006 ist er Professor for Modern Jewish/non-Jewish Relations an der Universität Southampton. 2020 wird die englische Übersetzung der Emigrationsgeschichte von Liesel Rosenthal ebenso erscheinen (Escaping Nazi Germany: One Woman’s Emigration from Heilbronn to England) wie eine Studie über Berlin-Gefühle unter deutsch-jüdischen Emigranten, basierend auf der Korrespondenz zum Berliner Gedenkbuch. Olaf Terpitz, Literatur- und Kulturwissenschaftler (Habilitation 2016 an der Universität Wien) am Centrum für Jüdische Studien an der KFU Graz. Zu seinen Forschungsinteressen zählen europäisch-jüdische Literaturen mit einem Schwerpunkt auf slawisch-jüdischen Begegnungen, Komparatistik, Übersetzung und Wissensgeschichte. Neben seiner Mitherausgeberschaft der Schriftenreihe des CJS und der Wiener Galizien-Studien gehören zu seinen letzten Veröffentlichungen die Edition Shimon An-Ski: Der Khurbn in Polen, Galizien

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und der Bukowina. Tagebuchaufzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg (2019) und die Sondernummer von In geveb. A Journal of Yiddish Studies mit dem Titel Translation: Poetics, Negotiation, Tradaptation (2019). Liliane Weissberg ist Christopher H. Brown Distinguished Professor in Arts and Science an der University of Pennsylvania. Sie ist die Autorin zahlreicher Bücher und Aufsätze zur deutsch-jüdischen Philosophie und Kulturgeschichte. Zu ihren jüngsten Buchpublikation gehören: Münzen, Hände, Noten, Finger. Berliner Hofjuden und die Erfindung einer deutschen Musikkultur (2018); Nachträglich, grundlegend. Der Kommentar als Denkform in der jüdischen Moderne von Hermann Cohen bis Jacques Derrida (mit Andreas Kilcher; 2018). Jay Winter ist emeritierter Charles J. Stille Professor of History der Yale University. Er hat sich als Historiker mit dem Ersten Weltkrieg befasst und ist der Verfasser von Sites of Memory, Sites of Mourning: The Great War in European Cultural History, 1995. Er bekam die Ehrendoktorwürde der Universität Graz, der Katholischen Universität Löwen und der Universität Paris VIII verliehen. 2017 erhielt er den Victor-Adler-Staatspreis für Geschichte sozialer Bewegungen. Ulrich Wyrwa, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam. Zusammen mit Werner Bergmann hat er am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin zwei internationale Doktorandenkollegs zur Entstehung und Entwicklung des Antisemitismus in Europa (1879–1914 / 1914–1923) geleitet. Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des Antisemitismus und jüdische Geschichte im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit besonderem Schwerpunkt auf Italien und Deutschland. Gastprofessuren am Fritz-Bauer-Institut der Universität Frankfurt am Main, am Centrum für Jüdische Studien der Universität Graz und am Richard Koebner Minerva Center for German History an der Hebrew University Jerusalem.