Studien zur Agrargeschichte
 9783110509366

Table of contents :
Vorbemerkung
Inhalt
Einleitung
Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Agrargeschichte der frühen Neuzeit in geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Anmerkungen zu einem Forschungsdesiderat
Rechtsfindung zwischen Machtbeziehungen, Konfliktregelung und Friedenssicherung. Historische Kriminalitätsforschung und Agrargeschichte in der Frühen Neuzeit
Neue Forschungen und Perspektiven zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft in der Schweiz (1500-1800)
Probleme der Erforschung der ländlichen Gesellschaft des Mittelalters
Beharrung und Wandel „als Argument". Bauern in der Agrargesellschaft des 18. Jahrhunderts
Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Ttansformationsprozesse als Thema der Agrargeschichte
Abstracts
Sachregister

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Werner Troßbach / Clemens Zimmermann Agrargeschichte

Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte Herausgegeben von Peter Blickle und David Sabean Band 44

Agrargeschichte Positionen und Perspektiven

Herausgegeben von Werner Troßbach und Clemens Zimmermann mit Beiträgen von Peter Blickle, Ulrike Gleixner, Barbara Krug-Richter, Werner Rösener, Andreas Suter, Werner Troßbach, Clemens Zimmermann

Lucius & Lucius Stuttgart

Adressen der Autoren: PD Dr. Werner Troßbach Fachbereich Landwirtschaft GH Kassel Steinstraße 19 D-37213 Witzenhausen

Prof. Dr. Clemens Zimmermann Historisches Seminar der Universität Grabengasse 3 - 5 D-69117 Heidelberg

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Agrargeschichte : Positionen und Perspektiven / hrsg. von Werner Trosbach und Clemens Zimmermann. Mit Beitr. von Peter Blickle ... - Stuttgart: Lucius und Lucius, 1998 (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte ; Bd. 44) ISBN 3-8282-0081-8

© Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH • 1998 Gerokstraße 51 • D-70184 Stuttgart Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Sibylle Egger, Stuttgart Druck und Bindung: Franz Spiegel Buch GmbH, Ulm

Vorbemerkung

Dieser Band geht auf eine Sektion des 41. Historikertages zurück, der vom 17.-20. September 1996 in München stattfand. Dessen Leitmotiv, „Geschichte als Argument", liegt auch den Beiträgen von Peter Blickle, Ulrike Gleixner und Barbara Krug-Richter zugrunde, die sich zusätzlich beteiligten. Die Herausgeber danken insbesondere Peter Blickle für seine zahlreichen kritischen Hinweise, die unser Vorhaben, die Positionen und Perspektiven der heutigen Agrargeschichte zu bilanzieren, wesentlich förderten. Ebenso sei der Landwirtschaftlichen Rentenbank in Frankfurt am Main gedankt. Vertreten durch Uwe Zimpelmann, ermöglichte sie das Erscheinen durch einen namhaften Druckkostenzuschuß. Hervorzuheben sind auch die vielfältigen technischen Hilfen, die Carola Peschke (Witzenhausen) und Christian Haller (Heidelberg) leisteten. Witzenhausen/Heidelberg

Werner Troßbach, Clemens Zimmermann

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Inhalt Vorbemerkung Einleitung Werner Troßbach, Clemens

V 1 Zimmermann

Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts . . . . Peter Blickte Agrargeschichte der frühen Neuzeit in geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Anmerkungen zu einem Forschungsdesiderat Barbara Krug-Richter Rechtsfindung zwischen Machtbeziehungen, Konfliktregelung und Friedenssicherung. Historische Kriminalitätsforschung und Agrargeschichte in der frühen Neuzeit Ulrike Gleixner Neue Forschungen und Perspektiven zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft in der Schweiz (1500-1800) Andreas Suter Problem der Erforschung der ländlichen Gesellschaft des Mittelalters . . . Werner Rösener

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Beharrung und Wandel „als Argument". Bauern in der Agrargesellschaft des 18. Jahrhunderts Werner Troßbach

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Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Transformationsprozesse als Thema der Agrargeschichte Clemens Zimmermann

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Abstracts

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Sachregister

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Werner Troßbach / Clemens Zimmermann

Einleitung Vor mehr als zehn Jahren ging Ian Farr 1 mit der deutschen Agrargeschichte ins Gericht. Sie verbreite Klischees wie das einer stets fortschrittsfeindlichen Bauernschaft; durch ihre Theoriefeindlichkeit werde der Begriff der Modernisierung undifferenziert verwendet, die Geschichte der Landwirtschaft im Industrialisierungszeitalter ignoriert. Isoliert in der allgemeinen Geschichtswissenschaft und ohne Bezug zur Agrarsoziologie, sei die Agrargeschichte in jeder Beziehung marginal. Fast gleichzeitig mit Farr vertrat Christof Dipper die Meinung, daß sich die Agrargeschichte zwischen den Polen ideologiebelasteter Traditionen einerseits („Hofbauerntum") und dürrer, wirtschaftswissenschaftlich geprägter Modelle andererseits selbst ins Abseits gestellt habe. 2 Selbst wenn man diesen Einschätzungen nicht in jeder Hinsicht folgen möchte, Symptome eines Niederganges waren gerade zu Beginn der achtziger Jahre unverkennbar, wenngleich ihre Ursachen länger zurückreichen. Ob die institutionelle Marginalisierung als Ursache oder als Folge zu begreifen ist, soll dahingestellt bleiben. Die Auswirkungen sind jedenfalls bis in die Gegenwart spürbar, z. T. sind die Probleme die gleichen geblieben. Auch heute kann sich Agrargeschichte weder durch ihren volkswirtschaftlichen Nutzen legitimieren noch auf politische Unterstützung hoffen. Noch immer mangelt es mehr als anderswo in der Wissenschaftslandschaft an Koordinierung, an integrativen Entwürfen, an Dialog und Kooperation. Andererseits sind den deprimierenden Bestandsaufnahmen auch positive Entwicklungen an die Seite zu stellen. Allgemein sollte stärker berücksichtigt werden, daß Agrargeschichte auch dort stattfand (und vermehrt stattfindet), wo sie nicht explizit firmiert, d. h. da, wo über Probleme geforscht und nicht über einen kanonisierten Objektsektor gehandelt wird. In dieser Hinsicht ist besonders die Landesgeschichte zu erwähnen, die den ländlichen Raum - auch in der akademischen Lehre - nie aus den Augen verloren und in den letzten zehn Jahren ihre Bemühungen verstärkt hat. Auf die Epochen bezogen, ist besonders die Frühneuzeitforschung hervorzuheben. Sie thematisiert verstärkt ländliche Gesellschaften, vor allem in kulturgeschichtlicher Ausrichtung. Auch die moderne Gesellschaftsgeschichte beginnt ihre Beiträge zu leisten. Selbst Stadt- und Urbanisierungshistoriker werden auf ländliche Gesellschaften aufmerksam, wenigstens als Kontrastfolie. Legt man eine thematisch orientierte Auflistung derjenigen Anstrengungen zugrunde, die dem „Fach" wieder zu größerer Geltung verholfen haben, dann wäre zunächst der Bereich „Protest und Widerstand" zu nennen, der in gewisser Weise noch zum traditionellen Fragenkatalog gehörte, durch seine Ausrichtung an angel'

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Vgl. Ian Farr, „Tradition" and the Peasantry: On the Modem Historiography of Rural Germany 1781-1914, in: Richard J. Evans/W. R. Lee (Hg.), The German Peasantry: Conflict and Community in Rural History from the 18th to the 20th Centuries, London 1986, 1-36. Vgl. Christof Dipper, Bauern als Gegenstand der Agrargeschichte, in: Wolfgang Schieder/Volker Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Bd. 4, Göttingen 1987, 9-33.

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Werner Troßbach / Clemens Zimmermann sächsischen Vorbildern jedoch Impulse aus der Protestforschung einbrachte. Mit älteren Fragestellungen nur noch locker verbunden sind die Arbeiten zum Komplex „Protoindustrialisierung", von denen ein Teil seinerseits in den letzten beiden Jahrzehnten einer charakteristischen Evolution ausgesetzt war. Während sie anfänglich verstärkt quantifizierende Methoden einführten und Aussagen „mittlerer Reichweite" anstrebten, sind sie schließlich in voluminöse Lokalstudien gemündet. Sie trafen sich in den letzten beiden Jahrzehnten dort mit Arbeiten, die nicht mehr primär wirtschafts- oder strukturgeschichtlich inspiriert waren, sondern mit einem weitgespannten Kulturbegriff an die Analyse ländlicher Einheiten herangingen. Dieser Dimension hatte sich die traditionell wirtschafts- oder verfassungsgeschichtlich ausgerichtete deutsche Agrargeschichte nach 1945 ganz verschlossen. Die neuen Ansätze zur Familien-, Haushalts-, Kriminalitäts- und nicht zuletzt Geschlechtergeschichte 3 förderten eine Vielfalt sozialer Realitäten zu Tage, die hinter den „dürren Modellen" nicht einmal zu erahnen war. Mit dieser hier nur flüchtig skizzierten thematischen Erweiterung ging vielfach eine methodische Vertiefung einher, sei es durch Kontextualisierung im Zuge der Mikrogeschichte, sei es durch vergleichend angelegte Regionalstudien. Doch auch die auf dem Primat wirtschaftsgeschichtlicher Fragestellungen beharrende Agrargeschichte - man könnte sie zusammen mit der Agrarverfassungsgeschichte die „innere" nennen - gewann in den beiden letzten Jahrzehnten an Komplexität. Von Anfang an stärker auf die Erklärung gesamtgesellschaftlicher Wandlungsprozesse ausgerichtet war die Agrargeschichte in der DDR. Anfangs durch die L e n i n s c h e Formulierung vom „Preußischen Weg" primär auf die Erforschung einer dogmatisch bestimmten Variante des „Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus" festgelegt, gelang es einzelnen Vertretern, das Feld auf eine Systemanalyse der Gutsherrschaft hin zu erweitern. Wenn dies auch weiterhin unter dem Primat wirtschaftsgeschichtlicher Fragestellungen und geschichtlicher Formationsanalysen stand, so verhinderte die gesamtgesellschaftliche Orientierung doch eine Marginalisierung der Fragestellungen, wie sie zeitgleich der westdeutschen Agrargeschichte geschah. Schließlich konnte das erprobte Forschungsinstrumentarium in einem mutigen Schritt zur Relativierung der Leninschen Festlegung eingesetzt werden. 4 Auch in der B R D wurde die „innere" Agrargeschichte dann rezipiert, wenn sie sich zu gesamtgesellschaftlichen Fragestellungen, z. B. der Bauernbefreiung, äußerte. Andere Neuorientierungen blieben eher unbemerkt. So sind die agrarwissenschaftlich fundierten Arbeiten von Walter Achilles gleichfalls in Mikrostrukturen vorgedrungen, z. B. in der „dichten Beschreibung" von Kartoffel- und Flachsanbau, und haben sich damit gesellschaftsgeschichtlich relevanten Fragestellungen angenähert, -1

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Vgl. Werner Troßbach, Historische Anthropologie und frühneuzeitliche Agrargeschichte deutscher Territorien. Anmerkungen zu Gegenständen und Methoden, in: Historische Anthropologie 5, 1997. 187-211. Hier ist zu Recht verwiesen worden auf: Hartmut Harnisch, Kapitalistische Agrarreform und industrielle Revolution, Weimar 1984. Weniger rezipiert, aber gleichfalls hervorzuheben sind die Arbeiten von Rudolf Berthold, insbesondere: Die Veränderungen im Bodeneigentum und in der Zahl der Bauernstellen, der Kleinstellen und der Rittergüter in den preußischen Provinzen Sachsen, Brandenburg und Pommern während der Durchführung der Agrarreformen des 19. Jahrhunderts, in: Studien zu den Agrarreformen des 19. Jahrhunderts in Preußen und Rußland (Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Sonderband), Berlin 1978, 8 - 1 1 6 .

Einleitung ohne freilich in einen expliziten Dialog mit anderen Ansätzen, etwa den Autoren der Protoindustrialisierungsdebatte und der Diskussion um die Sozialgeschichte der landwirtschaftlichen Transformation zu treten. Diesen ermutigenden Ergebnissen aus der „inneren" wie aus der „äußeren" Agrargeschichte stehen jedoch noch immer eine Reihe von Problemen gegenüber. So ist weder die Vermittlung von Mikro- mit Makroprozessen als theoretisches Hauptproblem gelöst noch die Gefahr behoben, daß die Agrargeschichte (durch die zunehmende Spezialisierung von Forschenden und die Konzentration auf Lokalgesellschaften) als Z w e i g der Sozialgeschichte ebenso marginal bleibt, wie das mittlerweile für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte insgesamt zutrifft. Aus all dem läßt sich ein hoher Reflexionsbedarf ableiten. A l s Perspektive zeichnet sich vor allem eine Verbindung der Dimensionen „innerer" und „äußerer" Agrargeschichte ab: So, wie die „innere" Agrargeschichte im Idealfall zur Erklärung gesamtgesellschaftlichen Wandels beitragen kann, sollte sie sich nicht länger gegen methodische und thematische Auffrischungen von „außen" sperren. Andererseits sollten auch primär kulturgeschichtlich ausgerichtete Arbeiten verstärkt die erprobten Modelle wirtschaftsgeschichtlicher Fundierung berücksichtigen, wie dies bereits in einigen Mikrostudien gelungen ist,5 die auch die traditionellen Epochengrenzen übersprungen haben. Als Nachteil steht dem freilich die Vernachlässigung der politischen Dimension gegenüber. Ob neben der im Gange befindlichen Neustrukturierung von Gegenständen und Methoden auch eine Redefinition des agrarischen Terrains gelingen wird, bleibt abzuwarten. Unter wirtschaftsgeschichtlichen Prämissen war das kein Problem, da einfach der moderne Sektor „Agrarproduktion" in die Vergangenheit extrapoliert wurde. Eine erneuerte Agrargeschichte kann dagegen nicht mehr spontan topographisch vorgehen, sondern sollte zunächst thematisch argumentieren. Mit der Ablösung des Hofbauern als Leitbild treten eher die mobilen und flexiblen Kräfte der Agrargesellschaft hervor. Inwieweit dann noch Platz bleibt für die Hervorhebung nachhaltiger Lebensund Produktionsformen in Absetzung zu „urbanisierten" und „industrialisierten" Lebensweisen, muß weiterer Forschung anheimgestellt werden. Bäuerliche Stämmigkeit ist jedenfalls nicht mehr das strukturierende Prinzip. Statt dessen tritt der Eigensinn verschiedener ländlicher Sozialverbände oder auch Individuen hervor und als Spezifikum ihre widersprüchlichen Beziehungen zu den jeweiligen hegemonialen Kräften und gesamtgesellschaftlichen Prozessen. An die Stelle „bäuerlicher" Kontinuität und Linearität rückt eine Vielfalt von Sinnentwürfen, die aber auf gesellschaftlich vorgegebene Chancen und Entwicklungen zu beziehen sind. Die vorliegende Zusammenstellung spiegelt diesen Übergangscharakter momentaner agrarhistorischer Orientierungen, zugleich aber auch das Bedürfnis nach Integration wider. Die Beiträge von Ulrike Gleixner und Barbara Krug-Richter verdeutlichen hier das Potential, das aus den „äußeren" Ansätzen für eine Erneuerung der Agrargeschichte abzuleiten ist. Andreas Suter und Werner Troßbach überprüfen gleichsam das Pendant, die „innere" Agrargeschichte, im Hinblick auf gesellschafts-

David W. Sabean, Property, Production, and Family in Neckarhausen, 1700 - 1870, Cambridge 1990; Albert Schnyder-Burghartz, Alltag und Lebensformen auf der Basier Landschaft um 1700. Vorindustrielle, ländliche Kultur und Gesellschaft aus mikrohistorischer Perspektive - Bretzwil und das obere Waldenburger Land von 1690 bis 1750, Liestal 1992.

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Werner Troßbach / Clemens Zimmermann geschichtlich relevante Ergebnisse und Perspektiven. Peter Blickie, Wemer Rösener und Clemens Zimmermann bieten erste integrative Entwürfe an. Die gesamtgesellschaftliche Perspektive war (und ist) in den agrargeschichtlichen Arbeiten von Peter Blickie von Anfang an präsent. Im vorliegenden Aufsatz fragt er nach dem Beitrag agrarhistorischer Forschung für die Veränderung des Geschichtsbildes insgesamt und zieht eine an den Kategorien Agrarverfassung, Wirtschaft, Gesellschaft und Staat orientierte Bilanz. Das wichtigste Ergebnis: Herrschaft und Staat sind nicht mehr die ausschließlichen Bezugspunkte. Die bisherige Vorstellung einer bipolaren Struktur von Grundherrschaft und Gutsherrschaft ist ins Wanken geraten, „moderne", dynamische, anpassungsfähige Züge der Feudalverfassung werden in der heutigen Forschung hervorgehoben. Mit der Betonung der Kategorien von Bauer, Dorf, Gemeinde und Widerstand haben sich partizipatorische Züge in der deutschen Geschichte herauskristallisiert. Der Beitrag mikrohistorischer Studien zu dieser Demokratisierung des Geschichtsbildes wird herausgestellt. In diesem Zusammenhang weitet sich der Blick auf die institutionellen und politischen Hintergründe des Forschungsprozesses. Aus dem Kontext der neuen sozialhistorischen Teildisziplin der Kriminalitätsforschung stellt Ulrike Gleixner die vielfältigen Untersuchungen vor, die zu einer Revision des bisherigen Bildes der Agrargesellschaft beitragen. Das Spannungsverhältnis von Herrschaft und Unterordnung wird in diesem Feld stark betont, ebenso Phänomene alltäglicher Widerständigkeit, die unter starker Akzentsetzung auf „ G e n d e f - Kategorien differenziert untersucht werden. Auch hier erweisen sich die „Untertanen" (selbst unter gutsherrschaftlichen Bedingungen) als historische Subjekte, wenn sie vor Gericht auftraten und dabei durchaus in der Lage waren, kommunikativ strategisch vorzugehen. Sie organisierten sich auf kommunaler Ebene und wiesen gutsherrliche Ansprüche durch gemeindliche Institutionen zurück. Zugleich ergibt sich ein feines Geflecht von Abhängigkeits- und Unterordnungsbeziehungen innerhalb der Dorfgesellschaften. Wahmehmungsmuster sowie mikrosoziale Zusammenhänge werden sichtbar, die in traditionellen rechtshistorischen Studien verborgen bleiben. Kriminalität und Gerichtsbarkeit werden auch im Beitrag von Barbara Krug-Richter thematisiert. Dieser Komplex ist einer von dreien, anhand derer die Autorin geschlechtergeschichtliche Zugangsweisen für die Agrargeschichte konzeptualisiert. Prinzipiell geht sie davon aus, daß das Geschlechterverhältnis in der ländlichen Gesellschaft der frühen Neuzeit weniger in Öffentlichkeiten, Räumen und Funktionen als in Relationen faßbar sei. Dabei trat die Kategorie „Geschlecht" selten isoliert, sondern nur in Verbindung mit anderen Faktoren in Erscheinung. So war es z. B. für die Verhältnisse im „Haus" von Belang, ob eine Frau bzw. ein Mann Hoferbe war oder eingeheiratet hatte. Für die gesellschaftliche Stellung einer Person waren in dieser Sicht die Möglichkeiten von Kommunikation und Identitätsbildung entscheidend, die unter anderem an Formen von Arbeitsteilung und Geselligkeit gebunden sind. Vor Gericht schließlich sind gesamtgesellschaftlich-hegemoniale und „interne" „ländliche" Zuschreibungen in Einklang zu bringen. Demzufolge äußert die Autorin Skepsis gegenüber ersten Versuchen, Handlungsformen von Frauen und Männern gerade anhand von Gerichtsakten zu typisieren und zu kategorisieren. In der agrarischen Mittelalterforschung bestimmen - so Werner Rösener im ersten von vier epochenspezifischen Darstellungen - die „großen" Kontroversen, vor allem 4

Einleitung die um die Einschätzung der spätmittalterlichen Agrarkrise, nach wie vor das Forschungsfeld. Rösener plädiert dafür, stärker die Resultate der Nachbarwissenschaften Archäologie, historische Geographie und Volkskunde in die Diskussion einzubeziehen und damit einen neuen Zugang zu den traditionellen Themen zu gewinnen. Mikrohistorische und anthropologische Zugänge sind - anders als in der Frühneuzeitforschung - in der Mediävistik dagegen erst schwach ausgeprägt. Für das Frühund Hochmittelalter dominiert zur Zeit - quellenbedingt - die Untersuchung von größeren Grundherrschaften. Auch damit werden die Fundamente für die Neubewertung der genannten Kontroversen neu gelegt. Bei Andreas Suter, der die Schweizer Agrarforschung zur Frühen Neuzeit vorstellt, werden wie in den Beiträgen von Ulrike Gleixner und Werner Troßbach die dynamischen Züge schon der „alten" Agrargesellschaft und „traditionellen" Landwirtschaft sichtbar. Die von einer die Zusammenhänge verkürzende Mentalitätsgeschichte postulierte Kategorie unwandelbarer „Traditionalität" ersetzt Suter (für die betrachteten wirtschaftlichen Zusammenhänge) durch ein Konzept begrenzter Rationalität, deren Potentiale weiter auszuloten seien. Beharren, kontextabhängig gesehen, hatte seinen eigenen sozialen Sinn, abgesehen davon, daß Elemente einer so bestimmten Rationalität auch im Verhalten anderer gesellschaftlicher Gruppen gesehen werden können. Hier öffnet sich „innere Agrargeschichte" zur Gesellschaftsgeschichte hin, auch insofern, als ländliche Steuerleistungen, bäuerlicher Widerstand und Revolten (ähnlich wie bei Blickle) als essentielle historische Kräfte bei der Genese modemer liberaler und demokratischer Verfassungen betrachtet werden. Werner Troßbach zentriert für das 18. Jahrhundert zunächst die Revisionen der Forschungstradition vom „Bauerntum" und vom „Ganzen Haus". An die Stelle monolithischer und linearer Auffassungen ist heute die Betonung innerer sozialer Differenzierung der ländlichen Sozialgebilde getreten. Dies hat auch für die wirtschaftsgeschichtliche Sichtweise Konsequenzen. Ähnlich wie die schweizerische hebt die deutsche Forschung mittlerweile hervor, daß die „alte" Agrarwirtschaft - kontextabhängig - zu bedeutenden Produktionsausweitungen, zu Elastizität und z.T. auch zur Produktivierung fähig war. Das heißt, daß vielerorts schon vor den liberalen Agrarreformen langfristige Modernisierungsprozesse in Gang kamen (wenn man auch nicht von einer „Agrarrevolution" sprechen sollte). Zugleich ist gerade für das spätere 18. Jahrhundert eine erhebliche Dynamisierung („Protoindustrie", Migration, Erosion der Gutsherrschaft) des gesellschaftlichen Gefüges festzustellen. „Innere" Agrargeschichte wandelt sich zur „äußeren" insoweit, als Interdependenzen mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen in den Blick geraten. Schließlich arbeitet Clemens Zimmermann den fundamentalen Wandel heraus, dem die Grundkategorien auch auf dem Gebiet der Agrargeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in den letzten beiden Jahrzehnten unterlagen. Dies ist zum Teil einem wachsenden Theorie- und Methodenbewußtsein zu verdanken. Das Bild einer einheitlichen Bauerngesellschaft ist z. B. völlig revidiert worden, ebenso werden die ökonomischen Auswirkungen von Agrarreformen zunehmend zurückhaltend beurteilt. Wie für die Frühe Neuzeit wird für das 19. Jahrhundert die Rolle von Bauern und Unterschichten beim Prozeß wachsender Intensivierung und Marktorientierung gegenüber den Faktoren Staat und Adel betont. Die Agrargeschichte des 20. Jahrhunderts dagegen muß den exogenen Faktoren des Wandels wachsendes Gewicht zumessen, da anders die Marginalisierung der Landwirtschaft kaum zu erklären ist. 5

Werner Troßbach / Clemens Zimmermann Die Hauptfrage bleibt, in welcher Weise die Agrargesellschaft dennoch signifikant eigenständige Züge bewahren bzw. ausbilden konnte. Hier sind wieder Mikrostudien gefordert, zugleich erweisen sich erneut die engen Wechselbezüge von „innerer" und „äußerer" Agrargeschichte.

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Peter Blickte

Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts* Eine Bilanz der deutschen agrargeschichtlichen Forschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde mit der „Deutschen Agrargeschichte" vorgelegt, die Günther Franz als Herausgeber in den fünfziger Jahren konzipiert hatte und deren fünf Bände in rascher Folge in den 1960er Jahren erschienen. 1 Namentlich die Bände von Wilhelm Abel, 2 Friedrich Lütge 3 und Günther Franz 4 selbst gelten als repräsentative Bilanz und bis heute unentbehrliche Referenzwerke für grundlegende agrargeschichtliche Probleme. 5 Alle drei Autoren haben in ihnen ihre eigenen Forschungen handbuchartig zusammengefaßt, was die systematische Anlage des Unternehmens erklärt. Landwirtschaft, Agrar\'erfassung und Bauernstand wurden monographisch getrennt für den allen Bänden gleichen Zeitraum, das Mittelalter und die Frühe Neuzeit, abgehandelt. Wilhelm Abel hat seinen theoretischen Ansatz, die Wirtschaft in ihren Krisen und Konjunkturen unter der leitenden Fragestellung von Angebot und Nachfrage zu interpretieren, strikt auf die Landwirtschaft angewandt und dazu nach betriebswirtschaftlichen Methoden den Bauernhof (Viehbesatz, Kalorienbedarf der Familie, Marktquote) als Typus geschaffen. Das ermöglichte es ihm, eine originelle Periodisierung vorzunehmen, die nicht den herkömmlichen politischen Grenzziehungen folgte, auch wenn er sich noch der Bezeichnungen Spätmittelalter oder Frühneuzeit bediente. Die nachhaltigste Interpretation, die man ihm verdankt, ist zweifellos die sogenannte spätmittelalterliche Agrardepression.6 Sie definiert sich durch den Rückgang der Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse, vorwiegend Getreide, begleitet von einem umfassenden Wüstungsvorgang, zwei Ereignisse, die ihrerseits '

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Das Manuskript wurde im September 1997 abgeschlossen. Günther Franz (Hg.), Deutsche Agrargeschichte, 5 Bde., Stuttgart 1962 - 1969. Ein 6. Band, betitelt „Geschichte des Gartenbaues in Deutschland" und als solcher von Günther Franz selbst herausgegeben, erschien 1984, steht allerdings in keinem engen Zusammenhang mit dem Gesamtuntemehmen. [Darin allerdings teilweise vorzügliche Beiträge, wie der von Karl Kroeschell über Garten ] Wilhelm Abel, Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart 1962. Friedrich Lütge, Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart 1963. Günther Franz, Geschichte des deutschen Bauernstandes vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1970. Wenig diskutiert wurden die Bände von Herbert Jankuhn, Vor- und Frühgeschichte vom Neolithikum bis zur Völkerwanderungszeit, Stuttgart 1969, und Heinz Haushofer, Die deutsche Landwirtschaft im technischen Zeitalter, Stuttgart 1963. - Der Haushofersche Band erhielt im akademischen Unterricht bald eine Konkurrenz durch Emst Klein, Geschichte der deutschen Landwirtschaft im Industriezeitalter, Wiesbaden 1973, und Friedrich-Wilhelm Henning, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Deutschland, 2. Bd. 1750 bis 1976, Paderborn 1978. Die leitenden Thesen hatte Abel schon in einer früheren Monographie entwickelt. Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Emährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter [1933], 3. Aufl., Hamburg/Berlin 1978.

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Peter Biickle durch den dramatischen Bevölkerungsrückgang aufgrund der Pest bedingt waren oder zumindest erheblich verschärft wurden. Der Impuls, der von dieser These ausging, war stark, wie der summarische Verweis auf die Krise des Spätmittelalters belegen mag. Sie hätte sich als allgemeine charakterisierende Epochenbezeichnung ohne die Arbeiten Abels schwerlich etablieren lassen. Friedrich Lütge, als Wirtschaftshistoriker in erstaunlichem Maße an Fragen der Verfassung interessiert, ist die Klassifizierung der deutschen Landschaften nach Grundherrschaftstypen zu verdanken. Basierend auf seinen monographischen Untersuchungen über Mitteldeutschland 7 und Bayern 8 hat er mit der mitteldeutschen, der nordwestdeutschen, der westdeutschen, der südwestdeutschen und der südostdeutschen Grundherrschaft fünf Formen unterschieden, die vornehmlich aufgrund der Art der Leihe und der Rechtsform der Liegenschaftsnutzung konzipiert wurden. Deren relative Stabilität gestattete es ihm, die Agrarverfassung des Mittelalters als Vorgeschichte und die Bauernbefreiung als Auflösung der Grundherrschaft zu beschreiben. Lütge hat wiederholt und mit Nachdruck die „herrschaftliche Grundstruktur" der Agrarverfassung betont 9 und damit die Agrargeschichte in ein Konzept eingebettet, das in hohem Maße von Herrschaft geprägt war. Günther Franz* Darstellung des Bauernstandes kommt dem Handbuchcharakter insofern am nächsten, als er im Unterschied zu Abel und Lütge auf eine konsistente Gesamtinterpretation verzichtet, vielmehr, Chronologie und systematische Aspekte kombinierend, einen zuverlässigen Überblick über die seinerzeit traditionellen (Ostsiedlung, Wehrhaftigkeit) und aktuellen Forschungsfelder (Dorf, soziale Schichtung) bot. Seine eigenen Forschungen, die sich monographisch in zwei Darstellungen über den Bauernkrieg 10 und den Dreißigjährigen Krieg 11 niedergeschlagen hatten, wurden für den Band nicht interpretationsleitend, obschon die Kapitel über den deutschen Bauernkrieg von 1525 und die Bauernkriege im 17. und 18. Jahrhundert Höhepunkte in seinem historiographischen Werk darstellen. „Der Bauer steht am Anfang unserer Geschichte, aber er hat nur selten handelnd in ihren Ablauf eingegriffen", steht im Vorwort. „Trotzdem", so fährt Franz in expliziter Wendung gegen Oswald Spengler fort, „hat er ihn entscheidend bestimmt". Wie, bleibt dem Urteil des Lesers überlassen. Würdigung und Kritik haben dem Umstand Rechnung zu tragen, daß die Agrargeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Forschungsfeld Weniger war, was angesichts der Dominanz des Historismus und seiner theoretischen Vorlieben auch nicht verwundert. Zumindest als synthetische Leistung war die Deutsche Agrargeschichte ein respektables Unternehmen, das seinerzeit in Europa seinesglei-

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Friedrich Lütge, Die Mitteldeutsche Grundherrschaft und ihre Auflösung [1934], 2. Aufl., Stuttgart 1957; Ders., Die Agrarverfassung des frühen Mittelalters im mitteldeutschen Raum vornehmlich der Karolingerzeit [1937], 2. Aufl., Stuttgart 1966. Friedrich Lütge, Die Bayerische Grundherrschaft. Untersuchungen über die Agrarverfassung Altbayems im 16. - 18. Jahrhundert, Stuttgart 1949. Lütge, Agrarverfassung, 182 ff. [zitiert nach der 2. Auflage von 1967]. Günther Franz, Der deutsche Bauernkrieg [ 1933], 12. Aufl., Darmstadt 1984. Günther Franz, Der Dreißigjährige Krieg und das Deutsche Volk. Untersuchungen zur Bevölkerungs- und Agrargeschichte [1940], 4. Aufl., Stuttgart/New York 1979. Franz, Bauemstand, 14.

Deutsche Agrargeschichte

in der zweiten Hälfte des 20.

Jahrhunderts

chen suchte. 13 Die von den Annales so eifrig betriebene agrargeschichtliche Forschung hat erst in den siebziger Jahren eine handbuchartige Gesamtdarstellung erfahren. 14 Die Stärke der Deutschen Agrargeschichte war gleichzeitig auch ihre Schwäche, denn wie agrarische Verfassung, agrarische Wirtschaft und agrarische Gesellschaft aufeinander bezogen waren, kam dabei nicht zum Vorschein. 1 ' Die drei Bände von Abel, Lütge und Franz waren abschließende Summen ihrer agrargeschichtlichen Forschungen. Schulen haben die drei Autoren nur bedingt gebildet. Zweifellos wurde der Ansatz Wilhelm Abels, dessen Oeuvre auch international die stärkste Ausstrahlung hatte, durch Friedrich-Wilhelm Henning 16 und Walter Achilles 17 fortgeführt, wie in einer von beiden geschriebenen Deutschen Agrargeschichte zum Ausdruck kommt, 18 die sich als Modernisierung ihres Vorgängers versteht. Günther Franz hat angesichts seiner vergleichsweise kurzen Lehrtätigkeit von rund zehn Jahren an der Universität Hohenheim (Landwirtschaftliche Hochschule) seit 1958 nur im kleinsten Kreis Seminare für historisch interessierte Studierende der Landwirtschaft gehalten. 19 Friedrich Lütges Interessen gingen weit über die Agrargeschichte hinaus und seine Schüler haben ihre Forschungsschwerpunkte meist außerhalb der Agrargeschichte gefunden. 20 In gewissem Sinn markiert die Deutsche Agrargeschichte aus den sechziger Jahren einen Abschluß, der keine Fortsetzung fand. Eine begrifflich klare Definition hatte die Teildisziplin Agrargeschichte nicht gefunden, was deswegen kaum überraschend ist, weil auch in benachbarten Gebieten wie der Wirtschafts- und Sozialgeschichte theoretisch-methodologische Debatten kaum 13

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Das unterstreichen auch die mehrfachen Auflagen. Der Band von Abel, Landwirtschaft hat drei Auflagen erlebt, die Bände von Lütge, Agrarverfassung und Franz, Bauemstand je zwei Auflagen. Georges Duby/Armand Wallon (Hg.), Histoire de la France rurale, 4 Bde., Paris 1975 - 1976. Jeder Band ist von mehreren Autoren geschrieben. Vgl. die scharfe Besprechung von Hans Rosenberg, Deutsche Agrargeschichte in alter und neuer Sicht, in: Ders., Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt a. M. 1969, 81-147. Nicht mehr verarbeitet in der Deutschen Agrargeschichte ist Friedrich-Wilhelm Henning, Dienste und Abgaben der Bauern im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1969; Ders., Bauemwirtschaft und Bauemeinkommen im Fürstentum Paderborn im 18. Jahrhundert, Berlin 1970 [genaue Berechnung der Einkommen nach betriebswirtschaftlichen Methoden]. Walter Achilles, Die steuerliche Belastung der braunschweigischen Landwirtschaft und ihr Beitrag zu den Staatseinnahmen im 17. und 18. Jahrhundert, Hildesheim 1972; Ders., Die Lage der hannoverschen Landbevölkerung im späten 18. Jahrhundert, Hildesheim 1982. Vgl. Friedrich-Wilhelm Henning, Deutsche Agrargeschichte des Mittelalters, 9. - 15. Jahrhundert, Stuttgart 1994. Walter Achilles, Deutsche Agrargeschichte im Zeitalter der Reformen und der Industrialisierung, Stuttgart 1993. Die beiden Bände erscheinen als „Deutsche Agrargeschichte, begründet von Günther Franz, herausgegeben von Friedrich-Wilhelm Henning" [ohne Bandzählung]. Eine starke Konkurrenz haben sie in der von Wemer Rösener geschriebenen, von einem starken Verlag unterstützten Zusammenfassung des Forschungsstandes (trotz des Titels über das Mittelalter hinausgehend): Werner Rösener, Bauern im Mittelalter, München 1985 [4 Auflagen, übersetzt in mehrere Sprachen]. Unter den Hohenheimer Dissertationen hat die von Peter Steinle, Die Vermögensverhältnisse der Landbevölkerung in Hohenlohe im 17. und 18. Jahrhundert, Schwäbisch Hall 1971, Aufmerksamkeit gefunden. Das gilt für Eckart Schremmer, der seine Dissertation noch im Bereich der Agrargeschichte geschrieben hat (vgl. Eckart Schremmer, Die Bauernbefreiung in Hohenlohe, Stuttgart 1963), sich mit seiner Habilitationsschrift dann der allgemeinen Wirtschaftsgeschichte zuwandte (vgl. Ders., Die Wütschaft Bayerns vom hohen Mittelalter bis zum Beginn der Industrialisierung, München 1969).

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Peter Blickle geführt wurden. Vielmehr war eher pragmatisch bestimmt worden, was Agrargeschichte sei. Sucht man nach einer latenten Definition in den behandelten Themen der Deutschen Agrargeschichte oder in den führenden Publikationsorganen der Disziplin, der Zeitschrift für Agrarge schichte und Agrarsoziologie21 oder der Reihe Quellen und Forschungen zur Agrarge schichte 22 so war Agrargeschichte die Geschichte der landwirtschaftlichen Produktion im Rahmen einer herrschaftlich geprägten Rechtsform der Liegenschaftsnutzung durch den Stand der Bauern. Daraus läßt sich leicht erkennen, daß Agrargeschichte eine Teildisziplin darstellte, die stark mit dem Mittelalter und der Frühneuzeit verknüpft war. Für das 19. und 20. Jahrhundert wird es zunehmend schwieriger, eine Teildisziplin Agrargeschichte theoretisch zu begründen, 23 weil sich die Landwirtschaft der Volks- und Weltwirtschaft integriert, 24 die Agrarverfassung als solche mit der Ausbildung des modernen Eigentums sich auflöst 25 und der Bauer als Stand mit der Ausbildung der staatsbürgerlichen Gleichheit seine bisher typischen Merkmale verliert. 26 Hinzu kommt der stark fallende Anteil der Landwirtschaft am Inlandsprodukt und der zahlenmäßige Rückgang der Bauern (richtiger wäre es zu sagen der Landwirte) gemessen an der Gesamtbevölkerung. 27 Über Kontinuitäten und Diskontinuitäten läßt sich bekanntlich trefflich streiten, doch spricht viel dafür, der Agrargeschichte der letzten drei Jahrzehnte das Attribut neu zuzuschreiben. Ihre Themen waren und sind nur zum geringsten Teil organische Fortentwicklungen älterer Schwerpunkte, sondern wurden neu konstituiert in Auseinandersetzung mit den geschichtstheoretischen Debatten. Sie kamen der Agrargeschichte insofern in hohem Maße zugute, als nahezu alle neueren Schwerpunktsetzungen der Disziplin, von der Sozialgeschichte der sechziger Jahre bis zur Mikrohistorie der Gegenwart, an der ländlichen Gesellschaft nicht vorbeikamen, wollten sie ihre Methoden nicht nur in der Neuesten Geschichte erproben. Überblicke ich die Schwerpunkte der Neuen Agrargeschichte richtig, so liegen sie im Bereich von Dorf und Gemeinde (I), Bauernkrieg und bäuerlichem Widerstand (II), Protoindustrialisierung und Modernisierung in der Landwirtschaft (III) und Grundherrschaft und Gutsherrschaft (IV). In diese Ausmarchung mag die unvermeidliche Subjektivität, die jeden Text prägt, eingegangen sein, dennoch dürften da21 22

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Die Zeitschrift wurde 1953 von Günther Franz begründet und von ihm 25 Jahre redigiert. Begründet von Günther Franz und Friedrich Lütge 1943, nach dem Krieg fortgeführt unter der Mitherausgeberschaft von Wilhelm Abel. Bis 1980 erschienen in der Reihe 32 Bände. Vgl. dazu den Beitrag von Clemens Zimmermann in diesem Band. Die Übergangsphase in das 19. Jahrhundert beschreibt aus einem interessanten Blickwinkel Herbert Pruns, Staat und Agrarwirtschaft 1800 - 1865. Subjekte und Mittel der Agrarverfassung und Agrarverwaltung im Frühindustrialismus, 2 Bde., Hamburg/Berlin 1979. Mittlerweile gibt es mehrere beispielhafte Untersuchungen für diesen vielschichtigen und hochkomplexen Transformationsprozeß. Eine der ersten Pionierarbeiten lieferte Josef Mooser, Ländliche Klassengesellschaft 1770 - 1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen, Göttingen 1984. Dagegen kann man von einem volkskundlichen Standpunkt aus berechtigte und begründete Einwände erheben. Beispielhaft Ingeborg Weber-Kellermann, Landleben im 19. Jahrhundert, München 1987. Umfängliches Zahlenmaterial bei Hans-Jürgen Puhle, Politische Agrarbewegungen in kapitalistischen Industriegesellschaften. Deutschland, USA und Frankreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 1975.

Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit jene Bereiche benannt sein, in denen besonders intensiv und mit besonders weitreichenden Wirkungen, weit über die Agrargeschichte im engeren Sinn hinaus, geforscht wurde. Mit Bedacht wird Agargeschichte hier relativ eng und restriktiv definiert, 28 täte man das nicht, ließe sich angesichts der empirischen Verankerung der heutigen Forschung im Alltag kaum mehr eine Trennschärfe zur allgemeinen Geschichte gewinnen. Dieser rigiden Einschränkung sind auch zwei prominente Forschungsbereiche zum Opfer gefallen, das Haus29 und die Hexen?0 Im Gegensatz zu den oben genannten Zentralbereichen der Agrargeschichte handelt es sich nicht allein um Erscheinungen der ländlichen Welt.

1. Dorf und Gemeinde Das monumentale Werk von Karl Siegfried Bader über das Dorf, das in den sechziger Jahren noch nicht abgeschlossen, aber doch zu größeren Teilen erschienen war, 31 ist in der Deutschen Agrargeschichte zwar berücksichtigt, 32 seine grundlegende Bedeutung allerdings erst im Laufe der siebziger und achtziger Jahre wirklich erkannt worden. Bader hat in den drei Bänden, die im Laufe von 15 Jahren erschienen, das Dorf unter drei Perspektiven monographisch behandelt, nämlich erstens wie aus Nachbarschaften Gemeinden wurden, unter besonderer Heraushebung des Dorfes als Friedensbereich, zweitens wie die Organisation des Dorfes beschaffen war, mit einer beeindruckend breiten und detaillierten Darstellung der im Dorf vertretenen Ämter und ihrer Funktionen, und drittens wie die zu einem Dorf gehörende Kulturfläche genutzt wurde, nämlich individuell die Hofstatt im engeren Sinn mit den Gärten, individuell-kollektiv die in Gewanne und Streifen parzellierte Ackerflur und kollektiv die Allmende und der Wald. Bader ist von Herkunft Jurist, hat sich

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Weitausholende problemorientierte Forschungsüberblicke [mit ausgezeichneten Bibliographien] bieten die einschlägigen Bände in der Enzyklopädie deutscher Geschichte: Walter Achilles, Landwirtschaft in der frühen Neuzeit, München 1991; André Holenstein, Bauern zwischen Bauernkrieg und Dreißigjährigem Krieg, München 1996; Werner Rösener, Agrarwirtschaft, Agrarverfassung und ländliche Gesellschaft im Mittelalter, München 1992; Wemer Troßbach, Bauern 1648 - 1806, München 1993. Ergänzend sind zu nennen: Wolfgang von Hippel. Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit, München 1995, und Christian Pfister, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500 - 1800, München 1994. Eine neueste Auswahlbibliographie bei Werner Rösener, Einführung in die Agrargeschichte, Darmstadt 1997. Die genannten Arbeiten erschließen auch die Aufsatzliteratur, auf die ich hier aus Raumgründen bis auf wenige Ausnahmen ganz verzichte. Wemer Troßbach, Das „ganze Haus" - Basiskategorie für das Verständnis der ländlichen Gesellschaft deutscher Territorien in der Frühen Neuzeit?, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 129, 1993,277-314. Zahlreiche Forschungsberichte. Etwa Wolfgang Behringer, Erträge und Perspektiven der Hexenforschung, in: Historische Zeitschrift 249, 1989, 619-640. Konzentriert auf die ländliche Welt Holenstein, Bauern, 120 ff. und Troßbach, Bauern, 107 ff. Karl Siegfried Bader, Das mittelalterliche Dorf als Friedens- und Rechtsbereich, Weimar 1957; Ders., Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde, Köln/Graz 1962; Ders., Rechtsformen und Schichten der Liegenschaftsnutzung im mittelalterlichen Dorf, Wien/Köln/Graz 1973. Franz, Bauemstand, 49-57.

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Peter Blickte aber durch intensive Archivstudien in Südwestdeutschland den Methoden der seinerzeit angesehenen Landesgeschichte genähert. Bedingt durch seinen schließlichen beruflichen Standort an der Universität Zürich ergab sich eine räumliche Erweiterung seiner ursprünglich auf Südwestdeutschland konzentrierten Interessen, so daß die Dorf-Trilogie regional stark auf den Südwesten des Reichest wie Bader gerne sagte, abgestützt ist, was Ausblicke nach Franken, Bayern, Thüringen und Osterreich nicht ausschloß.34 Der Umstand, daß der Rezeptionsprozeß eher schleppend erfolgte, erklärt sich zum Teil35 daraus, daß Bader keine theoriefreudige, zum Modell oder Idealtypus hinaufgetriebene Darstellung des Dorfes geliefert hat, vielmehr dem Leser die Zumutung einer tausendseitigen Lektüre nicht erspart.36 Die bis heute geringe internationale Resonanz liegt mutmaßlich auch an der regionalen Begrenzung des empirischen Materials, mit dessen Hilfe ein politisch besonders kräftiges Dorf konstituiert wurde, das offenbar an die dörflichen Verhältnisse Frankreichs 37 und Englands38 nicht ohne weiteres anschlußfähig war. Baders Arbeiten haben eher zufällig durch komplementäre Studien über die Entstehung der Dorfgemeinde detaillierte Ergänzungen in Form regionaler Fallstudien für das gesamte deutsche Siedlungsgebiet erfahren,39 unter denen die von Roger Sablonier herausgehoben zu werden verdient, der den Prozeß der Verdorfung, Vorzeigung und Vergetreidung, wie die Wortungetüme seinerzeit hießen, mit äußerst kompaktem ostschweizerischem Material beschrieben und zeitlich präzisiert hat. 40 Die

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Vgl. Karl Siegfried Bader, Der deutsche Südwesten in seiner territorialstaatlichen Entwicklung [1950], 2. Aufl., Sigmaringen 1978. [Die Schweiz ist in diesem Buch in den Begriff integriert.] Das Rheinland und Westdeutschland dienten Bader kaum als Referenzlandschaften, offenbar weil er die dortigen Gemeinden und ihre Interpretation durch Franz Steinbach als Ausbrüche aus der Gerichtsorganisation, angereichert mit Gemeindebesitz und Freiheitsprivilegien, seinem Material schwer integrieren konnte. Vgl. Franz Steinbach, Ursprung und Wesen der Landgemeinde nach rheinischen Quellen, in: Die Anfänge der Landgemeinde und ihr Wesen I, Sigmaringen 1964, 244288 [zurückgehend auf Arbeiten aus den 1930er Jahren]. Zürich und die Schweiz waren für die Rezeption der Baderschen Thesen kein günstiger Boden, weil sich die Schweizer Historiographie in den sechziger und siebziger Jahren von ihren eigenen genossenschaftlichen Traditionen stark distanzierte. Vgl. dazu Peter Blickte, Otto Gierke als Referenz? Rechtswissenschaft und Geschichtswissenschaft auf der Suche nach dem Alten Europa, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 17, 1995, 245-263, hier 257 f. In Vorbereitung ist eine synthetisierende knappere Darstellung, die von Gerhard Dilcher herausgebracht werden wird. Vgl. zusammenfassend etwa Roland Mousnier, Les institutions de la France sous la monarchie absolue 1598 - 1789, 2 Bde., Paris 1974 - 1980, besonders Bd. 2, 428-440. Die Diskussion über die Vergleichbarkeit des englischen Dorfes mit dem deutschen hält noch an. Vgl. Rodney Hilton, Les communautés villageoises en Angleterre au Moyen Age, in: Les communautés villageoises en Europe occidentale du Moyen Age aux Temps modernes (Flaran 4), Auch 1984, 117-128, und zuletzt Beat Kümin, The English parish in an European perspective, in: Katherine L. French/Gary G. Gibbs/Beat A. Kümin (Hg.), The Parish in English Life, 1400 - 1600, Manchester/New York 1997, 15-32. Die Anfänge der Landgemeinde und ihr Wesen, 2 Bde., Sigmaringen 1964. Die Arbeit ist im Zusammenhang der Tagungen des Konstanzer Arbeitskreises (wie Anm. 39) entstanden, aber erst vergleichsweise spät publiziert worden. Roger Sablonier, Das Dorf im Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter. Untersuchungen zum Wandel ländlicher Gemeinschaftsformen im ostschweizerischen Raum, in: Lutz Fenske/Wemer Rösener/Thomas Zotz (Hg.), Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für Josef Fleckenstein, Siginaringen 1984, 120134.

Deutsche Agrarge schichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts langfristig anregende Wirkung des Baderschen Werkes hat sich in zahlreichen Regionalstudien niedergeschlagen,41 und noch heute dient es juristischen Habilitationsschriften als Paradigma.42 Eine Zwischenbilanz dieser breiten, oft in regionalen Zeitschriften versteckten Forschung hat Heide Wunder geliefert und ihre Einsichten bei der Rekonstruktion der regional sehr unterschiedlichen Erscheinungen und Entwicklungen in die These gebracht, in Deutschland ließe sich das Mittelalter beschreiben als eine Zeit der „Herrschaft mit Bauern", die Frühneuzeit als eine solche der „Herrschaft über Bauern" 4 3 Zwei stark abweichende Formen vom Baderschen Typus Dorf haben sich im Gebiet der ostdeutschen Gutsherrschaft und der schweizerischen Eidgenossenschaft ausgebildet, die eine knappe Würdigung verlangen, weil sie in aller Deutlichkeit klar machen, daß sich das Dorf gegen eine Subsumierung unter nationale Parameter sperrt. In einer verbissenen Debatte zwischen Hartmut Harnisch 44 und Lieselott Enders 45 ist klargeworden, daß die Schulzenverfassung der ostelbischen brandenburgischen Dörfer nicht eine mindere Form sonstiger deutscher Dorfverfassungen darstellt, sondern etwas qualitativ anderes. Es fehlt den Dörfern der genossenschaftliche Charakter, soweit er sich in Satzungen ausdrückt, es fehlt den Amtern der repräsentative Charakter, weil der Schulze das Amt vererbt, soweit er nicht überhaupt von der Herrschaft eingesetzt wird, und es gehen ihnen auch alle gerichtlichen Kompetenzen verloren. Das brandenburgische Dorf steht typologisch viel eher bei der hochmittelalterlichen Villikation. Unter der Leitung des Schulzen, der mit einem bevorrechtigten Hof ausgestattet ist, sorgt die Gemeinde gesamthaft dafür, daß Rechtsund Besitztitel der Herrschaft gewahrt und realisiert werden. Genau dieses Interesse verfolgte noch das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 in seinen Paragraphen über die Landgemeinde. Hingegen konnten die Landgemeinden in der Schweiz (allerdings handelt es sich nicht um Dörfer, sondern um Talschaften), wie Peter Bierbrauer, angeregt durch deutsche Forschungen, gezeigt hat, sukzessive Freiheiten erkaufen, die bis zur Allo41

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Michael Mitterauer, Pfarre und ländliche Gemeinde in den österreichischen Ländern. Historische Grundlagen eines aktuellen Raumordnungsproblems, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 109, 1973, 1-30; Hermann Grees, Ländliche Unterschichten und ländliche Siedlung in Ostschwaben, Tübingen 1975 [Im 16. Jahrhundert sind drei Viertel der Bevölkerung der Dörfer Unterschichten); Herbert Reyer, Die Dorfgemeinde im nördlichen Hessen. Untersuchungen zur hessischen Dorfverfassung im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, Marburg 1983; Ulrich Lange (Hg.), Landgemeinde und frühmoderner Staat. Beiträge zum Problem der gemeindlichen Selbstverwaltung in Dänemark, Schleswig-Holstein und Niedersachsen in der frühen Neuzeit, Sigmaringen 1988. Bemd Schildt, Bauer - Gemeinde - Nachbarschaft. Verfassung und Recht der Landgemeinde Thüringens in der frühen Neuzeit, Weimar 1996. Heide Wunder, Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland, Göttingen 1986. Hartmut Harnisch, Die Landgemeinde im ostelbischen Gebiet (mit Schwerpunkt Brandenburg), in: Peter Blickle (Hg.), Landgemeinde und Stadtgemeinde. Ein struktureller Vergleich, München 1991, 309-332 [der Beitrag verarbeitet die zahlreichen älteren Arbeiten des Autors]. Lieselott Enders, Die Landgemeinde in Brandenburg. Grundzüge ihrer Funktion und Wirkungsweise vom 13. bis zum 18. Jahrhundert, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 129, 1993, 195256.

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Peter Blickte difizierung der Güter und zur Aufhebung der Eigenschaft führen konnten, so daß auf diese Weise den Gemeinden große politische Gestaltungsräume offenstanden. 46 Nicht scharf von der Dorfforschung zu trennen ist die Weistumsforschung, obschon sie nicht Dorfverbände, sondern Hofverbände zum Ausgangspunkt hat. Eine alte, steckengebliebene Debatte wurde in der Mitte der siebziger Jahre wieder aufgenommen, 47 die Impulse einerseits einem Schülerkreis von Karl Siegfried Bader verdankte, 48 andererseits neuen Arbeiten im Saar-Mosel-Raum, 49 wo die Weistumsforschung schon wegen der dort reichlich überlieferten Formweistümer kontinuierlich gepflegt wurde. Zu Tage kam durch diese Arbeiten eine gewissermaßen horizontale Gewaltenteilung zwischen Gemeinde und Herrschaft: die alltäglichen Geschäfte von der freiwilligen Gerichtsbarkeit bis zur Aburteilung geringer strafrechtlicher Delikte bleiben im Dorf beziehungsweise im Hofverband, der Rest geht an die Herrschaft. Vergleichsweise spektakuläre Ergebnisse, die allerdings nicht in der zu erwartenden Weise rezipiert wurden, erbrachte eine Untersuchung über das Trierer Kloster St. Matthias, in dessen Grundherrschaft bis in Napoleonische Zeit nicht nur gewiesen, sondern auch gerügt wurde, was für die Vitalität des Weistumsrechts sprach. 50 Wieweit und in welchem Umfang der ländliche Raum mittelalterliches Recht bewahrt, wurde damit zu einer bis heute noch nicht umfassend beantworteten Frage. Wie dieses Recht zu bewerten sei, hat die magistrale Habilitationsschrift von Jürgen Weitzel gezeigt, der zwar nicht primär mit Weistümern arbeitet, aber mit Quellen, die Dinggenossenschaften erschließen. 51 Danach wäre das Recht in der Verfügung der im Ding versammelten Genossenschaft und deren Rechtsfeststellung unterworfen, der herrschaftliche Anteil an der Rechtspflege beschränkte sich auf den Schutz des Gerichts. Folglich läge die Interpretationshoheit über das Recht bei den Rechtsgenossen, und sei somit, wie Weitzel in pointierender Absicht sagt, „demokratisch". 52 Der Herrscherbefehl entwickelt sich erst in der Neuzeit mit der Verdrängung der Oralität des gewiesenen Rechts durch das geschriebene Gesetz. Diese Beobachtungen hat 46 47

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Peter Bierbrauer. Freiheit und Gemeinde im Bemer Oberland 1 3 0 0 - 1700, Bern 1991. Dieter Werkmüller, Über Aufkommen und Verbreitung der Weistiimer. Nach der Sammlung von Jacob Grimm, Berlin 1972; Ekkehard Seeber, Die Oldenburger Bauerbriefe. Untersuchungen zur bäuerlichen Selbstverwaltung in der Grafschaft Oldenburg von 1580 bis 1810, Oldenburg 1975. Die Forschung summierend und neue Problemfelder definierend: Peter Blickte (Hg.), Deutsche Ländliche Rechtsquellen. Probleme und Wege der Weistumsforschung, Stuttgart 1977; s. auch Gadi Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch, Frankfurt am Main/New York 1996. [Prüft Weistümer auf ihre Leistungsfähigkeit zur Kritik der herrschenden Verfassungsvorstellungen (Otto Brunner). Eine größere Arbeit des Autors über Weistümer ist in Vorbereitung.] Walter Müller, Die Offnungen der Fürstabtei St. Gallen. Ein Beitrag zur Weistumsforschung, St. Gallen 1964; Karl Heinz Burmeister, Die Vorarlberger Landsbräuche und ihr Standort in der Weistumsforschung, Zürich 1970. Marlene Nikolay-Panter, Entstehung und Entwicklung der Landgemeinden im Trierer Raum, Bonn 1976; Irmtraud Eder, Die saarländischen Weistümer - Dokumente der Territorialpolitik, Saarbrücken 1978; Sigrid Schmitt, Territorialstaat und Gemeinde im kurpfälzischen Oberamt Alzey. Stuttgart 1992. Rudolf Hinsberger, Die Weistümer des Klosters St. Matthias in Trier. Studien zur Entwicklung des ländlichen Rechts im frühmodemen Territorialstaat, Stuttgart/New York 1989. Jürgen Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht. Untersuchungen zum Rechtsverständnis im fränkisch-deutschen Mittelalter, 2 Teilbde., Köln/Wien 1985. Weitzel, Dinggenossenschaft, 143ff.

Deutsche Agrarie schichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts André Holenstein durch seine Untersuchung für die Dinge im ländlichen Raum bestätigen können, und zwar für das Spätmittelalter, ja gelegentlich sogar für die Frühneuzeit, und sie um die Einsicht erweitert, in den Hofverbänden seien Huldigungseide geschworen worden, eine der Weistumsforschung erstaunlicherweise entgangene Erkenntnis. 53 Holenstein hat die Huldigung überzeugend als „Verfassung in actu" 54 auf den Begriff gebracht und damit nicht nur die Elastizität des Verhältnisses Herren - Bauern beschrieben, sondern auch dessen Modellierfähigkeit durch die Untertanen. Damit erhalten die stark auf Herrschaft und Staat fixierten Interpretationen der deutschen Geschichte eine emstzunehmende Konkurrenz. Die Bauern in ihrem organisatorischen Gehäuse von Dorf und Gemeinde gewinnen in diesen jüngsten Arbeiten eine Bedeutung für Recht und Verfassung, die in der Deutschen Agrargeschichte nicht einmal zu erahnen war. Dörfer und Gemeinden beschränken ihre Aktivitäten nicht auf den Raum ihrer Siedlung, sondern greifen über ihn hinaus, beispielsweise durch ihre Repräsentation in Landtagen, wo sie wie in Tirol, Salzburg oder den vorderösterreichen Landen neben den Städten Sitz und Stimme haben. Von daher stellt sich die Frage nach der Parallelisierbarkeit von ländlicher und städtischer Gemeinde. Schon Karl Siegfried Bader hat gelegentlich auf Ähnlichkeiten aufmerksam gemacht, systematischere komparatistische Untersuchungen stehen allerdings noch aus. 55 Die Konzeptualisierung dieser Fragestellung unter dem Begriff Kommunalismus in den frühen achtziger Jahren 56 hat in der außerdeutschen Historiographie ein nachhaltigeres, vor allem positiveres Echo gefunden 57 als in Deutschland selbst. Mit der Agrargeschichte steht es insofern in Verbindung, als das Dorf mit seinen Institutionen (Gemeindeversammlung, Rat in Form der Vierer, Gericht und Ammann) und Normen (Auskömmlichkeit, Gemeinnutz, Friede) der Ausgangspunkt war und von dorther nach den Parallelen zur Stadt gefragt wurde.

2. Bauernkrieg und Widerstand Die allerorten bemerkbaren tastenden Versuche der in den sechziger Jahren heranwachsenden Historikergeneration, dem Historismus der unversitären Praxis zu entkommen und die eher unbewußt als bewußt wahrgenommene neue politische Kultur 53

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André Holenstein. Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800 1800). Stuttgart/New York 1991, 147ff. Holenstein, Huldigung, 505ff., bes. 509. Vgl. zur ersten Orientierung Peter Blickle (Hg.), Landgemeinde und Stadtgemeinde. Ein struktureller Vergleich, München 1991 [besonders die Beiträge von Karlheinz Blaschke, Rudolf Endres und Sergij Vilfan). Peter Blickle, Deutsche Untertanen. Ein Widerspruch, München 1981, 23-60. Stärker auf den Begriff hin argumentierend: Ders., Der Kommunalismus als Gestaltungsprinzip zwischen Mittelalter und Moderne, in: Nicolai Bemard/Quirinus Reichen (Hg.), Gesellschaft und Gesellschaften. Festschrift Ulrich Im Hof. Bern 1982, 95-113. Zuerst aufgenommen von Thomas A. Brady, Jr., Turning Swiss. Cities and Empire, 1450 - 1550, Cambridge/London/New York 1985 [vgl. Indexbelege communalism]. Für Skandinavien Steinar Imsen, Norsk bondekommunalisme, 2 Teile, Trondheim 1990 - 1994. Dazu zuletzt Bob Scribner,

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Peter Blickle der Bundesrepublik heuristisch zu nutzen, hat schließlich ein Forschungsfeld geschaffen, das, retrospektiv betrachtet, die vielleicht entscheidendsten Korrekturen im Bild der frühneuzeitlichen Geschichte Deutschlands erbracht hat. Zu einem der prominentesten Gegenstände der deutschen Geschichte wurde in der Mitte der siebziger Jahre der Bauernkrieg von 1525. Die Historiographie und die geschichtstheoretische Einordnung dieses Phänomens steht noch aus. Nachdem Günther Franz in den frühen dreißiger Jahren die für Jahrzehnte verbindliche Interpretation dieses hochkomplexen Ereignisses geliefert hatte 58 - zweifellos eines der großen Werke der deutschen Historiographie, methodisch durch die ausschließliche Abstützung auf die bäuerlichen Beschwerden und darstellerisch durch die gelungene Verknüpfung narrativer und reflexiver Teile - , eröffneten nicht zufallig zwei Arbeiten die Diskussion neu, die von gänzlich anderen Ansätzen ausgingen. Horst Buszello hatte, ob bewußt oder unbewußt läßt seine Darstellung offen, eine an Fragen des modernen Parlamentarismus orientierte Interpretation des Bauernkriegs mit der These vorgelegt, in vielen Aufstandsgebieten hätten die Ziele der Bauern darin bestanden, in die territorialen Ständeversammlungen mit Repräsentanten einzuziehen.59 Die Arbeit ist erschienen, als in Deutschland die ständegeschichtliche Forschung einen Höhepunkt erreicht hatte, die so in keinem anderen europäischen Land, Österreich ausgenommen, zu verzeichnen ist.60 David W. Sabean hat die Ursachen an einer oberschwäbischen Klosterherrschaft (Weingarten) eingehend untersucht und aus seinen Ergebnissen geschlossen, der Bauernkrieg sei ein nach außen gestülpter, nicht zuletzt demographisch bedingter ökonomischer Verteilungskampf innerhalb des Dorfes (entwickelt wird ein DreiKlassen-Schema) gewesen.61 Heute erkennt man leicht den materialistisch-malthusianischen Ansatz dieser Arbeit, okuliert mit dem Abelschen Agrarkrisenparadigma. Beides konnte naheliegenderweise die politischen Forderungen nicht erklären, die sich bei Sabean auf Abgrenzungsstrategien der Gemeinden gegen herrschaftliche Eingriffe in deren Ressourcen beschränken. Auf diese Beobachtung hat Sabean später seine breit rezipierte These vom gemeindebasierten bäuerlichen Widerstand in Europa gegründet.62 Ein zweiter ökonomischer Interpretationsansatz, den Bauern-

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Communalism, in: The Oxford Encyclopedia of the Reformation, 1. Bd., New York/Oxford 1996, 388f. sowie Ders., Communities and the Nature of Power, in: Ders. (Hg.), Germany. A New Social and Economic History, 1. Bd., London/New York/Sydney 1996, 291-325. Franz, Bauernkrieg. Mit relativ kleinen Auflagen [Auskunft Günther Franz] hat der Verlag das Buch nach dem Krieg auf stattliche 12 Auflagen hinaufgetrieben. Horst Buszello, Der deutsche Bauernkrieg von 1525 als politische Bewegung. Mit besonderer Berücksichtigung der anonymen Flugschrift An die Versamlung gemayner Pawerschaft, Berlin 1969, 133-143. Für territorial zersplitterte Gebiete nimmt Buszello als Programm eine Art bündisches (eidgenössisches) Modell in Anspruch. P. Blickle, Gierke. David W. Sabean, Landbesitz und Gesellschaft am Vorabend des Bauernkriegs. Eine Studie zu den sozialen Verhältnissen im südlichen Oberschwaben in den Jahren vor 1525, Stuttgart 1972. Kompetent setzt sich damit auseinander Burkhard Asmuss, Das Einkommen der Bauern in der Herrschaft Kronburg im frühen 16. Jahrhundert. Probleme der Berechnung landwirtschaftlicher Erträge, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 43, 1980, 45-91. David W. Sabean, The communal basis of pre-1800 peasant uprisings in Western Europe, in: Comparative Politics 1976, 355-364; Deutsche Übersetzung in: Winfried Schulze (Hg.), Europäische Bauemrevolten der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1982, 191-205.

Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts krieg aus der zunehmenden Spezialisierung und damit Krisenanfälligkeit der Landwirtschaft zu erklären (als auffällig wurde die weitgehende Übereinstimmung von Weinbauregionen und Aufstandsregionen bezeichnet) hat die verdiente Resonanz verfehlt. 63 Territorial weiter ausgreifende Untersuchungen, die sich aus neueren Forschungen hinsichtlich der spätmittelalterlichen Politisierung von Bauern ergeben hatten und methodisch der Landesgeschichte geschuldet waren, 64 führten schließlich dazu, den Bauernkrieg in eine Revolution des gemeinen Mannes umzuinterpretieren. 65 Mit dem zeitgenössischen Begriff Gemeiner Mann wurde die nachweisbare Beteiligung und Involvierung von Bürgern der Landstädte und Reichsstädte, sowie von Bergknappen abgebildet, mit Revolution die den bäuerlichen Zusammenschlüssen (Christliche Vereinigungen) und Programmen inhärente politische Theorie einer gemeindlichen Repräsentation in republikanisch oder ständisch konzipierten politischen Verbänden. 66 Eine Hayden White akklamierende Historikergeneration sollte sich daran machen, dieses Drama zu dekonstruieren und als Komödie neu aufzuführen, um dem Gegenstand das anhaltende Publikumsinteresse, das er verdient, zu sichern. Die Agrargeschichte im engeren Sinn hat von der Bauernkriegsforschung vor allem dadurch profitiert, daß der Leibeigenenstatus, der durch die Freiheitsforderung generell in Frage gestellte feudale Rechtstitel, 67 und die Belastung der Landwirtschaft durch die neu aufkommenden territorialen Steuern genauer untersucht wurden. 68 Von weiterreichender Bedeutung war freilich, daß deutsche Bauern jetzt einen politischen Status gewannen, eine Interpretation, die rasch international aufgenommen wurde. Das wiederum lag freilich nicht in prinzipiell neuen Studien mit Archivalien begründet, sondern ist dem Umstand zu verdanken, daß der Bauernkrieg mit der Reformation von der marxistischen Geschichtswissenschaft in der Deutschen Demokratischen Republik zum Konzept der Frühbürgerlichen Revolution ausgebaut wurde. 69 Mit dem Anspruch, der Frühbürgerlichen Revolution legitimatorische Funktion für den sozialistischen Staat in Deutschland zuzuschreiben (nicht anders wie der Hussitischen Revolution in der Tschechoslowakei), wurde der Problemkomplex Bauernkrieg in die ideologische Grundsatzdebatte zwischen West und Ost in63

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Franz Irsigler. Zu den wirtschaftlichen Ursachen des Bauernkriegs, in: Kurt Loscher (Hg.), Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Vorträge zur Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg 1983, Schweinfurt o.J., 95-120. Peter Blickle, Landschaften im Alten Reich. Die staatliche Funktion des gemeinen Mannes, München 1973. Peter Blickle, Die Revolution von 1525 [1975], 3. Aufl., München 1993. Die Interpretation wird in Grundzügen auch übernommen in den systematischen Kapiteln in: Horst Buszello/Peter Blickle/Rudolf Endres (Hg.), Der deutsche Bauernkrieg [1984], 3. Aufl., Paderborn 1995. Claudia Ulbrich, Leibherrschaft am Oberrhein im Spätmittelalter, Göttingen 1977; vorgängig Peter Blickle, Agrarkrise und Leibeigenschaft im spätmittelalterlichen deutschen Südwesten [1975], in: Ders., Studien zur geschichtlichen Bedeutung des deutschen Bauernstandes, Stuttgart/New York 1989, 19-35. Rudolf Endres, Der Bauernkieg in Franken, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 109, 1973, 31-68. Der theoretisch führende Kopf bei der Herstellung dieses Modells war m. E. Günter Vogler. Dazu Günter Vogler, Marx, Engels und die Konzeption einer ftühbürgerlichen Revolution in Deutschland, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 17, 1969, 704-717.

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Peter Blickte volviert. Neben dem Nationalsozialismus hatte die deutsche Geschichte plötzlich einen zweiten Gegenstand von internationalem Interesse vorzuweisen. Nicht zuletzt ihm verdankt sie ihre Rückkehr in die internationalen Diskussionszirkel der Geschichtswissenschaft. Für die Geschichte des Bauern zeitigte die Beschäftigung mit dem Bauernkrieg allerdings noch einen Nebeneffekt. Zum politischen Bauern trat der religiöse. Die katalytische Funktion der Reformation für die Radikalität des Bauernkriegs war nie bestritten worden. Herkömmlicherweise wird der Anteil Religion im Bauernkrieg auf einen mißverstandenen Luther reduziert. Dagegen hatte auch das Modell der Volksreformation von Mosej Mendeljewitsch Smirin, das die Theologie Thomas Müntzers als theoretische Verarbeitung der bäuerlichen und plebejischen Forderungen und Hoffnungen interpretierte, 70 keine Chance. Sobald man jedoch die politischen Forderungen der Bauern ernst nahm, mußte man auch ihre religiösen ernst nehmen. Pfarrerwahl durch die Gemeinde gehörte zu den prominentesten und verbreitetsten, und ihr nachgehend 71 erschloß sich ein unbekannter Reichtum an Niederpfründstiftungen durch bäuerliche Nachbarschaften und politische Gemeinden, 72 so daß zu Beginn der Reformation neben der kirchenrechtlich geschützten Pfarreiorganisation ein üppiges und kompliziertes System von Kapellen und Pfründen bestand. Es folgte der gänzlich anderen Logik des Stiftungsrechts, was den Gläubigen erlaubte, eine Kirche nach ihren Interessen und Bedürfnissen aufzubauen. 73 Die Pfarrerwahlforderung in den 1520er Jahren erwies sich damit als Generalisierung und Radikalisierung einer bereits eingeleiteten Praxis. In der zeitlichen Abfolge reiht sich hinter der Bauernkriegsforschung die Widerstandsforschung ein. 74 Allerdings gab es für sie in Europa ein günstiges Klima, seitdem zur Interpretation der Französischen Revolution auch bäuerliche Aufstände erklärend herangezogen wurden. Schließlich wirkte stimulierend die zunehmende Auseinandersetzung mit der marxistischen Geschichtstheorie, für die Klassenkampf jeder Art, auch in den sogenannten niederen Formen, einen prominenten Forschungsgegenstand darstellte. 75 Forschungspraktisch gesehen lagen die Dinge we70

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Moisej Mendeljewitsch Smirin, Die Volksreformation des Thomas Münzer (sie!) und der große Bauernkrieg, 2. Aufl., Berlin 1956. Franziska Conrad, Reformation in der bäuerlichen Gesellschaft. Zur Rezeption reformatorischer Theologie im Elsaß, Stuttgart 1984; Peter Blickle, Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, München 1985; Ders. (Hg.), Zugänge zur bäuerlichen Reformation, Zürich 1987 [dort besonders die Beiträge von Peter Bierbrauer, Hans von Rütte und Rudolf Endres]. In chronologischer Reihung: Hans von Rütte (Redaktion), Bäuerliche Frömmigkeit und kommunale Reformation, Bern 1988 [dort besonders die Beiträge von Peter Bierbrauer und Hans von Rütte]; Rosi Fuhrmann, Dorfgemeinde und Pfründstiftung vor der Reformation. Kommunale Selbstbestimmungschancen zwischen Religion und Recht, in: Peter Blickle/Johannes Kunisch (Hg.), Kommunalisierung und Christianisierung. Voraussetzungen und Folgen der Reformation 1400 - 1600, Berlin 1989, 29-55; Peter Bierbrauer, Die unterdrückte Reformation. Der Kampf der Tiroler um eine neue Kirche (1521 - 1527), Zürich 1993; Immacolata Saulle Hippenmeyer, Nachbarschaft, Pfarrei und Gemeinde in Graubünden, 2 Bde., Chur 1997. Hinsichtlich der analytischen Durchdringung der Probleme ist hervorzuheben Rosi Fuhrmann, Kirche und Dorf. Religiöse Bedürfnisse und kirchliche Stiftung auf dem Lande vor der Reformation, Stuttgart/Jena/New York 1995. Eine bemerkenswerte Zahl von Arbeiten erschien um 1980. Vgl. besonders Helga Schultz, Bäuerliche Klassenkämpfe zwischen frühbürgerlicher Revolution und dreißigjährigem Krieg, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 20, 1972, 156-173; Dies.,

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niger kompliziert, die Historischen Institute der Universitäten Bochum und Saarbrücken verbanden sich zu einer temporären Zusammenarbeit. Das Ergebnis waren grundlegend neue Erkenntnisse aufgrund archivischer Arbeiten. Überraschend war zunächst das Ausmaß von Unruhen, Erhebungen, Revolten in der Zeit zwischen Bauernkrieg und Bauernbefreiung, vor allem in solchen Regionen, von denen man im buchstäblichen Sinn nichts wußte. Hessen, 76 Bayern 77 und der Niederrhein 78 gehörten zu diesen Landschaften. Die Auseinandersetzungen zwischen den Bauern und ihren Herren wurden unter dem heute merkwürdig klingenden Begriff Widerstand rubriziert, ein Wort, das weder in der französischen noch der englischen Forschung heimisch war, und vermutlich von der zeitgenössischen politischen Rhetorik in der Bundesrepublik geborgt war. Dahinter freilich verbarg sich mehr, die Einschätzung nämlich, Bauern reagierten auf Anforderungen von oben, auf solche feudaler Herrschaft, um die zeitgenössische korrelative Wendung zu Widerstand zu gebrauchen. Bereits die frühen Untersuchungen haben mit diesem Vorurteil aufgeräumt, 79 und zumindest im Bereich des personalen Statusrechts ist es gelungen zu zeigen, daß die allmähliche Verdrängung der Leibeigenschaft dem Umstand zu danken ist, daß die Bauern sie zielstrebig bekämpften. 80 Dieses Einzelbeispiel läßt sich bis jetzt lediglich regional in dem Sinne generalisieren, daß die Arbeiten von Renate Blickle auf mehreren Ebenen die Prägekraft bäuerlichen Widerstandes für das Herzogtum Bayern aufgezeigt haben: die Hausnotdurft als Norm des Landrechts, der Summarische Prozeß als extrajudiziales Verfahren und der Hofrat als oberste Behörde sind in Wechselwirkung mit den politischen Aktionen der Bauern entwickelt worden. 81 Eine überregional kon-

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Bäuerliche Klassenkämpfe und „Zweite Leibeigenschaft", in: Der Bauer im Klassenkampf, Berlin 1975, 391-404; Günter Vogler, Probleme des bäuerlichen Klassenkampfes in der Mark Brandenburg im Spätfeudalismus, in: Acta Universitatis Carolinae. Studia histórica 11, 1974, 75-94. Werner Troßbach, Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien, Weingarten 1987; Ders., Bauernbewegungen im Wetterau-Vogelsberg-Gebiet 16481806. Fallstudien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, Darnistadt/Marburg 1985. Renate Blickle, „Spenn und Irrung" im „Eigen" Rottenbuch. Die Auseinandersetzungen zwischen Bauernschaft und Herrschaft des Augustiner-Chorherrenstifts, in: Peter Blickle (Hg.), Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, München 1980, 69-145; Dies., Die Haager Bauemversammlung des Jahres 1596. Bäuerliches Protesthandeln in Bayern, in: Peter Blickle (Hg.), Bauer, Reich und Reformation. Festschrift für Günther Franz zum 80. Geburtstag, Stuttgart 1982. 43-73. Helmut Gabel, Widerstand und Kooperation. Studien zur politischen Kultur rheinländischer und maasländischer Kleinterritorien (1648-1794), Tübingen 1995. Winfried Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1980 und sein Sammelband, Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa, Stuttgart 1983, sowie Claudia Ulbrich, Bäuerlicher Widerstand in Triberg, in: P. Blickle, Aufruhr, 146-214. Zuerst Ulbrich, Leibherrschaft, zuletzt Renate Blickle, Appetitus Libertatis. A Social Historical Approach to the Development of the Earliest Human Rights: The Example of Bavaria, in: Wolfgang Schmale (Hg.), Human Rights and Cultural Diversity, Goldbach 1993, 143-162; Dies., Leibeigenschaft. Versuch über Zeitgenossenschaft in Wissenschaft und Wirklichkeit, durchgeführt am Beispiel Altbayerns, in: Jan Peters (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell, München 1995, 53-79. Renate Blickle, Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns, in: Günter Birtsch (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1987, 42-64; Dies., Laufen gen Hof. Die Beschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern, in: Peter Blickle (Hg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa, München 1997. 241-266.

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Peter Blickte sensfähige Verständigung darüber, was Unruhen auslöst, ist bis heute nicht erzielt und dementsprechend eine plausible Typologie auch kaum entwickelt worden. Das freilich gilt nicht minder auch für die anderen europäischen Länder. Eindeutiger sind hingegen die Urteile auf der Handlungsebene. Winfried Schulze hat schon 1975 die These von der „Verrechtlichung sozialer Konflikte" formuliert82 und sich mit ihr namentlich in Deutschland, aber auch darüber hinaus glänzend durchgesetzt. Sie besagt, der Bauernkrieg von 1525 habe die Obrigkeiten veranlaßt, die rechtlichen Möglichkeiten der Interessenvertretung durch Bauern sowohl an den Reichsgerichten als auch an den territorialen Gerichten zu verbessern. Empirische Belegstücke für diese These sind als Bochumer Dissertationen gefertigt worden. Sie haben, einsetzend mit der Pionierarbeit von Werner Troßbach, vornehmlich am Reichshofrat und Reichskammergericht83 zahllose Prozesse nachgewiesen, die von Untertanenschaften, Gemeinden und bäuerlichen Syndikaten eingebracht wurden. Konkurrierende Interpretationen, die eine hohe Kontinuität sowohl der Konfliktformen, als auch der Konfliktlösungen vom ausgehenden Hochmittelalter bis zum Ende des Alten Reiches vertraten,84 blieben bislang deutlich im Schatten der Verrechtlichungsthese. Teils im Sog dieser Forschung,85 teils unabhängig von ihr,86 sind vor allem in der Schweiz, wo eine ungebrochene Kontinuität der Volkskunde die Erforschung bäuerlichen Handelns erleichterte, viele Arbeiten geschrieben worden,87 die zuletzt auf die These zugespitzt wurden, die Bauern hätten durch häufiges Protestieren und schließlich Krieg (1653) eine Verfassung in den schweizerischen Stadtstaaten (BenC Luzern) durchgesetzt, die man paternalistisch nennen müsse.88 Für Deutschland wurde am Beispiel hessischer Dörfer die Auffassung vertreten, der Widerstand habe eine Solidarität zwischen Bauern und Landarmen gestiftet, die als Gemeindeprotest 82

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Vgl. Winfried Schulze, Die veränderte Bedeutung sozialer Konflikte im 16. und 17. Jahrhundert, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Der Deutsche Bauernkrieg 1524 - 1526, Göttingen 1975, 277-302. Troßbach, Soziale Bewegung; Gabel, Widerstand. In den weiteren Zusammenhang dieser Forschungen gehört auch Wolfgang Schmale, Bäuerlicher Widerstand, Gerichte und Rechtsentwicklung in Frankreich. Untersuchungen zu Prozessen zwischen Bauern und Seigneurs vor dem Parlament von Paris (16. - 18. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1986. Peter Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300 - 1800, München 1988. Hartmut Zückert, Die sozialen Grundlagen der Barockkultur in Süddeutschland, Stuttgart/New York 1988; Wemer Troßbach, Der Schatten der Aufklärung. Bauern, Bürger und Illuminaten in der Grafschaft Wied-Neuwied, Fulda 1991. Georg Griill, Bauer, Herr und Landesfürst. Sozialrevolutionäre Bestrebungen der oberösterreichischen Bauern von 1650 bis 1848, Graz/Köln 1963 [unberechtigterweise wenig beachtet]; Hermann Rebel, Peasant Classes. The Bureaucratization of Property and Family Relations under Early Habsburg Absolutism 1511 - 1636, Princeton/New Jersey 1983; Edwin Ernst Weber, Städtische Herrschaft und bäuerliche Untertanen im Alltag und Konflikt: Die Reichsstadt Rottweil und ihre Landschaft vom 30jährigen Krieg bis zur Mediatisierung, 2 Teile, Rottweil 1992; David Martin Luebke, His Majesty's Rebeis. Communities, Factions, and Rural Revolt in the Black Forest. 1725 - 1745, Ithaca/London 1997. Andreas Suter, „Troublen" im Fürstbistum Basel (1716 - 1740). Eine Fallstudie zum bäuerlichen Widerstand im 18. Jahrhundert, Göttingen 1985; Martin Merki-Vollenweyder, Unruhige Untertanen. Die Rebellion der Luzemer Bauern im Zweiten Villmergerkrieg (1712), Luzem/Stuttgart 1995; Nikiaus Landolt, Untertanenrevolten und Widerstand auf der Basler Landschaft im 16. und 17. Jahrhundert, Liestal 1996. Andreas Suter, Der Schweizerische Bauernkrieg von 1653. Politische Sozialgeschichte - Sozialgeschichte eines politischen Ereignisses, Tübingen 1997.

Deutsche Agrarge schichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit vorwiegend antietatistischer Stoßrichtung weit ins 19. Jahrhundert hinein politisch wirksam gewesen sei. 89 Die Widerstandsforschung hat darunter gelitten, zumindest solange Geschichte unter modernisierungstheoretischen Parametern interpretiert werden sollte, daß ihre Ergebnisse 90 nicht an die Entwicklung des 19. Jahrhunderts angeschlossen werden konnten. Zwar verdankt man Schulze die Hypothese, die Entstehung der Menschenrechte wurzele auch im bäuerlichen Widerstand,91 doch erst die in das 19. Jahrhundert hinausgebaute Arbeit von Andreas Würgler stellt einen ersten wirklichen Schlußstein zwischen den konstitutionellen Staaten des Vormärz und der ihr eigenen Öffentlichkeit und den bäuerlich-bürgerlichen Revoltenfordemngen des 18. Jahrhunderts her, die nicht nur die Respektierung alter, oft ins Spätmittelalter zurückreichender Stadt- und Landrechte als verfassungsgemäß verlangten, sondern auch das Publikum über Flugschriften und Presse gezielt über ihre Absichten informierten. 92 Die Widerstandsforschung verdankt ihre Ergebnisse in höherem Maße der Archivarbeit als die Dorf- und Gemeindeforschung. Übertroffen durch eine theoretische Durchdringung ihrer Stoffe wird sie allerdings von den Forschungsdebatten, die zunächst unter dem Kürzel Protoindustrialisierung geführt wurden.

3. Protoindustrialisierung und Modernisierung der Landwirtschaft Der Prozeß der Entkolonialisierung, verbunden mit den Bemühungen, die Länder der Dritten Welt, wie man noch in den siebziger Jahren sagen konnte, durch eine rasche Industrialisierung westlichen Standards anzunähern, haben der Geschichte der Industrialisierung in der Forschung der Nachkriegszeit einen prominenten Platz gesichert. Die praktischen Erfahrungen der Entwicklungshilfe, daß eine Industrialisierung ex nihilo auch zu nichts führe, sind der europäischen Agrargeschichte insofern zugute gekommen, als jetzt die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Industrielle Revolution in einer vorgeschalteten Agrarischen Revolution gesucht und gefunden wurden. In Deutschland kreuzte sich diese Forschungsrichtung, die wegen des erforderlichen Sachverstandes zunächst im Umfeld wirtschaftsgeschichtlicher Lehrstühle betrieben wurde, mit dem Interesse an den grundsätzlichen Wandlungen auch im gesellschaftlichen und normativen Bereich (Stichwort Sattelzeit) und vermeintlichen Abweichungen der deutschen Geschichte von der westeuropäischen (Markenzeichen Sonderweg). In solchen Zusammenhängen sind zunächst Arbeiten entstanden, die der Bauernbefreiung galten. Die Frage, wohin die enormen Ablösungssummen gingen, die den 89

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Robert von Friedeburg, Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit. Gemeindeprotest und politische Mobilisierung im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 1997. Vgl. P. Blickle, Unruhen [dort auch eine ausführliche Bibliographie bis 1988]. Die zeitlich später liegende Forschung verzeichnet Holenstein, Bauern, 103-112. Winfried Schulze, Der bäuerliche Widerstand und die ,.Rechte der Menschheit", in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte, 41-56. Andreas Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995.

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Peter Blickle Standesherren zuflössen, ließ sich dahingehend beantworten, daß sie für die Industrialisierung nichts bedeuteten. 93 Auf der anderen Seite änderte sich auch die Lage der Bauern offenbar wenig. 94 Aus einem systematischer konzipierten Vorhaben, entwickelt in Werner Conzes Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte, die Bauernbefreiung für alle Staaten des Deutschen Bundes darstellen zu lassen, ist insofern wenig geworden, als allein das Königreich Württemberg seinen Bearbeiter in Wolfgang von Hippel gefunden hat. 95 Auch er befragt die Bauernbefreiung auf ihre Bedeutung für die Industrialisierung und kommt zu der Erkenntnis, daß sie gering war. 96 Der bleibende Wert der Arbeit liegt indessen in der minutiösen Darstellung des politischen und administrativen Prozesses der Bauernbefreiung selbst und der breiten, ins 16. Jahrhundert zurückreichenden Darstellung der agrarischen Ordnung, soweit sie durch die Reformen geändert werden sollte. Folglich stehen Grundherrschaft (Eigentum) und Leibherrschaft (Freiheit) im Vordergrund. Für keine zweite Region der Grundherrschaft gibt es eine vergleichbar gelehrsame und empirisch reiche Untersuchung. Seitdem verbietet es sich, die Bauernbefreiung in Deutschland allein über Georg Friedrich Knapp 97 wahrzunehmen und die preußische Lösung zum deutschen Paradigma zu machen. Der Differenzierung dienlich waren auch Arbeiten, die unterschiedlichen Formen der Modernisierung der Landwirtschaft im 18. Jahrhundert nachspürten. 98 Dem Stichwortgeber Industrialisierung verdankt man einen zweiten agrargeschichtlich relevanten Forschungsbereich, die Ende der siebziger Jahre lebhaft diskutierte Protoindustrialisierung. Ihr hatten sich, jüngere Anregungen aus Belgien 99 und ältere Forschungen aus der Schweiz aufnehmend, 100 Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen angenommen und den ländlichen Raum punktuell unter dem Gesichtspunkt der nicht-landwirtschaftlichen Produktion unter-

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Harald Winkel, Die Ablösungskapitalien aus der Bauernbefreiung in West- und Süddeutschland. Höhe und Verwendung bei Standes- und Grundherren, Stuttgart 1968. Schremmer, Bauernbefreiung. Wolfgang von Hippel, Die Bauernbefreiung im Königreich Württemberg, 2 Bde., Boppard am Rhein 1977. Heute eine verbreitete Überzeugung in der Forschung. Vgl. etwa Toni Pierenkemper (Hg.), Landwirtschaft und industrielle Entwicklung. Zur ökonomischen Bedeutung von Bauernbefreiung, Agrarreform und Agrarrevolution, Stuttgart 1989. Georg Friedrich Knapp, Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Teilen Preußens, 2 Bde., Leipzig 1887. Wolfgang Prange, Die Anfänge der großen Agrarreformen in Schleswig-Holstein bis 1771, Neumünster 1971; Stefan Brakensiek, Agrarreform und ländliche Gesellschaft. Die Privatisierung der Marken in Nordwestdeutschland 1750 - 1850, Paderborn 1991. Wie landwirtschaftliche Kenntnisse vermittelt und umgesetzt wurden, untersucht Otto Ulbricht, Englische Landwirtschaft in Kurhannover in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Berlin 1980 [die Bedeutung Albrecht Daniel Thaers heraushebend); Reiner Prass, Reformprogramm und bäuerliche Interessen. Die Auflösung der traditionellen Gemeindeökonomie im südlichen Niedersachsen, 1750 - 1883, Göttingen 1997. Franklin F. Mendels, Industrialization and population pressure in eighteenth-century Flanders [Phil. Diss. Wisconsin 1969J, New York 1981 [von dort der Begriff Proto-lndustrialisierung übernommen]. Rudolf Braun, Industrialisierung und Volksleben. Die Veränderung der Lebensformen in einem ländlichen Industriegebiet vor 1800, Zürich/Stuttgart 1960; Ders., Sozialer und kultureller Wandel in einem ländlichen Industriegebiet im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich/Stuttgart 1965.

Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sucht, 101 sachlich Agrargeschichte und Gewerbegeschichte, Demographie, Haushalts- und Familienforschung zusammenführend. 102 Die mit dem Begriff unterstellte Kontinuität von der Proto-Industrialisierung zur Industrialisierung hat sich nicht bestätigt. Ein generalisierbarer Verlaufstypus für den Übergang proto-industrieller Regionen in die Moderne ließ sich nicht entwickeln. Nach einer knapp zwanzigjährigen Inkubationszeit sind daraus schließlich gewaltige, auf einen Ort bezogene Monographien entstanden, die heute in Deutschland zu den wesentlichen empirischen Stützen für die geschichtstheoretischen Debatten über Historische Anthropologie und Mikrohistorie gehören. Unter beispiellos günstigen Bedingungen, die keine Universität in Deutschland bieten kann, durften hier Arbeiten reifen, die in allen ihren Entwicklungsstadien dank der Ressourcen des Göttinger Hauses mit internationaler Besetzung diskutiert und unter einem geschickten wissenschaftsstrategischen Design als methodologische Prototypen auf den Markt gebracht wurden. Förderlich für die Agargeschichte war die immer besonders enge, semi-institutionelle Kooperation von Hans Medick mit David W. Sabean. Sabean hatte eine andere wissenschaftliche Sozialisation erfahren, er war stark von der amerikanischen Ethnologie und Anthropologie, auch von der Annales-Schule geprägt. Er verstand (und versteht) etwas von Bauern und Landwirtschaft, 103 Medick etwas von Theorien. 104 Lange galt Neckarhausen als das deutsche Montaillou, 105 allerdings saß das Publikum mehr als ein Jahrzehnt vor verschlossenem Vorhang, bis er endlich 1990 hochgezogen wurde, 106 freilich nur um den ersten Akt des Stückes aufzuführen, für den zweiten und den dritten werden die Kulissen noch zurechtgerückt. Sabean rekonstruiert ein kompliziertes Netzwerk von verwandtschaftlichen Beziehungen, die durch Besitzübertragung und Erbschaften vermittelt, gestärkt oder geschwächt werden. Ehen müssen soziale und ökonomische Beziehungen stiften, die es erlauben, ein Leben zu überdauern. Mittels der Verfügung über Boden sichern sich Eltern, Onkel und Tanten die Loyalität ihrer Kinder, Neffen und Nichten, die sich in Arbeiten, Dienstleistungen, Freundlichkeiten ausdrücken müssen und erziehen sie so zu einem von der dörflichen Gesellschaft akzeptierten Verhalten. Die geschichtstheoretischen Debatten der letzten zwei Jahrzehnte und ihre methodischen Implikationen haben in diesem Werk tiefe Spuren hinterlassen, etwa die konfessionsähnliche 101

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Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm, Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1977. Vgl. zur Historiographie des Konzepts zuletzt Jürgen Schlumbohm, „Proto"-Industrialisierung als forschungsstrategisches Konzept und als Epochenbegriff - eine Zwischenbilanz, in: Markus Cerman/Sheilagh C. Ogilvie (Hg.), Proto-Industrialisierung in Europa, Wien 1994, 23-33. - Für einen kritischeren Umgang und eine Relativierung der Autointerpretationen vgl. Wolfgang Mager, Protoindustrialisierung und Protoindustrie. Vom Nutzen und Nachteil zweier Konzepte, in: Geschichte und Gesellschaft 14, 1988, 275-303, und die rhetorisch aufwendige Replik von Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm, Sozialgeschichte in der Erweiterung - Proto-Industrialisierung in der Verengung?, in: Geschichte und Gesellschaft 18, 1992, 70-87, 231-255.

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Sabean, Landbesitz. Hans Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith, 2. Aufl., Göttingen 1981. 105 ßavid w . Sabean, Power in the Blood. Populär Culture and Village Discourse in Early Modern Germany, Cambridge 1984 [Indexbelege Neckarhausen]. 106 Davjd w . Sabean, Property, Production, and Family in Neckarhausen, 1700 - 1870, Cambridge 1990. 104

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Peter Blickte Überzeugung, den historischen Prozeß diktierten Ökonomie und Demographie, was entsprechend zeitlich aufwendige Familienrekonstitutionen, einschließlich der Zuordnung des Besitzes zu Personen in Form aggregierter Daten 1 0 7 erforderte. Sabean gehört zu den Pionieren unter den Quantifizierern in der Geschichtswissenschaft, die ihm nachrückende Generation hat es dank besserer Programme und eingeschliffener Routine erheblich leichter. 108 Neckarhausen ist längst kein Solitär mehr. In rascher Folge sind ähnlich angelegte Arbeiten erschienen, über Unterfinning, 109 Belm 110 und Laichingen. 111 Gemeinsam ist ihnen die Öffnung des Blicks auf das alltägliche Leben, die Reindividualisierung von Möglichkeiten und Grenzen einer Generation im Rahmen der vorgegebenen Wirtschafts- und Herrschaftsverhältnisse, bezogen auf die, wie man mangels eines besseren Begriffs unter Historischen Anthropologinnen und Historischen Anthropologen gerne sagt, einfachen Leute.112 Der historische Prozeß soll von den Individuen in ihren gesellschaftlichen Netzwerken her verständlich gemacht werden. Sie werden lokal abgegrenzt, auf das Dorf, und so gewinnt die Mikrohistorie ihren Bezugsrahmen. „The local is interesting precisely because it offers a locus for observing relations." 113 Das ist eine Radikalisierung der älteren Landesgeschichte, für die der kleine Raum das Arbeitsfeld war. 114 Das Credo der Mikrohistorie, man untersuche nicht Dörfer, sondern in Dörfern, war auch das der Landesgeschichte, selbstredend untersuchte sie nicht nur Länder, sondern auch in Ländern. Die Ergebnisse der mikrohistorischen Analyse sind widerständisch gegenüber den Interpretationen der Makrohistorie, aber auf Geschichte als gestaltetes Kontinuum will auch sie hinaus; was früheren Generationen die großen Persönlichkeiten und sittlichen Mächte waren, sind ihr die kleinen Leute und deren soziale Logik des Handelns. Darin drückt sich eine hohe Achtung vor dem Menschen aus und eine neue Art von Humanität. Wenn man von Architekten in Berlin verlangt, demokratisch zu bauen, so haben die Historiker in Göttingen und Los Angeles eine solche 107

Das Problem, sie mit den herkömmlichen Mitteln (Archiv) nicht mehr überprüfen zu können, stellt sich mit einiger Dringlichkeit. Denkbar wäre als Lösung, die Rohdaten auf Disketten den Arbeiten beizugeben. Ansonsten ist wissenschaftlicher Vandalismus wohl kaum zu verhindern. 108 Yg| Andreas Maisch, Notdürftiger Unterhalt und gehörige Schranken. Lebensbedingungen und Lebensstile in württembergischen Dorfern der frühen Neuzeit, Stuttgart/Jena/New York 1992 [bearbeitet drei Dörfer], 109 Rainer Beck, Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne, München 1993. 110 Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650 - 1860, Göttingen 1994. 111 Hans Medick, Weben und Uberleben in Laichingen 1650 - 1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte, Göttingen 1996. 112 So vor allem das Vokabular von Richard van Dülmen und seiner Schule. Vgl. Richard van Dülmen (Hg.), Kultur der einfachen Leute. Bayerisches Volksleben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, München 1983. Zu Beck, Sabean und Schlumbohm: Werner Troßbach, Historische Anthropologie und frühneuzeitliche Agrargeschichte deutscher Territorien. Anmerkungen zu Gegenständen und Methoden, in: Historische Anthropologie 5, 1997, 187-211. 113 Sabean, Neckarhausen, 10. In ähnlicher Absicht [doch mit bescheidenerem Anspruch] vorgängig schon die Studien über Kiebingen von Utz Jeggle, Kiebingen - eine Heimatgeschichte. Zum Prozeß der Zivilisation in einem schwäbischen Dorf, Tübingen 1977 und Wolfgang Kaschuba/Carola Lipp, Dörfliches Überleben. Zur Geschichte materieller und sozialer Reproduktion ländlicher Gesellschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Tübingen 1982. 114 Landesgeschichte der Allgemeinen Geschichte zuzuschlagen, wie Medick dies tut, ist nur erklärlich aus der Absicht, dem eigenen Ansatz größere Originalität zu sichern; vgl. Medick, Laichingen, 11.

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Deutsche Agrarge schichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Forderung für ihr Metier schon längst erfüllt. Den Weg zu diesem Ziel haben Historikerinnen und Historiker weit über Deutschland hinaus immer interessiert und kommentierend begleitet." 5

4. Grundherrschaft und Gutsherrschaft Grundherrschaft und Gutsherrschaft sind nicht zuletzt polemische KampfbegrifTe aus dem rhetorischen Arsenal des liberalen Bürgertums und richten sich beide in pejorativer Absicht gegen die alteuropäische Adelsherrschaft. Nicht zuletzt aus der anhaltenden politischen Spannung zwischen Bürgertum und Adel in Deutschland während des 19. Jahrhunderts (die gegenwärtig nochmals ein leicht verfremdetes da capo in den neuen Bundesländern erfährt, etwa in dem bürgerlichen Urteil gegenüber den Restitutionsansprüchen des fürstlichen Hauses Putbus auf Rügen) läßt sich erklären, daß wenige Bereiche der Agrargeschichte so gut erforscht sind, und dies seit langem, wie die unter dem antagonistischen Begriffspaar Grundherrschaft - Gutsherrschaft sich verbergenden Sachverhalte. 116 Komplikationen brachte die Transformation in wissenschaftliche Ordnungsbegriffe mit sich, wie immer, wenn solche nicht unmittelbar aus der Sprache der Quellen elaboriert werden können, was wissenschaftliche Erkenntnis nicht nur erleichtert, sondern auch erschwert. Seit beide Begriffe in Klaus Schreiner 117 und Heinrich Kaak 118 ihre Biographen gefunden haben, liegen diese Probleme blank am Tage. Klaus Schreiner beharrt darauf, der Begriff Grundherrschaft tauge als entschärfte Variante für Feudalismus ebensowenig wie für bloße Pacht- und Rentenformen, vielmehr müsse er, soll er idealtypisch einsetzbar sein, ein Sozialsystem abbilden, das Boden und Herrschaft integral verklammert. 119 Unbeschwert von solchen Sorgen ist die Grundherrschaft, teilweise gepaart mit der Weistumsforschung, 120 kontinuierlich gepflegt worden, 121 zumal es sich um ein traditionsreiches Forschungsfeld der deutschen Landesgeschichte handelt. Größere

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Vgl. etwa schon Guy Bois, Marxisme et histoire nouvelle, in: Jacques Le Goff/Roger Chartier/Jacques Revel (Hg.), La Nouvelle Histoire, Paris 1978, 375-393 [mit Würdigung von Medick]. Vgl. schon die breite Darstellung bei Abel, Landwirtschaft [Indexeinträge Gutswirtschaft] und Lütge, Agrarverfassung, 111-158, 222-237. Klaus Schreiner, „Grundherrschaft". Entstehung und Bedeutungswandel eines geschichtswissenschaftlichen Ordnungs- und Erklärungsbegriffs, in: Hans Patze (Hg.), Die Grundherrschaft im späten Mittelalter I, Sigmaringen 1983, 11-74. Heinrich Kaak, Die Gutsherrschaft. Theoriegeschichtliche Untersuchungen zum Agrarwesen im ostelbischen Raum, Berlin/New York 1991. Schreiner, Grundherrschaft, 74. Vgl. oben Anm. 47 - 50. Horst-Detlef Illemann, Bäuerliche Besitzrechte im Bistum Hildesheim. Eine Quellenstudie unter besonderer Berücksichtigung der Grundherrschaft des ehemaligen Klosters St. Michaels in Hildesheim, Stuttgart 1969 [Transformation von Villikationen]; Hugo Ott, Studien zur spätmittelalterlichen Agrarverfassung im Oberrheingebiet, Stuttgart 1970; Ludolf Kuchenbuch, Bäuerliche Gesellschaft und Klosterherrschaft im 9. Jahrhundert. Studien zur Sozialstruktur der Familia der Abtei Prüm, Wiesbaden 1978; Philippe Dollinger, Der bayerische Bauemstand vom 9. bis 13. Jahrhundert [französisch 19491, München 1982.

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Peter Blickte Aufmerksamkeit hat sich der Gegenstand durch die Arbeiten von Werner Rösener 122 selbst und durch die von ihm organisierten Tagungen 123 gesichert. Auch hier wirkte sich fördernd, ähnlich wie im Bereich der Proto-Industrialisierung, die ideelle und materielle Unterstützung des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen aus. Rösener hat geistliche Grundherrschaften des deutschen Südwestens für das Hochund Spätmittelalter untersucht mit dem Ergebnis, daß zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert ein Transformationsprozeß der älteren „Betriebsgrundherrschaft" zugunsten der Bauern (im Zeichen des von ihm so genannten hochmittelalterlichen „Aufbruchs") stattgefunden habe, der in seiner Bedeutung mit der spätmittelalterlichen Agrardepression und den Agrarreformen der Bauernbefreiung parallelisiert werden müsse. Eine Stärke der Arbeit liegt in den detaillierten empirischen Daten (Betriebsgrößen, Abgaben). In welcher Form daraus die internationale Forschung neue Fragen für das Mittelalter entwickeln kann, ist erst jüngst diskutiert worden. 124 Die Grundherrschaften der frühen Neuzeit faszinierten die Forschung sehr viel weniger als jene des Mittelalters. Das scheint unberechtigt angesichts des Ertrags, das dieses Thema offensichtlich abwerfen kann. Die Integration der Landwirtschaft in überregionale Märkte und ihre Rückwirkungen auf den einzelnen Hof sowie die dadurch entstehenden politisch relevanten Interessenkonstellationen waren von weitreichenden Folgen, wie beeindruckende regionale Fallstudien zeigen konnten. 125 In Regionen hoher Verstädterung haben die Grundherrschaften durch ihre ökonomische Bindung an die Stadt und ihre herrschaftliche an Spital und Bürger starke Transformationen erfahren, 126 die im Extremfall bis zur völligen Auflösung gehen konnten wie im Appenzell, das sich aus der Herrschaft des Reichsklosters St. Gallen löste und in einem beispiellosen Prozeß industrialisiert wurde. 127 Für die kritische Phase nach dem Dreißigjährigen Krieg ist für Bayern gezeigt worden, mit welcher Vitalität die Bauern das Land aus dem wirtschaftlichen Elend herausführten, gleichzeitig aber die „Rentenoffensive" der Grundherren abwehrten, mit der weitreichenden sozialen Folge der Abdrängung des Adels in den Hofdienst und einer Stärkung des Landesfürsten bzw. des Territorialstaats. 128 Nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Verfassung der Grundherrschaft in Bayern, selbst in den Hofmarken, wurde

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Herauszuheben ist seine Habilitationsschrift: Werner Rösener, Grundherrschaft im Wandel. Untersuchungen zur Entwicklung geistlicher Grundherrschaften im südwestdeutschen Raum vom 9. bis 14. Jahrhundert, Göttingen 1991. Werner Rösener (Hg.), Strukturen der Grundherrschaft im frühen Mittelalter, Göttingen 1989: Ders. (Hg.), Grundherrschaft und bäuerliche Gesellschaft im Hochmittelalter, Göttingen 1995. Vgl. Ludolf Kuchenbuch, Potestas und Utilitas. Ein Versuch über Stand und Perspektiven der Forschung zur Grundherrschaft im 9. - 13. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 265, 1997, 117146, hier 129ff. Thomas Robisheaux, Rural Society and the Search for Order in Early Modern Germany, Cambridge/New York/New Rochelle 1989. Maßstäblich Rolf Kießling, Die Stadt und ihr Land. Umlandpolitik. Bürgerbesitz und Wirtschaftsgefüge in Ostschwaben vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, Köln/Graz 1989. Albert Tanner, Spulen - Weben - Sticken. Die Industrialisierung in Appenzell Ausserrhoden, Zürich 1982. Rudolf Schlögl, Bauern, Krieg und Staat. Oberbayerische Bauernwirtschaft und frühmoderner Staat im 17. Jahrhundert, Göttingen 1988. Diesen Zusammenhang sucht am Beispiel der Frömmigkeit zu belegen: Hermann Hörger, Kirche, Dorfreligion und bäuerliche Gesellschaft, 2 Teile, München 1978/1983, besonders 1. Teil, 185ff.

Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark von den Bauern geprägt. 129 Bayern ist ein besonders eindrückliches Beispiel für den Wandel in der Bewertung der Grundherrschaft seit Friedrich Lütge. Gutsherrschaft gehört zum Ensemble der historischen Erscheinungen, mit denen der Marxismus sein Konzept des Feudalismus konturierte. Insofern galt sie auch lange als Operationsfeld zur Analyse des Klassenkonflikts und der Klassenkämpfe zwischen Adel und Bauern. 130 Neben der Geschichte der Arbeiterbewegung und der Frühbürgerlichen Revolution war die Erforschung der Gutsherrschaft der dritte Schwerpunkt der marxistischen Forschung, domiziliert an der Universität Rostock und konzeptualisiert durch Gerhard Heitz. 131 Vieles ist, dank der notorischen Papierknappheit, ungedruckt geblieben, 132 dennoch muß die Forschung über Gutsherrschaft den Vergleich mit jener über Grundherrschaft keineswegs scheuen. 133 Zunächst standen zweifellos Grade der feudalen Ausbeutung der Bauern im Vordergrund,134 überlagernd wurde die zweite Leibeigenschaft diskutiert und zwischen einer juristisch fixierten Leibeigenschaft (Mecklenburg, Pommem, Ostpreußen) und einer faktischen wegen fehlender oder untersagter Wegzugsmöglichkeiten (Kursachsen, Thüringen) unterschieden.135 Am stärksten entfernte sich die ostdeutsche agrargeschichtliche Forschung von den herkömmlichen Vorstellungen von

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Neben Schlögl vgl. auch Renate Blickle, Agrarische Konflikte und Eigentumsordnung in Altbayern. 1 4 0 0 - 1800, in: Schulze, Aufstände, Revolten, Prozesse, 166-187. 130 Vgl. oben Anm. 75. 131 Vgl. dessen (mit Hartmut Hämisch verfaßten) Rechenschaftsbericht kurz vor seiner Emeritierung. Hartmut Harnisch/Gerhard Heitz, Einleitung. Die Erforschung der Agrargeschichte der Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, in: Dies. (Hgg.), Deutsche Agrargeschichte des Spätfeudalismus, Berlin 1986, 9-36. 132 Ein räsonierende Bibliographie mit den wichtigsten [auch ungedruckten] Dissertationen A und B verzeichnet bei Hamisch/Heitz, Einleitung. 133 Vieles ist in Aufsatzform niedergelegt in den 14 erschienenen Bänden des Jahrbuchs für Feudalismus [1977 - 1990]. Wenig für das Mittelalter; vgl. Jan Brankack, Landbevölkerung der Lausitzen im Spätmittelalter. Hufenbauem, Besitzverhältnisse und Feudallasten in Dörfern großer Grundherrschaften von 1374 bis 1518, Bautzen 1990. Unter den Monographien für die Neuzeit ist von besonderem empirischem Reichtum Renate Schilling, Schwedisch-Pommem um 1700. Studien zur Agrarstruktur eines Territoriums extremer Gutsherrschaft, Weimar 1989, und die noch als Dissertation bei Gerhard Heitz in den späten 1980er Jahren gefertigte Arbeit von Thomas Rudert, Gutsherrschaft und Agrarstruktur. Der ländliche Bereich Mecklenburgs am Beginn des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/Berlin/Bern 1995 [Querschnitt für das Jahr 1703]. Unter dem Aspekt der Agrartechnik vgl. Ulrich Bentzien, Bauernarbeit im Feudalismus. Landwirtschaftliche Arbeitsgeräte und -verfahren in Deutschland von der Mitte des ersten Jahrtausends u.Z. bis um 1800, Berlin 1980. Unter dem Aspekt des außerlandwirtschaftlichen Erwerbs Helga Schultz, Landhandwerk im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Vergleichender Überblick und Fallstudie Mecklenburg-Schwerin, Berlin 1984. - Bedingt durch den erschwerten Zugang zu den Archiven wurde von westlicher Seite nur wenig geforscht. Beispielhaft allerdings William W. Hagen, How Mighty the Junkers? Peasant Rents and Seigneurial Profits in Sixteenth-Century Brandenburg, in: Past & Present 108. 1985, 80-116; ergänzend Werner Lippert, Geschichte der 100 Bauerndörfer in der nördlichen Uckermark. Ein Beitrag zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Mark Brandenburg, Köln/Wien 1968. 134

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Vgl. Johannes Nichtweiß, Das Bauernlegen in Mecklenburg, Berlin 1954. Für die sich daran anschließende Debatte Gerhard Heitz, Zur Diskussion über Gutsherrschaft und Bauemiegen in Mecklenburg, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5, 1957, 278-296. Gerhard Heitz, Zum Charakter der „zweiten Leibeigenschaft", in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 20. 1972. 24-39.

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Peter Blickte Gutsherrschaft mit dem Konzept des gutsherrlichen Teilbetriebs136 und dessen genauerer Innenansicht aufgrund empirischer Forschungen. Der gutsherrliche Teilbetrieb setzt einerseits adelige Gutsbetriebe voraus, andererseits aber auch spannfähige Bauern mit entsprechend großen Höfen, deren Zahl man nicht durch Bauernlegen beliebig reduzieren kann, soll das System als Ganzes nicht kollabieren. Daraus folgt aber, daß auch der Bauer im Bereich der Gutsherrschaft als selbständiger Landwirt auf den Markt ausgerichtet ist. Andererseits ließ sich auch nachweisen, daß Rittergüter mit gutseigenem Vieh, Inventar und Lohnarbeitskräften bewirtschaftet wurden. Beide Beobachtungen machten die Gutsherrschaft zur Grundherrschaft hin offener, zumal in den achtziger Jahren in deutlichen, wenn auch nicht expliziten Anleihen bei der westlichen Forschung Verrechtlichung von Konflikten und Gemeinde als Organisationsform in Gutsherrschaften stärker betont wurden. Es gab in der Forschung der Deutschen Demokratischen Republik einen, von einem streng marxistischen Standpunkt aus gesehen subversiven Zug, die theoretischen Grundannahmen des Historischen Materialismus zu unterlaufen, erkennbar in den letzten zehn Jahren vor der Wende.137 Wie bewußt dieser Prozeß war, muß historiographisch noch erschlossen werden, sollte sich in Deutschland ein Klima einstellen, das einen respektvollen Umgang mit jenen Kolleginnen und Kollegen erlaubt, die systembedingt und aufgrund ihrer wissenschaftlichen Sozial isation mit Theorien von Karl Marx statt mit solchen von Max Weber gearbeitet haben. Die Vergleiche zwischen ostelbischen und westelbischen Gebieten in der Deutschen Demokratischen Republik, die dank der beispielhaften Untersuchung von Hartmut Harnisch über die Magdeburger Börde (wo es Guts- und Grundherrschaften gab) energisch gefördert wurden, 138 haben die Mauer zwischen Gutsherrschaft und Grundherrschaft durchlässiger gemacht. Die heutige Gutsherrschaftsforschung, die ihre Kontinuität zur früheren über die Person von Jan Peters gesichert hat, kann auch als Fortführung und Radikalisierung dieses Ansatzes gelten. Der neue Ansatz drückt sich darin aus, daß jetzt nicht mehr von niederen Formen des Klassenkampfes die Rede ist, sondern von Widerständigkeiten, Resistenzverhalten und Bauernlogiken,139 nicht mehr Klassen mit dem quantifizierenden Verfahren der Auswertung von Steuerbüchern und anderen für Makrostrukturen relevanten Quellen rekonstruiert werden, sondern die Bedeutungen von Handlungen bäuerlicher Individuen.140 Marxistische Gutsherrschaftsforschung war theorielastig, die neuen Forschungen, wiederum unter dem Patronat der Max-Planck-Gesellschaft (Arbeitsgruppe Guts136

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Als schon klassische Untersuchung Hartmut Hämisch, Die Herrschaft Boitzenburg, Weimar 1968; Aber auch Willi A. Boelcke, Bauer und Gutsherr in der Oberlausitz. Ein Beitrag zur Wirtschafts-, Sozial- und Rechtsgeschichte der ostelbischen Gutsherrschaft, Bautzen 1957. Das gilt vor allem im Bereich der Reformationsgeschichte. Exemplarisch ist die Konvergenz der Müntzer-Interpretationen. Hartmut Harnisch, Bauern - Feudaladel - Stadtbürgertum. Untersuchungen über die Zusammenhänge zwischen Feudalrente, bäuerlicher und gutsherrlicher Warenproduktion und den Ware-GeldBeziehungen in der Magdeburger Börde und dem nordöstlichen Harzvorland von der frühbürgerlichen Revolution bis zum Dreißigjährigen Krieg, Weimar 1980. Jan Peters (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise friihneuzeitlicher Agrargesellschaften, München 1995; Ders. (Hg.), Konflikt und Kontrolle in Gutsherrschaftsgesellschaften. Über Resistenz- und Herrschaftsverhalten in ländlichen Sozialgebilden der Frühen Neuzeit, Göttingen 1995. Vgl. dazu aufschlußreich Rudert, Gutsherrschaft, 1 ff.

Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herrschaft in Potsdam), verdanken ihre Durchsetzungsfähigkeit auch ihrer empirischen Unterkellerung im archivalischen Material. Theoriefreudig sind auch sie, orientiert an den Konzepten der Historischen Anthropologie, der Mikrohistorie und der Geschlechtergeschichte. 141 Größere Monographien stehen weitgehend noch aus, so daß die beabsichtigte Umwertung der Gutsherrschaft erst in Umrissen und punktuell zu erkennen ist, zumal das Projekt absichtlich viele Formen von Herrschaft in vielen Regionen erfassen will, was nebenbei auch den Brückenschlag zur Agrargeschichte Schleswig-Holsteins begünstigte. 142 Die Gutsherren, so kann eine vorläufige Bilanz lauten, hatten gelegentlich einen durchaus schweren Stand gegenüber ihren Landesherm, wegen der Konspirationen ihrer Untertanen und angesichts der Unwägbarkeiten der Getreidemärkte. Die Dörfer scheinen der Durchsetzung gutsherrlicher Interessen stärker widerstanden zu haben, als angenommen. 143 Zu weitgehende habituelle Distanzierung des Adels konnte die Gutswirtschaft wegen blockierter Ausgleichsmöglichkeiten in die Dysfunktionalität treiben. Diese Erfahrung nutzend, suchten Herren und Bauern den Konsens, der immer wieder neu gestiftet und den veränderten Verhältnissen angepaßt werden mußte. So entstanden auch ausgegrenzte, von den Herren respektierte Zonen. Dazu gehörte eine beschränkte Selbstregulierung von Konflikten im Dorf, 144 extrajudizial und unter Ausschluß des Patrimonialrichters. Das alte Thema Flucht aus dem Bereich der Gutsherrschaft läßt sich offenbar auch positiv lesen als Entwicklung neuer Lebensformen. 145 Der Prozeß der Westbindung der Gutsherrschaft ist mittlerweile schon so weit gediehen, daß die Bauernbefreiung als nur mehr theoretisch neu begründeter, legalistischer Nachvollzug bereits erreichter Bewußtseinszustände unter den Bauern interpretiert werden kann. 146 Eine Bilanz der deutschen agrargeschichtlichen Forschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewinnt schärfere Konturen, profiliert man sie vor dem Hintergrund der Agrargeschichte anderer europäischer Länder. Zweifellos hat nirgendwo 141

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Vgl. die Beiträge in den beiden von Peters herausgegebenen Bänden und (explizit) auch das Vorwort von Jan Peters zu Ders., Gutsherrschaft, IX ff. Die Beiträge können im folgenden nur auswahlweise genannt werden, schon wegen der platzraubend umständlichen Titel. Silke Göttsch, „Alle für einen Mann". Leibeigene und Widerständigkeit in Schleswig-Holstein im 18. Jahrhundert, Neumünster 1991. Heinrich Kaak, Vermittelte, selbsttätige und matemale Herrschaft. Formen gutsherrlicher Durchsetzung, Behauptung und Gestaltung in Quilitz-Friedland (Lebus/Oberbarnim) im 18. Jahrhundert, in: Peters, Konflikt, 54-117; Lieselott Enders, Die Uckermark. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, Weimar 1992. - Freilich darf die institutionelle Schwäche des Dorfes nicht übersehen werden. Dazu der Beitrag von Susanne Rappe, „Wann er bey seinem SchultzenRechte nicht bleiben könte...". Ein Dorfschulze zwischen Gutsherrschaft, Gemeinde und Selbstbehauptung im Gericht Gartow (Elbe) um 1700, in: Peters, Konflikt, 287-314 [bestätigt m.E. glänzend, wenn auch unabsichtlich die Thesen von Hämisch, Landgemeinde]. Vgl. ähnliche Problemlagen bei Thomas Rudert, Gutsherrschaft und ländliche Gemeinde. Beobachtungen zum Zusammenhang von gemeindlicher Autonomie und Agrarverfassung in der Oberlausitz im 18. Jahrhundert, in: Peters, Gutsherrschaft, 197-218. Ulrike Gleixner, Die „Ordnung des Saufens" und „das Sündlich erkennen". Pfingst- und Hütebiere als gemeindliche Rechtskultur und Gegenstand pietistischer Mission (Altmark 17. und 18. Jahrhundert), in: Peters, Konflikt, 13-53. Jan Klußmann, „Wo sie frey sein, und einen besseren Dienst haben solte". Flucht aus der Leibeigenschaft in Schleswig-Holstein in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Peters, Konflikt, 118-152. Lieselott Enders, Emanzipation der Agrargesellschaft im 18. Jahrhundert - Trends und Gegentrends in der Mark Brandenburg, in: Peters, Konflikt, 404-433.

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Peter Blickle die ländliche Welt soviel Interesse auf sich gezogen wie in Frankreich. Die Schule der Annales war aufgrund eines ihrer wichtigsten geschichtstheoretischen Postulate, „les structures du quotidien" 147 zu erforschen und die dafür nötigen methodischen Verfahren zu entwickeln, auf das Land angewiesen. Den großen thèses über den Mechanismus von landwirtschaftlicher Produktion und Bevölkerungsbewegung, wie sie Emmanuel Le Roy Ladurie, 148 Pierre de Saint Jacob 149 und viele andere als Beweisstücke für die longue durée von Strukturen vorgelegt haben, steht in Deutschland nichts auch nur annähernd Gleichartiges gegenüber. Das liegt naturgemäß an den gänzlich unterschiedlichen Selbstverständnissen der Fächer in beiden Ländern. Frankreichs führende, den Wissenschaftsdiskurs prägende Schule hatte sich spätestens um die Jahrhundertmitte forschungspraktisch daran gemacht, die theoretische Annahme von einer durch die Wirtschaft geprägten Gesellschaft (und einer von gesellschaftlichen Kräften bewegten Politik) einzulösen. Die deutsche Geschichtswissenschaft hat indessen bis in die 1960er Jahre am Historismus festgehalten, dessen Hervorbringungen ihr lange internationalen Rang und Glanz gesichert hatten. Das hat dazu geführt, daß unter den vom Historismus so geschätzten sittlichen Mächten der Staat (und die ihn prägten) seine Vorrangstellung behielt. Die Sozialisierung der führenden Historiker der ersten Nachkriegsgeneration durch das Kaiserreich und deren persönliche Erfahrung, wie durchdringend politische Macht das alltägliche Leben in der Zeit des Nationalsozialismus beherrschte, hat die Fixierung auf den Staat und auf Herrschaft gefestigt, ja verstärkt. Staat und Herrschaft sind die nahezu konkurrenzlosen Gegenstände der deutschen Handbücher noch in den 1960er Jahren. 150 Das erklärt, warum sich die Deutsche Agrargeschichte um 1960 in derselben etatistischen Ummantelung präsentierte. Die Neue Agrargeschichte hat mit dieser Vorstellung gründlich aufgeräumt. Von einer vornehmlich herrschaftlichen Prägung der Agrarverfassung ist heute ebenso wenig die Rede, wie von einem unpolitischen Bauern. Daß der Bauer in der ständischen Gesellschaft zu einem Subjekt geworden ist, ohne das geschichtliche Epochen und geschichtliche Prozesse nicht mehr beschrieben werden können, gehört zu den wichtigsten Erkenntnissen der hier beschriebenen Forschungsfelder der Agrargeschichte. 151 Daß davon Wirkungen auf die Bewertung der deutschen Geschichte ausgehen mußten, ist von aufmerksamen Verfassungshistorikern schon früh registriert worden, von aufgeschlossenen anerkennend, 152 von reaktionären abwehrend. 153 Aus der rückblickenden Perspektive 147

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Fernand Braudel, Civilisation matérielle, économie et capitalisme, XVe - XVIIIe siècle. Les structures du quotidien: Le possible et l'impossible, Paris 1979. Emmanuel Le Roy Ladurie, Les Paysans de Languedoc, 2 Bde. [1960], 2. Aufl., Paris 1966. Pierre de Saint Jacob. Les paysans de la Bourgogne du Nord au dernier siècle de l'Ancien Régime, Dijon 1960 (Nachdruck 1995], Herbert Grundmann (Hg.), Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 1-3, 9. Aufl., Stuttgart 1970. Abgekoppelt und nicht integriert die Beiträge von Karl Bosl und Wilhelm Treue über Wirtschaft. Gesellschaft und Technik. Vgl. zur Forschungsgeschichte: Holenstein, Bauern, 101 f. und Troßbach, Bauern, 78 ff. Gerhard Oestreich, Zur Vorgeschichte des Parlamentarismus: Ständische Verfassung, Landständische Verfassung und Landschaftliche Verfassung, in: Ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1980, 253-271. Eindrücklich die Diskussion in: Heinz Angermeier (Hg.), Säkulare Aspekte der Reformationszeit, München 1983, 131-152 [Diskussion zum Referat von Winfried Schulze].

Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der damit gewonnenen Distanz läßt sich unschwer erkennen, daß die Arbeiten zu Dorf und Gemeinde, Bauernkrieg und bäuerlichem Widerstand, Protoindustrialisierung und Modernisierung der Landwirtschaft sowie Grundherrschaft und Gutsherrschaft alle auf eine gemeinsame Mitte zentriert werden können - den handelnden Bauern, der sich im Dorf seine Organisationsform zur Bewältigung alltäglicher Probleme in der Gemeinde schafft, der seine Wertvorstellungen als politische Forderungen gegenüber der Obrigkeit in Kriegen, Revolten und Prozessen zum Ausdruck bringt, der sich in handwerklicher und gewerblicher Tätigkeit, unbekümmert um die Agrarverfassung, sein Einkommen sichert und der wesentlich an der Umformung der Grundherrschaften und Gutsherrschaften beteiligt ist. Daß bäuerlicher Widerstand ohne Gemeinde sehr viel schwächer gewesen wäre und die Räume hoher Protoindustrialisierung mit solchen schwacher Grund- und Gutsherrschaften korrelieren, sind lediglich zwei weitere Argumente für die Plausibilität der generelleren Thesen der Neuen Agrarge schichte. Zweifellos hängt der Paradigmenwechsel von der Alten zur Neuen Agrarge schichte mit der voranschreitenden Demokratisierung Deutschlands zusammen. Das ist keine Ideologisierung der Geschichte, sondern eine andere Interpretation der immer gleichen Partitur der Quellen und als solche eine intellektuelle und emotionale Leistung. Da im Maßstab der europäischen Historiographie der Etatismus in Deutschland besonders stark ausgeprägt war, erklärt sich auch die scharfe Wendung, mit der er bekämpft wurde. Darin wurzelt das dichotomisierende Reden von einer Geschichte von unten und einer Geschichte von oben. Auf solche Entwicklungen hinzuweisen hilft, die Prominenz des Politischen in der deutschen Agrargeschichte zu erklären. Gegenüber der französischen erweist sich dies plötzlich als großer Vorteil. Das materialistisch-malthusianische Geschichtskonzept wirkt ergraut, wo die jüngere Geschichtstheorie das handelnde Individuum und die von ihm gemachte Geschichte neuerdings begrüßt. Die Prägungen durch die politische Kultur der Bundesrepublik kleben der Agrargeschichte nicht weniger an als jene durch die geschichtstheoretischen Debatten. An der Protoindustrialisierung haben sich der Historische Materialismus und die Anthropologie abgelagert, aber nicht minder auch an der Gutsherrschaft. Die Historisierung des Rechts prägt die rechtsgeschichtliche Forschung zum Dorf ebenso stark wie der Einfluß der Soziologie auf die Geschichte jene zum bäuerlichen Widerstand. Dennoch bleibt im Kern ein Paradigma für die Agrargeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts charakteristisch - die Bauern als gesellschaftliche Gruppe (als Klasse, um nochmals die Forschungsfelder Frühbürgerliche Revolution und Gutsherrschaft ins Spiel zu bringen) haben ihren gestaltenden Teil zur Wirtschaft, zur Politik und zur Kultur ihrer Zeit beigetragen und damit zur Geschichte. War die alte Agrargeschichte die Geschichte der landwirtschaftlichen Produktion im Rahmen einer herrschaftlich geprägten Rechtsform der Liegenschaftsnutzung durch den Stand der Bauern,154 so ist die neue Agrargeschichte die Geschichte des Bauern als Stand und die durch ihn geprägten Formen der Wirtschaft (Auflösung der Villikation, Landhandwerk, Protoindustrialisierung) und der politischen Machtorganisation (Gemeinde als Institution, Schwächung der Grundherrschaft, Verbesserung der Statusrechte von Menschen). 154

Vgl. oben S. 10.

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Peter Blickle Paradigmen werden immer abgelöst, heutzutage rasch, und möglicherweise nicht einmal mehr ersetzt angesichts der Segmentierung der Gegenstände und der Pluralisierung der Methoden. Dazu gehört auch gender als analytische Kategorie zur Aufschließung der ländlichen Welt. (Ihr ist in diesem Band ein eigener Beitrag gewidmet.) Ob der Kategorie class hier ein gleichwertiger Konkurrent erwächst, wird sich zeigen, wenn mehr große Monographien vorliegen werden. 155 Bis jetzt geht es darum, Frauen in156 den herkömmlichen Forschungsfeldern der Agrargeschichte aufzusuchen und zu würdigen - in der Agrarverfassung (Erbrecht), in den öffentlichen Ämtern, 157 im Dorf, 1 5 8 in der Gutsherrschaft, 159 im Widerstand. 160 Die Agrargeschichte zählte in den sechziger Jahren nicht zu den strahlenden Teildisziplinen der Geschichtwissenschaft. Ernsthaft wurde sie an keinem Historischen Institut in Deutschland betrieben; Abel, Franz und Lütge waren außerhalb der Philosophischen Fakultäten beheimatet. Heute gehört sie sehr viel selbstverständlicher zum normalen Lehr- und Forschungsbetrieb, wofür ihre prominente Vertretung mit sechs Bänden in der Enzyklopädie deutscher Geschichte161 der beste Beweis ist. Als Agrargeschichte an sich wird sie sich behaupten, wenn es gelingt, den erreichten Stand weiter auszubauen und theoretisch zu begründen.

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Bis jetzt: Regina Schulte, Das Dorf im Verhör. Brandstifter, Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts. Oberbayem 1848 - 1910, Reinbek bei Hamburg 1989; Eva Labouvie, Zauberei und Hexenwerk. Ländlicher Aberglaube in den Dorfgemeinden des Saarraumes (16. - 19. Jahrhundert), St. Ingbert 1992; Marion Kobelt-Groch, Aufsässige Töchter Gottes. Frauen im Bauernkrieg und in den Täuferbewegungen, Frankfurt am Main/New York 1993. - Nicht nur fokussiert auf das Land: Richard van Dülmen, Frauen vor Gericht. Kindsmord in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1991; Heide Wunder, „Er ist die Sonn', sie ist der Mond". Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992. Heide Wunder/Christina Vanja (Hg.), Weiber, Menscher, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 1 5 0 0 - 1800, Göttingen 1996. Christina Vanja, Amtsfrauen in Hospitälern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Bea Lundt (Hg.), Vergessene Frauen an der Ruhr, Köln/Weimar/Wien 1992, 195-209. Ulrike Gleixner, „Das Mensch" und der „Kerl". Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700 - 1760), Frankfurt am Main/New York 1994, besonders 176-210. Jan Peters, Frauen vor Gericht in einer märkischen Gutsherrschaft (2. Hälfte des 17. Jahrhunderts), in: Otto Ulbricht (Hg.), Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 1995, 231-258. Claudia Ulbrich, Frauen im Aufstand. Möglichkeiten und Grenzen ihrer Partizipation in frühneuzeitlichen Bauembewegungen, in: Ursula Fuhrich-Grubert/Angelus H. Johansen (Hg.), Schlaglichter Preußen - Westeuropa. Festschrift für Ilja Mieck zum 65. Geburtstag, Berlin 1997, 335-348 [verarbeitet den bisherigen Forschungsstand]. Rösener, Agrarwirtschaft; Holenstein, Bauern; Troßbach, Bauern; Achilles, Landwirtschaft. Zwei Bände für das 19. und 20. Jahrhundert stehen noch aus.

Barbara Krug-Richter

Agrargeschichte der frühen Neuzeit in geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Anmerkungen zu einem Forschungsdesiderat In den Jahren 1710 bis 1719 prozessierten die Bauern der Guts- und Gerichtsherrschaft Canstein, gelegen im Herzogtum Westfalen ca. 10 km südöstlich der kurkölnischen Stadt Marsberg nahe der Grenze zum Fürstentum Waldeck, vor Landdrost und Räten in Arnsberg sowie vor dem Bonner Hofrat gegen ihren Guts- und Gerichtsherrn Carl Hildebrand von Canstein. 1 Weder der Streitgegenstand selbst - es handelte sich um Auseinandersetzungen um die Einführung neuer Dienste - noch die gewählten Formen des Konfliktaustrags, das Einschalten der landesherrlichen Gerichte und 1719 auch des Reichskammergerichtes, sind spektakulär, sondern in Form und Verlauf zahlreichen Konflikten zwischen Gutsherren und Untertanen vergleichbar. 2 Auch die Region selbst, das kurkölnische Sauerland, läßt wenig Innovatives erwarten, gilt sie doch wie viele agrarisch orientierte Mittelgebirgsregionen kulturell als „Reliktgebiet", historisch gesehen als rückständig. In einer Hinsicht allerdings unterschied sich die oben genannte Auseinandersetzung von den zahlreichen agrarischen Konflikten des 17. und 18. Jahrhunderts: Anna Catharina Rohland, Ehefrau des Udorfer Vollspänners Dietrich Henrich Nückel, ca. 40 Jahre alt, vermutlich schriftkundig und aus der dörflichen Führungsschicht stammend, ist die bisher einzige in der deutschsprachigen Forschung bekannte Frau, die auch in der gerichtlichen Auseinandersetzung mit dem Gutsherrn eine zentrale Position einnahm. Sie begnügte sich nicht mit der klassischen „Weiberrolle", der Beleidigung von obrigkeitlichen Vertretern aufgrund ihrer minderen Rechtsstellung oder dem Zusammenrufen der Frauen zu den bekannten Pfandverweigerungen. Sie übernahm, dies ist an anderer Stelle bereits ausführlich dargelegt worden, daneben Aufgaben der gemeindlichen Vertreter: Sie sammelte Prozeßgelder ein, drohte den Prozeßunwilligen mit gemeindlichen Sanktionen, und zuletzt verbrachte sie trotz der Tatsache, daß sie noch minderjährige Kinder zu versorgen hatte, als offizielle Vertreterin der Gemeinden Monate in Köln und Bonn, um vor den landesherrlichen Instanzen zu sollizitieren.

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Eine Analyse dieser Auseinandersetzungen bei Barbara Krug-Richter. „Es gehet die bauren ahn und nicht die herren". Die Auseinandersetzungen um die Einführung neuer Dienste in der westfälischen Herrschaft Canstein 1710-1719, in: Jan Peters (Hg.), Konflikt und Kontrolle in Gutsherrschaftsgesellschaften. Über Resistenz- und Herrschaftsverhalten in ländlichen Sozialgebilden der Frühen Neuzeit, Göttingen 1995, 153-200. Die Zahl der Arbeiten zum bäuerlichen Widerstand ist inzwischen fast unüberschaubar. Generell verwiesen sei daher an dieser Stelle exemplarisch auf die Untersuchungen von Peter und Renate Blickle, Winfried Schulze, Claudia Ulbrich, Andreas Suter und Werner Troßbach. Ein Überblick über die Forschungslage bei Peter Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300-1800, München 1988; Ders., Bauernunruhen und Bürgerproteste in Mitteleuropa 1300-1800. Forschungsüberblick und Bibliographie, in: Blätter für Deutsche Landesgeschichte 126, 1990, 593-623.

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Eine nach bisherigem Forschungsstand außergewöhnliche Position einer verheirateten Frau. 3 Die geringe Präsenz von Frauen in Bauernprozessen ist Spiegel ihrer verfassungsmäßigen Minderstellung, waren Frauen doch in der Regel lediglich als Witwen, als temporäre Haushaltungsvorstände, zu den Gemeindeversammlungen zugelassen 4 sowie von Ämtern ausgeschlossen. Schon aufgrund dieses Sachverhaltes ist es erstaunlich, daß dennoch offensichtlich niemand der Beteiligten, weder die Gutsherrschaft noch die Bauern noch die Vertreter der landesherrlichen Gerichte, Anstoß an den Aktivitäten der Anna Catharina Rohland nahm. Nicht ein Nebensatz in einem der dicht überlieferten Gerichtsprotokolle unterschiedlicher Instanzen weist darauf hin, daß sich hier eine Frau eine Position anmaßte, die man ihr nicht zugestand. Dieses Faktum zwingt zumindest zum Nachdenken über die eigentlich schon fast abgeschlossene Diskussion zu weiblichen Positionen im bäuerlichen Widerstand. Obwohl die Rolle von Frauen in Widerstand und Protest ein schon vor geraumer Zeit erkanntes Phänomen darstellt, ist über die Tätigkeit von Frauen in Bauernprozessen bisher wenig bekannt. Frauen im bäuerlichen Widerstand, Frauen und bäuerlicher Widerstand: Das Eingangsbeispiel verweist trotz seiner Außergewöhnlichkeit auf eines der gut bearbeiteten Themen in der insgesamt noch wenig von geschlechtergeschichtlichen Perspektiven berührten deutschsprachigen Agrargeschichte. „Die Kategorie Geschlecht ist für die Erforschung der ländlichen Gesellschaft bislang kaum genutzt worden. ... Umgekehrt wurde die Erforschung der ländlichen Gesellschaft bislang kaum genutzt, um Erkenntnisse über die Bedeutung der Kategorie Geschlecht und den Charakter der Geschlechterbeziehungen in der ständischen Gesellschaft zu gewinnen", bilanzierte Claudia Ulbrich noch 1995 die Forschungssituation. 5 Diese Einschätzung läßt sich für die frühe Neuzeit weiterhin aufrecht erhalten, auch wenn naturgemäß in den letzten Jahren weitere Publikationen vorgelegt wurden. 6 Der folgende Beitrag steht somit vor der schwierigen Aufgabe, einen äußerst heterogenen, insgesamt unzureichenden Forschungsstand zusammenzufassen. 7 Die Zahl der Untersu3

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Vgl. dazu zuletzt zusammenfassend: Werner Troßbach, „Rebellische Weiber"? Frauen in bäuerlichen Protesten des 18. Jahrhunderts, in: Heide Wunder/Christina Vanja (Hg.), Weiber, Menscher, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 1500-1800, Göttingen 1996, 154-174. Dies sagt allerdings noch nichts über den informellen Einfluß, den Ehefrauen auf die Entscheidungen ihrer Männer ausüben konnten und wohl auch ausübten. Claudia Ulbrich, Überlegungen zur Erforschung von Geschlechterrollen in der ländlichen Gesellschaft, in: Jan Peters (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften, München 1995, 359-364, hier 359. Dieses Bild spiegelt auch das Themenspektrum der Zeitschrift „L'Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft", die seit 1990 als spezifisches Publikationsorgan für Frauen- und Geschlechtergeschichte erscheint, sowohl im Aufsatz- wie im Rezensionsteil. Vgl. auch das Register für die Jahrgänge 1990-1994 in: L'Homme 6, 1995, 129-137. Für das späte 19. und das 20. Jahrhundert sieht die Forschungslage deutlich anders aus. Vgl. aus der Vielzahl der Publikationen der letzten Jahre allgemein die zahlreichen Arbeiten von Heide Inhetveen sowie exemplarisch: Johanna Werckmeister (Hg.), Land-Frauen-Alltag. Hundert Jahre Lebens- und Arbeitsbedingungen der Frauen im ländlichen Raum, Marburg 1989; Sabine Hebenstreit-Müller/Ingrid Helbrecht-Jordan (Hg.), Frauenleben in ländlichen Regionen. Individuelle und strukturelle Wandlungsprozesse in der weiblichen Lebenswelt, Bielefeld 1990; Christina Schwarz, Die Landfrauenbewegung in Deutschland. Zur Geschichte einer Frauenorganisation unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1898 bis 1933, Mainz 1990; Helma Meier-Kaienburg, Frauenarbeit auf dem Land. Zur Situation abhängig beschäftigter Frauen im Raum Hannover 1919-1939, Bielefeld 1992, dort auch der Forschungsstand zur Frauenarbeit im ausgehenden 19. und 20. Jahr-

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Perspektive

chungen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte insgesamt ist dagegen kaum noch überschaubar, umfaßt neben Einzelanalysen auch Bibliographien und mehrere neuere Forschungsberichte 8 . Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, den Darstellungen zum Forschungsstand der Frauen- und Geschlechtergeschichte einen weiteren allgemeinen Überblick hinzuzufügen. Ich werde mich vielmehr aufgrund der unbefriedigenden Forschungslage darauf beschränken, zentrale Themenkomplexe und Ergebnisse agrarhistorischer Untersuchungen exemplarisch auf geschlechtergeschichtliche Aspekte hin zu befragen, daneben neuere Ansätze zur Erforschung der ländlichen Gesellschaft in Umrissen nachzuzeichnen. Vor allem die klassischen Forschungsfelder der Agrargeschichte erwiesen sich bisher - mit Ausnahme der bäuerlichen Arbeitsteilung - als offensichtlich sperrig für geschlechtergeschichtliche Zugänge. Spiegel dieses Forschungsstandes sind zum einen die Beiträge im zentralen Publikationsorgan der deutschen agrarhistorischen Forschung, der „Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie". Die Kategorie „Geschlecht" hielt in den letzten zehn Jahren zwar Einzug auch in diese vom Themenspektrum her eher traditionell ausgerichtete Zeitschrift, allerdings ausschließlich in ihrer Variante als Frauengeschichte mit insgesamt wenigen Beiträgen sowohl im Aufsatz- als auch im Besprechungsteil und einer eindeutigen Schwerpunktsetzung auf dem späten 19. und dem 20. Jahrhundert. Auch die neueren Überblicksdarstellungen zu und Einführungen in Themenfelder der Agrargeschichte spiegeln diesen Stand: Frauen - denn diese sind momentan allgemein noch überwiegender Gegenstand der deutschsprachigen Geschlechtergeschichte - erscheinen im Kontext agrargeschichtlicher und demographischer For-

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hundert 10-23; Beate Krieg, „Landfrau, so gehts leichter!" Modernisierung durch hauswirtschaftliche Gemeinschaftsanlagen mit Elektrogroßgeräten im deutschen Südwesten von 1930 bis 1970, München 1996 mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis auch zu den allgemeinen Lebensund Arbeitsbedingungen der Frauen im ländlichen Raum; Rut [sie] Majewski/Dorothea Walther, Landfrauenalltag in Schleswig-Holstein im 20. Jahrhundert, Neumünster 1996; Doris Tillmann, Der Landfrauenbemf. Bäuerliche Arbeit, Bildungsstätten und Berufsorganisationen der Landfrauen in Schleswig-Holstein 1900-1933. Neumünster 1997. Claudia Ulbrich, Literaturbericht: Frauen- und Geschlechtergeschichte. Teil I: Renaissance, Humanismus und Reformation, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45, 1994, 108-120; Dies., Aufbruch ins Ungewisse. Feministische Frühneuzeitforschung, in: Beate Fieseler/Birgit Schulze (Hg.), Frauengeschichte: Gesucht - gefunden? Auskünfte zum Stand der Historischen Frauenforschung, Köln/Weimar/Wien 1991, 4-21; Rebekka Habermas, Geschlechtergeschichte und „anthropology of gender". Geschichte einer Begegnung, in: Historische Anthropologie 1, 1993, 485-509; Dies./Heide Wunder, Nachwort, in: Georges Duby/Michelle Perrot (Hg.), Geschichte der Frauen, Bd. 3: Frühe Neuzeit, hg. von Arlette Farge und Natalie Zemon Davies, Frankfurt a. M./New York 1994, 539-550, 567-571. In den genannten Beiträgen finden sich auch die Literaturhinweise auf die grundlegenden theoretischen, methodologischen und programmatischen Debatten zur Frauen- und Geschlechtergeschichte aus den späten 1980er und frühen 1990er Jahren. Ergänzend zu den bekannten, immer wieder zitierten Abhandlungen von Karin Hausen, Gisela Bock, Heide Wunder, Hanna Schissler u.a. sei hier - da an nicht zentraler Stelle erschienen - genannt: Ute Frevert, Entwicklungen, Sackgassen und Perspektiven historischer Frauenforschung, in: Susanne Jenisch (Hg.), Standpunkte. Ergebnisse und Perspektiven der Frauengeschichtsforschung in Baden-Württemberg, Tübingen/Stuttgart 1993, 13-24. Zur volkskundlichen Frauenforschung vgl. den Überblick bei Carola Lipp, Frauenforschung, in: Rolf-Wilhelm Brednich (Hg.)., Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie, 2. Überarb. und erw. Aufl. Berlin 1994, 311-333. Siehe auch die neue programmatische Auseinandersetzung mit der Geschlechtergeschichte bei Michaela Hohkamp, Macht, Herrschaft und Geschlecht. Ein Plädoyer zur Erforschung von Gewaltverhältnissen in der Frühen Neuzeit, in: L'Homme 7, 1996, 8-17.

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schlingen immer noch primär in ihren generativen Funktionen, daneben als Arbeiterinnen in Haushalt und Landwirtschaft, als Bäuerinnen und Mägde, gelegentlich auch als Witwen mit gemeindlichen Rechten. 9 Das „Denken in Beziehungen", 10 das Gisela Bock als programmatische Voraussetzung für die analytische Verwendung der Kategorie „Geschlecht" in historischen Untersuchungen formulierte, Geschlechtergeschichte als „Geschichte sozialer Beziehungen", findet sich in agrarhistorischen Untersuchungen immer noch selten. Frauenforschung zur ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit verbindet sich vor allem mit den Arbeiten von Heide Wunder, Christina Vanja und Claudia Ulbrich.11 Eine grundlegende, allerdings aufgrund der Betonung der „Gefährtenschaft" zwischen Mann und Frau nicht unumstrittene erste Zusammenschau weiblicher Lebens- und Erfahrungswelten in der frühen Neuzeit legte Heide Wunder vor. Dem hierarchisch definierten Geschlechterverhältnis setzt sie ihr komplementäres Konzept des Arbeitspaares entgegen, 12 in dem zwar die hausherrliche Gewalt des Mannes über die Frau nicht negiert wird, die Arbeiten von Mann und Frau zwar differierten, im Unterschied zur bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts aber als gleichwertig, als aufeinander bezogen gedacht werden. 13 Den Blick auf die bedeutende Position von „Frauen im Dorf' des späten Mittelalters im agrarhistorischen Kontext lenkt auch der breit rezipierte Beitrag von Christina Vanja.14 Auch Vanja stellt den in der Forschung der frühen achtziger Jahre noch überwiegend durch eheherrliche Vormundschaft, Züchtigungsrecht und politische Rechtlosigkeit geprägten negativen Bildern von der „ländlichen Frau" ein „eher partnerschaftliches Verhältnis zwischen den Eheleuten"15 sowie die Komplementarität weiblicher und männlicher Arbeitsbereiche gegenüber. 9

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Werner Troßbach, Bauern 1648-1806, München 1993. André Holenstein, Bauern zwischen Bauernkrieg und Dreissigjährigem Krieg, München 1996; Werner Rösener, Einführung in die Agrargeschichte, Darmstadt 1997. Gisela Bock, Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 14, 1988, 364-391, hier 379. Zusätzlich zu den oben schon erwähnten Arbeiten vgl. Claudia Ulbrich, Zeuginnen und Bittstellerinnen. Überlegungen zur Bedeutung von Ego-Dokumenten für die Erforschung weiblicher Selbstwahmehmung in der ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: Winfried Schulze (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, 207-226; Dies., Unartige Weiber. Präsenz und Renitenz von Frauen im frühneuzeitlichen Deutschland, in: Richard van Dülmen (Hg.), Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn, Frankfurt a. M. 1990, 13-42; Heide Wunder/Christina Vanja (Hg.), Weiber, Menscher, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 1500-1800, Göttingen 1996, darin auch die Neufassung eines breit rezipierten gleichnamigen Aufsatzes aus dem .Journal für Geschichte 5, 1986": Christina Vanja, Das „Weibergericht" zu Breitenbach. Verkehrte Welt in einem hessischen Dorf des 17. Jahrhunderts, 214-222. Zum Zeitpunkt des Manuskriptabschlusses leider noch nicht erschienen war Claudia Ulbrich, Sulamith und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, Köln/Wien/Weimar 1998 (Titel nach dem Verzeichnis lieferbarer Bücher). Heide Wunder, „Er ist die Sonn', sie ist der Mond". Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992. Ebd., 262ff., sowie dies., .Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert". Zur geschlechtsspezifischen Teilung und Bewertung von Arbeit in der Frühen Neuzeit, in: Karin Hausen (Hg.), Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen von Männern und Frauen, Göttingen 1993, 19-39. Christina Vanja, Frauen im Dorf. Ihre Stellung unter besonderer Berücksichtigung landgräflichhessischer Quellen des späten Mittelalters, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 34, 1986, 147-159. Ebd., 155.

Agrargeschichte der frühen Neuzeit in geschlechtergeschichtlicher

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1. Die Kategorie „Geschlecht" im Ehe- und Erbrecht: Norm und Realität Mit der Stellung der Frau im Ehe- und Erbrecht greift Ruth-Elisabeth Mohrmann eine auch im agrarhistorischen Diskussionszusammenhang zentrale Frage des frühneuzeitlichen Geschlechterverhältnisses auf, 16 zu deren Bewertung inzwischen unterschiedliche Ergebnisse und Gewichtungen vorliegen. Mohrmann kam u.a. zu dem Ergebnis, daß die Stellung der Bauemtöchter in Gebieten mit Anerbenrecht „zweifellos eine bessere [war] als die ihrer nicht erbenden Brüder. Die nichterbende Bauerntochter sah ihre Zukunft in der bäuerlichen Welt, zwar nicht auf dem elterlichen Hof, doch in einer nur graduell vom Leben der Eltern entfernten Welt, - sofern, das war das Entscheidende, ihr die Einheirat dank guter Mitgift und ihrer Qualifikation in bäuerlicher Arbeit in einen sozial gleichgestellten Hof gelang" (254). Anders sah die Situation der nichterbenden Brüder aus, deren Möglichkeiten der Einheirat auf einen gleichgestellten Hof eher gering waren (255). Aus diesen im Ehe- und Erbrecht basierenden unterschiedlichen Zukunftsperspektiven weichender und bleibender Geschwister resultierten „relativ gering entwickelte verwandtschaftliche Bindungen unter den Geschwistern ob ihrer außerordentlich großen sozialen Distanz" in Gebieten mit Anerbenrecht (255). In Realteilungsgebieten dagegen waren die verwandtschaftlichen Bindungen „meist wesentlich intensiver entwickelt und führten zu vielseitigen Kontakten zwischen den Verwandtschaftsgruppen" (255). Neuere Studien zur konkreten Heiratspraxis verweisen auf differenziertere Heiratsmuster, kleinräumigere Unterschiede und komplexere Hintergründe selbst in Regionen mit Anerbenrecht: Nach den Untersuchungen Jürgen Schlumbohms heirateten im Osnabrücker Kirchspiel Belm immerhin 47% der Anerben von Kleinbauernstellen nichterbende Großbauerntöchter, insgesamt stiegen mehr Bauerntöchter als -söhne die soziale Leiter hinab. In Fällen einer weiblichen Hofübernahme, zwar nicht die Regel, aber doch immerhin ein Viertel des untersuchten Samples trotz eindeutiger Bevorzugung der männlichen Erbfolge, heirateten die Anerbinnen in 86,7% der Fälle Söhne von Großbauern. Für diese Eheschließungen kamen ausschließlich vom Hof weichende Brüder in Frage, so daß sich zumindest für einen Teil der nichterbenden Söhne durchaus die Möglichkeit bot, in eine Vollbauernstelle einzuheiraten. 17 Josef Mooser 18 verweist für das Stift Quernheim im 18. Jahrhundert darauf, daß das Anerbenrecht insgesamt Männern wie Frauen nicht genügend Stellen bot, daß für die Mehrzahl der weichenden Geschwister beiderlei Geschlechts der gesellschaftliche Abstieg vorprogrammiert war, wobei den Frauen 16

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Ruth-Elisabeth Mohrmann, Die Stellung der Frau im bäuerlichen Ehe- und Erbrecht. Ein historisch-volkskundlicher Vergleich, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 40, 1992, 248-258. Die Zahlen bei Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650-1860, Göttingen 1994, 419ff., zusammenfassend 534. Vgl. auch die Ausführungen bei Michaela Hohkamp, Wer will erben? Überlegungen zur Erbpraxis in geschlechtsspezifischer Perspektive in der Herrschaft Triberg von 1654-1806, in: Peters, Gutsherrschaft, 327-341. Josef Mooser, Ländliche Klassengesellschaft 1770-1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen, Göttingen 1984, 189ff.

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durch die Häufigkeit von Zweitehen leicht bessere Chancen testiert werden. Bauemsöhne dagegen hatten, darauf verweist Mooser sicher zu Recht, ihren Schwestern gegenüber die Möglichkeit zum Ergreifen anderer Berufe. 19 Darüber hinaus waren Bauemtöchter aufgrund ihrer höheren Mitgift auch für Kleinbauern als Ehepartnerinnen interessant und verdrängten so vor allem die Töchter von Kleinbauernstellen in stärkerem Maß in die landlosen Schichten. Hier überlagerten die schichtspezifischen Differenzen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. David Sabean weist für das württembergische Realteilungsdorf Neckarhausen eine sich wandelnde Vererbungspraxis und einen damit einhergehenden grundlegenden Wandel des Heiratsverhaltens im Verlauf des ausgehenden 18. und vor allem zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach, der zu einer „Klassenbildung" innerhalb des Dorfes im 19. Jahrhundert führte. 20 Das über Heiraten geknüpfte soziale Netz umfaßte im frühen 18. Jahrhundert in Neckarhausen noch alle sozialen Schichten; es war üblich, daß die Ehepartner ungleiche Vermögen mit in die Ehe brachten, Familienbande wurden auch vertikal geknüpft, ein Heiratsmuster, das die dörflichen Sozialstrukturen und das Geschlechterverhältnis entscheidend prägte. Die Partnerschaften waren geprägt durch ökonomische Ungleichheit, Familienverbände hierarchisch oder asymmetrisch angeordnet, Streitigkeiten zwischen Eheleuten drehten sich vielfach um familiäre Verbindungen. Das „Haus" erweist sich nicht als klar hierarchisch geordneter Zusammenhang, sondern als Gegenstand von Berechnungen und konstantem Aushandeln. Die innerhäusliche Asymmetrie, so lautet Sabeans Schlußfolgerung seines ersten Zeitschnitts bis 1759, basierte eher auf den Unterschieden der eingebrachten Vermögen als auf der Geschlechtszugehörigkeit (gender). 21 Die Auswirkungen der Heiratspraxis auf die dörfliche Sozialstruktur insgesamt waren jedoch eindeutig, auch wenn es Allianzen zwischen vermögenden Familien gab und die ganz Armen insgesamt geringere Chancen auf den gesellschaftlichen Aufstieg hatten: „Inequality" zwischen den Ehepartnern schuf letztlich - relative „equality" innerhalb des Dorfes, verhinderte die krassen sozialen Unterschiede, die den Gebieten mit Anerbenrecht im allgemeinen attestiert werden. 22 Vor dem Hintergrund steigender Bevölkerungszahlen und sich wandelnder Arbeitsbedingungen änderte sich dies im 19. Jahrhundert grundlegend: Endogame Heiraten vor allem der vermögenden und daraus resultierend auch der unvermögenden Schichten wurden die Norm. Man achtete zunehmend darauf, daß „gleich" zu „gleich" heiratete, die verwandtschaftlichen Netze, die aus dieser Heiratspraxis re19 20

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Ebd., 194ff. David Warren Sabean, Property, Production and Family in Neckarhausen, 1700-1870, Cambridge 1990. Zum geschlechtergeschichtlichen Gehalt der Arbeit Sabeans vgl. auch die umfassende Besprechung von Thomas Sokoll, Familien hausen. Überlegungen zu David Sabeans Studie über Eigentum, Produktion und Familie in Neckarhausen 1700-1870, in: Historische Anthropologie 3, 1995, 335-348 sowie die Besprechung durch Claudia Ulbrich in: L'Homme 6, 1995, 105-110. Dorfliche „Klassenbildung" durch Abschottung der Oberschichten über endogame Heiraten weisen auch andere Arbeiten nach: Exemplarisch für das schwäbische Kiebingen eine Untersuchung, die den Wandlungsprozeß zwar aufgrund eines späteren zeitlichen Ansatzes nicht thematisiert, aber sehr vergleichbare Verhältnisse für das 19. Jahrhundert schildert: Wolfgang Kaschuba/Carola Lipp, Dörfliches Überleben. Zur Geschichte materieller Ressourcen und sozialer Reproduktion ländlicher Gesellschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Tübingen 1982, 449ff. Siehe auch Utz Jeggle, Kiebingen. Eine Heimatgeschichte, Tübingen 1978. Sabean, 238. Ebd., 237f.

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sultierten, wurden horizontal. Frauen erhielten nun in der Regel eine höhere Aussteuer als Männer und wurden damit in die Lage versetzt, über die Heirat einen sozialen Aufstieg zu erreichen, der jedoch im Unterschied zu den Verhältnissen des frühen 18. Jahrhunderts keine großen sozialen Grenzen mehr überwand. 23 In Neckarhausen bildeten sich im frühen 19. Jahrhundert Heiratsmuster und daraus resultierende dörfliche Klassenbildungen aus, die in der Forschung bisher eher Regionen mit Anerbenrecht zugeschrieben wurden. Zentral erscheinen in diesem Zusammenhang neben den Auswirkungen auf die dörfliche Sozialstruktur und die verwandtschaftlichen Netze die Konsequenzen für das Verhältnis der Geschlechter. Hier sieht Sabean eine relativ ausgewogenere Machtbalance, die sich auf ökonomischer Gleichheit in der Aussteuer und kooperierenden Arbeitszusammenhängen gründete. Diese führte jedoch nicht zu friedlicherem Zusammenleben von Mann und Frau, sondern zu Verschiebungen der Konfliktinhalte: „There was greater stress on equal contribution to household production and more disputes over the deviding lines between gender spheres of authority". 24 Diese Interpretation widerspricht dem gängigen Bild einer Verschlechterung der Position der Frau im 19. Jahrhundert und läßt sich sicherlich nicht ohne weiteres auf alle dörflichen sozialen Schichten übertragen. In Kirchentellinsfurt bei Tübingen schwächte die geänderte Heiratspraxis bzw. die damit einhergehende Pauperisierung von Teilen des Dorfes die Position von Frauen aus den unteren sozialen Schichten: Diese verzichteten aufgrund zunehmend enger werdender ökonomischer Spielräume immer mehr auf die Sicherheit, die ihnen ihr eigenes Erbteil bot, und stellten dies zur Disposition, um den Familienbesitz zu stärken. 25 Wie fruchtbar die Kombination unterschiedlicher Quellen und die Integration zahlreicher Beziehungsnetze in eine Analyse der Praxis des Ehe- und Erbrechts sein kann, wird in der Arbeit David Sabeans bespielhaft vorgeführt. Er weist überzeugend nach, daß eine geschlechtergeschichtliche Analyse des regional differierenden Erb- und Eherechts bei einer mechanistischen Aufrechnung männlicher und weiblicher Anteile und Chancen nicht stehen bleiben sollte. Zentral ist die Frage danach, ob und wie diese differierenden und variierenden Anteile das Verhältnis innerhalb der und zwischen den Geschlechtern prägten. Fragen im übrigen, die für Regionen mit Anerbenrecht noch einer vergleichbar detaillierten Erforschung anhand der Praxis bedürfen. Gab es der Frau eine stärkere Stellung innerhalb der Ehe, wenn sie die Hoferbin war? Stärkte die stattliche Mitgift einer Großbauerntochter ihr Selbstbewußtsein dem Ehemann gegenüber, wenn sie diese in eine mittel- oder kleinbäuerliche Hofstelle einbrachte? Wie gingen die Ehemänner mit dieser partiellen Umkehrung der traditionellen Rollenverteilung um, wie paßte eine ökonomische Vormachtstellung der (Ehe-)Frau in die gesellschaftlich akzeptierte, auch rechtlich untermauerte Asymmetrie des Geschlechterverhältnisses? Die schon durch die wechselseitigen Abhängigkeiten zuweilen relativ ausgewogene 23 24 25

Ebd., 241. Ebd., 246. Vgl. dazu Andrea Hauser, Dinge des Alltags. Studien zur historischen Sachkultur eines schwäbischen Dorfes, Tübingen 1994, 337. Trotz des thematischen Schwerpunktes auf der Sachkulturforschung geht diese mikrohistorisch angelegte volkskundliche Dissertation zahlreichen unmittelbar den Arbeiten Sabeans vergleichbaren Fragen nach und verfolgt daneben explizit geschlechtergeschichtliche Ansätze.

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Machtbalance zwischen den Geschlechtern in der ländlichen Gesellschaft der frühen Neuzeit führte, darauf hat Claudia Ulbrich verwiesen, zur Betonung der männlichen Dominanz durch Rituale. 26 Aus diesen Konstellationen erwuchsen zahlreiche Konflikte, die schon aus dem Grunde schwer einzuordnen sind, weil die „Konfliktlösungen selbst wieder in einen Machtkontext eingebunden waren, der nicht nur Schicht-, sondern auch geschlechtsspezifische Differenzen zeigt". 27 Daß Männer sich auch mit Gewalt zur Wehr setzten, wenn Frauen im Rahmen ehelicher Auseinandersetzungen selbstbewußt auf ihre ökonomische Potenz abhoben, daß männliches Selbstbewußtsein in dieser Hinsicht durchaus labil sein konnte, belegt Carola Lipp für Kiebingen im 19. Jahrhundert. 28 Wesentlich ist darüber hinaus gerade an diesem Punkt die Erweiterung der Perspektive um andere Formen sozialer Beziehungen und Gesellungen: 29 Männer und Frauen agierten in der Regel auch in Ehekonflikten nicht allein, Rollenverteilungen in Ehe und Haushalt waren nicht Ergebnis des alleinigen Aushandelns zwischen den Ehepartnern. Mütter und Väter, Kinder und Stiefkinder, Schwägerinnen und Schwäger waren Teile eines komplexen verwandtschaftlichen Beziehungsgefüges, in dem Konflikte ausagiert und letztlich auch Geschlechterrollen definiert wurden. Frauen flüchteten mit oder ohne Kinder zu ihren Müttern und/oder Vätern, gegebenenfalls auch zu Geschwistern oder Nachbarn und gingen danach mit deren Unterstützung vor Gericht, wenn die gewaltsame Durchsetzung der hausherrlichen Gewalt des Ehemannes die gesellschaftlich oder auch subjektiv gesteckten Grenzen überschritt. Die Einbindung in verwandtschaftliche Beziehungsnetze „und die daraus resultierende Spannung zwischen Verwandtschaft und Familie" bildeten „einen wichtigen Rahmen für die Ausgestaltung der Geschlechterverhältnisse". 30 Ein allein auf die patriarchale Struktur des Haushaltes abhebendes Modell war bei aller erkennbaren Asymmetrie im Geschlechterverhältnis in der Realität schon aus diesen Grunde vielfach nicht durchsetzbar. 31 In diesem thematischen Kontext nur am Rande zu fragen ist nach dem Realitätsgehalt der Anerbenregionen zugewiesenen hohen Konfliktträchtigkeit zwischen erbenden und weichenden Geschwistern sowie der Wirkmächtigkeit der großen sozialen

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Ulbrich, Geschlechterrollen, 362, bezieht sich an dieser Stelle auf eine Untersuchung von Susan Carol Rogers, konkretisiert aber leider die männlichen Kompensationsrituale nicht. Ebd. Kaschuba/Lipp, Dörfliches Überleben, 461. Vgl. dazu auch Jan Peters, Geschlecht und Gemeinschaft. Männlich-weibliche Gesellungsformen in gutsherrschaftlich verfaßten ländlichen Gesellschaften des 17. Jahrhunderts, in: Rolf Wilhelm Brednich u.a. (Hg.), Männlich-weiblich. Die Bedeutung der Kategorie Geschlecht in der Kultur. 31. Deutscher Volkskundekongreß in Marburg vom 22. bis 26. September 1997 (Druck in Vorbereitung). Ulbrich, Besprechung von Sabean, 107. So Sabean, Property, 171. Auch Schlumbohm, Höfe, verweist auf die hohe Bedeutung der Verwandtschaft bis in das 19. Jahrhundert hinein. Rainer Beck kam anhand der Untersuchung von Ehestreitigkeiten in der ländlichen Gesellschaft Bayerns für das 18. Jahrhundert zu dem Ergebnis, daß es vor allem Blutsverwandte waren, die sowohl in Konfliktkonstellationen zwischen Ehepartnern als auch in deren Lösungen eine zentrale Rolle spielten: Rainer Beck, Frauen in der Krise. Eheleben und Ehescheidung in der ländlichen Gesellschaft Bayerns während des Ancien régime, in: Richard van Dülmen (Hg.), Dynamik der Tradition, Frankfurt a. M. 1992. 137-212, 288-300.

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der frühen Neuzeit in geschlechtergeschichtlicher

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Distanzen. 32 Josef Mooser bietet eine zwar nicht unumstrittene, 33 aber ebenso einleuchtende Interpretation an, die in eine andere Richtung deutet. Er weist darauf hin, daß durch die ausgeprägte soziale Mobilität im Bielefelder Umland, seinem Untersuchungsgebiet, das verwandtschaftliche Netz auch nach 1750 nahezu alle sozialen Schichten umspannte und damit der ökonomisch fundierten sozialen Ungleichheit einen Teil ihrer Schärfe nahm. Mooser sieht hier einen Grund für die „oft feststellbare Abwesenheit von offenen Konflikten zwischen den sozialen Klassen auf dem Lande". 34 Die verwandtschaftlichen Netze über die Hofgrößen hinaus dokumentierten sich in Patenschaften, in der Fürsorge für in Not geratene Geschwister, der Aufnahme verwaister Kinder durch bessergestellte Verwandte. 35 Die Untersuchungsergebnisse Jürgen Schlumbohms stützen tendenziell für das Osnabrücker Kirchspiel Belm diese These: Weichende Geschwister suchten zwar die räumliche Distanz zum Hoferben, indem sie sich auch als Heuerlinge auf familienfremden Höfen niederließen. Dies bedeutete jedoch keinesfalls einen Abbruch der sozialen Beziehungen, die nach wie vor u.a. durch Patenschaften geknüpft wurden. 36 Darüber hinaus ist kritisch anzumerken, daß die Qualität der Hofstelle, die vielen nach Sozialschichten differenzierenden Untersuchungen als alleinige Kategorie zugrunde liegt, nicht in jedem Fall die soziale Position innerhalb der dörflichen Hierarchie begründete. Schon im 18. Jahrhundert bildete die Bewirtschaftung des Hofes vor allem für die mittel- und kleinbäuerlichen Schichten oft nicht die einzige Basis der familiären Ökonomie, erwirtschafteten Mittel- und Kleinbauern durch die Kombination von Landwirtschaft und Gewerbe Einkünfte, die sich von denen größerer Vollerwerbshöfe nicht unterschieden. 37 Diese dürften den Kindern zumindest theoretisch auch bessere Chancen auf dem Heiratsmarkt verschafft haben. 32

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Insgesamt fehlt es trotz aller generell in der Literatur geäußerten Hinweise auf die Vielzahl an Konflikten in der ländlichen Gesellschaft der frühen Neuzeit immer noch an einer entsprechenden historischen Bearbeitung dieser Konflikte. Vgl. die relativierende Einschätzung bei Walter Achilles, Landwirtschaft in der Frühen Neuzeit, München 1991, 119f. Mooser, Klassengesellschaft, 197. Das Überwiegen von Patenschaften außerhalb verwandtschaftlicher Netze über die klassischen Standesgrenzen hinaus belegt auch Susanne Rappe, Nach dem Krieg. Herrschaft und Ordnung im Dorf - Das Beispiel Hehlen/Weser 1650 bis 1700, Diss. Hannover 1997. Ich danke Susanne Rappe für das Überlassen des im Druck befindlichen Manuskripts. Schlumbohm, Höfe, 588. In der westfälischen Herrschaft Canstein wurden 1717 bei der Erhebung einer landesherrlichen Schätzung immerhin drei der insgesamt 61 Kötterhaushalte in der Steuerklasse 1 veranschlagt, 24 in der Steuerklasse 2, 33 in der untersten Steuerklasse 3. Von den 24 Halbspännerhöfen fanden sich 14 in der Steuerklasse 1 und drei in der Steuerklasse 3, sechs der insgesamt 22 Vollspännerhaushalte in der Steuerklasse 2. Specificatio aller eingeseßenen der herrschafft Canstein de anno 1717, in: Archiv Frhr. von Elverfeldt, Bestand A: Canstein, Akten 2461. Der ehemalige Ölmüller des Dorfes Canstein Johann Friedrich Stuhldreyer konnte, um hier nur ein Beispiel zu nennen, nicht nur aufgrund der erfolgreichen Bewirtschaftung der Mühle, sondern auch wegen seiner geschickten Geldgeschäfte im Alter über ein Sparguthaben von immerhin 500 Reichstalem verfügen, ein Faktum, das ihn zumindest ökonomisch eindeutig als Mitglied der dörflichen Oberschicht ausweist. Auch sein Schwiegersohn Hartmann Heinemann, Kötter und Schuster in Canstein, findet sich aufgrund seines Fleißes und seines ökonomischen Geschicks im Schatzungsregister des Jahres 1717 in der Steuerklasse 1 neben den Vollspännerhöfen wieder und ist in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts sogar in der Lage, das größte Gut des Dorfes Leitmar, weit mehr als einen Voll-

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2. Männerarbeit - Frauenarbeit, Männerräume - Frauenräume? Zur Frage geschlechtsspezifischer Öffentlichkeiten Zu den klassischen Themen der agrargeschichtlichen Forschung, die neben dem Mann schon früh auch die Frau in den Blickpunkt rückten, auch wenn es sich nicht um geschlechtergeschichtliche Arbeiten im eigentlichen Sinne handelt, zählt die bäuerliche Arbeitsteilung. Die wachsende Zahl an Untersuchungen erschwert allerdings aufgrund der Vielfalt regional und sozial differierender Verhältnisse eine Synthese vor allem für die frühe Neuzeit. Unbestritten ist inzwischen in der Forschung die relevante Rolle, die der Frau in der bäuerlichen Wirtschaft zukam. Frauen waren vor allem für die Milch- und Viehwirtschaft zuständig, bewirtschafteten den Garten, beaufsichtigten die Mägde, gegebenenfalls auch die Knechte, versorgten Haushalt und Kinder, verarbeiteten das Flachs, spannen, nähten, strickten und stickten, um hier nur einiges zu nennen. Als generelle Tendenz läßt sich festhalten, daß auf großen Höfen die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern bis hinab in die Gesindeebene strenger durchgehalten wurde als in klein- und unterbäuerlichen Betrieben, in denen der Arbeitskräftemangel eine strikte Trennung der Arbeiten oftmals nicht zuließ. 38 Bekannt ist auch, daß die Professionalisierung bestimmter Arbeitsbereiche z.B. in der Milchwirtschaft oder der Textilverarbeitung oftmals zur Übernahme ehemals weiblicher Tätigkeiten durch Männer führte. Diese verlieh ihnen allerdings durch die Spezialisierung den Charakter qualifizierter Lohnarbeit, 39 ging somit mit einer gesellschaftlichen Aufwertung dieser Tätigkeitsbereiche einher. Kontrovers beurteilt werden dagegen die Auswirkungen der Arbeitsteilung auf das Verhältnis der Geschlechter: Während Christina Vanja darauf verweist, daß Frauen über den Verkauf der Produkte ihrer Arbeit die finanzielle Liquidität der Wirtschaft gewährleisteten, 40 somit in der familiären Ökonomie eine bedeutende Stellung innehatten, Heide Wunder, wie oben vermerkt, auf die Komplementarität des Geschlechterverhältnisses vor allem in bezug auf den Arbeitsbereich verweist, heben andere Untersuchungen stärker auf die gesellschaftlich ungleiche Bewertung männlicher und weiblicher Tätigkeiten 41 ab. Hiermit ist der zentrale Punkt für die Beurteilung des frühneuzeitlichen Geschlechterverhältnisses genannt: Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als solche sagt, selbst wenn die Bereiche strikt getrennt bleiben, allein nur wenig aus. Entscheidend scheint vielmehr die zeitgenössische Bewertung weiblicher und männlicher Arbeiten 42 , und die unterlag offensichtlich einem histori-

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spännerhof, anzupachten (Archiv Frhr. von Elverfeldt, Bestand A: Canstein, Akten 1431, 2461). Zur Kombination von Landwirtschaft und Gewerbe vgl. exemplarisch auch die Ergebnisse bei Rainer Beck, Unterfinning. Ländliche Gesellschaft bei Anbruch der Moderne, München 1993. Auf die zahlreichen regional und sozial differierenden Varianten geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung kann und soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Verwiesen sei generell auch auf die Unterschiede zwischen Arbeiten auf dem eigenen Hof und bezahlter Lohnarbeit, bei der Frauen - auch hier gab es Ausnahmen - geringer entlohnt wurden. Wunder, .Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert", hier 32. Vgl. dazu schon die grundlegenden Überlegungen bei Günter Wiegelmann, Zum Problem der bäuerlichen Arbeitsteilung in Mitteleuropa, in: Aus Geschichte und Landeskunde. FS Franz Steinbach zum 65. Geburtstag, Bonn 1960, 637-671. Vanja, Frauen, 159. Siehe die Zusammenfassung bei Troßbach, Bauern, 75f. Dieser Sachverhalt ist auch zentral in den Arbeiten Heide Wunders und Christina Vanjas.

Agrargeschichte der frühen Neuzeit in geschlechtergeschichtlicher

Perspektive

sehen Wandel. Weitgehend einig ist man sich inzwischen bei aller regionalen und sozialen Differenzierung, daß die „Professionalisierung aller Arbeitsbereiche, die Formulierung von Qualitätsanforderungen und die Wertung und Hierarchisierung von Tätigkeiten" im Verlauf der frühen Neuzeit mit einer allgemeinen Abwertung von Frauenarbeit einherging. „Hausarbeit im engeren Sinne, das Gebären und Aufziehen der Kinder wurden zur bloß 'reproduktiven'Tätigkeit im 'Privaten'". 43 Ob, in welcher Form, für welche sozialen Schichten und mit welch eventuell zeitlicher Verzögerung diese vor allem in der bürgerlichen Gesellschaft nachweisbaren Tendenzen der „Marginalisierung" der Frau auch auf dem Lande griffen, ist für die frühe Neuzeit allerdings noch nicht hinreichend geklärt. Der Forschungsstand zur bäuerlichen Arbeitsteilung wurde unlängst für die ländliche Gesellschaft von Werner Troßbach, 44 allgemein von Christina Vanja 45 zusammengefaßt, nahezu jeder Literaturbericht zur Frauen- und Geschlechtergeschichte und jeder Überblick über Themenfelder der agrargeschichtlichen Forschung enthält Abhandlungen über die bäuerliche Arbeitsteilung. Daher zielen die folgenden Ausführungen auf Aspekte, die bisher nicht im Mittelpunkt agrarhistorischer Untersuchungen standen, jedoch auf zentrale Elemente des ländlichen Lebenszusammenhangs verweisen, die auch für die Beziehungen zwischen den und innerhalb der Geschlechter von erheblicher Bedeutung waren. 46 Hier sind es wieder vor allem die Untersuchungsergebnisse und Interpretationen David Sabeans, die den Blick auf das sich wandelnde Verhältnis zwischen den Geschlechtern im Anschluß an die geänderten Arbeitsbedingungen im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts lenken. Sabean verweist in diesem Kontext auf den zentralen Zusammenhang von Arbeitsteilung und Arbeitsrhythmus und deren Konsequenzen für geschlechtsspezifisch divergierende Kommunikationsstrukturen und geht damit schon in der Fragestellung auch qualitativ über die bisherigen Untersuchungen zur bäuerlichen Arbeitsteilung hinaus. Kommunikationssituationen zwischen und unter den Geschlechtern definierten sich in erheblichem Maß über Arbeitszusammenhänge. 47 In Neckarhausen gab es deutliche Unterschiede im Arbeitsrhythmus der Geschlechter vor allem in der Folge der agrarischen Umstrukturierung, der zunehmenden Integration neuer Hack- und Futterpflanzen im Zuge der Besömmerung der Brache, dem Übergang zur Stallfütterung im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, der Flurbereinigung und dem daraus resultierenden „individualized management of the plots". 48 Die agrari43

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Christina Vanja, Zwischen Verdrängung und Expansion, Kontrolle und Befreiung - Frauenarbeit im 18. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 79, 1992, 457-482 mit einem detaillierten Überblick über die ältere und neuere deutschsprachige Literatur, hier 481; Wunder. .Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert", 36f. Troßbach, Bauern, 71 ff. Vanja, Verdrängung. Grundlegend zur bäuerlichen Arbeitsteilung immer noch: Wiegelmann, Arbeitsteilung; Heide Wunder, Zur Stellung der Frau im Arbeitsleben und in der Gesellschaft des 15.-18. Jahrhunderts. Eine Skizze, in: Geschichtsdidaktik 6, 1981, 239-251. Siehe auch den allgemeinen Überblick bei Karin Hausen (Hg.), Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen von Männern und Frauen, Göttingen 1993. Vgl. die Betonung der Kollektivität der weiblichen Arbeitsbereiche z.B. im Wald und die im Flurzwang verankerte männliche Kollektivität bei Troßbach, Bauern, 105. Sabean, Property, 152.

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Barbara Krug-Richter sehen Innovationen erweiterten nicht nur das Spektrum weiblicher Arbeiten um die Betreuung der Futterpflanzen auf dem Feld, das Holen von Futter und die Fütterung des Viehs. Sie zeitigten mit dem erheblich gestiegenen Arbeitspensum für Frauen in Kombination mit sich ändernden männlichen Arbeitsbedingungen - u.a. einer zunehmenden Notwendigkeit, sich Arbeit außerhalb des Dorfes zu suchen - konkrete Auswirkungen auf die kommunikativen Zusammenhänge und Möglichkeiten von Männern und Frauen. Männliche und weibliche Arbeit unterschieden sich zumindest in der Landwirtschaft - und hier liegt der Schwerpunkt der Sabean'sehen Analyse, denn auch das Gros der Handwerkerhaushalte verfügte über Boden - im Neckarhausen des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert in zwei Aspekten grundlegend: Männer arbeiteten überwiegend gemeinsam, Frauen zunehmend isolierter (153f.). Männer fuhren gemeinsam zur Mühle, pflügten gemeinsam (154), gruben gemeinsam die Gräben zur Entwässerung der Äcker, um hier nur Beispiele zu nennen. Frauen dagegen gingen - vielleicht - gemeinsam zu ihren Äckern, trennten sich jedoch an deren Rändern: Sie hackten allein, sie holten das Futter allein, sie versorgten letztlich auch Haushalt und Kinder allein. „Although there must have been companionable moments in the village" - bilanziert Sabean - „around the pump, on the path of the fields, or in the road to the market, each [woman] was carrying out her own task and did the j o b alone. Housework and stall work were other individualizing tasks." 4 9 Auch strukturelle Unterschiede weiblicher und männlicher Arbeit zeitigten Auswirkungen auf die konkreten Möglichkeiten der Kommunikation. Nach Sabeans Ergebnissen war die Arbeit der Männer zwar körperlich schwer, aber stärker durch den Wechsel von Arbeit und Pausen gekennzeichnet: Die Feldarbeit wurde unterbrochen, wenn das Pferd eine Pause benötigte. Der Gang zur Mühle bot die Möglichkeit kommunikativen Austausches, warteten doch immer mehrere Männer auf das Ausmahlen ihres Getreides. Das Beschlagen von Pferdehufen bot ebenfalls die Möglichkeit zur Rast, denn der Schmied benötigte Zeit, um sein Werk zu vollbringen. Einen zentralen Kommunikationsort für Männer bildete darüber hinaus das Wirtshaus. Hier traf Mann sich - wenngleich vielleicht nicht jeden Tag - nicht nur am Feierabend zu einem den Tag abschließenden gemeinsamen Wein (in anderen Regionen Bier oder Branntwein). Auch Geschäftsverträge wurden im Wirtshaus abgeschlossen, Netzwerke ausgebildet, Arbeitskräfte vermittelt, Verkäufe ausgehandelt und vieles mehr (155). Weibliche Arbeit dagegen gestaltete sich, wie oben erwähnt, zunehmend isolierter. Darüber hinaus war der weibliche Arbeitsrhythmus im Unterschied zum männlichen Tagesablauf geprägt durch Hast, durch das Eilen von einer Aufgabe zur nächsten, was schon zeitgenössischen Beobachtern ins Auge fiel. 5 0 „Women who rose early, jumped into the stall, fetched green fodder, tended the children, prepared the meal, ran to the field to hoe, dropped the hoe to prepare the next meal ,..". 5 1 Während sich die Männer im Wirtshaus trafen, bereiteten ihre Frauen das Abendessen; sie hatten wenig Zeit für gesellige Zusammenkünfte mit anderen Frauen, und wenn, dann waren diese oft in Arbeitszusammenhänge integriert: „a rest on the 49 50 51

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bench (enough place for three or four women at most) before descending into the village, a pause to gossip at the pump while fetching water, leaning over the pitchfork in front of the barn to exchange words with the neighbor across the way, herseif just finishing cleaning the stall". Selbst die bekannten Treffen in den Spinnstuben dienten - hier fehlen zwar für Neckarhausen entsprechende Hinweise, dies ist jedoch aus anderen Untersuchungen bekannt - in erster Linie der Erledigung gemeinsamer Arbeiten. Die Steigerung des weiblichen Arbeitspensums durch die Integration zahlreicher Hackfrüchte und Futterpflanzen in die Fruchtfolge auf den Feldern ist der Forschung schon länger bekannt. 53 Es ist jedoch Sabeans besonderes Verdienst, daß er an dieser Stelle nicht stehen bleibt, sondern nach den Konsequenzen für die Beziehungen zwischen Mann und Frau fragt. Höhere Scheidungsraten, zunehmende Ehestreitigkeiten und vor allem deren inhaltliche Verschiebungen belegen die Auswirkungen der „agrarischen Revolution" auf das Verhältnis der Geschlechter: So dominierten im 18. Jahrhundert in Neckarhausen in ehelichen Auseinandersetzungen Rangeleien um die Herrschaft über den Geldbeutel, gekleidet in den Topos von der hausherrlichen „Meisterschaft", der sich Frauen auch zu dieser Zeit nicht in jedem Fall widerspruchslos unterwarfen. Die Ehestreitigkeiten des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts dagegen spiegeln zunehmend die veränderten Arbeitsbedingungen und vor allem deren Konsequenzen wider. Frauen, nun Produzentinnen eines wesentlichen Teils der Grundlagen der familiären Ökonomie, mischten sich in die männlichen Geschäfte ein, verlangten Rechenschaft für Geschäftsabschlüsse, Viehverkäufe oder ausgehandelte Preise. 54 Sie zeigten sich zunehmend intolerant gegenüber dem Wirtshausbesuch und fanden Unterstützung vor Gericht. Ein seit langem zentrales Element männlicher Kultur und Geselligkeit wurde nun als Vergeudung gemeinsam erwirtschafteter Mittel in Kombination mit Zeitverschwendung angesehen. Der im Wirtshaus nach dem Arbeitstag den Feierabend und die Männergeselligkeit suchende Mann fand sich zumindest in weiblicher Perspektive in der Rolle des verschwenderischen Müßiggängers wieder. 55 Männer dagegen klagten vermehrt über schlechtes oder lieblos zubereitetes Essen oder mangelnde Ordnung und Sauberkeit im Haus und reagierten zunehmend gewalttätiger in ehelichen Auseinandersetzungen. Hier kollidierten zwei Entwicklungen, die für das Geschlechterverhältnis offensichtliche Belastungen mit sich brachten: Zum einen das immens gestiegene Arbeitspensum für Frauen, denn keine der vorher weiblichen Arbeiten verlagerte sich im Zuge der Umstrukturierung auf den Mann. 56 Zum zweiten die Integration bürgerlicher Tugenden von Ordnung, Fleiß und Sauberkeit in die Haushalte der ländlichen Gesellschaft, deren Führung nun 52 53 54

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Ebd., 156. Vgl. den Überblick bei Vanja, Verdrängung. Die Ergebnisse Sabeans relativieren im übrigen die Allgemeingültigkeit der These vom Rückzug der Frauen aus der Produktivität, der zunehmenden Privatisierung weiblicher Arbeit im 19. Jahrhundert auch auf dem Land. Vgl. dazu auch schon die kritischen Anmerkungen bei Vanja, Verdrängung, hier 461 f. Eine vergleichbar kritische Haltung der Frauen gegenüber dem männlichen Wirtshausbesuch weist Lyndal Roper (Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation, Frankfurt a. M./New York 1995, 147ff.) in Augsburg schon für das 16. Jahrhundert nach. Sabean, Property, 110, 179ff.

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ausschließlich den Frauen zugeschrieben wurde. 57 An die Stelle der vorher männlich definierten „Haushaltung" im Sinne einer Familienökonomie 5 8 trat die weibliche Haushaltung in ihrer Gestalt als „Häuslichkeit"; Haushaltsführung und Häuslichkeit definierten sich nun über „typisch weibliche" Tätigkeiten innerhalb des Hauses sowie über eine neue Ideologie der Ordnung, neue Standards für die Sauberkeit des Hauses, der Kleidung und der Kinder. 59 Die Konsequenzen dieser Entwicklung werden in der Forschung unterschiedlich bewertet: Während David Sabean für Neckarhausen auf die Möglichkeiten differierender und variierender Reproduktionsstrategien abhebt, sieht Andrea Hauser für das regional vergleichbare schwäbische Realteilungsdorf Kirchentellinsfurt in diesem dort ebenfalls nachweisbaren Prozeß „die Verlustgeschichte für Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft", die „innere Kolonisierung" der Frau „und eine gesellschaftliche Unsichtbarmachung von Frauenarbeit, speziell von Hausarbeit" dokumentiert. 60 Dieser Einschätzung widerspricht allerdings die Zweigleisigkeit des Prozesses: Die steigende weibliche Arbeitsbelastung in der Landwirtschaft hatte neben den sich ändernden Anforderungen innerhalb des Hauses ihren Ursprung in agrarischen Innovationen, die kulturell als weiblich definierte Arbeiten vom Garten auf das Feld, somit ins „Außen" verlagerten. Darüber hinaus wandelte sich auch der „Arbeitsmarkt" für Männer, den diese nun vermehrt außerhalb des Dorfes fanden. Folge dieser Entwicklungen war eine partielle „Feminisierung" des Dorfes, 61 und diese zeigte sich nicht nur im „Innen", sondern daneben entscheidend auch im „Außen". Von einem - erzwungenen - Rückzug der Frauen in eine bürgerlichen Verhältnissen vergleichbare „Privatsphäre Haus" zu Beginn des 19. Jahrhunderts kann zumindest für diese ländliche Gesellschaft somit keine Rede sein. Die oben skizzierten Veränderungen ließen sich auch als Beginn einer weiblichen Doppelbelastung interpretieren, die neben der Bewältigung der Anforderungen im Inneren des Hauses in zunehmendem Maß auch die des „Außen" einschloß (und die partiell bis heute anhält). 62 Eine Interpretation als Verlustgeschichte für Frauen liegt vor allem in Anbetracht der Auswirkungen weibliche Arbeitstage ohne Pausen, höhere Kindersterblichkeit, niedrigere weibliche Lebenserwartung - nahe. 63 Gerade die Beispiele, die Sabean nennt, belegen neben 57 58

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Hauser, Dinge des Alltags, 324ff. „In any event, a Haushalter was someone who had an Oeconomie, an area of competence over house, family, and farm, as a whole he managed"; Sabean, Property, 1 lOf. Ebd., 110 sowie 179ff. Hauser, Dinge des Alltags, 326f. mit Anm. 641. Ulbrich, Besprechung von Sabean, 108. Vgl. die Ausführungen zur weiblichen Doppelbelastung um 1900 bei Karin Hausen: „Als es immer absurder wurde, weiterhin die Erwerbsarbeit von Arbeiterinnen und Mittelstandsfrauen abschaffen zu wollen, richtete sich das öffentliche Interesse verstärkt auf deren sozialverträgliche Ausgestaltung. Das flankierende Programm der Erziehung der Frauen zum Doppelberuf bzw. zur Doppelbelastung begann seinen auch heute noch wirksamen Siegeslauf'; Karin Hausen, Wirtschaftsgeschichte als Geschlechtergeschichte, in: Franziska Jenny/Gudrun Piller/Barbara Rettenmund (Hg.), Orte der Geschlechtergeschichte. Beiträge zur 7. Schweizerischen Historikerinnentagung. Zürich 1994, 271-288, hier 276. Hans Medick, Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte, Göttingen 1996, 295ff., verweist auf den Zusammenhang zwischen der hohen Arbeitsbelastung der Frauen und die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit in Laichingen. Zum geschlechtergeschichtlichen Gehalt der Arbeit Medicks vgl. auch: Im Gespräch. Edith Saurer und Hans Medick. in: L'Homme 7, 1996, 70-86, hier 80ff. Auf die niedrige Lebenserwartung von

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dem sprichwörtlichen, durch die geänderten Verhältnisse auch erzwungenen Fleiß 64 der Neckarhauser Frauen allerdings auch deren selbstbewußte Verwendung ihrer erweiterten Kompetenzen im „Geschlechterkampf'. Eine unmittelbar dem methodischen Ansatz, den Fragestellungen und vor allem der Tiefe der Analyse Sabeans vergleichbare Untersuchung für ein Anerbengebiet fehlt bisher, auch wenn die Arbeit Jürgen Schlumbohms in vielen Punkten Vergleichsmöglichkeiten bietet. Zu bedenken ist allerdings Claudia Ulbrichs Hinweis, daß es nicht ausreiche, allein nach Realteilungs- und Anerbengebieten zu differenzieren, zumal ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Arbeitsteilung, Besitz, Verwandtschaftsdefinitionen und Geschlechterkonzeptionen nicht bestanden habe. 65 Vielleicht kann die Hofgröße an Unterscheidungskriterium weiterhelfen. Größere Höfe, die in Regionen mit Anerbenrecht häufiger vertreten waren als in Realteilungsgebieten, zeitigten besondere Erfordernisse hinsichtlich ihrer Bewirtschaftung, die eine vergleichende Betrachtung nahelegen. Auch wenn die drei Generationen umfassende Großfamilie auch hier nicht das dominante Modell darstellte - die Familienstrukturen variierten im Lebenszyklus wie innerhalb der dörflichen Sozialschichten - , 0 6 war zumindest in den groß- und mittelbäuerlichen Betrieben die Mitarbeit von Kindern, Gesinde oder aber auch Tagelöhnern erforderlich 67 und geläufig. Als konkrete Konsequenz dieser Hofstrukturen gestaltete sich vermutlich auch der weibliche Arbeitsalltag hier weniger isoliert als auf den Kleinparzellen der Realteilungsregionen. Die Praxis, wie sie sich vor allem in Gerichtsprotokollen spiegelt, zeugt von einer Fülle kollektiver weiblicher Arbeitszusammenhänge: Auf den Äckern und in der Flachsverarbeitung taten sich Frauen zusammen, 68 in bäuerlichen Haushalten waren die schon sprichwörtliche, da konfliktträchtige Anwesenheit von Mutter oder Schwiegermutter und die daraus resultierenden Kompetenzstreitigkeiten um die Haushaltsführung ebenfalls nicht selten. 69 Selbst das viel gerügte „Krau-

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Frauen u.a. auch durch die hohe Arbeitsbelastung verweist Diedrich Saalfeld, Die Rolle der Frau in der nordwestdeutschen Landwirtschaft vom Beginn der Neuzeit bis zu den Agrarreformen des 19. Jahrhunderts, in: Braunschweigisches Jahrbuch 70, 1989, 115-137. Zum ,.Fleiß" als spezifisch weiblicher Tugend siehe die Überlegungen von Claudia Ulbrich, Weibliche Delinquenz im 18. Jahrhundert. Eine dörfliche Fallstudie, in: Otto Ulbricht (Hg.), Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminaltät in der Frühen Neuzeit, Köln/Wien/Weimar 1995, 281311, hier 300 mit Anm. 113. Ulbrich, Geschlechterrollen, 362. Dies hat Schlumbohm, Höfe beispielhaft für ein Anerbengebiet nachgewiesen. An dieser Stelle sei allgemein verwiesen auf die zahlreichen Untersuchungen zur Familienforschung sowie zur historischen Demographie. Vgl. auch den Überblick bei Saalfeld, Die Rolle der Frau. Schlumbohm, Höfe, 263f. mit Anm. 102 weist für das Osnabrücker Kirchspiel Belm nach, daß 1772 in einem erheblichen Teil der bäuerlichen Haushalte neben der Hausfrau auch deren Mutter oder Schwiegermutter, daneben auch noch andere Frauen/Mädchen über 14 Jahren lebten. Auf die Erledigung von Fronarbeiten auch durch Frauen oder das Arbeitspaar verweist Lieselott Enders, Bürde und Würde. Sozialstatus und Selbstverständnis frühneuzeitlicher Frauen in der Mark Brandenburg, in: Wunder/Vanja, Weiber, 123-153. Siehe dazu auch Wunder, Sonn', 248. Vgl. zur weiblichen Kollektivität der Arbeitszusammenhänge auch die Zusammenfassung bei Troßbach, Bauern, 105. Hinweise auf kollektive weibliche Arbeitszusammenhänge, z.B. in der Sammelwirtschaft, fehlen leider bei Sabean ebenso wie Hinweise auf das gemeinsame Spinnen der Frauen. Letzteres mag jedoch auch aus der Tatsache resultieren, daß das Weben erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts in Neckarhausen an Bedeutung gewann und daß ein wesentlicher Teil der dörflichen Ökonomie auf dem Verhandeln von Flachs und Hanf basierte. Schlumbohm, Höfe; für Niedersachsen Saalfeld, Die Rolle der Frau.

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ten" auf Nachbars Feldern oder das Sammeln von Nüssen im Herbst fanden oft in Gruppen statt.70 Deutlich wird die Kollektivität weiblicher Arbeitszusammenhänge auch in zahlreichen Widerstandsaktionen, in denen Frauen sich zusammentaten, um z.B. Pfändungen zu verhindern.71 Auch die Enge räumlicher Verhältnisse, das Zusammenwohnen mehrerer nicht zwingend verwandter Familien in einem Haus, das auch in Regionen mit Anerbenrecht durchaus üblich war, bot einerseits Anlaß für Konflikte und verhinderte andererseits die Ausprägung einer Privatsphäre im heutigen Sinne. Daneben boten sich allerdings auch und gerade für Frauen zahlreiche kommunikative Möglichkeiten. Reine „Frauen- oder Männerräume" allerdings prägten sich unter derartigen Konstellationen wohl eher selten aus, im Gegenteil: Der spinnenden Hausmutter oder Tochter leisteten gegebenenfalls nicht nur die Schwiegermutter, sondern auch Schwager oder Bruder Gesellschaft, die in der Stube parallel ihr Handwerk ausübten. 72 Auch die oben schon erwähnten Arbeitspausen der Männer führten diese nicht immer nur ins Wirtshaus, sondern gelegentlich auch nach Hause. Männerräume - Frauenräume: Die Scheidung in geschlechtsspezifisch besetzte Kommunikations"räume" verweist auf eine in der Forschung seit geraumer Zeit diskutierte Unterteilung der frühneuzeitlichen Lebenswelten in verschiedene Öffentlichkeiten oder Räume. 73 Dem männlichen Kommunikationszentrum „Wirtshaus" werden spezifisch weibliche Öffentlichkeiten wie die Spinnstube, der Dorfbrunnen oder die Flachsdarre entgegengesetzt. 74 Umstritten ist nach wie vor auch für die frühneuzeitliche ländliche Gesellschaft die Dichotomie von „privat" und „öffentlich" vor allem in ihren geschlechtsspezifischen Konnotationen.75 Die seit dem 18. Jahrhundert auf der Diskursebene greifbare Zuweisung von Frauen zum Privaten, dem Haus, und Männern zum Öffentlichen erwies sich - dies ist eines der zentralen 70

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Exemplarisch: Archiv Frhr. von Elverfeldt, Bestand A: Canstein, Akten 1425, 1443-1445 (Rügegerichtsprotokolle der Dörfer Canstein, Heddinghausen, Leitmar, Udorf und Bomtosten 1718/1719). Troßbach, Rebellische Weiber, 165. Exemplarisch sei hier der Fall der Witwe des Halbspänners Philip Rehling aus dem westfälischen Canstein in den Jahren 1713/14 genannt, die ihren Haushalt nach dem Tod ihres Mannes mit zwei ihrer Töchter und deren Ehemännern teilte. Diese Konstellation war nicht nur wegen der räumlichen Enge, sondern auch aufgrund differierender Ansprüche auf die Nutzung der wenigen Räume äußerst konfliktträchtig. Die drei Familien teilten nicht nur die gemeinsame Stube in nach Familien unterschiedene Bereiche auf. Ferdinand Wiechert. einer der beiden im Haus lebenden Schwiegersöhne, übte dort auch sein Schneiderhandwerk aus. Eine weitere Stube des Hauses diente dem zweiten Schwiegersohn Thiel Hoppe als Schreinerwerkstatt und wurde gleichzeitig von Ferdinand Wiechert als Schulstube genutzt, denn dieser war zu dieser Zeit gleichzeitig der Lehrer des Dorfes. Eine derartige Situation bot nachweisbar wenig Raum für den Rückzug in weibliche oder männliche Domänen, daneben war das Haus durch die Anwesenheit von Kunden der beiden Schwiegersöhne ständig voll (Archiv Frhr. von Elverfeldt, Bestand A: Canstein, Akten 1426). Exemplarisch: Karin Hausen, Frauenräume, in: Dies./Heide Wunder (Hg.), Frauengeschichte Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M./New York 1992, 21-24; Dies., Öffentlichkeit und Privatheit. Gesellschaftspolitische Konstruktionen und die Geschichte der Geschlechterbeziehungen, in: Ebd., 81-88. Für die ländliche Gesellschaft insbes. Regina Schulte, Bevor das Gerede zum Tratsch wird, in: Ebd., 67-73. Vgl. den Überblick über die Forschungslage bei Troßbach, Bauern, 106. In der neueren Frauenforschung wird der Wert dieses Begriffspaares zur Erklärung der „Ausgestaltung der Geschlechterverhältnisse" z.T. generell in Frage gestellt. Siehe Hausen, Öffentlichkeit, 87; Habermas, Geschlechtergeschichte, mit einem Überblick über die unterschiedlichen Standpunkte.

Agrargeschichte der frühen Neuzeit in geschlechtergeschichtlicher

Perspektive

Ergebnisse geschlechtergeschichtlicher Arbeiten - als gesellschaftliches Konstrukt, „das die historische Realität des Geschlechterverhältnisses nicht widerspiegelt". 76 Insgesamt kannte die ländliche Gesellschaft bis weit in das 19. Jahrhundert zwar verschiedene Öffentlichkeiten; eine „Privatsphäre" dagegen ist schon quellenmäßig weit schwerer greifbar, inhaltlich anders zu definieren und darüber hinaus begrifflich schwer zu fassen, da dem gängigen Begriffspaar „privat-öffentlich" der Nachteil anhaftet, daß ein dem heutigen Sinn vergleichbarer Begriff des „Privaten" erst für das 19. Jahrhundert belegt ist. 77 Die Existenz weiblicher und männlicher Öffentlichkeiten, einer schon in der Arbeitsteilung basierenden Trennung der Geschlechter in bestimmten Bereichen sowie geschlechtsspezifisch besetzter Kommunikationskontexte ist unbestritten. Nach wie vor unklar scheint jedoch die Schärfe der Grenzen sowie die Relevanz männlicher und weiblicher Kollektivität für die Ausprägung geschlechtsspezifischer, vor allem weiblicher Identitäten: 78 Bekanntermaßen war die Spinnstube ein Ort, an dem sich des öfteren auch Männer einfanden, der Dorfbrunnen ein beiden Geschlechtern zugänglicher öffentlicher Platz, 79 und selbst im Wirtshaus waren, wenngleich seltener, Frauen vertreten. 80 Auch die Mühle war, anders als in Neckarhausen, nicht zwingend ein Kommunikationsort überwiegend für Männer. 81 Zu fragen ist auch nach der überregionalen Gültigkeit derartiger Konzepte: Für Regionen mit Reihebraurecht z.B., das die bäuerlichen Haushalte in regelmäßigen Abständen zum öffentlichen Wirtshaus machte, war die Anwesenheit von Frauen in den temporären Trinkstuben durchaus geläufig. Das Bier wurde in der Regel in der Stube des Hauses ausgeschenkt, in der Frauen neben der Ausschanktätigkeit weiterhin ihren anderen Arbeiten nachgingen. Die Anwesenheit von Frauen auch im männlichen Kommunikationsraum „Kneipe" wird schon an der Häufigkeit deutlich, mit der diese als Zeuginnen vor Gericht über männliche Raufhändel befragt wurden, sowie an der Geläufigkeit, mit der sie sich in derartigen Streitereien als Schlichterinnen betätigten. 82 Auch die schon zeitgenössisch stereotyp den Frauen zugewiesene 76

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Michaela Holtkamp, Frauen vor Gericht, in: Mireille Othenin-Girard/Anna Gossenreiter/Sabine Trautweiler (Hg.), Frauen und Öffentlichkeit. Beiträge der 6. Schweizerischen Historikerinnentagung, Zürich 1991, 115-124, hier IIS. Siehe auch die übrigen Beiträge dieses Bandes, die für durchaus unterschiedliche Verwendungen der Begrifflichkeiten eintreten. Hausen, Öffentlichkeit und Privatheit. Gerade über weibliche Gruppenkulturen ist bisher wenig bekannt. Siehe Heide Wunder/Christine Vanja, Einleitung, in: Dies., Weiber, 7-25, hier 11. Auf die begrenzte Aussagefähigkeit von Konzepten, die die Trennung männlicher und weiblicher Sphären betonen, für eine Geschlechtergeschichte der frühneuzeitlichen Gesellschaft verweist Lyndal Roper, Gendered Exchanges: Women and Communication in Sixteenth-Century-Germany, in: Kommunikation und Alltag in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Internationaler Kongreß Krems an der Donau 9.-12. Oktober 1990, Wien 1992, 199-217. Ulbrich, Unartige Weiber, 25. Dies galt im übrigen auch für die Stadt. Vgl. exemplarisch zuletzt für Paris im 18. Jahrhundert Arlette Farge, Frauen in der Stadt - Paris im 18. Jahrhundert. Beziehungen zwischen der männlichen und der weiblichen Welt, in: L'Homme 7, 1996, 18-27. Martin Dinges, Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994. In Hehlen trugen beide Geschlechter das Getreide zur Mühle; Rappe, Nach dem Krieg. Auch in der westfälischen Guts- und GerichtsherTschaft Canstein gingen im ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert Männer wie Frauen zur Mühle, die in Abwesenheit des Mannes auch die Müllerin bediente. Barbara Krug-Richter, Schlagende Männer, keifende Weiber? Geschlechtsspezifische Aspekte von Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft der frühen Neuzeit, in: Brednich u.a.,

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Kommunikation über Gerücht und Gerede erweist sich bei genauerem Hinsehen als weniger geschlechtsspezifisch besetzt als gemeinhin angenommen. In die dörflichen Informationskanäle speisten nicht nur beide Geschlechter, sondern auch alle Generationen einschließlich der Kinder ihre Informationen ein. 83 Bedenkenswert scheint mir hier der Hinweis Claudia Ulbrichs, daß die Trennlinie zwischen den Geschlechtern in der ländlichen Gesellschaft weniger entlang von Räumen als vielmehr über Funktionen verlief. 84

3. Konflikthafte Beziehungen: Männer und Frauen vor Gericht Zu den Schwerpunktthemen der neueren Sozialgeschichte der ländlichen Gesellschaft mit einer starken geschlechtergeschichtlichen Ausrichtung zählt die Untersuchung von innerdörflichen Konflikten und deren Regulierungen. Weibliche Betriebsamkeit und männliche Freizeit, die divergierenden kommunikativen Kontexte der Geschlechter spiegeln sich auch in den innerdörflichen Konflikten. Während das Gros männlicher Händel im Zusammenhang mit Wirtshausbesuchen, Alkoholkonsum oder Kartenspielen entstand, kreiste die Mehrzahl weiblicher Konflikte um den weiblichen Verantwortungs- und Arbeitsbereich innerhalb und außerhalb des Hauses: Um Übergriffe auf die Kinder, das Vieh, die Erträge der eigenen Arbeit in Garten, Haushaltung und Viehwirtschaft, um Brau- und Schankrechte, um die weiblichen Kompetenzen in der Haushaltsführung. 85 Obgleich für den ländlichen Bereich der frühen Neuzeit insgesamt erst wenige „konfliktorientierte" Studien vorliegen 86 - die inzwischen boomende historische Kriminalitätsforschung legte Ergebnisse bisher überwiegend zu städtischen Gesell-

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Männlich-weiblich (im Druck); Dies., Konfliktregulierung zwischen dörflicher Sozialkontrolle und patrimonialer Gerichtsbarkeit. Das Rügegericht in der westfälischen Gerichtsherrschaft Canstein 1718/19, in: Historische Anthropologie 5, 1997, 212-228, hier 227. In dieser Hinsicht widersprechen die Verhältnisse in einer nordwestdeutschen den Ergebnissen von Claudia Ulbrich (Weibliche Delinquenz, 298) für eine süddeutsche Gerichtsherrschaft, in der Frauen sich nur selten in Raufereien einmischten, vor allem, um ihre Kinder zu verteidigen. Pia Holenstein, Norbert Schindler, Geschwätzgeschichte(n). Ein kulturhistorisches Plädoyer für die Rehabilitierung der unkontrollierten Rede, in: Richard van Dülmen (Hg.), Dynamik der Tradition, Frankfurt a. M. 1992, 41-108, 271-281; Schulte, Gerede. Die Kanäle, in denen das dörfliche Gerede verlief, sind in der Herrschaft Canstein besonders gut nachvollziehbar im Ermittlungsverfahren gegen Jakob Rehling wegen Diebstahls in den Jahren 1715-16, in: Archiv Frhr. von Elverfeldt, Bestand A: Canstein, Akten 1431, 1391, 1392, 1394. Hier partizipierten nicht nur beide Geschlechter, sondern selbst Kinder am dörflichen Informationsaustausch. Allgemein dazu auch die Ergebnisse der neueren Hexenforschung, exemplarisch Rainer Walz, Hexenglaube und magische Kommunikation im Dorf der Frühen Neuzeit. Die Verfolgungen in der Grafschaft Lippe, Paderborn 1993. Ulbrich, Weibliche Delinquenz, 284. Ebd.; demnächst auch Krug-Richter, Schlagende Männer. Jan Peters, Frauen vor Gericht in einer märkischen Gutsherrschaft (2. Hälfte des 17. Jahrhunderts), in: Ulbricht, Huren, 231-258. Vgl. auch die Einschätzung von Ulbrich, Geschlechterrollen, hier 360 mit Anm. 3. Bei Manuskriptabschluß noch nicht erschienen war: Monika Mommertz, Handeln, bedeuten, Geschlecht. Konfliktaustragungspraktiken in der ländlichen Gesellschaft der Mark Brandenburg (2. Hälfte des 16. Jahrhunderts bis zum 30jährigen Krieg), phil. Diss. Florenz 1997.

Agrargeschichte

der frühen Neuzeit in geschlechtergeschichtlicher

Perspektive

schaften vor - , 8 7 verweisen erste Untersuchungen daneben auf grundlegende Unterschiede im Konflikt- und Deliktverhalten zwischen den Geschlechtern. Die geringere Gewaltbereitschaft von Frauen in Stadt und Land ist inzwischen sowohl für historische Zeiten als auch für die Gegenwart hinlänglich belegt. 88 Auch die Formen des Konfliktaustrages variierten: Obschon sich in den Quellen genügend Beispiele für körperliche Auseinandersetzungen zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Frauen finden lassen, bleibt doch unübersehbar, daß Frauen sehr viel seltener rauften als Männer. Darüber hinaus wählten sie erheblich seltener als Männer die Konfliktlösung über das Gericht. 89 Selbst die stereotyp dem weiblichen Geschlecht zugeschriebene Waffe des Wortes setzten rein quantitativ Männer weit häufiger in Auseinandersetzungen ein. Den virtuoseren Umgang von Frauen mit Sprache belegt allerdings das breitere Spektrum an Beschimpfungen, das die weiblichen Schimpfkanonaden trotz der geringeren Zahl an Ehrenhändeln aufwiesen. 90 Darüber hinaus verfügten Frauen mit dem Einsatz „magischer" Worte über Mittel der Auseinandersetzung, die als der männlichen Gewalt durchaus ebenbürtig empfunden werden konnten. 91 Über die Gründe der quantitativen Unterschiede im weiblichen und männlichen Konflikt- und vor allem Deliktverhalten ist viel geschrieben und diskutiert worden: Die Erklärungsansätze reichen von rein biologistischen bis zu rein soziokulturellen 87

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Anstelle zahlreicher Einzeltitel sei hier verwiesen auf den aktuellen Überblick bei Joachim Eibach, Kriminalitätsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift 263 (1996), 681 -715. Rainer Walz, Schimpfende Weiber. Frauen in lippischen Beleidigungsprozessen des 17. Jahrhunderts, in: Wunder/Vanja, Weiber, 175-198. Ulbrich, Weibliche Delinquenz. Heide Wunder, „Weibliche Kriminalität" in der Frühen Neuzeit. Überlegungen aus der Sicht der Geschlechtergeschichte, in: Ulbricht, Huren, 39-62; Otto Ulbricht, Einleitung: Für eine Geschichte der weiblichen Kriminalität in der Frühen Neuzeit oder: Geschlechtergeschichte, historische Kriminalitätsforschung und weibliche Kriminalität, in: Ebd., 1-38 sowie die übrigen Beiträge dieses Bandes. Dort auch die neuere weiterführende Literatur. Eine erste Monographie zur ländlichen Delinquenz, die auch geschlechtsspezifische Unterschiede berücksichtigt, allerdings nicht geschlechtergeschichtlich im eigentlichen Sinne angelegt ist, bietet auf der Basis von Gogerichtsakten Michael Frank, Dörfliche Gesellschaft und Kriminalität. Das Fallbeispiel Lippe 1650-1800, Paderborn 1995. Ulrike Gleixner, Das Gesamtgericht der Herrschaft Schulenburg im 18. Jahrhundert. Funktionsweise und Zugang von Frauen und Männern, in: Peters, Gutsherrschaft, 301-326; Hohkamp, Frauen vor Gericht; Dies., Herrschaft auf dem Lande. Untertäniges und obrigkeitliches R e a g i e ren, Verwaltungsalltag und Gerichtspraxis in der vorderösterreichischen Obervogtei und Kameralhenschaft Triberg von 1737-1780, phil. Diss. Göttingen 1994 (Masch.schr.); Bernhard MüllerWirthmann, Raufhändel. Gewalt und Ehre im Dorf, in: Richard van Dülmen (Hg.), Kultur der einfachen Leute. Bayerisches Volksleben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, München 1983, 79-111, 225-232; Albert Schnyder-Burghartz, Alltag und Lebensformen auf der Basier Landschaft um 1700. Vorindustrielle, ländliche Kultur und Gesellschaft aus mikrohistorischer Perspektive - Bretzwil und das obere Waldenburger Amt von 1690 bis 1750, Liestal 1993; Rainer Walz, Agonale Kommunikation im Dorf der Frühen Neuzeit, in: Westfälische Forschungen 14, 1992, 215-251; Ders., Schimpfende Weiber. Frank, Dörfliche Gesellschaft und Kriminalität; Rappe, Nach dem Krieg; Gerd Schwerhoff, Geschlechtsspezifische Kriminalität im frühneuzeitlichen Köln. Fakten und Fiktionen, in: Ulbricht, Huren, 83-115. Krug-Richter, Schlagende Männer; Sabean, Property. Monika Mommertz, „Hat ermeldetes Weib mich angefallen" - Gerichtsherrschaft und dörfliche Sozialkontrolle in Rechtshilfeanfragen an den Brandenburger Schöppenstuhl um 1600. Ein Werkstattbericht, in: Peters, Gutsherrschaft, 343-358. Zur Macht des Wortes auch Sabean, Property, 137.

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Barbara Krug-Richter Erklärungsansätzen. 92 Auch die Interpretation, daß Frauen über weniger Ehre verfugten als Männer und deshalb seltener wegen Ehrverletzungen vor Gericht auftraten, steht in diesem Diskussionskontext. 93 Ob Ehre sich allerdings in einem quasi additiven oder subtraktiven Konzept anhand der Ehrklagen vor Gericht schlichtweg auszählen läßt - je mehr Ehrklagen, desto mehr, je weniger, desto weniger Ehre erscheint zumindest fraglich. Zu bedenken in der Bewertung des weiblichen Klageverhaltens vor Gericht sind darüber hinaus der Einfluß der Geschlechtsvormundschaft 94 in Zivilangelegenheiten, daneben die Rückwirkung gesellschaftlicher Rollenbilder nicht nur auf die Konfliktpotentiale, sondern auch auf die Sanktionierung weiblicher Delikte, die gesellschaftliche wie rechtliche Konstruktion einer Geschlechtsspezifik des Normverstoßes. 95 Das Thema insgesamt kann in diesem Zusammenhang nicht ansatzweise erschöpfend erörtert werden. Zu verweisen ist zum einen darauf, daß ein Teil der Konflikte gar nicht bis vor die Gerichte gelangte, die überlieferten Formen des Konfliktverhaltens somit nur einen kleinen Ausschnitt fassen. Die vorindustrielle ländliche Gesellschaft verfügte über ein breites Repertoire an vor- und außergerichtlichen Möglichkeiten der Konfliktregulierung, von denen Männer wie Frauen Gebrauch machten. 96 Die Rolle, die Frauen auch für die Schlichtung von Konflikten zwischen Männern zukam, verweist weniger auf den friedliebenderen Charakter des weiblichen Geschlechtes als vielmehr auf die spezifische Konzeption männlicher Ehre: Während der Schlichtungsversuch durch einen Mann schnell als Angriff oder unberechtigte parteiische Einmischung interpretiert wurde, die männliche Ehre erforderte vor allem in Raufereien, „seinen Mann" zu stehen, 97 und zwar allein, bestand diese Gefahr bei weiblicher Intervention nicht. Unerforscht sind bisher die eventuell geschlechtsspezifisch unterschiedliche Akzeptanz der gemeindlichen Funktionsträger als Schlichtungsinstanz, der Einfluß der ehe- oder auch hausherrlichen Autorität auf 92

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Die umfangreichsten Erklärungsansätze finden sich in den Diskussionen um das variierende delinquente Verhalten der Geschlechter; vgl. den fundierten, aktuellen Überblick über die unterschiedlichen Erklärungsansätze bei Ulbricht, Einleitung, in: Ders., Huren, 1-37, sowie die Beiträge von Claudia Ulbrich und Heide Wunder; ebd. Exemplarisch: Ruth-Elisabeth Mohrmann, Volksleben in Wilster im 16. und 17. Jahrhundert. Neumünster 1977. Karl-Sigismund Kramer, Hohnsprake, Wrakeworte, Nachschnack und Ungebühr. Ehrenhändel in holsteinischen Quellen, in: Kieler Blätter für Volkskunde 16, 1984, 49-85. Neuerdings noch Walz, Schimpfende Weiber. Die Geschlechtsvormundschaft, wenngleich regional unterschiedlich gehandhabt und verankert, schrieb Frauen zumindest in zivilen Rechtssachen einen männlichen Beistand vor, der ihre Interessen vor Gericht vertrat. In Kriminalsachen allerdings waren Frauen generell rechtsfähig und somit auch ohne männlichen Beistand zur Verantwortung zu ziehen. Daß die Geschlechtsvormundschaft in Zivilangelegenheiten in Regionen, in denen sie nicht nur formal, sondern auch real griff, Einfluß auf das Klageverhalten von Frauen nahm, erscheint folgerichtig; vgl. Hohkamp, Herrschaft auf dem Lande. In der Rechtspraxis allerdings finden sich ungeachtet dessen auch in Zivilsachen Frauen durchaus ohne männlichen Beistand vor Gericht. Zur Geschlechtsvormundschaft vgl. neuerdings auch die Beiträge in: Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, 390-506. Auf diesen Sachverhalt verweist pointiert und berechtigt Wunder. „Weibliche Kriminalität". Vgl. Krug-Richter, Konfliktregulierung: Wunder, „Weibliche Kriminalität", 50ff.; Walz, Magische Kommunikation. Für die städtische Gesellschaft des 16. und 17. Jahrhunderts vgl. dazu Lyndal Roper, Männlichkeit und männliche Ehre, in: Karin Hausen/Heide Wunder (Hg.), Frauengeschichte - Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M./New York 1992, 154-172, sowie dies.. Das fromme Haus.

Agrargeschichte

der frühen Neuzeit in geschlechtergeschichtlicher

Perspektive

die vorgerichtliche Eindämmung weiblicher und innerfamiliärer Konflikte oder Streitigkeiten innerhalb des Gesindes. 98 Neben wenigen allgemein auf die Konflikthaftigkeit der frühneuzeitlichen ländlichen Gesellschaft ausgerichteten Studien liegen vor allem auf frauenspezifische Fragestellungen orientierte Untersuchungen vor. Deren Ergebnisse verweisen allerdings auf die Möglichkeiten, die jenseits quantitativer Auszählungen geschlechtsspezifischen Deliktverhaltens in einem konfliktorientierten Zugriff liegen. Geschlecht als soziale und kulturelle Kategorie eröffnet hier die Perspektive auf die historische Wandelbarkeit der Geschlechterentwürfe ebenso wie auf die kulturelle Vielfältigkeit von Männlichkeit und Weiblichkeit. Neben der Hexenforschung mit ihrer inzwischen kaum noch überschaubaren Fülle an Detailuntersuchungen wie Überblicksdarstellungen stand, ausgehend von der Verankerung der frühen Geschlechtergeschichte in der Frauengeschichte, vor allem das deviante weibliche Verhalten im Mittelpunkt des Interesses". Untersuchungen zu Kindsmord, 100 Abtreibung 101 und „Unzucht" 102 konnten die Stellung von Frau und Mann in der ländlichen Gesellschaft der frühen Neuzeit schärfer konturieren. Zutage traten differierende Ehrkonzepte - die weibliche Ehre definierte sich vor allem über die Keuschheit des Körpers und die Bezogenheit auf Haus und Familie, die männliche Ehre u.a. über Wehrhaftigkeit, Trinkfestigkeit und Gruppengebundenheit - und sich wandelnde Einstellungen zu Körper und Sexualität, 3 um hier nur Aspekte aufzugreifen. Damit einher gingen erhellende Einsichten in grundle98 99

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Vgl. dazu auch Wunder, „Weibliche Kriminalität", 54f. Nach Manuskriptabschluß erschienen ist: Ulinka Rublack, Magd, Metz'oder Mörderin. Frauen vor frühneuzeitlichen Gerichten, Frankfurt a. M. 1998. Exemplarisch für die ländliche Gesellschaft: Otto Ulbricht, Kindsmord und Aufklärung in Deutschland, München 1990. Ders., Kindsmörderinnen vor Gericht. Verteidigungsstrategien von Frauen in Norddeutschland 1680-1810, in: Andreas Biauert/Gerd Schwerhoff (Hg.), Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1993, 54-85; Regina Schulte, Das Dorf im Verhör. Brandstifter, Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts. Oberbayem 1848-1910, Hamburg 1989; Clemens Zimmermann, „Behörigs Orthen angezeigt". Kindsmörderinnen in der ländlichen Gesellschaft Württembergs 1581-1792, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 10, 1991, 67-107. Robert Jütte (Hg.), Geschichte der Abtreibung, München 1993. Karin Stukenbrock, Abtreibung im ländlichen Raum Schleswig-Holsteins im 18. Jahrhundert. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung auf der Basis von Gerichtsakten, Neumünster 1993. Ulrike Gleixner, „Das Mensch" und „der Kerl". Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700-1760), Frankfurt a. M./New York 1994; Rainer Beck, Illegitimität und voreheliche Sexualität auf dem Land. Unterfinning 1671-1770, in: Van Dülmen, Kultur der einfachen Leute, München 1983, 112-150, 233-241; Stefan Breit, „Leichtfertigkeit" und ländliche Gesellschaft. Voreheliche Sexualität in der frühen Neuzeit, München 1991; Ruth-Elisabeth Mohrmann, Sittlichkeitsdelikte in Wilster im Spiegel rechtlicher Quellen des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Kieler Blätter zur Volkskunde 8, 1976.41-61. Silke Göttsch, Weibliche Erfahrungen um Körperlichkeit und Sexualität nach archivalischen Quellen aus Schleswig-Holstein 1700-1850, in: Kieler Blätter zur Volkskunde 18, 1986, 29-59; Dies., Sie trüge ihre Kleider mit Ehren ...". Frauen und traditionelle Ordnung im 17. und 18. Jahrhundert, in: Wunder/Vanja, Weiber, 199-213; Maren Lorenz, „... als ob ihr ein Stein aus dem Leibe kollerte ...". Schwangerschaftswahmehmungen und Geburtserfahrungen von Frauen im 18. Jahrhundert, in: Richard van Dülmen (Hg.), Körper-Geschichten, Frankfurt a. M. 1996, 99-121, 239244. Siehe auch die anderen Beiträge dieses Bandes. Grundlegend zur Geschichte der Körperwahrnehmung immer noch: Barbara Duden, Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987.

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Barbara

Krug-Richter

gende Mechanismen sozialer Kontrolle, die Rolle von Nachbarschaft und Verwandtschaft, differierende Ordnungskonzepte zwischen Obrigkeit und Untertanen. Vor allem an primär dem weiblichen Geschlecht zugeschriebenen Delikten wie Hexerei oder „Unzucht" konnten die Zeitbedingtheit und Wandelbarkeit gesellschaftlicher und rechtlicher Normen herausgearbeitet werden. Im Zusammenhang mit der obrigkeitlichen Verfolgung vorehelichen Geschlechtsverkehrs und nichtehelicher Schwängerungen ist auch die Rolle der Dorfhebammen sichtbar geworden. Einerseits dokumentiert sich in ihrer Wahl durch die verheirateten Frauen des Dorfes einer der wenigen Bereiche, in denen Frauen noch im 17. und 18. Jahrhundert über eigene gemeindliche Rechte verfügten. Auf der anderen Seite fanden sich die Hebammen in einer ambivalenten Position, waren sie doch nicht nur zur Stelle, um bei Geburten zu helfen, sondern kontrollierten andererseits daneben im obrigkeitlichen Auftrag den körperlichen Zustand unverheirateter Frauen, die im Verdacht einer nichtehelichen Schwangerschaft standen oder aber des Kindsmords verdächtigt wurden. 104 Ans „Tageslicht" kamen, dies sei abschließend erwähnt, auch die Lebens- und Erfahrungswelten von Männern und Frauen aus den unteren dörflichen Schichten, denn Illegitimität und Unzucht ließen sich, mit regionalen Unterschieden, sozial primär hier verorten. In der Überzahl der Fälle nichtehelicher Schwängerungen und Kindsmordfälle entstammten die Paarkonstellationen dem Gesindebereich. Dies verweist allerdings nicht nur auf einen bestimmten sozialen Status, sondern auch auf bestimmte Phasen im Lebenszyklus. Den Gesindestatus als Durchgangsstation hatte schon die historische Demographie für viele Regionen Europas betont. Ihn daneben unter der Perspektive von Erfahrungen konkreter Subjekte zu beleuchten, ist eindeutiges Verdienst der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Im Rahmen dieses Beitrages konnte nur ein kleiner Ausschnitt aus einer Vielzahl von Themen diskutiert werden, die für eine Geschlechtergeschichte der ländlichen Gesellschaft der frühen Neuzeit denkbar sind. Dies ist zum einen Ausfluß der oben schon angemerkten unbefriedigenden Forschungslage, nimmt man „Agrargeschichte" als thematische Klammer emst. Zum anderen resultierte die Auswahl der vorgestellten Themen aus den Schwerpunktsetzungen anderer Überblicksdarstellungen, ging es doch nicht nur um die erneute Wiederholung von allseits Bekanntem. Schon aus diesem Grunde wurde in diesem Zusammenhang darauf verzichtet, erneut die Rolle von Frauen im bäuerlichen Widerstand zusammenzufassen oder die Formen und Wandlungen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung ein weiteres Mal detailliert aufzulisten. Leitend war daneben ein Verständnis von Geschlechtergeschichte als Geschichte sozialer Beziehungen. Eine abschließende Einordnung fällt schon aufgrund der Heterogenität der Forschungsergebnisse und der Bandbreite der thematischen Schwerpunktsetzungen schwer. Die strukturierende Kraft der Kategorie „Geschlecht" für die frühneuzeitliche Gesellschaft wird insgesamt unterschiedlich beurteilt: Während Claudia Ulbrich 104

54

Ulrike Gleixner, Die „Gute" und die „Böse". Hebammen als Amtsfrauen auf dem Land (Altmark/Brandenburg, 18. Jahrhundert), in: Wunder/Vanja, Weiber, 96-122; Eva Labouvie, Selbstverwaltete Geburt. Landhebammen zwischen Macht und Reglementierung (17.-19. Jahrhundert), in: Geschichte und Gesellschaft 18, 1992,477-506.

Agrargeschichte

der frühen Neuzeit in geschlechtergeschichtlicher

Perspektive

eindringlich darauf verweist, „daß die ländliche Gesellschaft des 18. Jahrhunderts kulturell zweigeschlechtlich verfaßt war", 1 0 5 Albert Schnyder-Burghartz diese „von einer durchgehenden Geschlechtsherrschaft von Männern geprägt" sieht, 106 tritt in Arbeiten historisch-anthropologischen Zuschnitts (z.B. David Sabean) an die Stelle der Asymmetrie der Geschlechter „die Dialektik des Aushandelns". 107 Heide Wunder gelangt aufgrund ihrer Arbeiten sogar zu dem Schluß, daß „in der ständischen Gesellschaft die 'Kategorie Geschlecht' nicht die universelle Strukturierungskraft wie in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts besaß". 108 Der „Gefährtenschaft" zwischen Mann und Frau, die bisher vor allem für das Verhältnis zwischen Ehepartnern betont wurde, steht u.a. der weitgehende Ausschluß der Frauen von gemeindlichen Ämtern und Versammlungen gegenüber, der offensichtlich weniger Raum für Verhandlungen ließ. 109 Die starke Position der eingangs erwähnten Udorfer Vollspännerfrau Anna Catharina Rohland in der gemeindlichen Auseinandersetzung mit dem Gutsherrn mag Ergebnis eines derartigen, innergemeindlichen Aushandlungsprozesses gewesen sein. Daß diese nicht die Norm war, belegt allerdings die - bisherige - Singularität dieses Falles. Allemal bieten jedoch die unterschiedlichen Einschätzungen der Forschung, vor allem in Anbetracht nachweisbarer weiterer Asymmetrien im Geschlechterverhältnis, der rechtlichen Minderstellung der Frau, ihrer Unterordnung unter die eheherrliche „patria potestas", einer oft strikt geschlechtsspezifisch getrennten Arbeitsteilung, in differierenden Ehrkonzepten, geschlechtspezifisch unterschiedlichem devianten und konfliktiven Verhalten genügend Diskussionsstoff für eine geschlechtergeschichtliche Debatte, die für die ländliche Gesellschaft der frühen Neuzeit noch zahlreicher Untersuchungen bedarf. Hier bietet die konzeptionelle Erweiterung der Agrargeschichte zur allgemeinen Sozialgeschichte der ländlichen Gesellschaft, die sich in neueren Gesamtdarstellungen abzeichnet, 110 die Chance, in einem über Erb-, Ehe- und Güterrechte und deren differierende Praxen oder Formen bäuerlicher Arbeitsteilung hinausreichenden Spektrum an Fragestellungen geschlechtergeschichtliche Perspektiven zu integrieren. Dies setzt allerdings voraus, anstelle einer eher mechanistischen Gegenüberstellung von Männern und Frauen Geschlechtergeschichte als Geschichte sozialer Beziehungen zu begreifen und forschungspraktisch umzusetzen.

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Ulbrich, Geschlechterrollen, 363.

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Schnyder-Burghartz, Alltag und Lebensformen, 255.

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Habermas, Geschlechtergeschichte und „anthropology o f gender", 504. V g l . auch den Interpretationsansatz bei Sabean. Property.

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Wunder, Sonn', 264. Hier ist allerdings auf die Gefahr hinzuweisen, bei dem Blick auf die Position von Frauen immer die männliche Position als Maßstab zu nehmen und damit Emanzipationskonzepte der Gegenwart ungebrochen auf die Vergangenheit zu übertragen. V g l . dazu den treffenden Diskussionsbeitrag von Monika M o m m e r t z zum Workshop „Geschlechter" in: Heinrich Kaak, Diskussionsbericht, in: Peters, Gutsherrschaft, 439-501, hier 472f.

' 1 0 Exemplarisch: Werner Troßbach, Historische Anthropologie und frühneuzeitliche Agrargeschichte deutscher Territorien, in: Historische Anthropologie 5, 1997, 187-211; Ders., Bauern 1648-1806; Holenstein, Bauern, insbes. 53ff.

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Ulrike Gleixner

Rechtsfindung zwischen Machtbeziehungen, Konfliktregelung und Friedenssicherung. Historische Kriminalitätsforschung und Agrargeschichte in der Frühen Neuzeit Erste Ergebnisse einer historischen Kriminalitätsforschung wurden in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre vorgelegt. Für die ländliche Gesellschaft waren das zum einen Arbeiten zum 19. Jahrhundert1 und zum anderen frühneuzeitliche Gemeinde- und Regionalstudien 2 sowie Studien zur Sozialdisziplinierung, 3 zur Hexenforschung 4 und Arbeiten zum bäuerlichen Widerstand.5 Dirk Blasius, Kriminalität und Alltag, Göttingen 1978; Michael Mitterauer, Ledige Mütter. Zur Geschichte unehelicher Geburten in Europa, München 1983; Josef Mooser, Ländliche Klassengesellschaft 1770-1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen, Göttingen 1984; Heinz Reif (Hg.), Räuber, Volk und Obrigkeit. Studien zur Geschichte der Kriminalität in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1984. Ruth-E. Mohrmann, Sittlichkeitsdelikte in Wilster im Spiegel rechtlicher Quellen des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Kieler Blätter zur Volkskunde 8, 1976, 41-61; Christian Simon, Untertanenverhalten und obrigkeitliche Moralpolitik. Studien zum Verhältnis zwischen Stadt und Land im ausgehenden 18. Jahrhundert am Beispiel Basels, Basel 1981; Jan Peters, Sonntagsverbrecher in Schwedisch-Pommern. Zur bäuerlichen Belastbarkeit durch die Arbeitsrente, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1982/IV, 89-113; Brigitte Schnegg, Illegitimität im ländlichen Bern des 18. Jahrhunderts, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 44, 1982, 53-83; Rainer Beck, Illegitimität und voreheliche Sexualität auf dem Land. Unterfinning, 1671-1770, in: Richard van Dülmen (Hg.), Kultur der einfachen Leute, München 1983, 112-150; Richard van Dülmen/Norbert Schindler (Hg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.-20. Jahrhundert), Frankfurt a. M. 1984. Heinz Schilling, Reformierte Kirchenzucht als Sozialdisziplinierung? Die Tätigkeit des Emder Presbyteriums in den Jahren 1557-1562, in: Ders./Winfried Ehbrecht (Hg.), Niederlande und Nordwestdeutschland. Studien zu Regional- und Stadtgeschichte Nordwestkontinentaleuropas im Mittelalter und in der Neuzeit, Köln 1983, 261-327; Ders., „Geschichte der Sünde" oder „Geschichte des Verbrechens"? Überlegungen zur Gesellschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Kirchenzucht, in: Annali dell' Istituto storico italo-germanico in Trento 12, 1986, 169-192; Paul Münch, Kirchenzucht und Nachbarschaft. Zur sozialen Problematik des calvinistischen Seniorats um 1600. in: Emst Walter Zeeden/Peter Thaddäus Lang (Hg.), Kirche und Visitation. Beiträge zur Erforschung des frühneuzeitlichen Visitationswesens in Europa, Stuttgart 1984, 216-248. Eine Zusammenstellung der älteren und neueren Literatur zur Hexenverfolgung in Gisela Wilbertz/Gerd Schwerhoff/Jürgen Scheffler (Hg.), Hexenverfolgung und Regionalgeschichte. Die Grafschaft Lippe im Vergleich, Bielefeld 1994. Heide Wunder, Zur Mentalität aufständischer Bauern. Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Geschichtswissenschaft und Anthropologie, dargestellt am Beispiel des Samländischen Bauernaufstandes von 1525, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Der Deutsche Bauernkrieg, Göttingen 1975, 9-36; Peter Blickle (Hg.), Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im alten Reich, München 1980; Winfried Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1980; ders. (Hg.), Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa, Stuttgart 1983.

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Ulrike Gleixner Im folgenden werde ich mich unter Ausklammerung der Hexen- und Aufstandsforschung, die infolge ihrer Expansion zu jeweils eigenen Schwerpunkten wurden, auf die frühneuzeitliche Kriminalitätsforschung zur ländlichen Gesellschaft beziehen. Anregungen erhielt diese junge Forschungsrichtung von den Mikro- und Protoindustrialisierungsstudien6 sowie von alltagshistorischen, historisch-anthropologischen und ethnologischen Ansätzen. 7 Von ihren methodischen Zugängen ist sie stark von anglo-amerikanischen und französischen Ansätzen inspiriert.8 Der sozialanthropologische, ethnographische Beobachtungsstandpunkt, ein Interesse für Lebenswelt und Beziehungen, subjektbezogene, alltagshistorische Frageansätze und - verknüpft mit sozial-ökonomischen Differenzierungen - die Einführung der Strukturkategorie Geschlecht als eine wesentliche Form sozialer Ungleichheit kennzeichnen die Forschungszugänge zur historischen Kriminalität. Die Genese der Historischen Kriminalitätsforschung aus diesem Amalgam neuer sozialhistorischer Ansätze bewirkte, daß historische Kriminalität nicht als eine beschreibende, statistisch aufzuarbeitende Abweichung begriffen wurde, sondern als eine Möglichkeit, aus der Devianz gesellschaftliche Norm zu rekonstruieren, Lebenswelten zu erschließen, Herrschaft, Unterordnung und Widerständigkeit in ein Verhältnis zu setzen und Geschlechterverhältnisse zu analysieren. Diese Forschungsrichtung bietet die Möglichkeit, Konfliktaustragung, Handlungsmöglichkeit und Alliancebildung von Gruppen unter geschlechterhistorischer Perspektive zu studieren und damit ein Verständnis der frühneuzeitlichen Gesellschaft zu ermöglichen, das nicht ausschließlich aus obrigkeitlich-herrschaftlicher Perspektive bewertet, sondern vielmehr den Untertanen, Männern wie Frauen, einen Subjektstatus zuweist.9 Die Fragen nach dem Funktionieren der frühneuzeitlichen Gesellschaft, in die auch die den 6

Dazu gehören die Forschungen, die am Göttinger Max-Plank-Institut von Hans Medick, Peter Kriedte und Jürgen Schlumbohm betrieben wurden; vgl. auch David W. Sabean, Property. Production, and Family in Neckarhausen, 1 7 0 0 - 1 8 7 0 , Cambridge 1990; Silke Göttsch, „Alle für einen Mann... „ Leibeigene und Widerständigkeit in Schleswig-Holstein im 18. Jahrhundert, Neumünster 1991; Albert Schnyder-Burghartz, Alltag und Lebensformen auf der Basler Landschaft um 1700, Basel 1992.

7

Hans Medick, „Missionare im R u d e r b o o t ? " Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 10, 1984, 2 9 5 - 3 1 9 ; Ders./David W. Sabean (Hg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung, Göttingen 1984; A l f Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a.M./New York 1989; Werner Troßbach. Historische Anthropologie und frühneuzeitliche Agrargeschichte deutscher Territorien. Anmerkungen zu Gegenständen und Mehoden, in: Historische Anthropologie 5, 1997, Heft 2, 1 8 7 - 2 1 1 .

8

Nicole Castan, Justice et répression en Languedoc à l'époque des Lumières. Paris 1980: V.A.C. Gatrell/Bnice Lenmann/Geoffrey Parker (Hg.), Crime and the Law. T h e Social History o f Crime in Western Europe since 1500, London 1980; David Warren Sabean, Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der frühen Neuzeit ( 1 9 8 4 ) . Frankfurt a.M. 1990; Martin Ingram, Church Courts, S e x and Marriage in England 1 5 7 0 - 1 6 4 0 , Cambridge 1987.

9

Richard van Dülmen (Hg.), Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn, Frankfurt a.M. 1990: ders., Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle, Frankfurt a.M. 1990; Gerd Schwerhoff, Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft, in: Zeitschrift für historische Forschung 19, 1992, 3 8 7 - 4 1 4 ; Andreas Blauert/Gerd S c h w e r h o f f (Hg.), Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1993; Rudolf Jaun/Brigitte Studer (Hg.), Weiblich-männlich. Geschlechterverhältnisse in der Schweiz: Rechtsprechung, Diskurs, Praktiken, Zürich 1995; Klaus Schreiner/Gerd S c h w e r h o f f (Hg.), Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 1995; Otto Ulbricht (Hg.), Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 1995.

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und Agrargeschichte

in der frühen

Neuzeit

Gerichten unterstellten Untertanen, die Gerichtseingesessenen, als Akteure und Akteurinnen eingeschlossen sind, umreißen zugleich das innovative Forschungspotential der Historischen Kriminalitätsforschung. Die Erschließung niedergerichtlicher Aktenbestände unter Berücksichtigung von korrespondierendem Verwaltungshandeln eröffnet eine neue Perspektive auf das Problem der herrschaftlichen Durchdringung der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Das Modell von grenzenloser Herrschaftsausübung einerseits und den rechtlosen Untertanen anderseits für die Erklärung historischen Wandels hat auch durch die Kriminalitätsforschung an Reichweite verloren. Rechtsinstanzen dienten nicht nur herrschaftlichem, disziplinierendem Interesse, sondern waren zugleich Konfliktregelungsorte für die dörfliche Gesellschaft. Ein Großteil der Rechtspraxen hatte eine friedenssichernde, gesellschaftsstabilisierende Funktion. Die Machtkonstellationen zwischen den Gerichtseingesessenen zeigen dabei, daß über ein System sozialer Ungleichheiten die Akteure an Herrschaft partizipierten, und zwar nach Geschlecht, sozial-ökonomischer Position, Status, Stand und Alliancemöglichkeiten in sehr unterschiedlicher Weise. Damit kollidiert die Historische Kriminalitätsforschung mit dem frühneuzeitlichen Herrschafts- und Politikverständnis, dem der Antagonismus Obrigkeit - Untertan als permanente Vorentscheidung und alleiniger Fokus von Ungleichheit zu Grunde liegt. Mein Anliegen ist es, die Ergebnisse der Historischen Kriminalitätsforschung als politische Sozialgeschichte der ländlichen Gesellschaft zu begreifen und für die Diskussion um das Funktionieren des frühneuzeitlichen Staates und die Frage nach der Verbindung zentraler und lokaler Herrschaft fruchtbar zu machen. An vier Themen möchte ich diesen Ansatz diskutieren. Zunächst werde ich das Paradigma der Kriminalitätsforschung und den strukturgeschichtlichen Ansatz in der Agrargeschichte am Beispiel der „Gutsherrschaft" problematisieren. Daran schließt sich im zweiten Abschnitt eine Analyse verschiedener Gerichtsformen und der dörflichen Rechtskultur an. Bei aller Unterschiedlichkeit der Verfassungen zeigt sich, daß die dörflichen Honoratioren einen wesentlichen Einfluß auf die Gerichtsentscheide hatten und deren Kooperation zur Durchsetzung von Herrschaft notwendig war. Im dritten Teil über Unzucht wird die Mitwirkung der Gemeinden bei der Rechtsprechung in gutsherrschaftlich strukturierten Gebieten benannt und damit gegenwärtige Forschungsraster der Agrargeschichte in Frage gestellt. Im letzten Abschnitt werden die Möglichkeiten der Strukturkategorie Geschlecht für die Analyse von ländlichen Gerichtsquellen entfaltet. All diese Überlegungen beziehen sich auf die Frage, was die Historische Kriminalitätsforschung für eine sich erneuernde Agrargeschichte an Perspektiven beisteuern kann.

1. Kriminalitätsforschung und Agrargeschichte Auffällig ist, daß für die Frühe Neuzeit die Arbeiten zur Kriminalität des städtischen Raumes zahlenmäßig überwiegen. Bieten Städte, insbesondere die Reichsstädte, gute historische Vorarbeiten und eine Gerichtsüberlieferung, die schon mit dem Spätmittelalter beginnt, fehlen dagegen häufig brauchbare rechtshistorische, lokalund territorialgeschichtliche Arbeiten für den ländlichen Raum. Der Rückgriff auf die ältere Verfassungsgeschichte und Volkskunde bietet meist die einzige Möglich59

Ulrike Gleixner keit territorialer Verankerung. Ein weiterer Grund, weshalb Territorien und Regionen der Frühen Neuzeit in der Kriminalitätsforschung zunächst wenig berücksichtigt wurden, liegt möglicherweise darin, daß die sozialhistorisch orientierten Stadthistoriker sich diesem neuen Ansatz gegenüber aufgeschlossener zeigten. In der deutschen Landeskunde stießen die Kriminalitätsforscherinnen jedenfalls anfangs auf wenig Gegenliebe. Eine Rückschau zeigt darüber hinaus, daß die neuen Monographien zur städtischen Kriminalität in der deutschen Geschichtswissenschaft zuerst für das Spätmittelalter entstanden. 10 Die Frühneuzeitforschung blieb demgegenüber zurück, ebenso das Interesse für den ländlichen Raum, obwohl es mit der Sittenzuchts-, Hexen- und bäuerlichen Widerstandsforschung schon Vorläufer für das Paradigma der Historischen Kriminalitätsforschung gab. In der Historischen Kriminalitätsforschung lassen sich für die ländliche Gesellschaft zwei Fragerichtungen erkennen. Die eine Linie faßt Kriminalität im engeren Sinn als Frage nach Devianz, Normen, Konflikten und sozialer Disziplinierung - oft in Langzeitstudien. 11 Die andere Richtung setzt ihren Fokus auf das Funktionieren der gesamten Gesellschaft, auf die Entwicklung von frühmodernem Territorialstaat, lokaler Herrschaft, Gemeinden, geschlechtsspezifischer Kriminalität, Gesetzgebungsprozessen und rechtlicher Praxis vor Ort. Nachfolgend möchte ich einige Überlegungen zu der Frage anstellen, welchen Beitrag dieser letztgenannte Ansatz der Historischen Kriminalitätsforschung für die frühneuzeitliche Agrargeschichte leisten kann. Territorialstaat, Konfessionalisierung, Guts- und Grundherrschaft, Gemeinde diese klassischen Felder der frühneuzeitlichen Agrargeschichte basieren auf einer deduktiv verfassungs- und strukturgeschichtlich geprägten Begriffsgeschichte und gewinnen aus dieser Perspektive ihre Einsichten. Die Kriminalitätsforschung untersucht dagegen mit ihrem historisch-anthropologischen Zugang induktiv aus der sozialen Praxis heraus Herrschafts- und Sozialformen auf der Grundlage von Gerichts- und Verwaltungsquellen. Zum einen nimmt sie dabei Einblicke in die komplexen innerdörflichen Herrschafts- und Machtzusammenhänge wie sozial-ökonomische, status- und über das Geschlecht vermittelte Ungleichheiten, zum anderen kann sie die partielle Teilnahme der Dörfler und Dörflerinnen an Herrschaft aufzeigen und darin Herrschaft als eine soziale Praxis vor Ort konzeptualisieren. 12 Die Herausforderung besteht darin, die etablierten vergleichenden verfassungs- und agrargeschichtlichen Begriffe mit den auf sozialanthropologischem Wege erzielten Ergebnissen zu konfrontieren. Die Flexibilisierung herkömmlicher agrarhistorischer Begriffe und ein Überdenken ihrer Tauglichkeit ist durch neue Forschungsergebnisse dringend geboten, um dem Auseinanderbrechen in eine traditionelle Agrargeschichte und eine aus sozialhistorischen Ansätzen inspirierte Geschichte der ländlichen Gesellschaft entgegenzuwirken. 10

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Susanna Burghartz, Leib, Ehre und Gut. Delinquenz in Zürich Ende des 14. Jahrhunderts, Zürich 1990; Gerd Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör, Bonn/Berlin 1991. Diese Perspektive berücksichtigen beispielsweise Frank Konersmann, Presbyteriale Kirchenzucht unter landesherrlichem Regiment. Pfalz-Zweibrücken im 17. und 18. Jahrhundert, in: Stefan Brakensiek/Axel Flügel/Werner Freitag/Robert v. Friedeburg (Hg.), Kultur und Staat in der Provinz. Perspektiven und Erträge der Regionalgeschichte, Bielefeld 1992, 315-349; Michael Frank, Dörfliche Gesellschaft und Kriminalität. Das Fallbeispiel Lippe 1650-1800, Paderborn 1995. Zu dieser Richtung z. B. Alf Lüdtke, Herrschaft als soziale Praxis, in: Ders. (Hg ), Herrschaft als soziale Praxis, Göttingen 1991, 9-63; Heinrich Richard Schmidt, Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Bemer Landgemeinden der Frühen Neuzeit, Stuttgart/Jena/New York 1995.

Historische Kriminalitätsforschung

und Agrargeschichte in der frühen

Neuzeit

Untersucht man die sogenannte ostelbische Gutsherrschaft aus anthropologischer Perspektive, so ist das erste Ergebnis, daß diese in sehr unterschiedlich strukturierte Gutsherrschaftsgesellschaften zerfällt, folglich der Form nach keine Homogenität aufweist. Geht man dann tiefer in den Bestand eines patrimonialen Gerichts, so leuchtet selbst durch die herrschaftliche Überlieferung immer wieder das eigenständige Handeln der Gemeinden, dorfgerichtliche Traditionen, Teilnahme der Untertanen an und Ausübung von Herrschaft ihrerseits auf. Für das Wagnis, diese Beobachtung zum Ausgangspunkt für eine systematische Analyse zu entwickeln, stehen keine agrar- und strukturgeschichtlichen Paßformen zur Verfügung. Abgeleitet aus dem agrarischen Dualismus gibt es eine feste Einteilung, nach der staatliche Herrschaftsrechte im Osten vom Adel in Form der Patrimonialgerichte, im Westen hingegen durch die Gemeinden selbst wahrgenommen worden seien. 13 Die Beobachtungen aus einer gutsherrschaftlichen Praxis passen nicht in das etablierte Forschungssetting. Gerhard Heitz und Jan Peters haben auf die immensen regionalen Differenzierungen der Gutsherrschaft hingewiesen und Kritik an dem starren Konzept des agrarischen Dualismus geübt. 14 Erste Ansätze einer neuen Systematik für die vergleichende Analyse ländlicher Gesellschaften, ausgehend vom Modell Gutsherrschaft, hat Heide Wunder jüngst entwickelt. Sie geht nicht nur von Unterschieden, sondern auch von Gemeinsamkeiten guts- und grundherrschaftlicher Territorien aus, ebenfalls von einem erweiterten Begriff von Herrschaft. Zur vergleichenden Betrachtung empfiehlt sie, Wirtschaftsherrschaft, Arbeitsverfassungen und ländliche Herrschaftsformen nach ihrer sozialen Funktionsweise zu unterscheiden. 15 Für eine sich erneuernde Agrargeschichte wäre es wünschenswert, unterschiedliche Erkenntniswege im Nachdenken über Herrschaft, Gemeinde und Subjekte zu integrieren und für neue Perspektiven des Vergleichs fruchtbar zu machen. 16

2. Unterschiedliche Gerichtsformen und dörfliche Rechtskultur Gerichte waren in der Frühen Neuzeit keineswegs ausschließlich Strafinstanzen. Das zeigen Untersuchungen niedergerichtlicher Akten sowohl für grundherrschaftlich- als auch für gutsherrschaftlich strukturierte Gebiete. Zu größeren Anteilen 13 14

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Peter Blickle, Deutsche Untertanen. Ein Widerspruch, München 1981. Gerhard Heitz, Die Differenzierung der Agrarstruktur am Vorabend der bürgerlichen Agrarreformen, in: Hartmut Harnisch/Gerhard Heitz (Hg.), Deutsche Agrargeschichte des Spätfeudalismus, Berlin 1986, 89-109; Jan Peters, Gutsherrschaftsgeschichte in historisch-anthropologischer Perspektive, in: Ders. (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften, 3-22. Heide Wunder, Das Selbstverständliche denken. Ein Vorschlag zur vergleichenden Analyse ländlicher Gesellschaften in der Frühen Neuzeit ausgehend vom „Modell ostelbische Gutsherrschaft", in: Peters, Gutsherrschaft als soziales Modell, 23-49. Dieser Prozeß ist in der Agrargeschichte bereits angelaufen, zumindest ist in einem neuen einführenden Handbuch zur Agrargeschichte auf die Problematik des Konzepts Gutsherrschaft verwiesen, Wemer Rösener, Einführung in die Agrargeschichte, Darmstadt 1997, 180.

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Ulrike Gleixner dienten sie der Konfliktregelung unter Dörflern, boten ein Forum zur Wiederherstellung der individuellen Ehre und fungierten als Notariate bei Käufen und bei Besitzübertragungen. 1 7 Justiznutzung und Friedenssicherung als Herstellung einer dörflichen Öffentlichkeit und einer konsensualen Ordnung - diese Funktion unterer Rechtsinstanzen haben Vertreter der Rechtsgeschichte und der rechtlichen Volkskunde aufgezeigt. 1 8 Untersucht man die Gerichtsbücher einzelner ländlicher Herrschafts- und Rechtsbezirke nach ihren Überlieferungen, so erstaunt das verhaltene Engagement der Obrigkeit in der Erhebung von Anklagen. Als Beispiel sei hier die Auswertung der Gerichtsbücher des Schulenburgischen Gesamtgerichts für die Jahrgänge 1725 und 1731 vorgeführt, in denen der direkt strafende und disziplinierende Anteil weit hinter notariellen und schlichtenden Funktionen zurücktritt. Die überlieferten 166 Fälle aus den Jahren 1725 und 1731 verteilen sich wie folgt: 1. Klagen (41% / 68 Fälle absolut): Geklagt wird wegen Lohn- und Dienstangelegenheiten, Erbschaftsstreitigkeiten, Haushaltsstreitigkeiten, Nachbarschaftskonflikten und wegen Beleidigungen. 2. Notarielle Beglaubigungen und Geldforderungen (29 % / 48): Größtenteils Termingelder, sprich Ratenzahlungen zwischen Dörflern. 3. Beziehungen zwischen Untertanen und Obrigkeit (22 % / 37): Bitten zur Annahme als Hoferben, Ablegung des Untertaneneides, Eheverträge und Altenteilsregelungen, Ausstellung von Geburtsbriefen, Pachtangelegenheiten und Armenunterstützung. 4. Delinquenz (5% / 9): Fälle von ungebührlichem Verhalten in der Kirche, Nichterscheinen der Knechte zum Hofdienst, verweigerte Baufuhren, Diebstahl, Übertretung der Brandschutzbestimmungen, Unzucht. 5. Verwaltungsakte, die Gutsherrschaft selbst betreffend (2% / 4): das Testament der Frau von Schulenburg, Amtseid des Verwalters, Kirchenrechnung und Kornregister. Die Bilanz zeigt, daß dieses gutsherrschaftliche Gericht nur zu einem sehr geringen Teil aus eigener Initiative strafend eingriff. Den größten Teil (41%) machten Streitigkeiten zwischen Dörflern aus, die mit Hilfe des Gerichtes geklärt wurden. Notarielle Angelegenheiten, Ausstellung von Dokumenten, Dienst- bzw. Untertaneneide beschreiben den zweiten großen Bereich. Kriminalitätsfälle finden sich nur zu einem ganz geringen Prozentsatz. 19 Das Bild der frühneuzeitlichen ländlichen Gerichte und speziell der gutsherrschaftlichen Gerichte muß von daher einer Revision unterzogen werden, gelten diese doch im Gegensatz zu südwestdeutschen grundherrschaftlichen Verhältnissen immer noch als Instanzen totaler Disziplinierung und Willkürherrschaft. Erstaunlich ist, daß ein Vergleich mit südwestdeutschen Gebieten, in denen staatliche Herrschaftsrechte erklärtermaßen von den Gemeinden wahrgenommen wurden,

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Vgl. Martin Dinges, Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994; Schreiner/Schwerhoff, Verletzte Ehre. Karl Siegfried Bader, Das mittelalterliche Dorf als Friedens- und Rechtsbereich, Weimar 1957; Karl-Sigismund Krämer, Grundriß einer rechtlichen Volkskunde, Göttingen 1974. Auf die Bedeutung der Justiznutzung verweist auch Susanne Rappe, Schelten, Drohen, Klagen. Frühneuzeitliche Gerichtsnutzung zwischen „kommunikativer Vernunft" und „faktischem Zwang", in: WerkstattGeschichte, Heft 14, 1996, 87-94.

Historische

Kriminalitätsforschung

und Agrarge schichte in der frühen

Neuzeit

ähnliche Gerichtsfunktionen aufweist. 20 Der enorme Einfluß der verheirateten, besitzenden Männer und ihrer Familien transformiert die angenommene Selbstverwaltungsqualität in eine Honoratiorenherrschaft. Waren in der vorderösterreichischen Grundherrschaft Triberg im 18. Jahrhundert die Gerichte direkt durch die männliche dörfliche Elite besetzt, so nahm die Gemeinde in der gutsherrschaftlich geprägten Altmark indirekt auf das herrschaftliche Patrimonialgericht Einfluß. 21 Beide Gerichtsvarianten stabilisierten die jeweilige lokale Gesellschaft und dienten der Friedenssicherung, an der Herrschaft wie besitzende Dorfbewohner gleichermaßen Interesse hatten. Die Friedenssicherung war mit einklagbaren verrechtlichten Beziehungen verbunden, die in erster Linie für Besitzende in Abhängigkeit von ihrem Geschlecht, ihrer Haushaltsposition und ihrer innerdörflichen Ehre zur Verfügung standen. David Sabean interpretiert den Zusammenhang zwischen Herrschaft und westdeutscher Gemeindeverfassung für sein württembergisches Material keineswegs als Entlastung der Untertanen von Herrschaft. Die gewählten Gemeindeorgane seien starken Kontrollen von außen unterworfen gewesen, die nicht weniger, sondern mehr Herrschaft bedeutet hätten. Schultheiß, Gericht und Rat bildeten zudem zusammen die „Obrigkeit" des Dorfes. Sie stellten eine Korporation dar, die gegenüber der Dorfgemeinde Herrschaft ausübte. 22 David Martin Lübke kommt für die habsburgische vorderösterreichische Herrschaft Hauenstein zu dem Ergebnis, daß auch im Westen keine allgemeingültige organische Bedeutung von Gemeinde existierte. In den durch soziale Ungleichheit charakterisierten Gemeinden gab es keine Zwangsläufigkeit von gemeinsamen Interessen oder die Wahl einer gemeinsamen politischen Strategie. 23 In dieser vergleichenden Perspektive niedergerichtlicher Funktionen verliert der agrarische Dualismus - Gutsherrschaft/Grundherrschaft - weiterhin an Erklärungskraft. Friedenssicherung im Konsens mit der Obrigkeit, primär im Interesse der besitzenden männlichen Haushaltsvorstände, sind für beide Herrschaftsformen die Hauptfunktion von Gerichten. Für eine Vielzahl von Rechtsinstanzen und Rechtsfindungsformen steht eine Untersuchung noch aus. 24 Für die sogenannten Rügegerichte, die auch als Vogt-, Frevel-, Landgerichte oder Jahrgedinge bezeichnet werden und die als Institution der Niedergerichtsbarkeit für sächsische, westfälische, hessische, nordwestdeutsche, west- und

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Peter Blickle, Deutsche Untertanen, 51. Michaela Hohkamp, „Auf ein so erlogenes Maul gehört eine Maultaschen". Verbale und körperliche Gegen-Gewalt gegen Frauen. Ein Fallbeispiel aus dem Schwarzwald des 18. Jahrhunderts, in: WerkstattGeschichte, Heft 4, 1993, 9-19; Dies., Häusliche Gewalt. Beispiele aus einer ländlichen Region des mittleren Schwarzwaldes im 18. Jahrhundert, in: Alf Lüdtke/Thomas Lindenberger (Hg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1995, 276-302. Sabean, Das zweischneidige Schwert, 25ff. David Martin Luebke, Factions and Communities in Early Modern Central Europe, in: Central European History 25, 1992, 281-301. Wemer Troßbach, Die ländliche Gemeinde im mittleren Deutschland (vornehmlich 16.-18. Jahrhundert), in: Peter Blickle (Hg.), Landgemeinde und Stadtgemeinde in Mitteleuropa: Ein struktureller Vergleich, München 1991, 263-287, hier 273; Wunder, „Weibliche Kriminalität" in der Frühen Neuzeit. Überlegungen aus der Sicht der Geschlechtergeschichte, in: Ulbricht, Von Huren und Rabenmüttern, 39-61.

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Ulrike Gleixner südwestdeutsche Territorien belegt sind, 25 gibt es erste neue Untersuchungsansätze. Diese Gerichte traten in unregelmäßigen Abständen neben den Patrimonial- bzw. grundherrschaftlichen Gerichten zusammen. Ihre Zuständigkeit umfaßte mehrere Dörfer, für alle Haushaltsvorstände bestand Anwesenheitspflicht und ein bestellter Rüger aus den Reihen der Dörfler brachte die Verstöße gegen herrschaftliche und gemeindliche Ordnungen in Anwesenheit des herrschaftlichen Amtmannes vor. Barbara Krug-Richter untersucht diese Gerichtsform für das frühe 18. Jahrhundert in der westfälischen Herrschaft Canstein. Sie geht von der Tradition ehemaliger Dorfgerichte des 16. und 17. Jahrhunderts aus und interpretiert die Rügegerichte im Zusammenhang von Friedenswahrung und Konfliktlösung, Teilnahme an und Ausgestaltung von Herrschaft, dörflicher Sozialkontrolle und institutionalisierter Dorföffentlichkeit. Die eingebrachten Klagen umfaßten Feld- und Flurfrevel, Grenzziehungsstreitigkeiten, Ehrverletzungen, Schlägereien. Die Praxis verweist auf eine enge Verbindung zwischen herrschaftlichem Patrimonial- und Rügegericht. KrugRichter räumt explizit ein, daß sich nicht alle herrschaftlichen Ordnungspunkte durchsetzen konnten, z.B. wurden die Übertretungen der einschränkenden Regelungen für Hochzeiten, Taufen und jahreszeitliche Feste nicht gerügt. Sie schließt daraus, daß die Einhaltung dieser Gebote nicht mit dem dörflichem Rechtsverständnis übereinstimmte. 26 André Holenstein untersucht die badischen Vogt- und Rügegerichte des 18. Jahrhunderts in einer groß angelegten Studie aus der Perspektive von Regierungs- und Verwaltungsarbeit des frühneuzeitlichen Territorialstaates als politische Institution der 'guten Policey'. Ihre Herausbildung vom 16. bis 18. Jahrhundert sieht er im Zusammenhang mit der Ausarbeitung von Landes- und „Policeyordnungen" als Organe mit politischen, administrativen und strafrechtlichen Kompetenzen. In der Institution der Rüge erkennt er Reziprozität und Kooperation als wichtige Elemente in der alltäglichen Reproduktion von Herrschaft, jenseits eines starren Herrschens und Beherrschtwerdens. 27 Auch die Frage nach den spätmittelalterlichen Dorfgerichten, ihrer herrschaftlichen Überformung in der Frühen Neuzeit besonders nach dem 30jährigen Krieg und ihren Transformationen und Restformen bis ins 18. Jahrhundert hinein harren noch einer Aufarbeitung. Das starke Rechtsempfinden der Dörfler und Dörflerinnen, auch im 18. Jahrhundert, verweist immer wieder auf eine dörfliche Rechtskultur, in der sie sich selbst als Teilnehmende begriffen. Feldgerichte, Weibergerichte und Knabenschaften scheinen selbst in der herrschaftlichen Gerichtsüberlieferung als dörfliche Rechtsinstanzen auf. Auch sie müssen noch systematisch untersucht werden. Die Gruppe der verheirateten Frauen und die 25

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Theodor Knapp, Gesammelte Beiträge zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte vornehmlich des deutschen Bauemstandes, Tübingen 1902 ( N D Aalen 1964). Barbara Krug-Richter, Konfliktregulierung zwischen dörflicher Sozialkontrolle und patrimonialer Gerichtsbarkeit. Das Rügegericht in der Westfälischen Herrschaft Canstein 1718/19. in: Historische Anthropologie 5, 1997, 212-228. André Holenstein, Gesetzgebung und administrative Praxis im Staat des Ancien Régime. Beobachtungen an den badischen Vogt- und Rügegerichten des 18. Jahrhunderts, erscheint in: Beiheft der Zeitschrift für historische Forschung, hg. von Diethelm Klippel/Barbara Dölemeyer. Ders., Die 'Ordnung' und die 'Mißbräuche'. 'Gute Policey' als Institution und Ergebnis, erscheint als Tagungsband des Max-Planck-Instituts für Geschichte.

Historische Kriminalitätsforschung

und Agrargeschichte

in der frühen

Neuzeit

sogenannten Knabenschaften waren für geschlechtsspezifische Ehrfragen zuständig. 28 Daß auch in gutsherrschaftlichen Gebieten ein gemeindliches Nachbarschaftsrecht existierte, zeigt das „Pfingstbier", ein rechtlich begründetes Fest mit Essen und Trinken über die Pfingsttage. Am 4. August 1740 berichtet ein Pfarrer in seiner Eigenschaft als Visitationsinspektor nach seinem Kontrollbesuch einer Gemeinde an das Konsistorium in Berlin: „Das Pfingstsauffen ist dieses Jahr wieder geschehen zu Kricheldorff in Asmus Redlings Hause.... Weil es aber in dem Hause geschehen, wo es die Reihe [Hervorh. U.G.] getroffen, Asmus Redling und seine Frau auch es nicht als sündlich erkennen wollen, und die Reihe gehalten, folg. die Ordnung des Sauffens [Hervorh. U.G.] nicht wollen abgebracht wißen, so kann es der Herr Pastor nicht anders als ein Pfingst-Sauffen ansehen, und besteht darauf, sie sollen solches als sündlich erkennen u. angeloben, daß sie keine solchen Gelage nach der Reihe mehr anstellen." 29 Der Bericht des visitierenden Stadtpfarrers zeigt an, daß dem dörflichen Pfingstbier nicht nur eine strikte nachbarschaftliche Ordnung, „der Reihedienst", unterlag und die Reihenfolge der festausrichtenden Haushalte danach eingehalten wurde, sondern daß es Teil einer dörflichen Rechtskultur war. 30 Um Pfingsten wurden im Anschluß an Gemeindeversammlung und Rügegericht eingenommene Bierbußen gemeinsam vertrunken. Dazu gehörten Festmahl und Tanz. Das auch an Pfingsten stattfindende Hütebier der Jugend markierte den Beginn der Weidesaison, pflichtgemäße Geldund Naturalabgaben an die Viehhütenden waren fällig, und die ledigen Männer rügten Verstöße gegen die hergebrachte Geschlechterordnung. 31 Dieses Fest beweist, wie lebendig die Nachbarschaft als Rechtsgemeinschaft unter den Dörflern war und weist erneut auf eine eigenständige gemeindliche Rechtskultur hin.

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Vgl. Christina Vanja, „Verkehrte Welt". Das Weibergericht zu Breitenbach, einem hessischen Dorf des 17. Jahrhunderts, in: Journal für Geschichte 5, 1986, 22-29; Claudia Ulbrich, Frauen und Kleriker, in: Bea Lundt/Helma Reimöller (Hg.), Von Aufbruch und Utopie. Perspektiven einer neuen Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters. Für und mit Ferdinand Seibt aus Anlaß seines 65. Geburtstages, Köln/Weimar/Wien 1992, 155-177. Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam (BLHA) Pr. Br. Rep. 4 0 A Kurmärkisches Konsistorium: Kirchen- und Lokalvisitationen, Nr. 114 fol. 38 (1740). Die Ausrichtung des Pfingstbiers gehörte, wie die nach der Reihe wechselnde Verpflichtung für andere Aufgaben, z. B die Versorgung des Gemeindebullen, zu den Reihediensten der Gemeindemitglieder, zu denen nur die an der Allmende berechtigten Bauern gehörten. In gegenseitiger genossenschaftlicher Rechtsverpflichtung mußten die Haus- und Hofhalterpaare reihum ihre Diele für das Pfingstbier zur Verfügung stellen. Der große Dielentrakt des niederdeutschen Hallenhauses bot ausreichend Platz für Feste; W. v. Schulenburg, Das Hirtenwesen in einem märkischen Dorf in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, in: Brandenburgia 11, Berlin 1904; Deutsches Wörterbuch Bd. 14., (Hg.) Jakob Grimm/Wilhelm Grimm (Leipzig 1893) N D München 1984fT, Sp. 642. Ulrike Gleixner, Die „Ordnung des Saufens" und das „Sündliche erkennen". Pfingst- und Hütebiere als gemeindliche Rechtskultur und Gegenstand pietistischer Mission (Altmark 17. und 18. Jahrhundert), in: Jan Peters (Hg.), Konflikte und Kontrolle in Gutsherrschaftsgesellschaften. Zur Resistenz ländlicher Sozialgebilde und Lebensformen in der Frühen Neuzeit, Göttingen 1995, 13-53.

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3. Kriminalität im Kontext der Sittenzucht Im Prozeß der lutherischen Konfessionalisierung Brandenburgs war die 'iurisdictio ecclesias' der katholischen Bischöfe auf den Landesherrn übergegangen und davon abgeleitet auf die gutsherrschaftlichen und domanialen Herrschaften. Größere Herrschaften publizierten Gerichtsordnungen, in die das Delikt der Unzucht aufgenommen wurde. Herrschaftliche Richter befragten die Delinquenten und verschriftlichten Verhöre und Richterspruch. 3 2 Im Einflußbereich des schulenburgischen Gesamtgerichts, einem gutsherrschaftlichen Patrimonialgericht in der brandenburgischen Altmark, erfolgten die Anzeigen wegen nichtehelicher Schwangerschaft und Schwängerung zum großen Teil von Seiten der Untertanen. Nicht nur vom Gerichtsvogt, als herrschaftlichem Unterbeamten, sondern auch vom Dorfschulzen, den Dienstherrschaften, dem Pfarrer und den schwangeren Frauen selbst erfolgten die Meldungen. Über die Textanalyse der Gerichtsbücher läßt sich feststellen, daß die Meldung schon das Ergebnis einer dörflichen Voruntersuchung war, auf deren Basis Befragungen des Gerichtes erfolgten. Versuchte ein unverheirateter Knecht innerhalb des Dorfes seine Verantwortung für die Schwangerschaft gegenüber einer Frau, mit der er in einer von allen beobachteten engen Beziehung stand, zu leugnen, so meldete der Dorfschulze nicht nur den Namen der Frau, sondern gab auch gleich an, wer Vater zum Kinde sei. Der als Kindsvater Gemeldete hatte so wenig Möglichkeiten, sich der Anerkennung der Vaterschaft zu entziehen. Plausibel wird eine Selbstanzeige der Frauen vor dem Hintergrund, daß sie und die ihrigen mit Hilfe der Obrigkeit den Kindsvater in die finanzielle und moralische Pflicht zu nehmen versuchten. Sie akzeptierten die gerichtliche Geldstrafe für Unzucht, wobei diese unterhalb der Zahlungsverpflichtung des Mannes für Hebamme, Kindelbier, Alimentation und Abfindung lag, im Gegenzug für die Festschreibung ihrer Rechtsansprüche gegenüber dem Kindsvater. Gerichtlich festgeschrieben einen Vater zum Kinde zu haben, stellte gleichzeitig die umstrittene Ehre der ledigen Mütter wieder her. Stefan Breit hat für die bayerischen Hofmarkgerichte, die mit einem herrschaftlichen Amtmann besetzt waren, ebenfalls Selbstanzeigen der Frauen und die Bedeutung des Gerüchts für die Meldung herausgestellt. 33 Konnte eine ledige schwangere Magd oder Tochter das herrschaftliche Gericht durch Selbstanzeige im Sinne einer Justiznutzung für sich einsetzen, so bestand diese Möglichkeit nicht für eine Magd, die von ihrem verheirateten Dienstherrn schwanger war. Die dörflichen Honoratioren, Dorfschulzen, Haushaltsvorstände und das betroffene Gemeindemitglied verhinderten im Sinne einer Justiznutzung, daß der Fall überhaupt dem herrschaftlichen Gericht zu Gehör kam. Die Magd 32

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Zum folgenden siehe Ulrike Gleixner, „Das Mensch" und „der Kerl". Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700-1760), Frankfurt a.M./New York 1994. Zum Zusammenhang Gericht, Strategien, Frauen und Körper auch Silke Göttsch, Weibliche Erfahrungen um Körperlichkeit und Sexualität, nach archivalischen Quellen aus Schleswig-Holstein 1700-1850, in: Kieler Blätter zur Volkskunde 18. 1986. 29-59: dies., Zur Konstruktion schichtenspezifischer Wirklichkeit. Strategien und Taktiken ländlicher Unterschichten vor Gericht, in: Brigitte Bönisch-Brednich/Rolf W. Brednich/Helge Gerndt (Hg.), Erinnern und Vergessen, Göttingen 1991,443-452. Stefan Breit, „Leichtfertigkeit" und ländliche Gesellschaft. Voreheliche Sexualität in der frühen Neuzeit, München 1991.

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und Agrargeschichte in der frühen

Neuzeit

wurde unter Druck gesetzt, mit einer kleinen Abfindung aus dem Dorf zu verschwinden. Kam der Fall über das Gerücht doch vors Gericht, sagten Nachbarn und Ehefrau des Schwängerers, auch das sonstige Gesinde des Hofes, für den verheirateten Schwängerer aus. In diesem dörflichen Rechtsfindungsprozeß wurde die in einem Gewaltverhältnis geschwängerte Magd als promiskuitiv, liederlich und verlogen beschrieben und somit das Opfer zur Täterin stilisiert. Ihr verheirateter Dienstherr entkam dagegen ohne Anzeige, Strafe, Kosten und Ehrverlust, den ein Ehebruch mit sich bringt. Diese Fälle markieren die mögliche Spannweite dörflicher Einflußmöglichkeit auf herrschaftliche Rechtsprechung. Die Teilnahme der dörflichen Gemeinde an der Rechtsfindung basierte auf der Tradition der alten Dorfgerichte, die zwar in der gutsherrschaftlichen Verfassung nicht mehr eigenständig existierten, aber in der Rechtspraxis vorgerichtlicher Klärungen sind sie weiterhin sichtbar und leben in dieser Form fort. Die Gemeindemitglieder - insbesondere die Honoratioren - bestimmten stark darüber mit, was vor das herrschaftliche Gericht kam. Dieser Vorgang ist nicht als ein Prozeß zu verstehen, an dem alle gleichermaßen Anteil haben, sondern er ist Ergebnis eines Machtprozesses innerhalb der lokalen Gesellschaft. 34 Heinrich Richard Schmidts Ergebnis über die reformierte Sittenzucht in den Berner Landgemeinden seit dem 16. Jahrhundert führt in die gleiche Richtung. In der Berner Landschaft, also einem Gebiet mit erklärtermaßen politisch selbständigen Gemeinden, bestückten sechs Chorrichter, die aus der dörflichen Honoratiorenschaft gewählt wurden, zusammen mit dem Pfarrer das Sittengericht. Das Angebot der Obrigkeit wurde adaptiert. Die Disziplin wurde von ausgewählten Hausvätern überwacht, sie konnten die gesamte Gemeinde beherrschen. 35 Was können diese Beispiele für den frühneuzeitlichen Staat, lokale Herrschaftsformen und Gemeinden zeigen? Die nachreformatorische staatliche Sittenzucht machte den besitzenden ländlichen Haushalten das Angebot, an Herrschaftsausübung zu partizipieren. Trotz aller konzedierten Unterschiedlichkeit grund- und gutsherrschaftlich verfaßter Gerichts- und Gemeindeverfassungen gleichen sich die Ergebnisse in der Konsequenz. Die Gemeinden waren maßgeblich an der Sittenzucht und der sozialen Ordnung von Unehelichkeit beteiligt. Die nachreformatorische Sittenzucht war insofern in den Dörfern angekommen, als die besitzenden Haushalte die Gemeindepolitik in der Frage von Heirat und Nichtheirat bestimmten und nach ihren Interessen ausgestalteten. Thomas Robisheaux hat als erster gezeigt, daß ein partieller Konsens zwischen Eltern und nachreformatorischer Obrigkeit in der Heiratspolitik bestand. Diese wird in allen Regionen von Seiten der Eltern zur Kontrolle der Jugend und für ein ökonomisiertes Heiraten und Erben übernommen. Bei den Konflikten um Heirat, Verlobung und emotionale Beziehungen, die sich durch die Gerichtsakten ziehen, läßt sich seiner Meinung nach der partielle Konsens zwischen Eltern und Obrigkeit ablesen. 36 Fragt man nach dem Wandel für das Handeln der an Herrschaft beteiligten Personen und Gruppen aus Dorf und Obrigkeit, so 34

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Auf die Bedeutung der Dorfgerichte verweist auch Lieselott Enders, Die Landgemeinde in Brandenburg. Grundzüge ihrer Funktion und Wirkungsweise vom 13. bis zum 18. Jahrhundert, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 129, 1993, 195-256, hier 200. Schmidt, Dorf und Religion, 58. Thomas Robisheaux, Peasants and pastors: Rural youth control and the Reformation in Hohenlohe, 1540-1680, in: Social History 6, 1981, 281-300.

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Ulrike Gleixner deutet sich an, daß im 16. Jahrhundert noch stärker magische Praxen an diesem Aushandeln von Macht beteiligt waren als etwa im 18. Jahrhundert, das primär über sozial-ökonomische Positionen und Geschlecht Anteil an Herrschaft verlieh. 37 Das Deutungsangebot der Sozialdisziplinierungsthese kann hier insgesamt nicht bestehen. Herrschaft wird auch durch Gemeinden und Honoratioren ausübt. Es zeigt sich erneut, daß ein dichotomischer Erklärungsansatz Obrigkeit-Untertan die frühneuzeitliche ländliche Gesellschaft nicht ausreichend erklären kann.

4. Die Einführung der Strukturkategorie Geschlecht zur Thematisierung gesellschaftlicher Ungleichheit Die neueren community-studies mit ihrem mikrohistorischen Ansatz und ihrem Interesse für Kriminalität und Konflikte haben Geschlecht als Basiskategorie auf die gleiche Ebene wie Schicht, Klasse oder Alter gestellt. 38 Handlungsräume und Grenzen für die Bereiche Sexualität, Haushalt, Ehe, die Dynamik von Verwandtschaft und Besitz, Gewaltpotentiale und die zentrale Bedeutung von Ehre für das Zusammenleben wurden über die Analyse von niedergerichtlichen Akten herausgearbeitet; all dieses im Hinblick auf Frauen und Männer unterschiedlicher Besitzschichten. Das Verhältnis von Geschlecht, Besitzklasse, Stand und Alter hat dafür sensibilisiert, nicht einfach mehr von den Frauen und den Männern der Frühen Neuzeit zu sprechen. Handlungsspielräume, Einfluß und Ansehen von Personen sind über differenzierten Besitz, Status und Stand bestimmt und werden durch Geschlechtszugehörigkeit zusätzlich ausgestaltet. Das stark durch Besitz- und Haushaltshierarchie geprägte Denken des Dorfes übernahm beispielsweise die obrigkeitliche Vorstellung von „Unzucht" nur in Teilen, indem sie die für sie ökonomisch sinnvollen Formen unterstützten und nur die davon abweichenden ehrmindernd sanktionierten. Entsprechend dieser eigenwillig gestalteten Form der Sittenzucht agierte die dörfliche Gesellschaft nicht auf der Basis einer strikt dualen Geschlechterordnung (MannFrau), sondern bildete vielfältigere geschlechtliche Ordnungen heraus. Selbstverständlich gibt es auch in der dörflichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts die Wahrnehmung von weiblichen und männlichen Menschen, doch die kulturelle Praxis weist innerhalb einer Geschlechtergruppe starke Unterschiede in der Fremdwahrnehmung, der Selbstinterpretation und den Handlungsspielräumen auf. Im zeitgenössischen Verständnis verläuft die Trennung innerhalb der ländlichen Gesellschaft nicht allein über die Zugehörigkeit zum weiblichen oder männlichen Geschlecht, sondern auch über soziale Stratifikation, Status und Ehre. Geschlechter-, Herrschafts- und Klassenverhältnisse durchdringen sich gegenseitig und bilden unterschiedliche Geschlechtsidentitäten heraus. 39 37

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Monika Mommertz, „Hat ermeldetes Weib mich angefallen" - Gerichtsherrschaft und dörfliche Sozialkontrolle in Rechtshilfeanfragen an den Brandenburger Schöppenstuhl um 1600. Ein Werkstattbericht, in: Peters, Gutsherrschaft, 343-358. Schnyder-Burghartz, Alltag und Lebensformen; Sabean, Neckarhausen; Hans Medick, Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900, Göttingen 1996; Claudia Ulbrichs Studie über Steinbiedersdorf ist im Druck. Gleixner, Das Mensch und der Kerl.

Historische Kriminalitätsforschung

und Agrarge schichte in der frühen Neuzeit

Das Forschungsfeld der weiblichen Delinquenz in der ländlichen Gesellschaft hat inzwischen einen nicht unbedeutenden Raum eingenommen. Geschlechterbeziehungen, Delikte als Schlüssel zur Analyse weiblicher Lebenswelten, das Zusammenleben christlicher und jüdischer Frauen in den Dörfern, Frauen in bäuerlichem Widerstand und geschlechtsspezifische Delinquenz bilden dabei die Fragehorizonte. 40 Die Frage wird häufig gestellt, wann und für welches Delikt Frauen vor Gericht standen.41 Kindsmord etwa war ein rein weibliches Delikt. 42 Als produktiv hat sich auch die Frage erwiesen, was Frauen vor Gericht nicht zur Klage brachten. Da Klagen wegen häuslicher Gewalt offensichtlich nicht erfolgreich von Frauen vor Gericht gebracht werden konnten, unterließen sie diese auch. 43 Die Institution der sogenannten Geschlechtsvormundschaft muß ambivalent bewertet werden. Zwar konnten Frauen hierdurch nicht ohne männlichen Beistand klagen, aber zugleich bot ihnen diese Vormundschaft die rechtliche Möglichkeit, meist unterstützt von einem männlichen Mitglied ihrer Familie, gegen den Ehemann zu klagen, wenn dieser z.B. gemeinsames Eigentum veräußern oder die vorgesehene Erbfolge ändern wollte. Insgesamt sind die Delikte geschlechtsspezifisch ausgestaltet. Kleinere Diebstähle standen bei Frauen häufig im Zusammenhang mit Arbeit, Dienst und Existenzsicherung, 44 während Raub und Einbrüche von Männern ausgeführt wurden. 45 Ein weiteres Beispiel für geschlechtsspezifisch ausgestaltetes Deliktverhalten sind Ehrhändel. Scheit- und Schlaghändel sind als Delikte von Frauen und Männern greifbar, werden von den streitenden Parteien selbst zur Anzeige gebracht und füllten die 'herrschaftlichen Kassen'. 46 Verschiedene Studien zeigen, daß Männer in diesen Konflikten zu Raufhändel und Frauen eher zu verbalen Angriffen tendierten, wobei die Potenz eines verbalen Angriffs in der Dimension von Gewalt analysiert

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Robert Jütte, Geschlechtsspezifische Kriminalität im Späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germ Abt., 8,1991, 88-116; Claudia Ulbrich. Weibliche Delinquenz im 18. Jahrhundert. Eine dörfliche Fallstudie, in: Ulbricht, Huren und Rabenmütter, 281-311; dies., Überlegungen zur Erforschung der Geschlechterroilen in der ländlichen Gesellschaft, in: Peters, Gutsherrschaft, 359-364; Ulinka Rublack, Magd, Metz'oder Mörderin. Frauen vor frahneuzeitlichen Gerichten, Frankfurt a. M. 1998. 41 Jan Peters, Frauen vor Gericht in einer märkischen Gutsherrschaft (2. Hälfte 17. Jahrhundert), in: Ulbricht, Huren und Rabenmütter, 281-311; Claudia Ulbrich, Zeuginnen und Bittstellerinnen. Überlegungen zur Bedeutung von Ego-Dokumenten für die Erforschung weiblicher Selbstwahrnehmung in der ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: Winfried Schulze (Hg.), Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 19%, 207-226. 42 Regina Schulte, Das Dorf im Verhör. Brandstifter, Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts. Oberbayem 1848-1910, Reinbek 1989; Otto Ulbricht, Kindsmord und Aufklärung in Deutschland, München 1990; Richard van Dülmen, Frauen vor Gericht. Kindsmord in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1991. "" Gleixner, Das Mensch, 138-175; Michaela Holtkamp, Häusliche Gewalt. Beispiele aus einer ländlichen Region des mittleren Schwarzwaldes im 18. Jahrhundert, in: Thomas Lindenberger/Alf Lüdtke (Hg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1995, 276302; Claudia Ulbrich, Raufen und Saufen in Steinbiedersdorf, in: Historische Mitteilungen 8, 1995, 28-42; Ulinka Rublack, „Viehisch, frech und onverschämpt". Inzest in Südwestdeutschland, ca. 1530-1700, in: Ulbricht, Huren und Rabenmütter, 171-213. 44 Ulbrich, Weibliche Delinquenz; Peters, Frauen vor Gericht. 4i Peter Wettmann-Jungblut, „Stelen inn rechter hungersnodtt". Diebstahl, Eigentumsschutz und strafrechtliche Kontrolle im vorindustriellen Baden 1600-1850, in: van Dülmen, Verbrechen, 133-177. 46 Peters, Frauen vor Gericht, 248.

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Ulrike Gleixner wird. 47 Ehre war für Frauen wie Männer zentral, kommt als Delikt aber geschlechtsspezifisch zur Geltung. Konflikte, die Einblicke in Haushalte gewähren, zeigen, daß das reformatorische Konzept der „Hausherrschaft" große Bedeutung für die Stabilisierung der frühneuzeitlichen Gesellschaft hatte. Die Worte des Pfarrers aus der Leichenpredigt für Anna Maria Hahn, geb. Rapp, eine württembergische dörfliche Pfarrfrau des 18. Jahrhunderts, präsentieren diesen Herrschaftsanspruch eindringlich: „Wie manche Jungfer und ledige Tochter hat sich im Ehestand erst auf einer andern Seite kennen lernen müßen, nehmlich, wie wenig wahrer Gehorsam in ihrem Herzen ist gegen ihrem Mann, der doch ihr Haupt ist, und Christi Stelle vertreten solle." 48 Der verheiratete Mann hatte in bevorzugter Weise Teil an der Herrschaft über Gesinde, Kinder und Ehefrau. Zwar waren diese nicht rechtlos, doch zeigt das Züchtigungsrecht des Hausherrn und die rechtliche Vertretung der im Haushalt Lebenden durch ihn vor der Obrigkeit eindeutig seine privilegierte Partizipation an Herrschaft. 49 Das gemeinsame Ziel von besitzenden Dörflern und Obrigkeit war die Stabilisierung von Wirtschaftsordnung und Haushalten und einer daran orientierten Friedenssicherung. Vor diesem Hintergrund hatten Ehefrauen wenig Erfolgschancen, gerichtlich gegen unfriedliche, zu „maßloser" Gewalt neigende Ehemänner vorzugehen. Ihr zugkräftigstes Argument blieb der schlechte Haushalter und Trinker, der gegen die Haushaltsdisziplin verstieß. Straffällig gewordene Ehemänner konnten jedoch durch die Fürsprache ihrer Ehefrauen und ihrer Nachbarn, selbst bei gravierenden Anklagen, aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Im Fall des Dorfschäfers Andreas Matthiersen zu Andorf bat der Dorfschulze Heinrich Viereck 1746 zusammen mit drei Gemeindevertretern und im Namen der Ehefrau erfolgreich für die Freilassung des wegen Ehebruchs im Turm einsitzenden Schäfers: „Da nun die Gemeine eines Schäfers bedürftig, welcher in stehenden Martini wieder antreten müße, so wolten sie gebethen haben, doch denselben wieder zu dimittieren". 50 In Übereinstimmung der Interessen von Obrigkeit und dörflichen Haushaltsvorständen wird der Delinquent entlassen. Ein wesentlicher Aspekt in der Bearbeitung von Kriminalität, in historischer wie in gegenwartsbezogener kriminologischer Perspektive, ist die gesellschaftliche Ordnung der Geschlechter. Die Rolle des Rechtes und der Gerichte muß für die Geschlechterordnung als wesentlich erachtet werden. 51 Rechtswissenschaftler bestäti47

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Schnyder-Burghartz, Alltag; Peters, Frauen vor Gericht; Ulbrich, Raufen und Saufen; Jacques Chiffoleau, Les justices du pape. Délinquance et Criminalité dans la région d'Avignon au quatorzième siècle, Paris 1984. Leichenpredigt auf Frau Anna Maria Hahn, geb. Rapp, geb. 31. Aug. 1749, gest. im Juli 1775 gehalten von Johann Ferdinand Seiz, 1775, Staatsbibliothek Berlin, Ee Hn 700 -1276 m, 10. Heide Wunder, Das Selbstverständliche denken, 37f. Dies., „Er ist die Sonn', sie ist der Mond". Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, 65-80. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg (LHSA), Rep Da Diesdorf XXVIII c, Nr. 18, Bl. 11 (1746/47). Ursula Flossmann, Geschlechtsspezifische Diskriminierung und Gleichbehandlungsgebot als Strukturelemente frühneuzeitlicher Rechtsordnungen, in: Louis C. Morsak/Markus Escher (Hg.), Festschrift für Louis Carlen zum 60. Geburtstag, Zürich 1989, 617-625; Susanna Burghartz, 'Geschlecht'und 'Kriminalität'ein 'fruchtbares'Verhältnis?, in: Jaun/Studer, Weiblich - männlich, 25; Wunder, Weibliche Kriminalität; Isabel V. Hull, Sexuality, State and Civil Society in Germany 1700-1815, Comell 1996.

Historische Kriminalitätsforschung

und Agrargeschichte

in der frühen

Neuzeit

gen diese Perspektive und sprechen von der Wirklichkeitskonstruierenden Macht des Rechts. 52 Sowohl durch Rechtsetzung als auch durch Rechtspraxis und durch die ständige Berührung von Norm und Lebenswelt werden Geschlechterordnungen in einem permanenten Prozeß reproduziert. 53 Auf diesen Konstruktionsprozeß nahmen sowohl obrigkeitliche als auch dörfliche Rechtsinstitutionen Einfluß. Das obrigkeitliche Recht setzte der dörflichen Sozialordnung übergeordnete Prämissen. Die Trennung von Personen und Handlungen als Kennzeichen staatlicher Ordnung zwang Dörfler und Dörflerinnen vor Gericht, von ihrer eigenen Lebenswelt abstrahierend bedingungslos in männlich und weiblich zu unterscheiden. In ihren Aussagen versuchten die vor Gericht Zitierten, dörfliche Handlungslogik mit obrigkeitlichen Rechtsnormen in Übereinstimmung zu bringen. Heide Wunder hat jüngst erneut, Joan W. Scott folgend, dem Recht die zentrale Rolle für die Herstellung und Reproduktion der Geschlechterordnung als Ordnung sozialer Ungleichheit zugewiesen. 54 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Recht in der Frühen Neuzeit, weder in guts- noch in grundherrschaftlichen Gebieten, ein allein obrigkeitlich besetzter und genutzter Regulierungsmechanismus war. Viele Rechtsformen der ländlichen Gesellschaft sind bis heute nicht hinreichend untersucht. Für die Agrargeschichte könnte die Verstärkung dieser Forschungsperspektiven vielversprechend sein und zur Flexibilisierung verfassungsgeschichtlicher Begriffe führen. Das Eindringen in den Mikrokosmos von Dörfern und einzelnen Herrschaften zeigt, daß diese, ob grundherrschaftlich oder gutsherrschaftlich strukturiert, in hohem Maße über Ungleichheiten zwischen den Untertanen und partielle Teilhabe an Herrschaft funktionierten und sich stabilisierten. Das führt zu der Frage, ob das Konzept des agrarischen Dualismus eine solche Perspektive partikularer Herrschaftsrechte integrieren kann. Der historisch-anthropologische Zugang mit seiner induktiven Begriffsbildung ermöglicht in der Analyse von Gerichtsakten einen neuen quellengestützten Zugang zum Problem des agrarischen Dualismus. Eine Aufgabe der neuen Agrargeschichte könnte es sein, bestehende Systematisierungen und Vergleiche zu überdenken und neue Perspektiven des Vergleichs zu wählen. Ein Schritt in diese Richtung sind die oben genannten Vorschläge von Heide Wunder, ausgehend vom Modell ostelbischer Gutsherrschaft. 55 Die Historische Kriminalitätsforschung der ländlichen Gesellschaft bietet ein Korrektiv zu älteren landeskundlichen und agrarhistorischen Strukturansätzen. Sie stellt einer sich erneuernden und international diskussionsfähigen Agrargeschichte neue Perspektiven, Fragen und Problemlösungen zur Verfügung. Die Integration der Strukturkategorie Geschlecht über die Analyse von Gerichtsakten ermöglicht eine gesellschaftsgeschichtliche Perspektive, die einerseits Lebenswelten von Männern und Frauen aufblättert und andererseits zeigt, wie über Recht die gesellschaftliche Ordnung der Geschlechter etabliert wird.

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Uwe Wesel, Juristische Weltkunde. Eine Einführung in das Recht, Frankfurt a. M. 1984. Gleixner, Das Mensch und der Kerl. Vgl. Wunder, „Weibliche Kriminalität". Vgl. Wunder, Das Selbstverständliche denken.

71

Andreas Suter

Neue Forschungen und Perspektiven zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft in der Schweiz (1500-1800) Welches sind aus der Sicht der schweizerischen Forschung der letzten Jahre und Jahrzehnte die „Perspektiven für eine neue Agrargeschichte" in der Frühen Neuzeit?' Die Antwort, die dieser Aufsatz darauf geben möchte, folgt in ihrer grundsätzlichen Stossrichtung derjenigen von Jean-Marc Monceau. Dieser forderte in einem programmatischen Aufsatz für die 1994 neu gegründete französische Zeitschrift zur Agrargeschichte, der „Histoire et Sociétés rurales", einen Perspektiven Wechsel.2 Er schrieb, dass die Agrargeschichte und die Geschichte der ländlichen Gesellschaft des Mittelalters und der Frühen Neuzeit endlich aufhören müssten, das bevorzugte Terrain einer „histoire immobile" zu sein. Statt dessen solle die künftige Forschung ihre Anstrengungen vermehrt auf die durchaus auch vorhandene Dynamik der vormodernen ländlichen Gesellschaft richten, die allzulange unterschätzt und vernachlässigt worden sei. Wenn sich dieser Aufsatz dieser Forderung anschliesst, dann aus einem einfachen Grund. Sie wird durch verschiedene Befunde aus neueren Arbeiten über die Entwicklung der ländlichen Gesellschaft in der Schweiz überzeugend gestützt. Im folgenden werden diese Befunde genauer vorgestellt, und zwar geschieht dies nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr werden drei Frage- und Problembereiche, die m.E. besonders wichtig sind, vertieft behandelt: Angesprochen ist damit erstens die Frage des wirtschaftlichen Innovationspotentials der Agrarwirtschaft in der Frühen Neuzeit, zweitens die Frage nach den innovationshemmenden und -fördernden Kräfte bei der sogenannten Agrarrevolution im 18. und 19. Jahrhundert und drittens die Frage des politischen Innovationspotentials der ländlichen Gesellschaft beim Übergang vom Ancien Régime zum liberal-demokratischen Staatswesen des 19. Jahrhunderts.

1. Das wirtschaftliche Innovationspotential Die Diskussion über das wirtschaftliche Innovationspotential der ländlichen Gesellschaft hat von der wichtigen Feststellung auszugehen, dass die schweizerische Agrarwirtschaft in der Frühen Neuzeit überaus vielfältig war und im Vergleich zur Moderne stärker akzentuierte Unterschiede aufwies. So sind auf dem Gebiet der heutigen Schweiz drei frühneuzeitliche Agrarzonen zu erkennen, die sich nach ver1

2

Ich danke Ulrich Pfister, Andreas Ineichen und Peter Ràsonyi für ihre wertvollen Hinweise und Kritiken an früheren Fassungen. Jean-Marc Monceau, Transformations culturales et innovation (XHe-XIXe siècle), in: Histoire et Sociétés rurales 1, 1994, 37-66, hier 37.

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Andreas Suter schiedenen Merkmalen wie zum Beispiel der Topographie, des Klimas, der Bodenbeschaffenheit, des Autarkie- bzw. Spezialisierungsgrades, der institutionellen Verfassung u.a. mehr grundsätzlich voneinander unterscheiden. Es sind dies erstens die inneralpinen Autarkiegebiete, zweitens die voralpinen Hügelzonen und drittens die Dreizelgenwirtschaftsgebiete des Mittellandes. 3 Mit Blick auf das hier besonders interessierende wirtschaftliche Innovationspotential dieser drei Zonen zeichnete die Forschung sehr lange ein stark dichotomisches Bild. Auf der einen Seite war dank der grundlegenden Arbeiten von Georg C.L. Schmidt und Rudolf Braun aus den Jahren 1932 bzw. 1960 schon seit Jahrzehnten bekannt, dass sich die in den Voralpen gelegenen Hügelzonen seit dem ausgehenden Mittelalter durch ein grosses agrarisches und zunehmend auch protoindustrielles Innovationspotential auszeichneten. 4 Jüngere Arbeiten präzisierten und differenzierten diese Beobachtung, um sie im gleichen Zug grundsätzlich zu bejahen und zu bestätigen. 5 Auf der anderen Seite galten die Dreizelgenwirtschaftsgebiete des Mittellandes und die inneralpinen Autarkiegebiete bis in die jüngste Zeit hinein als ausgesprochen traditionale, beharrende und innovationsfeindliche Ökonomien, die insgesamt durch eine ertragsarme Bodennutzung und eine tendenziell stagnierende Produktion charakterisiert waren. 6 Nach verbreiteter Ansicht bestand der Hauptzug dieser Ökonomien in ihrer Unfähigkeit, den Einsatz der Produktionsfaktoren Kapital, Arbeit und Land durch technische oder organisatorische Innovationen zu optimieren und damit die Produktivität und das Agrarprodukt nachhaltig zu steigern. Deshalb konnte das Agrarprodukt über eine durch Klima, Bodenbeschaffenheit, Grösse der Anbaufläche, gegebene Technik und andere Faktoren mehr gezogene Grenze nicht hinauswachsen. Der Steigerung des Nahrungsmittelangebotes und damit der „Tragfähigkeit eines Raumes" für Menschen waren tendenziell unelastische Grenzen gesetzt. 7 Siehe zur Einteilung und Unterscheidung der schweizerischen Landwirtschaft der frühen Neuzeit in inneralpine Autarkiegebiete, voralpine Hügelzonen und mittelländische Dreizelgenwirtschaftsgebiete André Schluchter (Hg.), Die Agrarzonen der Alten Schweiz, Basel 1989. Georg C. L. Schmidt, Der Schweizer Bauer im Zeitalter des Frühkapitalismus. Die Wandlung der Schweizer Bauemwirtschaft im achtzehnten Jahrhundert und die Politik der ökonomischen Patrioten, 2 Bde., Bem 1932; Rudolf Braun, Industrialisierung und Volksleben, Erlenbach 1960. Dazu gehören insbesondere N. Morard, Les premières enclosures dans le canton de Fribourg à la fin du moyen âge et les progrès de l'individualisme agraire, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 21, 1971, 249-281; Anne-Lise Head-König, L'Evolution des alpages et de l'Elevage dans les Alpes de la Suisse centrale et orientale, in: L'Elevage et la vie pastorale dans les montagnes de L'Europe au Moyen Age et l'Epoque moderne, Clermont-Ferrand 1984; dies., L'Evolution de la typologie des zones agricoles en pays de montagne du XVlIe au XIXe siècle: Definition et réalité du Hirtenland dans le pays de Glarus 1989, 82-96, in: André Schluchter (Hg.). Agrarzonen: Daniel Rogger, Obwaldner Landwirtschaft im Spätmittelalter, Samen 1989; Roger Sablonier, Innerschweizer Gesellschaft im 14. Jahrhundert. Sozialstruktur und Wirtschaft, in: Historischer Verein der Fünf Orte (Hg.), Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft, Jubiläumsschrift 700 Jahre Eidgenossenschaft, 2 Bde., o.O., 1990, hier Bd. 2. 11-233. So schon Schmidt, Bauer; Braun, Industrialisierung und ders., Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz. Aufriss einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Göttingen 1984. Für die inneralpinen Autarkiegebiete siehe Jon Mathieu, Eine Agrargeschichte der inneren Alpen. Graubünden, Tessin, Wallis 1500-1800, Zürich 1992. Begriff und Konzept der wirtschaftlichen Tragfähigkeit gehen zurück auf Gerhard Mackenroth, Bevölkerungslehre. Theorie, Soziologie und Statistik der Bevölkerung, Berlin, Göttingen. Heidelberg 1953. Christian Pfister und seine Schüler haben diesen Zugriff für die frühneuzeitliche Agrarforschung in der Schweiz fruchtbar gemacht und empirisch abgestützt. Siehe: Ders., Bevölkerung,

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Geschichte der ländlichen Gesellschaft in der Schweiz Die Bevölkerung hatte sich dieser Tragfähigkeit oder diesem „Plafond", was dasselbe meint, wohl oder übel anzupassen. 8 Und zwar erfolgte dies durch diverse „Pufferungsstrategien" im Bereich der Produktion, welche Ernteschwankungen mildern und die Erträge verstetigen sollten. 9 Als Alternative zu solchen Pufferungsstrategien auf der Angebotsseite betonte die Forschung auch Massnahmen auf der Nachfrageseite. Gemeint sind hier vorbeugende Massnahmen (preventive checks) wie die Heraufsetzung des Heiratsalters der Frauen oder die Erhöhung der Ledigenrate.10 Beides senkte die Geburtenrate und verlangsamte das Bevölkerungswachstum oder führte sogar - zusammen mit anderen Faktoren - zu einem Bevölkerungsrückgang. Wurden derartige vorbeugende Massnahmen aus irgendwelchen Gründen nicht oder zu wenig konsequent ergriffen, stellte sich diese Anpassung von selber ein: Sogenannte „negative Checks" wie Krankheiten und Hungersnöte dezimierten die zu stark gewachsene Bevölkerung wiederum unter die angesprochene Obergrenze des gegebenen Nahrungs- und Ressourcenspielraums. 11 Mit dieser Betrachtungsweise konnte die schweizerische Forschung die Dreizelgenwirtschaftsgebiete des Mittellandes und die inneralpinen Autarkiegebiete sehr gut in ein sehr viel umfassenderes Interpretament und Modell einordnen, welches umgekehrt die Einzelforschungen stark beeinflusste. Gemeint ist die in der europäischen Forschung sehr verbreitete oder in den letzten Jahren und Jahrzehnten sogar dominierende Konzeptualisierung der vormodernen Agrarwirtschaft und Agrargesellschaft, die sich in ihrer Grundanlage auf die bereits 1803 entwickelten Vorstellungen von Thomas Malthus stützt. 12 Für die Schweiz waren es vorab Christian Pfister und Rudolf Braun, welche ihre agrargeschichtlichen bzw. demographischen Untersuchungen am malthusianischen Modell orientierten und es wiederum empirisch abstützten.

s 4

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Klima und Agrarmodernisierung 1525-1860. Das Klima der Schweiz von 1525-1860 und seine Bedeutung in der Geschichte von Bevölkerung und Landwirtschaft, 2 Bde., Bern/Stuttgart 1984, hier Bd. 2, 191 ff. Dort definiert Pfister „Tragfähigkeit" wie folgt: „Die Tragfähigkeit eines Raumes, bezogen auf Bevölkerung und Ernährung, kann als Verhältnis von Nahrungsmittelangebot und Nahrungsmittelnachfrage definiert werden. (Sie) ist dann überschritten, wenn Anzeichen dafür vorhanden sind, dass ein Teil der Bevölkerung an Mangel- oder Unterernährung leidet." Wesentliche variable Einflussfaktoren des Nahrungsmittelangebotes sind technische und organisatorische Kompetenzen der Bevölkerung. Anstelle von Tragfähigkeit wird heute zuweilen auch der englische Begriff der „carrying capacity" verwendet. Siehe Rolf Peter Sieferle, Perspektiven einer historischen Umweltforschung, in: Ders. (Hg.), Fortschritte der Naturzerstörung, Frankfurt 1988, 88: „Unter carrying capacity versteht man die theoretische Grenze, bis zu der eine Bevölkerung wachsen kann und dennoch dauerhaft von ihrer Umwelt erhalten wird. Die Höhe der carrying capacity ist damit von der technischen und organisatorischen Kompetenz der jeweiligen Bevölkerung abhängig." Zu Begriff und Konzept des „Plafonds" vgl. Markus Mattmüller, Bevölkerungsgeschichte der Schweiz, 2 Bde., Basel 1984, insbesondere Bd. 2,425ff. Für konkrete Beispiele solcher Pufferungsstrategien siehe Christian Pfister, Bevölkerung, Bd. 2, 49ff. Erwähnt seien hier 1) der „Anbau einer möglichst breiten Palette von Kulturpflanzen" sowie „einen auf verschiedene Böden und Höhen verzettelten Anbau", welcher die Wirkung von wetterund schädlingsbedingten Ernteausfällen mindert; 2) die herrschaftliche Markt- und Vorratshaltungspolitik, welche die negativen Auswirkungen von emtebedingten Versorgungsengpässen für die Konsumenten zu mildern suchte. Siehe zu Begriff und Konzept der „preventive und negative checks" sowie zu dessen empirischen Abstützung Rudolf Braun, Protoindustrialization and Demographie Changes in the Canton Zürich, in: Charles Tilly (Hg.), Historical Studies of Changing Fertility, Princeton 1978, 289-334. Ebd. Thomas R. Malthus, An Essay on the Principle of Population, or a View of its Past and Present Effects on Human Happiness, London 1803.

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Andreas Suter Nach der Konzeptualisierung von Malthus führte das Bevölkerungswachstum in der Frühen Neuzeit langfristig ein ungünstigeres Verhältnis der Produktionsfaktoren Arbeit und Land herbei. Dies senkte die Grenzproduktivität der Arbeit, Hess die Bevölkerung an ihren Plafond stossen und führte über kurz oder lang die schon erwähnten regulierenden Faktoren herbei, das heisst eben die Senkung des Heiratsalters, die Erhöhung der Ledigenrate, die Hungersnöte und die Seuchen. Für die Argumentation dieses Aufsatzes ist nun entscheidend, dass seit den späten 70er Jahren immer mehr Befunde auftauchten, die das vorgestellte dichotomische Bild, hier die innovationsfeindlichen inneralpinen Autarkiegebiete und die gleichermassen innovationsfeindlichen mittelländischen Dreizelgenwirtschaftsgebiete, dort die innovationsoffenen voralpinen Hügelzonen, stark in Frage stellten. Fraglich wurde damit aber zugleich die malthusianische Konzeptualisierung der vormodernen Agrargesellschaft. Während nämlich die voralpinen Hügelzonen seit jeher nicht recht in das Konzept einer malthusianischen Agrargesellschaft passten, fügten sich nun neu auch die vermeintlich dazu passenden Dreizelgenwirtschaftsgebiete nicht mehr in dieses Konzept. Dieser Prozess der Infragestellung und der Revision nahm zunächst einen indirekten Weg, nämlich jenen der historischen Demographie. Dank den Ergebnissen der historischen Demographie, wie sie vorab von Markus Mattmüller und seinen Schülern betrieben wurde, ist es seit Ende der achtziger Jahre möglich geworden, sich ein klareres Bild über die Bevölkerungsentwicklung der Schweiz zwischen 1500 und 1800 zu verschaffen. 13 Ungeachtet der zweifellos vorhandenen Fehlermargen im Zusammenhang mit unumgänglichen Schätzungen und Extrapolationen, die aufgrund der verfügbaren Quellen nie vollkommen ausgemerzt werden können, kommt man zu einigermassen sicheren wie erstaunlichen Ergebnissen, die in den Tabellen der folgenden Seite zusammengestellt sind. Nach diesen Zahlen wies das Gebiet der heutigen Schweiz in der Frühen Neuzeit ein ausgesprochen starkes Wachstum auf. Mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 3.7 Promille zwischen 1500-1800 wuchs die schweizerische Bevölkerung schneller als irgendein anderes Gebiet in Europa mit Ausnahme von England und wohl auch von den Niederlanden. Auch im Vergleich zur Wachstumsrate des 19. Jahrhunderts, es sind 6.6 Promille, erscheinen die 3.7 Promille der Frühen Neuzeit beachtlich. Sie führten dazu, dass sich die schweizerische Bevölkerung im Zeitraum von 1500-1700 verdoppelte und zwischen 1500 und 1800 verdreifachte. Ausserdem verlief dieses Wachstum einigermassen kontinuierlich. Bedeutsam ist schliesslich, dass die Bevölkerung zwischen 1500-1800 in den Alpen- und Voralpenkantonen weniger rasch wuchs als in den Mittellandkantonen. Auch wenn man sogleich einschränken muss, dass es auch in den sogenannten Mittellandkantonen voralpine Hügelzonen gab, die wie gesagt seit langem als innovationsoffen galten, und deren Bevölkerung im innerkantonalen Vergleich tatsächlich besonders stark anwuchs, führen all diese demographischen Daten stets zu ein und demselben Befund: Die angeblich traditionalistischen, innovationsfeindlichen und beharrenden Dreizelgenwirtschaftsgebiete des Mittellandes mit ertragsarmer Bodennutzung wiesen in der Frühen Neuzeit in der Tat ein kräftiges Bevölkerungswachstum auf. Diese Tatsache wiederum lässt sich nur unter einer Bedingung erklären. Im 13

76

Siehe dazu und zum folgenden Mattmüller, Bevölkerungsgeschichte.

Geschichte der ländlichen Gesellschaft

in der Schweiz

Gegensatz zu früheren Ansichten war auch die durch die Dreizelgenwirtschaft geprägte Agrarwirtschaft des Mittellandes durchaus fähig, den Nahrungs- und Erwerbsspielraum im Gleichschritt mit der wachsenden Bevölkerung nachhaltig zu steigern, das heisst bis 1700 zu verdoppeln und bis 1800 zu verdreifachen. Die schweizerische Agrarwirtschaft im ganzen und die Dreizelgenwirtschaftszonen im einzelnen funktionierten in der Frühen Neuzeit offensichtlich nicht mehr nach dem malthusianischen Modell; sie ist vielmehr als eine überaus „elastische Ordnung" zu charakteri sieren. 14

Jährliche Wachstumsrate der Bevölkerung 1500-1800 (In Promille) 15

Schweiz Mitteleuropa 3 England Nordwesteuropa b Frankreich Südeuropa c Südosteuropa d

1500-1600

1600-1700

1700-1800

5,3 2,6 9,2 4,3 3,2 2,8 2,0

2,3 0,2 0,0 2,7 1,5 0,0

3,5

0,1

3,1 4,7 5,1 2,9 3,6 5,3

Bevölkerung verschiedener europäischen Länder und Ländergruppen 1500-1800 (in Mio.)

Schweiz Mitteleuropa 4 England Nordwesteuropa b Frankreich Südeuropa c Südosteuropa d

14

15

1500

1600

1700

1800

0,6 18,5 2,0 6.3 13,0 16,4

0,9 24,0 5,0 9,7 17,9 21,7 11,2

1,2 24,5 5,0 12,7 20,8 21,7 12,2

1,7 33,5 8,0 21,2 27,9 31,2 20,8

9,1

So Markus Mattmüller, Die Dreizelgenwirtschaft - eine elastische Ordnung, in: Benedikt Bietenhard u.a. (Hg.), Ansichten von der rechten Ordnung. Bilder über Nonnen und Normenverletzungen in der Geschichte, Bern/Stuttgart 1991. Zahlen nach Angaben von Mattmüller, Bevölkerungsgeschichte, Bd. 1, 347ff.; Peter Kriedte, Spätfeudalismus und Handelskapital. Grundlinien der europäischen Wirtschaftsgeschichte vom 16. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1980,12; Jack A. Goldstone, Revolution and Rebellion in the Early Modem World, Berkeley/Los Angeles 1991, 83f., 176ff.; Die Definition der Ländergnippen (Landesgrenzen jeweils nach dem Stand von 1980): a: Deutschland, Schweiz, Österreich, Polen, tschechischer Teil der Tschechoslowakei; b: Britische Inseln, Niederlande, Belgien; c: Portugal, Spanien, Italien; d: Slowakei, Ungarn, Rumänien, Balkanländer.

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Andreas Suter Zu unterstreichen ist, dass die schweizerische Agrarwirtschaft in dieser Hinsicht keinen Sonderfall darstellt. Ähnliches wurde von Ester Boserup bereits für England nachgewiesen und zu einer alternativen Modellvorstellung der frühneuzeitlichen Agrargesellschaft verdichtet, die dem wirtschaftlichen Innovationspotential und den wirtschaftlichen Wandlungsfähigkeiten dieser Wirtschaft einen ungleich höheren Stellenwert zuordnet, als das Malthus - möglicherweise in Übersteigerung der negativen Erfahrungen mit den schweren Agrarkrisen und Hungersnöten seiner Zeit - zu tun bereit war.16 Nach der alternativen Vorstellung von Boserup muss das Bevölkerungswachstum nicht unbedingt zu einer Abnahme des Grenzproduktes der Arbeit und damit letztlich zu Massenarmut, Hungerkrisen und Seuchen führen. Vielmehr konnte das Bevölkerungswachstum über blosse „Pufferungsstrategien" hinaus den Anstoss zu produktivitätssteigernden organisatorischen und technischen Innovationen geben, die Wirtschaft wie Gesellschaft transformierten und den Nahrungs- und Erwerbsspielraum der wachsenden Bevölkerung in einem Ausmass erweiterten, wie es Malthus für unmöglich erachtet hatte. Die Untersuchung von Markus Mattmüller und mehr noch diejenige von Thomas Meier über „nichtagrarische Tätigkeiten und Erwerbsformen in einem traditionellen Ackerbaugebiet" im Kanton Zürich aus den Jahren 1991 bzw. 1986 geben wichtige Hinweise und Belege, wie denn im Rahmen eines vermeintlich starren Dreizelgenwirtschaftssystems der Nahrungs- und Erwerbsspielraum erweitert wurde. 17 Sie bestätigen die These, dass dieser Erfolg nicht allein durch extensives Wachstum erzielt wurde, das heisst also durch die blosse Erweiterung der Anbauflächen oder durch die blosse Substitution des Ertragsfaktors Boden durch Arbeit. Vielmehr nutzte man auch in den Dreizelgenwirtschaftsgebieten der Frühen Neuzeit die Vorteile der interregionalen und gar internationalen Arbeitsteilung stärker aus und erreichte auf dem Weg der Spezialisierung eine Steigerung der Arbeitsproduktivität und eine bessere Anpassung der Produktionsfaktoren an die gegebenen Bedingungen. 18 Selbstverständlich geschah das nicht mit derselben Konsequenz wie in den ungleich stärker in interregionale und internationale Austauschprozesse einbezogenen voralpinen Hügelzonen. Dort hatte man bekanntlich schon seit dem Spätmittelalter das Prinzip der umfassenden Autarkie zugunsten einer spezialisierten, exportorientierten Viehzucht und Käseproduktion aufgegeben oder war zur protoindustriellen Produktion von Leinen- und Baumwolltuchen übergegangen. 19 Trotzdem verschaffte 16

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19

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Ester Boserup, The conditions of agricultural growth. The économies of agrarian change under population pressure, London 1965. Siehe Mattmüller, Dreizelgenwirtschaft, 246ff.; Thomas Meier, Handwerk, Hauswerk. Heimarbeit. Nichtagrarische Tätigkeiten und Erwerbsformen in einem traditionellen Ackerbaugebiet des 18. Jahrhunderts (Zürcher Unterland), Zürich 1986. Siehe zur frühneuzeitlichen Integration schweizerischer Wirtschaftsräume in interregionale und internationale Märkte am Beispiel der Westschweiz die Arbeit von Anne Radeff, Du café dans le chaudron: Economie globale d'Ancien Régime (Suisse occidentale, Franche-Comté et Savoie), Lausanne 1996. Siehe zu den spätmittelalterlichen Umstellungsprozessen in den Voralpengebieten Sablonier, Gesellschaft, hier 206ff; Rogger, Landwirtschaft, hier 213fF. Speziell zur Ausbreitung der Fettkäseherstellung Braun, Ancien Régime, 68; Rudolf Ramseyer, Das altbemische Küherwesen, Bern 1961; Fritz Glauser, Der Handel mit Entlebucher Käse und Butter vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 21, 1971, 1-63. Zur Protoindustrialisierung Braun, Industrialisierung, und Ulrich Pfister, Protoindustrialisierung: Die Herausbildung von Gewerberegionen,

Geschichte der ländlichen Gesellschaft in der Schweiz sich auch in den Dreizelgenwirtschaftsgebieten eine wachsende Schicht der unterbäuerlichen Taunerbevölkerung zusätzliches Einkommen aus nichtagrarischen Tätigkeiten. Auch hier wurden gewerbliche Produkte im Austausch für Nahrungsmittel in andere Regionen oder gar andere Länder exportiert. Entsprechend konnte Thomas Meier für sein Untersuchungsgebiet im Zeitraum des 17. und 18. Jahrhunderts eine geradezu erstaunliche Palette von spezialisierten gewerblichen und handwerklichen Tätigkeiten nachweisen. Sie reichte von der Produktion von Künstdünger, Strohhüten und Rebstecken bis hin zur Zucht von Weinbergschnecken, die sogar nach Italien exportiert wurden und dort auf den Tellern von Feinschmeckern landeten. Kennzeichnend für diese Form der Spezialisierung ist die Tatsache, dass sie die institutionellen Pfeiler der Dreizelgenwirtschaft - Flurzwang und Zehntenrecht - intakt Hess und sich in den meisten Fällen bestimmte lokale Standortvorteile zunutze machte. In unserem Zusammenhang noch aufschlussreicher sind die Resultate von Andreas Ineichens Dissertation über die Luzerner Landwirtschaft in der Frühen Neuzeit. 20 Er konnte nämlich bereits in einem überraschend frühen Zeitpunkt für Dutzende von Dörfern im Luzerner Dreizelgenwirtschaftsgebiet institutionelle Veränderungen und agrarische Innovationen nachweisen. Und es steht bereits heute fest, dass Luzern in dieser Beziehung keinen Sonderfall darstellte. Für die benachbarten Berner Dreizelgenwirtschaftsgebiete finden sich im gleichen Zeitraum ebenfalls Hinweise für derartige Umstellungsprozesse, ebenso für jene von Zürich und Solothurn. 21 Ausgangspunkt der Arbeit ist die den Luzerner Ratsprotokollen entnommene Beobachtung, dass der bekannten Welle von Enclosures in den Zeigen und Allmendaufteilungen im 18. und frühen 19. Jahrhundert eine erste, frühere und bisher unbekannte Welle im ausgehenden 16. Jahrhundert vorausgegangen war. 22 In manchen Dreizelgendörfern Luzems privatisierten die Bauern einen grossen Teil oder gar das gesamte Ackerland in den Zeigen durch Enclosures. Umgekehrt teilte man die Dorfallmenden und entschädigte mit den neu entstandenen Landparzellen die unterbäuerlichen Taunerschichten, die durch die bäuerlichen Enclosures ihre kollektiven Weiderechte verloren hatten. Den Anstoss für diese frühe Auflösung der Dreizelgenwirtschaft gab eine eigentliche agrarische Innovation. Das eingeschlagene, privatisierte Zelgland wurde unter erheblichem Einsatz von Arbeit und Kapital in Wässerwiesen verwandelt, auf denen eine getreideintensive Feldgraswirtschaft betrieben wurde. Daraus resultierte eine starke Steigerung der Produktion und Produktivität. Der Getreideausstoss nahm gegenüber dem verzeigten Ackerland um den Faktor 2 zu. Zusätzlich fiel ein mehrfach höherer Heuertrag an. Entsprechend konnten mehr Zug- und Nutztiere gehalten werden und der

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15. - 18. Jahrhundert, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 41, 1991, 149-160; Ders., Die Zürcher Fabriques. Protoindustrielles Wachstum vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Zürich 1992. Andreas Ineichen, Innovative Bauern. Einhegungen, Bewässerung und Waldteilungen im Kanton Luzem im 16. und 17. Jahrhundert, Luzem/Stuttgart 1996. Ebd., 96, Anmerkung 178. Siehe auch das Zitat weiter unten, 85. Zur Enclosures-Bewegung im 18. und 19. Jahrhundert liegen eine Reihe von Arbeiten vor. Siehe insbesondere Jürg Brühwiler, Der Zerfall der Dreizelgenwirtschaft im schweizerischen Mittelland, Zürich 1975; Samuel Huggel, Die Einschlagsbewegung in der Basler Landschaft. Gründe und Folgen der wichtigsten agrarischen Neuerung im Ancien Régime, 2 Bde., Liestal 1979.

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Andreas Suter wertvolle Dünger fiel ebenfalls reichlicher an. Der Marktwert dieser Enclosures schliesslich stieg um den Faktor 4-5. 23 Die skizzierten Vorgänge räumen mit der Vorstellung der Rückständigkeit, Inflexibilität und Beharrungskraft, die man der Dreizelgenwirtschaft und ihren Bewohnern gemeinhin unterstellt, radikal auf. Sie bedeuten nichts weniger, dass die Auflösung der Dreizelgenwirtschaft, die man stets und immer mit der sogenannten „Agrarrevolution des 18. und 19. Jahrhunderts" in Verbindung brachte, hier rund 200 Jahre früher in Gang gekommen und in einigen Luzerner Dörfern, welche die verzeigte Ackerflur und die Allmende schon Ende des 16. Jahrhunderts vollkommen privatisiert hatten, gänzlich zum Abschluss gebracht worden war. Dadurch konnte die Getreideproduktion im Zeitraum von 1574-1627 nicht weniger als verdoppelt werden. Das, was in Luzern und auch in anderen Ackerbaugebieten im 16. Jahrhundert also geschah, war nichts anderes als eine Agrarrevolution vor der Agrarrevolution!

2. Die Agrarrevolution zwischen dem „Traditionalismus" von Werner Sombart und Max Weber und der spezifischen Rationalität der frühneuzeitlichen Bauern Aus den vorgestellten Befunden ergeben sich noch weitere grundsätzliche Folgerungen. Sie legen es insbesondere nahe, die Frage nach den innovationshemmenden und -fördernden Faktoren für die an sich gut untersuchten Umstellungsvorgänge im 18. und frühen 19. Jahrhundert, eben der sogenannten Agrarrevolution, neu zu stellen. Denn angesichts der Tatsache, dass die frühneuzeitlichen Bauern durchaus zu originellen Anpassungsleistungen fähig waren, wird zugleich ein anderes wichtiges Interpretament in Frage gestellt. Gemeint ist eine bestimmte, wesentlich von Werner Sombart und Max Weber geprägte Sicht und Erklärung der frühneuzeitlichen Agrargesellschaft und der sich daran anschliessenden Agrarrevolution im 18. und im 19. Jahrhundert. Nach dieser Sicht sei der sogenannte „bäuerliche Traditionalismus" das entscheidende Hemmnis für agrarische Innovationen gewesen und entsprechend habe die bürgerliche Aufklärung bei der Agrarrevolution die Schlüsselrolle gespielt. Erst durch die Tätigkeit der merkantilistisch und physiokratisch gebildeten städtischen Aufklärer, sie nannten sich selber ökonomische Patrioten, sei der bäuerliche Tradi23

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Nach ebd., Anmerkung 179 wurde die Wiesenwässerung auch in Deutschland, genauer im Mittelgebirgsraum sowie auch in Teilen des norddeutschen Flachlandes praktiziert. Einige Literaturhinweise zum Mittelgebirge: Felix Mohnheim, Die Bewässerungswiesen des Siegerlandes. Eine pflanzensoziologische und wirtschaftsgeographische Untersuchung, Leipzig 1943; Karl Heinz Fiedler, Die Wiesenbewässerung im Saarland und in der Pfalz, Saarbrücken 1968; besonders zum Schwarzwald: Fred Scholz, Künstliche Bewässerung im Nordschwarzwald. Ein einzig noch historisch-geographisch interessantes Thema? In: Alemannisches Jahrbuch 1989/90. Festschrift für Wolf-Dieter Sick, Teil A, Bühl 1990, 105-126; Gerhard Endriss, Die künstliche Bewässerung des Schwarzwaldes und der angrenzenden Gebiete, in: Berichte der Naturforschenden Gesellschaft zu Freiburg i. Br. 42, 1952, 77-109; zum Allgäu: Werner Konoid, Wasser, Wiesen und Wiesenbewässerung in Isny im Allgäu, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 109, 1991, 161-213.

Geschichte der ländlichen Gesellschaft in der Schweiz tionalismus aufgebrochen und damit die Voraussetzung für agrarische Umstellungen und Innovationen geschaffen worden. Ganz auf der Linie dieser Betrachtungsweise kommt beispielsweise Rudolf Braun noch im Jahr 1984 bezüglich der Dreizelgenwirtschaftsgebiete und seiner Bewohner im schweizerischen Mittelland zum folgenden Befund: Es habe hier „eine innovationsfeindliche, Neuerungen ablehnende, die traditionelle Ordnung bejahende Gesinnung" geherrscht, „die darauf bedacht ist, das komplizierte Netz von Rechten, Pflichten und gegenseitiger Rücksichtsnahme nicht zu gefährden. Die Zürcher ökonomischen Patrioten wurden in ihren Bauerngesprächen mit dieser starrköpfigen Gesinnung oft genug konfrontiert." 24 Entsprechend seien diese Dreizelgenwirtschaftsgebiete im Mittelland bis Ende des 18. Jahrhunderts „in einem Zirkel rückständiger, ertragsarmer Bodennutzung und Betriebsgestaltung gefangen" geblieben. Für Max Weber und Werner Sombart ist dieser Traditionalismus Ausdruck tiefsitzender Werthaltungen und Einstellungen oder anders gesagt: einer spezifischen bäuerlichen Mentalität von sehr langer Dauer. Sie beinhaltete das gedankenlose Befolgen überlieferter Werte, welches dem rationalen Erwerbsprinzip moderner kapitalistischer Gesellschaften gänzlich entgegengesetzt war: „Man blickt" - so geisselte Werner Sombart in seinem grundlegenden Werk: „Der moderne Kapitalismus" die Wirtschaftsgesinnung der frühneuzeitlichen Bauern - „bei den Entscheiden über eine Vornahme oder Massregel nicht zuerst nach vorn, nach dem Zwecke, fragt nicht ausschliesslich nach ihrer Zweckmässigkeit, sondern schaut nach hinten, nach den Vorbildern und Mustern und Erfahrungen." 25 Diese Einschätzung klingt sehr überzeugend. Denn sie schmeichelt nicht nur dem heutigen, sich als aufgeklärt verstehenden Leser, sondern sie kann sich auch auf zeitgenössische Quellen stützen. Tatsächlich wurden die bürgerlichen Aufklärer des 18. Jahrhunderts nicht müde, genau dieses Bauernbild zu verbreiten und die bäuerlich-traditionale Gesinnung als entscheidendes Hemmnis jeglichen Fortschrittes anzuprangern. So heisst es zum Beispiel in der Abhandlung der Stadtberner ökonomischen Gesellschaft aus dem Jahr 1760 von den Bewohnern des Dorfes Biberstein folgendes: „Die Einwohner sind so rauh wie das Erdreich, zur Arbeit gebohren, darin erzogen, darbei sehr ungebildet. Gleich einem Postpferd, das seinen gewohnten Gang fortgehet, fahren sie in ihren hergebrachten Gebräuchen fort. Mit Vorurteilen gehen sie den alten Schlendrian: So hat es Vater und Grossvater gemacht." 26 Dass diese und ähnliche Stellen allerdings sehr viel über die typischen zeitgenössischen Vorurteile der Aufklärer und wenig bis nichts über die tatsächliche Einstellung der ländlichen Bevölkerung aussagen, zeigt ein Blick auf die Diskussionen, die im ausgehenden 16. Jahrhundert im Zusammenhang mit der geschilderten Enclosures-Bewegung in Luzern geführt wurden. Im denkbar grössten Gegensatz zum Bild des Quellenzitates verliefen damals die Argumentationslinien geradezu umgekehrt. Während die untertänigen Bauern ihre Innovation als eine notwendige Anpassung an die „Veränderung der Zeiten" verteidigten, auf die „Vermehrung des Volcks" und auf die sich bietende Chance zur Ertragssteigerung hinwiesen, brandmarkten herr24 25

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Braun, Ancien Régime, hier 103. Nachstehendes Zitat ebd. Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, Bd. 1, Die vorkapitalistische Wirtschaft, München/ Leipzig 1916, 37f. Zit. nach Schmidt, Bauer, 92.

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Andreas Suter schaftliche Vertreter die Umstellungsbestrebungen als übertrieben privates Erwerbsdenken, als „Eigennutz" im Gegensatz zum „Gemein Nutz" und wiesen entsprechende Gesuche mit dem Verweis auf altes Herkommen und Tradition zurück. 27 1531 lehnte der Luzemer Rat Einschläge der Twinggenossen von Reussegg mit der pauschalen Begründung ab, es handle sich dabei um eine „nüwerung". 28 1581 bat das Stift Beromünster, das damals die Einschläge der ihm zehntpflichtigen Bauern von Langnau ablehnte, den Luzemer Rat als seinen Schirmherrn „by dem allten harkommen und bishar enden habender rechtsame" geschützt zu werden. 29 Also waren die Rollen im 16. Jahrhundert genau vertauscht: Die Rolle des stumpfsinnig vor sich hintrottenden Postpferdes übernahm die Obrigkeit bzw. die geistlichen Grundherren, diejenige der bürgerlichen Aufklärer dagegen die Bauern, welche die Enclosure-Bewegung tatsächlich initiierten, trugen und mit dem rationalen Argument der Zweckmässigkeit verteidigten. Mit Blick auf die Agrarrevolution kann man daraus den weitergehenden Schluss ziehen, dass es nicht eine wie auch immer geartete traditionale Einstellung der Bauern und der ländlichen Bevölkerung gewesen war, welche in der Frühen Neuzeit Umstellungsprozesse behinderten. Ebensowenig war es aber in erster Linie das Verdienst der Aufklärer, dass diese Umstellungsprozesse ab Mitte des 18. Jahrhunderts wiederum verstärkt einsetzten. Vielmehr handelten Bauern und ländliche Unterschichten genauso wie die übrigen Akteure der Frühen Neuzeit, etwa die Grundherren, die Herrschaftsvertreter und die Aufklärer, immer schon „begrenzt rational" in dem formalen Sinne, dass sie Kosten, Nutzen und Risiken ihres Handelns gegeneinander aufrechneten und unter Umständen ihre Handlungsweisen anpassten, veränderten oder gar innovierten. In diesem bestimmten Sinn ist die „begrenzte Rationalität" der Akteure nicht eine Erscheinung der Moderne, sondern eine anthropologische Konstante, die auch die Entscheide und das Handeln der frühneuzeitlichen Bauern anleitete. 30 Damit ist zugleich folgendes betont: Es gilt das, was man entscheidungslogisch als rational bzw. als Kosten, Nutzen und Risiken bestimmen kann, historisch zu kontextualisieren: Die je spezifische Rationalität der einzelnen Akteure ist inhaltlich im Rahmen der wahrgenommenen und ausgedeuteten Interessen, Erfahrungen, Wissensbestände, Handlungschancen, Handlungshemmnisse und Handlungsaltemativen genau zu bestimmen. Welches waren nun, wenn es nicht die traditionale Einstellung der Bauern gewesen sein konnte, die tatsächlich hemmenden und fördernden Faktoren der agrarischen Umstellungsprozesse ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts? Weil die bisherige Forschung die Möglichkeit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels in frühneuzeitlichen Agrargesellschaften praktisch negierte und diesen Umstand mit den einflussreichen Vorstellungen von Weber und Sombart auch scheinbar einleuchtend erklären konnte, wurde diese Frage bis heute nicht konsequent gestellt und entspre27 28 29 30

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Zit. nach Ineichen, Bauern, 205, 189. Ebd. 205. Ebd. Vgl. zum Begriff und Konzept der „begrenzten Rationalität" und zur Notwendigkeit ihrer historischen Kontextualisierung Andreas Suter, Der schweizerische Bauernkrieg von 1653. Politische Sozialgeschichte - Sozialgeschichte eines politischen Ereignisses, Tübingen 1997, 42. Im Unterschied zur „Alltagsgeschichte" in Deutschland orientiert sich auch die italienische „Microstoria" am Konzept der begrenzten Rationalität. Siehe dazu Paul-André Rosental, Construire le „macro" par le „micro": Fredrik Barth et la microstoria, in: Jacques Revel (Hg.), Jeux d'Échelles. La microanalyse à l'expérience, Paris 1996, 141-159.

Geschichte der ländlichen Gesellschaft in der Schwei: chend fehlen einem heute die Antworten. Es ist m. E. eines der wichtigsten Desiderate der Agrargeschichte und der Geschichte der Erforschung der ländlichen Gesellschaft, diese Lücke in den kommenden Jahren mit Antworten zu füllen. Im Lichte jener Faktoren, welche im 16. Jahrhundert die erste Welle der Umstellungsprozesse beförderten, gilt es im Rahmen solcher zukünftiger Forschungen dreierlei stärker zu beachten. Erstens sind Umstellungen in der Dreizelgenwirtschaft, das Steuersystem und damit die gesamte Herrschaftsordnung über den Getreidezehnten, dem wichtigsten Abschöpfungsmodus der Frühen Neuzeit in der Schweiz, aufs engste verknüpft. Umstellungsprozesse in der Dreizelgenwirtschaft tangierten deshalb sehr direkt die fiskalischen Ressourcenflüsse, somit die Interessen und das Herrschaftsverhältnis zwischen Land- und Stadtbevölkerung, zwischen Bauern und Grundherren. Die Einführung der Wässerwiesen in Luzern, gegen die vorab die Kirche und die Vorsteher von geistlichen Grundherrschaften als die wichtigsten Inhaber der Getreidezehnten geschlossen opponierten, zeigt dies sehr schön. Ihre Opposition war dadurch motiviert, dass sie erstens einen Rückgang der Getreideproduktion und damit ihrer Zehnteinnahmen befürchteten. Zweitens war der sichere Anstieg des Heuzehnten, der die befürchteten Ausfälle hätte kompensieren und überkompensieren können, für die Zehntinhaber im Unterschied zu den Bauern von nur geringem wirtschaftlichen Nutzen. Im Vergleich zum Getreidezehnten brachte der Heuzehnte den ersteren nämlich ein weniger wertvolles Produkt ein. Ausserdem ist Heu nur sehr begrenzt lagerungs- und marktfähig. Der Wert des Heus als Steuersubstrat verringerte sich dadurch aus der Sicht der Kirche und der geistlichen Grundherren nochmals. Der Heuzehnte wurde denn auch stets durch Geldabgaben ersetzt, was ihn allerdings für die Inflation anfällig machte. Wenn die umstellungswilligen Bauern diese Opposition schliesslich überwinden konnten, dann in erster Linie deshalb, weil die Reformationszeit den politischen Einfluss der Kirche und der geistlichen Grundherren auch im katholischen Luzern stark schwächte. Nachdem jedoch Kirche und geistliche Grundherren ihren politischen Einfluss dank der Gegenreformation wieder zurückgewonnen hatten, das war in diesem Gebiet etwa seit den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts der Fall, brachten sie die Umstellungsvorgänge in Luzern wiederum zum Erliegen. Umgekehrt war die zweite Welle der Umstellungsprozesse im 18. und frühen 19. Jahrhundert entscheidend davon beeinflusst, ob es gelang, die Getreidezehntsteuer durch allgemeine und direkte Vermögens- und Einkommensteuern zu ersetzen. Für eine derart radikale Reform des Steuerwesens, welche die ständische Bevorteilung der Stadtbevölkerung beseitigte, brauchte es aber in der Schweiz nichts weniger als die helvetische und liberale Revolution. 31

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Die Epoche der Helvetik war von einer grundlegen Steuerreform begleitet, der die Zehntsteuer der Bauern durch direkte Vermögens- und Einkommensteuer aller Bevölkerungsschichten ersetzte. Allein dieser einschneidende Systemwechsel erwies sich als technisch und politisch nicht realisierbar. Er scheiterte und führte die helvetische Regierung rasch in den Staatsbankrott. Daraufhin kehrte man zum alten System zurück. Erst während der liberalen Revolution in den 30er Jahren wurden wiederum direkte Steuern eingeführt. Siehe dazu Max Lemmenmeier, Luzems Landwirtschaft im Umbruch. Wirtschaftlicher, sozialer und politischer Wandel in der Agrargesellschaft des 19. Jahrhunderts. Luzem/Stuttgart 1983, hier 159ff.

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Andreas Suter Agrarische Umstellungsprozesse sind zweitens mit den Herrschaftsverhältnissen innerhalb der ländlichen Gesellschaft eng verzahnt. Eine wesentliche Erfolgsbedingung der agrarischen Umstellungen im ausgehenden 16. Jahrhundert bestand darin, dass der Anteil der unterbäuerlichen Schichten vergleichsweise gering und zugleich genügend extensiv genutztes Allmendland vorhanden war. Unter diesen Umständen war es den von den Umstellungsprozessen in erster Linie profitierenden Bauern leichter möglich, die unterbäuerlichen Schichten, welche durch die Einhegungen des Zelgenlandes existentiell wichtige kollektive Nutzungsrechte verloren, durch Zuteilung von kleineren Stellen aus dem Allmendland zu entschädigen. 32 Im 18. Jahrhundert ergab sich eine andere Situation. Zwar waren die Bauern vielerorts immer noch an Zelg-Enclosures interessiert. Gegen die Allmendaufteilungen, wie sie die landhungrigen unterbäuerlichen Schichten vorab zum Anbau von Kartoffeln und der Anlage von Gärten forderten, setzten sich die getreideproduzierenden Bauern jedoch erbittert zur Wehr und sie wurden in ihrer Haltung durch die Nutzniesser der Getreidezehnten, Kirche und Staat, unterstützt. 33 Denn erstens hatten die Bauern in der Zwischenzeit durch die Einführung bestimmter Nutzungsregeln (Winterfütterungsregel) eine beinahe exklusive Nutzung der Allmende durchgesetzt. Zweitens waren die unterbäuerlichen Schichten derart zahlreich und das Allmendland derart knapp geworden, dass einer weiteren Verteilung enge Grenzen gesetzt waren, sofern nicht gleichzeitig existentielle Interessen der eigentlichen Bauern tangiert werden sollten. Die gegensätzlichen Interessen von Vollbauern und unterbäuerlichen Schichten blockierten sich gegenseitig und behinderten den vom Bevölkerungswachstum her gebotenen Wandel der Agrarverfassung und Agrarproduktion sehr stark. Erst unter dem Druck der katastrophalen Hungersnöte der 1750er und 1770er Jahre und der Erschütterung der innerdörflichen und überdörflichen Herrschaft von Bauern und städtischem Patriziat im Zuge der Französischen und der liberalen Revolution öffneten sich neue Handlungsspielräume. Sie wurden gerade von den landärmeren Bau32 31

Siehe zu dieser Argumentation ausführlicher Ineichen, Bauern, 62ff. und 166ff. Siehe dazu Roger Peter, Wie die Kartoffel im Kanton Zürich zum „Heiland der Armen" wurde. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Kartoffel in der Schweiz, Diss. Universität Zürich 1994 (Manuskript), hier 65ff. Die Arbeit von Peter enthält zahlreiche Belege dieser Koalition der bäuerlichen Oberschicht. Kirche und Staat gegen die Innovation des Kartoffelanbaus. Zum Beispiel w urde dem Präsidenten der ökonomischen Kommission von Zürich, die sich für den Kartoffelanbau einsetzte, im Jahr 1780 ein anonymer Brief ins Haus gelegt, der „Obrigkeit und Bauern" die schädlichen Auswirkungen der Kartoffelkulturen für den Getreideanbau mit folgenden Worten vor Augen führte: „Ich kann nicht anders lassen euch ein wenig von den Erdäpfeln zu schreiben, wie die Erdäpfel eine schädliche Pflanzung ist für die Obrigkeit und den Buren, denn diese Frucht nimmt dem Gras und dem Korn den Bau [Mist] hinweg, also dass die Fälder ihre Frucht nicht mehr gäben können wie zu vor und die Wiesen ihr Gras nicht. Dan wan man den Herdöpflenfälder nicht Mist und Güllen gibt, so gibt es wenig." Zit. nach Peter, Kartoffel. 88. Die Gegnerschaft der Kirche und Pfarrherren zeigt sich unter anderem darin, dass sie im eigentlichen Sinn gegen diese Frucht predigten und ihr allerlei giftige Eigenschaften für die Menschen zuschrieben. Pfarrer Heinrich Keller aus der Zürcher Gemeinde Schlieren hatte sogar eine eigene Methode entwickelt, um die extreme Giftigkeit dieser Knolle zu beweisen, wie er im Jahr 1771 an den Zürcher Zunft- und Kornmeister schrieb: man lege sie [ Kartoffel] um sich hervon [von der Giftigkeit] zu überzügen über Nacht in einen Hafen mit Wasser zum Weichen, so wird ein Schaum sich auf das Wasser setzten, der abgenommen und bey gelinder Wärme coautiert [gerinnen lassen] ein gutes Meüss und Ratten Pulver giebt, das dem Arsenic nichts nachlässt." Zit. nach ebd., 92.

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Geschichte der ländlichen Gesellschaft in der Schweiz ern und unterbäuerlichen Schichten dazu genutzt, den Kartoffelanbau und Gartenbau auf Kosten des Getreideanbaus auszuweiten. 34 Drittens spielt der Faktor der Kultur bzw. des verfügbaren Wissens bei der Durchsetzung von agrarischen Innovationen offenbar eine zentrale, bisher noch kaum erforschte Rolle. Dieses Wissen, so ist zu betonen, umfasst weniger die neuen Anbautechniken selber. Denn tatsächlich handelt es sich bei den neuen agrarischen Methoden der Frühen Neuzeit und auch noch des frühen 19. Jahrhunderts weniger um die Anwendung komplexen wissenschaftlichen Wissens als um die Anwendung agrarischer Wissensbestände, die auf dem Weg der praktischen Trial- and error-Methode bzw. der simplen Nachahmung vergleichsweise leicht zugänglich waren. Dies gilt oft und gerade auch in solchen Fällen, wo der erste oberflächliche Eindruck ein anderes Bild ergibt. So fühlte sich der Berner Landvogt Christ im Jahre 1764 beim Anblick der Einhegungen und Wässerwiesen, die Bauern seiner Landvogtei angelegt hatten, ausdrücklich an Vorbilder erinnert, wie er sie in England gesehen hatte. Es sei nunmehr eine „der englischen sehr nahe beykommende landwirthschaft". Den naheliegenden Gedanken, die Innovation beruhe auf einem effektiven, komplizierten Wissenstransfer von England in die Schweiz und einer aktiven Übernahme englischer Vorbilder, weist er allerdings von sich. Vielmehr betätigten sich von den betreffenden Bauern, wie er erklärte, einige als „viehändler, durchwanderten das Aergäu und andere länder, und haben allda (...) abgesehen und zu hause mit nuzen nachgeahmt. 35 Wichtiger ist etwas weiteres. Tatsächlich spielten die bereits früher erwähnten ,,Pufferungsstrategien" eine wichtige Rolle und Hessen die Bauern zögern, gewisse Neuerungen zu übernehmen. Dies gilt insbesondere für solche Neuerungen, die eine Produktespezialisierung oder eine räumliche Konzentration des Anbaus nach sich zogen. Denn die Bauern waren sich durchaus bewusst, dass die Verteilung der Anbauorte auf viele Orte zwar von der Arbeitsökonomie und von der Betriebstechnik her betrachtet Nachteile im Sinne suboptimaler Erträge brachten. Sie waren sich aber auch bewusst, dass die Produkte- und Standortdiversifikation das Risiko von nachhaltigen Ertragseinbrüchen verkleinerte und damit sicherere, wenn auch niedrigere Erträge erwarten Hess.36 In solchen Fällen entsprang eine möglicherweise vorhandene Innovationsfeindlichkeit nicht einer Ablehnung von Neuerungen überhaupt, sondern einem sehr genauen Risiko-, Kosten- und Nutzenkalkül: In einer Agrarwirtschaft, wo die Grenze zwischen Sattheit und Hunger vergleichsweise schmal, grossflächige Ernteeinbrüche wegen der mangelhaften Verkehrsmittel nur sehr schlecht durch Zufuhren aus weit entfernten, unversehrten Gegenden aufzufangen waren und Ernteausfälle mithin ungleich gravierendere Konsequenzen als heutzutage besassen, bedeuteten die mit Innovationen stets verbundenen Risiken eine hohe Hemmschwelle für die Bauern. Entsprechend folgten sie der von James C. Scott in ganz anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen entdeckten Handlungslogik des safety-First und zogen niedri34 15

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Ebd., 10ff„ 31ff. und 49ff. Zit. nach Schmidt, Bauer, 199f. Vgl. zu diesem Punkt ausführlich Pfister, Bevölkerung, Bd. 2, 50ff. und Andreas Suter, „Troublen" im Fürstbistum Basel (1726-1740). Eine Fallstudie zum bäuerlichen Widerstand im 18. Jahrhundert, Göttingen 1985. hier 264ff.

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Andreas Suter gere, aber mit grösserer Sicherheit eintreffende Ernten den womöglich höheren, aber mit grossen Ausfallrisiken behafteten Ernten vor. 37 Offensichtlich hatten jedoch Grundherren und Obrigkeit mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, wie die Luzemer Umstellungsprozesse im ausgehenden 16. Jahrhundert beispielhaft zeigen. Rein sachlich betrachtet ist nämlich der Widerstand der geistlichen Grundherren gegen die Einführung der intensivierten Feldgraswirtschaft insofern nicht nachzuvollziehen, als ihnen die Umstellung neben dem zugegebenermassen nicht eben vorteilhaften Heuzehnten bekanntlich eine Verdoppelung des Getreidezehnten eingebracht hätte. Aber die Grundherren, die sich seit längerer Zeit aus der landwirtschaftlichen Produktion zurückgezogen hatten und denen der direkte und praktische Zugang zum landwirtschaftlichen Wissen in der Regel erschwert war, waren sich über die auch für sie positiven Folgen der Umstellung lange nicht genügend im klaren. Entsprechend folgten sie bei ihren unternehmerischen Entscheiden offenbar ähnlich wie die Bauern ebenfalls der Logik des Safety-First. Den potentiell höheren Einnahmen aus den Getreidezehnten, über deren anhaltendes Eintreffen sie sich unsicher waren, zogen sie die niedrigeren, aber zugleich vermeintlich risikoloseren Steuereinnahmen des ihnen vertrauten Zelgensystems vor. Tatsächlich brauchte es einen jahrzehntelangen Lemprozess, bis sie sich von den Vorteilen der Enclosures wirklich überzeugen Hessen. Und im ausgehenden 18. Jahrhundert, als zum Teil dieselben Innovationen wieder zur Debatte standen, zeigte es sich, dass die geistlichen Grundherren die Lektion aus dem späten 16. Jahrhundert wieder vergessen hatten. Sie kämpften nämlich im späten 18. Jahrhundert mit den praktisch gleichen und unverändert falschen Argumenten gegen die Einführung von Wässerwiesen, wie zweihundert Jahre zuvor.

3. Agrargeschichte als politische Sozialgeschichte Die Erklärung wirtschaftlicher Dynamik, so zeigten die bisherigen Ergebnisse wiederholt, kommt an der Analyse der politisch-sozialen Dynamik, das heisst der Entwicklung der innerdörflichen und überdörflichen politischen Herrschaftsverhältnisse, schlechterdings nicht vorbei. Agrargeschichte ist in diesem Sinn immer auch politische Sozialgeschichte. Umgekehrt ist die politische Sozialgeschichte der Frühen Neuzeit stets auch Agrargeschichte oder besser gesagt: Geschichte der ländlichen Gesellschaft. Denn auf dem Land lebte der grösste Teil der Bevölkerung und der grösste Teil des Steuersubstrates, aus dem sich der Staat und die gesellschaftlichen Eliten finanzierten, wurde vom Agrarsektor erwirtschaftet. Das Postulat, die ländliche Gesellschaft in die politische Sozialgeschichte einzubeziehen, gilt insbesondere für die Alte Eidgenossenschaft, wo Bauern und Untertanen seit dem Spätmittelalter ein wichtiger und aktiver politischer Akteur bei der Ausgestaltung der politischen Verhältnisse waren. 37

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Entwickelt wurde das Konzept des Safety-First von James C. Scott, The moral economy of the peasant. Rebellion and subsistence in Southeast Asia, New Häven 1976. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass sich die Handlungslogik des Safely-First Prinzips dem Konzept der ..bounded rationality" durchaus fügt.

Geschichte der ländlichen Gesellschaft

in der Schweiz

In den letzten drei Jahrzehnten hat die schweizerische Forschung diesem Umstand vorab durch die fallweise Untersuchung der in diesem Raum sehr zahlreichen Untertanenrevolten Rechnung getragen. 38 Neuerdings ist die Forschung - Beispiele dafür sind die Arbeit von Andreas Würgler über „Unruhen und Öffentlichkeit" 3 ^ und diejenige von Andreas Suter über den „schweizerischen Bauernkrieg von 1653" 40 verstärkt bemüht, den Beitrag dieser unter anderem spezifisch eidgenössischen politischen Kultur des „offenen Protests und Widerstands" für die politische Modernisierung zu bestimmen. 41 Damit wird an die sehr allgemeine und zugleich wichtige Frage nach der Rolle der ländlichen Untertanen bzw. Bauern und der Grundherren bei der politischen Transformation der Feudalstaaten zu Nationalstaaten liberal-demokratischer Prägung angeknüpft. Nachdem Barrington Moore diese Frage in den 60er Jahren zum zentralen Thema einer bahnbrechenden Studie gemacht hatte und dessen Thesen eine Zeit lang intensiv diskutiert wurden, setzte die Forschung vorab in Deutschland und auch in der Schweiz in den letzten beiden Jahrzehnten andere Akzente. 42 Für Barrington Moore war die geglückte Integration der ländlichen Bevölkerung und Grundherren in die arbeitsteilige Marktwirtschaft kapitalistischen Zuschnitts einer der wichtigsten Faktoren, der über das Gelingen oder Scheitern der politischen, liberal-demokratischen Modernisierung im 19. Jahrhundert entschied. Dagegen sah vorab die deutsche Bürgertumsforschung nicht mehr in den Bauern und Grundherren, sondern in den Bürgern die entscheidende Schicht, die den Erfolg oder Misserfolg der politischen Modernisierung massgeblich beeinflussten. Entscheidend war mithin, wie stark die Bourgeosie in einem bestimmten Territorium war, wie sehr sich diese Bourgeosie an den aufklärerisch-liberalen Werten und Ordnungsvorstellungen der „citoyenite" orientierte und ob sie fähig war, die Machtstellung der Grundherren zu brechen. 43

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Peter Blickte, Bäuerliche Rebellion im Fürststift St. Gallen, in: Ders. (u.a.), Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, München 1980, 215-295; André Leuzinger, „denen Bösen zum heilsamen Schröcken". Ländliche Unruhen und Entwicklungshemmnisse in der Unterwalliser Vogtei Monthey im ausgehenden 18. Jahrhundert, Zürich 1983; Suter, Troublen; Dieter Schindler, Werdenberg als Glamer Landvogtei. Untertanen, ländliche Oberschicht und „fremde Herren", Buchs 1983; Nikiaus Landolt, Die Steuerunruhen von 1641 im Staate Bem. Eine Studie zum bäuerlichen Widerstand in der Frühen Neuzeit, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 52, 1990, 129-178; Peter Bierbrauer, Freiheit und Gemeinde im Berner Oberland 1300-1700, Bern 1991; Benedikt Vögeli, Der Rothenburger Aufstand von 1570, in: Jahrbuch der Historischen Gesellschaft Luzern 10, 1992, 2-40; Martin Merki-Vollenwyder, Unruhige Untertanen. Die Rebellion der Luzemer Bauern im Zweiten Villmergerkrieg (1712), Luzern/Stuttgart 1995. Andreas Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995. Suter, Bauernkrieg. Siehe ausführlicher zum Begriff und zur Empirie der eidgenössischen politischen Kultur des „offenen Protests und Widerstands" in der Frühen Neuzeit Andreas Suter, Regionale politische Kulturen von Protest und Widerstand im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Die schweizerische Eidgenossenschaft als Beispiel, in: Geschichte und Gesellschaft 21, 1995, 161-194. Barrington Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie. Die Rolle der Grundbesitzer und Bauern bei der Entstehung der modernen Welt, 2. Auflage Frankfurt a. Main 1987. Anstelle von erschöpfenden bibliographischen Hinweisen über die Bürgertumsforschung einzelner Länder und insbesondere über jene Deutschlands, die Seiten füllen müssten, sei hier verwiesen auf Richard J. Evans, Bürgerliche Gesellschaft und charismatische Herrschaft. Gab es einen deutschen

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Andreas Suter Bekanntlich hat Hans-Ulrich Wehler als einer der führenden Vertreter dieser Forschungsrichtung die Rolle und das Gewicht der nationalen Bourgeoisien als Erklärungsfaktor in der Zwischenzeit relativiert und deshalb stellt sich heute die Frage der politischen Modernisierung liberal-demokratischer Prägung auf neue Weise. 44 In dieser Situation verdienen m. E. ältere und zwischenzeitlich in den Hintergrund gerückte Vorstellungen wie diejenige von Barrington Moore wiederum erhöhte Aufmerksamkeit. Für die Schweiz jedenfalls lässt sich durchaus zeigen, dass der spezifischen Ausgestaltung der ländlichen Gesellschaft und der politischen Rolle, welche die Bauern und ländlichen Untertanen in der Frühen Neuzeit spielen konnten, für die Transformation des Ancien Régimes zum liberal-demokratischen Staatswesen des 19. Jahrhunderts ein beträchtliches Innovationspotential innewohnte. Gemeint ist mit diesem Innovationspotential vorab der ausgesprochen starke Widerstand der ländlichen Untertanen gegen den sich im 17. Jahrhundert ausbildenden Absolutismus der eidgenössischen Städteorte und damit auch gegen die Formierung eines ständisch stärker abgeschlossenen und in seiner Machtstellung besser konsolidierten städtischen Patriziates. Dieser Widerstand war ein wichtiger Grund, dass im Anschluss an den Bauernkrieg von 1653 ein eigentlicher Kurswechsel erfolgte. Während sich gleichzeitig in Frankreich nach der Fronde und im Reich nach dem Dreissigjährigen Krieg der Absolutismus endgültig durchsetzte und die Machtstellung der adligen Eliten von Grund- und Gutsherren bis hinauf zu Territorialfürsten und König gestärkt wurden, verhinderte der Bauernkrieg in der Schweiz eine solche Entwicklung. Statt dem Absolutismus hielt in den eidgenössischen Orten ein weniger drückendes, „paternalistisches" Regiment Einzug, welches in verschiedener Hinsicht Parallelen mit England aufweist 4 5 Damit wurden in zweifacher Hinsicht günstige Voraussetzungen für den Erfolg der liberalen Revolutionen von 1830 und 1848 geschaffen 4 6 Zum einen schöpften die absolutistischen Staaten einen ungleich grösseren Anteil der gesellschaftlichen Ressourcen ab, die sie anschliessend für die Zwecke der militärischen Machtentfaltung und des Kriegs gegen aussen, der Sozialdisziplinierung gegen innen sowie der kulturell-ideologischen Selbstdarstellung höchst unproduktiven Verwendungen zuführten. Paternalistische Staaten dagegen liessen mit ihrer geringeren Ressourcenabschöpfung weit grössere Freiräume für eine breitgestreute private Kapitalbildung, was zusammen mit der ebenfalls geringeren Reglementierungsdichte günstige Rahmenbedingungen für eine fortgesetzte „Protoagrarkapitali-

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Sonderweg in die Moderne? In: Die Zeit, Nr. 42, 13. Oktober 1995, 32-33. In diesem Artikel, zugleich eine Rezension von Hans-Ulrich Wehlers Werk: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, Von der „Deutschen Doppelrevolution" bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914. München 1995, gibt Evans eine knappe und verkürzende, aber sehr konzise Darstellung der unterschiedlichen Positionen, die in der deutschen und internationalen Forschung der letzten Jahrzehnte vertreten wurden. Für die Bürgertumsforschung in der Schweiz siehe Albert Tanner, Arbeitsame Patrioten - Wohlanständige Damen. Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Schweiz 1830 - 1914, Zürich 1995, einschliesslich die umfassende Bibliographie, 814-831. Siehe Evans, Gesellschaft. Zur Charakterisierung des politischen Regiments Englands nach der englischen Revolution als „patemalistisch" vgl. Edward P. Thompson, Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt 1980. Siehe zum folgenden ausführlicher Suter, Bauernkrieg, 577ff.

Geschichte der ländlichen Gesellschaft in der Schweiz sierang", Protoindustrialisierung und Industrialisierung schuf. 47 Die Tatsache, dass die Bauern in der Alten Eidgenossenschaft nicht nur schon sehr früh wichtige Schritte der sogenannten Agrarrevolution des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts vorweggenommen hatten, sondern auch, dass die Schweiz nach England zu dem am frühesten industrialisierten Land Europas werden konnte, unterstreicht dies. Zum anderen konnte es im patemalistischen Regiment mit seinem schwächer dotierten Militär- und Beamtenapparat nicht zur Ausbildung einer starken, in Armee, Verwaltung und Justiz verankerten staatlichen Funktionselite mit adelig-ständischen Privilegien kommen. Das Patriziat der eidgenössischen Städteorte war zahlenmässig schwach und weder in politischer, rechtlicher, wirtschaftlicher noch militärischer Hinsicht in einer Weise abgesichert, wie das in Staaten absolutistischen Zuschnitts der Fall war. Diese drei wichtigen Merkmale des patemalistischen Regiments wiederum - die frühe Protoagrarkapitalisierung, Protoindustrialisierung bzw. Industrialisierung und das Fehlen einer starken adelig-ständischen Funktionselite - waren wichtige Erfolgsmomente der liberalen Revolutionen von 1830 und 1848. Allgemein gesprochen besassen die ständisch benachteiligten und entsprechend veränderungswilligen Schichten in den Städten, aber mehr noch auf der Landschaft in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht über sehr gute Entwicklungsmöglichkeiten. Umgekehrt hatten die ständisch bevorteilten Gruppen, allen voran das Patriziat der eidgenössischen Städteorte, nur eine vergleichsweise schwache innere Herrschaftsstellung inne. Als dieses Patriziat dann im Gefolge der Französischen Revolution mit dem Untergang der französischen Monarchie auch noch seine wichtigste äussere Stütze verlor, konnte es dem Veränderungswillen der ländlichen Untertanen und dem militärischen Angriff der französischen Revolutionstruppen am Ende des 18. Jahrhunderts keine ernsthafte Gegenwehr entgegensetzen. Und schon gar nicht war das eidgenössische Patriziat zu einer Revolution von oben nach deutschem Vorbild fähig. Wie Abraham Stanyan, der englische Gesandte, die Berner Patrizier schon in den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts gewarnt hatte, kippte dieser verletzliche paternalistische Staat angesichts der Erschütterung durch die Französische Revolution denn auch rasch und ohne Geräusche um. 4 8 Der Luzerner Rat, welcher am 31. Januar 1798 noch ohne eigentlichen Druck von unten oder von aussen freiwillig abdankte und lapidar erklärte, „die aristocratische Regierungsform ist abgeschafft", war für die schicksalsergebene Haltung des Patriziats in der gesamten Eidgenossenschaft beispielhaft. 49 So betrachtet war die Umwälzung, welche die Helvetik einleitete, nicht das Ergebnis einer Revolution im Vollsinn des Wortes, sondern einer Implo47

Der Begriff „Protoagrarkapitalismus" wurde geprägt von Braun, Ancien Régime, 6 1 . E r charakterisiert damit die in „ihrer Umstellungsfähigkeit und kommerzialisierten, marktorientierten Reaktionsbereitschaft dem ackerbäuerlichen Subsektor weit überlegene" Landwirtschaft in den voralpinen Hügelzonen der Schweiz. Wenn dieser Begriff hier übernommen wird, dann mit der wichtigen Erweiterung, dass diese Charakterisierung, wie gezeigt, auch auf Gebiete des Mittellandes zutreffen kann.

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Vgl. Abraham Stanyan, An Account of Switzerland, London 1714. Zit. nach Philipp Anton von Segesser, Rechtsgeschichte der Stadt und Republik Luzem, 4 Bde., Luzern 1 8 5 1 - 1 8 5 8 , hier Bd. 3, 3 7 4 . Vgl. dagegen die Einschätzung von Braun, Ancien Régime, 309ff. E r sieht das Patriziat in der ländlichen Bevölkerung besser verankert und schätzt dessen Widerstandskraft höher ein.

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Andreas Suter sion. Die einzigen, welche die alte Verfassung noch mit Entschlossenheit verteidigten, waren die Landleute der Landsgemeindeorte. Weil sie das Privileg der Landsgemeindeverfassung, welches ihnen ganz entscheidende ökonomische Vorteile brachte, nicht mit ihren Untertanen teilen wollten, setzten sie sich gegen die revolutionären Veränderungen verbissen zur Wehr. Aber angesichts der fehlenden Unterstützung der abhängigen Bevölkerung der Städteorte und der Gemeinen Herrschaften, die durch die Revolution zu gleichberechtigten Bürgern geworden waren, blieb diese „Vendée" im kleinen ebenso erfolglos wie die Restauration, die der Helvetik folgte. Sie konnte wichtige gesellschaftliche Veränderungen der Helvetik, allen voran die Umwandlung der Gemeinen Herrschaften in eigenständige und fortan stets liberal orientierte Kantone, nicht mehr rückgängig machen. Dieselben Faktoren aber, welche die Schweiz stark den Einflüssen der Französischen Revolution öffneten, begünstigten die liberalen Erfolge in den 30er Jahren und wiederum 1847/48. Wenn danach die „citoyens" und Bürger in der Schweiz schon sehr früh unter sich sein konnten, wie Albert Tanner betonte, dann war dies also auch eine Folge von strukturellen Erfolgsfaktoren, wie sie in der Frühen Neuzeit durch den bäuerlichen Widerstand geschaffen worden waren. 50

4. Zusammenfassung und methodische Konsequenzen Aufgrund der neueren Forschungsergebnisse aus der Schweiz sollte sich die neue Perspektive der Agrargeschichte vermehrt dadurch auszeichnen, dass sie der Dynamik der ländlichen Gesellschaft in der Frühen Neuzeit stärker Rechnung trägt und systematisch untersucht. Mit diesem Perspektivenwechsel ist insgesamt die Einschätzung verbunden, dass man die Tragweite und das genuin Neue der sogenannten Agrarrevolution und auch der politischen Veränderungen im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert zwar nicht negiert, aber insgesamt doch relativiert. Obwohl m. E. an der Konzeptualisierung dieser Vorgänge als einen grundlegenden Epochenschnitt, als eine eigentliche „Sattelzeit" zwischen Moderne und Vormoderne festgehalten werden sollte, bleibt die Feststellung, dass die beschleunigte Dynamik, die mit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert einsetzt, nur eine Eigenschaft der mittelalterlichen und mehr noch der frühneuzeitlichen Gesellschaft fortsetzt und verstärkt. Der skizzierte inhaltliche Perspektivenwechsel besitzt zugleich wichtige methodische Konsequenzen, auf die abschliessend nochmals hingewiesen sei. Die „begrenzte Rationalität" menschlichen Handelns ist als eine anthropologische Konstante und nicht nur als ein auf die Moderne eingeschränktes historisches Phänomen zu betrachten. Dabei ist die spezifische Rationalität bzw. sind die Kriterien, Werte, Erfahrungshorizonte und Wissensbestände, nach denen Akteure Kosten und Nutzen bestimmen und Erwartungen bezüglich der Risiken und des Erfolgs ihres Handelns bilden, je nach Zeit- und Handlungskontext empirisch nachzuweisen und zu rekon50

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Vgl. Albert Tanner, Aristokratie und Bürgertum in der Schweiz im 19. Jahrhundert. Verbürgerlichung der „Herren" und aristokratische Tendenzen im Bürgertum, in: Sebastian Brändli, u.a. (Hg.), Schweiz im Wandel. Studien zur neueren Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Rudolf Braun zum 60. Geburtstag, Basel/Frankfurt am Main 1990, 209-228, hier 209.

Geschichte der ländlichen Gesellschaft in der Schweiz struieren. Dies bedeutet zugleich, dass man die Untersuchung von Strukturen und strukturellen Prozessen aus der Perspektive der sozialgeschichtlichen Makroanalyse stets um die Mikroanalyse individuellen und kollektiven Handelns ergänzt und erweitert. Denn nur so lässt sich die spezifische Rationalität der beteiligten Akteure, welche Richtung und Tempo agrarischen und politischen Strukturwandels massgeblich mitbestimmten, hinreichend genau erschliessen. 51 Natürlich stellt die hier geforderte Verbindung von Mikro- und Makroanalyse ein schwieriges Problem dar, wie Natalie Zemon Davis bereits Ende der achtziger Jahre festgestellt hat. 52 Immerhin gibt es jetzt auch in der Schweiz Studien, die sich diesem Problem gestellt haben und Lösungsansätze zu entwickeln versuchten. 53

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Vgl. dazu die neuen und wichtigen Überlegungen verschiedener Autoren bei Jacques Revel, Echelles. Natalie Zemon Davis, The Shapes of Social History, in: Storia della Storiographia moderna 1990, 38-49. Für die methodische Umsetzung des Postulats einer Verbindung von Makro- und Mikroanalyse siehe Pfister, Fabriques und Suter, Bauernkrieg.

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Werner Rösener

Probleme der Erforschung der ländlichen Gesellschaft des Mittelalters Die mittelalterliche Gesellschaft war bis zur Urbanisierungswelle des Hochmittelalters weitgehend agrarisch geprägt. Man kann davon ausgehen, daß im 10. Jahrhundert noch mehr als 95 Prozent aller Einwohner zu den ländlichen Bevölkerungsgnippen zählten. Die Zahl der Städte und stadtähnlicher Siedlungen war damals äußerst gering und damit auch der Umfang des städtischen Handwerks und Handels.1 Erst seit dem 12. Jahrhundert wuchs mit dem expandierenden Städtewesen und der zunehmenden Arbeitsteilung der Umfang der städtischen Bevölkerung, erreichte aber bis zum ausgehenden Mittelalter in der Regel nur einen Anteil von 10 bis 20 Prozent.2 Im Gegensatz zu dieser offenkundigen Bedeutung der Agrarwirtschaft und der ländlichen Gesellschaft während des Mittelalters steht die derzeitige Forschungslage. Prägte die ältere deutsche Agrargeschichte noch durch die bedeutenden Arbeiten von K. Lamprecht, A. Dopsch und R. Kötzschke die wissenschaftlichen Diskussionen maßgeblich mit,3 so wurde der Anteil der agrarhistorischen Forschungen in der jüngeren Mediävistik immer geringer.4 Woran liegt das? Welche Gründe führten zu dieser Reduktion? An Themen mangelt es nach wie vor nicht, denn ein Blick auf die Probleme der ländlichen Gesellschaft des Mittelalters läßt erkennen, daß noch viele Fragen ungelöst sind und der intensiven Erforschung bedürfen. Die Agrargeschichte des Mittelalters ist in besonderem Maße auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Wissenschaftszweige angewiesen, da nur so die vielfältigen Probleme dieser frühen Epoche der ländlichen Gesellschaft gelöst 1

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Zur sozialen und ökonomischen Entwicklung im Frühmittelalter: Hermann Kellenbenz, Deutsche Wirtschaftsgeschichte 1, München 1977, 49ff.; Friedrich-Wilhelm Henning, Das vorindustrielle Deutschland, 800 bis 1800. Paderborn 1974, 29ff; Wilhelm Abel, Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, 2. Auflage, Stuttgart 1967, 12fT.; Werner Rösener. Agrarwirtschaft, Agrarverfassung und ländliche Gesellschaft im Mittelalter, München 1992, 3ff.; Friedrich-Wilhelm Henning, Deutsche Agrargeschichte des Mittelalters, 9. bis 15. Jahrhundert, Stuttgart 1994, 18flf. Zur Urbanisierung im Hochmittelalter: Friedrich Lütge, Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 3. Auflage Berlin/Heidelberg/New York 1966, 97ff.; Henning, Das vorindustrielle Deutschland, 69ff.; Edith Ennen, Die europäische Stadt des Mittelalters, 2. Auflage Göttingen 1972, 73ff.; Evamaria Engel, Die deutsche Stadt des Mittelalters, München 1993, 17ff. Karl Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter. Untersuchungen über die Entwicklung der materiellen Kultur des platten Landes auf Grund der Quellen zunächst des Mosellandes 1 -3, Leipzig 1885/86; Alfons Dopsch, Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit vornehmlich in Deutschland 1-2, 3. Auflage Köln/Graz 1962; Ders., Herrschaft und Bauer in der deutschen Kaiserzeit, Jena 1939; Rudolf Kötzschke, Studien zur Verwaltungsgeschichte der Großgrundherrschaft Werden an der Ruhr, Leipzig 1901; Ders., Ländliche Siedlung und Agrarwesen in Sachsen, Remagen 1953. Zu neueren agrarhistorischen Forschungen im Mittelalter: Wemer Rösener, Zur Erforschung der frühmittelalterlichen Grundherrschaft, in: Ders., Strukturen der Grundherrschaft im frühen Mittelalter, 2. Auflage Göttingen 1993, 9ff.; Ders., Agrarwirtschaft, 49ff.; Ludolf Kuchenbuch, Grundherrschaft im früheren Mittelalter, Idstein 1991, 15ff; Ders., Potestas und Utilitas. Ein Versuch Uber Stand und Perspektiven der Forschung zur Grundherrschaft im 9.-13. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 265, 1997, 117-146; Wemer Rösener, Einführung in die Agrargeschichte, Dannstadt 1997, 13ff.

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WernerRösener werden können. Der Agrarhistoriker muß dabei vor allem die Ergebnisse der Archäologie, der Geographie, der Volkskunde und der allgemeinen Geschichte berücksichtigen. Welchen Beitrag leisten nun diese Einzeldisziplinen zur Erforschung der mittelalterlichen Agrargesellschaft? Wenden wir uns zunächst der Archäologie zu und fragen nach deren Funktion für die Agrargeschichte. Die Archäologie hat allgemein die Aufgabe, die materiellen Überreste vergangener Epochen zu sammeln und zu sichten, um auf diese Weise besonders die historische Entwicklung schriftloser oder überlieferungsarmer Kulturen zu verfolgen. 5 Sie bedient sich dabei bestimmter Methoden, unter denen das systematische Ausgraben von Überresten vergangener Epochen an vorderster Stelle steht. Alle Aussagemöglichkeiten der Archäologie sind ausschließlich an Sachzeugnisse, die materiellen Hinterlassenschaften früherer Kulturen, gebunden. Sie sind demnach nur für jene Ausschnitte der Lebenswirklichkeit gegeben, die sich in Sachzeugnissen niedergeschlagen haben, und sie bestehen nur dort, wo sich diese bis heute erhalten haben. In diesem vorgegebenen Rahmen bewegen sich auch alle Erkenntnisse, die die Archäologie des Mittelalters zur Agrargeschichte beisteuern kann. 6 Je nach dem Grad und dem Umfang der Schriftlichkeit in den einzelnen Epochen des Mittelalters spielt die Archäologie eine unterschiedliche Rolle. Innerhalb der Schriftarmen Perioden des Frühmittelalters stellt sie zweifellos einen bedeutenden Teil der Sachquellen zur Verfügung; 7 in Zeiten zunehmender Schriftlichkeit vermag sie die Aussagekraft schriftlicher Quellen wesentlich zu ergänzen. Außerdem können die aus schriftlichen Quellen gewonnenen Erkenntnisse und archäologische Ergebnisse wechselseitig überprüft und gemeinsam zur Beantwortung historischer Fragestellungen herangezogen werden. 8 Im Unterschied zur Geschichtswissenschaft, die sich im wesentlichen auf einen festen und kaum zu erweiternden Bestand an Schriftquellen stützt, ist es der Archäologie möglich, ihren Quellenbestand praktisch laufend durch neue Funde zu vermehren. In ihren methodischen Grundlagen konnte sich die Wissenschaft der Archäologie des Mittelalters weitgehend an die innerhalb der Ur- und Frühgeschichte entwickel-

Allgemein zur Archäologie des Mittelalters: Herbert Jankuhn, Einführung in die Siedlungsarchäologie, Berlin/New York 1977; Günter P. Fehring, Einführung in die Archäologie des Mittelalters, Darmstadt 1987; Walter Schlesinger, Archäologie des Mittelalters in der Sicht des Historikers, in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 2, 1974, 7-31; Hermann Hinz, Mittelalterarchäologie, in: Ebd. 10, 1982, 11-22; Werner Rösener, Archäologie und Geschichtswissenschaft: Erwartungen der Mediävistik von der Archäologie des Mittelalters, in: Jürg Tauber (Hg.). Methoden und Perspektiven der Archäologie des Mittelalters. Liestal 1991, 101-111. Zur Kooperation von Archäologie und Agrargeschichte: Edith Ennen/Walter Janssen, Deutsche Agrargeschichte. Vom Neolithikum bis zur Schwelle des Industriezeitalters, Wiesbaden 1979. 1 ff., 1 Off.; Rösener, Einführung in die Agrargeschichte, 17ff. In bezug auf die Epoche des Frühmittelalters: Herbert Jankuhn, Vor- und Frühgeschichte vom Neolithikum bis zur Völkerwanderung, Stuttgart 1969; Ders., Umrisse einer Archäologie des Mittelalters, in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 1, 1973, 9-19. Vgl. Reinhard Wenskus, Randbemerkungen zum Verhältnis von Historie und Archäologie, insbesondere mittelalterlicher Geschichte und Mittelalterarchäologie, in: Herbert Jankuhn/Reinhard Wenskus (Hg.), Geschichtswissenschaft und Archäologie. Untersuchungen zur Siedlungs-, Wirtschafts- und Kirchengeschichte, Sigmaringen 1979, 637-657; Eckhard Müller-Mertens, Die Genesis der Feudalgesellschaft im Lichte schriftlicher Quellen. Fragen des Historikers an den Archäologen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 12, 1964, 1384-1402.

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Probleme der Erforschung der ländlichen Gesellschaft des Mittelalters ten Methoden der modernen Siedlungsarchäologie anschließen. 9 Im Rahmen agrarhistorischer Untersuchungen liegen die Aussagemöglichkeiten der Archäologie vor allem in den Bereichen der Alltagswelt, soweit sie sich in Sachzeugnissen niedergeschlagen haben. 10 Im Mittelpunkt des Interesses steht dabei zunächst die einzelne bäuerliche Siedlung, die Anordnung ihrer Gehöfte, die Zahl der Bewohner sowie ihre wirtschaftliche Betätigung. Aus der Größe und Konstruktion von Häusern und Gehöften, aus dem vorgefundenen Güterbestand, aus Tierknochen und pflanzlichen Überresten erlangt man vielfältige Hinweise auf die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Kleinfunde beleuchten die berufliche Differenzierung und Spezialisierung innerhalb einer ländlichen Ansiedlung, manchmal auch Besitzabstufungen und soziale Unterschiede in der Bewohnerschaft. 11 Vergleiche mit anderen zeitgenössischen Siedlungsplätzen gestatten es, die wirtschaftliche Stellung einer Siedlung im Rahmen der Gesamtgesellschaft zu bestimmen. Nicht nur Haus und Hof, auch das bäuerliche Wirtschaftsgebiet und die Gemarkung gehören zum Gegenstand archäologischer Forschungen. 12 Pflugspuren weisen beispielsweise auf die Technik der Bodenbearbeitung und die dabei verwendeten Werkzeuge hin. Von der archäologischen Einzeluntersuchung führt der Weg des Archäologen zu dem Versuch, überregional gültige Resultate zu gewinnen. Vor allem auf die Archäologische Landesaufnahme ist hinzuweisen, also die vollständige Sammlung aller Bodenfunde eines bestimmten Gebiets. 13 Seitdem im Rahmen der Archäologischen Landesaufnahme auch mittelalterliche und frühneuzeitliche Funde aufgenommen werden, ist es überhaupt erst möglich, ein realistisches Bild von der ländlichen Besiedlung und ihren Wandlungen im Mittelalter zu zeichnen. Die fortschreitenden Grabungs- und Konservierungsmethoden sowie die Einbeziehung naturwissenschaftlicher Disziplinen in archäologische Projekte führen ferner dazu, daß heute selbst kleinste Fundobjekte aus organischen Materialien wie Pollen ausgewertet werden können. Bodenkunde, Geologie und Paläo-Zoologie gehören daher ebenso zur modernen Archäologie wie die Dendrochronologie oder die Lebensmitteldatierung. 14 Aus agrargeschichtlicher Perspektive ist es wichtig zu wissen, daß organische Überreste des Mittelalters zwar vielerorts in keinem guten Zustand überdauert haben, daß zugleich aber auch Fundplätze vorhanden sind, an denen hervorragende g 10

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Jankuhn, Siedlungsarchäologie, 1987; Fehring, Archäologie des Mittelalters, 28ff. Vgl. Werner Meyer, Der Beitrag der Archäologie zur mittelalterlichen Realienkunde, in: Die Erforschung von Alltag und Sachkultur des Mittelalters, Wien 1984, 53-59; Walter Sage, Aspekte der Mittelalter-Archäologie, in: Bemd Herrmann (Hg.), Mensch und Umwelt im Mittelalter, Stuttgart 1986, 10-23. Vgl. die Aufsätze in dem Sammelband: Herbert Jankuhn/Rudolf Schützeichel/Fred Schwind (Hg.). Das Dorf der Eisenzeit und des frühen Mittelalters. Siedlungsform - wirtschaftliche Funktion - soziale Struktur, Göttingen 1977. Vgl. Heinrich Beck/Dietrich Denecke/Herbert Jankuhn (Hg.), Untersuchungen zur eisenzeitlichen und frühmittelalterlichen Flur in Mitteleuropa und ihrer Nutzung 1-2, Göttingen 1979/80. Herbert Jankuhn, Archäologische Landesaufnahme, in: Hoops 2. Aufl. Reallexikon der Germ. Altertumskunde 1, 1973, 391-394; H. Schimig, Einige Bemerkungen zur archäologischen Landesaufnahme, in: Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 35, 1966, 3ff.; A. Tode, Organisation und praktische Durchführung einer allgemeinen archäologischen Landesaufnahme, in: Vorgeschichtl. Jahrbuch 3, 1926, 10-21. Vgl. Jankuhn, Siedlungsarchäologie, 28ff.; B. Hrouda (Hg.), Methoden der Archäologie. Eine Einführung in ihre naturwissenschaftlichen Techniken, 1978.

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Werner Rösener Erhaltungsbedingungen bestehen. Stets wurde in solchen Fällen die ungewöhnliche Vielfalt der kulturgeschichtlichen Erscheinungen sichtbar. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß siedlungsarchäologische Ergebnisse für die Agrargeschichte einen unterschiedlichen Wert besitzen. Gesicherte Aussagen ermöglichen in der Regel nur solche Objekte, die vollständig oder doch in ihren wesentlichen Teilen ausgegraben wurden. Mit kleinen Ausschnitten von mittelalterlichen Siedlungen ist wenig anzufangen. Welchen Beitrag leistet die Geographie für die Agrargeschichte? In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Siedlungsforschung, also die Erforschung der Siedlungsvorgänge und der Orts- und Flurformen, zu einem umfangreichen Wissenschaftsbereich entwickelt. Federführend war hier der 'Arbeitskreis für genetische Siedlungsforschung in Mitteleuropa', der sich 1974 in Bonn konstituiert und eine eigene Zeitschrift mit dem Titel 'Siedlungsforschung'herausgebracht hat. 15 Martin Born beschrieb in seiner Schrift 'Die Entwicklung der deutschen Agrarlandschaft' Zielsetzung und Methoden der Agrargeographie und charakterisierte die Hauptforschungsrichtungen. 16 Die Agrargeographie kann nach Born als „Wissenschaft von der durch die Landwirtschaft gestalteten Erdoberfläche" bezeichnet werden. 17 Obwohl ihr Hauptinteresse lange Zeit auf die heutige Agrarlandschaft gerichtet war, wurden auch historische Perspektiven verfolgt: Es galt, ältere Schichten der Agrarlandschaft zu rekonstruieren. Die heutige Agrargeographie versteht Landwirtschaft aber nicht mehr allein als Wirtschaftsform, die landschaftsprägend wirkt, sondern auch als Lebensform der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung. 18 Hieraus ergeben sich freilich enge Beziehungen und Überschneidungen mit anderen Disziplinen der Geographie und mit den Wirtschaftswissenschaften. Die Geographie ländlicher Siedlungen befaßt sich mit dem Siedlungsgang, d.h. der räumlichen Entwicklung ländlicher Siedlungsgebiete, sowie den Formen und Funktionen von Wohnplätzen und Fluren. 19 Untersuchungen über Siedlungsformen standen lange Zeit in der Auseinandersetzung mit der ersten systematischen Darstellung durch August Meitzen (1895), und nur allmählich trat an die Stelle überwiegend formaler Betrachtung eine stärker kausal-funktionale Fragestellung. 20 Sie sah in Wohnplatz- und Flurparzellierung nicht mehr allein prägende Elemente der Kulturlandschaft, sondern auch das Resultat wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungs15 16 17 18

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'Siedlungsforschung. Archäologie - Geschichte - Geographie', 1 ff., 1983ff. Martin Born, Die Entwicklung der deutschen Agrarlandschaft, Darmstadt 1974. Ebd., 2. Allgemein zur Agrargeographie: Karl Ruppert (Hg.). Agrargeographie, Darmstadt 1973: Alan Mayhew, Rural Settlement and Farming in Germany, London 1973; Erich Otremba (Hg.), Atlas der deutschen Agrarlandschaft, 1962fT.; H. O. Spielmann, Agrargeographie in Stichworten, Unterägeri 1989; Wolf-Dieter Sick, Agrargeographie, Braunschweig 1993; C. Borcherdt, Agrargeographie, Stuttgart 1996. Martin Born, Geographie der ländlichen Siedlungen 1: Die Genese der Siedlungsformen in Mitteleuropa, Stuttgart 1977; Hans-Jürgen Nitz (Hg.), Historisch-genetische Siedlungsforschung. Genese und Typen ländlicher Siedlungen und Flurformen, Darmstadt 1974; Helmut Jäger. Entwicklungsprobleme europäischer Kulturlandschaften, Darmstadt 1987. Ältere Werke der Siedlungsforschung: August Meitzen, Siedlung und Agrarwesen der Westgermanen und Ostgermanen, der Kelten, Römer, Finnen und Slawen 1-3, Berlin 1895; Robert Gradmann, Das mitteleuropäische Landschaftsbild nach seiner geschichtlichen Entwicklung, in: Geographische Zeitschrift 7, 1901, 435-447; Otto Schlüter, Die Siedlungsräume Mitteleuropas in frühgeschichtlicher Zeit 1-3, 1952-58.

Probleme der Erforschung der ländlichen Gesellschaft des

Mittelalters

prozesse. Die zeitliche Längsschnittbetrachtung, die die Siedlungsentwicklung von den ersten Anfängen bis zur Gegenwart verfolgte, wurde durch eine Querschnittsbetrachtung abgelöst, die bestimmte Perioden von besonderer Prägekraft für Siedlungsraum und Siedlungsformen bevorzugt behandelte. 21 An die Stelle der statischformalen Katasterauswertung trat allmählich die rückschreibende Auswertung: Von der Unterscheidung von alt- und jungbesiedeltem Land schritt man zum Nachweis der Mehrphasigkeit des mittelalterlichen Siedlungsprozesses. Während die Siedlungsformen früher häufig eindeutig bestimmten Epochen zugeordnet wurden, sieht man neuerdings in ihnen vor allem Anhaltspunkte, um den Siedlungsgang als solchen zu erkennen; sie geben Auskunft darüber, ob es sich um unkontrolliert angelegte Siedlungen handelte oder ob sie mehr oder weniger geplant waren. An dieser Stelle scheint es angebracht, einige spezielle Hinweise zum Beitrag der Volkskunde zur Agrargeschichte einzufügen 22 . Für den bäuerlichen Lebensbereich stellt die Volkskunde zweifellos eine Fülle von Material bereit. Volkskundler sind in besonderem Maße auch an der Erforschung der Bauernhausformen beteiligt - ein Wissenschaftsbereich, der aus agrargeschichtlicher Perspektive von Interesse ist. Angesichts der Fülle regionaler Besonderheiten im mittelalterlichen Europa und den äußerst verschiedenartigen Natur- und Wirtschaftsbedingungen in den einzelnen Landschaften ist es schwierig, allgemeingültige Aussagen zur Entwicklung bäuerlicher Hausbauformen zu machen. 3 Die volkskundliche Forschung hat sich bereits seit längerem mit der Verbreitung ländlicher Hausformen und den Ursprungslandschaften bestimmter Gehöftformen beschäftigt. Wann und unter welchen Bedingun21

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Born, Agrarlandschaft, 4. Aufschlußreiche neuere Forschungen der historischen Geographie: Winfried Schenk, Planerische Auswertung und Bewertung von Kulturlandschaften im südlichen Deutschland durch historische Geographen im Rahmen der Denkmalpflege, in: Berichte zur deutschen Landeskunde 68, 1994, 463-475; Ders., Beiträge der Geographie zur Erforschung vorindustriezeitlicher Waldentwicklungen und Waldzustände in Deutschland - ein Literatur- und Forschungsbericht, in: E. Gundermann/R. Beck (Hg.), Forum Forstgeschichte, München 1996, 129154. Allgemein zur Volkskunde: Günter Wiegelmann/Matthias Zender/Gerhard Heilfurth, Volkskunde. Eine Einführung, Berlin 1977; Hermann Bausinger/Utz Jeggle/Gottfried Korff/Martin Scharfe, Grundzüge der Volkskunde, Darmstadt 1978; Dietrich W. H. Schwarz, Sachgüter und Lebensformen. Einführung in die materielle Kulturgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Berlin 1970; Günter Wiegelmann, Der .Atlas der deutschen Volkskunde", in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 12, 1964, 164-180; Hermann Bausinger, Traditionale Welten. Kontinuität und Wandel in der Volkskultur, in: Historische Zeitschrift 241, 1985, 265-286. - Speziell zur volkskundlichen Erforschung bäuerlicher Arbeitsgeräte: Karl Hielscher, Fragen zu den Arbeitsgeräten der Bauern im Mittelalter, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 17, 1969, 6-43; Ulrich Bentzien, Bauemarbeit im Feudalismus. Landwirtschaftliche Arbeitsgeräte und -verfahren in Deutschland von der Mitte des ersten Jahrtausends u. Z. bis um 1800, Berlin 1980; Helmut Sperber, Die Entwicklung der Pflugformen in Altbayem vom 16. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, München 1982. Zur Bauemhausforschung: Konrad Beda], Historische Hausforschung. Eine Einführung in Arbeitsweise, Begriff und Literatur, Münster 1978; Josef Schepers, Vier Jahrzehnte Hausforschung, Sennestadt 1973; Ders., Haus und Hof westfälischer Bauern, 5. Auflage Münster 1980; Karl Baumgarten, Das deutsche Bauernhaus. Eine Einführung in seine Geschichte vom 9. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 1980. - Zur archäologischen Hausforschung: Günter P. Fehring, Zur archäologischen Erforschung mittelalterlicher Dorfsiedlungen in Südwestdeutschland, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 21, 1973, 1-35; Peter Donat, Haus, Hof und Dorf in Mitteleuropa vom 7. bis 12. Jahrhundert, Berlin 1980.

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WernerRösener gen kann man überhaupt von „Bauernhäusern" im Unterschied zu Häusern von Handwerkern und Kaufleuten sprechen? Auf welchen Grundlagen entwickelten sich die verschiedenen Bauemhausformen in den einzelnen Landschaften? Lange Zeit waren Vertreter ethnischer Theorien tonangebend, die die Unterschiede in den Bauformen auf Stammeseigenschaften zurückführten: 24 Die germanisch-deutsche Bauart beruhe auf dem Holzbau, während die romanische Bevölkerung den Steinbau bevorzuge; der altsächsische Stamm habe das für Niederdeutschland charakteristische Hallenhaus hervorgebracht, so daß man im Unterschied zur fränkischen Gehöftanlage im mitteldeutschen Raum von einem sächsischen Bauernhaus sprechen müsse. In neuerer Zeit setzte sich in der Hausforschung aber zunehmend die Erkenntnis durch, daß die Bauernhausformen nicht so sehr auf uralten Stammestraditionen beruhen; vielmehr ist die Gestalt eines bäuerlichen Gehöftes vor allem von der Lebens- und Wirtschaftsweise seiner Bewohner geprägt. Eine solche funktionale Betrachtungsweise ordnet die bäuerlichen Haustypen zu Recht in die entsprechenden Natur- und Wirtschaftsräume ein. 25 Sie fragt daher danach, inwieweit das Bauernhaus mit seinen verschiedenen Elementen durch die Umwelt bestimmt sei, da der Bauer der Natur und den kulturellen Einflüssen nicht in schöpferischer Freiheit gegenüberstehe, sondern sich den durch sie gegebenen Bedingungen nicht entziehen könne. 26 Neben der jeweils vorherrschenden Wirtschaftsweise in Ackerbau oder Viehzucht scheint die Struktur des Bauernhauses insbesondere von den jeweiligen Baustoffen abhängig zu sein. In dieser Hinsicht ist Holz im Norden Europas und Stein im Süden für die bäuerliche Bauweise charakteristisch. In der Zwischenzone liegen Gebiete, in denen diese beiden wichtigsten, naturgegebenen Baustoffe miteinander konkurrieren. Außer den archäologischen, volkskundlichen und siedlungsgeographischen Ergebnissen besitzen vor allem die Erkenntnisse der allgemeinen Geschichte und historischer Einzeldisziplinen eine zentrale Bedeutung für die mittelalterliche Agrargeschichte. Neben der Rechts-, Sozial-, Wirtschafts- und Technikgeschichte ist auch die politische Geschichte zu berücksichtigen. Im Bereich der Siedlungs- und Bevölkerungsgeschichte kommen darüber hinaus die Erkenntnisse der Kirchengeschichte zur Geltung, da sich beispielsweise an der Verdichtung des ländlichen Pfarmetzes die Zunahme der ländlichen Siedlungen und die Expansion der Bevölkerung abschätzen lassen. 27 Die Kenntnis des Eigenkirchenwesens ist für das Verständnis der Grundherrschaft unerläßlich, auch ist die prägende Kraft kirchlicher Normen in anderen Lebensbereichen der mittelalterlichen Gesellschaft deutlich erkennbar. 28 Ein 24

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August Meitzen, Das deutsche Haus in seinen volkstümlichen Formen, 1882; Franz Steinbach, Studien zur westdeutschen Stammes- und Volksgeschichte, 1926. Die funktionale Theorie wird besonders von Schweizer Volkskundlern vertreten: Richard Weiss, Häuser und Landschaften der Schweiz, 2. Auflage Erlenbach-Zürich 1973. Zur neueren Bauemhausforschung aus ökologischer Sicht: Heinz Ellenberg, Bäuerliche Bauweisen in geoökologischer und genetischer Sicht, Stuttgart 1984; Ders., Bauernhaus und Landschaft in ökologischer und historischer Sicht, Stuttgart 1980. Vgl. F. Pauly, Siedlung und Pfarreiorganisation im alten Erzbistum Trier, Koblenz 1976; Michael Erbe, Studien zur Entwicklung des Niederkirchenwesens in Ostsachsen vom 8. bis zum 12. Jahrhundert, Göttingen 1969. Neuerdings Andreas Hedwig, Die Eigenkirche in den urbarialen Quellen zur fränkischen Grundherrschaft zwischen Loire und Rhein, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung 109, 1992, 1-64; Wolfgang Petke, Von der Eigenkirche zur Inkorporation

Probleme der Erforschung der ländlichen Gesellschaft

des

Mittelalters

Großteil der schriftlichen Quellen, die der Agrarhistoriker benutzt, kommt zudem aus dem Bereich der kirchlichen Grundherrschaft. 29 Die Erforschung agrarhistorischer Phänomene des Mittelalters wird durch die unterschiedliche Quellenlage und die ungleiche schriftliche Überlieferung sehr erschwert. Die schriftlichen Quellen sind nicht nur nach Zeit und Raum ungleich verteilt, sondern auch in Hinsicht auf Form, Inhalt und Aussagewert äußerst verschiedenartig. 30 Zur besseren Verwaltung der Grundbesitzungen fertigte man vor allem Güterverzeichnisse und Urbare an, die sowohl im frühen als auch im späteren Mittelalter verbreitet waren. Die Palette der Urbare mit ihren vielfältigen Bezeichnungen reicht von den frühmittelalterlichen Polyptychen und Inventaren über Hubenlisten und Gültbücher bis hin zu den spätmittelalterlichen Lagerbüchern und Zinsregistern. 31 Urbare, die die verschiedenen Güterarten vollständig beschreiben und alle Abgaben und Verpflichtungen der Bauern detailliert registrieren, sind in der Regel allerdings in der Minderzahl. Während die Urbare des Frühmittelalters im allgemeinen gut erschlossen sind, 32 stellen sich für die Urbare des Spätmittelalters noch wichtige Forschungsaufgaben. 33 Die urbariale und urkundliche Überlieferung wird durch eine Reihe weiterer Quellen ergänzt, die ebenfalls wichtiges Material zur Agrargeschichte bereitstellen. Hofrechte und Weistümer des Hoch- und Spätmittel-

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in Lothringen und Nordfrankreich im 11. und 12. Jahrhundert, in: Revue d'histoire écclesiastique 87, 1992, 34-72. Vgl. Werner Rösener, Grundherrschaft im Wandel. Untersuchungen zur Entwicklung geistlicher Grundherrschaften im südwestdeutschen Raum vom 9. bis 14. Jahrhundert, Göttiiigen 1991; Ders., Die kirchliche Grundherrschaft im deutschen Reich des frühen Hochmittelalters, in: Chiesa e mondo feudale nei secoli X-XII. Atti della dodicesima Settimana intemazionale di studio Mendola, 24-28 agosto 1992, Milano 1995, 193-224. Zur Problematik agrarhistorischer Quellen: Rösener, Einführung in die Agrargeschichte, 32ff. Allgemein zu den Urbaren und zur Urbarforschung: Karl Theodor von Inama-Stemegg, Über Urbarien und Urbarialaufzeichnungen, in: Archivalische Zeitschrift 2, 1877, 26-52; Lamprecht, Wirtschaftsleben 2, 657-675; Alfons Dopsch, Die Herausgabe von Quellen zur Agrargeschichte des Mittelalters, in: Deutsche Geschichtsblätter 5, 1905, 145-184; Otto Herding, Das Urbar als ortsund zeitgeschichtliche Quelle, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 10, 1951, 72108; Dieter Hägermann, Anmerkungen zum Stand und zu den Aufgaben frühmittelalterlicher Urbarforschung, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 50, 1986, S. 32-58; Robert Fossier, Polyptyques et censiers, Toumhout 1978. Zu den Urbaren des Früh- und Hochmittelalters: Dopsch, Wirtschaftsentwicklung 1, 111 ff.; Wolfgang Metz, Zur Geschichte und Kritik der frühmittelalterlichen Güterverzeichnisse Deutschlands, in: Archiv für Diplomatik 4, 1958, 183-206; Ingo Schwab, Probleme der Anfertigung von frühmittelalterlichen Güterverzeichnissen am Beispiel des Prümer Urbars, in: Adriaan Verhulst (Hg.), Le grand domaine aux époques mérovingienne et carolingienne. Die Grundherrschaft im frühen Mittelalter, Gent 1985, 152-170; Yoshiki Morimoto, Etat et perspectives des recherches sur les polyptyques carolingiens, in: Annales de l'Est 40, 1988, 99-149; Enno Bünz, Probleme der hochmittelalterlichen Urbarüberlieferung, in: Werner Rösener (Hg.), Grundherrschaft und bäuerliche Gesellschaft im Hochmittelalter, Göttingen 1995, 31-75. Vgl. Rösener, Grundherrschaft im Wandel, 67; Wolfgang Kleiber, Die Mainzer Sammlung spätmittelalterlicher ländlicher Rechtsquellen (Urbare), in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 25, 1977, 237-343; Friedrich Pietsch, Der Weg und Stand der Urbaredition in BadenWürttemberg, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 18,1959, 317-354; Hugo Ott, Probleme und Stand der Urbarinterpretation, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 18, 1970, 159-184; Gregor Richter, Mittelalterliche und neuzeitliche Urbare als rechtsverbindliche Dokumente nach ordnungsmäßiger Renovation und Publikation, in: Archiv für Diplomatik 24, 1978, 427-442.

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WernerRösener allers stehen mit den Urbaren häufig in enger Beziehung und beleuchten die rechtliche, wirtschaftliche und soziale Stellung der hörigen Bauernschaft.34 Eine wichtige Quellengattung, die auch den bäuerlichen Lebensbereich intensiv erfaßt, sind die Weistümer.35 Im alten bäuerlichen Recht spielte die Weisung, d. h. der Rechtsvortrag rechtskundiger Männer, eine wichtige Rolle. Im Weistum, das aus einer solchen Weisung hervorging, verbanden sich Rechtsüberlieferung und Rechtsfindung.36 Die Altersbestimmung der Weistümer stellt die quellenkritische Forschung vor schwierige Probleme, da sich in Weistümem oft verschiedene Altersschichten überlagert haben; überlieferungsmäßig erreichten die Weistümer ihren Höhepunkt im Spätmittelalter.37 Die räumliche Verbreitung der Weistümer ist sehr unterschiedlich und läßt vor allem im west- und süddeutschen Bereich eine dichte Konzentration erkennen.38 Die Frage nach den Urhebern der Weistümer wird noch immer kontrovers diskutiert: Im Gegensatz zur älteren Wiener Schule sieht die neuere Forschung im Bauern weniger ausschließlich das Objekt der Herrschaft; sie unterstreicht daher dessen aktiven Beitrag bei der Entstehung der Weistümer.39 Die Bauern waren jedenfalls die Träger der mündlichen Rechtsüberlieferung und urteilten im Niedergericht über wichtige Angelegenheiten des Dorfes. Für die Untersuchung von Recht und Wirtschaft, aber auch des ländlichen Brauchtums bieten die Weistümer ergiebigen Stoff. 40 Die volkskundliche Forschung kann 34

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Zu den Hofrechten und frühen Weistümern: Werner Rösener, Frühe Hofrechte und Weistümer im Hochmittelalter, in: Agrargeschichte 23, 1990, 12-29; Johannes Kühn, Zur Kritik der Weistümer, in: Günther Franz (Hg.), Deutsches Bauerntum im Mittelalter, Darmstadt 1976, 374-393. Allgemein zu den Weistümern und zur Weistümerforschung: Jacob Grimm, Weisthümer 1 -7, 18401878; Ders., Deutsche Rechtsalterthümer 1-2, 4.Auflage, 1899; Lamprecht, Wirtschaftsleben 2, 624ff.; Hans Fehr, Über Weistumsforschung, in: Peter Blickle (Hg.), Deutsche Ländliche Rechtsquellen. Probleme und Wege der Weistumsforschung, Stuttgart 1977, 11-15; Ema Patzelt, Grundherrschaft und bäuerliches Weistumsrecht, in: Ebd., 16-26; Walter Müller, Die Offnungen der Fürstabtei St. Gallen. Die Ergebnisse im Spiegel der Weistumsforschung, in: Ebd., 52-69; Hermann Stahleder, Weistümer und verwandte Quellen in Franken, Bayern und Österreich, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 32, 1969, 525-605, 850-885; Jürgen Seemann, Weistümer und andere ländliche Rechtsquellen, in: Jahrbuch für Geschichte des Feudalismus 10, 1986, 61-74; Rudolf Hinsberger, Die Weistümer des Klosters St. Matthias in Trier. Studien zur Entwicklung des ländlichen Rechts im frühmodernen Territorialstaat, Stuttgart 1989. Zum Weisungsvorgang und zum Weistumsbegriff: Dieter Werkmüller, Die Weistümer: Begriff und Forschungsauftrag, in: Brüder-Grimm-Symposion zur Historischen Wortforschung. Hg. von Reiner Hildebrandt und Ulrich Knopp, Berlin 1986, 103-112; Paul Gehring, Weistümer und schwäbische Dorfordnungen, in: Peter Blickle (Hg.), Deutsche Ländliche Rechtsquellen, Stuttgart 1977, 41-51; Theodor Bühler-Reimann, Warnung vor dem herkömmlichen Weistumsbegriff, in: Ebd., 87102; Karl-Heinz Spieß, Die Weistümer und Gemeindeordnungen des Amtes Cochem im Spiegel der Forschung, in: Ländliche Rechtsquellen aus dem kurtrierischen Amt Cochem, bearb. von Christel Krämer und Karl-Heinz Spieß, Stuttgart 1986, 1-56. Vgl. Dieter Werkmüller, Über Aufkommen und Verbreitung der Weistümer nach der Sammlung von Jacob Grimm, Berlin 1972, 142ff.; Barthel Huppertz, Räume und Schichten bäuerlicher Kulturformen in Deutschland, Bonn 1939, 243ff. Vgl. dazu den Kartenanhang bei Werkmüller, Aufkommen und Verbreitung, 170ff. Vgl. Patzelt, Grundherrschaft und bäuerliches Weistumsrecht, 16ff.; Stahleder, Weistümer und verwandte Quellen, 525ff.; Spieß, Weistümer und Gemeindeordnungen, 26ff. Zur Auswertung der Weistümer für das bäuerliche Alltagsleben: Werkmüller, Aufkommen und Verbreitung, 57ff.; Hermann Wiessner, Sachinhalt und wirtschaftliche Bedeutung der Weistümer im deutschen Kulturgebiet, Baden-Wien 1934; Rudolf Endres, Ländliche Rechtsquellen als sozialgeschichtliche Quellen, in: Blickle, Ländliche Rechtsquellen, 161-184.

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Probleme der Erforschung der ländlichen Gesellschaft des Mittelalters sich daher bei der Untersuchung bäuerlicher Lebensformen auf eine reichhaltige Weistümerüberlieferung stützen. Über die bäuerliche Kultur kann die Volkskunde vor allem in dem Umfang Auskunft geben, wie Sachzeugnisse erhalten sind. Hier wächst dem Archäologen die Aufgabe zu, auf die bei Ausgrabungen gewonnenen Sachzeugnisse zum bäuerlichen Leben aufmerksam zu machen. 41 Das in kulturgeschichtlichen Museen und in Sammlungen aller Art vorgelegte Material ist äußerst umfangreich. Genaue Analysen dieses Materials fehlen jedoch häufig, so daß es schwer fallt, den Überblick zu behalten. Wenden wir uns nun den Hauptperioden der ländlichen Gesellschaft des Mittelalters zu. Die Agrargeschichte des Mittelalters läßt sich in drei Epochen einteilen: eine frühmittelalterliche Epoche, die vom 6. bis zum 10. Jahrhundert reicht, eine hochmittelalterliche Epoche in der Zeit vom 11. bis 13. Jahrhundert und schließlich eine spätmittelalterliche Epoche des 14. und 15. Jahrhunderts. Welche relevanten Forschungsprobleme stellen sich nun für diese drei Epochen? Für die Zeit des Frühmittelalters ist z. B. nach der Größe der Siedlungen zu fragen, in denen die Menschen lebten. Die ältere Vorstellung vom germanischen Haufendorf wurde seit längerem von der Erkenntnis verdrängt, daß im Friihmittelalter die Kleinsiedlungen vorherrschten.42 Neben diesen kleineren Siedlungen gab es in der Karolingerzeit offenbar auch größere Gruppensiedlungen mit dorfähnlichem Charakter. Neuere Untersuchungen zum Siedlungsgefüge karolingerzeitlicher Orte haben ergeben, daß in vielen Gegenden bereits Siedlungen mit 30 oder 40 Bauernstellen festzustellen sind.43 Ungeachtet dieser neuen Einsichten zu den frühmittelalterlichen Siedlungsformen bleibt die grundlegende Erkenntnis der jüngeren Forschung weiterhin gültig, daß das Haufendorf mit Gewannflur und Rurzwang nicht auf die Landnahmezeit zurückgeht. 44 Seit wann kann man aber von Dörfern sprechen? Das Dorf im eigentlichen Sinne ist offenbar erst im Hochmittelalter entstanden, während die frühmittelalterliche Epoche nur verschiedene Ansätze zur Dorfbildung kannte. 45 Dieses Verständnis des Dorfes ist mit bestimmten qualitativen und funktionalen Merkmalen verbunden, zu denen wirtschaftliche, soziale, rechtliche und politische Elemente 41

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Vgl. Werner Meyer, Heidenstäfeli und Heidenhüttchen. Archäologische Beiträge zur Kultur des alpinen Hirtentums in der Schweiz, in: Bäuerliche Sachkultur des Spätmittelalters, Wien 1984, 193201; Paul Grimm, Hohenrode, eine mittelalterliche Siedlung im Südharz, Halle 1939; Gerhard Buchda, Archäologisches zum Sachsenspiegel, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 72, 1955, 205-215. Vgl. neuerdings die archäologischen Beiträge zur bäuerlichen Alltagswelt des Frühmittelalters in dem zweibändigen Katalog: Die Franken - Wegbereiter Europas, Mainz 1996. Vgl. Werner Rösener, Bauern im Mittelalter, München 1985, 58; Karl-Heinz Schröder/Gabriele Schwarz, Die ländlichen Siedlungsformen in Mitteleuropa, 2. Auflage Trier 1978, 51ff.; Franz Steinbach, Gewanndorf und Einzelhof, in: Nitz, Siedlungsforschung, 42-65; Wilhelm Müller-Wille, Langstreifenflur und Drubbel, in: Ebd., 247-314; Anneliese Krenzlin, Die Entwicklung der Gewannflur als Spiegel kulturlandschaftlicher Vorgänge, in: Ebd., 108-135; Born, Agrarlandschaft, 28ff. Fred Schwind, Beobachtungen zur inneren Struktur des Dorfes in karolingischer Zeit, in: Jankuhn, Dorf der Eisenzeit und des frühen Mittelalters, 444-493. Die ältere Auffassung findet sich besonders bei Georg Ludwig von Maurer, Einleitung zur Geschichte der Mark-, Hof-, Dorf- und Stadtverfassung und der öffentlichen Gewalt, 1854, Neudr. Aalen 1966. Zur neueren Forschung in bezug auf die Dorfentwicklung: Karl S. Bader, Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes 1, Weimar 1957, 4ff.; Karl Kroeschell, Dorf, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 1, 1971, 764-774; Rösener, Bauern im Mittelalter, 54ff.

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Werner Rösener gehören. 46 Zur Frage, in welcher Zeit sich dieser Dorftyp in den einzelnen Landschaften entwickelt hat, bedarf es noch zahlreicher Forschungen. Im grundherrschaftlichen Bereich hat die Diskussion über die Ursprünge der frühmittelalterlichen Grundherrschaft noch immer einen hohen Stellenwert. 47 Wann ist das klassische Grundherrschaftssystem entstanden, in welchen Landschaften war es vertreten? Nach Auffassung von Adriaan Verhulst war dieses System ein sowohl räumlich als auch zeitlich beschränktes Phänomen. 48 Man fand es vor allem in den zentralen Regionen des Frankenreiches vertreten, aber in unterschiedlicher Stärke, wofür Faktoren wie die Konzentration königlichen und kirchlichen Grundbesitzes in bestimmten Gegenden, das Vorhandensein von günstigen Getreideböden oder eine Kombination von starker Bevölkerungszunahme und umfassender Rodungstätigkeit ausschlaggebend gewesen seien. Als hauptsächliche Entstehungszeit gilt die Epoche des 7. und 8. Jahrhunderts, als sich die Kernelemente dieses Systems mit Fronhöfen und abhängigen Bauernstellen herausbildeten. Hinsichtlich der Zeit des Hochmittelalters stellt sich die Frage, welche Bedeutung die Auflösung der Villikationsverfassung für die Grundherrschaft und für die Lage der bäuerlichen Bevölkerung hatte. War dieser Prozeß tatsächlich „das größte Ereignis der deutschen Agrargeschichte des hohen Mittelalters", wie Georg von Below meinte? 49 Philippe Dollinger spricht in seinem grundlegenden Werk über die Entwicklung der bäuerlichen Bevölkerung im hochmittelalterlichen Bayern von einer „wirtschaftlichen Revolution", durch die sich während des Hochmittelalters die Grundherrschaft von der Fronhofswirtschaft zur Zinshofverfassung verändert habe. 50 Bei einer Abwägung der unterschiedlichen Urteile zum Wandel der Grundherrschaft ist aufgrund neuerer Forschungen daran festzuhalten, daß sich im Hochmittelalter tatsächlich ein tiefgreifender Wandel der Grundherrschaft mit vielfältigen Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft vollzog.51 Über den zeitlichen und regionalen Verlauf dieses Strukturwandels der Grundherrschaft stellen sich aber noch 46

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Vgl. Roger Sablonier, Das Dorf im Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter. Untersuchungen zum Wandel ländlicher Gemeinschaftsformen im ostschweizerischen Raum, in: Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für Josef Fleckenstein zu seinem 65. Geburtstag. Hg. von Lutz Fenske, Werner Rösener und Thomas Zotz, Sigmaringen 1984, 727-745; Peter Blickle, Deutsche Untertanen. Ein Widerspruch, München 1981, 23ff.; Heide Wunder, Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland, Göttingen 1986, 18ff. Dazu Rösener, Agrarwirtschaft, 57ff.; Ders. (Hg.), Strukturen der Grundherrschaft im frühen Mittelalter, Göttingen 1989; Kuchenbuch, Grundherrschaft im früheren Mittelalter, 45. Adriaan Verhulst, La genèse du régime domanial classique en France au haut moyen âge, in: Agricoltura e mondo rurale in Occidente nell'alto medioevo. Settimane di studio del Centro italiano di studi sull'alto medioevo 13, 1966, 135-160; Ders., La diversité du régime domanial entre Loire et Rhin à l'époque carolingienne, in: Walter Janssen/Dietrich Lohrmann (Hg.), Villa - curtis - grangia. Landwirtschaft zwischen Loire und Rhein von der Römerzeit zum Hochmittelalter, München/Zürich 1983, 133-148; Ders., Die Grundherrschaftsentwicklung im ostfränkischen Raum vom 8. bis 10. Jahrhundert. Grundzüge und Fragen aus westfränkischer Sicht, in: Rösener, Strukturen der Grundherrschaft, 29-46. Georg von Below, Geschichte der deutschen Landwirtschaft des Mittelalters in ihren Grundzügen, 2. Auflage Stuttgart 1966, 80. Philippe Dollinger, Der bayerische Bauemstand vom 9. bis zum 13. Jahrhundert, München 1982, 121. Nicht überzeugend sind die Argumente, die Dopsch (Herrschaft und Bauer, 135) gegen einen Wandel in der hochmittelalterlichen Agrarverfassung vorbringt.

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Probleme der Erforschung der ländlichen Gesellschaft des

Mittelalters

umfangreiche Forschungsaufgaben. Die Gesamteinschätzung des hochmittelalterlichen Strukturwandels und seiner Auswirkungen auf die ländliche Bevölkerung bedarf in Anbetracht des jeweiligen Standortes bzw. der Untersuchungsrichtung der Differenzierung. 52 Die offenkundige Lockerung der Bindungen zwischen Grundherren und Bauern ist von der marxistischen Forschung als „hochmittelalterliche Bauernbefreiung" charakterisiert worden. 53 Entwicklungstendenzen wie die Besserung der Besitzrechte, die Fixierung der bäuerlichen Leistungen und die weitgehende Ablösung der Frondienste sprechen für diese Beurteilung. Trotz aller Wandlungen blieb aber die Grundherrschaft eine Macht, die das bäuerliche Leben auch in der nachfolgenden Zeit stark beeinflußte. Die soziale Lage der bäuerlichen Bevölkerung zu Beginn des Spätmittelalters wurde in der Forschung kontrovers beurteilt. Während Friedrich Lütge die Situation der Bauern zur damaligen Zeit als gut bezeichnete, 54 stellte Abel die Krisensymptome in der bäuerlichen Wirtschaft um 1300 heraus.55 Wendet man sich dem 14. und 15. Jahrhundert zu, 56 so stellt sich noch dringlicher die Frage nach der sozialen und wirtschaftlichen Lage der bäuerlichen Bevölkerung. Die sozialen Verhältnisse der Bauern in dieser Epoche werden in der Forschung ebenso kontrovers beurteilt wie diejenigen der Zeit um 1300. Während Vertreter der einen Position eine Verschlechterung der bäuerlichen Lebensbedingungen im Laufe des Spätmittelalters konstatierten, wiesen Vertreter der anderen auf verschiedene Anzeichen bäuerlichen Wohlstandes hin. Die unbestrittenen zunehmenden Spannungen und Konflikte zwischen Herren und Bauern, die während des Spätmittelalters auftraten, sind offenbar ein Ausdruck der krisenhaften Zustände in der ländlichen Gesellschaft. 57 Der verstärkte 52

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Vgl. Rösener, Grundherrschaft im Wandel, 557ff.; Ders., Die Auflösung des Villikationssystems im hochmittelalterlichen Deutschland: Ursachen und Verlauf, in: Probleme der Agrargeschichte des Feudalismus und des Kapitalismus 20, Rostock 1989, 5-14; Ders., The Decline of the Classic Manor in Germany during the High Middle Ages, in: Alfred Haverkamp/Hanna Vollrath (Hg.), England and Germany in the High Middle Ages, Oxford 1996, 317-330. Hans Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, 5. Auflage Berlin 1976, 117 („Auflösung der ersten Leibeigenschaft"); Emst Münch, Strukturveränderungen der Grundherrschaft im Hochfeudalismus, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock 23, 1976. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Heft 10, 761-771; Ders., Die Grundherrschaft des vollentfalteten Feudalismus im Prozeß des gesellschaftlichen Fortschritts, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 27, 1979, 145-148. Friedrich Lütge, Die bayerische Grundherrschaft. Untersuchungen über die Agrarverfassung Altbayerns im 16.-18. Jahrhundert, München 1949, 74. Wilhelm Abel, Landwirtschaft 900-1350, in: Hermann Aubin/Wolfgang Zorn (Hg.), Handbuch der deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1, Stuttgart 1971, 198ff. mit der provokanten Fragestellung: War [Deutschland um 1300 übervölkert? Allgemein zur sozialen und ökonomischen Entwicklung im Spätmittelalter: Friedrich Lütge, Das 14./15. Jahrhundert in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in: Ders., Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Stuttgart 1963, 281-335; Werner Rösener, Krisen und Konjunkturen der Wirtschaft im spätmittelalterlichen Deutschland, in: Europa 1400. Die Krise des Spätmittelalters. Hg. von Ferdinand Seibt und Winfried Eberhard, Stuttgart 1984, 24-38; Frantiäek Graus, Das Spätmittelalter als Krisenzeit, Prag 1969; Ders., Vom „Schwarzen Tod" zur Reformation. Der krisenhafte Charakter des europäischen Spätmittelalters, in: Peter Blickle (Hg.), Revolte und Revolution in Europa, München 1975, 10-30; Peter Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter, 1250 bis 1490, Frankfurt am Main/Berlin 1985, 263ff. Zur agrarhistorischen Entwicklung im Spätmittelalter: Wilhelm Abel, Die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters, 3. Auflage Stuttgart 1976; Ders., Strukturen und Krisen der spätmittelalterli-

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Werner Rösener herrschaftliche Druck, die vermehrten Ansprüche des Territorialstaates und das gewachsene Selbstbewußtsein der Bauern trugen insgesamt dazu bei, daß es während des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschen Reich zu einer Vielzahl von Bauernaufständen kam. 58 Für die Epoche des Spätmittelalters ist die von Abel postulierte Agrarkrise neuerdings wieder diskutiert worden. 59 Kann man überhaupt von einer spätmittelalterlichen Agrarkrise sprechen? Inwieweit müssen Abels Ergebnisse angesichts neuerer Forschungen modifiziert werden? Prinzipielle Bedenken gegen die Agrarkrisentheorie wurden von Vertretern der marxistischen Geschichtswissenschaft vorgebracht, die kritisierten, daß der Bevölkerungsbewegung im zugrundegelegten Modell die Rolle einer Haupttriebkraft zuerkannt wurde. Der These von der Agrarkrise wurde daher die Theorie von der Krise des Feudalismus entgegengestellt. Kritische Einwände wurden auch von verschiedenen Wirtschaftshistorikem und von Vertretern der Spätmittelalterforschung vorgebracht.61 Trotz dieser Korrekturen ist der Kerngehalt der Agrarkrisentheorie aber gültig. Die Wüstungen, das niedrige Getreidepreisniveau und die bäuerliche Abwanderung sind als Folgen einer Agrardepression zu deuten. Die regionalen Unterschiede in der Konjunkturentwicklung sind bisher aber zu wenig beachtet worden. Erst auf der Basis gründlicher Regionalstudien könnten die divergierenden Theorien zur spätmittelalterlichen Gesellschaftsentwicklung besser auf ihre Gültigkeit überprüft werden. Die bisherigen Darlegungen haben gezeigt, daß bei der Erforschung der ländlichen Gesellschaft des Mittelalters noch viele Fragen offen sind und der weiteren Untersuchung bedürfen. Der Agrargeschichte des Mittelalters stellen sich demnach vielfältige Aufgaben und Forschungsfelder, die unter neuen Fragestellungen analysiert

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chen Wirtschaft, Stuttgart 1980; Rösener, Bauern im Mittelalter, 255ff.; Ders., Zur sozialökonomischen Lage der bäuerlichen Bevölkerung im Spätmittelalter, in: Bäuerliche Sachkultur des Spätmittelalters, Wien 1984, 9-48. Vgl. Peter Blickle, Bäuerliche Erhebungen im spätmittelalterlichen deutschen Reich, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 27, 1979, 208-231; Rösener, Bauern im Mittelalter, 254; Ders., Peasant Revolts in Late Médiéval Germany and the Peasants' War of 1525, in: Bonder, jord og rettigheter. Rapport fra agrarhistorisk symposium. Redigert av Kjell Haarstad/Aud Mikkelsen Tretvik, Trondheim 1996, 17-30. Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, 2. Auflage Hamburg/Berlin 1966, 55ff.; Ders., Strukturen und Krisen, Stuttgart 1980. Dazu Peter Kriedte, Spätmittelalterliche Agrarkrise oder Krise des Feudalismus? In: Geschichte und Gesellschaft 7, 1981, 42-68; Rodney Hilton, A Crisis of Feudalism, in: Past and Present 80, 1978, 3-19. Jürgen Kuczynski, Einige Überlegungen über die Rolle der Natur in der Gesellschaft anläßlich der Lektüre von Abels Buch über Wüstungen, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1963/111, 284297. Vgl. Rösener, Krisen und Konjunkturen, 24ff.; Emst Pitz, Die Wirtschaftskrise des Spätmittelalters, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 52, 1965, 347-367; Walter Achilles, Überlegungen zum Einkommen der Bauern im späten Mittelalter, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 31, 1983, 5-26; Heinrich Rubner, Die Landwirtschaft der Münchener Ebene und ihre Notlage im 14. Jahrhundert, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 51, 1964, 433-453. Neuerdings zur Agrarkrise: Ernst Schubert, Einführung in die Grundprobleme der deutschen Geschichte im Spätmittelalter, Darmstadt 1992, 5ff. Die von Schubert vorgebrachten Argumente gegen die Ergebnisse von Abel überzeugen nicht und berücksichtigen zu wenig die ausländischen Arbeiten zur Agrarkrise im europäischen Kontext.

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Probleme der Erforschung der ländlichen Gesellschaft des

Mittelalters

werden müssen. 62 Dabei ist vor allem auf die breite Zusammenarbeit der historischen Einzeldisziplinen zu achten, denn viele Probleme der Agrargeschichte lassen sich nur im Rahmen interdisziplinärer Kooperation lösen. 63

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Vgl. Rösener, Einführung in die Agrargeschichte, 2; Jan Peters, Agrargeschichte im Abstieg? In: Geschichte im Spiegel agrarischer, sozialer und regionaler Entwicklungen. (Agrargeschichte 25), 1995, 11-18; Christoph Dipper, Landwirtschaft im Wandel. Neue Perspektiven der preußisch-deutschen Agrargeschichte im 19. Jahrhundert, in: Neue Politische Literatur 38, 1993, 29-42. Das interdisziplinäre Moment der agrarhistorischen Forschung wird bei der 1994 in Frankreich neugegründeten agrarhistorischen Gesellschaft „Association d'Histoire des Sociétés Rurales" besonders betont. Deren Zeitschrift „Histoire et Sociétés Rurales" (seit 1994) legt auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Geschichte, Archäologie und Geographie großen Wert. Wichtig sind auch die vielfältigen Anregungen, die von der Historischen Anthropologie auf die Agrargeschichtsforschung ausgehen. Vgl. Jan Peters, Gutsherrschaftsgeschichte in historisch-anthropologischer Perspektive, in: Ders. (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften, München 1995, 3-22; Rösener, Einführung in die Agrargeschichte, 165ff. (Kap. „Agrargeschichte und Historische Anthropologie"); Werner Troßbach, Historische Anthropologie und frühneuzeitiiche Agrargeschichte deutscher Territorien. Anmerkungen zu Gegenständen und Methoden, in: Historische Anthropologie 5, 1997, 187-211.

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Werner Troßbach

Beharrung und Wandel „als Argument". Bauern in der Agrargesellschaft des 18. Jahrhunderts „Der Bauernstand" - so ließ derjenige Philosoph verlauten, der wie kein anderer die politischen Theorien im Deutschland des 19. Jahrhunderts beeinflußte, - „hat wenig selbst zu denken: was er erwirbt, ist Gabe eines Fremden, der Natur: dies Gefühl der Abhängigkeit ist bei ihm ein Erstes, und damit verbindet sich leicht auch dies von Menschen, über sich ergehen zu lassen, was da kommen mag." 1 Was Hegel zur Politikfähigkeit und -bereitschaft von Bauern konstatierte, gehört zu den Archetypen politischer Philosophie in Deutschland. 2 Anderthalb Jahrhunderte später fand sich der Kern dieser Aussage reformuliert und von der Politik auf die Geschichtsfähigkeit überhaupt ausgedehnt. „Das Bauerntum bildete von seiner Entstehung im Neolithikum bis ins 19. Jahrhundert das Fundament der europäischen Sozialstruktur und wurde in diesen Jahrtausenden vom Strukturwandel der politischen Formen der Oberschichten in seiner Substanz kaum berührt."3 Das letzte Zitat ist einem Text entnommen, der zu Recht als eine der Inkunablen dessen gilt, was später als moderne deutsche Sozial- oder (wie im Zitat formuliert) Strukturgeschichte bezeichnet wurde. Für das Verhältnis von „Bauernstand" und Sozialgeschichte hatte dies paradoxe Folgen. Obwohl sich der Text zentral mit dem „Bauerntum" beschäftigte, hat er entscheidend dazu beigetragen, es aus der „Strukturgeschichte" herauszuschreiben. Ob Otto Brunner dies mit seiner Arbeit über das „ganze Haus" 1956 beabsichtigt hatte, soll dahingestellt bleiben. Das Resultat jedenfalls ist eindeutig: die Modernität der „modernen deutschen Sozialgeschichte" bestand in den fünfziger und sechziger Jahren darin, daß man sich eben denjenigen Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (zitiert nach der Ausgabe Frankfurt a. M. 1970, § 204, Zusatz). Eine ähnliche Formulierung, bezogen auf die Religionssoziologie, stammt von Max Weber (Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, 5. Aufl., 285): „Das Los der Bauern ist so stark naturgebunden, so sehr von organischen Prozessen und Naturereignissen abhängig und auch ökonomisch aus sich heraus so wenig auf rationale Systematisierung eingestellt, daß er im allgemeinen nur der Mitträger einer Religiosität zu werden pflegt, wo ihm durch innere (fiskalische oder grundherrliche) oder äußere (politische) Mächte Versklavung und Proletarisierung droht." Zum Zusammenhang Heide Wunder, Sozialer und kultureller Wandel in der ländlichen Welt des 18. Jahrhunderts - Überlegungen am Beispiel von „Bauer und Religion" (unter besonderer Berücksichtigung Ostpreußens), in: Emst Hinrichs/Günter Wiegelmann (Hg.), Sozialer und kultureller Wandel in der ländlichen Welt des 18. Jahrhunderts, Wolfenbüttel 1982, 43-63. Walter Achilles, Bemerkungen zum sozialen Ansehen des Bauemstandes, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 34, 1986, 1 -30; Heide Wunder, Der dumme und der schlaue Bauer, in: Cord Meckseper/Elisabeth Schraut (Hg.), Mentalität und Alltag im Spätmittelalter, Göttingen 1985, 34-52. Otto Brunner, Das „ganze Haus" und die alteuropäische Ökonomik, in: Ders., Neue Wege der Sozialgeschichte, Göttingen 1956, 33-61, hier 38. Zu Brunner: Christof Dipper, Otto Brunner aus der Sicht der frühneuzeitlichen Historiographie, in: Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento 13, 1987, 73-96; Robert Jütte, Zwischen Ständestaat und Austrofaschismus. Der Beitrag Otto Brunners zur Geschichtsschreibung, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte 13, 1984, 237-262.

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Werner Troßbach Schichten zuwandte, die dem angesprochenen „Strukturwandel" unterlagen, und die vermeintlich unveränderlichen Teile der Gesellschaft ausklammerte. Bei Werner Conze war die Entscheidung für die „Modernität" der Gegenstände sogar explizit. 4 Damit waren aber auch zugleich die Wurzeln der „modernen Sozialgeschichte" 5 verdeckt, wie sie später dann von Brunner, Conze und Koselleck federführend präsentiert und repräsentiert wurde. Die Ausklammerung des „Bauerntums" aus Politik und Geschichte wurde in den fünfziger Jahren allerdings nicht zum ersten Mal vorgenommen. Sie geht, wie das Hegel-Zitat verdeutlicht, auf die Aufklärung zurück. Die Erfahrung, daß „der Bauernstand" nur geringe Neigung zum Wandel zeigte, war - mit wenigen Ausnahmen das gemeinsame Erlebnis einer ganzen Generation von Intellektuellen dieser Epoche. Es ist bekannt, daß die von ihnen lancierten Projekte zur Modernisierung der agrarischen Produktionsstrukturen bei den Bauern nur selten auf den erwarteten Enthusiasmus traf. Nicht einmal im dynastisch mit England verbundenen Kurhannover wollten Versuche einer Umstellung auf die Norfolker Fruchtwechselwirtschaft gelingen, 7 ganz zu schweigen von süddeutschen Territorien wie Baden, wo auch nur geringfügige Modifikationen auf Ablehnung stießen. 8 Nicht immer blieb es bei der bloßen Distanzierung. Während sich der junge Thünen in Flottbek bei Hamburg über die mangelnde Innovationsbereitschaft der Bauern nur wundem konnte, 9 erfuhr der Pfarrer Block in Nutha bei Zerbst die Ablehnung buchstäblich am eigenen Leibe. 10 Die Reaktionen der betroffenen Intellektuellenschicht sind nicht systematisch untersucht. Pragmatismus" und Distanzierung 12 scheinen sich die Waage zu halten. Eine paradoxe Verbindung gingen beide Haltungen in Rudolf Zacharias 4

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Christof Dipper, Bauern als Gegenstand der Sozialgeschichte, in: Wolfgang Schieder/Volker Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Bd. IV. Soziale Gruppen in der Geschichte, Göttingen 1987, 11-33, hier 19. Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989, hier 288 ff. Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft, Göttingen 1993. Jürgen Voss, Der Gemeine Mann und die Volksaufklärung im späten 18. Jahrhundert, in: Winfried Schulze/Hans Mommsen (Hg.), Vom Elend der Handarbeit. Probleme historischer Unterschichtenforschung, Stuttgart 1981, 208-232. Otto Ulbricht, Englische Landwirtschaft in Kurhannover in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ansätze zu historischer Diffusionsforschung, Berlin 1980, 308f. Clemens Zimmermann, Reformen in der bäuerlichen Gesellschaft. Studien zum aufgeklärten Absolutismus in der Markgrafschaft Baden 1750 - 1790, Ostfildern 1983. Johann Heinrich von Thünen, Beschreibung der Landwirtschaft in dem Dorfe Groß-Flottbeck, in: Thünen-Archiv 1, 1906, 122-132, hier 130f.: „Sie setzen einen gewissen Stolz darin, daß sie nicht nöthig haben, sich um einen Vortheil sorgfältig zu bemühen, und eine bessere Wirthschaft einzuführen. ... Es giebt ein Mittel, durch welches sie zu einer besseren Wirthschaft gezwungen werden können, das ist die Noth. Allein diese wird sobald nicht eintreten." Wilhelm Abel, Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1962, 267. Holger Böning, Gemeinnützig-ökonomische Aufklärung und Volksaufklärung. Bemerkungen zum Selbstverständnis und zur Wirkung der praktisch-populären Aufklärung im deutschsprachigen Raum, in: Siegfried Jüttner/Jochen Schlobach (Hg.), Europäische Aufklärung(en): Einheit und nationale Vielfalt, Hamburg 1992, 218-248, hier 245. Holger Böning, Das „Volk ist ein Kind mit beschränkten Begriffen" - Gedanken zum Menschenbild der Volksaufklärer, in: Historie und Eigen-Sinn, FS für Jan Peters, Weimar 1997, 23-30, hier 29 konstatiert eine „große Fremdheit" zwischen beiden Parteien.

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Bauern in der Agrargesellschaft

des 18. Jahrhunderts

Beckers „Noth- und Hülfsbiichlein" ein, der wichtigsten Reformschrjft der Epoche. 13 Inwieweit die politische Romantik, in Preußen vor allem in der Adelsreaktion verkörpert, die Distanz zwischen Bauern und Aufklärung zu nutzen suchte, müßte noch im einzelnen erforscht werden. Nicht direkt damit verbunden sind die Schriften von Ernst Moritz Arndt, in denen eine neue Saite angeschlagen wird: die Verknüpfung von Aufklärungskritik, Nationalismus und Bauemfaszination. 14 Endgültig gefestigt wurde diese Verbindung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts durch das sich formierende konservative Lager. Geistesgeschichtlich ist diese Strömung untrennbar mit dem Namen Wilhelm Heinrich Riehls verbunden. Was für Hegel und die Aufklärung noch mit dem Makel der Unbeweglichkeit verbunden war, offenbart in Riehls Übersetzung, substantiell kaum verändert, funktional neue Züge. Nun erschienen „unsere Bauern" als „fester, trotz allem Wechsel beharrender Kern", als „unüberwindliche konservative Macht in der deutschen Nation". 15 Die Stilisierung des Bauerntums als „Mutterschoß der Volkheit" (Ipsen) 16 war dann nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Übersetzung konservativer in völkische Rhetorik, freilich mit äußerster Radikalisierung verbunden. Sah Riehl noch die Möglichkeit der „Entartung" des Bauemstandes durch bürgerlich-industrielle Einflüsse, war für Hans Freyer „das Bauerntum" von der Industrialisierung „nicht in seinem Wesen berührt worden", 17 womit wir quasi wieder bei dem angeführten Brunner-Zitat angekommen sind. Vor dem Hintergrund einer solchen Rhetorik erledigt sich die Frage nach den Gründen für den Triumph einer Agrargeschichte, die untrennbar mit dem Namen Wilhelm Abels verbunden ist, von selbst. Noch bevor sich der ideologische Nebel lichtete, der die Figur des Bauern von Riehl bis Ipsen umgeben hatte, wurde bei Abel eine Gestalt sichtbar, die ohne Privilegien oder Nachteile als Faktor im wirtschaftlichen Prozeß agierte, damit auch Geschichtsfähigkeit bewies. Unter Abels Anleitung gelang es der deutschen Agrargeschichte, in Bereiche einzudringen, die noch 1933 für unzugänglich gehalten worden waren, 18 und einen exakten Rahmen abzustecken, innerhalb dessen sich bäuerliche Existenz abspielte. Der Niedergang dieser Richtung begann Mitte der siebziger Jahre, als sich die Fragen häuften, welches Bild dieser Rahmen denn begrenze, und die Antworten zunächst in einer Gleichsetzung von Rahmen und Bild bestanden. 13

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Reinhard Siegert, Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem „Noth- und Hülfsbiichlein", in: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 19, 1978, Sp. 566-1344. Walter Achilles, Deutsche Agrargeschichte im Zeitalter der Reformen und der Industrialisierung, Stuttgart 1993, 293ff. Wilhelm Heinrich Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft, herausgegeben und eingeleitet von Peter Steinbach, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1976, 57f. Zu Riehl neuerdings: Jasper von Altenbockum, Wilhelm Heinrich Riehl 1823 - 1897, Köln/Wien/Weimar 1994 (affirmativ); Friedhelm Lövenich, Verstaatlichte Sittlichkeit. Die konservative Konstruktion der Lebenswelt in Wilhelm Heinrich Riehls „Naturgeschichte des Volkes", Opladen 1992 (kritisch). Als Einführung noch immer lesenswert die Einleitung von Steinbach in die o.a. Neuausgabe der „bürgerlichen Gesellschaft". Zitiert nach Oberkrome, Volksgeschichte, 118. Ebd., 115. Burkhard Assmuss, Das Einkommen der Bauern in der Herrschaft Kronburg im frühen 16. Jahrhundert. Probleme bei der Berechnung landwirtschaftlicher Erträge, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 43, 1980, 45-91, hier 45f.

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Werner Troßbach Die Identifizierung einer notwendigen wissenschaftlichen Abstraktion mit der jeweiligen historischen Realität, des „homo oeconomicus" mit dem „wirklichen Menschen", wurde freilich nicht allein der Agrargeschichtsschreibung vorgeworfen, schon vorher war der Eindruck entstanden, der Sozialgeschichte allgemein seien „die Menschen abhanden gekommen". Die anthropologische Wende in der deutschen Sozialgeschichtsschreibung, deren Gang und Vollzug im einzelnen noch zu untersuchen steht, bedeutete einen Bruch mit der inzwischen etablierten Abel'schen Tradition. 19 Auf die „longue durée" bezogen, beinhaltet sie jedoch auch Momente der Kontinuität. 20 Zunächst kann sie als Fortschreiten auf dem Weg einer „Erweiterung der Sozialgeschichte" begriffen werden, zu der Mitte der siebziger Jahre ein Aufsatz desjenigen Autors als Signal empfunden wurde, 21 der in den fünfziger Jahren an ihrer Engführung auf die „moderne Welt" maßgeblich beteiligt war. Die anthropologischen Ansätze holten dann mit großem Elan Bauern und die ländliche Gesellschaft insgesamt in die „Strukturgeschichte" zurück. An anderer Stelle habe ich versucht, im einzelnen auf Themen und Thesen einzugehen, die diese Erweiterung verkörpern. 22 Methodisch handelte es sich um die Flexibilisierung der geronnenen und z. T. verdinglichten Kategorien der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Die harten Konturen sozialer Schichtung erschienen nun gemildert durch Netzwerke und Klientelsysteme, durch Verwandtschaft und „Freundschaft", auf der anderen Seite wurden Unterschiede, die von den genannten abstrakten Vorgehensweisen eingeebnet worden waren, etwa nach Alter, Herkunft und insbesondere Geschlecht neu wahrgenommen und zu Kategorien erhoben. Erst auf dieser Basis wurde in den achtziger und neunziger Jahren die Vielfalt vorindustrieller Gesellschaften sichtbar, die in der Agrarwirtschaftsgeschichte zuvor auf wenige abstrakte Bestimmungen reduziert worden war. Arbeit und Wirtschaft wurden ihrer Exklusivität entkleidet, die sie auch in nichtmarxistischen Verständnissen angenommen hatten, und als „embedded economy" in einen als Totalität gedachten Zusammenhang integriert, den „Alltag". Die Ökonomie im traditionellen (auch nichtmarxistischen) Verständnis verlor damit ihren privilegierten Platz als „letzte Instanz", die linearen oder schematischen Abläufe wichen überhaupt komplizierteren Modellen, die den Namen „Strukturen" verdienen. „Neue Unübersichtlichkeit" stellte sich dennoch nicht ein. Den von der Ökonomie geräumten Platz als regulatives Prinzip nahm die „Kultur" ein, freilich nicht als Instanz am Ende eines langen Weges, sondern als allgegenwärtige Dimension. Obwohl sich die neue Richtung methodisch im wesentlichen an angelsächsischen Ethnologen und z. T. auch Soziologen orientierte, ist auch der schon angesprochene 19

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S. dazu: Werner Troßbach, Historische Anthropologie und Agrargeschichte der Frühen Neuzeit, in: Historische Anthropologie 5, 1997, 187-211. Anknüpfungspunkte können bei der „Volksgeschichte" (Oberkrome, Volksgeschichte), der ,Xulturgeschichte" (Stefan Haas, Historische Kulturforschung in Deutschland 1880 - 1930. Geschichtswissenschaft zwischen Synthese und Pluralität, Köln/Weimar/Wien 1994) und der Volkskunde (Hermann Bausinger, Traditionale Welten. Kontinuität und Wandel in der Volkskultur, in: Zeitschrift für Volkskunde 81, 1985, 173-191) gefunden werden. Werner Conze, Sozialgeschichte in der Erweiterung, in: Neue Politische Literatur 19, 1974, S U SIS. Eigentlich handelt es sich bei diesem Beitrag um eine Sammelrezension, in der keine weiteren Perspektiven angegeben wurden. U m so erstaunlicher ist die Karriere, die der Überschrift vergönnt war. W i e A n m . 19.

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Bauern in der Agrargesellschaft

des 18. Jahrhunderts

Aspekt der Kontinuität zur deutschen Geschichtsschreibung unverkennbar. Der Leitbegriff „Kultur" hat nämlich auch unmittelbare Anknüpfungen, z. B. an Wilhelm Heinrich Riehl, 23 wieder möglich gemacht. Auch konzeptionell gibt es Verbindungen zu konstatieren. Der vielfach geforderte „ethnologische Blick" 24 auf die („eigene") Vergangenheit hat sich heuristisch als Verfremdungseffekt bewährt, in der Betonung des „Fremden" in der Vergangenheit und der verständlichen Ablehnung evolutionistischer Modelle wurden allerdings auch Begriff und Realität des Wandels selbst vielfach suspekt, 25 und es kam vereinzelt zur Neuauflage einer alten Entgegensetzung: der „Mächte des Wandels" und der „Mächte der Beharrung", auf deren Seite sich die „peasant society" wiederfinden konnte. 26 Daß dieser Weg wenigstens implizit zu Otto Brunner zurückführte, kann nicht verwundern. Immerhin war er, positiv gewendet, eben derjenige, der zuletzt den Faden einer „ländlichen Strukturgeschichte" fallengelassen hatte. Sein „Hausvater" bzw. Ipsens „Hofbauer" stand dann auch tatsächlich im Mittelpunkt einer Arbeit, die sich in den achtziger Jahren weiter Verbreitung erfreute: der in anderer Hinsicht vielschichtigen und innovativen Schwalm-Abhandlung von Arthur E. Imhof. Anhand eines ausgewählten Bauernhofes aus dieser hessischen Region, dessen Besitzgeschichte er von 1552 bis 1945 verfolgen konnte, stellte Imhof eine über 12 Generationen reichende Stabilität der Besitzverhältnisse fest, die sich „vom Strukturwandel der politischen Formen der Oberschichten" tatsächlich kaum beeindruckt zu zeigen schien. Stabilität wird dabei nicht nur als objektives Resultat faßbar, es gelingt dem Autor auch, durch die Analyse der Vornamen"wahl" sie als subjektives Bemühen der ausgewählten Dynastie darzustellen. Um z. B. immer einen Johannes als Erben zur Verfügung zu haben, mußte d e r , Johannes" bei der hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit der Epoche in einzelnen Perioden quasi auf Vorrat vergeben werden. 27 Bäuerliches Familienbewußtsein hängt freilich auch in dieser Darstellung nicht in der Luft. Imhof bezog es auf den Hof als materielles Substrat, Hof und Familie gehen in diesem Bild eine enge Bindung ein. Diese Bindung ist keineswegs eine Entdeckung des Demographen. Als „Hofidee" ist sie in agrarsoziologische Lehrbücher 28 eingegangen, und für die Agrargeschichte wurde sie insbesondere zu Beginn der dreißiger Jahre wiederentdeckt. Dietmar Sauermann hat noch 1970 die Hofidee als Ausdruck des Bestrebens erklärt, „daß der Hof jahrhundertelang erhalten blieb und von den Menschen als etwas Statisches, Bleibendes, als ein geschichtsloses, außer-

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S. z. B. Regina Schulte, Das Dorf im Verhör. Brandstifter, Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts. Oberbayern 1848 - 1910, Reinbek 1989, 12. Hans Medick, „Missionare im Ruderboot?" Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 10, 1984, 295-319. Barbara Duden, Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987. Prinzipielle Kritik an solchen Ansätzen bei Bausinger, Traditionale Welten. So in einer frühen Arbeit auch: David W. Sabean, Die Dorfgemeinde als Basis der Bauernaufstände in Westeuropa bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Winfried Schulze (Hg.), Europäische Bauemrevolten der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1972, 191-205, hier 196, 201. Arthur E. Imhof, Die verlorenen Welten. Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren - und weshalb wir uns heute so schwer damit tun .... München 1984, 136ff. („Auf der Suche nach Stabilität"). Ulrich Planck/Joachim Zieche, Land- und Agrarsoziologie, Stuttgart 1979, 305f.

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Werner Troßbach menschliches Gegenüber mit metaphysischer Qualität aufgefaßt wurde, dem alles individuelle Streben untergeordnet werden mußte." 29 Die Hofbindung ist damit in einem die Stabilität betonenden Bauernbild von essentieller Bedeutung: So kann sie - wie bei Imhof - als Metapher für das angenommene bäuerliche Streben nach Kontinuität insgesamt verstanden werden. In dem von Sauermann referierten ontologischen Verständnis von Hofbindung kann es zugleich scheinen, als sei bäuerliches Denken von einem „bleibenden, geschichtslosen Gegenüber mit metaphysischer Qualität" derartig in den Bann geschlagen, daß auch in anderen Lebensäußerungen der Beständigkeit ein unhinterfragbares „Prä" zugeschrieben wird. Neuland wird von Imhof freilich betreten, wenn es nicht um die Folgen, sondern um die Voraussetzungen der Stabilität geht. An die Stelle der agrarfundamentalistischen der Jahrhundertwende treten funktionalistische Deutungen. 30 Ausgehend von der extremen Instabilität des vorindustriellen Alltags, die keine Teildisziplin so plastisch darzustellen vermag wie die Demographie, sah er in der Hof- und Familienbindung den Versuch, Pflöcke der Stabilität einzuschlagen, an denen sich ein Leben in der Instabilität ausrichten ließ. Bäuerliches Verhalten wird auf diese Weise einer rationalen Erklärung zugänglich gemacht. Auch andere Autoren argumentieren in eine ähnliche Richtung. So wurde z. B. die Ablehnung physiokratisch inspirierter „Neuerungen", auf die die Reformer in Baden oder Kurhannover trafen, nicht länger auf eine unergründliche Mentalität, sondern auf ein in der Erfahrung begründetes Streben nach Risikominimierung und sozialer Verantwortung zurückgeführt. 31 Tatsächlich haben sich soziale Rücksichtnahmen vielerorts als Hindemisse für abrupte Veränderungen erwiesen. Dort, wo eine Reformmaßnahme „griff", ging dies oft zu Lasten unterbäuerlicher Schichten. 32 Mit solchen Deutungen ist ein wichtiger Vorteil verbunden. Das Bild des „ewigen Bauern" löst sich in dem Maße auf, wie dies mit seinen Voraussetzungen, die der vorindustriellen Demographie und Wirtschaftsweise entstammen, geschieht. Kulturalistische Interpretationen bäuerlichen Beharrungsvermögens - der Verweis auf den angeblichen Hang vorindustrieller Individuen zur „Mußepräferenz" 33 z. B. - haben dagegen den unverhohlenen Faulheitsvorwurf der Aufklärung nur in eine andere Sprache übersetzt. Obwohl sie selbst für nicht geringe Bewegung in einem weitgehend erstarrten Umfeld sorgten, ging es den von Soziologie und zunehmend 29

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Dietmar Sauennann, Hofidee und bäuerliche Familienverträge in Westfalen, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 17, 1970, 58-78, hier 58f. Imhof, Welten, 136. S. z. B. Clemens Zimmermann, Entwicklungshemmnisse im bäuerlichen Milieu: Die Individualisierung der Allmenden und Gemeinheiten um 1780, in: Toni Pierenkemper (Hg.), Landwirtschaft und industrielle Entwicklung, Stuttgart 1989, 99-119, hier 99, unter Bezugnahme auf Forschungen zu ländlichen Gesellschaften in der Dritten Welt, insbesondere: Georg Elwert, Der entwicklungssoziologische Mythos vom Traditionalismus, in: Dieter Goetze/Heribert Weiland (Hg.), Soziokulturelle Implikationen technologischer Wandlungsprozesse, Saarbrücken/Fort Lauterdale 1983, 29-56. Alfred Straub, Das badische Oberland im 18. Jahrhundert. Die Transformation einer bäuerlichen Gesellschaft vor der Industrialisierung, Husum 1977, 147. Dieter Groh, Strategien von Subsistenzökonomien, in: Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 5, 1986, 1-38; Jürgen Hannig, Ars donandi. Zur Ökonomie des Schenkens im frühen Mittelalter, in: Richard van Dülmen (Hg.), Armut, Liebe, Ehre. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt a. M. 1988, 11-37.

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Bauern in der Agrargesellschaft des 18. Jahrhunderts auch Ethnologie inspirierten Ansätzen der Agrargeschichtsschreibung auch noch in den achtziger Jahren eher darum, das Paradigma „Stabilität" zu erklären und behutsam zu flexibilisieren, 34 statt es grundsätzlich in Frage zu stellen. Der Studie von Wilhelm Norden zur Butjadinger Küstenmarsch kommt damit aber, obwohl sie nicht direkt zum Problem des Wandels Stellung nimmt, besondere Bedeutung zu. Sie kann regelrecht als Propädeutik verstanden werden, indem sie die einer ländlichen Gesellschaft inhärenten Elemente der Bewegung herausarbeitet. Nicht zuletzt deshalb sollte sie auch als Ergänzung zu Imhofs „Välteshof' gelesen werden. Während sich Imhof den größten Hof der ohnehin schon großbäuerlich strukturierten Schwalm und damit eine Einheit ausgewählt hatte, die für „unsere Vorfahren" insgesamt wohl kaum als repräsentativ gelten kann, 35 legt Norden die Gesamtheit der Höfe eines Kirchspiels zugrunde, wenn sein Zeitraum auch nur 20 Jahre im 18. Jahrhundert umfaßt. Immerhin scheint es die von Imhof festgestellte Stabilität auch in der Küstenmarsch gegeben zu haben. Für das Ensemble der Höfe ist sie jedoch nicht repräsentativ. 36 Sicher stellt die Butjadinger Küstenmarsch wegen der hohen Erwachsenensterblichkeit und des Jüngstenrechtes, das die Figur des Interimswirts beinahe ubiquitär machte, ein Extrembeispiel dar. Allerdings hat auch Jürgen Schlumbohm für das Osnabrücker Kirchspiel Belm feststellen können, daß die Bande zwischen Hof und Dynastie nicht prinzipiell unauflöslich waren. 37 Zu einer weiteren Auflockerung der Stabilitätsvorstellungen haben Untersuchungen beigetragen, die Brunners Faden zunächst von einer anderen Seite her aufnahmen und die synchrone Zusammensetzung des „Hauses" erforschten. Nachdem das „Haus" gründlich von den emphatischen Konnotationen entrümpelt war, mit denen Riehl und auch noch Brunner die empirische Analyse blockiert hatten, 38 konnte Michael Mitterauer in personengeschichtlicher Hinsicht durchaus wieder an Riehl anknüpfen und seine Aufmerksamkeit „auf ganze Gruppen sonst familienloser Leute" 39 richten, die in Imhofs Generationenreihen keinen Platz finden. Als funktional verstandene Personengemeinschaft verlor das „ganze Haus" damit auch seinen monolithischen Charakter und entpuppte sich als komplexes und variantenreiches Gebilde. 40 14

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Albert Schnyder-Burghartz, Alltag und Lebensformen auf der Basler Landschaft um 1700. Vorindustrielle, ländliche Kultur und Gesellschaft aus mikrohistorischer Perspektive - Bretzwil und das obere Waldenburger Land von 1690 bis 1750, Liestal 1992. Robert von Friedeburg, Bauern und Tagelöhner: Die Entwicklung gesellschaftlicher Polarisierung in Schwalm und Knüll im Gewand der traditionellen Dorfgemeinde, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 39, 1991, 44-68. Wilhelm Norden, Eine Bevölkerung in der Krise. Historisch-demographische Untersuchungen zur Biographie einer norddeutschen Küstenregion (Butjadingen 1600 - 1850), Hildesheim 1984, 200ff. Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabriickischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650 - 1860, Göttingen 1994, 506ff; Ders., The Land-Family Bond in Peasant Practice and in Middle-Class Ideology: Evidence from the NorthWest German Parish of Belm 1650 - 1860, in: Central European History 27, 1994, 4 6 M 7 7 . Werner Troßbach, Das „ganze Haus" - Basiskategorie für das Verständnis der ländlichen Gesellschaft in der frühen Neuzeit?, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 129, 1993, 277-314. Wilhelm Heinrich Riehl, Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik, 3. Bd.: Die Familie, Stuttgart und Augsburg 1856, 147. Michael Mitterauer, Formen ländlicher Familienwirtschaft. Historische Ökotypen und familiale Arbeitsorganisation im österreichischen Raum, in: Josef Ehmer/Michael Mitterauer (Hg.), Fami-

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Werner Troßbach Wenn überhaupt, dann wurde in diesem Ensemble die strapazierte Stabilität höchstens vom „regierenden Paar" des Hauses und seiner Kernfamilie repräsentiert. Wechselt man die Perspektive und zentriert nicht das Haus, sondern die Lebensläufe seiner Bewohner, eine Operation, die für den deutschsprachigen Raum untrennbar mit den Namen Rebel, 41 Sabean 42 und Schlumbohm verbunden ist, trifft man insbesondere bei Mägden und Knechten nicht auf Stabilität, sondern auf Unsicherheit und Fluktuation. Daß das „Haus" damit nicht mehr als die von Autorität und Pietät konstituierte Bauzelle der Gesellschaft begriffen werden kann, liegt auf der Hand. Andererseits ist es auch nicht auf eine bloß funktionale Einheit zu reduzieren. Mit Jürgen Schlumbohm wäre es vielleicht als sozialer Raum zu begreifen, in dem sich Konflikte und Strategien von Individuen und Gruppen kreuzten. 43 Hermann Rebel hat zugleich scharf gegen die traditionellen Harmonielehren der deutschen Sozialwissenschaft Front gemacht und klargestellt, daß dieser Raum von politischen Interventionen zugunsten des „regierenden Paares" vorstrukturiert war. 44 In unserem Zusammenhang genügt aber einstweilen die gewissermaßen statistisch beschränkte Feststellung, daß es zumindest für kleinbäuerliche Schichten, aus denen sich Mägde und Knechte im 18. Jahrhundert vornehmlich rekrutierten, 45 auch einen von Mobilität gekennzeichneten Lebensabschnitt gab. 46 Mit dem Auftreten von Inwohnern 47 wiederum wird noch unter dem Schein des „ganzen Hauses" ein Phänomen sichtbar, das Ipsen programmatisch als „Randerscheinung" 48 abgetan hatte und das bei Riehl für die „Entartung" 49 mancher ländlicher Gesellschaften mitverantwortlich gemacht wurde: die soziale Schichtung. Sie ist selbstverständlich nicht, wie Georg Friedrich Knapp 50 noch meinte, im wesentlichen ein Produkt der Bauernbefreiung und auch nicht allein Resultat der Bevölkerungszunahme des 18. Jahrhunderts, wenngleich die Expansion der Unterschichten gerade im 18. Jahrhundert zu den Binsenweisheiten der Sozialgeschichte gehört. 51

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lienstruktur und Arbeitsorganisation in ländlichen Gesellschaften, Wien/Köln/Graz 1986, 185-323, hier 287. Hermann Rebel, Peasant Classes. The Bureaucratization of Property and Family Relations under Early Habsburg Absolutism, Princeton 1983. David W. Sabean, Property, Production and Family in Neckarhausen 1700 - 1870, Cambridge 1990. Schlumbohm, Lebensläufe, 506ff. Rebel, Peasant Classes, 195ff. Michael Mitterauer, Vorindustrielle Familienformen. Zur Funktionsentlastung des „ganzen" Hauses im 17. und 18. Jahrhundert, in: Ders., Grundtypen alteuropäischer Sozialformen. Haus und Gemeinde in vorindustriellen Gesellschaften. Stuttgart-Bad Canstatt 1979, 35-97. Die sozialen Probleme im Haus wurden dadurch verschärft, daß im Laufe des 18. Jahrhunderts v.a. in den Gesinderegionen Mägde und Knechte mehr und mehr die Züge einer sozialen Schicht annahmen, während sie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch als Angehörige einer Altesrsklasse charakterisiert werden können; Emst Schubert, Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts, Neustadt a. d. Aisch 1983, 103ff; Jan Peters. Ostelbische Landarmut - Sozialökonomisches über landlose und landarme Agrarproduzenten im Spätfeudalismus, in: Hartmut HarnischyGerhard Heitz (Hg.), Deutsche Agrargeschichte des Spätfeudalismus, Berlin 1986,213-244, hier 230. Werner Troßbach, Bauern 1648 - 1806, München 1993, 41 ff. mit weiterführender Literatur. Dipper, Bauern, 18. Riehl, Bürgerliche Gesellschaft, 77. Dazu Christof Dipper, Die Bauernbefreiung in Deutschland 1790 - 1850, Stuttgart 1980, 135. Jürgen Kocka, Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800, Bonn 1990, 83ff.

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Bekannt ist allerdings auch, daß die Zunahme regional mit unterschiedlicher Intensität erfolgte. 52 Schon die Gewichtsverlagerung als solche kann als sozialer Wandel definiert und damit die Vorstellung von der Stabilität ländlicher Gesellschaften grundsätzlich erschüttert werden. Hinsichtlich ihrer Ursachen ist von Wilhelm Abel im Anschluß an Klassiker wie Thünen oder Malthus die Priorität demographischer vor ökonomischen und sozialen Faktoren betont worden, 53 während moderne demographische Studien ungleich komplexere Ursachengeflechte zu erkennen geben, die nicht allein ökonomische, sondern auch konfessionelle 54 Faktoren einbeziehen und bis zum Einfluß lokaler Traditionen 55 reichen, in jedem Fall aber der familiären Entscheidung größeren Spielraum zubilligen, als es die Theoretiker des 19. Jahrhunderts 56 taten. Angesichts der Komplexität der Zuschreibungen und des noch immer lückenhaften Materials soll hier weniger auf die Ursachen als auf die Folgen dieser demographischen und sozialen Veränderungen eingegangen werden, wenngleich eine saubere Trennung von Ursachen und Folgen gerade bei der Analyse selbstreferentieller Prozesse kaum möglich ist. Um den Stellenwert, die Spielräume und Handlungsmöglichkeiten von Unterschichten in hierarchisierten Gesellschaften auszumessen, sind neben ökonomischen auch rechtliche Bedingungen zu reflektieren. Rechtlich ist grundsätzlich zwischen mediaten und immediaten Existenzformen zu unterscheiden. 57 Eine vom bäuerlichen „Haus" unabhängige Existenz konnten unterbäuerliche Schichten bei Realteilung und in solchen Gebieten mit geschlossener Vererbung führen, in denen die Gemeinden für Neusiedler offen blieben, nicht selten - wie in Franken 58 - von peuplierungswilligen Obrigkeiten ermuntert. Real blieben aber auch die rechtlich immediaten Unterschichten wenigstens in Getreideanbaugebieten durch die Notwendigkeit von Gespannshilfen 59 und auf der Suche nach Erwerb auf die bäuerliche Wirt52

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Diedrich Saalfeld, Stellung und Differenzierung der ländlichen Bevölkerung Nordwestdeutschlands in der Ständegesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: Emst Hinrichs/Günter Wiegelmann (Hg.), Sozialer und kultureller Wandel in der ländlichen Welt des 18. Jahrhunderts, Wolfenbuttel 1982, 229-249; Ders., Ländliche Bevölkerung und Landwirtschaft Deutschlands am Vorabend der Französischen Revolution, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 37, 1989, 101-125. S. auch Peters, Landarmut. Wilhelm Abel, Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa, Hamburg/Berlin 1974, 29, 191 ff. Peter Zschunke, Konfession und Alltag in Oppenheim. Beiträge zur Geschichte von Bevölkerung und Gesellschaft einer gemischtkonfessionellen Kleinstadt in der Frühen Neuzeit, Wiesbaden 1984, 140ff. Grundlegend: Alfred Perrenoud, Malthusianisme et potestantisme: „un modèle démographique weberien", in: Annales E. S. C. 29, 1974, 975-988. Imhof, Welten. 104ff. Arthur E. Imhof, Einführung in die historische Demographie, München 1977, 36 ff; Christian Pfister, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie, München 1994, 119ff. Mit dieser Unterscheidung wird Hermann Grees, Ländliche Unterschichten und ländliche Siedlung in Ostschwaben, Tübingen 1975 gefolgt; s. auch: Ders., Die Lage des Volkes im Süden des Reiches, in: Wolfgang Brückner/Peter Blickle/Dieter Breuer (Hg.), Literatur und Volk im 18. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland, Bd. 1, Wiesbaden 1985, 175-203, hier 182. Rudolf Endres, Sozialer Wandel in Franken und Bayern auf der Grundlage der Dorfordnungen, in: Hinrichs/Wiegelmann, Wandel, 211-227. Josef Mooser, Gleichheit und Ungleichheit in der ländlichen Gemeinde. Sozialstruktur und Kommunalverfassung im östlichen Westfalen vom späten 18. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte 19, 1979, 231-262, hier 240; Rudolf Schlögl, Bauern, Krieg und Staat.

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Werner Troßbach schaft bezogen und damit in ein System des ungleichen Tausches eingebunden. Inwieweit durch gemeinsame Kuhanspannung dieser Abhängigkeit entronnen werden konnte, ist für das 18. Jahrhundert für den Nord- 60 und den Südwesten 61 zwar thematisiert, aber nicht näher analysiert worden. Die Frage, wovon Haushalte mit weniger als einem Hektar Land - noch dazu in karger Mittelgebirgslandschaft wie der Rhön 62 - eigentlich leben konnten, hat Walter Achilles noch 1991 im Anschluß an Günther Franz zu Recht als „drängend" bezeichnet. 63 Auch wenn die Sozialgeschichtsschreibung diesbezüglich in den letzten Jahren eine beachtliche Produktivität entfaltet hat, bedarf es zweifelsohne weiterer Forschungsanstrengungen. Ein Ausweg ist in der „Flucht ins Handwerk" gesehen worden, die vor allem in Südwestdeutschland ergriffen wurde. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts führte dies dort zu einer zuvor und danach nicht mehr erreichten Handwerkerdichte. 64 Voraussetzung war freilich zahlungskräftige Nachfrage, die nicht allein im Bereich der Gutsherrschaft nur begrenzt vorhanden war.65 Charakteristisch ist für die „Armutshandwerke" auch die Kombination verschiedener, sich z. T. saisonal ergänzender Gewerbe. 66 Für den Existenzkampf dieser Schichten ist vor einiger Zeit insgesamt der Begriff „Ökonomie des Notbehelfs" 67 übernommen worden, der heterogene Elemente beinhaltet. Dies hat den Vorteil, daß die Diversität der Tätigkeiten 68 und die Flexibilität69 der Handelnden betont werden kann. Was freilich aus der Sicht der Subjekte

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Oberbayerische Bauemwirtschaft und frühmoderner Staat im 17. Jahrhundert, Göttingen 1988, 144; Grees, Ländliche Unterschichten, 44. Mooser, Gleichheit und Ungleichheit, 253. David Warren Sabean, Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der frühen Neuzeit, Berlin 1986, 22; Ders., Neckarhausen, 1990, 308, 310. Beispiele bei Günther Franz, Geschichte des deutschen Bauernstandes vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1970, 222; Friedrich-Wilhelm Henning, Dienste und Abgaben der Bauern im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1969, 92. Walter Achilles, Landwirtschaft in der Frühen Neuzeit, München 1991, 60; Franz, Bauemstand, 221. Ähnlich: Rainer Beck, Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne, München 1993, 356. Helga Schultz, Landhandwerk im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, Berlin 1984, 58. Eine beispielhafte Mikrostudie: Andreas Maisch, Notdürftiger Unterhalt und gehörige Schranken. Lebensbedingungen und Lebensstile in württembergischen Dörfern der frühen Neuzeit, Stuttgart 1992. Modellhafte Überlegungen: Hartmut Hämisch, Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse in der Landwirtschaft der Magdeburger Börde von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des Zuckerrübenanbaus in der Mitte der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts, in: Landwirtschaft und Kapitalismus. Zur Entwicklung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse in der Magdeburger Börde vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des ersten (!) Weltkrieges, 1. Halbband, Berlin 1978, 67-173, hier 148. Michael Mitterauer, Lebensformen und Lebensverhältnisse ländlicher Unterschichten, in: Helmut Matis (Hg.), Von der Glückseligkeit des Staates. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus, Berlin 1981,315-338, hier 331. David Sabean, Unehelichkeit: Ein Aspekt sozialer Reproduktion kleinbäuerlicher Produzenten. Zu einer Analyse dörflicher Quellen um 1800, in: Robert Berdahl u.a., Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1982, 54-73, hier 67 im Anschluß an Olwen Hufton. Darauf verweist im Kontext der Sammelwirtschaft: Heide Wunder, Agriculture and Society, in: Sheilagh Ogilvie (Hg.), Germany. A New Social and Economic History, London 1996, 63-99, hier 66. Sabean, Unehelichkeit, 67.

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Bauern in der Agrargesellschaft des 18. Jahrhunderts heraus durchaus gegenstandsadäquat ist - die Subsumierung von Elementen der Sammelwirtschaft einerseits und von handwerklicher Spezialisierung andererseits unter einen und denselben Begriff -, kann die Unterschiede hinsichtlich der gesellschaftsgeschichtlichen Folgen eher verdunkeln. Rainer Beck hat statt dessen bei der Analyse kleinbäuerlicher Existenzen in einem oberbayerischen Dorf zunächst sein Augenmerk auf die „vollständige Ausschöpfung marginaler Ressourcen" 70 vor Ort gelenkt und damit auch begrifflich erheblich zur Klärung beigetragen. Man könnte darin quasi die erste Stufe der „Ökonomie des Notbehelfs" erkennen. Beck hat zugleich gezeigt, daß sie den Rahmen für eine Kleinexistenz nur unwesentlich ausdehnen konnte. Schon die begrifflichen Schwierigkeiten reflektieren, wie auch die Wissenschaft angesichts dieser Fragen auf Notbehelfe angewiesen ist. Besonderer Aufmerksamkeit haben sich in den letzten Jahren eher die mediaten Unterschichten erfreut, die Häuslinge, Inwohner, Insten und Heuerlinge, die v. a. in den „geschlossenen" Gemeinden des Nordwestens oder Südostens anzutreffen waren. Zwei Charakteristika unterscheiden sie von den Kleinexistenzen Südwestdeutschlands: sie waren im rechtlichen Sinne eigentumslos und gehörten, obwohl sie anders als Mägde und Knechte meist verheiratet waren, zum mobilen Teil „unserer Vorfahren". 71 Es mag sein, daß gerade diese Kombination die Forschung besonders angezogen hat. Wilhelm Norden hat für die Bauernschaft Kirchhöfing einzelne solcher Itinerare erstellt: „ Der Landheuermann Tyark Hüpers bewirtschaftet 1735 die Stelle 2 und ist 1738 und 1741 in der gleichen Funktion auf der Stelle 14 zu finden. 1744 hält er sich nicht mehr in der Bauerschaft auf, kehrt aber vor 1747 als Heuermann auf die Stelle 14 zurück, jedoch offenbar nur für eine Pachtperiode von drei Jahren, denn von 1750 - 1756 heuert er die Stelle 11."72 Auch Jürgen Schlumbohm hat solche Mobilitätsprofile für das Kirchspiel Belm nachvollzogen.73 Wenngleich sich diese Form der Mobilität bei den Heuerlingen auf den Nahbereich bezog und hinsichtlich konjunktureller und struktureller Voraussetzungen stark variieren konnte, so stellten sie doch zusammen mit Mägden und Knechten den breiten Sockel von Instabilität dar, der die beeindruckende Stabilität solcher Einheiten wie des Välteshofes überhaupt erst ermöglichte. Daß diese Schichten der Instabilität des Alltags, der sie nicht weniger unterlagen als die Herren des Välteshofes, nicht mit der Betonung der Stabilität, sondern - wie die armen Leute des Südwestens74 - nur mit äußerster Flexibilität begegnen konnten, liegt auf der Hand. Zugleich drängt sich der Schluß von der geographischen auf die geistige Mobilität vielleicht sogar im Kontrast zur Dynastie der Johannes Hooß auf. Wenngleich er einen Überschuß an Metaphorik beinhaltet, kann er die Auswege charakterisieren helfen, die ein großer Teil der (männlichen) Heuerlinge beschritt. Die Analyse dieser ökonomischen Behelfe erhält insofern einen besonderen Stellenwert, als darin neuerdings wichtige Hebel erkannt worden sind, die in Richtung auf eine Auflösung der 70

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Rainer Beck, Naturale Ökonomie. Unterfinning: Bäuerliche Wirtschaft in einem oberbayerischen Dorf des frühen 18. Jahrhunderts, München 1986, 191. Der in Anm. 63 zitierte Titel stellt eine erhebliche Erweiterung dar. Imhof, Welten (im Untertitel). Norden, Bevölkerung, 202. Schlumbohm, Lebensläufe, 570ff. Schubert, Arme Leute; Sabean, Schwert, 22.

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Werner Troßbach traditionellen Wirtschafts- und Sozialordnung wirkten, bis hin zur Vorbereitung des Industriesystems. 75 Einer dieser vor allem im Nordwesten beschrittenen Auswege, die saisonale Migration der Männer in verschiedene Provinzen der Niederlande, wo sie sich zur Heuernte und zum Torfstechen einfanden oder im Deich- und Kanalbau eingesetzt waren, 76 macht zunächst freilich noch einmal die Problematik deutlich, die mit dem Begriff der „Ökonomie des Notbehelfs" verbunden ist. Die Migranten beschränkten sich - anders als die Unterfinninger Kleinbauern im frühen 18. Jahrhundert - nicht auf eine erfinderische Nutzung der vorhandenen, sondern erschlossen neue Ressourcen außerhalb und entlasteten damit erheblich die Situation am Ort. Gleiches gilt für Wanderhandwerker, die - nicht nur im Baugewerbe - auf den Bauernhöfen anfallende Arbeiten verrichteten. 77 Sicher sind die Übergänge z. T. fließend, man könnte in solchen Verhaltensweisen aber quasi eine zweite, sozusagen innovative Stufe in der „Ökonomie des Notbehelfs" erkennen. Noch kaum zu übersehen sind die Vorkehrungen der Frauen dieser Migranten, die in den Dörfern zurückblieben. Eine Studie zum späten 19. Jahrhundert kann nachweisen, daß auch auf ihrer Seite mit Innovationsbereitschaft auf die ungewohnte Situation reagiert wurde. 78 In anderen Regionen, z. B. dem Odenwald oder dem Vogelsberg, machten sich zur Heu- oder Getreideernte auch Frauen auf den Weg, sei es zusammen mit Männern in paarigen „Schnitterpartien", sei es allein - mit einer Sichel bewaffnet. 79 Von den Bauern allerdings, die ihre Macht über den lokalen Arbeitsmarkt schwinden sahen, wurde die Migration mit Mißtrauen betrachtet. Michael Frank hat eine 1788 in der Presse des Fürstentums Lippe kolportierte Wirtshausszene referiert, in der ein Knecht nach zwei Jahren Saisonarbeit ein stark mit holländischen Brocken versetztes Deutsch sprach und von den übrigen Gästen zur Ordnung gerufen wurde. 80 Vielleicht wird hier auch eine kalkulierte Provokation seitens der Migranten sichtbar, wie sie auch den heimgewerblich tätigen Schichten im Zürcher Ober-

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Christof Dipper, Übergangsgesellschaft. Die ländliche Sozialordnung in Mitteleuropa um 1800, in: Zeitschrift für historische Forschung 23, 1996, 57-87, hier 78ff. Schlumbohm, Lebensläufe, 72; Jan Lucassen, Quellen zur Geschichte der Wanderungen, vor allem der Wanderarbeit, zwischen Deutschland und den Niederlanden vom 17. bis z.um 19. Jahrhundert, in: Ernst Hinrichs/Henk van Zon (Hg.), Bevölkerungsgeschichte im Vergleich: Studien zu den Niederlanden und Nordwestdeutschland, Aurich 1988, 75-89; Franz Bölsker-Schlicht, Quellen für eine Quantifizierung der Hollandgängerei im Emsland und im Osnabrücker Land in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Ebd., 90-104; Ders., Die Hollandgängerei im Osnabrücker Land und im Emsland: ein Beitrag zur Geschichte der Arbeiterwanderung vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, Soegel 1987. Mitterauer, Lebensformen, 336. Kerstin Werner, „Hatte schon jeder seine Arbeit" - Dörfliche Gesellschaft im Strukturwandel des Hessischen Hinterlandes 1 8 7 0 - 1930, Diss. Kassel 1996 (MS). Peter Assion, Die Lohnschnitter des Odenwaldes. Zur vorindustriellen Wanderarbeit und ihren volkskundlichen Aspekten, in: Winfried Wackerfuß (Hg.), Beiträge zur Erforschung des Odenwaldes und seiner Randlandschaften, Bd. III, Breuberg-Neustadt 1980, 281-312; Michael Keller, Friede den Hütten ... Bauen und Wohnen in Wetterau und Vogelsberg im 19. Jahrhundert, Friedberg 1983,399. Michael Frank, Dörfliche Gesellschaft und Kriminalität. Das Fallbeispiel Lippe 1650 - 1800, Paderborn 1995, 122, 228.

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land wie im Bielefelder Umland zugeschrieben wurde. 81 Wanderarbeit war selbstverständlich nicht auf die „mediaten" Unterschichten Nordwestdeutschlands beschränkt. Die sprichwörtlichen Tiroler (einschließlich der Vorarlberger) 82 lernten sie bereits im Kindesalter kennen. Neben der Wanderarbeit ist eine weitere Variante temporärer Abwesenheit, der Wanderhandel, 83 zu berücksichtigen. Der Vertrieb „geistlicher Waar" - von Rosenkränzen z. B., die man sich in einem Kloster abholen konnte - ist aus Bayern bekannt. 84 Während dieser Handel für die Produktionsstrukturen am Ort folgenlos blieb, waren andere Formen des Hausierens meist mit Heimgewerben verbunden. Ernst Schubert hat gezeigt, wie in fränkischen und z. T. auch hessischen Armutsgebieten ganze Dörfer durch Spezialisierung und Wanderhandel zu überleben suchten. 85 Durch Spezialisierung (Herstellung von Strohhüten oder Pferdehandel) versuchten auch Dörfer im Allgäu die durch ihre Marktferne gegebenen Standortnachteile zu kompensieren. 86 Auch die Unterfinninger, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts im wesentlichen noch auf die Landnutzung beschränkt waren, folgten im weiteren Verlauf diesen Beispielen. 87 Die Rolle, die Verleger und „Großhändler" in diesem Prozeß spielten, ist noch weitgehend unbekannt. Zünftlerisch organisiert waren dagegen schon länger die Schwarzwälder Glas- und Uhrenverkäufer. 88 Die Vorstellung, daß die Migranten durch ihre innovativen wie risikoreichen Verhaltensweisen im Resultat lediglich „die Stabilität" einer lokalen Gesellschaft festigten, dürfte abwegig sein. Eine ganze Reihe von Indizien deutet statt dessen darauf hin, daß Prozesse des wirtschaftlichen und sozialen Wandels eingeleitet wurden durch die Wanderhändler vielleicht noch mehr als durch die Wanderarbeiter. Ob sich dieser Wandel auf das Gebiet von Sitte und Moral, das die Obrigkeiten wenigstens vor 1789 am aufmerksamsten beobachteten, beschränkte, kann durchaus bezweifelt werden. Für die Verkäufer von Holzlöffeln aus der schwäbischen Alb ist jedenfalls bekannt, daß sie 1790 aus Paris auch Nachrichten von der Revolution mitbrachten. 89 Während Wanderarbeit und -handel als Phänomene zwar zunehmend ins Bewußtsein rücken, in gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive allerdings als noch wenig konzeptualisiert erscheinen, ist eine andere, gleichfalls von der Flexibilität der 81

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Rudolf Braun, Industrialisierung und Volksleben. Veränderungen der Lebensformen unter Einwirkung der verlagsindustriellen Heimarbeit in einem ländlichen Industriegebiet (Zürcher Oberland) vor 1800, 2. Aufl. Göttingen 1979; Josef Mooser, Ländliche Klassengesellschaft 1770 - 1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen, Göttingen 1984. Otto Uhlig, Die Schwabenkinder aus Tirol und Vorarlberg, 2. Aufl. Innsbruck 1983; Amo Fitz, Die Friihindustrialisierung Vorarlbergs und ihre Auswirkungen auf die Familienstruktur, Dornbirn 1985. Mitterauer, Lebensformen, 335. Beck, Unterfinning, 357f. Schubert, Arme Leute, 79f. Wolfgang Härtung, Das Westallgäu als vorindustrielle Gewerbelandschaft: Vereinödung - Pferdehandel - Strohhutproduktion, in: Joachim Jahn/Wolfgang Härtung (Hg.), Gewerbe und Handel vor der Industrialisierung, Sigmaringendorf 1991, 86-141. Beck, Unterfinning, 367f. Peter Assion, Altes Handwerk und frühe Industrialisierung im deutschen Südwesten, Freiburg 1978, VII. Volker Press, Von den Bauemrevolten des 16. zur konstitutionellen Verfassung des 19. Jahrhunderts. Die Untertanenkonflikte in Hohenzollern-Hechingen und ihre Lösungen, in: Hermann Weber (Hg.), Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich, Wiesbaden 1980, 85-112, hier 106.

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Werner Troßbach „kleinen Leute" geprägte Innovation wenigstens zeitweise zum Paradepferd der Sozialgeschichtsschreibung in Deutschland avanciert. Dem Göttinger Modell der Protoindustrialisierung 90 ist es gelungen, eine ganze Reihe von Wandlungsprozessen aufzuweisen und zu erklären, wobei zunächst unter dem Einfluß der Pionierstudie von Rudolf Braun 91 vom kleinbäuerlichen Haushalt ausgegangen wurde. Wie sehr durch die systematische Einbeziehung des „Nebenerwerbs" allgemein das Bild von der ländlichen Gesellschaft erweitert werden konnte, mag das Beispiel des Siegerlandes illustrieren. In der älteren Literatur waren die Realteilungsgemeinden des Fürstentums Siegen noch als Paradebeispiel einer wenig perspektivreichen Zerstückelung aufgeführt. 92 Aus veränderter Perspektive und als Resultat intensivierter landesgeschichtlicher Forschungen 93 können hingegen nunmehr Faktoren nachgewiesen werden, die nicht nur als „Vorbereitung" (Dipper), sondern sogar als Vorwegnahme industriegesellschaftlicher Elemente auf agrarischer Grundlage erscheinen können. „Alle Einwohner" 94 waren dort auf außeragrarische Einnahmen angewiesen, die zunächst im traditionellen Eisengewerbe bestanden. Eine ebenso intensive wie ressourcenschonende Waldnutzung 95 und schließlich die Einführung heimgewerblicher Textilproduktion (Baumwollspinnerei) 96 schufen zwischen 1743 und 1769 Voraussetzungen für demographische Wachstumsraten von mehr als 1,5%, „die in anderen Regionen Deutschlands erst in der Phase der Hochindustrialisierung erreicht wurden." 9 ' Die gewerbliche Orientierung erlaubte offenbar den Import von Nahrungsmitteln aus Holland, wo ein Teil des Eisens abgesetzt wurde. 98 Zugleich wurden die für die Eisenproduktion notwendigen wasserbaulichen Einrichtungen auch zur Anlage von Bewässerungswiesen genutzt und ermöglichten dadurch einen Aufschwung von Viehhaltung und -zucht. 99 Daß das Siegerland in Deutschland mit seinem Wachstumsmodell nicht allein stand, beweist ein Blick auf die Grafschaft Mark. Auch dort läßt sich eine überproportionale Expansion der Bevölkerung - besonders für das letzte Drittel des Jahrhunderts - feststellen. Die Bevölkerungsdichte stieg von 38 Einwohnern/qkm (1722) über 45 (1777) auf 53 (1804) an. Auch hier schufen Eisen- und Textilheimgewerbe die Voraussetzungen, und die Landwirtschaft, die die zusätzlichen Menschen versorgen mußte, zog nach. Wenngleich genauere Untersuchungen fehlen, ist zu erkennen, daß 90

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Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm, Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1978. Braun, Industrialisierung und Volksleben, 59 ff. Henning, Dienste und Abgaben, 92. Gerhard W. Göbel, Bevölkerung und Ökonomie. Beiträge zur Geschichte der Stadt Siegen und des Siegerlandes, St. Katharinen 1988; Bernd D. Plaum, Strafrecht, Kriminalpolitik und Kriminalität im Fürstentum Siegen 1 7 5 0 - 1 8 1 0 , St. Katharinen 1990. Pfister, Bevölkerungsgeschichte, 24. Josef Lorsbach, Hauberge und Haubergsgenossenschaften des Siegerlandes, Karlsruhe 1955; RolfJürgen Gleitsmann, Die Haubergswirtschaft des Siegerlandes als Beispiel für ressourcenschonende Kreislaufwirtschaft, in: Scripta Mercaturae 16, 1982, 21-54. Thomas A. Bartolosch, Das Siegerländer Textilgewerbe, St. Katharinen 1992. Pfister, Bevölkerungsgeschichte, 24. Werner Troßbach, Der Schatten der Aufklärung. Bauern, Bürger und Illuminaten in der Grafschaft Wied-Neuwied, Fulda 1991, 184 (für den neuwiedischen Teil des Westerwaldes). Rolf-Jürgen Gleitsmann, Rohstoffmangel und Lösungsstrategien: Das Problem vorindustrieller Holzknappheit, in: Technologie und Politik 16, 1980, 104-153, hier 134 mit der älteren Literatur.

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Bauern in der Agrargesellschafl des 18. Jahrhunderts die Flächenproduktivität der bäuerlichen Landwirtschaft zwischen 1720 und 1800 aufgrund verbesserter Fruchtfolgen um das Doppelte stieg. 100 Beide Gebiete gaben bekanntlich im 19. Jahrhundert einer forcierten Industrialisierung Raum. Auf der Basis der neueren Forschung insbesondere zum Siegerland ist vorstellbar, daß die Kausalitäts- oder auch Kontinuitätslinien zurück ins 18. Jahrhundert vielfältiger waren, als der traditionelle Blick auf die naturräumlichen Voraussetzungen und die darauf beruhende Persistenz der Eisenverarbeitung101 bisher zu enthüllen vermochte. An dieser Stelle soll jedoch eher interessieren, inwieweit sich für das 18. Jahrhundert von einem besonderen Wachstumsmodell auf der Grundlage der Kombination heimgewerblich-textiler mit montanen und agrarischen (ggf. auch waldwirtschaftlichen) Komponenten sprechen ließe. Dafür wäre letztlich der Vergleich mit weiteren Montanregionen, insbesondere mit den sächsischen,102 ausschlaggebend. Die auf das Göttinger Modell unmittelbar folgenden, vor allem in Göttingen und Bielefeld lokalisierten Untersuchungen konzentrierten sich statt dessen auf die Textilproduktion und dabei auf Territorien im Nordwesten, in denen das montane Element keine Rolle spielte. Mit der Ausweitung des Blicks auf Gebiete mit geschlossener Vererbung verlagerte sich zugleich der Schwerpunkt der Analyse vom kleinbäuerlichen Haushalt wieder auf die schon erwähnten Heuerlinge. Zwar konnte bei ihnen ein regelrechter „demographischer Treibhauseffekt" nicht nachgewiesen werden, wohl aber die Entkoppelung von Landbesitz und Familiengründung, so daß sich im Resultat eines Jahrhunderts sowohl im Bielefelder1® wie im Osnabrücker 104 Leinwandgebiet die Bauern als eine Minderheit wiederfanden. Die in einigen Regionen geradezu drastische Verschiebung der Zahlenverhältnisse hat freilich die Machtverhältnisse in der dörflichen Gesellschaft nicht zugunsten der Unterschichten verschieben können. Auch die Agrarverfassung wurde in Nordwestdeutschland von protoindustriellen Produktionsverhältnissen nicht aufgebrochen. Für die Oberlausitz konnte Hartmut Zwahr dagegen zeigen, daß der Boom der textilen Heimgewerbe bisweilen schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Aufsiedlung von Gütern durch Gewerbetreibende führte, die Weberzins oder Schutzgeld zu entrichten hatten. 105 Vielleicht lohnt es sich, vor diesem Hintergrund auch die ältere Diskussion über das Verhältnis von Gutsherrschaft und Heimgewerbe in Schlesien 106 noch einmal zu revidieren. In Nordwestdeutschland kann dagegen die Vermehrung der Unterschichten höch100

Stefan Brakensiek, Agrarreform und ländliche Gesellschaft. Die Privatisierung der Marken in Nordwestdeutschland 1 7 5 0 - 1850, Paderborn 1991, 363, 369f. 101 Zur diesbezüglichen Einordnung des Siegerlandes im 19. Jahrhundert: Rainer Fremdling, Standorte und Entwicklung der Eisenindustrie, in: Hans-Jürgen Teuteberg (Hg.), Westfalens Wirtschaft am Beginn des „Maschinenzeitalters", Dortmund 1988, 297-317. 102 Wichtige Hinweise und Fragen zum Zusammenhang von Bevölkerungsentwicklung und Vor- bzw. Frühindustrialisierung in Sachsen: Karlheinz Blaschke, Bevölkerungsgeschichte von Sachsen vom Ende des 16. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, Weimar 1967, 196f. 1() , - Mooser, Klassengesellschaft, 234. 104 Schlumbohm, Lebensläufe, 55ff. 105 Hartmut Zwahr, Zum Gestaltwandel von gewerblichen Unternehmern und kapitalabhängigen Produzenten. Entwicklungstypen gewerblicher Warenproduktion in Deutschland, in: Jahrbuch für Geschichte 32, 1985, 9-64, hier47f. 106 S. Kriedte/Medick/Schlumbohm, Industrialisierung vor der Industrialisierung, 68. 121

Werner Troßbach stens indirekt mit gesellschaftlichen Reformbestrebungen in Beziehung gesetzt werden, in der Weise etwa, daß der Bevölkerungsdruck den Blick der Bürokratien für das Nahrungsmittelproblem und damit die Reformbedürftigkeit der Landwirtschaft schärfte. Das Projekt einer Verteilung von Bauernland an Landlose, wie es im Krisenjahr 1770 in den „Lippischen Intelligenzblättern" erschien, 107 wurde allerdings nicht in die Praxis umgesetzt. Auch in Minden-Ravensberg trafen Anregungen zur Dismembration von Rittergütern und großen Bauernwirtschaften nicht auf Resonanz. 108 In der Praxis konnten statt dessen die Hofbauem, obschon zahlenmäßig in der Minderheit, ihre gesellschaftliche Dominanz festigen, da sie noch immer uneingeschränkt den Zugang zu Grund und Boden kontrollierten. 109 Der Landbesitz gewann sogar trotz der Gewerbeexpansion noch an Bedeutung, da zum einen die unterbäuerliche Bevölkerung weiterhin auf landwirtschaftlichen Grund- bzw. Nebenerwerb angewiesen war und zum anderen ein Teil des Landes zum Anbau von Hanf und Flachs, der Rohstoffe für die gewerbliche Produktion, genutzt wurde. Dennoch war es den Unterschichten gelungen, sich in gewissem Maße von den lokalen Ressourcen und denjenigen, die über sie verfügten, zu emanzipieren. Die demonstrative Darstellung dieser Unabhängigkeit in neuen, die eingefahrenen sozialen und demographischen Muster in Frage stellenden Verhaltensweisen, die für das Bielefelder Land ebenso überliefert sind wie für das Zürcher Oberland oder Vorarlberg, 110 führte freilich ähnlich wie das Problem der Migration in Lippe zu einer Annäherung von bäuerlicher Oberschicht und staatlichen Funktionsträgern, einer Allianz, die dann im 19. Jahrhundert für die Großbauern dauerhaft Früchte trug." 1 Eine Stärke des Göttinger Konzepts der Protoindustrialisierung, die es von konkurrierenden und kritisierenden Varianten 112 abhebt, besteht in der Integration von Landwirtschafts- und Gewerbegeschichte," 3 wie sie in anderem Kontext auch für das Siegerland sichtbar gemacht worden ist. Sie entfaltet sich freilich vor allem bei der Klärung der Voraussetzungen für die Akzeptanz und Verbreitung dieser Innovation und deutlich weniger bei der Analyse ihrer Rückwirkung auf die Gestalt der lokalen und regionalen Landwirtschaft. Letztere soll an dieser Stelle im Vordergrund stehen. 107

Frank, Dörfliche Gesellschaft, 101. Selbst der bauernfreundliche Pfarrer Mayer forderte in Hohenlohe die Verkleinerung großer Bauernhöfe; Karl Schümm, Pfarrer Johann Friedrich Mayer und die hohenlohesche Landwirtschaft im 18. Jahrhundert, in: Württembergisch Franken 1955, 138-167, hier 141. Inwieweit „Egalisierungen", die im gutsherrschaftlichen Bereich - allerdings nicht zugunsten der Landlosen - bereits um 1700 erfolgt waren (Gerhard Heitz, Über den Teilbetriebscharakter der gutsherrlichen Eigenwirtschaft Scharbow (Mecklenburg) im 17. und 18. Jahrhundert, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock (G) 8, 1958/59. 299-320), hier zum Vorbild dienten, bliebe noch zu erforschen.

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Brakensiek, Agrarreform, 117. Schlumbohm, Lebensläufe, 539ff., Mooser, Klassengesellschaft. 198ff. Fitz, Frühindustrialisierung, 187ff. Mooser, Klassengesellschaft, 351 ff. Frank, Dörfliche Gesellschaft, 356ff. Wolfgang Mager, Protoindustrialisierung und Protoindustrie. Vom Nutzen und Nachteil zweier Konzepte, in: Geschichte und Gesellschaft 14, 1988, 275-303. Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm, Sozialgeschichte in der Erweiterung - Proto-Industrialisierung in der Verengung? Demographie, Sozialstruktur, moderne Hausindustrie; die Zwischenbilanz der Proto-Industrialisierungs-Forschung, in: Geschichte und Gesellschaft 18, 1992, 70-87, 231-255, hier 72, 232ff.

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Bauern in der Agrargesellschaft des 18. Jahrhunderts Wenngleich es Nuancierungen zu beachten gilt, dominiert im Göttinger Modell die Vorstellung von einer „arbeitsteiligen Spezialisierung zwischen agrarisch und gewerblich verdichteten Regionen". 114 Sie konnte vor allem im südwestdeutsch-nordschweizerischen Grenzgebiet verifiziert und genauer analysiert werden. 115 Auch eine solche regionale Arbeitsteilung bedeutete freilich in der Regel nicht die völlige Lösung der protoindustriellen Produzenten von der Landwirtschaft. Allein extreme Verdienstmöglichkeiten, entweder sehr hohe - wie bei spezialisierten Webern des Zürcher Landgebietes 116 - oder sehr niedrige - wie bei den schlesischen WeberHäuslingen 117 - konnten eine solche Tendenz begünstigen. Letzteren ließen die niedrigen Löhne keine Zeit für landwirtschaftlichen Erwerb. Sie waren hilflos den Krisen des „alten Typs" wie den neuen Absatzkrisen ausgesetzt, 118 während der landwirtschaftliche Nebenerwerb etwa den Posamentierern der Baseler Landschaft einen langen Atem verlieh, und Übersterblichkeit als „hartes" Krisenphänomen bei ihnen erst dann sichtbar wurde, wenn - wie von 1768 bis 1772 - beide Krisen zusammenfielen und lange anhielten. 119 Auch die Ökonomie der eigentumslosen Unterschichten in den nordwestdeutschen Ackerbaugebieten hatte einen agrarischen Rückhalt, hier allerdings als Pachtlandwirtschaft. Sie wurde von Walter Achilles in seiner Modellrechnung für Südniedersachsen zunächst noch auf die gewerbliche Produktion bezogen. Die ressourcielle Grundsituation der Unterschichten - ein Überangebot an Arbeitskraft bei geringer Landausstattung - begünstigte bei vorherrschendem Ackerbau arbeitsintensive Kulturformen, in diesem Fall den Anbau und die Verarbeitung von Flachs. Achilles konnte zeigen, daß für einen Morgen Flachs allein zur Pflege und Ernte etwa 18 Arbeitstage nötig waren. Die Umwandlung der Ernte eines Morgens an grünem Flachs in spinnfähigen kostete zusätzlich vierzig Handarbeitstage und einen halben Gespannstag. 12 " Nicht allein die Erschließung auswärtiger Ressourcen durch Wanderarbeit und -handel oder protoindustrielle Textilherstellung, die Annahme neuer gesellschaftlicher Verhaltensweise, auch eine beträchtliche Intensivierung der Landwirtschaft, verstanden freilich als Steigerung der Flächen-, nicht der Arbeitsproduktivität, geht in dieser Sicht also auf das Konto der Unterschichten. Anders als bei Achilles stehen bei Mattmüller die Konsumerfordernisse der Heimgewerbetreibenden im Vordergrund. Zwar stellt er fest, daß die Heimarbeiter der Baseler Landschaft einen erheblichen Teil ihrer Nahrungsmittel z. T. von außerhalb zukaufen mußten - die interregionale Arbeitsteilung des Südwestens wird hier wie114 115

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Mooser, Klassengesellschaft, 57. Ulrich Pfister, Die Zürcher Fabriques. Protoindustrielles Wachstum vom 16. zum 18. Jahrhundert, Zürich 1992, 413ff; Albert Tanner, Spulen - Weben - Sticken. Die Industrialisierung in AppenzellAußerrhoden, Zürich 1982; Frank Göttmann, Getreidemarkt am Bodensee. Raum - Wirtschaft Politik - G e s e l l s c h a f t ( 1 6 5 0 - 1810), St. Katharinen 1991. Pfister, Zürcher Fabriques, 442ff. Kriedte/Medick/Schlumbohm, Industrialisierung vor der Industrialisierung, 68. Abel, Landwirtschaft, 256f. Markus Mattmüller, Die Landwirtschaft der schweizerischen Heimarbeiter im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 31, 1983, 41-56. Walter Achilles, Die Bedeutung des Flachsanbaus im südlichen Niedersachsen für Bauern und Angehörige der unterbäuerlichen Schicht im 18. und 19. Jahrhundert, in: Hermann Kellenbenz (Hg.), Agrarisches Nebengewerbe und Formen der Reagrarisierung im Spätmittelalter und 19./20. Jahrhundert, Stuttgart 1975, 109-122, hier 113, 115.

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Werner Troßbach der erkennbar zum anderen wird aber auch eine eigenartige Ausformung von Landwirtschaft sichtbar. Die „archaische" Seite bestand in umfangreichen, extensiv genutzten Allmend- und Waldgebieten, die Möglichkeiten für die Viehhaltung bereitstellten, die „moderne" in einer auffällig hohen Anzahl von „Einschlägen", die zum arbeitsintensiven Anbau von Kartoffeln und Futterpflanzen genutzt wurden. Die „soziale Logik" dieser Kombination bestand in der weitgehenden Emanzipation der Unterschichten von den Gespannshilfen der Bauern, 121 die in Viehwirtschaftsregionen freilich ohnehin geringere Bedeutung besaßen als in Getreideanbaugebieten. 1 2 2 Im Zürcher Oberland diente der Kartoffelanbau auch der Unterschichten nicht primär der Ernährung, sondern lieferte Produkte für Handel und Kälbermast. 123 Auch in der Grafschaft Ravensberg ging die Intensivierung, folgt man den Angaben von Schwerz, von Kleinbauern und Unterschichten aus. 125 Während Schweizer Historiker in den Realteilungs- und Viehwirtschaftsgebieten der Baseler und Zürcher Landschaft eine weitgehende Dissoziation von Bauern und Unterschichten nachweisen können - bis hin zum Dualismus von Bauern- und Heimarbeiterdörfern 125 stellt sich in den bäuerlich dominierten Anerben- und Getreideanbaugebieten Nordwestdeutschlands eine neue Frage, nämlich die nach der Einbeziehung der Bauern in die dargestellten Innovationen, zunächst in die protoindustrielle Produktion selbst. Der von Mooser analysierte Bielefelder Fall zeigt eine weitgehende Abstinenz von Vollbauern der gewerblichen Produktion gegenüber. Sie partizipierten zunächst nur als Vermieter und Verpächter an einer Konjunktur, die die Innovationsbereitschaft der Unterschichten in Gang gebracht hatte. 126 Schon ein Blick auf Südniedersachsen 127 oder Osnabrück 1 2 8 kann aber davor bewahren, die Bielefelder Konstellation zum Anlaß für eine negative Reflektion der agrarromantischen Ideen zu nehmen, im Bauern nunmehr wie zur Aufklärungszeit wiederum den „dikken Faulenzer", 129 in den Unterschichten dagegen den emsigen und vorwärtsdrängenden Teil der Gesellschaft zu erkennen. In Osnabrück waren oft die größten Landbesitzer auch die Lieferanten der größten Leinwandmengen, das bäuerliche „Haus" mit der Bäuerin als Dirigentin der Leinwandproduktion ebenso involviert wie die Unterschichten. Allerdings scheinen dort - anders als in der Grafschaft Tecklenburg, wo Bauern auch als Subunternehmer auftraten, 130 - keine protoindustriellen Ausbeutungsverhältnisse zwischen Bauern und Heuerlingen bestanden zu haben. Wenig konturiert ist allerdings die Stellung 121 122 123 124 125 126 127 128

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Mattmüller, Heimarbeiter, 54. Pfister, Zürcher Fabriques, 459. Ebd., 448. Mooser, Klassengesellschaft, 61. Mattmüller, Heimarbeiter, 52. Mooser, Klassengesellschaft, 82. Achilles, Flachsanbau, 117. Jürgen Schlumbohm, Der saisonale Rhythmus der Leinenproduktion im Osnabrücker Lande während des späten 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Erscheinungsbilder, Zusammenhänge und interregionaler Vergleich, in: Archiv für Sozialgeschichte 19, 1979, 263-298. S. die bei Frank, Dörfliche Gesellschaft zitierten Artikel in den „Lippischen Intelligenzblättern". Mooser, Klassengesellschaft, 282.

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Bauern in der Agrargesellschaft des 18. Jahrhunderts des Gesindes in der protoindustriellen Produktion. Seine Arbeitskraft scheint in Osnabrück dem bäuerlichen „Haus" auch in der Leinenproduktion zugute gekommen zu sein, 131 während sie in Südniedersachsen nach den Ergebnissen von Achilles offenbar unabhängiger eingesetzt werden konnte. 132 Eine besondere Variante der Integration bäuerlicher Gruppen in die Textilwirtschaft der Unterschichten hat Ulrich Pfister für die Zürcher Gemeinde Zollikon erkennen können. Dort bestand regelrecht eine Reziprozität zwischen den Schichten, und zwar dadurch, „daß die heimindustriell-agrarische Unterschicht junge Männer an die Bauernhaushalte abgibt, während sich erwachsene Bauerntöchter in Haushalten der dörflichen Mittelschicht verkostgelden." Die Bauerntöchter erhöhten „ihre Verdienstkapazität durch den Übertritt in unterbäuerliche Haushalte, in denen auch andere Frauen der Seidenweberei obliegen." 133 Auch für das Bielefelder Umland weicht das Bild eines politisch durch die neuen Produktions- und Verhaltensweisen provozierten und ökonomisch nur indirekt profitierenden Bauernstandes dann einer differenzierten Betrachtung, wenn die landwirtschaftliche Basis einbezogen wird. Nach Schwerz imitierten die Bauern die von den Ravensberger Heuerlingen eingeführten Innovationen insbesondere in der Wiesen* und Viehwirtschaft. Die zahlungsfähige Nachfrage auf Seiten der Heuerlinge inspirierte in diesem großbäuerlichen dominierten Gebiet zudem, wie Josef Mooser nachwies, weitere Intensivierungen, z. B. den Anbau von Hanf, Flachs und Kartoffeln. Die gegenüber dem Getreideanbau um ein Mehrfaches intensivere Bodenbearbeitung, die die Kultivierung dieser Pflanzen erfordert, führte wiederum zu einer leichten Steigerung der Getreideerträge. Mooser faßt zusammen: „Die Proto-Industrie hat in Minden-Ravensberg die bäuerliche Landwirtschaft in vielfältiger Weise gefördert", ohne jedoch die konservierenden Auswirkungen auf die Agrarverfassung zu vergessen. 134 Auch im Fürstentum Lippe hatte die von 1700 bis etwa 1850 andauernde protoindustrielle Phase „eine frühzeitige Modernisierung heraufgeführt, von der die Bauern und Gutsbesitzer das ganze 19. Jahrhundert hindurch zehrten." 135 Nicht allen Bauern in Deutschland bot ein expandierender innerer Markt solche Chancen wie in Ravensberg oder Lippe-Detmold. Der Eindruck der wirtschaftlichen Stagnation, der das Bild bestimmt, das die Aufklärung von der bäuerlichen Wirtschaft zeichnet, hat so in manchen Gebieten durchaus seine Entsprechungen in der Realität. Der Unterfinninger Landwirtschaft des frühen 18. Jahrhunderts boten sich wenig Ansatzpunkte zur Veränderung,136 in fränkischen Klosterherrschaften scheint sich noch am Ende des Jahrhunderts die Dreifelderwirtschaft ohne wesentliche Modifikationen erhalten zu haben, 137 und auch für die großen Höfe der Lüneburger 111 1,2 133

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Schlumbohm, Rhythmus. Achilles, Flachsanbau, 117. Ulrich Pfister, Die protoindustrielle Hauswirtschaft im Kanton Zürich des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Dietmar Petzina (Hg.), Zur Geschichte der Ökonomik der Privathaushalte, Berlin 1991, 71-108, hier 93. Mooser, Klassengesellschaft, 61. Brakensiek, Agrarreform, 319. Beck, Naturale Ökonomie, 192. Rüdiger Glaser/Winfried Schenk/Hans-Ulrich Hahn, Einflußgrößen auf die Anbau- und Ertragsverhältnisse des Ackerlandes im frühneuzeitlichen Mainfranken - Forschungsstand, Ergebnisse und offene Fragen, in: Mainfränkisches Jahrbuch 40, 1988, 43-69.

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Werner Troßbach Heide scheint der Getreidebau mit Plaggendüngung noch um 1800 der Weisheit letzter Schluß gewesen zu sein. 138 In Gebieten wie dem Sauerland, wo sich die Möglichkeit einer extensiven Waldwirtschaft lange erhalten hatte, verharrte die Landwirtschaft noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bei „archaischen" 139 Praktiken. Ein ganz anderes Bild ist jedoch für einige ostelbische Gebiete gezeichnet worden. Die Einführung der Koppelwirtschaft in Schleswig-Holstein, Mecklenburg und dem nördlichen Brandenburg stellt ohne Zweifel die wichtigste landwirtschaftliche Innovation in Norddeutschland vor dem eigentlichen Reformzeitalter dar. 140 Sie ist im Kontext des überregionalen Getreidehandels zu begreifen, in den diese Gebiete seit dem 16. Jahrhundert einbezogen waren. 141 Hanna Schissler hat diese und andere Auswirkungen der Kommerzialisierung einem umfassenden Stufenmodell zugrundegelegt, das die Abbildung der Transformation einer traditionell-feudalen in eine modern-kapitalistische Agrarproduktion zum Ziel hat. 142 Freilich liegt in diesem Modell die Initiative eher auf Seiten der Großgrundbesitzer, 143 was für die Einführung der Koppelwirtschaft auch tatsächlich zutrifft. 144 Bisweilen mußte diese Umstrukturierung sogar gegen bäuerlichen Widerstand durchgesetzt werden. Allerdings war sie auch mit - rechtlich fragwürdigen - Eingriffen in die ländliche Eigentumsordnung verbunden. 145 Der in einem solchen Modell implizit enthaltenen Versuchung, „gesellschaftlichen Fortschritt" - hier im Bereich der Agrarproduktion - allein auf dem Konto des Großgrundbesitzes zu verbuchen, ist die DDR-Historiographie, deren Ergebnisse partiell auch der Studie von Schissler zugrundeliegen, nicht gefolgt. Für einige Teile der Mark, 146 mit größerer Tiefenschärfe für die Uckermark 147 ist nachgewiesen worden, daß auch Bauern Marktchancen erkannten und nutzten, selbst wenn sie in gutsherrschaftliche Verhältnisse eingebunden waren. Die Studien von Hans Hein138

Hans-Jürgen Vogtherr, Die Geschichte des Brümmerhofes. Untersuchungen zur bäuerlichen Geschichte in der Lüneburger Heide, Uelzen 1986, 49ff. 139 Bemward Selter, Waldnutzung und ländliche Gesellschaft. Landwirtschaftlicher „Nährwald" und neue Holzökonomie im Sauerland des 18. und 19. Jahrhunderts, Paderborn 1995, 129. 140 Heinrich Dade, Die Entstehung der Mecklenburgischen Schlagwirthschaft, Göttingen 1891. S. auch Gertrud Schröder-Lembke, Die mecklenburgische Koppelwirtschaft, in: Dies., Studien zur Agrargeschichte, Stuttgart/New York 1971, 61-72. Sie bedeutet zum einen die Separation von Guts- und Bauemland (und damit ein im Vergleich mit dem restlichen Deutschland frühes Beispiel einer Verkoppelung, wenn auch meistens nur des Gutslandes), zum andern die Einführung einer durch den Anbau von Leguminosen intensivierten Feld-Gras-Wirtschaft. 141 Peter Kriedte, Spätfeudalismus und Handelskapital. Grundlinien der europäischen Wirtschaftsgeschichte vom 16. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1980, 85ff. 142 Hanna Schissler, Preußische Agrargesellschaft im Wandel. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse von 1763 bis 1847, Göttingen 1978, 35f. 143 Ebd., 81ff„ 89. 144 W i e A n m . 140. 145 Gerhard Heitz, Die sozialökonomische Struktur im ritterschaftlichen Bereich Mecklenburgs zu Beginn des 18. Jahrhunderts, eine Untersuchung für vier Ämter, in: Beiträge zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts, Berlin 1962, 1-57, hier 7f. 146 Hans-Heinrich Müller, Der agrarische Fortschritt und die Bauern in der Mark Brandenburg vor den Reformen von 1807, in: Hamisch/Heitz, Agrargeschichte, 186-212 (Erstveröffentlichung 1964). 14 ' Lieselott Enders, Produktivkraftentwicklung und Marktverhalten. Die Agrarproduzenten der Uckermark im 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1990/3. 81-105.

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Bauern in der Agrarge seilschaff des 18. Jahrhunderts rieh Müller 148 und Hartmut Harnisch haben sich demzufolge auf die in dieser Hinsicht unhistorische Entgegensetzung von feudalem Groß- und bäuerlichem Kleineigentum nicht eingelassen und stattdessen die Interdependenzen betont, ähnlich wie dies die Studien zu protoindustriellen Regionen für die einzelnen Schichten im Dorf tun. Wo größere Güter existierten, war die Interdependenz in der Arbeitsverfassung verankert, selbst wenn nicht Teil- sondern Eigenbetriebe vorherrschten. Daran konnte auch in anderer Hinsicht angeknüpft werden. Ein Domänenpächter in der Magdeburger Börde hatte z. B. noch vor 1750 den verunkrauteten Teil der Brache an Amtsuntertanen weiterverpachtet, die dort Kohl und Mohrrüben anbauten und damit die Bodennutzung intensivierten. 149 Er profitierte davon, daß ein Überschuß an Land auf seiner Seite und offenbar ein Überschuß an Arbeitskraft auf der Seite der Bauern bestand: komparative Kostenvorteile en miniature, vergleichbar dem System der Protoindustrie. Die Marktchancen boten sich in der Kurmark v.a. durch die Expansion einer Residenz- und Garnisonsstadt, die bäuerliche Innovationsbereitschaft links und rechts der Elbe stimulierte. Das Bild einer intensiven Landwirtschaft im städtischen Umfeld hat Wilhelm Abel - das Thünen'sche Modell vor Augen - schon für das Spätmittelalter gezeichnet, 150 von Hartmut Harnisch ist es detailliert für das Magdeburger Umland dargestellt worden. Die Stadt war - ähnlich wie in Thünens Modell dabei nicht nur Absatzmarkt, sondern vor allem auch Düngerlieferant. 151 Dennoch fehlt es in Deutschland an Forschungen, die die genaue Gestalt und evtl. auch die Evolution stadtnaher oder stadtbezogener Landwirtschaft deutlich machen können. Für das 16. Jahrhundert liegen allerdings für den thüringisch-sächsischen Raum Arbeiten vor, die einen hohen Grad an marktvermittelter Stadt-Land-Integration und eine damit verbundene Kommerzialisierung auch der kleinbäuerlichen Landwirtschaft nachweisen. Ausschlaggebend war auch hier ein spezialisierter Gemüsebau (Erfurt) und darüber hinaus die Kultivierung der Färberpflanze Waid. 152 Nicht auf eine „große Stadt" im Sinne Thünens, sondern auf ein ländliches „Industriegebiet" war die Getreideproduktion Oberschwabens in dem schon erwähnten Nordostschweizer-südwestdeutschen Komplementärgebiet ausgerichtet. Im oberschwäbischen Ackerbaugebiet, das Getreide in die „industrielle" Ostschweiz lieferte, spielte anders als östlich der Elbe Großgrundbesitz keine Rolle, wenngleich die im Südwesten ansässigen Prälaten als Naturalrentenbezieher auch, teilweise spekulativ, in den Getreidehandel eingriffen. Im wesentlichen schlugen die Folgen der Kommerzialisierung dort aber auf die Formen der bäuerlichen Getreideerzeugung durch. Sie wirkten sich u.a. in einer Veränderung der Anbauproportionen zugunsten 148

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Hans Heinrich Müller, Märkische Landwirtschaft vor den Agrarreformen von 1807. Entwicklungstendenzen des Ackerbaus in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Potsdam 1967. Hämisch, Produktivkräfte, 72. Abel, Landwirtschaft, 90. Harnisch, Magdeburger Börde, 78, 80. Manfred Straube, Zum überregionalen und regionalen Warenverkehr im thüringisch-sächsischen Raum, vornehmlich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Diss. B, Leipzig 1980, 3 Bde. (masch.); Wieland Held, Zwischen Marktplatz und Anger. Stadt-Land-Beziehungen im 16. Jahrhundert in Thüringen, Weimar 1988; U w e Schirmer, Das Amt Grimma 1485 bis 1548: demographische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse in einem kursächsischen Amt am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit, Beucha 1996.

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Werner Troßbach des Marktgetreides, hier vorwiegend des Dinkels, aus. Rebland wurde unter den Pflug genommen, Anbauflächen durch Rodungen vergrößert, z. T. zum Anbau von Rüben und Kartoffeln verwendet. „Die Brache wurde seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert vermehrt für den Anbau von Futterpflanzen und Rüben, aber auch von Korn genutzt.... Auch ... wurde damit begonnen, die Allmende als Acker- und Gartenboden unter den Mitgliedern der Gemeinde, darunter den Seidnern, aufzuteilen; schon früher waren in der Grafschaft Hohenzollern Allmendweiden zu Ackerland umgebrochen worden." 153 Stimulierend konnten auch entfernte Märkte wirken, wie Harnisch für die Altmark wie für die Börde zeigen konnte. Er brachte die Zunahme des Weizenanbaus in Elbnähe mit der steigenden englischen Nachfrage in Verbindung. 154 Auch andere Regionen konnten aus der überregionalen Nachfrage Vorteile ziehen. Dinkel aus den fränkischen Gäulandschaften gelangte immerhin bis nach Hamburg. 155 Weitgehend unbekannt sind noch die Wege, auf denen die Bauern Südniedersachsens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihre gesteigerte Produktion 156 transportierten und absetzten. 157 Ob es sich um den Ochsenhandel 158 und eine infolge der damit verbundenen Stallhaltung intensivierte Landwirtschaft wie z. B. in Hohenlohe 159 handelte, um den Anbau von Klee 1 6 0 und anderen Futterpflanzen 161 in württembergischen Dörfern oder Kleesamenzucht in den österreichischen Ländern und in der Pfalz, 162 um die relativ komplizierten Fruchtfolgen, die die Bauern selbst in Mecklenburg in die Dreifelderwirtschaft einbauten, 163 bei näherem Hinsehen bietet auch die bäuerliche Landwirtschaft in vielen deutschen Territorien ein Bild, das sich von dem von man153 154

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Göttmann, Bodensee, 335f. Hartmut Harnisch, Peasants and Markets. The Background to the Agrarian Reformers in Feudal Prussia East of Elbe, in: Robert J. Evans/William R. Lee (Hg.), The German Peasantry. Conflict and Community in Rural Society from the Eighteenth to the Twentieth Centuries, London/Sidney 1986, 37-70. Schubert, Arme Leute, 48. Walter Achilles, Die Lage der hannoverschen Landbevölkerung im späten 18. Jahrhundert, Hildesheim 1982, 133ff. Für die landesherrlichen Güter dagegen: Gudrun Maurer, Zum Getreideabsatz südniedersächsischer Amtsgüter an Hafenplätze an der Weser und an den fürstlichen Harzbergbau im 17. und 18. Jahrhundert, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 67, 1995, 237-265. Allgemein: Heinz Wiese/Johann Bölts, Rinderhandel und Rinderhaltung im nordwesteuropäischen Küstengebiet vom 15. bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1966; Ekkehard Westermann (Hg.), Internationaler Ochsenhandel (1350 - 1750). Akten des 7 , h International Economic History Congress, Stuttgart 1979; Ders., Zur Erforschung des nordmitteleuropäischen Ochsenhandels der frühen Neuzeit (1480 - 1620) aus hessischer Sicht, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 23, 1975, 1-31; Manfred Straube, Über den Handel mit Agrarprodukten im thüringisch-sächsischen Raum in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Magdeburger Beiträge zur Stadtgeschichte, H. 1, Magdeburg 1977, 61-92. Schümm, Mayer. Zur Vorgeschichte: Thomas Robisheaux, Rural Society and the Search for Order in Early Modern Germany, New York 1989. Maisch, Unterhalt, 141. Sabean, Neckarhausen, 448ff. Gertrud Schröder-Lembke, Die Einführung des Kleebaus in Deutschland vor dem Auftreten Schubarts von dem Kleefelde, in: Dies., Studien, 1 3 3 - 1 8 1 , hier 139ff„ 158. Friedrich Mager, Geschichte des Bauerntums und der Bodenkultur im Lande Mecklenburg, Berlin 1955, 263.

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Bauern in der Agrargesei!schaff des 18. Jahrhunderts chen Aufklärern gezeichneten Grau in Grau eines sturen Getreidebaus in dreifeldriger Rotation abhebt. Sucht man nach einer übergreifenden Charakteristik dafür, so bietet sich neben dem Begriff der Spezialisierung164 auch der nur scheinbar entgegengesetzte der Diversifizierung an. Beides wurde am ehesten sichtbar in der Bodennutzung, und zwar nicht allein in Stadtnähe, sondern überall dort, wo arbeitsintensive Kulturen aus verschiedenen Gründen Platz greifen konnten. Im Fürstentum Lippe-Detmold waren 1772 „14.0 v. H. des Bodens mit Roggen bestellt, 17.7 v. H. mit Gerste, 13.5 v. H. mit Rauhfutter (Wicken, Hülsenfrüchten), 17.8 v.H. mit Weizen oder einem Roggen-Wicken-Gemisch und 22.2 v. H. mit Hafer oder Lein. Nur 14.8 v. H. waren der Brache unterworfen, die zum Teil jedoch nicht mehr reine Schwarzbrache war, sondern im Herbst mit Futterrüben bebaut wurde." 165 Im märkischen Alt-Schöneberg beobachtete der Statistiker Büsching 1775 den Anbau von Weißkohl, „Kartoffeln, Stabel-Erbsen, weiße(n) Rüben, Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Feld-Erbsen, Linsen, Buchweizen, Hirse und Flachs." 166 Selbst im Rahmen einer Zweifelderwirtschaft konnte sich eine solche Diversifizierung durchsetzen, wie ein Cottbuser Domänenpächter im gleichen Zeitraum mitteilte. 167 Sogar in einem kargen Landstrich wie in den Bayreuther Bergen sah ein Reisender Felder „allenthalben mit Kartoffeln und Kohl durchmischet, und hie und da mit Flachs ... alles mit den engen zwei Fuß breiten Rücken, wie man sie so häufig in Franken auf den Feldern sieht." 168 Intensität und Diversität des Anbaus verführten selbst einen exzellenten Fachmann wie den Engländer Arthur Young dazu, im Elsaß einen einzigen großen Garten zu imaginieren.169 Mit ähnlichen Worten wird auch die Landwirtschaft im Genfer Umland beschrieben.170 Freilich liegt ein befriedigender Überblick, der Phasen und Regionen von Wandel bzw. Beharrung deutlicher hervortreten läßt, noch nicht vor, 171 und auch an Studien, die die Regionen des Wandels vergleichend erfassen und mit den gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen korrelieren können, herrscht noch weithin Mangel. 172 Mikrostudien könnten dann die Einsichten in die durch die verschiedenen Varianten des Wandels - aber auch der Beharrung - ausgelösten gesellschaftlichen Mechanismen vertiefen, besonders aber die Frage klären, inwieweit die verschiedenen ländlichen Schichten und Gruppen den Wandel prägten bzw. durch ihn geprägt wurden. 164 165 166 167 168 169 170

171 172

Sabean, Schwert, 21 f. Brakensiek, Agrarreform, 311. Fruchtfolgebeispiele aus der Grafschaft Mark: Ebd., 373. Zitiert nach Müller, Agrarischer Fortschritt, 201. Ebd., 208. Zitiert nach Schubert, Arme Leute, 51 f. Jean-Michel Boehler, Die „revolution agricole" im Elsaß im Laufe des 18. Jahrhunderts: Fabel oder Tatsache, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 31, 1983, 27-40, hier 32. Dominique Zumkeller, Le paysan et la terre. Agriculture et structure agraire à Genève au XVIII e siècle, Genève 1992, 123ff., 196ff. Für Nordwestdeutschland leistet dies - freilich auf eine besondere Fragestellung konzentriert - am ehesten die Arbeit von Brakensiek. Harnisch, Magdeburger Börde, 87 weist z. B. darauf hin, daß die in der Mark Brandenburg als Leitfrucht des Fortschritts erkennbaren Hackfrüchte in der gleichfalls expandierenden Landwirtschaft der Börde nur geringen Umfang einnahmen. Es liegt nahe, dies mit der Anzahl der landarmen Bewohner zu korrelieren.

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Werner Troßbach Immerhin läßt sich schon jetzt erkennen, daß in bestimmten Situationen und Konstellationen, die Clemens Zimmermann 173 jüngst systematisiert aufgeführt hat, nicht allein die Unterschichten, sondern auch die Bauern adäquate Antworten auf Chancen und Anforderungen zu geben in der Lage waren. Allmendeteilungen 174 können nicht nur im Resultat als Gradmesser für landwirtschaftliche Veränderungen genommen werden, oft gestattet auch der Prozeß des Zustandekommens einen Einblick in die Aktivitäten der einzelnen Schichten. 175 Auch dabei wird deutlich, daß nicht immer die Unterschichten der nach Veränderung strebende Teil waren. Dies gilt auch dann, wenn die Perspektive der alltäglichen wirtschaftlichen Verrichtungen gewählt wird. War bisher vor allem die Einwirkung der Unterschichten auf die Bauern betrachtet worden, so dürfen darüber auch die umgekehrten Einflüsse in diesem trotz des Machtgefälles auf einen gewissen Grad an Gegenseitigkeit 176 angewiesenen Verhältnis nicht vergessen werden. Als ökonomisches Verbindungsglied erwähnt nicht allein Mooser zu Recht die Gespannshilfen. 177 Daß im 18. Jahrhundert in manchen Gebieten dagegen die Kuhanspannung stärker aufkam, 178 könnte als ein bisher im Vergleich zu Allmendeteilungen und Verkoppelungen 179 wenig thematisierter Schritt in Richtung „Agrarindividualismus" verstanden werden. In den Realteilungsgebieten Südwestdeutschlands scheint die Kuhanspannung im 18. Jahrhundert allerdings eher den Übergang zu eher schichtenimmanenten Formen der Kooperation 180 zu bedeuten. Ein anderes Bindeglied zwischen Bauern und Unterschichten ist weniger deutlich als die Anspannung erfaßt worden. Die mit Kartoffeln, noch mehr die mit Flachs be173

Clemens Zimmermann, Bäuerlicher Traditionalismus und agrarischer Fortschritt in der frühen Neuzeit, in: Jan Peters (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften, München 1995, 219-238. 174 Zimmermann, Entwicklungshemmnisse. Neben Fallstudien zur Grafschaft Ravensberg enthält die Arbeit von Brakensiek, Agrarreform, einen vorzüglichen Überblick über die Markenteilungen in Nordwestdeutschland. Einen größeren Raum umfaßt der „interregionale Vergleich" in der Arbeit von Rainer Praß, Reformprogramm und bäuerliche Interessen. Die Auflösung der traditionellen Gemeindeökonomie im südlichen Niedersachsen, 1750 - 1883, Göttingen 1997, 133 ff. Sein Fazit: „In den deutschen Territorien gab es also schon zahlreiche Ansätze zu Gemeinheitsteilungen, die in Intensität und zeitlichem Verlauf stark voneinander abwichen." ( 139) Daneben weist Praß darauf hin, daß partielle (und auch vorübergehende) Gemeinheitsteilungen auch schon früher zu beobachten sind (129). 175 Exemplarisch: Rainer Praß, Die beabsichtigte Aufteilung der Bovender Pfingstanger, in: Denkhorizonte und Handlungsspielräume. Historische Studien für Rudolf Vierhaus zum 70. Geburtstag, Göttingen o. J. 169-195; Grees, Ländliche Unterschichten, 30. 32, 147. Ein ganzes Tableau der Möglichkeiten sozialer Konstellationen bietet Jean-Michel Boehler, Une société rurale en milieu rhénan. La paysannerie de la plaine d'Alsace (1648 - 1789), Strasbourg 1993, Bd. 2, 1275ff. 176 Sozialhistorisch wäre hier die Bedeutung schichtenübergreifender Verwandtschaftsverhältnisse zu gewichten (Mitterauer. Lebensformen, 337; s. auch die Analyse von Vogtherr, Brümmerhof)177 Mooser, Gleichheit und Ungleichheit, 240. Beck, Unterfinning, 343 macht zu Recht darauf aufmerksam, daß diese Art der Kooperation auch auf Seiten der Unterschichten eine Mindestausstattung mit Land voraussetzte. Die „ganz Armen" konnten dadurch nicht integriert werden. 178 Ebd.; Mattmüller, Heimarbeiter, 52; Maisch, Unterhalt, 110 verweist auf eine sich stetig verbessernde Ausstattung der Haushalte mit Pflügen. 179 Verkoppelungen waren im 18. Jahrhundert vornehmlich im Rahmen der Gutswirtschaft (s.o. Anm. 140) vorgenommen worden. Bäuerliche Initiativen wie im Allgäu und z. T. in Schleswig-Holstein waren „eine Ausnahme" (Praß, Auflösung, 140). 180 David Sabean, Social Background to Vetterleswirtschaft, in: Rudolf Vierhaus und Mitarbeiter, Frühe Neuzeit - Frühe Moderne. Göttingen 1992, 113-132.

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Bauern in der Agrargesellschaft

des 18. Jahrhunderts

stellten Äcker verlangten vermehrt nach Dung, 181 der schwerlich allein in der Wirtschaft der Heuerlinge - anders als bei den über Allmendebesitz verfügenden und von bäuerlichen Einflüssen emanzipierten Baseler Heimarbeitern - anfallen konnte. Wie die bäuerliche Wirtschaft durch den Dung auch jenseits von protoindustriellen Verhältnissen in die Ökonomie der Unterschichten hineingezogen werden konnte, hat Jean Michel Boehler jüngst anhand des Anbaus von Tabak und Färberröte im Elsaß nachgezeichnet. Beide Kulturen wurden in einer Art Vertragslandwirtschaft angebaut, in die von städtischer Seite Vorschüsse flössen. Den Dung lieferten die Bauern, die Arbeitskräfte die Unterschichten, egal ob die Äcker der Bauern, der Tagelöhner oder solche bebaut wurden, die die Tagelöhner von den Bauern für ihre Arbeit auf deren Feldern pachten konnten. Im Elsaß stellte diese intensive vertragslandwirtschaftliche Kooperation teilweise eine Alternative zur protoindustriellen Durchdringung dar. 182 Auf eine solche Möglichkeit haben bereits die Göttinger Autoren aufmerksam gemacht. 183 Spezialisierung und Diversifizierung wurden als Folgen der Kommerzialisierung nicht nur im Elsaß und einigen hier erwähnten deutschen Territorien sichtbar, sondern auch in Gebieten des französischen Kernlandes, und sind von französischen Historikern früher als in Deutschland einer systematischen Analyse unterzogen worden. In Frankreich lehnt man es heute aber mehrheitlich ab, den Begriff der „Agrarrevolution" für solche Phänomene zu verwenden. 184 Tatsächlich waren auch in den meisten deutschen Intensivgebieten im späten 18. Jahrhundert diejenigen Prozesse nur schwach entwickelt, die allgemein zur Kennzeichnung der „Agrarrevolution" angeführt werden. Allein aus der schon erwähnten Grafschaft Mark sind um 1820 Getreideerträge überliefert, die zwischen dem Zwölffachen (Roggen, Wintergerste) und dem Siebzehnfachen (Sommergerste) lagen und damit Werte erreichten, die andernorts erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts erzielt wurden. Der Kleebau fand um 1740 „Eingang in die Region" und war um 1810 bereits „überall gebräuchlich", gleichfalls eine intensive Düngung, „die auf Stallmist, Kompost und Mergelung basiert". 185 In der Magdeburger Börde, in der Mark Brandenburg, am Bodensee und im Elsaß breitete sich allerdings auch im späten 18. Jahrhundert weder der Kleebau in erheblichem Maße aus, noch gelang es, die Getreideerträge spürbar zu steigern 186 und auf diese Weise den Zusammenhang zwischen Bevölkerungsentwicklung und Landwirtschaft umzukehren. Auf der einen Seite könnte durch eine solche Klarstellung das Bild wiedererstehen, das Veränderungen in der agrarischen Produktion primär als Folge der liberalen Agrarreformen und der Anleitungen „von oben" darstellt. 181

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Achilles, Flachsanbau, 113; Ders., Die Intensivierung der Landwirtschaft durch den Kartoffelbau von 1750 bis 1914. Die Bedeutung des Prozesses für Erzeuger und Verbraucher, in: Helmut Ottenjann/Karl-Heinz Ziessow (Hg.), Die Kartoffel. Geschichte und Zukunft einer Kulturpflanze, Cloppenburg 1992, 205-235, hier 216f. Boehler, Alsace, Bd. 1, 775ff. Kriedte/Medick/Schlumbohm, Industrialisierung vor der Industrialisierung, 68ff. Michel Morineau, Les faux-semblants d'un démarrage économique: Agriculture et démographie en France au XVIII e siècle, Paris 1971. Brakensiek, Agrarreform, 369f. Auch in der Börde gelang dies nur zögernd, und dann nur für die Exportfrucht Weizen; Harnisch, Magdeburger Börde, 91, 124.

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Werner Troßbach Dem wäre allgemein entgegenzuhalten, daß zwischen 1750 und 1815 nicht allein der Agrarbereich Objekt der Reform „von oben" war. Vielleicht war das Scheitern solcher Versuche dort aber stärker ausgeprägt als in anderen Sektoren. Andererseits sollten auch die Erfolge dieser Bestrebungen nicht ganz vergessen werden. 187 Die Agrargeschichte von Walter Achilles enthält jedoch ein Argument, das den Alleinvertretungsanspruch der Vorstellung vom „extern induzierten Wandel" 188 quasi retrospektiv entkräftet. Er hat gezeigt, daß trotz aller Propagierung „von oben" die für die „Agrarrevolution" kennzeichnenden Veränderungen noch bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in den deutschen Gebieten, die traditionell als den französischen Verhältnissen überlegen dargestellt wurden, nur inselartig Platz griffen und für einen Großteil der deutschen Landwirtschaft erst nach der Reichsgründung mit der forcierten Industrialisierung einsetzten. Für eine Agrarrevolution ist in dieser Konzeption wenig Platz. 189 Umgekehrt kann dieses Ergebnis - über die Frage der „Agrarrevolution" hinaus zu einer Dekomposition weiterer agrargeschichtlicher Grundbegriffe und vielleicht auch Periodisierungen ermutigen. Gerade eine kategoriale Unterscheidung zwischen der „Agrarrevolution" und den Diversifizierungsprozessen des 18. Jahrhunderts wäre dafür ein Ansatzpunkt. Die „Agrarrevolution" mit ihrer Konnotation des „extern induzierten Wandels" erschiene vor diesem Hintergrund, von teleologischen Elementen entlastet, für eine ganze historische Epoche - zwischen 1700 und 1870 nur als eine unter verschiedenen Möglichkeiten des Wandels. Mindestens die angesprochenen Spezialisierungs- und Diversifizierungsprozesse des 18. und frühen 19. Jahrhunderts 190 wären als weiterer Typ zu berücksichtigen. Freilich wäre auch nach dem Zusammenhang beider Varianten zu fragen. Jedenfalls würde auf diese Weise der Weg frei für eine umfassende Analyse der Voraussetzungen und Folgen des Wandels - aber auch der (realen oder vermeintlichen) Kräfte der Beharrung. Auch hinsichtlich der Triebkräfte der Entwicklung wären die Akzente umzuschichten. Bei der Einführung der Kartoffel z. B. wird die Kultivierung in den Gärten oft als eine Art Prolog 191 für die „eigentliche" Innovation behandelt. Walter Achilles hat statt dessen darauf verwiesen, daß die Kartoffeln oft - aus Gründen, die hier nicht ausführlich referiert werden sollen - auch auf den Feldern mit dem Spaten 187 188

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Straub, Badisches Oberland, 118ff. Den Begriff nach: Andreas Ineichen, Konservative Bauern im erstarrten Agrarsystem? Zum Wandel der Landwirtschaft im Kanton Luzern in der Frühen Neuzeit, in: Albert Tanner/Anne-Lise HeadKönig (Hg.), Die Bauern in der Geschichte der Schweiz. Les paysans dans l'histoire de la Suisse, Zürich 1992, 53-69, hier 57. Ausführlich die Darstellung der Zusammenhänge: Andreas Ineichen, Innovative Bauern. Einhegungen, Bewässerung und Waldteilungen im Kanton Luzem im 16. und 17. Jahrhundert, Luzem/Stuttgart 1996. S. auch den Beitrag von Andreas Suter in diesem Band. Achilles, Agrargeschichte, 197ff„ 206, 222. Ineichen, Innovative Bauern, kennzeichnet die von ihm untersuchten Phänomene des 16. und 17. Jahrhunderts im Kanton Luzem in Anlehnung an Pfister, Zürcher Fabriques, 501. Charakterisierung der Protoindustrie auch für die Landwirtschaft als „extensives Wirtschaftswachstum". Die hier hervorgehobenen Diversifizierungs- und Spezialisierungsvorgänge des 18. Jahrhunderts enthalten dagegen eher - wie auch Dipper in: Ders.,Übergangsgesellschaft, 71 betont - Elemente der Intensivierung. Vielleicht wären sie „zwischen" extensiven Veränderungen und der „Agrarrevolution" als dritte Variante einzuordnen. S. z. B. Ulf Wendler, Der Kartoffelanbau in der Lüneburger Heide bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Ottenjann/Ziessow, Die Kartoffel, 163-185, hier 168f.

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Bauern in der Agrargesellschaft des 18. Jahrhunderts kultiviert wurden. 192 Eine ausgesprochene Spatenkultur war auch die in der Magdeburger Börde seit der Jahrhundertwende angebaute Zichorie. 193 Die referierten Eindrücke vom Gartencharakter der Landwirtschaft in verschiedenen Regionen erhalten damit eine genauere Absicherung, die Mut zur Frage macht, inwieweit die FeldGarten-Grenze im interessierenden Zeitraum überhaupt so hermetisch verstanden werden kann wie im traditionellen Dreizelgensystem oder in der gefestigten Reformlandwirtschaft des frühen 20. Jahrhunderts. Markus Mattmüller hat zusätzlich die gesellschaftsgeschichtliche Implikation einer Aufspaltung des Innovationsprozesses in eine Garten- und eine Feldphase benannt. Initiativen von Frauen, die im wesentlichen für die Gartengestaltung zuständig waren, wurden bislang in die „Vorgeschichte" verbannt.194 Statt dessen sollte - so Mattmüller im Anschluß an eine französische Arbeit - der Garten als Terrain der Innovation vom Rande ins Zentrum der Analyse rücken. 195 Die Integration anthropologischer Kategorien in die „eigentliche" Agrargeschichte kann somit nicht nur für die Betrachtung der Folgen, 196 sondern auch hinsichtlich der Voraussetzungen von Wandlungsprozessen zu einer Erweiterung des Blickfeldes führen. Unbestritten kommt den Forschungen zur Marktintegration allgemein und zur Protoindustrialisierung im besonderen das Verdienst zu, zuerst die Augen für die inhärenten Potentiale der ländlichen Gesellschaft geöffnet zu haben. Freilich ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß der Markt als allmächtiger Demiurg der modernen Gesellschaft nun die Stelle einnimmt, die einst der Staat besetzt hielt. Einer solchen ausschließlichen Konzentration auf die modernisierenden Potenzen von Märkten entginge auch, daß sich bisweilen etablierte Marktverhältnisse - insbesondere in Getreideexportgebieten - auch strukturkonservierend auswirken konnten. Im Bodenseegebiet mit seiner charakteristischen regionalen Arbeitsteilung zwischen der gewerblichen Ostschweiz und dem landwirtschaftlichen Oberschwaben kam es erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu Veränderungen in Agrarstruktur und Anbauverhältnissen.197 Zuvor scheint die gute Getreidekonjunktur eher einen Beitrag zu sozialer Ungleichheit, demographischer Stagnation und damit auch zur „Versteinerung" der Anbauverhältnisse198 geleistet zu haben. Der Kochersberg, die traditionelle Kornkammer des Elsaß, öffnete sich neuen Anbauformen gleichfalls nur bedingt. Auch dort hatte eine schon im 16. Jahrhundert einsetzende Getreidekonjunk192 193 194

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Achilles, Kartoffelbau, 210 erklärt dies damit, daß die „Grabkultur" gegenüber der „Pflugkultur" durch den größeren Tiefgang höhere Erträge brachte. Harnisch, Magdeburger Börde, 104. Markus Mattmüller, Die Dreizeigen Wirtschaft - eine elastische Ordnung, in: Ansichten von der rechten Ordnung (FS Beatrix Mesmer), Bern/Stuttgart 1991, 243-252. So auch Heide Inhetveen, Die Landfrau und ihr Garten. Zur Soziologie der Hortikultur, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 42, 1994, 41-58. Sabean, Neckarhausen; Ders., Intensivierung der Arbeit und Alltagserfahrung auf dem Lande - ein Beispiel aus Württemberg, in: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium 6, 1977, 148-152. Hans-Joachim Schuster, Agrarverfassung, Wirtschaft und Sozialstruktur der nellenburgischen Kamerallandschaft im 17., 18. und frühen 19. Jahrhundert, Konstanz 1988, 206ff. F. K. Barth, Der baaremer Bauer im letzten Jahrhundert vor der Mediatisierung des Fürstentums Fürstenberg, 1700 - 1806, in: Schriften des Vereins für Geschichte und Naturgeschichte der Baar 17. 1928, 13-98, hier 54, 68f. Peter Scherer, Reichsstift und Gotteshaus Weingarten im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1969,40.

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Werner Troßbach tur gesellschaftliche Spaltungen begünstigt und im 18. Jahrhundert dann eine saturierte, eher an Statusbewahrung als an Expansion interessierte Großbauemschicht hervorgebracht. 199 Im 15. und 16. Jahrhundert hingegen stand der Kochersberg im Elsaß an der Spitze des landwirtschaftlichen Fortschritts - französische Historiker sprechen da von einer „protorevolution agricole". 200 Vielleicht könnte man sagen, die Reformenergien seien durch diese früh einsetzenden Veränderungen 201 aufgebraucht worden. In jedem Fall könnte die Fixierung auf Marktverhältnisse durch eine stärkere Betonung der „Angebotsseite" balanciert werden, insbesondere durch die Betonung des Erfindungsreichtums, mit der die Unterschichten ihre reichlich vorhandene Arbeitskraft 202 einsetzten. Auch politische Faktoren dürfen nicht vollends vernachlässigt werden, wobei freilich die Staatsaktivität nicht „für sich", sondern im Kontext ökonomischer Entwicklungen zu analysieren ist. Durchbrach sie - auf die Forderungen bestimmter Gesellschaftskräfte reagierend - z. B. in Form von Allmendeaufteilungen sog. bottle-necks wie im Zürcher Landgebiet 203 oder in der Magdeburger Börde, 204 war ihren Bemühungen Erfolg beschieden. 205 Anders war es, wenn die Reformen nur die Positionen dörflicher Minderheiten unterstützten und auch im größeren ökonomischen Kontext in der Region als aufgesetzt erscheinen mußten. 206 Eine Analyse des Verhältnisses von „Staat" und „Wandel" kann auch die Resultate bäuerlichen Widerstandes 207 und anderer Protestformen 208 nicht aussparen. Für den Wandel von Produktionsstrukturen wären zugleich die schon in anderem Kontext erwähnten Migrationen einzubeziehen. Es ist schon darauf hingewiesen worden, wie Wanderarbeit Standortnachteile ausgleichen und ein auf Spezialisierung beruhender Wanderhandel sich seine Kunden oft über Hunderte von Kilome199 200

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Boehler, Alsace, Bd. 1, 748ff. Ebd., 964. Der Begriff ist mit Ineichens „extensivem Wirtschaftswachstum" kompatibel (Ineichen, Innovative Bauern, 190). Auch die Ende des 18. Jahrhunderts als unbeweglich geschilderte Baar war kein Hort der Getreidemonokultur. Als „Eigentümlichkeit der Baar" galt der „gemischte Fruchtbau" im Sommerfeld. „Es wurden nämlich ungefähr vier Teile Gerste, zwei Teile Erbsen, ein Teil Bohnen, ein Teil Linsen, ein halber Teil Wicken und ein halber Teil Hafer untereinandergemengt und ausgesät." Vielleicht war diese Praktik, die im späten 18. Jahrhundert für „sehr alt" gehalten wurde, gleichfalls ein Resultat der Marktexpansion des 16. Jahrhunderts. Für diese Annahme spräche der Gebrauch: Während das Wintergetreide in den Verkauf ging, wurde aus dem Gemisch „das Hausbrot des baaremer Bauern gebacken"; Barth, baaremer Bauer, 56f. Boehler, Alsace; Maisch, Unterhalt, 131f. Pfister, Zürcher Fabriques, 453ff. Harnisch, Magdeburger Börde, 76ff. Insofern wäre Dippers „gewagte Behauptung" zu relativieren: „Was die Obrigkeiten unternahmen, geschah entweder ohne direkten Bezug auf diese Dynamik oder verfehlte seine Wirkung"; Übergangsgesellschaft, 87. Zimmermann, Reformen. Winfried Schulze, „Geben Aufruhr und Aufstand Anlaß zu heilsamen Gesetzen?" Beobachtungen über die Wirkungen bäuerlichen Widerstands in der Frühen Neuzeit, in: Ders. (Hg ), Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 1983, 261-285; Lieselott Enders, Bauern und Feudalherrschaft der Uckermark im absolutistischen Staat, in: Jahrbuch für die Geschichte des Feudalismus 13, 1989, 247-283. Dipper, Übergangsgesellschaft, 84f. S. auch: Manfred Gailus/Heinrich Volkmann (Hg.), Der Kampf um das tägliche Brot. Nahrungsmangel, Versorgungspolitik und Protest 1770 - 1990, Opladen 1994.

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Bauern in der Agrargesellschaft des 18. Jahrhunderts tern selbst suchte. Nun wären die Rückwirkungen der Mobilität zu bedenken. Bekannt ist, daß die berühmten lippischen Ziegler des 19. Jahrhunderts nach 1850 als Häuslebauer auf den Bodenmarkt drängten, ihre Rolle als Konsumenten einheimischer Erzeugnisse ist dagegen in der Literatur unberücksichtigt geblieben. Auch für ihre Vorgänger, die lippischen Wanderarbeiter des 18. Jahrhunderts, 210 ist diese Seite längst nicht so gut erforscht wie für die protoindustriellen Produzenten. Während die Auswirkungen der saisonalen Migration in Gestalt von Wanderhandel und -arbeit erst in Ansätzen einer genaueren Analyse zugänglich geworden ist, sind die Anregungen, die die Immigranten des 17. Jahrhunderts mitbrachten, schon länger bekannt. Genauer gewürdigt worden sind auch sie jedoch nur in Einzelfällen. Die „fortschrittlichste" Landwirtschaft wurde nicht nur im Elsaß von eingewanderten Mennoniten 211 betrieben. Jüngst ist die einträgliche Milchwirtschaft der Nachkommen niederländischer Einwanderer im Havelland analysiert worden. 212 Wenn die Mechanismen auch noch vielfach im Dunkel liegen, geht man doch davon aus, daß die „fortschrittlichen" Praktiken dieser Kolonien auch auf das „Umland" ausstrahlten. Allgemein ist unbestritten, daß die Erosion der Gutsherrschaft in Brandenburg kaum ohne das Vorbild der individualistischen Wirtschaft zu denken war, die in den Immigrantensiedlungen lange vor den Agrarreformen betrieben werden konnte. 213 Die agrarischen Innovationen, die Wanderhändler und -handwerker des Südwestens in ihre Gemeinden zurückbrachten, sind dagegen höchstens anekdotisch bekannt. 214 In dieser Hinsicht könnte von der Handwerksgeschichte gelernt werden, die Wanderungen als Mittel des „Technologietransfers" identifiziert hat. 215 Auch Umfang und geographische Verteilung der saisonalen Migrationen 216 bedürfen noch genauerer - auch quantifizierender - Studien. Hinsichtlich der epochalen Migrationsvorgänge des 17., 18. und 19. Jahrhunderts kann hingegen auf genaue Zahlen zurückgegriffen werden. 217 Vom Agrarfundamentalismus seiner Zeit wenig beeindruckt, schätzte der Statistiker Beheim-Schwarzbach 1874, daß im Jahre 1786 „unter den 683.145 Bewohnern, die die Kurmark damals zählte, ungefähr der dritte Teil der Einwohnerschaft dem Colonistenstamme zu Gute zu rechnen" sei, wobei nicht die hochmittelalterliche Ostsiedlung, sondern die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg den Bezug bildete. 218 In der Prignitz z. B. siedelten sich nicht nur Meck-

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Brakensiek, Agrarreform, 319. Frank, Dörfliche Gesellschaft, 117ff. 211 Boehler, Alsace. Bd. 1, 748ff. 2,2 Jan Peters/Hartmut Hamisch/Lieselott Enders, Märkische Bauerntagebücher des 18. und 19. Jahrhunderts, Weimar 1989. 21 ' Müller, Märkische Landwirtschaft, 146. Klaus Vetter, Die Hugenotten im System der ostelbischen Gutsherrschaft in der Mark Brandenburg, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Der Exodus der Hugenotten. Die Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 als europäisches Ereignis, Köln/Wien 1985, 141-154. 214 Fitz, Friihindustrialisierung, 28f.; Boehler, Alsace, Bd. 1, 751 f. Pfister, Zürcher Fabriques, 447. 215 Reinhold Reith, Arbeitsmigration und Technologietransfer in der Habsburgermonarchie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Blätter für Technikgeschichte 56, 1994, 9-33. 216 Wie Anm. 76. 217 Grundlegend: Wolfgang von Hippel, Auswanderung aus Süddeutschland. Studien zur württembergischen Auswanderung und Auswanderungspolitik im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1984; Hans Ulrich Pfister, Die Auswanderung aus dem Knonauer Amt 1648 - 1750, Zürich 1987. 218 Rainer Mühle, Zum historischen Hintergrund von ostelbischen Migrationsbewegungen im 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1992/2, 29-61. S. auch: Axel Lubinski, Zur 210

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Werner Troßbach lenburger und Sachsen, sondern auch Pfälzer, Hannoveraner, Wallonen, Schweizer und die schon genannten Niederländer an. Die Gebiete am Oberrhein, in der Pfalz, in Württemberg und in Franken waren schon unmittelbar nach 1648 aus der Schweiz und den anderen Alpenländem, insbesondere Tirol, wiederbesiedelt worden, 219 und einen Teil der Neuankömmlinge zog es weiter in die schon erwähnte Prignitz. Aber auch diese bildete oft nur die Zwischenstation auf dem weiteren Weg nach Polen, Litauen, Rußland oder auch Brasilien. 220 In noch viel größerem Umfang als dies für das Hochstift Osnabrück in der Auswanderungswelle der 1830er Jahre der Fall war, 221 befanden sich unter den Migranten auch solche Schichten, die über eine „Ackemahrung" verfügten. Die brandenburgischen Amtleute waren zwar von dieser unsteten Lebensweise nicht wenig irritiert, sie hielten die Migranten aber deswegen nicht für die schlechteren Bauern, im Gegenteil: Ihre Abwanderungsdrohungen wurden im Konfliktfall durchaus ernstgenommen. 2 2 2 Hier wird eine ganz andere Familientradition sichtbar, in der nicht die Scholle, sondern der Wanderstab von einer Generation an die andere weitergegeben wurde. Wenn auch nicht alle Aspekte von Mobilität und Flexibilität, die hier genannt wurden, quantitativen Angaben zugänglich sind, wenn auch die Elemente der Beharrung keineswegs unter den Tisch fallen dürfen, so wird doch immerhin deutlich, daß das hermetische Bauernbild, das letztlich auf den Agrarfundamentalismus des 19. Jahrhunderts zurückgeht, stärker korrekturbedürftig ist, als es noch vor einem Jahrzehnt scheinen mochte. Regionale und soziale Differenzierungen, 223 geschlechtsspezifische nicht zu vergessen, sind dabei, an seine Stelle zu treten. Agrargeschichte verliert damit ihre falsche Eindeutigkeit und gewinnt an Komplexität, „als Argument" hat sie deswegen jedoch keineswegs ausgedient.

219 220 221 222 221

Geschichte der überseeischen Auswanderung aus dem Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Ebd., 63-96. Pfister, Bevölkerungsgeschichte, 49ff. Mühle, Migrationsbewegungen, 56ff. Schlumbohm, Lebensläufe, 486f. Mühle, Migrationsbewegungen, 50. Hartmut Hämisch, Bäuerliche Ökonomie und Mentalität unter den Bedingungen der ostelbischen Gutsherrschaft in den letzten Jahrzehnten vor den Agrarreformen, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1989/3, 87-108, hier 100, abgedruckt auch in: Georg W. Iggers (Hg.), Ein anderer historischer Blick. Beispiele ostdeutscher Sozialgeschichte, Frankfurt a. M. 1991, 70-92; Enders, Produktivkraftentwicklung und Marktverhalten, 105.

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Clemens Zimmermann

Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Ttansformationsprozesse als Thema der Agrargeschichte Die deutsche Agrargeschichte1 entwickelte sich im letzten Jahrzehnt trotz ihres unsicheren disziplinären Status ausgesprochen dynamisch. Die dominante Ideologie eines die Jahrhunderte überdauernden Hofbauerntums mit all ihren Implikationen wurde durch die differenzierende Analyse ländlicher Gesellschaften ersetzt, kaum eine der zahlreichen akademischen Qualifikationsschriften verzichtet darauf, ihre Gegenstände theoretisch zu verorten. Von einer naiven Anwendung des Modernisierungsbegriffs kann in der Regel nicht die Rede sein, und die Frage des mangelnden Kontakts zur Agrarsoziologie relativiert sich, da sich ihre produktivsten Vertreter von der deutschen Agrargesellschaft ab- und der Entwicklungsländerforschung zuwandten.2 Nicht wenige der heutigen agrarhistorischen Forschungsarbeiten verstehen sich als Teil allgemeiner Sozialgeschichte und nicht als Exponenten einer eigenen Subdisziplin der „Agrargeschichte", was positive Folgen für die Anschlußfähigkeit und die Rezeption dieser Werke zeitigen müßte. Institutionell steht die Agrargeschichte auf noch schwächeren Beinen als in den 1980er Jahren, vor allem, wenn man den Abbau agrarhistorisch relevanter Lehrstühle in Ostdeutschland berücksichtigt,3 aber sie profitiert anhaltend von ihrer Verbindung zur Landes- und Regionalgeschichte. Neue Schwierigkeiten für ihren disziplinären Status ergeben Vgl. Christof Dipper, Bauern als Gegenstand der Agrargeschichte, in: Wolfgang Schieder/Volker Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Bd. 4, Göttingen 1987, 9-33; Ian Farr, „Tradition" and the Peasantry: On the Modern Historiography of Rural Germany 1781-1914, in: Richard J. Evans/W. R. Lee (Hg.), The German Peasantry: Conflict and Community in Rural History from the 18th to the 20th Centuries, London 1986, 1-36; Friedrich-Wilhelm Henning, Die agrargeschichtliche Forschung in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1986, in: Hermann Kellenbenz/ Hans Pohl (Hg.), Historia Socialis et oeconomica. Festschrift für Wolfgang Zorn zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1987, 72-80; Hans-Jürgen Teuteberg, Agrarhistorische Forschungen in Westfalen im 19. und 20. Jahrhundert: Entwicklung, Quellen und Aufgaben, in: Westfälische Forschungen 40, 1990, 1-44; Jan Peters, Agrargeschichte im Abstieg?, in: Agrargeschichte, H. 25, 1995, 11-18; Werner Plumpe, Landwirtschaft, in: Gerd Ambrosius/Dietmar Petzina/Wemer Plumpe (Hg.), Moderne Wirtschaftsgeschichte. Eine Einführung, München 1996, 193-215; Heide Wunder, Agriculture and Agrarian Society, in: Sheilagh Ogilvie (Hg.), Germany. A New Social and Economic History, vol. 2, 1630-1800, London 1996, 63-99; Wemer Rösener, Einführung in die Agrargeschichte, Darmstadt 1997. Vgl. Eva Barlösius, Worüber forscht die deutsche Agrarsoziologie? Zum Verhältnis von Agrarsoziologie und Agrarpolitik, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 47, 1995, 319-338; aus sozialgeographischer Sicht bemängelt die mangelnde öffentliche Relevanz der „Dorfforschung" Georg Henkel, Zwei Jahrzehnte Dorfforschung. Bilanz und Anregungen für die Zukunft, in: Essener Geographische Arbeiten, Bd. 28, Essen 1997, 3-19. Das Vademecum deutscher Lehr- und Forschungsstätten 1992 nennt Agrargeschichte nur sieben Mal explizit als Forschungs- und Lehrgebiet (vergleichsweise die Stadtgeschichte achtzehn Mal). Spezialisierte Forschungseinrichtungen wie die Wageninger Akademie, das belgische Zentrum oder das Centre of East Anglian Studies fehlen in der Bundesrepublik.

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Clemens Zimmermann sich insofern, als sie sich seit den 1960er Jahren erfolgreich innerhalb der expandierenden Wirtschafte- und Sozialgeschichte positioniert hatte, aber nun dieses Fach zwischen einer ökonometrisch-quantitativen Wirtschaftsgeschichte und einer mehr zur allgemeinen Geschichtswissenschaft orientierten sozialhistorischen Richtung zu zerfallen droht. 4 Am Ende der neunziger Jahre ist unverkennbar, daß der enormen Anzahl von agrarhistorisch relevanten Arbeiten zum 19. und 20. Jahrhundert eine starke Aufsplitterung von Forschungsinteressen und Gegenstandsverständnissen gegenübersteht, die es ratsam erscheinen läßt, wenigstens im nachhinein eine Sichtung vorzunehmen. Bilden flächendeckende, statistisch orientierte Ansätze den einen methodisch-theoretischen Pol der Agrargeschichte, so die neuen kulturanthropologisch orientierten Dorfstudien den anderen. Dorfmonographien wie in letzter Zeit David Sabeans „Property, Production and Family in Neckarhausen, 1700-1870" und die Autopsie Hans Medicks einer überraschend komplexen Lokalgesellschaft in „Weben und Überleben in Laichingen" 5 verstehen sich als Beiträge zur „Mikrogeschichte", die, analog zu den etablierten Community-Studies der Stadtsoziologie und -geschichte, den Zugang zu inneren Beziehungen und Netzwerken, zu Erfahrungen, zu den Innovationen in Haushaltsstrukturen eröffnen, wenn auch unter Preisgabe klassischer Repräsentativitätskriterien und nicht selten unter Verzicht auf die Bestimmung von Handlungsspielräumen, die wiederum nicht ohne Berücksichtigung übergreifender Strukturen geklärt werden können. 6 Allerdings gilt es nun, das Agrarische als Feld sozialer Praxis zu betrachten, gegenüber dem objektivistischen Strukturfunktionalismus die Ebene von Fremd- und Selbstwahrnehmung, der Subjekte und ihrer im tätigen Leben hervorgebrachten Deutungen 7 einzuführen. 8

1. Wege der Agrarmodernisierung Mit die größten Anstrengungen auf dem Gebiet der Agrargeschichte gelten heute der Klärung eines angemessenen und das 20. Jahrhundert einbeziehenden Begriffs von Modernisierung und der Beschreibung ihrer hohen Komplexität. Unter EinVgl. Lothar Baar/Wolfram Fischer, „Wirtschafts- und Sozialgeschichte" - Neue Wege. Zum wissenschaftlichen Standort des Faches, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 82, 1995, 396-398; Christoph Buchheim, Die Sicherung der Interdisziplinarität als Kernbestandteil des Faches Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in: Ebd., 390-391; Jürgen Kocka, Bodenverluste und Chancen der Wirtschaftsgeschichte, in: Ebd., 501-504; Toni Pierenkemper, Was ist eigentlich Wirtschafts- und Sozialgeschichte - oder: Still playing Hamlet without the Prince, in: Ebd., 398-400. Hans Medick, Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900: Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte, Göttingen 1996; vgl. auch Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrücker Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650-1860. Göttingen 1994. Vgl. Karin Hausen, Historische Anthropologie - ein historiographisches Programm?, in: Historische Anthropologie 5, 1997, 454-462, hier 460ff. Zum Argumentationszusammenhang Reinhard Sieder, Sozialgeschichte auf dem Weg zu einer historischen Kulturwissenschaft?, in: Geschichte und Gesellschaft 20, 1994, 445-468, hier 460; Thomas Welskopp, Die Sozialgeschichte der Väter. Grenzen und Perspektiven der Historischen Sozialwissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 24, 1998, 173-198. Ein Paradigmenwechsel in Richtung historisch-anthropologischer Kategorien, wie ihn Werner Troßbach (Historische Anthropologie und frühneuzeitliche Agrargeschichte deutscher Territorien. An-

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Ländliche Gesellschaft

und Agrarwirtschaft

im 19. und 20.

Jahrhundert

druck der historischen Beschleunigung des Wandels der bäuerlich-ländlichen Welt nach 1950/60 definiert Peter Exner 9 die Modernisierung negativ als „Bedeutungsverlust" der Landwirtschaft in der Volkswirtschaft, „Höfesterben bei gleichzeitiger Konzentration der Nutz- und Betriebsflächen, Personalabbau von familieneigenen wie -fremden Arbeitskräften mit der Tendenz zum bäuerlichen Rumpfbetrieb sowie in zunehmender Landflucht beziehungsweise Berufsflucht aus dem Agrarsektor und erhöhte regionale Mobilität in Form des Pendlerwesens" und positiv als Kapitalisierung, Spezialisierung und Rationalisierung der landwirtschaftlichen Erzeugung durch Motorisierung, Mechanisierung und Chemisierung mit dem Ziel umfassender Produktions- und Produktivitätssteigerung. Hinsichtlich der ländlichen Gesellschaft könne man Modernisierung durch den „Abbau traditioneller Orientierungs- und Verhaltensmuster als wachsende Durchlässigkeit für Außeneinflüsse sowie als Abbau traditioneller Land-Stadt-Gegensätze in der Übernahme urbaner Verhaltensweisen durch Berufspendler und den Zuzug bauwilliger Städter" definieren. Es ist unverkennbar, daß hier der historische Prozeß als halb gewaltsamer Umbruch von 'außen', und zwar aus der Perspektive des späten 20. Jahrhunderts aufscheint. Zugleich bereitet der Autor durch die spezifische Definition den Boden für seine eigene empirische Untersuchung vor, bei der die diagnostizierte größere Offenheit in Heiratsbeziehungen, bei dörflichen Festen und im Vereinsleben zentrale Kriterien für die Messung gesellschaftlicher Veränderungen in den Dörfern darstellen sollen. Das Beispiel erweist zugleich, daß es einen epochenunspezifischen Begriff von Modernisierung nicht gibt. Es müssen, so zeichnet sich ein neuer Konsens ab, gleichzeitig ökonomische, sozialkulturelle wie politische Aspekte berücksichtigt und die sozialen Träger und Akteurskonstellationen von Modernisierungsprozessen in den Dörfern und ihre gegenläufigen Bewegungen ermittelt werden. 10 Als essentielle Kategorien der historischen Evolution ländlicher Wirtschaft und Gesellschaft im 19./20. Jahrhundert gelten die Urbanisierung und der Industriekapitalismus, wobei sich die Abkehr von emphatischen Vorstellungen von „Fortschritt" und Agrartechnik und einer unkritischen Interpretation des Geschichtsprozesses als geradlinig wachsende „Rationalität" längst vollzogen hat. Gegenüber früheren Ausprägungen werden Hemmnisse, unbeabsichtigte Folgen (für Natur und Gesellschaft) und die sozialen Kosten des Modernisierungsprozesses betont. Man wandte sich von dichotomischen Rastern „traditionaler" und „moderner" Zustände ab, ohne daß man von den idealtypischen Kategorien selbst abgehen konnte:

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merkungen zu Gegenständen und Methoden, in: Historische Anthropologie 5, 1997, 187-211) für die frühneuzeitliche Agrargeschichte beschreibt, läßt sich am ehesten bei den Dorfstudien von Hans Medick, Laichingen und David Warren Sabean, Property, Production, and Familiy in Neckarhausen, 1700 - 1870, Cambridge 1990 erkennen. Diese Studien arbeiten vielfältige familiäre und dörfliche Sinnperspektiven heraus, bleiben jedoch auf „Realgeschichte" bezogen; dekonstruktivistische Versionen von Agrargeschichte zum 19./20. Jahrhundert sind bislang kaum bekannt; viele andere agrarhistorische Arbeiten verbinden funktionalistische Ansätze mit sozialhistorischer Kontextualisierung. Peter Exner, Beständigkeit und Veränderung. Konstanz und Wandel traditioneller Orientierungsund Verhaltensmuster in Landwirtschaft und ländlicher Gesellschaft in Westfalen 1919-1969, in: Matthias Frese/Michael Prinz (Hg.), Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn 1996, 279-326, hier 279f. Vgl. dazu ein neues Bielefelder Forschungsprojekt von Frank Konersmann über „Agrarmodernisierung zwischen 1750 und 1850. Frühformen rationeller Landwirtschaft in der Pfalz" (unveröff. Arbeitspapier).

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Clemens Zimmermann Die Analyse eines historischen Prozesses erfordert Richtungskriterien. Modernisierung ist stets „partiell", 11 scheinbar Unvereinbares, modemer Nationalismus und traditionelle Religiosität beispielsweise, stehen im Dorf nebeneinander, 12 andererseits muß man der Gefahr entgehen, im Strudel der histoire totale im Kleinen zu ertrinken. Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" ist das fundamentale Signum des Wandels, der zu irreversiblen Ergebnissen im Verhältnis von Land- zu Volkswirtschaft und von Dorf- zu Gesamtgesellschaft führte. Weniger von „der" Modernisierung wird zu sprechen sein, sondern von vielschichtigen und langfristigen Transformationsprozessen mit regionalen und lokalen Ausprägungen, die als solche untersucht werden müssen und die gebündelt definierbare „moderne" Verhältnisse hervorbrachten. 13 Inhaltlich handelte es sich um „die Überführung von weithin agrarisch und subsistenzwirtschaftlich geprägten Verhältnissen in industrieund kapitalbestimmte, auf sich tragendes Wirtschaftswachstum gerichtete Gesellschaften". 14 Im Zuge dieses Wandels entwickelte sich eine in der Zeit um 1800 durch teilweise Orientierung an „Subsistenz" definierte, in naturale und dörfliche Kreisläufe eingebundene, 15 regional erheblich durch Marktpartizipation und Lohnarbeit und durch agrarisch-gewerbliche Mischaktivitäten gekennzeichnete Form der Familienwirtschaft in Richtung einer von solchen Bindungen freien, stark kapitalisierten und marktabhängigen Form. 16 Heutige Familienwirtschaft unterscheidet sich von ihren klassischen Ausprägungen durch Technikeinsatz und nahezu völlige Marktintegration, durch die einschneidende Reduktion der Arbeitskräfte und durch veränderte Rollen und Selbstverständisse der verbliebenen Mitglieder der Familienhaushalte sowie durch einen fundamentalen Wandel des sozialen, arbeitswirtschaftlich relevanten Umfeldes. Wie dies in einzelnen Regionen und im Vergleich von Betriebsgrößenklassen geschah, wie sich demgegenüber die Agrarmodernisierung in Gutsbetrieben vollzog, ist eines der Hauptgebiete moderner Agrargeschichte, die wachsend die gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die Auswirkungen von Industrialisierung und Urbanisierung auf die ländlichen Lebenswelten einbezieht. Die Agrargeschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts fand, wie oben angedeutet, etwa zwischen 1960 und 1970 ihre bis heute wirkende, paradigmatische

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Dietrich Rüschemeyer, Partielle Modernisierung, in: Wolfgang Zapf, Theorien des sozialen Wandels, Köln 1969, 382-396, unterbreitete schon 1969 den Vorschlag, von „partiellen" Modernisierungen zu sprechen, weil sich in der Geschichte „moderne und traditionale Elemente zu komplizierten (langlebigen) Strukturen" verbänden. Vgl. Robert von Friedeburg, Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit. Gemeindeprotest und politische Mobilisierung im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 1997, bes. 284-295. Christof Dipper, Bauernbefreiung, landwirtschaftliche Entwicklung und Industrialisierung in Deutschland, in: Toni Pierenkemper, Landwirtschaft und industrielle Entwicklung. Zur ökonomischen Bedeutung von Bauernbefreiung, Agrarreform und Agrarrevolution, Stuttgart 1989, 63-75; hier 65. Arnold Sywottek, Wege in die 50er Jahre, in: Axel Schildt/Amold Sywottek, Hg., Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, 13-39, hier 13. Vgl. Rainer Beck, Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne, München 1993. Aus heutiger agrarökonomischer Sicht Günther Schmitt, Die ökonomische Logik der Einheit von Haushalt und Betrieb in der Landwirtschaft. Konstituierende Elemente, Wettbewerbsfähigkeit und Implikationen der Familienarbeitsverfassung, in: Agrarwirtschaft 39, 1990, 209-220.

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Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert Ausprägung als Zweig makroökonomisch und demographisch ausgerichteter Wirtschaftsgeschichte, d.h. in der Schule Wilhelm Abels. Soziale Handlungsbedingungen erscheinen bei diesem Ansatz als „Datenkranz". Schulbildend wurde auch eine Vorgehensweise, die durch Friedrich-Wilhelm Henning repräsentiert wird und sich auf die Frage nach den verfügbaren Einkommen von Bauern und die Ermittlung von Aufwänden und Erträgen konzentrierte. Die an diese Ansätze anknüpfende heutige Agrarwirtschaftsgeschichte hebt, in der Formulierung von Walter Achilles, primär auf die „Veränderungen des Produktionsmitteleinsatzes ..., der von Betriebsleitern geplant wurde" 18 , ab. Der ausschließlich industriewirtschaftliche Bezugspunkt eines solchen Ansatzes ist nicht zu übersehen. Achilles' „Deutsche Agrargeschichte" möchte „Wechselbeziehungen zwischen Landwirtschaft, Agrarverfassung und Bauernstand" deutlicher herausarbeiten, d.h. nicht mehr wie in den früheren Arbeiten Abels, Günther Franz' und Friedrich Lütges diese Aspekte sektoral behandeln. Tatsächlich bietet Achilles eine synthetische Leistung von hohem Niveau, wenn er auf Siedlungsstrukturen, Agrarreformen und Einkommen zu sprechen kommt. Es wird aufgezeigt, daß (mittlere und größere) Bauernhöfe im 19. und frühen 20. Jahrhundert den Großbetrieben in mancherlei Hinsicht überlegen waren, wobei der Produktionsfaktor der Arbeit bis zum Ersten Weltkrieg der weitaus wichtigste war. Unverkennbar ist hingegen, daß der Anspruch einer engen Verklammerung der wirtschaftlichen mit der sozial-kulturellen Dimension kaum geleistet wird und vielfach ein fragwürdiger Planungsbegriff zugrunde liegt. Tatsächliche Lebenssituationen, die Wechselbeziehung zwischen Dorfgesellschaft, familiärer Arbeitssituation und Wirtschaften sind, wie der Autor gelegentlich einräumt,19 mit den angewandten Methoden nicht zu erfassen. Auch in zahlreichen Arbeiten anderer Autoren breitet sich die Erkenntnis aus, daß nicht nur Großbetriebe, sondern auch die Bauern ihre Produktion umstellten und steigerten und daß sie, jedenfalls bei größeren Betriebseinheiten, schon vor den großen Agrarreformen des 19. Jahrhunderts bis zu einem bestimmten Grad am Markt orientiert waren.20 Da bei der Produktionsausweitung, -diversifizierung und -intensivierung der Faktor der .Arbeit" so wichtig war, sollte die Frage des Selbstverständnisses der Akteure, ihrer sozialen Spielräume und ihrer Einstellung gegenüber Modernisierung nicht vernachlässigt werden: „The transition to a market economy for different types of producers was the result of a complex interplay of structural relations and individual choices"21, und die kann man nicht aus der

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Zur Würdigung der historiographischen Leistung Abels vgl. Troßbach, Historische Anthropologie, 187 ff. Werner Achilles, Agrargeschichte, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. 1, Stuttgart/New York 1977, 66-87, hier 67; Walter Achilles, Deutsche Agrargeschichte im Zeitalter der Reformen und der Industrialisierung, Stuttgart 1993. Achilles, Agrargeschichte, 87. Zusammenfassend Christof Dipper, Landwirtschaft im Wandel. Neue Perspektiven der preußischdeutschen Agrargeschichte im 19. Jahrhundert, in: Neue Politische Literatur 38, 1993, 29-42, hier 29f.; Josef Mooser, Preußische Agrarreformen, Bauern und Kapitalismus. Bemerkungen zu Hartmut Harnischs Buch „Kapitalistische Agrarreform und industrielle Revolution", in: Geschichte und Gesellschaft 18, 1992,533-554. Vgl. Kirsti Niskanen, Modernisation Revisited: Market Structures and Competent Farmers in Södermanland County, Sweden, during the Late Nineteenth and Early Twentieth Centuries, in: Rural History 8, 1997, 175-194, hier 190.

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Clemens Zimmermann Ideengeschichte der Betriebswirtschaftslehre ableiten, 22 sondern teils aus schriftlichen Quellen, teils aus den sozialen Logiken der Familien- und Dorfwirtschaft. Neue Maßstäbe ausgefeilter Quantifizierung, die den Prozeß agrarischer Intensivierung nicht von den preußischen Agrarreformen, sondern von wachsender Marktorientierung mittlerer und größerer bäuerlicher Betriebsinhaber ableitet, setzt die Arbeit von Michael Kopsidis über die westfälische Landwirtschaft im 19. Jahrhundert. Der Zuwachs der agrarischen Wertschöpfung für den Zeitraum etwa 1830 bis 1880 wird auf etwa 138% beziffert, obwohl in diesem Zeitraum die landwirtschaftliche Nutzfläche nur um ca. 13% wuchs. 23 Von Fortschrittsfeindlichkeit und Marktabgewandtheit der „bäuerlichen" Landwirtschaft kann nicht die Rede sein, jedenfalls in Westfalen, wo sich der Riesenmarkt des rasch anwachsenden Ruhrgebiets auf die Produktivierung der Landwirtschaft dort positiv auswirkte, wo durch den Aufbau von Infrastrukturen, v.a. die Eisenbahn, die Marktnähe realisiert werden konnte. Wachsende Marktabhängigkeit läßt sich an der veränderten Produktpalette ablesen: Weizen, Fleisch, milchwirtschaftliche Erzeugnisse trugen den agrarischen Fortschritt, der allerdings eine lange Vorlaufzeit von „einhundertfünfzig Jahren" benötigte und bei dem politische Faktoren insofern eine Rolle spielten, als sie größere Markträume schufen. Nach 1830 war der lokale Ernteausgang keine Determinante der regionalen Preisbildung mehr. Da die Bauern höhere Einkommen erzielen konnten, erhöhte sich der Faktoreinsatz, aber nicht so sehr der von Technik und Kapital, sondern es wurde mehr Arbeit aufgewendet. Die hegemoniale dörfliche Stellung der Bauern ermöglichte es, ständig über geeignete Arbeitskräfte verfügen zu können. Die Sozialbeziehungen zwischen Bauern und Landarbeitern 24 trugen zwar familienähnliche Züge, bestanden jedoch ihrem ökonomischen Kern nach in ungleichen Austauschbeziehungen, zumal die abhängig Beschäftigten dieselben Preise für lebenswichtige Nahrungsmittel bezahlen mußten wie städtische Verbraucher. Die regionalen Unterschiede beim Zuwachs der agrarischen Wertschöpfung waren ausgeprägt. Am Ende des Untersuchungszeitraums existierten in den peripheren Regionen weiterhin extensive traditionelle Anbauweisen neben neueren intensi22

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Walter Achilles, Betriebswirtschaftliche Leitbilder in der ostdeutschen Gutswirtschaft seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, in: Heinz Reif (Hg.), Ostelbische Agrargesellschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Agrarkrise - junkerliche Interessenpolitik - Modemisierungsstrategien, Berlin 1994, 191-212, hier 197fT„ 205ff. Vgl. Michael Kopsidis, Marktintegration und Entwicklung der westfälischen Landwirtschaft 17801880. Marktorientierte ökonomische Entwicklung eines bäuerlich strukturierten Agrarsektors, Münster 1996, 167, 198f.; Ders., Die regionale Entwicklung der Produktion und der Wertschöpfung im westfälischen Agrarsektor zwischen 1822/35 und 1878/82. Ein komparativ-statistischer Vergleich, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1995/1, 131-170; Ders., Marktintegration und landwirtschaftliche Entwicklung: Lehren aus der Wirtschaftsgeschichte und Entwicklungsökonomie für den russischen Getreidemarkt im Transformationsprozeß, Diskussionspapier des Instituts für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa 5, 1997; zu Westfalen auch Maria Blömer, Die Entwicklung des Agrarkredits in der preußischen Provinz Westfalen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1990. Zu Landarbeitern vgl. Jens Flemming, Fremdheit und Ausbeutung. Großgrundbesitz, „Leutenot" und Wanderarbeiter im Wilhelminischen Deutschland, in: Reif, Ostelbische Agrargesellschaft, 345-360; Jörg Lichter, Die Landarbeiterfrage in einer hochindustriellen Region (Rheinprovinz) 1880-1914, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 43, 1995, 23-41 und die umfangreiche Bibliographie von Claudia Harrasser, Von Dienstboten und Landarbeitern. Eine Bibliographie zu (fast) vergessenen Berufen, Innsbruck/Wien 1996.

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Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert ven Nutzungsformen, was erneut die Ungleichzeitigkeit agrarischer Transformationsprozesse unterstreicht. Die Ergebnisse Kopsidis' scheinen überall dort tragfähig zu sein, wo ähnliche Voraussetzungen hinsichtlich Sozialstrukturen, typischer Verteilung von Besitzklassen und Marktnähe bestanden. Dort, wo gewerbliche Verdichtung auf dem Land stattfand - und das war in manchen Regionen schon um 1800 der Fall - und kleinere und größere Städte unmittelbar benachbart lagen, stellte sich die Frage der „Marktnähe" anders. 25 Agrarstrukturelle Veränderungen, gerade der genossenschaftlichen Eigentumsbindungen, waren eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für die Mobilisierung und Intensivierung der Produktion. Diese gesteigerte Produktion schlägt sich jedoch nicht nur, wie zuletzt Walter Achilles unterstrichen hat, in gesteigerten Netto-Marktleistungen größerer Betriebe nieder, sondern man muß genauso den Faktor der „Binnennachfrage" und die Emährungsstrategien der Kleinbesitzer berücksichtigen: Diese trachteten danach, „preisgünstige Nahrungsmittel mit hohem Energiewert zu erzeugen", d.h. Kartoffeln, die man auch zur Schweinemast einsetzte und die deshalb nicht einfach als eine Art Notnahrung betrachtet werden dürfen. Kartoffelanbau konnte auf relativ kleinen Landstücken geschehen, die (in Süddeutschland) durch Allmendteilungen auch den unterbäuerlichen Schichten zugänglich wurden. Da Getreide wachsend importiert wurde, Kartoffeln aber aus Deutschland stammten, sind im übrigen diese für die Zeit der Hochindustrialisierung der geeignete Indikator, um den Einfluß der von den Zentren ausgehenden Nachfrage auf die Agrarproduktion zu erfassen. 26 Die von Kopsidis verwendeten Grundsteuerakten, Erntestatistiken, Eintragungen in Rechnungs- und Anschreibebüchern können wirtschaftliches Handeln soweit erfassen, als es auf schriftlicher Grundlage und in monetarisierter Form geschah; 27 damit sind dörfliche Austauschbeziehungen großenteils und die allermeisten (in Westfalen 37%) Kleinbetriebe unter 10 ha aus der Analyse ausgeschlossen, obwohl sie z.B. durch Schweinehaltung ebenfalls zur Agrarintensivierung fähig waren, selbst wenn sie immer noch erheblich subsistenzorientiert blieben. Die Frage nach dem Anteil von mittel- und kleinbäuerlichen Familienwirtschaften an den Produktivitäts- und Produktionsfortschritten läßt sich demnach auf der Grundlage ökonometrischer Modelle und offizieller Statistiken allein nicht beantworten, da bei ihnen die Haushaltsproduktion, der Eigenkonsum und interne Prozesse wie in einer Black-Box ausgeklammert werden. Dort, wo sehr wenig Land und ein hohes familiäres Arbeitspoten25 :h

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Vgl. Lieselott Enders, Produktivkraftentwicklung und Marktverhalten. Die Agrarproduzenten der Uckermark im 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1990/III, 81-105. Walter Achilles, Der Einfluß industrieller Zentren auf den Kartoffelbau in der Phase der Hochindustrialisierung vor dem Ersten Weltkrieg, in: Hans-Jürgen Gerhard (Hg.), Struktur und Dimension. Festschrift für Karl Heinrich Kaufhold zum 65. Geburtstag, Band 2: Neunzehntes und Zwanzigstes Jahrhundert, Stuttgart 1997,94-119. Exemplarisch: Roman Sandgruber, Der Hof des „Bauern in Hof'. Agrargeschichte des 20. Jahrhunderts im Spiegel von Wirtschaftsrechnungen und Lebenserinnerungen, in: Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien (Hg.), Wiener Wege der Sozialgeschichte, Köln/Weimar 1997, 299-334; zur Quellenproblematik Jan Peters/Hartmut Harnisch/Lieselott Enders, Märkische Bauerntagebücher des 18. und 19. Jahrhunderts. Selbstzeugnisse von Milchviehbauem aus Neuholland, Weimar 1989; Klaus J. Lorenzen-Schmidt/Bjöm Poulsen, Hg., Bäuerliche Anschreibebücher als Quellen zur Wirtschaftsgeschichte, Neumünster 1992 [Bibliographie auf den S. 219-239],

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Clemens Zimmermann tial zur Verfügung stand, wurden die Arbeitsressourcen ohne Rücksicht auf „Rentabilität" verwendet, man orientierte sich am Ziel der Steigerung von Bruttoerträgen und am Prinzip der Risikostreuung. 28 Auch bei Kopsidis zeigt sich, daß der Übergang zum risikoreicheren Weizenanbau nur bei gesicherter Marktnachfrage erfolgte. Hierbei muß die Einschätzung dieser Konsolidierung, die Information über Märkte eine Rolle gespielt haben. Insgesamt läßt sich sagen, daß die Kategorie der Familienwirtschaft als Zusammenfassung von Haushalt und Wirtschaftseinheit für die Agrarökonomie des 19. und 20. Jahrhunderts überaus relevant ist, da man dadurch die besonderen Rationalitätskriterien und Produktionsziele der primär auf Familienarbeit (und nur sekundär auf Lohnarbeit) beruhenden Betriebe erfaßt. 29 In sozialhistorischer Perspektive stellt sich die Frage der „Einheit" der Familienhaushalte, der Sonderung von Geschlechtern und Generationen. In der Tat ist es unangemessen, diese Einheit allein in der Figur eines koordinierenden Hausvaters wie im Theorem des „Ganzen Hauses" sehen zu wollen. Vielmehr wurden Einkommen und Realleistungen gemeinsam erwirtschaftet und intern zwischen den Familienmitgliedern verteilt. In letzter Zeit verwies David Sabean auf die Binnendifferenzierung und die inneren Konfliktlinien der Haushalte. Sabeans Thesen zum Haushalt als Ort, wo nur komplexe Allianzen und Austausch mit externen Agenten stattfinden, beruhen auf der zunehmenden Problematisierung der Frage, wieweit sich die einzelnen Haushaltsmitglieder den Erfordernissen des „Ganzen Hauses" unterordnen müssen. Doch Sabean gewichtet zu wenig die Tatsache der Stabilität und Entscheidungsfähigkeit der Familienhaushalte, stützt sich weniger auf Quellen, die „Normalität", denn auf solche, die Konflikte belegen, der individualisierende Problemansatz scheint der Erfahrung postmoderner Entsolidarisierung und Pluralität entsprungen. 30 Familiäre Verhandlungen und Konflikte führten jedoch zu stabilen Kompromissen. 31 Die Haushalte hätten nicht so lange ihre Existenzfähigkeit bewahren können, wenn man die internen Konflikte als Ergebnis individualistischer Verteilungskämpfe interpretieren müßte. Bis zur Einführung der Sozialversicherung im ländlichen Bereich ist insbesondere die Funktion der Haushalte für die soziale Sicherung, die Versorgung von Kindern, Kranken und Alten evident. Der Blick ins Innere der Familienhaushalte erweist indes, daß Arbeitsressourcen im Zuge vermehrter Marktproduktion umverteilt wurden, und dies hatte Auswirkungen auf die Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern. Die Vielseitigkeit und Intensität der kleinbäuerlichen Frauenarbeit nahmen im 19. Jahrhundert zu, z.B. wenn Frauen im Zuge aufwendigerer Wiesenkultur beim Heuaufladen helfen mußten. Der Anbau von Kartoffeln und das Melken wurden ebenfalls in stärkerem Maße zu Aufgaben der Frauen, wobei an Mägde, Mütter und Töchter unterschiedliche Anforderungen gestellt wurden. 32 Die 28

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Vgl. Metin M. Cosgel, Risk Sharing in Medieval Agriculture, in: Journal of European Economic History 21, 1992, 99-110; Peter Fearon, Mechanisation and Risk: Kansas Wheat Growers 19151930, in: Rural History 6, 1995, 229-250; Rolf-Peter Sieferle/Ulrich Müller-Herold, Überfluß und Überleben. Risiko, Ruin und Luxus in primitiven Gesellschaften, in: Gaia. Ecological Perspectives in Science, Humantities, and Economics 5, 1996, Nr. 3-4, 135-143. Vgl. Lars Hennings, Familien- und Gemeinschaftsformen am Übergang zur Moderne: Haus, Dorf, Stadt und Sozialstmktur am Ende des 18. Jahrhunderts am Beispiel Schleswig-Holsteins, Berlin 1995. Vgl. Sabean, Property, 173. Dazu Julie A. Nelson, I, Thou and them: Capabilities, Altruism, and Norms in the Economics of Marriage, in: The American Economic Review 84:2, 1994, 126-131.

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Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert These, daß Frauen mit der Marktproduktion des 19. Jahrhunderts von Männern aus mehr technisierten und ökonomisierten Bereichen verdrängt wurden, beispielsweise aus der kommerzialisierten Flachsverarbeitung, wäre noch flächendeckend und produkt- und regionalspezifisch zu untersuchen.35 Eine Studie von Kölling zeigt einerseits, daß man unter „Familienwirtschaft" selbst äußerst kleiner Produzenten (landbewirtschaftender Landarbeiter in Pommern) im Zeitalter einer entwickelten, monetarisierten Volkswirtschaft nicht eine reine Subsistenzwirtschaft verstehen darf. Andererseits ergibt sich die Relevanz der Kategorie der Familienwirtschaft daraus, daß ein Teil der Arbeitskräfte, die sogenannten Hofgänger, nicht als Individuen, sondern als Teile eines Haushalts oder einer Familie aufgefaßt werden müssen. Die Hofgänger mußten zur Arbeit auf den Gutshöfen „delegiert" werden; dafür bekamen die Landarbeiterfamilien teils Barentgelte, teils Natural"deputate", mit denen sie Veredelungswirtschaft (Schweinezucht) betrieben, die ihnen relativ fette Gelderlöse bescherte. 4

2. Agrarreformen des 19. Jahrhunderts Zunehmend wird der grundsätzlichen Frage nachgegangen, welche Rolle die Agrarreformen bei der Veränderung sowohl dörflicher Eigentumsbindungen wie bei der Produktion spielten. Verständlicherweise neigen Studien zu Agrarreformen dazu, diese als Input-Faktoren hochzuschätzen, ohne daß den Wirkungsaspekten in der Regel nachgegangen wurde. Zu den preußischen Reformen ist generell festzustellen, daß flächendeckende, teilweise inter- und intraregional vergleichend angelegte Arbeiten, die teilweise noch in der ehemaligen DDR entstanden, zu einer bedeutenden Revision früherer Interpretationen der preußischen Agrarreformen führten. Die Legende vom leidvollen preußischen Weg, wie sie in Ostdeutschland dominierte, ist, bedingt vor allem durch kritische Beiträge Hartmut Harnischs zur Flächen- und Betriebsstatistik, dahingeschwunden. Neuere Forschungen zeigen, daß das Reformwerk die vielfältig differenzierten lokalen Verhältnisse nicht genügend einbezogen ,2

" 14

Vgl. Sabean, Property, 148f. und Kerstin Werner, Ernährerin der Familie. Zur Situation der Kleinbäuerinnen in einem mittelhessischen Dorf um die Jahrhundertwende, in: Johanna Werckmeister (Hg.), Land - Frauen - Alltag. Hundert Jahre Lebens- und Arbeitsbedingungen der Frauen im ländlichen Raum, Marburg 1989; Lena Kreie, „... da gab's keinen Sonnabend und Sonntag." Frauenarbeit in der Landwirtschaft Salzgitters von der Jahrhundertwende bis heute, Salzgitter 1991; Helma Meier-Kaienburg, Frauenarbeit auf dem Land. Zur Situation abhängig beschäftigter Frauen im Raum Hannover 1919-1939, Bielefeld 1992; Therese Weber (Hg.), Mägde. Lebenserinneningen an die Dienstbotenzeit bei Bauern, Wien/Köln/Weimar, 3. Aufl. 1991; Christina Vanja, Zwischen Verdrängung und Expansion, Kontrolle und Befreiung. Frauenarbeit im deutschsprachigen Raum, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 79, 1992, 457-482; weitere Arbeiten zur Frauenarbeit und den Geschlechtenelationen nennt Barbara Krug-Richter in diesem Band (Anm. 7). Dazu Werner Troßbach, Bauern 1648-1806, München 1993, 76f.; zu den Anfängen von Mechanisierung und Technisierung Olav Vollstedt, Maschinen für das Land. Agrartechnik und produzierendes Gewerbe Schleswig-Holsteins im Umbruch (um 1800-1867), Frankfurt a. M. 1997. Bemd Kölling, Familienwirtschaft und Klassenbildung. Landarbeiter im Arbeitskonflikt. Das ostelbische Pommern und die norditalienische Lomellina 1901-1921, Vierow 1996, 198ff., 216ff., 238ff.; Ders., „Regieren von oben". Militär und Gewerkschaften in der pommerschen Landwirtschaft 1919/20, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 44, 1996, 194-209.

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Clemens Zimmermann hatte und sich deshalb und wegen der sozialen Widerstände dagegen über Jahrzehnte hinzog. Schon die politischen Ziele bei den preußischen Agrarreformen waren demnach nicht einfach vereinbar: das der Entmachtung des Adels nicht unbedingt mit dem der Produktivierung des Eigentums. Ob die Auflösung genossenschaftlicher Eigentums- und Betriebsformen auch auf anderem Wege hätte erreicht werden können und ob sie einen direkten Beitrag zur Produktionsintensivierung und -diversifizierung darstellte, ist in der Forschung noch offen. 35 Von einem wirklichen Verständnis des politischen und sozialen modus operandi der Agrarreformen in Preußen wie in Süddeutschland ist man noch recht weit entfernt. 36 Ein Schritt auf dem Weg zur wünschenswerten Inbezugsetzung beider Dimensionen ist die Arbeit von Stefan Brakensiek über die Privatisierung der Marken in Nordwestdeutschland, der zeigte, daß Allmend- und Gemeinheitsteilungen oder -Privatisierungen wesentlich zu Produktionsfortschritten beitrugen. Bei deren Langzeitanalyse fragt Brakensiek nicht allein nach bürokratischen und gesetzgeberischen Initiativen, sondern nach dem Zeitpunkt und dem Modus der Durchsetzung der Individualisierung, nach Protagonisten und Widerstrebenden, nach Gewinnern und Verlierern: Die (westfälischen) Heuerlinge blieben (u.a., weil sie eine gemeindliche Minderklasse darstellten) bei dieser Agrarreform auf der Strecke; bäuerliche Gruppen konnten Vorteile erringen, wenn sie sich gegen den Adel (in Minden-Ravensberg) mit der Bürokratie verbündeten. 37 Den Gemeinheitsteilungen und Verkoppelungen als sozialer Praxis beteiligter Akteure geht Reiner Prass für die Ämter Göttingen und Northeim im Kurfürstentum/Königreich Hannover zwischen 1750 und 1883 nach, als in 80% der Gemeinden die Reform abgeschlossen war. 38 Gemeinheitsteilungen und Verkoppelungen sind zentrale Elemente der Transformation traditionaler Agrarökonomie, auch in gutswirtschaftlichen Gebieten, die nicht erst durch die Bauernbefreiung des 19. Jahrhunderts, sondern schon im aufgeklärten Absolutismus eingeleitet wurden. Sowohl bäuerliche wie auch unterbäuerliche Gruppen wurden bei der Initiierung solcher Teilungen aktiv, wenn die Handlungskonstellationen günstig waren. 39 Die Reformprozesse erstreckten sich über lange Zeiträume und waren durch das „Neben-, Mit- und Gegeneinander obrigkeitlichen Re35

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Vgl. Christof Dipper, Die Bauernbefreiung in Deutschland, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 43, 1992, 16-31. v.a. 30. Zusammenfassend Achilles, Agrargeschichte, 91 -162. Vgl. Stefan Brakensiek, Markenteilungen in Ravensberg 1770 bis 1850, in: Westfälische Forschungen 40, 1990, 45-85; Ders., Agrarreform und ländliche Gesellschaft. Die Privatisierung der Marken in Nordwestdeutschland 1750-1850, Paderborn 1991, vgl. auch Jean-Marc Moriceau, Le changement agricole. Transformations culturales et innovations (XII-XIX siècle), in: Histoire et Société Rurales N o 1, 1er semestre 1994, 37-66 und Nadine Vivier, Les biens communeaux en France au XIXe Siècle, in: Ebd., 119-140. Reiner Prass, Reformprogramm und bäuerliche Interessen. Die Auflösung der traditionellen Gemeindeökonomie im südlichen Niedersachsen, 1750-1883, Göttingen 1997. Vgl. Karl Heinz Schneider, Agrarreformen und bäuerliche Gemeinde, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 61, 1989, 215-233; Ders., Bäuerliche Aktivitäten während der Bauernbefreiung, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 37, 1989, 9-27; Clemens Zimmermann, Bäuerlicher Traditionalismus und agrarischer Fortschritt in der frühen Neuzeit, in: Jan Peters (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften, München 1995, 219-238; Alix Johanna Cord, Ostholsteinische Hufner im Spannungsfeld zwischen extremer Gutsherrschaft und Zeitpacht, in: Jan Peters (Hg.), Gutsherrschaftsgesellschaften im europäischen Vergleich, Berlin 1997, 429-444, hier 438.

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Ländliche Gesellschaft und Agrarwir tschaft im 19. und 20. Jahrhundert formwillens und bäuerlichen Interesses" gekennzeichnet. 40 Die Frage, ob „mit der Auflösung der traditionellen Flurverfassung tatsächlich die ursprünglich intendierten ökonomischen Ziele erreicht wurden", verneint Prass überwiegend.41 Insgesamt zeigt sich in beiden Arbeiten, daß die Sozialgeschichte und Agrarstruktur einzelner Dörfer und Agrarlandschaften bei der Analyse von Agrarreformen einbezogen werden müssen. 42 Das Mit- und Gegeneinander von dörflichen Interessengruppen und der Bürokratie, deren Praxis allmählich flächendeckender und systematischer, den Bauern entgegenkommender wurde, stellte den zentralen Mechanismus dar, der die Reformen vorantrieb oder hemmte. Die ökonomische Folge der Teilungen bestand in der Verbesserung von Wegen und Bewässerung. Unter bestimmten Bedingungen wirkten sie sich unmittelbar produktivierend aus - durch Einführung der Stallfütterung und den Anbau von spezialisierten Produkten, größere Bauern konnten dadurch besser und marktgerechter produzieren (Zuckerrübenanbau) und individueller wirtschaften.

3. Verbürgerlichung des Dorfes? In einem wichtigen Beitrag hat Robert von Friedeburg nachgewiesen, daß im Deutschland des 19. Jahrhunderts Stadt-Land-Gegensätze stark ausgeprägt blieben und die Orientierung an einheitsstiftenden Genossenschaften im Rahmen dörflicher Ordnungen anstelle der klaren Wahrnehmung von ökonomischen Klasseninteressen lange ausgeprägt blieb.43 Dieser Befund steht insofern in Widerspruch zum Forschungsansatz der „Verbürgerlichungstendenzen auf dem Land", als bei diesem nicht nur auf die Adaption stadtbürgerlicher Verhaltensstandards, sondern auch auf die Entwicklung einer analogen Klassenstruktur in der ländlichen Gesellschaft abgehoben wird. Die wichtigste Veröffentlichung zu diesem Forschungsbereich ist „Idylle oder Aufbruch". 44 Sie thematisiert gleichsam die Rückseite der (auf die Städte bezogenen) Bürgertumsforschung. Den Schwerpunkt bildet der Nordosten Deutschlands, 40 41 42

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Prass, Reformprogramm, 23. Ebd., 21. In einem weiteren Aufsatz beschäftigt sich Reiner Prass mit Subsistenzkonflikten in Gemeinden des Amtes Herzberg (Hannover) und erweist deren Handlungskonstellationen: Während sich im 18. Jahrhundert noch Angehörige dörflicher Mittelschichten an Forstfreveln beteiligten, standen traditionelle Zugangsweisen zum Wald als dörfliche Ressource gegen die aufgeklärt-absolutistische Forstpolitik, aber auch die bäuerlichen Waldeigentümer gegen die Holzdiebstähle der Unterschichten. Bei deren Widersetzlichkeiten mischten sich Eigennutz und grundsätzlicher Widerstand gegen die landesherrliche Forstpolitik; vgl. Reiner Prass, Verbotenes Weiden und Holzdiebstahl. Ländliche Forstfrevel am südlichen Harzrand im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 36, 1996, 51-68. Robert v. Friedeburg, Dörfliche Gesellschaft und die Integration sozialen Protests durch Liberale und Konservative im 19. Jahrhundert. Desiderate und Perspektiven der Forschung im deutsch-englischen Vergleich, in: Geschichte und Gesellschaft 17, 1991, 311-343, besonders 336, 342; andererseits betont Friedeburg die starke soziale Differenzierung innerhalb der Landgemeinden, d.h. die Entstehung unterschiedlicher Besitz- und Erwerbsklassen in langfristiger Perspektive; vgl. Friedeburg, Ländliche Gesellschaft. Vgl. Wolfgang Jacobeit/Josef Mooser/Bo Strüth (Hg.), Idylle oder Aufbruch? Das Dorf im bürgerlichen 19. Jahrhundert. Ein europäischer Vergleich, Berlin 1990.

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Clemens Zimmermann eine Untersuchung der Dorfgesellschaften West- und Süddeutschlands fehlt. 45 Was ist Verbürgerlichung des Dorfes? Aus städtischer Kultur erwachsene Kultur- und Lebensweisen, Normen und Praktiken drangen - zu einem gewissen Grad - in die Dörfer ein, „bürgerliche" Praktiken wurden bei der Übernahme modifiziert, anverwandelt. Kommerzialisierungstendenzen, protoindustrielle Produktion, „unternehmerische" Bauern bildeten die Grundlage dieses Prozesses: Teile der Agrarökonomie wurden, wie oben gezeigt, in die kapitalistische Verkehrswirtschaft einbezogen - was allerdings keineswegs heißen muß, daß es ebenso zu einer „Durchdringung" der ländlichen Gesellschaft mit „bürgerlichen" Normen und Verhaltensweisen kam. Walter Achilles spricht in diesem Zusammenhang von „Entbäuerlichung" 46 (gemeint ist die wachsend „unternehmerische" Betriebsführung) und nicht von Verbürgerlichung. Die von Hartmut Harnisch postulierte „mentale Bereitschaft zur Übernahme von bürgerlichen Normen und Verhaltensweisen" scheint auf schwachen Füßen zu stehen. 47 Hans-Heinrich Müllers Beobachtungen aus der Magdeburger Börde, daß sich Bauern als Aktionäre der Zuckerfabriken in ihrer gesamten Lebensweise an städtische Unternehmer annäherten, fällt ins Gewicht, 48 ist aber kaum auf das Verhalten schleswig-holsteinischer, bayerischer und westfälischer Großbauern übertragbar. Wie schließlich einige weitere Beiträge in dem Sammelband unterstreichen, blieben dörflich-"ständische" Maximen der Lebensführung doch primär gültig und hierbei waren auch adlige Repräsentationsformen relevant, die von Bauern adaptiert wurden (Kutschfahrten, Gesellschaftstänze). Klar ist: Im 19. Jahrhundert nahmen die Kontakte zwischen Land und Stadt zu, nicht zuletzt durch Zeitungslektüre und durch Kontakte zu städtischen Juden und Advokaten. Welche kulturellen Auswirkungen daraus und aus weiteren Begegnungen mit der städtischen Kultur resultierten, in der ihrerseits immer stärker moderne Medien und mediativierte Wahrnehmungen eine Rolle spielten, ist weitgehend unklar. 49 Die dörfliche Welt nahm bis zum Ende des 19. Jahrhunderts städtisch-bürgerliche Elemente an, was sich besonders im Vereinsleben, beim Erwerb einzelner Luxusmöbel (Sofa) 50 und der 45 46

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So stellt dies auch Dipper, Landwirtschaft im Wandel, 36, als Desiderat fest. Vgl. Walter Achilles, Die Entbäuerlichung der Bauern 1882-1907. Dargestellt an den Regionen Magdeburger Börde, Anhalt, südliches Niedersachsen und Oldenburg, in: Jacobeit/Mooser/Sträth, Idylle, 49-52; zurückgehend auf den gleichnamigen Aufsatz in der Vierteljahrschrift für Sozialund Wirtschaftsgeschichte 76, 1989, 185-201. Vgl. Hartmut Harnisch, Zwischen Junkertum und Bürgertum. Der Bauer im ostelbischen Dorf im Widerstreit der Einflüsse von traditionalem Führungsanspruch des Adels und modemer kapitalistischer Gesellschaft, in: Jacobeit/Mooser/Sträth, Idylle, 25-36, hier 27. Hans-Heinrich Müller, Bürgerlich-kapitalistische Formen in der Landwirtschaft auf die dörfliche Produktion und Lebensweise - am Beispiel der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete, in: Ebd., 37-48. Auch die kulturellen Auswirkungen von Reagrarisierungstendenzen gilt es hier zu berücksichtigen. In einem von Klaus J. Lorenzen-Schmidt bearbeiteten Wirtschaftsbuch eines mittleren, marktorientierten und 'modernen'Geestbauem finden sich Ausgaben für Klavierunterricht und Bücher für einen Sohn, der Lehrer werden sollte, der Bauer gönnte sich Zigarren, für Möbel gab man jedoch kaum etwas aus, man schaffte eine Nähmaschine an und ließ sich vom „Bund der Landwirte" vertreten: Ansätze eines Urbanen Konsummusters, gesteigerte Kommunikation zwischen Stadt und Land also - was heißt dies jedoch für die Gesamtheit kultureller Orientierungen dieser Familie?; vgl. Klaus J. Lorenzen-Schmidt, Ein bäuerliches Wirtschaftsbuch aus der Zeit der Hochindustrialisierung (1892-1896) aus Ahrenlohe (Gem. Tomesch, Krs. Pinneberg), in: Research on Peasant Diaries/Forschungen zu bäuerlichen Schreibebüchem 14, 1997, 17-29; zum Lesen Karl-Heinz Ziessow, Ländliche Lesekultur im 18. und 19. Jahrhundert. Das Kirchspiel Menslage und seine

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Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert Übernahme städtischer Bauformen zeigt, (letzteres zu beseitigen war eines der Anliegen der Heimatschutzbewegung), aber man war weit davon entfernt, von der spezifischen Bürgerwelt „durchdrungen" zu werden. Vielmehr fällt die Anreicherung mit Urbanen Konsummustern und die Adaption von Konsummustern der städtischen Arbeiterkultur mehr ins Gewicht.51 Soziale Differenzierungsprozesse wurden in den Dorfgesellschaften stark vorangetrieben, neue Formen von Familienhaushalten, wie die der Arbeiterbauernschaft führten teils eine agrarische Existenzweise weiter, teils beruhten sie auf industriellen Arbeitseinkommen.52 Auf die Formel Verbürgerlichung lassen sich all diese Prozesse nicht bringen. Demgegenüber kann man von einer, wenn auch gegenüber den Städten verlangsamten, Politisierung ländlicher Bevölkerungsgruppen sprechen.53 Die Frage nach dörflichen Politikverständnissen und Autostereotypen fand besondere Aufmerksamkeit, was erfordert, auf städtische Medien, den Nationsbildungsprozeß und die Formierung der Parteienlandschaft einzugehen. Hinter „politischen" Konflikten, so zeigt sich, werden in den Dörfern häufig lokale Machtbeziehungen neu ausgehandelt. Wolfram Pyta54 untersucht, ausgehend von der historischen Wahlforschung, wandelnde Selbstverständnisse dörflicher Eliten und deren Einfluß auf ländliche Wahlergebnisse in Abhängigkeit von soziokulturellen Milieus.55 Der vermittelnden und integrierenden Rolle der dörflichen Meinungsführer, Großbauern, Gutsherren, Gutsfrauen, Landpfarrer, Dorfschullehrer, wird zu Recht große Bedeutung beigemessen. Wenn Pyta betont, daß ökonomische Modernisierung ,glicht mit der simultanen Übernahme bürgerlicher Lebenseinstellungen gleichzusetzen" gewesen sei, heißt das eben nicht, daß Lohnarbeit und Adaptionen an urbane Entwicklungen vor allem in direkter Großstadtnähe unterschätzt werden dürfen. 56

Lesegesellschaften 1790-1840, Textteil, Cloppenburg 1988; Hans Medick, Ein Volk „mit" Büchern. Buchbesitz und Buchkultur auf dem Lande am Ende der Frühen Neuzeit: Laichingen 1748-1820, in: Hans Erich Bödecker (Hg.), Lesekulturen im 18. Jahrhundert, Hamburg 1992, 5994. 51 Schon Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, 174-205, bes. 180f., 204f. wies auf die Aufgabe hin, Vereine innerhalb sozialer Gesamtgefüge (Familien, Nachbarschaften, Orts- und Kirchengemeinden) zu untersuchen. 52 Zu Arbeiterbauern vgl. meinen zusammenfassenden Artikel,Arbeiterbauern: Die Gleichzeitigkeit von Feld und Fabrik (1890-1960)" in: Sozialwissenschaftliche Informationen (SOW1) 27, 1998. 53 Zu den Gründen für die weitgehende Nichtbeteiligung der agrarischen Besitzerklassen an der Revolution 1848/49, wenn auch begrifflich problematisch, da „konservativ" und „traditionell" miteinander vermengend, Andreas Düwel, Sozialrevolutionärer Protest und konservative Gesinnung. Die Landbevölkerung des Königreichs Hannover und des Herzogtums Braunschweig in der Revolution von 1848/49, Frankfurt a. M. 1996; zur Interpretationsleistung Riehls vgl. Susanne Rouette, Die Bürger, der Bauer und die Revolution, in: Christian Jansen/Thomas Mergel (Hg.), Die Revolutionen von 1848/49, Göttingen 1998, 190-203. 54 Vgl. Wolfram Pyta, Dorfgemeinschaft und Parteipolitik 1918-1933. Die Verschränkung von Milieu und Parteien in den protestantischen Landgebieten Deutschlands in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1996, 48f. 55 pyta^ Dorfgemeinschaft, 275. ,6 Vgl. Pyta, Dorfgemeinschaft, 39f., Zitat 47.

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Clemens

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4. Die ostelbische Agrargesellschaft im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Ökonomische Prozesse in der ostelbischen Agrargesellschaft wurden in den letzten Jahren weniger in rein wirtschaftsgeschichtlicher als in gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive untersucht. Dies zeigt sich in dem von Heinz Reif herausgegebenen zentralen Sammelband über die „Osteibische Agrargesellschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik". 57 Typisch für das Forschungsfeld ist, daß Probleme der Agrarmodernisierung meist in Hinblick auf die Klassenstellung der (größeren) bürgerlichen und adligen Betriebsinhaber untersucht werden, dort, wo die Frage nach der Entstehung einer einheitlichen Gutsbesitzerklasse im Vordergrund steht, erweist es sich als unverzichtbar, wichtige betriebsgeschichtliche Daten zu erheben. Heinz Reif hat die Fragestellungen, die den Beiträgen seines Sammelbandes zugrundelagen, wie folgt zusammengefaßt: Wie reagierten Agrarproduzenten im großbetrieblich strukturierten Nordosten Deutschlands auf den Bedeutungsverlust der Landwirtschaft in der Volkswirtschaft und wie auf die Herausforderungen des hereindrängenden Weltmarktes? Inwiefern waren die agrarischen Eliten in der Lage, die ländlichen Bevölkerungen (bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein) auf populistischem Wege zu beherrschen und mit den eigenen Interessen zu verbinden? Wie entwickelte sich die Gesamtlage bäuerlicher und adliger Großgrundbesitzer? Inwiefern wurde die Anpassung von Produktions- und Betriebsstrukturen verzögert oder gar gefördert durch „traditionale Haltungen"? 58 In seinem Buch über , Junker und bürgerliche Großgrundbesitzer" wandte sich insbesondere Klaus Heß 59 gegen die Annahme von einer Rentabilitätskrise der deutschen Landwirtschaft seit den 1870er Jahren. Heß meint, daß die Landwirtschaft hinsichtlich der Indikatoren Besitzwechsel und Verschuldung ständig Aufschwung nahm, dabei, worauf Hartmut Harnisch hingewiesen hat, spielte aber doch die entscheidende Rolle, daß sie durch die Schutzzollpolitik abgesichert war.60 Die in der Deutschen Demokratischen Republik behauptete Formierung einer marktorientierten und kapitalistisch wirtschaftenden Großgrundbesitzerklasse aus fortschrittlichen Landadligen und reichen, fachlich gebildeten bürgerlichen Gutsbesitzern wird heute in Frage gestellt. Einerseits hatte die ostdeutsche Forschung auf die wachsende Bedeutung von Spezialkulturen wie auf den kapitalintensiven Zuckerrübenanbau durch marktorientierte Großproduzenten hingewiesen, aber in ihrer Wirtschaftsweise traditionell orientierte Gruppen waren dabei übersehen worden. Wie sich in Arbeiten von Ilona Buchsteiner zeigt, läßt sich anstelle einer Tendenz zur einheitlichen Großgrundbesitzerklasse zeigen, daß der Adel in eine wachsend ungünstige Position geriet. Den Trend zur Intensivierung der Produktion bei den großen Gütern bringt Buchsteiner mit der Zunahme bürgerlicher Gutsbesitzer, dem von die57 58 59

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Reif, Osteibische Agrargesellschaft. Heinz Reif, Einleitung, in: Ders., Osteibische Agrargesellschaft, 9-32, bes. 16. Vgl. Klaus Heß, Junker und bürgerliche Großgrundbesitzer im Kaiserreich. Landwirtschaftlicher Großbetrieb, Großgrundbesitz und Familienfideikommiß in Preußen (1870/71-1914), Stuttgart 1990. Vgl. die Rezension von Hartmut Harnisch, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 2, 1995, 279f.

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Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschafi im 19. und 20. Jahrhundert sen ausgehenden Konkurrenzdruck und mit Änderungen der inneren Bewirtschaftungsform in Zusammenhang. Die Wirtschaftsgesinnung des Adels unterschied sich in vielen Fällen weiterhin von der „kapitalistisch" wirtschaftender Gutsbesitzer. Einem Teil gelang es aber, mit den bürgerlichen (=nichtadligen) Landwirten Schritt zu halten; somit differenzierte sich der Adel in zwei Richtungen, sozusagen in Modemisten und Traditionalisten aus.61 René Schiller kommt in neueren Studien zum Ergebnis, daß es dem Adel im Bereich der großen brandenburgischen Rittergüter in bemerkenswerter Weise gelang, seine Besitzstände (trotz einer hohen Mobilität des Güterbesitzes insgesamt) zu wahren, es jedoch andere gab, die mit der Entwicklung nicht mithalten konnten und von einer Anzahl nichtadeliger Großgrundbesitzer überholt wurden. Letztere faßt Schiller als „bürgerliche" Besitzklasse auf, die jedoch ihren kulturellen Affinitäten nach kaum als (stadt-)bürgerliche Klasse zu begreifen seien. 62 Im übrigen werden nicht nur die bürgerlichen Gutsbesitzer, sondern auch die Bauern Ostdeutschlands mit ihrem Anteil von über 50% der landwirtschaftlichen Nutzfläche als Träger von Agrarmodemisierung sichtbar.63 Noch weiter ins 20. Jahrhundert führt die Untersuchung Naberts zur Provinz Sachsen, die ein „empirisch gesättigtes Gruppenbild der Großgrundbesitzer bzw. Junker" 64 bieten und sowohl die unterschiedliche Produktionsproblematik bei einzelnen agrarischen Gruppen wie die gesellschaftsgeschichtlich inspirierte Frage klären möchte, ob sich die Großagrarier noch in der Weimarer Republik als politische Führungsschicht behaupten konnten. Nabert zufolge wandelte sich der Großgrundbesitz in der Provinz nach den Preußischen Reformen zu einer sozial differenzierten Gruppe, in der bürgerliche Rittergutsbesitzer und Pächter sowie private Gesellschaften, die meist mit Gewerbeunternehmen verbunden waren, eine wachsende Rolle spielten. Die Intensivierung der Landwirtschaft vor allem nach 1900 sowie die politischen Auswirkungen von 1919 führten zu weiteren Differenzierungen, der Landadel zog sich, ähnlich wie das bei Buchsteiner erscheint, partiell aus der Bodenbewirtschaftung zurück, nachdem er seinen Bodenanteil vor dem Ersten Weltkrieg noch einmal ausgedehnt hatte, während das bürgerliche Großgrundeigentum (zum 61

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Vgl. Ilona Buchsteiner. Besitzkontinuität, Besitzwechsel und Besitzverlust in den Gutswirtschaften Pommerns 1879-1910, in: Reif, Ostelbische Agrargesellschaft, 125-140; Dies., Großgrundbesitz in Pommern, 1871-1914. Ökonomische, soziale und politische Transformation der Großgrundbesitzer, Berlin 1993; zusammenfassend und mit zahlreichen betriebswirtschaftlichen Daten: Dies., Wirtschaftlicher und sozialer Wandel in ostdeutschen Gutswirtschaften vor 1914, in: Archiv für Sozialgeschichte 36, 1996, 85-109. Siehe René Schiller, Ostelbische Großgrundbesitzer - eine „relativ offene Klasse"? Ausgewählte Ergebnisse einer Untersuchung zum Großgrundbesitz in der Provinz Brandenburg (1807-1918), in: AKA Newsletter, H. 2, 1997, 45-51; siehe auch ders., Vom Domänenvorwerk zum Rittergut. Die Domänenveräußerungen in der Kurmark in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Brandenburgische Landesgeschichte 47, 1996, 86-104. Wobei, wie Heinz Reif, Einleitung, 30f. ausführt, zahlreiche Forschungslücken übrigbleiben: Grenzen der Marktanpassung und Verschuldung, ländliches Kreditwesen und Absatzorgansiation, ein Vergleich der Rentabilität von Großgrundbesitz und Bauemwirtschaften und vor allem die Schwächen der technischen und sozialen Infrastruktur Ostelbiens, die bislang weitgehend unbeachtet blieben; vgl. auch Hans Heinrich Müller, Pächter und Güterdirektoren. Zur Rolle agrarwissenschaftlicher Intelligenzgruppen in der ostelbischen Landwirtschaft im Kaiserreich, in: Reif, Ostelbische Agrargesellschaft, 267-286. Thomas Nabert, Der Großgrundbesitz in der preußischen Provinz Sachsen 1913-1933: Soziale Struktur, ökonomische Position und politische Rolle, Köln/Weimar 1992, 3.

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Clemens Zimmermann Teil ehemalige Großbauern) sich auf Kosten anderer Betriebe bis zur Agrarkrise 1928/29 ständig ausdehnte. Durchkapitalisierte Betriebe, die eng mit Industrie und Bankkapital verbunden waren, und sehr erfolgreich wirtschafteten, fand man um 1930 sehr häufig; um typische , Junker" handelte es sich nur noch in seltenen, wenn auch markanten Fällen. Die „ungleiche soziale Herkunft" ließ sich nicht überwinden, ein „kollektiv ausgeprägtes soziales Zusammengehörigkeitsgefühl" der Großgrundbesitzer entstand nicht. 65

5. Agrarische Interessenformierung im frühen 20. Jahrhundert Zur Geschichte der Agrarpolitik und agrarischer Interessenformierung im 20. Jahrhundert (vor allem zur Zeit des Nationalsozialismus) und ihrem Beitrag zur Ökonomisierung der Landwirtschaft liegen vergleichsweise viele, sowohl flächendeckend konzipierte wie regionalhistorisch angelegte Arbeiten vor. 66 Im Vordergrund stehen Arbeiten zur Formierung großagrarischer Interessenorganisation 67 und deren Fortführung unter veränderten Systembedingungen während des Nationalsozialismus und der alten Bundesrepublik. Bei Wolfgang Pyta 68 zeigt sich in Anknüpfung an ältere Studien 69 erneut der rege Aktivismus agrarischer Interessengruppen nach 1870; spätestens in den 1880er Jahren wurde der Kampf für das eigene Interesse, getarnt durch Gemeinwohlpropaganda, aufgenommen und Reichstag und Parteien zu „bearbeiten" gesucht - mit guten Erfolgen bei industriellen Schutzzöllnern, mit relativ schlechten beim Zentrum. War man zunächst auf die Wirkung von Einzelpersönlichkeiten angewiesen, organisierte sich der Bund der Landwirte nach 1890 als populistische Massenorganisation, die somit zu den Organisationen gehörte, die immer weniger von der Staatsspitze beherrscht werden konnten. Bleibt diese Arbeit auf organisationsgeschichtlicher Ebene, so führt die von Heinrich Becker über „Handlungsspielräume in der Weimarer Republik zwischen 1923 und 1929" 70 stärker in die allgemeine Modemisierungsdiskussion und an die betriebswirtschaftliche Problematik heran. Becker möchte darauf hinaus, daß man Agrarpolitik nicht an industriell-großbetrieblichen Modernisierungen und ihren Effizienzkriterien messen könne. Zwar war die Landwirtschaft im Vergleich zur Industrie unterproduktiv, hatte aber immer noch wegen der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs die politisch 65 66

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Nabert, Großgrundbesitz, 146. Einen globalen Überblick bieten Anne Kane/Michael Mann, A Theory of Early Twentieth-Century Agrarian Politics, in: Social Science History 16, 1992, 421-454. Zusammenfassend: Rita Aldenhoff, Agriculture, in: Roger Chickenng (Hg.), Imperial Germany. A Historiographical Companion, Westport, Conn./London 1996, 33-61. Wolfram Pyta, Landwirtschaftliche Interessenpolitik im deutschen Kaiserreich: Der Einfluß agrarischer Interessen auf die Neuordnung der Finanz- und Wirtschaftspolitik am Ende der 1870er Jahre am Beispiel von Rheinland und Westfalen, Stuttgart 1991. Vgl. Hans-Jürgen Puhle, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im wilhelminischen Reich (1893-1914). Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei, Bonn-Bad Godesberg 2. Aufl. 1975. Vgl. Heinrich Becker, Handlungsspielräume der Agrarpolitik in der Weimarer Republik zwischen 1923 und 1929, Stuttgart 1990.

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Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft

im 19. und 20.

Jahrhundert

hoch bewertete Rolle, zur Sicherung der Nahrungsmittelversorgung aus eigenen Ressourcen beizutragen. Die Landwirtschaft wies zwar eine ungünstige Betriebsstruktur auf, trug aber zur gesellschaftlichen Stabilisierung bei; zumindest beschäftigte sie in der Krise viele Arbeitslose. Die Verschuldung der Landwirtschaft stieg drastisch an, was bald zum zentralen Vorwurf gegen die Republik umfunktioniert wurde, obwohl das neue Reichsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten als klarer Walter landwirtschaftlicher Interessen auftrat. Zunächst wehrten die bäuerlichen Interessenorganisationen die Sozialisierungstendenzen erfolgreich ab, und das Ministerium führte die Zwangsbewirtschaftung zurück, dann wandelte sich die Agrarpolitik in Richtung einer Einkommenspolitik, bis die agrarprotektionistische Wende von 1929 stattfand, die die Landwirtschaft erneut auf Kosten anderer Wirtschaftsbereiche begünstigte. Die Perspektive einer Reagrarisierung erschien während der Weltwirtschaftskrise als Zukunft denkbar und stand einer klaren industriewirtschaftlichen Option entgegen. Die erwähnte Arbeit von Bernd Kölling 71 zur Interessenformierung bei Landarbeitern vergleicht zwei europäische Agrarregionen: Pommern mit Getreidewirtschaft und Viehmast, und die Lomellina (in der Provinz Pavia, mit Getreide-, Reis- und Maisbau). Es geht um die Erklärung eines in der Tat vergleichbaren Phänomens: Die virulenten Streikbewegungen vor und nach dem Ersten Weltkrieg und (kurzfristige bzw. schwankende) Organisationserfolge sozialistischer Landarbeitergewerkschaften. Kölling zielt auf die Klärung sowohl der organisationsförderlichen wie derjenigen Faktoren, die eine dauerhafte Organisationsentwicklung in Richtung einer stabilen gewerkschaftlichen Klassenorganisation verhinderten. Kölling weist nach, daß zu solchen hinderlichen Faktoren die Fragmentierung von Arbeitsmärkten und die sich verschärfende Konkurrenz der ortsgebundenen, festangestellten Arbeiter mit mobilen braccianti gehörte, ähnliches gilt für Pommern. Ebenso die Konkurrenz zwischen Frauen- und Männerarbeit (Italien) bzw. die wieder wachsende Bedeutung der Familienwirtschaften (Pommern) sind weitere Faktoren, welche die Ausbildung der Landarbeiter als Klasse verhinderten, außerdem hätten die sozialdemokratischen Gewerkschaften weder die Interessen der Landarbeiterschaft genügend berücksichtigt noch sich auf die ländlichen Sozialverhältnisse eingelassen. Man kann offensichtlich, das zeigt Kölling, moderne Klassenbildungs- oder vielmehr Streik- und Organisationsgeschichte in der ländlichen Gesellschaft nur unter Einbeziehung der jeweiligen Selbstverständnisse und ökonomisch-sozialer Zusammenhänge betreiben, in diesem Fall der Familienwirtschaft. Man trifft im Zuge der Streikwellen nach dem Ersten Weltkrieg auf vielfache individuelle „Renitenz" Mißerfolge führten zur Integration großer Teile in den Pommerschen Landbund, die Mitgliederzahlen des DLV schrumpften seit 1920 rapide. Insgesamt läßt sich dennoch von „Politisierung" ostelbischer Landarbeiter sprechen: Der bislang vorherrschende Lokalismus wird immer wieder überwunden, dann aber sei die Landarbeiterschaft stark von denjenigen enttäuscht worden, die ihre Interessen vertraten. Der ländliche Raum bot Möglichkeiten für spezifische Protestformen, die sich der Rationalität des „Fordismus" entzogen: anonyme und kollektive Drohungen, die gar nicht wirkungslos, also auch nicht irrational waren. 72 71 72

Kölling, Familienwirtschaft und Klassenbildung. Einen informationsreichen Überblick über Lebensverhältnisse, aufflackernde Proteste 1848 und

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Clemens Zimmermann

6. Agrarpolitik im Nationalsozialismus Sowohl die ersten Wahlerfolge der NSDAP in ländlichen Milieus wie die große Resonanz, auf die das nationalsozialistische Agrarprogramm einschließlich seiner rassistisch-ideologischen Komponenten in der bäuerlichen Bevölkerung stieß, haben die Forschung seit längerer Zeit beschäftigt. Wie in anderen gesellschaftlichen Handlungsfeldem zeichnet sich in der nationalsozialistischen Agrarpolitik ein essentieller Widerspruch zwischen antimodernistischen Appellen und kriegs- und industriewirtschaftlich bedingter Modernisierung ab, der große Teile des ursprünglichen Agrarprogramms scheitern ließ. In einer Deutschland und Italien vergleichenden Studie von Gustavo Corni sowie in einer umfassenden Darstellung von Corni und Horst Gies ist dieser Ambivalenz nachgegangen worden. 7 3 Die nationalsozialistische Agrarpolitik konnte auf einem relativ hohen Produktivitätsniveau ansetzen und stand zunächst weniger unter Modernisierungszwang als das faschistische System. Für viele Bauern und Gutsbesitzer schien die Chance gegeben, den im 20. Jahrhundert forcierten Bedeutungsverlust des landwirtschaftlichen Sektors gleichsam zurückzudrehen, „ihre traditionell dominierende Position zurückzuerobern und ihre spezifischen Interessen offensiv wahrzunehmen". Die NSDAP versprach das „Ende des sozialen Abstiegs bzw. der massiven Existenznot"; gleichzeitig versuchten ,Junker", ihren „traditionellen Einfluß wiederherzustellen". 74 Doch bald nach der Machtergreifung geriet der Nationalsozialismus in ein Dilemma: Einerseits stand er im Wort, ein stabiles Bauerntum wiederherzustellen und es gegen Markt und Verschuldung abzusichern, andererseits mußte die Agrarpolitik mit industriewirtschaftlichen Imperativen vereinbart werden. Zwar wurden die bisherigen Interessenorganisationen in den neuen Apparat eingegliedert, die Bauern im Kult von „Blut und Boden" symbolisch aufgewertet; eine dauerhafte Einkommensverbesserung war jedoch nicht erreichbar, weil spätestens 1936 der Industrie der Vorrang bei Verteilung der Ressourcen eingeräumt wurde. Nicht nur wurde den institutionalisierten Agrarinteressen durch den Vierjahresplan der Boden unter den Füßen weggezogen, sondern Aufrüstung und Krieg wirkten sich auch wachsend negativ auf die agrarischen Produktionsbedingungen aus. Es mußte Ersatz für die Arbeitsleistung

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74

die Gründe für sozialdemokratische Mißerfolge bei der Landagitation gibt Gerhard Schildt. Die Landarbeiter mit ihrem konservativen Selbstverständnis - dieses sieht Schildt offensichtlich analog zur Hofbauem-Traditionalismusthese als invariable Größe an - seien zur Bildung einer Klasse „für sich" nicht fähig gewesen; individueller Widerstand habe sich in Abwanderung in die Städte ausgewirkt, nicht aber zu politischem Protest verdichtet; vgl. Gerhard Schildt, Die Landarbeiter im 19. Jahrhundert - eine unvollendete Klasse, in: Archiv für Sozialgeschichte 36, 1996, 1-26. Vgl. Gustavo Corni, Hitler and the Peasants. Agrarian Policy of the Third Reich, New York/Oxford/München 1990; Ders./Horst Gies, Brot, Butter, Kanonen: Die Emährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997; vgl. auch Michael Schwanz, Zwischen „Reich" und „Nährstand". Zur soziostrukturellen und politischen Heterogenität der Landesbauemschaft Westfalen im „Dritten Reich", in: Westfälische Forschungen 40, 1990, 303-336; Karl Stocker, Landwirtschaft zwischen „Rückständigkeit" und „Fortschritt". Notizen zur Industrialisierung des Agrarbereichs in der NS-Zeit am Beispiel der Oststeiermark, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 38, 1990, 62-86; Joachim Lehmann, Mecklenburgische Landwirtschaft und „Modernisierung" in den dreißiger Jahren, in: Frank Bajohr (Hg ), Norddeutschland im Nationalsozialismus, Hamburg 1993. 335-346. Corni/Gies, Brot, 9.

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Ländliche Gesellschaft und Agrarwirt schaft im 19. und 20. Jahrhundert der einberufenen und gefallenen Männer geschaffen werden, die terms of trade des Agrarsektors verschlechterten sich zunehmend, da das NS-Regime auf die Interessen städtischer Verbraucher Rücksicht nehmen mußte. Die Gegensätze zwischen wirtschaftlichen und bevölkerungspolitischen Zielsetzungen traten offen zutage. Wachsende Agrarimporte aus Südosteuropa konnten die Defizite bei der autarkistischen Nahrungsmittelproduktion zwar etwas ausgleichen - die diversen „Erzeugungsschlachten" brachten u.a. wegen der Arbeitskräfteproblematik keine befriedigenden Erfolge - zu deren Finanzierung waren aber Industrieexporte nötig. Je ideologischer sich die deutsche Agrarpolitik gerierte, desto dysfunktionaler war sie für den Kurs der Wiederaufrüstung. 75 Die von Darre erhoffte Reagrarisiening unter rassenpolitischen Gesichtspunkten fand nicht statt, deshalb hatte die nationalsozialistische Agrarpolitik weniger Konsequenzen für das gesellschaftliche Gefüge auf dem Land als erwartet. So, wie die Rivalität zwischen Reichsnährstand und Reichsernährungsministerium „mit dem Sieg des Staates über die landwirtschaftliche Interessenvertretung" 76 endete, nahmen auf regionaler und lokaler Ebene die Konflikte zwischen Landesbauernschaften und Partei sowie zwischen bäuerlichen Interessen und den von der Arbeitsfront vertretenen Landarbeitern zu. Demnach entwerfen Corni/Gies zum einen ein Bild des „Chaos der Zuständigkeiten", der „Diffusität der Entscheidungsprozesse" und der „Rivalität der Führungskräfte", 77 anhaltender Mängel der Betriebsstruktur, zum anderen weisen sie auf die „Fettlücke" bei der Ernährungsbilanz hin. Das System war damit überfordert, gleichzeitig den Agrarmarkt rigide unter Kontrolle zu halten, die Arbeitskräfte auf dem Lande zu halten und die Schäden der Kontingentierungspolitik in Grenzen zu halten. Corni und Gies gelingt es, auf der Grundlage des Polykratie-Ansatzes die Agrarideologie des NS-Systems mit seiner Praxis zu konfrontieren und mit der Geschichte von Konsum und Ernährungspolitik zu vermitteln. Wichtige Punkte bleiben gleichwohl unklar. Erstens stellt sich die Frage, wie die Produktionsleistung bis zum Ende des Krieges im wesentlichen stabil gehalten werden konnte. Während Corni/Gies die Ansicht vertreten, wegen der Bauerntumsideologie sei es nicht zu einem harten Produktivitätsdruck gekommen, weil sonst die Geburtsfähigkeit der Bauernfrauen gefährdet worden wäre, und darauf verweisen, daß die Zahl der beschäftigten weiblichen Arbeitskräfte 1939/44 im Gegensatz zum sekundären Sektor zurückging, 78 vertritt Daniela Münkel in ihrer eindringlichen Studie über die Durchsetzung der Agrarpolitik vor Ort (Landkreis Stade bei Hannover) die Position, daß die symbolische Überhöhung der Landfrauen zu „Hüterinnen der Art" im mühevollen Arbeitsalltag ständig konterkariert wurde. 79 Zweitens bedarf die Tendenz bei den Autoren, die tatsächliche Modernisierung der Landwirtschaft wegen der Knappheit an Ressourcen und der ideologischen Barrie7i 76 77 7S 79

Comi, Hitler and the peasants, 273. Corni/Gies, Brot, 167. Comi/Gies, Brot, 249. Comi/Gies, Brot, 446f.; im Gegensatz dazu 448, nach der diese Zahl um 40.000 stieg. Daniela Münkel, Nationalsozialistische Agrarpolitik und Bauemalltag, Frankfurt a. M./New York 1996; Dies., „Ein besseres Leben für die Landfrau?". Technik im bäuerlichen Haushalt während der NS-Zeit, in: metis 4, 1995, 41-59; siehe auch Angela Vogel, Das Pflichtjahr für Mädchen. Nationalsozialistische Arbeitseinsatzpolitik im Zeichen der Kriegswirtschaft, Frankfurt a. M. 1997.

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Clemens Zimmermann ren als äußerst beschränkt zu sehen, begrifflicher Klärungen. Zur Produktivierung trugen die Ablieferungszwänge und der Leistungsdruck, der wachsend auf den Bauern lastete, nachweislich bei und die 'Bereinigung'der Agrarstruktur in Richtung einer Eliminierung der Kleinbetriebe und einer Technisierung der Vollbauemhöfe bahnte sich sehr deutlich an; dies verweist auf den Agrarstrukturwandel nach 1960 80 und entspricht industriewirtschaftlichen Entwicklungslogiken. Drittens stellt sich die Frage, wie sich die Landbevölkerung zur Agrarpolitik verhielt und wie sie im sozialen Gefüge von Landgemeinden implementiert werden konnte. Daniela Münkel ist diesen Fragen für das protestantische, mittelbäuerlich geprägte Milieu nachgegangen. Weniger polykratische Strukturen würden bei der Analyse der NS-Herrschaft auf dem Land sichtbar als die Notwendigkeit, die Agrarpolitik vor Ort an die Erwartungen der bäuerlichen Bevölkerung und die Notwendigkeiten des Wirtschaftens anzupassen, den Sachverstand nichtparteigebundener Agrarfunktionäre zu nutzen. In diesem Milieu wurde die nationalsozialistische Agrarpolitik insgesamt und die damit verbundene Aufwertung des Bauernstandes' zwar begrüßt, im einzelnen aber heftig kritisiert. In dem Maße, wie Kriterien betriebswirtschaftlicher Rationalität wichtiger wurden, konnten Funktionäre vor Ort ihre Spielräume ausweiten und in verschiedene Richtungen nutzen. Durch die Auswertung regional dimensionierter Daten zeigt sich, daß die Verwandlung bäuerlicher Betriebe in „Reichserbhöfe" vielfach rückgängig gemacht oder von vornherein vermieden wurde, um Modernisierungskredite in Anspruch nehmen zu können. Die im Erbhofprogramm angestrebte Entschuldung der größeren Höfe, die von der NS-Agrarpolitik mehr profitierten als die kleinen, wurde demnach nicht erreicht. Weniger explizit widmet sich Münkel indes der Tatsache, daß die Agrarpolitik des Nationalsozialismus, die an die Kontingentierungswirtschaft des Ersten Weltkrieges anknüpfte, die Landwirtschaft insgesamt staatlichen Zwecken nutzbar machte und, über die historischen Vorbilder hinaus, einen fundamentalen Eingriff in die seit der Individualisierung des 19. Jahrhunderts erreichte Produktionsautonomie der Bauern darstellte. 81 Viertens stellt sich die Frage, ob die Dörfer als soziale Gebilde nicht doch stärker mobilisiert und die national dimensionierte Kommunikationsgesellschaft einbezogen wurden als dies bei Münkel erscheint, wo sie als noch äußerst homogen und hermetisch, auch dem Nationalsozialismus gegenüber, dargestellt werden. 82 Es fehlt hier essentiell an vergleichend angelegten Regionalstudien. 83 80 81

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Vgl. Josef Mooser, Kommentar, in: Frese/Prinz, Politische Zäsuren, 389-398, hier 396f. Ebd., 393f. Zur Vermittlerrolle des Landfunks vgl. Daniela Münkel, Radio für das Land. Der Landfunk in der NS-Zeit, in: Westfälische Forschungen 47, 1997, 427-451. Münkel, Agrarpolitik, 474ff. Zur Durchsetzungsproblematik des Erbhofgesetzes, zu Arbeitseinsätzen und Siedlungsprogrammen im kleinbäuerlichen hessischen Ried vgl. Bernd Heyl/Wolfgang Heinbach/Heike Wirthwein, Zur Gründungsgeschichte von Allmendfeld, Hessenaue und Riedrode. Lokalstudie zur NS-Agrarpolitik, Griesheim 1988; zu siedlungs-, agrar- und rassenpolitischen Maßnahmen in der Rhön Joachim S. Hohmann, Landvolk unterm Hakenkreuz. Agrar- und Rassenpolitik in der Rhön. Ein Beitrag zur Landesgeschichte Bayerns, Hessens und Thüringens. Frankfurt a. M. 1992; Ders., Thüringens „Rhön-Plan" als Beispiel nationalsozialistischer Agrar- und Rassenpolitik, in: Detlev Heiden/Gunther Mai (Hg.), Nationalsozialismus in Thüringen, Weimar/Köln/Wien 1995, 293-312. Zur Abwehr von Disziplinierungsmaßnahmen einerseits und zur fortschreitenden Betriebsrationalisierung andererseits vgl. Theresia Bauer, Nationalsozialistische Agrarpolitik und bäuerliches Verhalten im Zweiten Weltkrieg. Eine Regionalstudie zur ländlichen Gesellschaft in Bayern, Frankfurt a. M. 1996; zu Erfolgen und Grenzen nationalsozialistischer Herrschaft in lippischen Dörfern vgl.

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Ländliche Gesellschaft

und Agrarwirtschaff

im 19. und 20. Jahrhundert

Fünftens ist immer noch unklar, inwieweit speziell die Ideologie von „Blut und Boden" wirklich alle bäuerlichen Gruppen im Dorf erreichte. Mathias Eidenbenz vertritt die nicht unplausible These, daß sie sich nur an „ländliche Intellektuelle" und „agrarische Eliten" wandte. Die Metapher „Blut und Boden", bei der sich die Vorstellung eines Ideals genetischer Eigenschaften bestimmter Bevölkerungsteile mit dem Ideal einer agrarisch dominierten ständischen Gesellschaft und nationaler und kultureller Identität verband, 84 wies viele emotionale Konnotationen auf, die zwar theoretisch mit Hilfe semiotischer Ansätze herausgearbeitet werden können, deren tatsächliche Verbreitung indessen gänzlich ungeklärt ist.

7. Agrarpolitik und dörfliche Gesellschaft nach 1945 Die neuere Agrargeschichte hat sich verschiedenen Themen der Agrargeschichte der Nachkriegszeit intensiv angenommen: Der Reorganisation der Interessenverbände, der Produktionsentwicklung, dem tiefgreifenden sozioökonomischen Strukturwandel, der Kapitalisierung, der Einkommensentwicklung und Verschuldung der landwirtschaftlichen Betriebe, ihrem Technikeinsatz, der Bodenreform in Ost und West und am stärksten der allgemeinen Agrarpolitik. 85 Bei Ulrich Kluge wird der massive, von „oben", von der Bundespolitik und der Agrarwissenschaft 86 induzierte Strukturwandel der Landwirtschaft nach 1949 detailreich dargestellt 87 und unter Hinweis auf die unabänderliche Entwicklungslogik im europäischen Ganzen legitimiert: „Es geht um die Erhaltung eines existenz- und entwicklungsfähigen Kernbestands bäuerlicher Familienwirtschaften ... in breiter Streuung über alle Agrarregionen." 88 Wilfried Feldenkirchen sieht einen Neubeginn der (westdeutschen) Agrar-

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Caroline Wagner, Die NSDAP auf dem Dorf. Eine Sozialgeschichte der NS-Machtergreifung in Lippe, Münster 1998. Vgl. Mathias Eidenbenz, „Blut und Boden". Zu Funktion und Genese der Metaphern des Agrarismus und Biologismus in der nationalsozialistischen Bauempropaganda R. W. Darias, Bern 1993,9. Vgl. den informativen Überblick von Arnd Bauerkämper, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in der Bundesrepublik in den 50er Jahren, in: Schildt/Sywottek, Modernisierung, 188-200; Jörn Sieglerschmidt, Die Industrialisierung der landwirtschaftlichen Produktion seit 1950, in: Ders. (Hg.), Der Aufbruch ins Schlaraffenland. Stellen die Fünfziger Jahre eine Epochenschwelle im Mensch-Umwelt-Verhältnis dar?, Mannheim 1995, 181-203; zu den sozialen Auswirkungen und Perzeptionsweisen der sozialistischen Agrarpolitik vgl. Amd Bauerkämper, Die Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone in vergleichender und beziehungsgeschichtlicher Perspektive. Einleitung, in: Ders. (Hg.), .Junkerland in Bauemhand"? Durchführung, Auswirkungen und Stellenwert der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone, Stuttgart 1996, 7-19. Zu deren Entwicklung vgl. Volker Klemm, Agrarwissenschaften in Deutschland. Geschichte - Tradition: Von den Anfängen bis 1945, St. Katharinen 1992; Ders., Die Entstehung eigenständiger Landbauwissenschaften in Deutschland (1800-1830), in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 44, 1996, 162-173; Ders., Anfänge einer akademischen landwirtschaftlichen Forschung und Lehre in Berlin/Brandenburg (Ende des 18. Jahrhunderts bis 1830), in: Axel Lubinski/Thomas Rudert/Martina Schattkowsky (Hg.), Historie und Eigen-Sinn. Festschrift für Jan Peters zum 65. Geburtstag, Weimar 1997, 63-73; Susanne Reichrath, Entstehung, Entwicklung und Stand der Agrarwissenschaften in Deutschland und Frankreich, Frankfurt a. M. 1991. Ulrich Kluge, Vierzig Jahre Agrarpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, 2 Bde., Hamburg 1989. Ebd., 367.

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Clemens Zimmermann politik erst 1949, als die Gefahr einer Hungerkatastrophe gebannt war, bis dahin und bis zum Marshallplan orientierte man sich an den seit 1930 etablierten Prinzipien von Autarkie, Zwangsbewirtschaltung, Marktordnung, von denen man sich auch danach nicht vollständig entfernte. 89 Sozialgeschichtlich ist am ehesten der dornigen Geschichte der Integration der Heimatvertriebenen in die dörflichen Gesellschaften nachgegangen worden; die Probleme des Umbruchs von Sozialstrukturen, der dörflichen Sozialbeziehungen in Ost-West-Vergleichen, der Urbanisierung von ländlicher Kultur und der generellen Entwicklung von Stadt-Land-Beziehungen 90 in einer durch starke Beschleunigung des Umbruchtempos ausgezeichneten Periode sind erst ansatzweise erforscht. Für die Periode nach 1945 geht die Forschung besonders den beiden verschiedenen Wegen der Agrarmodernisierung in West- und Ostdeutschland nach: hier ein radikaler Umbruch der Agrarstrukturen, der durch agrarpolitische Interventionen und Einkommenspolitik erst verzögert, später stark beschleunigt wurde, dort eine aus politischen Imperativen gespeiste Bodenreform und Agrarkollektivierung, die schließlich in den Aufbau riesengroßer Betriebseinheiten auf der Basis von Lohnarbeit führen sollte. In der SBZ/DDR sollte zunächst mit den Brachialmethoden der sogenannten Bodenreform eine neue, der KPD/SED nahestehende ländliche Klasse konstituiert und der Aufbau einer kleinbäuerlichen Veredelungslandwirtschaft gefördert werden. 91 1952 bereitete die einsetzende Kollektivierung den Weg zur großbetrieblichen Modernisierung. Allerdings konnte sich nicht nur im Nationalsozialismus, sondern auch in der sozialistischen Planwirtschaft der zentrale Zugriff auf die Agrarstrukturen nicht im ersten Anlauf durchsetzen, sondern informelle soziale Beziehungen und Traditionsmilieus verlangsamten ihn. Zudem brachte die Bodenreform zwar eine Beseitigung der Herrschaft der Gutsbesitzer und gravierende Veränderungen in der ländlichen Sozialschichtung (Landbesitz für Zugewanderte und Landarme), nicht jedoch unmittelbare Erfolge bei der Produktion, im Gegenteil. 92 Sie verschärfte soziale Gegensätze in den Dörfern, eine kulturelle Homogenisierung der verschiedenen Sozialgruppen wurde nicht erreicht, die wachsende Priorität der Industrieförderung erhöhte den Druck auf unterkapitalisierte Betriebe. 93 Nach den Kollektivierungen lagen große Flächen brach, flohen tausende Groß- und Mittelbauern, aber die angesiedelten Flüchtlinge wechselten bald, analog zur Entwicklung in der Bundesrepublik, in die Industrie über. Insgesamt lief die Agrarpolitik der SED auf die Zerstörung dörflicher Sozialstrukturen hinaus, vor allem seit der Bildung der LPGs, 94 während 89

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Vgl. Wilfried Feldenkirchen, Agrarpolitik im Nachkriegsdeutschland: Leitbilder und Ziele der deutschen Politiker, Parteien und Interessenvertretungen, in: Hans-Jürgen Gerhard (Hg.), Struktur und Dimension. Festschrift für Karl Heinrich Kaufhold zum 65. Geburtstag, Band 2: Neunzehntes und Zwanzigstes Jahrhundert, Stuttgart 1997, 266-291. Zu Stadt-Land-Konflikten insbesondere Heiko Haumann, Konfliktlagen und Konflikte zwischen Stadt und Land, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Soziale Räume in der Urbanisierung, München 1990, 17-36; Klaus Tenfelde, Stadt und Land in Krisenzeiten, in: Ebd., 37-58; Christoph Nonn, Verbraucherprotest und Parteiensystem im wilhelminischen Deutschland, Düsseldorf 1996. Vgl. Arnd Bauerkämper, Antinomien der Modernisierung. Die Bodenreform in Mecklenburg 1945 im Kontext der Entwicklung von Agrarwirtschaft und ländlicher Gesellschaft von 1930 bis 1960, in: Matthias Frese/Michael Prinz, Politische Zäsuren, 361-387, hier 363. Ebd., 367-375. Ebd., 376-379. Ebd.. v.a. 385.

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Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft

im 19. und 20.

Jahrhundert

sich in der Bundesrepublik der Strukturbruch in langsamerem Tempo, auf dem stillen Wege allmählicher Betriebsaufgabe der Kleinbauern vollzog und die verbleibenden Betriebe an der allgemeinen Prosperität partizipieren konnten. Am Beispiel dreier westfälischer Dörfer ging Peter Exner 95 dem tiefgreifenden Strukturwandel aller Bereiche dörflichen Lebens in der Nachkriegszeit nach, dessen entscheidende Phase in die sechziger Jahre verlegt wird. Indikator für einen bislang undenkbaren sozialen Wandel ist beispielsweise die Rekrutierung von SPD-Arbeitern in bislang bäuerlich beherrschten Gemeinderäten. 96 Dörfliche Oberschichten schotteten sich allerdings in ihren ökonomischen und gesellschaftlichen Beziehungen weiterhin sehr stark ab und suchten ihre Hegemonie durch überörtliche Rekrutierung von Heiratspartnern zu erhalten. Bisherige stabile Verhältnisse, traditionelle Formen der Festkultur gerieten in den siebziger Jahren endgültig ins Rutschen, die bislang marginalisierten Heimatvertriebenen traten neugegründeten Vereinen bei, so daß die Dorfkultur stärker pluralistische Züge annahm. Die Urbanisierung des Landes vollzog sich jetzt rasch, als Autos, Radios und Fernseher angeschafft wurden und es auch den Landbewohnern freistand, jederzeit an außerdörfliche Einkaufs- und Arbeitsstätten zu gelangen, während gleichzeitig in den Dörfern ein Teil der Arbeitsplätze abgebaut wurde. Bei Exners Beispielen handelt es sich um ein sehr geschlossenes bäuerliches Milieu, das man wohl mit dem Münkeis vergleichen kann, das aber keineswegs für Deutschland repräsentativ ist. Es wird eine der Hauptfragen künftiger Sozialgeschichte der ländlichen Gesellschaft sein, wie hermetisch man sich die Dorfgesellschaften noch im 20. Jahrhundert gegenüber äußeren Einflüssen vorstellen muß und wie stark Mittel- und Großbauern die dörfliche Lebenswelt kulturell und politisch beherrschen konnten. Wann findet der wirklich entscheidende Umbruch im Prozeß der Entbäuerlichung der Dörfer statt? Wo genau vollzieht sich der Umschlag von einer „Bauemsiedlung" in eine „gewerblich geprägte, urbanisierte Wohngemeinde"? Welche für größere Gebiete geltenden typologischen Unterschiede müssen dabei beachtet werden, vor allem die zwischen Dörfern in Stadtnähe und fernab größerer Städte, und hinsichtlich naturräumlicher Faktoren? 97 Jedenfalls muß man früheren Urbanisierungsschüben vor 1945 nachgehen. Außerdem sollte berücksichtigt werden, daß in den deutschen Ländern der Zuzug von Heimatvertriebenen sehr unterschiedlich kontingentiert war. 98 Paul Erker über den „langen Abschied vom Agrarland" greift mit Bayern ein Land heraus, in dem die landwirtschaftliche Erwerbstätigkeit langsamer als woanders zurückging und die Tendenz zum Dorf ohne Bauern zeitversetzt ablief. Wo sich die 95

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4 ys

Vgl. Peter Exner, Beharrung und Wandel. Ländliche Gesellschaft und Landwirtschaft in Westfalen 1919-1969, Paderborn 1997. In Baden (vgl. Clemens Zimmermann, Lage, dörflicher Kontext und Mentalität nordbadischer Tabakarbeiter 1880 - 1930, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 135, 1987, 323-358) läßt sich dasselbe Phänomen schon im frühen 20. Jahrhundert feststellen. Diese bezieht Friedeburg (vgl. Ländliche Gesellschaft, 38ff.) in seine Gemeindetypologie ein. Zur generellen Problematik Thomas Grosser, Die Flüchtlingsfrage in der sozialgeschichtlichen Erweiterung. Anmerkungen zum neueren Forschungsstand, in: Sylvia Schraut/Thomas Grosser (Hg.), Die Flüchtlingsfrage in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, Mannheim 1996, 19-30; Helmut Grieser, Der Stand der regionalgeschichtlichen Forschung zur Vertriebenenproblematik nach 1945. Schwerpunkte und Desiderate, in: Karl Heinrich Pohl (Hg.), Regionalgeschichte heute. Das Flüchtlingsproblem in Schleswig-Holstein nach 1945, Bielefeld 1997, 67-80.

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Clemens Zimmermann Landwirtschaft rasch modernisierte, wurde die Industrialisierung sogar aufgehalt e n . " Erker betont, daß man die Bauern nicht als Opfer des Industrialisierungsprozesses, sondern ihre aktive Rolle bei der Agrarmodernisiening sehen solle, selbst wenn sich viele Klein- und Kleinstbesitzer (bis etwa 1960) dem Wandel widersetzten. Erker arbeitet sehr präzise verschiedene Gegentendenzen im Transformationsprozeß zum entbäuerlichten Dorf heraus: Bis in die sechziger Jahre hinein wuchs die unterbäuerliche Schicht durchaus traditionellen Zuschnitts aufgrund der Zuwanderung an, und bis 1970 wuchs auch die Zahl der Arbeiterbauernbetriebe, die als eine „Art Scharnier zwischen Land- und Industriewirtschaft fungierten. (...) Es gab nicht nur den „langen Abschied" der Bauern vom Vollerwerbsbetrieb über die Neben- und Zuerwerbstätigkeit bis zur hauptberuflichen Tätigkeit im Industrie- und Dienstleistungsbereich, in dessen Verlauf das Agrarland zur Kleingartenparzelle schrumpfte, sondern auch gleichzeitig eine Stabilisierung und Herausbildung von durchrationalisierten, ertragsstarken vollbäuerlichen Mittelbetrieben, für die der Abschied der Kleinbauern wesentliche Voraussetzung der Existenz war." 100 Der Begriff des Bauern verliert im Zuge dieses sozialen Prozesses seine ständischen Konnotationen, es handelt sich in der Gegenwart um eine Besitzklasse, die gegenüber dem übrigen Mittelstand durch ihren Bodenbesitz, ihre Stellung am Markt, Kultur und dörfliche Wohnweise spezifisch gekennzeichnet bleibt. 101 Der durch Agrarpolitik und Industrialisierung vorangetriebene Transformationsprozeß veränderte weniger die Besitzklassen- als die Erwerbsklassenstruktur, erst jetzt näherte sich der Bauer dem Typ des kapitalistischen Unternehmers. Dieses von Erker entworfene Modell einer industrialisierungsabhängigen Agrarmodernisiening bei Betonung aktiver Adaption und sozialer Kosten gleichermaßen scheint mir tragfähig genug, um an anderen regionalen Beispielen überprüft zu werden, wenn man die Seite der sozialen „Kosten" genügend gewichtet. Josef Mooser stellte in einem sehr dichten Forschungsresümee, die Modemisierungspolitik in den Kontext der allgemeinen Transformation der Agrargesellschaft im 20. Jahrhundert und unterstrich die Verluste an Traditionsbeständen und die negativen Aspekte des ökonomischen und politischen Außendrucks stärker als Erker. Mooser verweist darauf, wie sich schon seit dem 19. Jahrhundert das feinmaschige System der Austauschbeziehungen zwischen Familienbetrieben und ländlichen Arbeitskräften auflöste, die gesamte „geldarme Arbeitstauschwirtschaft, in der kleine und große Bauern, aber auch Landarbeiter, Handwerker und Händler miteinander verbunden waren", wurde kommerzialisiert und später griff dann der „Schwund von Kleinbauern, die Abwanderung vom Land, die kontinuierliche gewerbliche Beschäftigung von Arbeiterbauern, Lohnerhöhungen", und die sozialpolitische Absicherung der Bauernfamilien tief in das bisherige „gesellschaftliche Netz der Arbeitstauschwirtschaft" ein. Ebenso kritisch sieht Mooser, daß die Reduktion der traditionellen Familienwirtschaft in hochtechnisierte und kapitalintensiv wirtschaftende bäuerliche Betriebe den Frauen und Kindern eine größere Arbeitslast zugemutet habe. 102 99

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Paul Erker, Der lange Abschied vom Agrarland. Zur Sozialgeschichte der Bauern im Industrialisierungsprozeß, in: Frese/Prinz, Politische Zäsuren, 327-360, hier 330. Ebd., 333. Ebd., 337. Mooser, Kommentar, 394.

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Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert

8. Resümee Sind wir in der neuen Bundesrepublik durch Agrarmodernisierung in West und Ost, letztlich auch durch die Erwartungen der in der Landwirtschaft aktiven Bevölkerungen, an der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung und den Konsumchancen anderer Arbeitnehmer zu partizipieren, schließlich am Endpunkt ländlicher Gesellschaft angekommen? 103 Oder gibt es, wie Beate Brüggemann und Rainer Riehle 1986 annahmen, einen fortwirkenden und spezifisch dörflichen „Typus von Orientierung und Wahrnehmung, von Kommunikation und Interaktion", der die „Marginalisierung der Bauern im Dorf' und die „städtische Vereinnahmung der Dörfer" überdauert, ist mithin die Ablösung der Stände- durch die Marktgesellschaft nicht vollzogen?104 Die allgemeine Sozialgeschichte hat bei ihrer zentralen Frage nach der Formierung der urbanisierten und industrialisierten Gesellschaft den ländlichen Sektor kaum thematisiert. Die Agrargeschichte als Feld von Interessen klärte zahlreiche ökonomische und soziale Prozesse in der Binnenperspektive, ihre Topiken verschoben sich im letzten Jahrzehnt weiter: Vom „Ganzen Haus" zur Individualisierung und Kommerzialisierung, vom Stand zur Klasse, vom Bauern zum Bürger oder Agrarunternehmer. Die Begrifflichkeit und implizite Vorverständnisse der Agrargeschichte änderten sich stark, Kategorien wie Geschlecht, Herrschaft und Ausbeutung sind heute verbreitet, doch ihre Klassifikationen sind kaum lupenrein zu nennen: Soll man von bäuerlicher „Produktionsweise" oder von „Kultur" sprechen? Handelt es sich beim heutigen „Bauern" um eine Konfiguration des historischen „Bauern" oder, in der Perspektive „äußerer" Agrargeschichte,105 um einen „Landwirt" als Differenzierungsphänomen kapitalistischer Ökonomie? Schon die ländliche Gesellschaft am Ende der Frühen Neuzeit war durch Polarisierungstendenzen zwischen dörflichen Gruppen, die sich durch den ökonomischen und politischen Außendruck sowie durch interne Macht- und Ressourcenkonflikte immer wieder vertieften, ohne daß man generell von der Entwicklung zu einer ländlichen Klassengesellschaft sprechen kann. Inwieweit also kam es über die Ausdifferenzierung von Besitzklassen hinaus zur Ausbildung ländlicher Klassengesellschaft, die in Konflikten manifest wurde? Wie „abgeschottet" waren die Dörfer, wer brachte gesellschaftlichen Wandel im Binnenraum hervor, wie wirkte sich die Kollektivierung auf die ländliche Welt Ostdeutschlands nach 1960 aus und wo schließlich liegen Anfang, Ende und Zäsuren beim Transformationsprozeß ländlicher Ökonomie und Gesellschaft? Modernisierung und gesellschaftliche Transformationen liefen weder linear ab, Intentionen und Ergebnisse induzierten Wandels entsprachen einander nicht, unter anderem deshalb, weil die Industrialisierung nicht nur zur Auflösung der Agrargesell-

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Instruktiv Mooser, Kommentar, 394. Beate Brüggemann/Rainer Riehle, Das Dorf. Über die Modernisierung einer Idylle, Frankfurt a. M./New York 1986, 224f.; siehe auch Robert Hettlage, Über Persistenzkeme bäuerlicher Kultur im Industriesystem, in: Christian Giardano/Robert Hettlage (Hg.), Bauemgesellschaften im Industriezeitalter. Zur Rekonstruktion ländlicher Lebensformen, Berlin 1989, 287-333; Konrad Köstlin, Explikation des Ländlichen. Symbolische Ortsbezogenheit - das Beispiel Gottfried Kölwel, in: Siegfried Becker/Andreas C. Bimmer (Hg.), Ländliche Kultur, Göttingen 1989, 89-105. Zu „innerer" und „äußerer" Agrargeschichte vgl. die Einleitung zu diesem Band. 161

Clemens

Zimmermann

schaft führte, sondern vielfach agrarische Besitzklassen restabilisierte und jeweils nur partiell das soziale Gefüge in Dörfern veränderte. Die sozial integrative Funktion des „Dorfes" als Handlungskontext und Handlungskomplex war ausgeprägt und scheint auch heute nicht am historischen Ende angelangt zu sein. Der Wandel war langfristig angelegt und beruhte auf Wechselwirkungen zwischen den von außen wirkenden, modernisierenden Kräften der Industrialisierung und Urbanisierung und internen Adaptions- und Wandlungsprozessen. Diese Komplexität, die sich hier in der Verwendung des Begriffs „Transformation" - anstelle von „Modernisierung" niederschlägt, wird heute in zahlreichen agrarhistorischen Studien berücksichtigt. Wenn es eine methodische Einsicht des vergangenen Jahrzehnts gibt, dann die, daß Erklärungsmodelle der Agrargeschichte die sozialen Vernetzungen einbeziehen sollten, und diese lassen sich nur in den Massen örtlichen Quellenmaterials, nicht in Statistiken oder Ministerialakten erkennen. Lokalmonographien 106 explorieren neue Zugänge zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft, die makrostrukturell und auf „Daten" orientierte, notwendigerweise einebnende Arbeiten gar nicht thematisieren können. Quantitative Methoden, soweit sie sich nicht auf die Relationen explanatorischer Variablen erschöpfen und weitgehend hypothetische Datenreihen konstruieren, sind unverzichtbar und werden ja gerade in kleineren Rahmen, in demographischen und anderen Dorfstudien angewandt. Sabeans große Leistung in seiner die Zeit zwischen 1700 und 1870 umfassenden Arbeit zu Neckarhausen ist es, „Wirtschaft" perspektivisch in Richtung wirtschaftlicher Praktiken zu verschieben und diese mit der Analyse der Regeln sozialer Reproduktion zu verknüpfen, also mit dem Haushalten, mit der Frage der Mitgift, mit dörflichen Interaktionen und mit den erheblichen Einflüssen der staatlichen Verwaltungen; sein umfassendes, unzählige Daten erhebendes Verfahren hat freilich den Nachteil, daß es ungeheuer zeit- und arbeitsaufwendig ist. 107 Von einer synthetisierenden ländlichen Gesellschaftsgeschichte nach dem Vorbild der mehrbändigen „Histoire de la France rurale" 108 ist die deutsche Agrargeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts noch weit entfernt, zum einen, weil überaus zahlreiche Themen und Regionen 109 noch gar nicht bearbeitet sind, zum anderen, weil eine akzeptierte Methodik der als wünschenswert betrachteten Verbindung von Makro- und Mikrostudien aussteht. 110 Das Exzeptionelle 106

Als Beispiel einer Längsschnitt-Gemeindestudie, aber ohne klare Fragestellung, vgl. Reinhard Lahr, Die Mittelrheingemeinden Heimbach, Weis und Gladbach zwischen Grundherrschaft und Industrialisierung (1680-1880), Stuttgart 1995. 107 Vgl. Sabean. Property. 108 Yg| M a u r j c e Agulhon/Gabriel Désert/Robert Specklin, Histoire de la France rurale, t.3: Apogée et crise de la civilisation paysanne de 1789 à 1914, Paris 1976; für die deutsche Agrargeschichte sind von besonderer Relevanz die Arbeiten von Jean-Michel Boehler, Une société rurale en milieu rhénan: La paysannerie de la plaine d'Alsace (1648-1789), 3 Bde., Strasbourg 1994; Ders., Tradition et innovation dans une pays de petite culture au XVIII siècle. Du cas alsace au modèle rhénan, in: Histoire et Société Rurales N° 4, 2 e m e semestre 1995, 69-103; vgl. die ausführliche Rezension von Werner Troßbach in: Blätter für Deutsche Landesgeschichte 132, 1996. 576-583. I0g Am besten sind die ländlichen Gesellschaften Westfalens und Bayerns sowie die gutswirtschaftlich geprägten Gebiete untersucht. Dorfstudien liegen insbesondere zu Südwestdeutschland vor. vgl. Clemens Zimmermann, Dorf und Land in der Sozialgeschichte, in: Wolfgang Schieder/Volker Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland: Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Bd. 2, Göttingen 1986, 90-112. 110 Vgl. Otto Ulbricht, Mikrogeschichte: Versuch einer Vorstellung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45, 1994, 347-365.

162

Ländliche Gesellschaft

und Agrarwirtschaft

im 19. und 20. Jahrhundert

kann jedenfalls nicht einfach zum Allgemeinen erklärt werden, 111 sondern dieses ist durch inter- und intraregional angelegte Studien, gerade durch kontrastive Komparatistik zu klären, z.B. durch Mehrdörfervergleiche, an denen sowohl handlungsbestimmende, der „internen" Agrargeschichte entstammende Kategorien wie übergreifende Strukturentwicklungen exemplifiziert werden können. 11 ^ Die bisherige Mikrogeschichte hat über ihre präzisierenden, entdeckenden und korrigierenden Funktionen hinaus sich weder genau darüber verständigen können, was sie klären möchte, noch der Makrogeschichte, die die großen Transformationen untersucht, ein eigenes Paradigma entgegenzustellen vermocht, sie bleibt also auf die - weiter ausdifferenzierten - Entwicklungsmodelle bezogen. 113 Die bisherige Agrargeschichte ist oft präsent, aber wenig sichtbar.114 Insoweit sie von der Vorstellung einer wahren Wirklichkeit ausgeht, von dem Glauben, durch das Aneinanderfügen von Elementarteilchen zu einer verbindenden Totalität zu gelangen, verfehlt sie den konstruierenden Charakter jeder Geschichtsforschung und geht an der Tatsache vorbei, daß sich emergente Muster stets auf verschiedenen, häufig kontrastierenden Ebenen entwickeln. Die sich in vielen Forschungserträgen abzeichnende „Neue" Agrargeschichte, die auf soziale Praxis orientiert ist, und ihren Gegenstand in Bezug zur Urbanisierungs- und Stadtgeschichte entwickelt, wird es als Gewinn verbuchen, wenn ihre eigene Geschichte historisiert wird. 115

111

Medick, Laichingen, 23. - Grundsätzlich zu Absicht und Methode von Vergleichen sowie zur Vermittlung von Mikro- und Makroperspektiven Heinz-Gerhard Haupt/Jürgen Kocka (Hg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M./New York 1996, 9-45, hier 22; zum wünschenswerten „gleichgewichtigen" und „typisierenden" Vergleich, der die Beschreibung und Erklärung von Einzelverläufen nicht ersetzen kann: Thomas Welskopp, Stolpersteine auf dem Königsweg. Methodenkritische Anmerkungen zum internationalen Vergleich in der Gesellschaftsgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte 35, 1995, 339-367, v.a. 363. III Vgl. Rebekka Habermas, Nicht länger nur Stachel im Fleisch. Die „microstoria" erweitert ihren Erkenntnisanspruch, in: Frankfurter Rundschau 7.10.1997, 8. 114 Ghislain Brunel/Jean-Marc Monceau, L'histoire rurale en question, in: Histoire et Sociétés Rurales N° 3, 1 er semestre 1995, 11-18, hier 13. 11 s Erste Entwürfe zu einer Geschichte der disziplinären Entwicklung der Agrargeschichte finden sich im Beitrag von Peter Blickle in diesem Band und bei Hartmut Hämisch, Georg Hanssen und die Entstehung der Agrargeschichte als eigenständige Wissenschaftsdisziplin, in: Jahrbuch für Geschichte 37, 1988, 323-360; Ders., Georg Friedrich Knapp. Agrargeschichtsforschung und sozialpolitisches Engagement im Deutschen Kaiserreich, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1993/1, 95-132; Ders., Die Entstehung einer Wissenschaftsdisziplin. Anmerkungen zur Herausbildung der Agrargeschichte in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Entwicklungstendenzen in der agrargeschichtlichen Lehre und Forschung, Berlin 1994, 17-32. II

163

Abstracts Peter Blickle

German Agrarian History in the Second Half of the Twentieth Century Up to the mid-1960s, German historiography was concerned above all with the development of state and administration. Three decades later, the picture has changed completely. To a large extent, this change can be attributed to the influence of a „new rural history" which evolved in close connection with the international methodological debates. Four main issues of this „new rural history" are highlighted by the author: village and community, peasant resistance (including the Peasant's War of 1524 - 26), protoindustry and the modernisation of agriculture, and the different manorial systems (especially East Elbian large estate fanning). Discussing the many different topics, approaches and controversies within the „new rural history", the author emphasises one common feature: the diminishing importance of the state and local authorities, and the ever more important role of the peasantry in German history as a whole. German agrarian history now offers a range of new concepts based on the (peasant) individual „making history".

Barbara Krug-Richter

Gender in German Rural History - Some Remarks on the Early Modern Period Although during the last ten years, gender has become an important category of historical analysis, the state of research on German rural history is still unsatisfactory. Agrarian historians have concentrated on the sexual division of labour and the important role women played in cases of peasants'resistance against feudal lords. As a contrast to the traditional approaches, this article, in accordance to recent research, focuses on the impact of marriage, inheritance, labour, communication and local conflicts, as the major constituents of gender relationships in Early Modem German villages. Various perspectives come up which deserve closer examination: As different levels of gender relationships (village, farm, family/kinship, „house") are put together, new questions can be raised, for instance, how family relationships were balanced by village and kinship networks, or - on the other hand - how rituals of male dominance were handled in „private" and „public" spheres. 165

Abstracts The author shows that the early Nineteenth Century is one of the crucial periods for gender research in rural Germany. The impact of pauperisation on the women of different social classes is still to be explored. One of the most important problems prevailing is the social impact of the new forms of labour divisions based on the new farming systems.

Ulrike Gleixner

The Practice of Law: Between Power, Conflict and Order The history of crime in German rural areas has recently gained new impetus through approaches like social anthropology, microhistory and gender history. Utilising criminal records, researchers are acquiring new insights into power relationships, resistance, and gender relations. Even more, they are attaining the ability to interpret how honour and morality were constructed in various levels of rural society. From the perspective of agrarian history, the interpretation of court records and witnesses' testimony shows that the simple dualism Obrigkeit-Untertanen (master-servants) is not sufficient for explaining the complexity of Early Modern rural society. From a microhistoriographical perspective, even East Elbian agrarian society can no longer be viewed simply as a monolithic, authoritarian order. The institution of the Patrimonialgericht (manorial court) was not only for punishment; peasants used the court far more for their own interests like property concerns, complaints and conflict resolutions in their neighbourhoods. This invalidation of the dichotomy of master and servant as the only understood relationship in East Elbian Gutsherrschaft entails a general challenge to develop new historiographical concepts and comparative perspectives in German agrarian history. The early modern moral order (Sittenzucht) of Brandenburg reveals that the villagers had their own understandings of morality and their own means of dealing with sexual issues. In instances involving fornication, the village elite investigated the cases on their own authority before the official court undertook its interrogations. Focus on social, economic, marital and age differences in Early Modern society also contributes to an increased understanding of gender-based differences. These results show that agrarian history has benefited from newer approaches in the field of the history of crime; they also demonstrate that agrarian history itself needs to develop new concepts which can be used to describe these new findings.

166

Abstracts

Andreas Suter

New Research and Perspectives on the History of Agrarian Society in Switzerland (1500 -1800) The question about new research and perspectives on the history of agrarian society is answered in this essay with the proposition that the agricultural history, or the history of agrarian society, of the Middle Ages and Early Modem times should at last cease to be regarded as the privileged terrain of an „histoire immobile" - that is: of a rigid and ossified society. Instead, future research will have to concentrate its efforts more on the dynamics of pre-modem society which has long been underestimated and neglected. This central proposition is expounded through three main themes that have recently been the subject of animated debate in Swiss research. These are firstly, the problem of the innovative capacity of agricultural economy in Early Modern times; secondly, the problem of the forces retarding and promoting innovation during the so-called agricultural revolution of the 18th and 19"1 centuries; and, thirdly, the problem of the innovative capacity of agrarian society during the political transformation from the Ancien Régime to the liberal-democratic state of the 19th century. In all three areas it becomes apparent that the innovative potential of Swiss agrarian society was in fact much greater than what has been suggested by the image of a „traditional" world popularised by, amongst others, Max Weber and Werner Sombart.

Werner Rosener

Problems of Research on Medieval Rural Society Before the beginning of urbanisation in the High Middle Ages Medieval society was almost entirely agrarian. In fact, more than 95% of the population in the Tenth Century belonged to the rural classes. With the expansion of towns in the Twelfth Century the number of towns residents increased, but in general it did not reach more than about 10% of the population until the end of the Middle Ages. There is obviously a great discrepancy between the importance of agriculture and rural society during the Middle Ages and the present state of historical research which leaves many questions unanswered. The agrarian history of the Middle Ages depends to a large extent on the interdisciplinary co-operation of diverse branches of research, which is the only way to solve the various problems of Medieval rural society. The agrarian historian should give special attention to the results of archaeology, geography, ethnology and other sciences. Above all, the findings of general history and of special historical branches of research are central significance of Medieval agrarian history. These include history of law and technology, social and economic history as well as general political history. The results of church history are also valuable for historical research on the development of settlement and population, e.g. a better understanding of changes referring to settlement and demography may be gained by studying the increasing number of rural parishes. 167

Abstracts

Werner TroBbach

Peasant Classes and the Problem of Continuity and Change in Eighteenth Century German History Up to the late Seventies the agrarian society of the Eighteenth Century was imagined by the mainstream of German historiography as a realm of social and economic stability, even petrifaction. At the present, the picture is beginning to change. Class and gender studies put the emphasis on interior differentiations, individual and collective strategies. Local and regional research has broadened the sense of geographical diversity. Processes of social change come into sight, stimulated by market production, class struggle, migration and protoindustry. The economic strategies of the peasantry imply mobility and diversification, especially on the lower classes' side. Although the notion of an „agrarian revolution" before 1800 has been rejected, social change „from above" can no longer be regarded as the major paradigm of German rural history in this crucial period.

Clemens Zimmermann

Rural Society and Rural Economy in the Nineteenth and Twentieth Centuries. Transformation Processes in German Agrarian History. The author argues that the position of agrarian history in the spectrum of historical sciences in Germany is characterised by a multitude of new approaches and rich yields in empirical research but also by a certain lack of integrating concepts. The article focuses on new research concerning the change of rural economy and rural society in the Nineteenth and the Twentieth Centuries. The author proposes to replace the notion of „modernisation" by that of „transformation", the latter underlining the openness and complexity of historical processes. At the present, the conception of social uniformity in „peasant societies" is being rejected. Historians are emphasising the active role of peasants as well as of lower classes in the process of growing intensivation and market production. The former over-estimation of the factors „state" and „nobility" is being disputed. In the Twentieth Century „exogene" factors (capitalist and technical development, industrialisation and urbanisation) have had a major impact on rural change. The problem, however, remains to be solved as to how rural societies have to a certain extent succeeded in keeping corporate identities.

168

Sachregister Absolutismus 88, 146. Adel 5, 25-27, 29, 88, 109, 146, 150, 151. Agrarkrise 5, 78, 16, 104, 152. Agrarpolitik 152-158, 160. Agrarreformen 5, 26, 135, 141, 142, 145-147. Agrarrevolution 5 , 4 5 , 73, 80, 82, 89, 90, 131, 132. Agrarverfassung 2 , 4 , 7 - 1 0 , 30, 31, 84, 121, 125, 141. Allmende 11,79, 80, 84, 123, 128, 131. Allmendeteilung / Gemeinheitsteilung (s. auch Enclosures) 79, 130, 134, 143, 146. Anschreibebücher 143. Arbeitsteilung 4, 36, 42, 43, 4 7 , 4 9 , 55, 78, 93. Aufklärung 80-82, 87, 108, 109, 124, 125, 128. Autarkie 74-76, 78, 158.

Bauernbefreiung 2, 8, 19, 21,22, 26, 29, 103, 114, 146. Bauernkrieg 8, 10, 15-20, 31, 87, 88. Bevölkerung, s. Demographie. Bürger, Bürgertum, bürgerlich 25, 26, 80, 8 7 , 9 0 , 147-151, 161.

Delikt 66, 69, 70. Delinquenz 62, 69. Demographie / Bevölkerung 8, 16, 23, 24, 30, 38, 7 5 - 7 9 , 8 1 , 8 3 , 87, 111, 112, 114, 115, 120-122, 131, 133, 149, 154, 156, 157. Dendrochronologie 95. Diversifizierung 116, 129, 131, 132, 141, 146. D o r f / G e m e i n d e 4, 8, 1 0 - 1 8 , 2 0 , 2 1 , 23, 28, 30-34, 36, 38, 39, 50, 52, 54, 55, 57, 59, 60, 61-71, 79, 100-102,

117, 124, 126, 134, 135, 138, 139-142, 146-149, 156-162. Dreifelderwirtschaft / Dreizelgenwirtschaft, s. Flurformen. Dung 126, 131.

Ehe 23, 3 6 - 4 0 , 4 5 , 52, 54,55, 62, 68, 70. Ehre 52, 53, 55,62, 6 3 , 6 5 - 6 9 . Eid 62, 86-89. Elastizität 5, 77. Enclosures (s. auch Allmendeteilung) 79-82, 84, 86. Erben / Erbrecht 23, 32, 3 7 ^ 0 , 4 6 , 47, 4 8 , 5 5 , 6 7 , 113, 115, 120, 121, 124, 130. Erträge 74, 85, 121, 125, 131, 141.

Familie 2, 22, 3 8 , 4 6 , 4 7 , 53, 63, 69, 111, 112, 114, 115, 121, 136, 139-145, 149, 153, 157, 160. Faserpflanzen 2 , 4 2 , 4 7 , 4 8 , 122, 125, 129, 130, 145. Flachs, s. Faserpflanzen. Flexibilität 60, 71, 116, 117, 119, 123, 136. Flur / -formen / -Verfassung 11,43, 64, 7 4 - 8 1 , 8 3 , 9 6 , 101, 125, 126, 133, 147. Frondienste 33, 103. Fruchtfolgen 45, 108, 121, 128. Futterpflanzen 44,45, 124, 128.

Garten 42,46, 50, 84, 85, 128, 129, 132, 133. Gemeinde, s. Dorf. Gemeiner Mann 17. Gender / Geschlecht 2, 4, 29, 32, 33-55, 58-60, 63-65, 68-71, 110, 118, 124, 125, 133, 136, 144, 161. 169

Sachregister Geschlechtsvormundschaft 52,69. Gericht 1,4, 14, 20, 33, 34,40,45,47, 49,51,52, 59-64, 66-71. Gerücht 50, 67. Gespannshilfen 115, 124, 130. Gewerbe 23, 3 1 , 4 1 , 116, 119, 120, 122-124, 133, 151. Großgrundbesitz 126, 150-152. Grundherrschaft 4, 5, 8, 10, 14, 22, 25-28, 31, 60-63, 71, 82, 83, 86-88, 98, 99, 102, 103. Gruppenkulturen 44, 48, 49, 52, 64, 65. Gut / Gutsherrschaft / Gutsbesitzer 2, 4, 5, 10, 13, 25, 27-29, 31, 32, 59-62, 6 4 - 6 7 , 7 1 , 8 8 , 116, 121, 125, 126, 135,140, 145, 146, 149-151, 154, 158.

Kartoffel 2, 84, 85, 124, 125, 128-130, 132,143, 144. Kirche 18, 6 2 , 6 6 , 83, 84, 98. Klage / Anklage 62, 64, 69, 70. Klasse 2 8 , 3 1 , 3 2 , 38, 3 9 , 4 1 , 6 8 , 147, 150, 153, 158, 161. Klassenkampf 18, 27, 28. Knechte 42, 53, 54, 62, 66, 114, 117, 125. Kollektivierung 158, 161. Kommerzialisierung 126, 131, 148, 161.

Kommunalismus 15. Kommunikation 4, 43, 44, 4 8 - 5 0 , 156, 161.

Konflikt 29, 40, 50, 52, 55, 5 7 - 6 0 , 62, 64, 6 7 , 6 8 , 70, 103, 144, 149, 155, 161.

Handel 93, 119, 123, 124, 126, 134, 135. Handwerk 3 1 , 9 3 , 116-118, 135. Hanf, s. Faserpflanzen. Haus / Haushalt 2, 4, 5, 11, 19, 23, 34, 38-40, 45, 46, 48, 52, 53, 62-68, 70, 9 5 , 9 7 , 9 8 , 107, 111, 113-116, 124, 1 2 5 , 1 3 8 , 1 4 0 , 143-145, 149, 162. Heirat 37-39, 41, 67, 75, 76, 139, 159. Herrschaft 4, 8, 10, 13-16, 19, 30, 58-64, 66-71, 82-84, 86, 8 9 , 9 0 , 100, 156, 161. Heuerling 41, 117, 121, 124, 125, 130, 146. Hexe 11,54, 57, 58, 60. Hof / Hofidee / Hofbauer 1, 3, 4, 11, 14, 15,28, 37, 62, 67, 9 5 , 9 9 , 1 1 1 - 1 1 3 , 1 2 2 , 1 3 7 , 139, 156. Hofgänger 145. Honoratioren 63, 66-68. Huldigung 15. Industrialisierung 1, 3, 23, 89, 140, 143, 160-162. Innovation 4 4 , 4 6 , 73, 74, 76, 78-81, 8 5 , 8 6 , 88, 108, 118, 119, 122, 125, 126, 132, 133, 135,138. Intensivierung 5, 123-126, 128-130, 141-143, 146, 150, 151. Inwohner 114, 117. 170

Konsum 123, 135, 143, 149, 161. Kriminalität 2, 4, 50, 57-60, 62, 65, 68, 70,71. Krise 17, 103, 123, 153. Landarbeiter 142, 145, 153, 155, 160. Leibeigenschaft / Leibherrschaft 14, 17, 19, 22, 27. Mägde 3 6 , 4 2 , 53, 54, 66, 67, 114, 117, 125, 144. Magie 51, 68. Malthusianismus 16, 31, 76, 77. Markt 5, 26, 28, 29, 83, 87, 118, 119, 125-128, 133, 134, 140-145, 147, 150,153-155, 158, 160, 161. Menschenrechte 21,31. Migration 5, 118, 119, 122, 134-136. Milchwirtschaft 42, 135, 142. Mobilität 41, 114, 117, 135, 136, 139, 151. Modernisierung 1,5, 1 0 , 2 1 , 2 2 , 3 1 , 8 7 , 8 8 , 1 0 8 , 1 2 5 , 1 3 7 - 1 4 1 , 149-152, 154-156, 158, 160, 161. Nachbarschaft 54, 63, 67. Nationalsozialismus 30, 150, 152, 154, 156,158. Netzwerk 23, 40, 4 1 , 4 4 , 110, 138.

Sachregister Öffentlichkeit 4, 21,48,49, 62, 87. Pächter 126, 129, 151. Paternalismus 20, 88, 89. Pauperisierung 39. Politisierung 149, 153. Polyptychen 99. Praxis, soziale, kulturelle 60, 67, 68, 138, 146, 147, 155. Privatsphäre 43, 48,49. Professionalisierung 42,43. Protest / Widerstand 1, 2, 4, 5, 10, 15, 16, 18, 19, 21, 28, 29, 31-34, 57, 60, 69,86-88, 134, 153. Protoindustrie, Protoindustrialisierung 2, 3, 5, 10, 21-23, 26, 31, 58, 74, 78, 89,118, 120, 121, 123-126, 133, 148. Rationalität 5, 80, 82, 90, 91, 139, 144, 153, 156. Recht 57, 59, 61-67, 70, 71, 81, 98, 100. Reihebier 49, 65. Reproduktion 64, 162. Risiko / -minimierung 82, 85, 86, 90, 112, 144. Sammelwirtschaft 48, 117. Schichtung, soziale 8, 20, 37-41,43, 47, 54, 68, 79, 84, 85, 87, 89,96, 114, 118, 130, 134, 160. Schulze 13,66, 70. Siedlung 8, 12, 15, 93, 95-98, 101, 135, 136, 141, 159. Sittenzucht 60, 65, 67, 68. Sozialdisziplinierung 57, 60, 68, 88. Spezialisierung 17, 42, 74, 78, 79, 85, 95,117,119,123,126,129,131, 132, 134, 139. Staat 4, 5, 15, 30, 59, 67, 73, 84, 86, 88,89, 104, 133, 134, 152, 156.

Stabilität 111-115, 117, 119, 133, 144. Stadt 15, 17, 26, 81, 83, 88-90, 93, 133,134, 139, 143, 147-149, 158, 159, 163. Stallfütterung 128, 147. Steuern 5, 17, 83, 86. Strafe/Buße 61, 64, 67. Subsistenz 140, 143, 145. Tradition / Traditionalismus 1, 61, 64, 67, 74, 76, 80-82, 98, 150, 158, 160. Tragfähigkeit 74, 75. Transformation 3, 26, 64, 87, 88, 126, 137, 140, 143, 146, 160-163. Ungleichheit 58-60, 71. Unterschichten 5, 82, 115-117, 121-125. Unzucht 59, 62, 66, 68. Urbanisierung 1,3, 93, 139, 140, 158, 159,161-163. Urbar 99, 100. Verein 139, 148. Verwandtschaft 23, 39, 40, 41,47, 54, 68, 110. Viehwirtschaft 42,44, 50, 78, 120, 123, 125,128. Villikation 13, 31, 102. Wald 11, 120, 121, 123, 124, 126. Weinbau 17,128. Weistum 14, 15,25,99-101. Widerstand, s. Protest. Wiesenkultur 79, 83, 85, 86. 120, 125, 144. Wirtshaus 44,45, 48-50. Wissen 82, 85, 90. Wüstung 7, 104. Zehnt 79, 82-84, 86.

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Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte Herausgegeben von Prof. Dr. Peter Blickle, Bern und Prof. Dr. David Sabean, Los Angeles

Band 45 • Albert Thomas D.

Band 41 • Schmidt

Kirchliche Rechtsprechung in Diözesen Basel, Chur und Konstanz vor der Reformation 1998. 365 S.; geb. DM 112,ISBN 3-8282-0086-9

Reformierte Sittenzucht in Bemer Landgemeinden der Frühen Neuzeit 1995. XVI, 425 S., 87 Abb., 25 Tab., incl. 3 1/2" Datendiskette, geb. DM 128,ISBN 3-8282-5391-1

Der gemeine Mann vor dem geistlichen Richter

Band 43 • v. Below/Breit

Wald - von der Gottesgabe zum Privateigentum

Dorf und Religion

Band 40 • Fuhrmann

Kirche und Dorf

Gerichtliche Konflikte zwischen Landesherren und Untertanen um den Wald in der frühen Neuzeit 1998. 364 S., geb. DM118,ISBN 3-8282-0079-6

Religiöse Bedürfnisse und kirchliche Stiftung auf dem Lande vor der Reformation 1995. X, 506 S., 1 Abb., 1 Karte, 18 Tab., geb. DM 128,ISBN 3-8282-5366-0

Band 42 • Blickle/Holenstein (Hrsg.)

Band 39 • Cechura

Agrarverfassungsverträge

Eine Dokumentation zum Wandel in den Beziehungen zwischen Herrschaften und Bauern am Ende des Mittelalters 1996. X, 192 S., geb. DM 78,ISBN 3-8282-0007-9

Die Struktur der Grundherrschaften im mittelalterlichen Böhmen

Unter besonderer Berücksichtigung der Klosterherrschaften 1994. XII, 162 S„ 5 Karten, 17 Tab., geb. DM 79,ISBN 3-8282-5359-8

Lucius & Lucius

Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte Herausgegeben von Prof. Dr. Peter Blickle, Bern und Prof. Dr. David Sabean, Los Angeles

Band 38 • Cordes

Band 35 • Blickle

Stuben und Stubengesellschaften

Zur dörflichen und kleinstädtischen Verfassungsgeschichte am Oberrhein und in der Nordschweiz 1993. XIV, 345 S., 25 Abb., 4 Karten, geb. DM 94,ISBN 3-8282-5358-X

Studien zur geschichtlichen Bedeutung des deutschen Bauernstandes

1989. X, 235 S„ 3 Abb., 1 Tab., geb. DM 58,ISBN 3-8282-5323-7

Band 34 • Hinsberger Band 37 • Maisch

Notdürftiger Unterhalt und gehörige Schranken

Lebensbedingungen und Lebensstile in württembergischen Dörfern der frühen Neuzeit 1992. IV, 518 S., 5 Karten, 105 Abb., 182 Tab., geb. DM 128,ISBN 3-8282-5353-9

Band 36 • Holenstein

Die Huldigung der Untertanen

Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800-1800) 1991.X, 543 S., 10 Abb., geb. DM 116,ISBN 3-8282-5338-5

Die Weistümer des Klosters St. Matthias in Trier

Studien zur Entwicklung des ländlichen Rechts im frühmodemen Territorialstaat 1989. X, 256 S„ 1 Karte, 54 Tab., geb. DM 89,ISBN 3-8282-5322-9

Band 33 • Zückert

Die sozialen Grundlagen der Barockkultur in Süddeutschland

1988. X, 354 S„ 19 Abb., 21 Tab., geb. DM 98,ISBN 3-8282-5315-6 Preisänderungen vorbehalten

Lucius & Lucius