Studien zum komischen Epos: Ein Beitrag zur Deutung, Typologie und Geschichte des komischen Epos im englischen Klassizismus 1680–1800 9783110952773, 9783484420090

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Studien zum komischen Epos: Ein Beitrag zur Deutung, Typologie und Geschichte des komischen Epos im englischen Klassizismus 1680–1800
 9783110952773, 9783484420090

Table of contents :
VORWORT
INHALTSVERZEICHNIS
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
TEIL I VORKLASSIZISTISCHE FORMEN KOMISCHER EPIK
KAPITEL I. Das italienische komische Ritterepos
KAPITEL II. Die epischen Travestien
KAPITEL III. Das hudibrastische Epos
TEIL II DIE GATTUNGSKRITERIEN DES KOMISCHEN HELDENGEDICHTS
KAPITEL IV. Die Darstellung der zeitgenössischen Wirklichkeit
KAPITEL V. Die epische Verkleidung und Verfremdung der Wirklichkeit
KAPITEL VI. Die Nachahmung und Parodie des Epos
KAPITEL VII. Das komische Heldengedicht als Satire
KAPITEL VIII. Versuch einer soziologischen Einordnung der Gattung
TEIL III DIE GESCHICHTE DES KOMISCHEN HELDENGEDICHTS
KAPITEL IX. Die Typen des komischen Heldengedichts und ihre vorklassizistischen Vorbilder
KAPITEL X. Boileaus Le Lutrin (1674/83) und die erste Phase in der Entwicklung der Gattung (1681-1712)
KAPITEL XI. Popes The Rape of the Lock (1712/14)
KAPITEL XII. Die Nachahmungen des Lockenraubs (2. Phase, 1714-ca. 1745)
KAPITEL XIII. Popes Dunciad (1728/43)
KAPITEL XIV. Der Verfall des komischen Heldengedichts (3.Phase, ca. 1745 - c a .1800)
Rückschau und Ausblick
ANHANG
LITERATURVERZEICHNIS
SACHREGISTER
AUTOREN- UND TITELREGISTER

Citation preview

B U C H R E I H E DER ANGLIA Z E I T S C H R I F T FÜR E N G L I S C H E

PHILOLOGIE

Herausgegeben von Helmut Gneuss, Hans Käsmann, Erwin Wolff und Theodor Wolpers

13. Band

ULRICH BROICH

STUDIEN ZUM KOMISCHEN EPOS Ein Beitrag zur Deutung, Typologie und Geschichte des komischen Epos im englischen Klassizismus 1680-1800

MAX N I E M E Y E R VERLAG 1968

TÜBINGEN

Als Habilitationsschrift; gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

© M a x Niemeyer Verlag Tübingen 1968 Alle Rechte vorbehalten • Printed in Germany Satz und Druck: Bücherdruck Wenzlaff K G , Kempten Einband von H e i n r . Koch, Tübingen

W A L T E R F . SCHIRMER ZUM 80. GEBURTSTAG

VORWORT

N u r wenige der literarischen Gattungen des englischen Klassizismus sind bisher systematisch untersucht worden. Auch zur Theorie und Geschichte des komischen Epos gibt es bis heute nur einige Ansätze und Vorstudien. In den folgenden Ausführungen soll daher, aufbauend auf den bereits vorliegenden Vorarbeiten, eine umfassende Analyse und Deutung dieser für den Klassizismus so charakteristischen Gattung versucht und so zugleich ein Beitrag zur Gattungspoetik dieses Zeitraums geleistet werden. Die vorliegende Studie ist die überarbeitete Fassung meiner Erlanger Habilitationsschrift aus dem Jahre 1966. Die Kapitel über das „komische Prosaepos" Fieldings sowie über das komische Epos der Romantik wurden gestrichen. Sie sollen demnächst gesondert veröffentlicht werden. Mein herzlicher und tiefempfundener Dank gilt meinem verehrten Lehrer, Herrn Prof. Dr. Erwin Wolff, Erlangen. Manche Zusammenhänge klärten sich erst im persönlichen Gespräch mit ihm und in mehreren Diskussionen in seinem Erlanger Oberseminar; und manche Ergebnisse entstanden im wissenschaftlichen Dialog oder mußten sich in ihm bewähren. Darüber hinaus konnte meine Arbeit, besonders im K a p . V I I I , an die Forschungen Herrn Prof. Dr. Wolffs und seiner Schüler anknüpfen. Ferner bin ich Herrn Prof. Dr. Bernhard Fabian, Münster; Herrn Prof. Dr. Theodor Wolpers, Göttingen; und Herrn P r o f . D r . Kurt Wölfel, Erlangen, f ü r viele wertvolle Anregungen und kritische Anmerkungen sowie Herrn Dr. Elmar Lehmann für seine Hilfe beim Lesen der Korrekturen zu besonderem Dank verpflichtet. Ebenfalls zu danken habe ich der Universität Göttingen und der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die großzügige Finanzierung mehrerer Studienreisen nach England und schließlich der Deutschen Forschungsgemeinschaft für einen erheblichen Zuschuß zu den Druckkosten dieser Arbeit. Bochum, im Februar 1968

Ulrich Broich

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

VII

Abkürzungsverzeichnis

XI

EINLEITUNG

I

TEIL I V O R K L A S S I Z I S T I S C H E F O R M E N KOMISCHER E P I K

I Das italienische komische Ritterepos

27

II Die epischen Travestien

40

III Das hudibrastische Epos

j8

TEIL 11 D I E G A T T U N G S K R I T E R I E N DES KOMISCHEN H E L D E N G E D I C H T S

IV V VI VII VIII

Die Darstellung der zeitgenössischen Wirklichkeit

81

D i e epische Verkleidung und Verfremdung der Wirklichkeit

98

Die Nachahmung und Parodie des Epos

117

Das komische Heldengedicht als Satire

148

Versuch einer soziologischen Einordnung der Gattung

159

TEIL III D I E G E S C H I C H T E DES KOMISCHEN H E L D E N G E D I C H T S

IX

Die Typen des komischen Heldengedichts und ihre vorklassizistischen Vorbilder

X XI XII

Boileaus Le Lutrin

187 (1674/83) und die 1. Phase in der Entwicklung der

Gattung

218

Popes The Rape of the Lock (1712/14)

244

Die Nachahmungen des Lockenraubs

(2.Phase, 1 7 1 4 - c a . 1745)

.

.

.

XIII

Popes The Dunciad

XIV

Der Verfall des komischen Heldengedichts (3.Phase, ca. i 7 4 j - c a . 1800)

(1728/43)

RÜCKSCHAU UND AUSBLICK

272 296 318 347

Anhang

352

Literaturverzeichnis

363

Register

377

AB K Ü R Z U N G S V E R Z E I C H N I S

Anecdotes

Joseph Spence, Anecdotes, Observations and Characters of Books and Men, ed. Bonamy Dobrée, Centaur Classics (London, 1964). Richmond P. Bond, English Burlesque Poetry iyoo-iy;o, Harvard Studies in English Bd. 6 (Neudruck New York, 1964

Bond

Brie

Friedrich Brie, Englische Rokoko-Epik

Dispensary DNB Essays Iliad Johnson-Chalmers OED Œuvres Schmidt Secchia

Rapita

Spectator

Twickenham

Williams

Edition

1710-1730

(München,

1927)Garth's Dispensary, ed. Wilhelm Josef Leicht, Englische Textbibliothek Bd. 10 (Heidelberg, 1905). Dictionary of National Biography, ed. Leslie Stephen und Sidney Lee, 21 Bde. (London, 1908/9). John Dryden, Essays of John Dryden, ed. W. P . K e r , 2 Bde. (Neudruck New York, 1961 [ 1 i 9 o o ] ) . The Iliad Of Homer. Translated by Mr. Pope, 6 Bde. (London, 1 7 1 5 - 1 7 2 0 ) . Alexander Chalmers, The Works of the English Poets from Chaucer to Cowper, 21 Bde. (London, 1810). The Oxford English Dictionary on Historical Principles, ed. James A . H . M u r r a y et al., 1 2 Bde. (Oxford, 1888-1928). Boileau, CEuvres, ed. Georges Mongrédien, Classiques Gamier Bd. 18 (Paris, 1961). Karlernst Sdimidt, Vorstudien zu einer Geschichte des komischen Epos (Halle, 1953). Alessandro Tassoni, La Secchia Rapita, ed. Pietro Papini (Florenz, 1912). Joseph Addison, The Spectator, ed. C. G. Smith, 4 Bde., Everyman's Library Bde. 1 6 4 - 1 6 7 (London, 1961 ['1907]). The Poems of Alexander Pope, ed. E. Audra, A. Williams, G. Tillotson, M. Mack, F. W. Bateson, J . Butt, J . Sutherland, N . Ault, 6 Bde. (London, 1939fr.). Aubrey Williams, Pope's Dunciad. A Study of its Meaning (London, 1955).

Für die philologischen Zeitschriften wurden die allgemein üblichen Abkürzungen verwandt.

EINLEITUNG

Der heutige Anglist kennt von den englischen mock-heroic poems im allgemeinen nur Drydens Mac Flecknoe, den Lockenraub und die Dunciad von Pope sowie Gays Fächer. Dennoch handelt es sich hier um eine Gattung, die auf ihre Weise ebenso repräsentativ f ü r die englische Literatur des 18. Jahrhunderts ist wie der Roman. Dieser repräsentative Charakter der mock-heroic poetry ist durchaus nicht nur auf die große Zahl der in dieser Gattung entstandenen Gedichte zurückzuführen. Die meisten mock-heroic poems sind heute ebenso mit Recht vergessen wie die im 18. Jahrhundert verfaßten ernsten Epen oder Tragödien. Darüber hinaus sind jedoch in dieser literarischen Form einige Meisterwerke ersten Ranges überliefert, während die ernsten Epen und Tragödien dieser Epoche heute allenfalls noch f ü r den Literarhistoriker von Interesse sind. Selbst für die bedeutenderen Dichter dieser Zeit war das mock-heroic poem die bevorzugte Erzählform. Keiner von ihnen, weder Dryden noch Pope noch John G a y , schrieb ein ernstes Epos. Zugleich dürften sie es auch für unter ihrer Würde gehalten haben, sich einer so wenig „legitimen" Erzählform wie des Romans zu bedienen. Sie betrachteten es jedoch nicht als unter der Würde eines ernstzunehmenden Dichters, mock-heroic poems zu schreiben und diese durch wiederholte Umarbeitungen zu immer größerer künstlerischer Vollendung zu führen. Zugleich gehört das mock-heroic poem zu den eigenständigsten Leistungen der englischen Literatur im Zeitraum von etwa 1680 bis zum Ende des 18. Jahrhunderts innerhalb der „legitimen" Gattungen. Z w a r gingen manche Anregungen von der pseudohomerischen Batrachomyomachia oder Tassonis Eimerraub aus, aber diese Gedichte waren so andersartig, daß ihr Einfluß nur ganz allgemeiner Natur sein konnte. Z w a r entstand auch in Deutschland eine beträchtliche Zahl von zum Teil auch heute noch lesbaren Werken in dieser hier meist als „komisches" oder „scherzhaftes Heldengedicht" bezeichneten Gattung. Die große Zeit dieser literarischen Form begann in Deutschland jedoch erst nach dem Erscheinen der beiden ersten deutschen Übersetzungen des 1

Lockenraubs (1739 und 1744), 1 so daß die Gattung hier, wenigstens zunächst, völlig von den englischen Vorbildern bestimmt blieb. Allerdings entstand das erste eigentliche mock-heroic poem, Boileaus Le Lutrin, nicht in England. In Frankreich blieb es aber bei dieser einsamen Leistung; und es wurden nur sehr wenige andere Gedichte verfaßt, die sich der gleichen Gattung zuordnen lassen und die nicht ihrerseits wieder, wie Palissots Dunciade (1764), von England beeinflußt wurden. Somit verdankt das englische mock-heroic poem z w a r einem ausländischen Vorbild die Anregung, die zu seiner Entstehung und Blüte führte; aber erst in England wurde aus dieser Anregung eine fruchtbare und repräsentative Gattung. Während z. B. die klassizistische Tragödie in England auf zahlreiche französische Vorbilder zurückgreifen konnte und schon auf dem Höhepunkt des Klassizismus weitgehend überlebt w a r und während antikisierende Gattungen wie das klassizistische Epos in England fast ausnahmslos epigonalen Charakter trugen, ist das mockheroic poem somit eine der wenigen literarischen Formen, die in großem M a ß e als eigenständige Schöpfungen des englischen Klassizismus angesehen werden dürfen. Daher lassen sich anhand von kaum einer anderen in dieser Zeit lebendigen Gattung die dichterische Eigenart und die dichterische Leistung des englischen Klassizismus, aber auch seine engen Grenzen anschaulicher aufzeigen; und kaum eine andere Gattung spiegelt so klar die vielfältigen und zum Teil widersprüchlichen Tendenzen dieses nur scheinbar leicht zu erfassenden Zeitalters und führt sie, zumindest in ihren Höchstleistungen, zu einer künstlerischen Synthese.

1. Das komische Epos des englischen Klassizismus in der bisherigen Forschung Natürlich ist diese Gattung von der bisherigen anglistischen Forschung keineswegs völlig vernachlässigt worden. V o r allem in den letzten Jahrzehnten, in denen sich eine gerechtere, nicht mehr von romantischen V o r urteilen über das Wesen der Dichtung bestimmte Würdigung der Literatur des Klassizismus anbahnte, erschienen zahlreiche diesbezügliche Veröffentlichungen. Dabei handelt es sich vorwiegend um Aufsätze und Monographien über die beiden künstlerischen Höhepunkte in der Geschichte des englischen mock-heroic poem, den Lockenraub und die Dummkopfiade von Pope. 1

Das einzige vor 1739 erschienene deutsche Gedicht dieser A r t ist Wernickes Hans Sachs, ein komisches Epos, das schon 1701 entstand, das allerdings eine zum Teil wörtliche Nachahmung des Mac Flecknoe darstellt. 2

1) Von diesen Untersuchungen ist vor allem Geoffrey Tillotsons Einleitung zu der Ausgabe des Lockenraubs in Band 2 der Twickenham Edition der Werke Popes (1940) zu nennen. Tillotson sah am Lockenraub nicht nur, wie weithin in der früheren Sekundärliteratur üblich, das völlig Neue, sondern stellte zugleich auch die voraufgehende Entwicklung der Gattung, die Pope die Grundlage für viele der Strukturelemente, Techniken und Motive seines Gedichts lieferte, kurz, aber präzis dar. Außerdem dürfte Tillotson als erster erkannt haben, wie wenig man Rape of the Lock mit Alternativfragen gerecht werden kann wie z.B. „Ist der Lockenraub eine Satire auf das Epos oder auf die Gesellschaft im Zeitalter Popes?" - „Ist er eine Satire oder eine Apotheose der zeitgenössischen Gesellschaft?" - „Wird das Epos darin verspottet, oder ist es unangreifbarer Maßstab?" Der Aufsatz "The Case of Arabella Fermor" von Cleanth Brooks (1943) 2 und J. S. Cunninghams kleine Studie Pope: The Rape of the Lock (1961) arbeiten die Komplexität und Ambivalenz von Popes komischem Epos zum Teil noch schärfer und ausführlicher heraus, stellen aber insofern einen Rückschritt hinter Tillotson dar, als sie die historische Perspektive, die zum Verständnis von Werken wie Rape of the Lock unentbehrlich ist, fast völlig ausklammern. Was diese drei Arbeiten für eine adäquatere Interpretation des Lokkenraubs leisteten, das bedeutet Aubrey Williams' Monographie Pope's Dunciad. A Study of its Meaning (1955) für das Verständnis von Popes zweitem komischen Epos. Williams erkannte, daß auch dieses Werk nicht mit Alternativcharakterisierungen wie „entweder ein Epos oder eine gehässige Satire" zu erfassen ist, und untersucht ausführlich die verschiedenen Bedeutungsschichten dieses so oft einseitig interpretierten Gedichts. Darüber hinaus erarbeitet er, zum Teil aufbauend auf dem von James Sutherland in seiner Einleitung zur Ausgabe der Dunciad in der Twickenham Edition zusammengetragenen Material, eine umfassende Gesamtdeutung dieses Werks. Außer den genannten Werken gibt es noch zahlreiche weitere Einzelinterpretationen, die an dieser Stelle jedoch nicht namentlich genannt zu werden brauchen. 2) Neben dieser Gruppe der Einzelinterpretationen ist eine weitere Gruppe von Arbeiten zu erwähnen, die ebenfalls zur Erforschung des komischen Epos im englischen Klassizismus beitrugen. Das mock-heroic ist eine hybride Gattung, die im Zusammenwirken mehrerer literari2

Zuerst veröffentlicht in Sewanee Review, Wrought Urn (New York, 1947).

1,1/1943, erneut abgedruckt in The Well

3

scher Formen, vor allem des heroischen Epos, der Satire und der Parodie (bzw. Burleske), entstand. Es wurde daher wiederholt in Gattungsgeschichten behandelt, deren eigentliches Thema das englische Epos, die Satire oder die parodistische (bzw. burleske) Dichtung war. So spricht bereits W. Macneile Dixon in seinem Werk English Epic and Heroic Poetry (1912) kurz auch über die komische Epik des Klassizismus. Die Erkenntnis, daß das mock-heroic poem untrennbar mit der Geschichte des englischen Epos verbunden ist, ging dann allerdings wieder verloren; und das Standardwerk über die Geschichte des englischen Epos, E.M. W.Tillyards The English Epic and its Background (1954), behandelt zwar ausführlich Werke wie Bunyans Pilgrim's Progress oder Gibbons Decline and Fall of the Roman Empire, nicht aber etwa die komischen Epen Popes. Häufiger wird das komische Epos des englischen Klassizismus dagegen in den zahlreichen bisher veröffentlichten Arbeiten zur Geschichte der englischen Satire erwähnt. Hier verdient besonders Ian Jacks Augustan Satire (1952) genannt zu werden. Jack liefert in seiner Studie vorzügliche Interpretationen des Mac Flecknoe, des Lockenraubs und der Dunciad und gibt vor allem eine präzise Analyse der spezifischen Stilebenen des mock-heroic und der übrigen Formen klassizistischer Satire. Auch Gilbert Highet spricht in seinem Buch über die Satire3 ausführlich über das mock-heroic poem. Er teilt die Satiren in monologische, parodistische und erzählende ein und ordnet das mock-heroic der parodistischen Satire zu. Dadurch wird er aber dem hybriden Charakter dieser Gattung, die zugleich parodistisch und erzählend ist, nicht gerecht. Schließlich wird das mock-heroic auch in den wenigen bisher erschienenen Arbeiten zur Geschichte der englischen Parodie bzw. Burleske behandelt. H. R. Bennett bezieht zwar in seiner unveröffentlichten Londoner M. A. These Literary Parody and Burlesque of the Seventeenth and Eighteenth Century (1914) das komische Epos noch kaum in seine Untersuchung ein und bespricht The Rape of the Lock nur kurz im Zusammenhang mit den Milton-Parodien. Einen Fortschritt bringt jedoch bereits George Kitchins A Survey of Burlesque and Parody in English (1931). Infolge der unklaren und wenig differenzierten Terminologie - Kitchin bezeichnet z.B. Tom Jones, The Splendid Shilling und The Rape of the Lock unterschiedslos als mock-epics4 - gelangt der den burlesken Dichtungen des Klassizismus gewidmete Teil seiner Arbeit allerdings kaum zu präzisen Ergebnissen. 3 4

The Anatomy of Satire (Princeton, 1962). A Survey of Burlesque and Parody in English, p. 167.

4

Erst die Untersuchung von Richmond P. Bond, English Burlesque Poetry 7700-/7jo (1932), bringt eine umfassende Bestandsaufnahme der englischen burlesken Dichtung im Klassizismus einschließlich der mock-heroic poems sowie eine brauchbare Terminologie und Ansätze zu einer entwicklungsgeschichtlichen Darstellung. Vor allem ist Bond die Entdeckung zahlreicher bis dahin unbekannter komischer Epen sowie vieler literarkritischer Äußerungen aus der Zeit des Klassizismus über diese Gattung zu danken; und der Verfasser dieser Arbeit konnte nur in wenigen Fällen mock-heroics entdecken, die dem bibliographischen Spürsinn Bonds entgangen waren.5 Leider verhindert u. a. eine unzweckmäßige Aufgliederung des Materials bei Bond eine zusammenhängende Darstellung der Geschichte des mock-heroic poem und der anderen burlesken Formen. Er behandelt in einem Kapitel den Lockenraub, die Dunciad dagegen in einem anderen Kapitel zusammen mit burlesken Werken wie The Splendid Shilling, The Shepherd's Week und Namby-Pamby, bei denen es sich nicht um komische Epen handelt. Er untersucht dann noch einmal das komische Epos in einem "The Mock-Heroic and the Parody" betitelten Kapitel, bespricht im darauffolgenden Kapitel die Einflüsse der Batrachomyomachia, des Eimerraubs und des Chorpults auf das englische mockheroic poem und gibt schließlich in Teil II in chronologischer Reihenfolge Inhaltsangaben, charakteristische Textproben und kurze Interpretationen von denjenigen burlesken Werken, die nicht schon früher behandelt worden waren. Auch wenn man berücksichtigt, daß Bond nicht nur eine Geschichte des mock-heroic poem, sondern eine Geschichte aller burlesken Formen während einiger Jahrzehnte des englischen Klassizismus schreiben wollte, kann man nicht umhin, diese unnötige Aufsplitterung des Materials zu bedauern. Dazu kommt, daß es Bond weniger um die Interpretation einzelner Gedichte oder um die ausführliche Darstellung einer geschichtlichen Entwicklung als vielmehr um eine Sammlung von Quellen und Zitaten zu gehen scheint. So ist sein Kapitel über The Rape of the Lock nicht so sehr eine Interpretation des Werks als Parodie oder als komisches Epos, sondern eine fast erschöpfende Zusammenstellung von zeitgenössischen Zitaten und Anspielungen, die sich auf den Lockenraub beziehen. 3) Die Lektüre der Arbeit Bonds wie auch der anderen hier genann5

Z . B . The Deviliad (1744), The Quackade (1752), The Battie of the Briefs (1752), The Ladies' Ass-Race (1791), The Battie of the Bards (1800). Audi Karlernst Schmidt, der die 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts ausführlicher in seine Untersuchung einbezog, sind diese Gedichte unbekannt.

5

ten Arbeiten führt zu dem Ergebnis, daß keine Gattungsgeschichte der Burleske, der Satire oder des Epos dem mock-heroic als literarischer Form voll gerecht werden kann, da diese Gattung sich nur aus dem Zusammenwirken dieser und einiger weiterer Gattungen verstehen läßt. Spezielle Studien zur Geschichte des mock-heroic poem sind jedoch bisher erst vereinzelt erschienen. Der erste Ansatz zu einer Geschichte des englischen komischen Epos ist die unveröffentlichte Dissertation von G. L. Diffenbaugh, The Rise and Development of the Mock Heroic Poem in England from 1660 to 1J14 (1925).' 6 Über diese Untersuchung der 1.Phase der Geschichte dieser Gattung kann hier jedoch kein Urteil abgegeben werden, da nur das Kapitel über Mac Flecknoe im Druck erschien. Eine beachtliche Leistung stellt Friedrich Bries Englische Rokokoepik ijio-ijjo (1927) dar. Z w a r beschränkt sich Brie auf zwei Jahrzehnte in der Geschichte des mock-heroic sowie auf eine einzige Spielart dieser Form, nämlich auf den Lockenraub, Gays Fächer und deren Nachahmungen, die er, beeinflußt von einigen kurz zuvor erschienenen germanistischen Arbeiten, als „Rokokoepen" bezeichnet. Außerdem ist die Brie bekannte Zahl von mock-heroic poems noch relativ gering. Es gelingt ihm jedoch, innerhalb dieses engen selbstgesetzten Rahmens Wesentliches über das „Rokokoepos" auszusagen. E r arbeitet treffend die Unterschiede zwischen dieser Spielart des mock-heroic und der in den voraufgegangenen Jahrzehnten blühenden stärker satirischen Form heraus und analysiert die Spiegelung der zeitgenössischen „Rokokogesellschaft" im „Rokokoepos" sowie in anderen Gattungen dieses Zeitraums, so etwa im Essay der moralischen Wochenschriften. Gewiß kommt dabei die vielfältige Beziehung dieser „Rokokoepen" zu ihren stärker satirischen Vorgängern innerhalb der gleichen Gattung zu kurz, eine Beziehung, die in dieser Arbeit näher zu untersuchen sein wird. Außerdem dürfte Brie einige Stellen in diesen Gedichten, die sich auf die Welt des Handels beziehen, zu stark im Hinblick auf eine bürgerliche Orientierung der Gattung interpretieren. Kapitel V I I I dieser Arbeit wird daher, soweit das in diesem Rahmen möglich ist, die Verbindung des mock-heroic poem zu aristokratischen Lesern und Auftraggebern und zu den ästhetischen und ethischen Wertmaßstäben der Aristokratie herausarbeiten. 6

Diss. phil., Masch., Universität von Illinois; ein Kapitel veröffentlicht unter dem Titel: The Rise and Development of the Mock Heroic Poem in England from 1660 to 1714; Dryden's Mac Flecknoe (Urbana, 1 9 2 6 ) .

6

Trotzdem muß Bries Studie noch heute als die lesenswerteste und lesbarste literarhistorische Untersuchung dieser Gattung bezeichnet werden. Im Gegensatz zu Diffenbaugh und Brie behandelt Karlernst Schmidt in seinen Vorstudien zu einer Geschichte des komischen Epos (1953) die gesamte Geschichte dieser literarischen Form. Seine Arbeit versucht somit, eine empfindliche Lücke in der bisherigen Forschung zu schließen. Überdies besticht sie durch ihre Detailkenntnis und durch ihre bibliographische Akribie. Dennoch handelt es sich auch bei dieser Arbeit um nicht mehr als um Vorstudien, wie der Titel selbst vorsichtig sagt. Z w a r ist hier die Aufgliederung des Materials sinnvoller als bei Bond, da Schmidt drei der fünf oder sechs Hauptformen des komischen Epos jeweils in einem in sich geschlossenen Kapitel ausführlich behandelt („komisches Tierepos" - „komisches Ritterepos" - „komisches Epos klassizistischer Richtung" [d.h. mock-heroic poeni])- Dabei wird allerdings die geschichtliche Entwicklung, die vom Ritterepos über die (von Schmidt willkürlich ausgeklammerten) Formen der epischen Travestie und des hudibrastischen Epos zum mock-heroic poem führt und dann mit einer Wiederaufnahme der Form des komischen Ritterepos in der Romantik ihren endgültigen Abschluß findet, nicht deutlich. Außerdem ist auch die Aufteilung des Kapitels über das englische mock-heroic poem nicht glücklich. Nach dem Vorbild Bries zieht Schmidt einen scharfen Trennungsstrich zwischen den stärker satirischen mockheroic poems und denjenigen Werken dieser Gattung, die Brie als „Rokokoepen" bezeichnete, und behandelt sie in zwei getrennten Teilkapiteln. 7 Dabei wird einerseits nicht klar, wie eng diese beiden Formen trotz aller Unterschiede zusammengehören, und andererseits nicht, daß sich, wie später in dieser Arbeit darzulegen, die Geschichte des mockheroic poem in drei Phasen vollzog: 1.Phase (ca. 1680-ca. 1 7 1 0 ) : vorwiegend satirische Gedichte, 2. Phase (ca. 1 7 1 2 - c a . 1745): „Rokokoepen" mit abgeschwächter Satire, 3. Phase (ca. 1745-ca. 1800): Rückkehr zur stärker satirischen Intention. Überdies gibt Schmidt weniger eine Darstellung der historischen Entwicklung dieser literarischen Form, sondern vielmehr eine lockere Folge von „Einzelbesprechungen der zugänglichen Texte" (p. III), die vielfach im Stofflichen steckenbleiben und allzu sehr den Eindruck hervorrufen, 7

Ein drittes Teilkapitel widmet Schmidt den „komisch-epischen Lehrgedichten", wobei anzumerken ist, daß es sich bei einem Teil der hier besprochenen Gedidite keineswegs um Lehrgedichte handelt (vgl. dazu S. 2 0 7 ) und daß einige von ihnen echte „Rokokoepen" im Sinne Bries sind und somit in das voraufgehende Teilkapitel gehört hätten.

7

unverarbeitet aus einem Zettelkasten übernommen worden zu sein. Es ist Schmidt somit nicht so sehr vorzuwerfen, daß er zu unrichtigen Ergebnissen gelangt. Wo dies der Fall ist, wird an entsprechender Stelle dieser Arbeit davon die Rede sein. Der Hauptmangel seiner Arbeit ist vielmehr, daß er vor lauter Details weder zu einer systematischen Analyse und Deutung noch zu einer zusammenhängenden Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der Gattung kommt und daß wesentliche Aspekte nicht gesehen oder vernachlässigt worden sind. So wird z. B. die wichtige Relation zwischen mock-heroic poem und Parodie, Satire und Epos nur fragmentarisch analysiert, während die für diese Gattung so charakteristische Affinität zur Komödie und zur Gelegenheitsdichtung unberücksichtigt bleibt. Eine umfassende Untersuchung des mock-heroic poem, in der sowohl die grundlegenden Bauelemente dieser literarischen Form analysiert werden als auch die historische Entwicklung der Gattung zusammenhängend und unter Berücksichtigung des Einflusses der vorklassizistischen Formen sowie des geistesgeschichtlichen und soziologischen Hintergrundes dargestellt wird, ist daher nach wie vor ein Desiderat. 8

2. Der Ausgangspunkt der Untersuchung: Der Klassizismus und die Suche nach dem Epos Bekanntlich weist das mock-heroic poem starke satirische Züge auf, wenn auch die Satire in der von Brie als „Rokokoepos" bezeichneten Spielart in abgeschwächter Form auftritt. Daher konnte Ian Jack sowohl Interpretationen von Mac Flecknoe und The Dunciad als auch eine solche von The Rape of the Lock in sein Buch Augustan Satire aufnehmen. Es ist ebenso bekannt, daß diese Gattung durchweg parodistischer Natur ist, wenn es sich auch in manchen dieser Werke um eine Parodie aus zweiter Hand, d. h. um eine Nachahmung von unmittelbar parodistischen Werken der gleichen Gattung handelt. Deshalb konnten Bennett, Kitchin und Bond das mock-heroic poem im Rahmen ihrer bereits besprochenen Studien über die Parodie bzw. die Burleske untersuchen. Weniger selbstverständlich ist, daß das mock-heroic poem nicht nur eine Parodie des Epos ist, sondern, trotz der geringen Länge der meisten 8

Über das komische Epos im Deutschland des 18. Jahrhunderts gibt es eine weit größere Z a h l von gattungsgeschichtlichen Arbeiten, die z. T. ein beachtliches N i veau erreichen. Die wichtigsten Titel sind im Anhang, A n m . A i , S. 352, a u f geführt.

8

Gedichte dieser Gattung und trotz ihres parodistischen Charakters, auch der Gattung des Epos selbst zugeredinet werden kann. Es ist ebensowenig bekannt, daß viele der klassizistischen Verfasser von Gedichten dieser Art diese als „legitime" Epen betrachteten und daß bei der Entstehung dieser Gattung in erster Linie die epische Intention, d.h. die Absicht, ein „regelrechtes" Epos zu schreiben, Pate stand und erst in zweiter Linie eine parodistische oder satirische Intention. Dies ist um so erstaunlicher, als das Renaissance-Epyllion, das in mancher Beziehung dem großen Epos nähersteht als das mock-heroic poem, in den Poetiken der englischen Renaissance im allgemeinen nicht unter der Gattung Epos behandelt wird. Dagegen besprechen mehrere Verfasser von klassizistischen Abhandlungen über das Epos - so z. B. William Hayley in seinem Essay on Epic Poetry oder Gottsched im Epos-Kapitel seiner Kritischen Dichtkunst - das mock-heroic poem zusammen mit dem ernsten Epos und sehen seine Vorfahren nicht im Renaissance-Epyllion, sondern im antiken ernsten (und komischen) Epos. Viele Verfasser von Gedichten dieser Gattung bezeichnen diese daher - keineswegs nur in ironischem Sinn-als "heroic poem", " epic poem", "littl eepic" und "modern epic". 9 Diese Beziehung zwischen Epos und mock-heroic poem ist in den bisherigen Gattungsgeschichten weitgehend unberücksichtigt geblieben oder unzureichend behandelt worden. So geht z. B. Bond fast überhaupt nicht auf die Beziehung des von ihm untersuchten mock-heroic poem zum ernsten Epos ein, während umgekehrt ein Historiker des Epos wie Tillyard die komische Epik völlig aus seiner Betrachtung ausklammert. 10 Es ist also berechtigt, die Gattung des Epos, genauer gesagt: das problematische Verhältnis des Klassizismus zum ernsten Epos, zum Ausgangspunkt zu wählen, da nur von hierher die Eigenart des klassizistischen mock-heroic poem deutlich werden kann. i ) Die weltanschaulichen Voraussetzungen des ernsten Epos im Klassizismus Der Betrachter des Klassizismus, d.h. des Zeitraums von etwa 1680 bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, sieht sich mit folgenden Fragen konfrontiert: Wie kommt es, daß die Literarkritiker des Klassizismus von dem sonst so verehrten Aristoteles abwichen und nicht die Tragödie, sondern das Epos zur ranghöchsten Gattung erklärten? Warum war das ernste Epos im Klassizismus nicht mehr möglich, nachdem es noch in der Zeit Shakespeares eine lebendige Gattung gewesen war und nachdem 9

Belege dazu siehe S. 1 3 8 .

10

Vgl. S.4.

9

sogar noch an der Schwelle des Klassizismus in Miltons Paradise Lost ein großes Epos entstand? 11 Die historische Rückschau zeigt bekanntlich, daß das Epos im eigentlichen Sinn des Wortes an das Vorhandensein zweier weltanschaulicher Voraussetzungen gebunden ist. Die erste ist das Bestehen eines geglaubten Mythus. Dieser braucht nicht unbedingt mit dem Glauben an eine übernatürliche Welt identisch zu sein wie im Falle der Epen Homers, des Gilgamesch-Epos oder des Verlorenen Paradieses. Auch der Glaube Vergils an den Mythus und die Sendung des Imperium Romanum oder der des Camöes an die des portugiesischen Reiches erfüllte diese zentrale Voraussetzung. Die zweite ist eine heroische Weltsicht, eine Wertordnung, in der nicht das Leben, die Liebe oder der Wohlstand die höchsten Güter sind, sondern entweder die Ehre des einzelnen Helden oder eine große Idee wie die Schaffung eines Reiches oder die Verteidigung eines Glaubens. Als höchste Tugend fungiert in dieser Weltsicht die Tapferkeit, die der Realisierung dieser höchsten Güter dient. Auch Miltons Epos erfüllt diese Voraussetzung noch, setzt aber charakteristischerweise Adam und Eva, die nicht heroisch konzipiert sind, an die Stelle der früheren epischen Helden und gestaltet nur die miteinander kämpfenden Engel und Teufel als heroische Charaktere. Diese gehaltlichen Bedingungen der Möglichkeit des Epos waren im Klassizismus nicht mehr gegeben. Die mythische Substanz des Christentums wurde allmählich durch Rationalismus, Deismus und Atheismus aufgelöst. Zwar blieb das puritanische Kleinbürgertum noch in starkem Maße der überkommenen Form des Christentums verhaftet, aber gerade das gehobene und gebildete Bürgertum und die Aristokratie, d. h. diejenige soziale Schicht, die fast ausschließlich der Träger der Verehrung des Epos - und Publikum des mock-heroic poem - war, huldigte mehr und mehr einem modischen Deismus. Das Mythische im Christentum konnte dabei nicht geglaubte Wirklichkeit bleiben, sank auf die gleiche Stufe, wie sie etwa schon lange die griechischen Göttermythen eingenommen hatten, und wurde zu einer allegorisch-legendären Verkleidung einer nicht von der Offenbarung her, sondern durch den Verstand zu erfassenden religiösen Wirklichkeit. An die Stelle des Epos trat mithin der Roman als „die Epopöe der gottverlassenen Welt". 12 Auch von einer heroischen Weltsicht kann in dieser Zeit kaum noch die Rede sein. Die Erbfolgekriege konnten nur in bescheidenem Maße 11

Die klassische und philosophisch begründete Behandlung dieser Frage findet sich in Georg Lukacs' Die Theorie des Romans (Neudruck Neuwied, o.J. [I1916]). 12 Ebd., p. 87. 10

heroisch-nationale Gefühle wecken; und der Glaube an die Größe und Sendung Englands in Vergangenheit und Zukunft ist allenfalls vereinzelt im Zeitalter der Königin Anna zu finden,13 das ja auch gern analog zum Zeitalter Vergils als Augustan Age bezeichnet wurde; und er erlischt mehr und mehr unter den Four Georges. Gerade der durch Walpole mühsam aufrechterhaltene Friede ließ die englische Oberschicht sich anderen Werten zuwenden als den heroischen. Schon die SpectatorEssays zeigen, welche Rolle der Luxus, kultivierte Umgangsformen, Kleidung, das gesellschaftliche Leben oder der Flirt am Anfang des Jahrhunderts spielten; und auch in den folgenden Jahrzehnten fehlte der höheren Gesellschaft die echte Beziehung zu heroischen Werten ebensosehr wie die zur Transzendenz. Gleichzeitig vollzieht sich eine zunehmende „Privatisierung des Lebens", 14 die ebenfalls ein wachsendes Unverständnis für die „öffentliche" Gattung des Epos mit ihren „Hauptund Staatsaktionen" bedingte. Auch diese Entwicklung begünstigte das Aufkommen des Romans, der sich, analog zu der oben zitierten Äußerung von Lukacs, als Epopöe einer entheroisierten und privatisierten Welt bezeichnen ließe. Gewiß wurde das Schwinden der religiös-heroischen Haltung und damit zugleich auch der Substanz, aus der ein Epos hätte wachsen können, nicht von allen Zeitgenossen unwidersprochen hingenommen. Abgesehen von Bestrebungen zu einer Erweckung heroisch-nationaler Gefühle und zu einer religiösen Erneuerung in außerliterarischen Bereichen findet sich auch in der Literatur gelegentlich etwas, das man, analog zu ähnlichen Tendenzen in der Literatur des 20. Jahrhunderts, als „Suche nach dem Mythus" bezeichnen könnte. Allerdings stellen die Sylphen in Popes Lockenraub nur einen spielerischen Versuch in dieser Richtung dar; und erst der Vorromantiker William Blake ging in den achtziger Jahren so weit, eine eigene Mythologie für seine Dichtungen zu erschaffen. Ebenfalls manifestiert sich in der Dichtung und bildenden Kunst dieser Zeit gelegentlich eine „Suche nach dem Heroischen". Aber gerade die Tatsache, daß ein Mythus und das Heroische „gesucht" werden mußten, weist darauf hin, daß sie nicht mehr lebendige Wirklichkeit waren. 2) Realistische und antirealistische Tendenzen im Klassizismus Eine andere, nun aber formale Voraussetzung des ernsten Epos war jedoch im Klassizismus durchaus vorhanden. Das Epos war zu keiner Zeit eine „realistische" Gattung gewesen. Es hatte nie unbedeutende Ereig13 14

Siehe z. B. Popes Windsor Forest. Wolfgang Iser, Die Weltanschauung Henry Fieldings

(Tübingen, 1952), p. 74.

11

nisse aus dem zeitgenössischen Alltag und Menschen niederen Standes darstellen wollen (in diesem Sinne soll „Realismus" hier verstanden werden) wie etwa die Komödie. Sein Thema waren vielmehr stets, wie es Horaz in seiner Poetik nannte, die «res gestae regumque ducumque» gewesen. Es hatte die Taten von Göttern, Königen und Helden aus legendärer Vorzeit besungen; und die niederen Bereiche der Wirklichkeit wurden entweder ausgeklammert oder durch den epischen Stil so gehoben, daß sie in das Epos aufgenommen werden konnten. Dieser Stil, der stilus gravis oder sublime style, war sowohl für die Antike als auch für den Klassizismus der denkbar höchste,15 und das Maß der Stilisierung und „Sublimierung", dem die reale Welt in der Darstellung unterworfen werden mußte, war im Epos höher als in allen anderen literarischen Gattungen. Diese Tendenz zur Stilisierung der dargestellten Wirklichkeit ist für den Klassizismus in besonderem Maße bezeichnend. Wie viele Dichter dieser Zeit ernst gemeinte, d. h. nicht parodistische Pastoralgedichte ablehnten, in denen von Dialekt sprechenden Schäfern und Schafmist die Rede war, so hatte nach Ansicht des Klassizismus erst recht das Epos große Bereiche der Wirklichkeit auszuklammern und nur von hohen, in „sublimer" Sprache redenden Charakteren zu handeln. Selbst der so hoch verehrte Homer ging vielen Klassizisten in dieser Hinsicht nicht weit genug; und man tadelte an ihm, daß er seine Helden „niedrige" Tätigkeiten wie das Zubereiten von Speisen verrichten und einen so „niedrigen" Charakter wie Thersites überhaupt in einem Epos auftreten ließ.16 Die von Pope formulierte, für die ganze Zeit gültige Maxime "First follow Nature" 1 7 ist daher bekanntlich nicht als Forderung nach einem Realismus im heutigen Sinne des Wortes zu verstehen; und je höher die Gattung, desto größer hatte die Stilisierung der Wirklichkeit zu sein, und desto rigoroser mußten die „niedrigen" Bereiche der Wirklichkeit aus der Dichtung ausgeschieden werden. Dieser Haltung entsprachen einerseits die überstilisierten Umgangsformen im gesellschaftlichen Leben der damaligen Zeit. Sie ist andererseits aber auch der Ausdruck einer umfassenderen Literaturanschauung, für die eine realistische Gattung wie der Roman indiskutabel im eigentlichen Sinne des Wortes war. Als vollgültige Literatur wurden nur solche 15

16 17

Diese Rangordnung von Stilen und Gattungen zeigt sich z.B. in dem noch im 18. Jahrhundert nachwirkenden Bild von der rata Vergilii. Hier werden dem stilus humilis, stilus mediocris und stilus gravis jeweils die Gattungen der Pastoraldichtung, der Lehrdichtung und der Epik zugeordnet. Siehe z. B. Pope zur Gestalt des Thersites in Iliad, I p. 155. Essay on Criticism, v. 68 ( T w i c k e n h a m Edition, I p. 246).

12

Dichtungen angesehen, die in der imitatio der antiken Autoren, in den von ihnen gepflegten und daher „legitimen" Gattungen und in der Befolgung der klassischen „Regeln" entstanden waren, wobei die Gattungen als kunstvolle Stilisierungsformen bestimmter ihnen zugeordneter Wirklichkeitsbereiche erscheinen. Es hieße jedoch ein einseitiges Bild von dieser Epoche zeichnen, wollte man allein diese antirealistischen Tendenzen als typischen Zug herausstellen. Ebenso charakteristisch ist vielmehr eine ihnen entgegengesetzte Hinwendung zur zeitgenössischen Wirklichkeit, noch allgemeiner: ein neu erwachtes Interesse an der konkreten realen Welt. In der Philosophie äußerte sich dieser neue Geist in einer Hinwendung zur Erfahrungswirklichkeit, in einer Abkehr von der Metaphysik, von den Denksystemen der Scholastik, der Autorität des Aristoteles und der apriorisch-deduktiven Fundierung der Philosophie durch Descartes. An ihre Stelle traten im Empirismus die Sinneserfahrung der konkreten Welt als die primäre und eigentliche Erkenntnisquelle und die psychologisch-empirische Begründung der Kategorien. In der Ethik wurde die rationalistische Fundierung früherer Zeiten durch die Zurückführung der ethischen Phänomene auf den moral sense ersetzt. Das verstärkte psychologische Interesse der Philosophen ist ebenfalls ein Zeichen für den neuen Geist der Philosophie in dieser Zeit. In besonderem Maße wurden die Naturwissenschaften des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts von dieser Tendenz geprägt. An die Stelle der Autoritäten, besonders des Aristoteles, trat das Experiment, die unmittelbare Hinwendung zur konkreten Welt. Nur so war der große Aufschwung der Naturwissenschaften in dieser Zeit möglich. Während also einerseits in weiten Bereichen der Literatur die Autorität des Aristoteles noch fast unangefochtene Gültigkeit besaß und die Wertungen konservativ, autoritäts- und traditionsgebunden waren, gaben andererseits Philosophie und Naturwissenschaft das viele Jahrhunderte lang verehrte Vorbild des Aristoteles preis, um unbehindert durch die Tradition neue Wege beschreiten zu können. Auch die Literatur blieb von diesem neuen Geist nicht unberührt. Während viele Dichter und Kritiker nach wie vor der auf Aristoteles und Horaz zurückgehenden Forderung der Poetiken folgten, daß Tragödie und Epos nur edle Menschen, nur die Taten der Könige und Fürsten darstellen dürften, entstand zugleich das bürgerliche Trauerspiel, dessen Helden nicht „edel", d.h. adelig waren. Während die Poetiken eine realistische Gattung wie den Roman totschwiegen und viele Dichter nur Gattungen pflegten, in denen die dargestellte Wirklichkeit stark 13

stilisiert wurde, gelangte gleichzeitig der Roman zu seiner ersten großen Blüte in England. Wir finden also sowohl in der klassizistischen Literatur als auch in außerliterarischen Bereichen eine fundamentale Spannung, einen Gegensatz zweier völlig verschiedener Tendenzen, die in dieser Arbeit als „humanistisch" und „realistisch" bezeichnet werden sollen. Diese beiden einander entgegengesetzten Haltungen innerhalb der Epoche des Klassizismus wurden weitgehend von verschiedenen sozialen Schichten getragen. Die traditionsgebundene, „humanistische" hatte ihren Ort vorwiegend in der Aristokratie und in einer sich zunächst noch stark nach den Maßstäben des Adels orientierenden wohlhabenden und gebildeten bürgerlichen Oberschicht, einer Schicht also, die damals ein weitgehendes Privileg auf eine „humanistische" Bildung und auf das noch stark an den humanities orientierte Studium in Oxford oder Cambridge besaß. Vornehmlich in dieser Schicht trifft man die Verbindlichkeit der imitatio der Alten, die Verehrung des Epos als höchster literarischer Form, die Ablehnung des Romans und überhaupt aller literarischer Neuerungen und bezeichnenderweise, wie R.F.Jones nachwies,18 auch eine starke Skepsis gegenüber den Naturwissenschaften und der sie pflegenden Royal Society. Der Roman und das bürgerliche Trauerspiel wurden dagegen vor allem vom stärker puritanisch orientierten Kleinbürgertum geschaffen, das auf Grund seiner weltanschaulichen Voraussetzungen diesen Gattungen ihr stark realistisches Gepräge gab, da vom puritanischen Standpunkt Dichtung nicht als fiction, sondern nur als wahres Abbild des Lebens ihre Existenzberechtigung haben konnte.19 Charakteristischerweise ist der Beitrag dieser Schichten zum Aufschwung der Naturwissenschaften besonders groß; und schon damals tendierten die Akademien der Nonkonformisten mehr zu einer naturwissenschaftlichen als zu einer „humanistisch" orientierten Bildung. Dieser Beitrag der Nonkonformisten zur Entwicklung der Naturwissenschaften wurde von manchen „humanistisch" eingestellten Zeitgenossen noch übertrieben. Diese stellten oft, wie R. F. Jones belegte, die neuen Wissenschaften schlechthin als Produkt der Puritaner und damit als höchst verdächtig hin. Ein sehr aufschlußreicher Beleg für die soziologische Fundierung dieser gegensätzlichen Haltungen ist auch der damalige Streit um eine Universitäts18

19

"The Background of the Attack on Science in the Age of Pope", in: Pope and His Contemporaries: Essays presented to George Sherburn (Oxford, 1949), p. $6&. Vgl. dazu Herbert Schöffler, Protestantismus und Literatur (Leipzig, 1922),

p.i63f.

14

reform. Während von puritanischer Seite eine weitgehende Preisgabe der humanities als Lehrfach und ihre Ersetzung durch „nützliche" Disziplinen wie die Naturwissenschaften gefordert wurde, widersetzten sich die an den „humanistischen" Maßstäben der oberen Mittelklasse und des Adels ausgerichteten Zeitgenossen aufs entschiedenste diesen Reformideen,18 eine Kontroverse, die in mancher Hinsicht an die Auseinandersetzungen über das humanistische Gymnasium und die „realistischen" Formen der höheren Schulen in den letzten hundert Jahren erinnert. Auch die gesellschaftliche Oberschicht blieb allerdings vom neuen „realistischen" Geist nicht unberührt, wenn sie auch die realistischen Tendenzen ihrer Zeit ihren eigenen Maßstäben entsprechend abwandelte. Ein Adliger wie Shaftesbury trug wesentlich zur Neuorientierung der Philosophie dieser Zeit bei; ein höfischer Dichter wie Dryden beurteilte die Royal Society und den Aufschwung der Naturwissenschaften durchaus positiv; und ein stark von den ästhetischen Maßstäben der Aristokratie beeinflußter Dichter wie Fielding wurde zum bedeutendsten Romanautor dieser Zeit. Darüber hinaus zeigt sich auch in der Thematik der eindeutig für ein „humanistisch" eingestelltes Publikum geschriebenen Literatur ein verstärktes Interesse an der zeitgenössischen Wirklichkeit, das nur schwer mit der Ablehnung realistischer Darstellungsformen in Einklang zu bringen war. Dieser Zwiespalt erwuchs im Grunde aus den gleichen Wurzeln wie der bereits konstatierte Gegensatz zwischen dem Verlust der epischen Substanz und der Verehrung der epischen Form. 3) Die Unmöglichkeit des Epos und die Suche nach dem Epos So verschieden die beiden sozialen Schichten in ihren Wertmaßstäben und literarischen Äußerungen auch waren, keine besaß die zur Schaffung eines Epos unerläßlichen Voraussetzungen. Vom puritanischen Bürgertum war ein großes Epos kaum zu erwarten, da es das Epos - ohnehin zu allen Zeiten eine vorwiegend aristokratische Form - nicht als das große Ideal betrachtete und da dem realistischen Gestaltungswillen der dieser Schicht angehörenden Dichter eine literarische Form, die eine so starke Stilisierung der Wirklichkeit verlangte, nicht kongenial war. Bei der „humanistischen" gesellschaftlichen Oberschicht war zwar diese Kongenialität im formalen Bereich gegeben. Dagegen fehlten hier, wie bereits dargelegt wurde, die weltanschaulichen Voraussetzungen für ein Epos, d. h. die epische Substanz, die bei den bibelgläubigen Puritanern noch in der Form des christlichen Mythus vorhanden war. Gerade die Überspitzung der Stilisierungstendenzen in dieser Schicht, die ja weit über das von Homer Geleistete hinausging, deutet an, daß hier der echte 15

Inhalt fehlte. Wenn die epische Substanz, eine heroisch-mythische Weltsicht, nicht mehr vorhanden war, so konnte audi ein dem Homers und Vergils verwandter Stilwille nicht ausreichend sein, um ein der Ilias oder Aeneis gleichwertiges Epos zu schaffen. Wenn auch kein klassizistischer Dichter oder Kritiker dies klar erkannte und erst in der Romantik die Zeit für die Einsicht in die endgültige Unmöglichkeit des Epos als literarischer Form reif war, 20 so kann es doch kein Zufall sein, daß im Klassizismus trotz der großen Verehrung für das Epos keine großen Epen geschrieben wurden. Gerade hier wird aber ein weiterer für den Klassizismus typischer Zug sichtbar. Wie dem Fehlen einer heroisch-mythischen Weltsicht die Suche nach dem Mythus und nach dem Heroischen auf dem Fuße folgte, so hatte die Unmöglichkeit des Epos die Suche nach dem Epos zur Folge. Dabei waren es vor allem Adlige, die immer wieder die Überlegenheit des Epos über die anderen literarischen Formen betonten und die von ihnen patronisierten Dichter aufforderten, endlich ein großes Nationalepos zu schreiben, das für England das sein würde, was die Aeneis für das Zeitalter des Augustus gewesen war. Es ist bedeutsam, daß bereits an der Schwelle des Klassizismus John Sheffield, Earl of Mulgrave, in seinem Essay upon Poetry (1684) die Spitzenstellung des Epos im Gattungskanon fixierte und die Dichter aufforderte, ein Epos zu schreiben, in dem die Mängel Cowleys, Miltons, Tassos und Spensers vermieden würden. 21 Später begrüßte Lord Lyttleton begeistert das heute längst vergessene Leonidas-Epos ( 1 7 3 7 ) von Glover und rief auch Pope dazu auf, ein großes Epos zu dichten. So läßt er in seiner "Epistle to Mr. Pope" den Geist Vergils Pope wie folgt anreden: Near me and Homer then aspire to s i t . . . raise A lasting column to thy country's praise; [And] . . . sing the land, which yet alone can boast That liberty corrupted Rome has lost; Where Science in the arms of Peace is laid, And plants her palm beside the olive's shade. 20

Vgl. Donald M. Foerster, "The Critical Attack upon the Epic in the English Romantic Movement", PMLA, L X I X / 1 9 5 4 , p. 432fr. - Ferner: Hermann Fischer, Die romantische Verserzählung in England (Tübingen, 1964), p. 43fr. - Siehe besonders Walter Scotts Rezension von Southeys Kehama in: Quarterly Review, Febr. 1 8 1 1 , Nr. 9, Art. 2. - Einer der wenigen, die schon im Klassizismus die Unmöglichkeit, damals noch ein Epos zu schreiben, betonten, ist Thomas Blackwell {Enquiry into the Life and Writings of Homer, [London, 1 7 3 5 ] ) .

21 P. 21.

16

Such was the theme for which my lyre I strung, Such was the people whose exploits I sung; Brave, yet refin'd, for arms and arts renown'd, With different bays by Mars and Phoebus crown'd; Dauntless opposers of tyrannic sway, But pleas'd a mild Augustus to obey. 22

Und an anderer Stelle schreibt er: . . . but the Wish of my Heart these many Years has been, that it would please the Muses, for my Delight and Entertainment, to raise up a Genius w h o would . . . , in the Spirit of the Ancients, without taking their Thoughts, produce another Original Epick Poem.23

Lyttleton forderte das Epos nicht in erster Linie aus literarischem Traditionsbewußtsein, nicht bloß deshalb, weil die so verehrte Antike in dieser Gattung große Leistungen hervorgebracht hatte und nicht, weil schon manche Literarkritiker der Renaissance, z. B. Sidney, im Epos die höchste Gattung gesehen hatten. Er und viele seinerStandesgenossen in dieser Zeit erhofften vom Epos vielmehr, daß es ebenso "a lasting column to their country's praise" aufrichten würde wie Homers Epen für Griechenland und die Aeneis für Rom. Sie erwarteten, daß das große klassizistische Epos die staatstragende Schicht des englischen Adels ebenso verherrlichen würde, wie es die antiken Epen für die Eliten ihrer Länder und ihrer Zeiten getan hatten. 24 Es war also, neben der bereits erwähnten „antirealistischen" Stilisierungstendenz, eine weitere Bedingung der Möglichkeit des Epos unter den „humanistisch" orientierten Menschen dieser Zeit gegeben. Aber auch dies änderte nichts daran, daß das, was in den voraufgehenden Seiten als „epische Substanz" bezeichnet wurde, nicht mehr vorhanden war. Daher konnte der epische Impuls, der auch im Klassizismus noch existierte, aber in der Gattung des Epos keine Erfüllung mehr fand, allenfalls andere literarische Gattungen befruchten, so z.B., wie Stratmann nachwies, die heroische Epistel, die heroisierte Pastoraldichtung, die Heldenbiographie, den heroischen Totendialog und die heroische 22 23

24

In: The Poetical Works of George Lord Lyttleton (London, 1801), p. j o f . " T o the Author of Common Sense", in: Common Sense: or, the Englishman's Journal. . . (London, 1738), p. 73 (9.4.1737, Nr. 10). Vgl. Stratmann, Englische Aristokratie und klassizistische Dichtung (Nürnberg, 1965), p. 221: Das Epos wird im Klassizismus „zur einzigen Stilisierungsform, die die nationale Elite der Zeit ihrer eigenen Selbstinterpretation gemäß darstellen könnte. N u r in einem nationalen Epos war die verlorene Einheit der englischen Aristokratie noch einmal - im Poetischen - realisierbar, nur hier konnte der Gruppe noch die staatsmännische und heroische Bedeutung gewährt werden, die zu verlieren sie im Begriffe war."

17

Panegyrik,25 ferner das Lehrgedicht,28 ganz besonders aber, wie diese Untersuchung zeigen wird, das mock-heroic poem. Sogar die beiden bedeutendsten Dichter dieser Zeit, Dryden und Pope, scheiterten in ihrer Absicht, ein großes Nationalepos zu schreiben, und wurden bei ihrer Suche nach dem Epos zu anderen epischen Formen geführt, die sie verwirklichen und vollenden konnten, und zwar vor allem zu den Übersetzungen antiker Epen und zum mock-heroic poem.21 Dryden schrieb statt seiner geplanten Epen über König Arthur und den Schwarzen Prinzen seine yleraeis-Ubersetzung und das kurze komische Epos Mac Flecknoe, Pope statt seiner geplanten Epen über Alcander und Brutus seine Homer-Ubersetzung und die komischen Epen The Rape of the Lock und The Dunciad. Wie in der Spätantike führt der Weg also auch hier vom großen Epos nicht nur zum Roman, sondern auch zum Epyllion, zum Kleinepos.28 Daß die Übersetzungen antiker Epen von den Verfassern und ihren Zeitgenossen als echte epische Leistungen innerhalb der großen abendländischen epischen Tradition angesehen wurden und in der Tat auch mehr als bloße Übersetzungen sind, steht außer Frage.29 Daß aber auch die komischen Epen des englischen Klassizismus nicht nur in der heroischepischen Tradition stehen, sondern auch, auf ihre Weise, als echte Epen betrachtet wurden und als Epen gedacht waren, beweist allein die Tatsache, daß folgendes Aristoteles-Zitat zum Gemeinplatz der klassizistischen Literarkritik werden konnte: „Wie sich . . . Ilias und Odyssee zur Tragödie verhalten, so verhält sich der Margites zur Komödie." 30 Mit anderen Worten: das komische Epos ist eine ebenso vollgültige Form des Epos, wie die Komödie eine vollgültige Form des Dramas ist. Es ist mithin weit mehr als eine bloße Spielart der Parodie oder der Satire, sondern eine als eigenständig anerkannte Gattung. 25 A.a.O., p. 224. 26 Vgl. Ulrich Broich, „Das Lehrgedicht als Teil der epischen Tradition des englischen Klassizismus", GRM, N F X I I I / 1 9 6 3 , p. 147fr. 27 Vgl. dazu u.a. Austin Warren, "Alexander Pope", in: Rage for Order. Essays in Criticism (Chicago, 1948), pp. 3 7 - 5 1 . 28 In der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts ist Wieland ein besonders treffendes Beispiel für einen Dichter, dessen große epische Pläne scheiterten und den die Suche nach dem Epos zum komischen Epos und zum Epyllion führte. Vgl. dazu Friedrich Sengle, „Von Wielands Epenfragmenten zum ,Oberon"', in: Festschrift für Paul Kluckhohn und Hermann Schneider (Tübingen, 1948), pp. 266-285. 29 Vgl. dazu Douglas Knight, Pope and the Heroic Tradition (New Häven, 1951), ferner Rudolf Sühnel, Homer und die englische Humanität (Tübingen, 1958). 30 Aristoteles, Poetik, übers, von Olof Gigon (Stuttgart, 1961), p. 30. - Vgl. dazu Ulrich Broich, „ B a t r a c h o m y o m a c h i a und Margites als literarische Vorbilder: Einige Bemerkungen zu einem literarkritischen Topos", in: Lebende Antike, ed. H. Melier und H. J. Zimmermann (Berlin, 1967), pp. 250-257. 18

3- Gegenstandsbereich, Terminologie und Gang der Untersuchung Der englische Klassizismus suchte das heroische Epos und fand das komische, eine Tatsache, von der aus man die Grundbefindlichkeit dieses an Paradoxien und Widersprüchlichkeiten so reichen Zeitalters ableiten könnte. Das bedeutet jedoch nicht, daß das mock-heroic poem etwas Vorgefundenes, Gegebenes war und nur noch nachgeahmt zu werden brauchte wie etwa Vergils Georgica in den klassizistischen georgics. Neben der Suche nach dem großen heroischen Epos gab es daher auch eine Suche nach dem dieser Zeit gemäßen komischen Epos; und das aus dieser Suche resultierende mock-heroic poem ist in weit größerem Maße als die anderen in Anlehnung an die antike Literatur und Poetik gepflegten Gattungen eine Schöpfung des englischen Klassizismus. Zwar waren dem Klassizismus verschiedene Formen komischer Epik überliefert. In einer Zeit, welche die imitatio der antiken Dichtung auf ihre Fahnen geschrieben hatte, lag es nahe, diese zuerst in der griechischen und römischen Literatur zu suchen. Doch hier waren nur zwei bedeutendere komisch-epische Gedichte erhalten: die Batrachomyomacbia und der Culex. Letzterer kam als Vorbild am wenigsten in Frage, da er kaum epische Züge aufweist, während die Batrachomyomachia in Handlung, Motiven und Stil weit enger an das heroische Epos angelehnt ist. Beide Werke kamen aber als tatsächliche Vorbilder des mock-heroic poem kaum in Betracht. Sie stellen Ereignisse aus einer Welt dar, in der Tiere sprechen können, aus einer Welt des Märchens und der Fabel, während die klassizistischen Dichter in der Darstellung der Menschen und Gesellschaft ihrer eigenen Zeit ein Hauptziel der Dichtung erblickten. Die Verfasser von mock-heroic poems nennen zwar wiederholt die Batrachomyomachia und ganz selten auch den Culex in den literarischen „Stammbäumen" ihrer Gedichte, da sie ihre eigenen Werke in der Gattung des komischen Epos so „legitimieren" konnten; aber für die dichterische Praxis bedeutet das so gut wie nichts. Der in Bruchstücken überlieferte Margites hingegen dürfte dem mockheroic poem, besonders der stärker satirischen Spielart, näher gestanden haben. Es war aber so wenig über seinen Inhalt und seine Form bekannt, daß er nur ganz allgemeine Anregungen geben konnte. Immerhin wird er mehrfach, vor allem in vorwiegend satirischen mock-heroic poems wie der Dunciad, als Vorbild genannt. Die Silloi des Timon, ein ebenfalls nur fragmentarisch erhaltenes griechisches parodistisch-satirisches Gedicht, das manche Gemeinsamkeiten mit dem mock-heroic poem des 19

englischen Klassizismus aufweist, waren dagegen zu wenig bekannt, um in den „Genealogien" von mock-heroic poems aufzutaudien. Die satirisch-burlesken Werke Lukians schließlich waren z w a r jedem Gebildeten vertraut, konnten aber nur wenige Anregungen vermitteln und wurden überdies meist der Travestie zugeordnet. 31 Trotz der beträchtlichen Unterschiede zwischen Batrachomyomachia, Culex und dem mock-heroic poem werden wir in den ersten Jahrzehnten des Bestehens dieser Gattung vergebens nach literarkritischen Diskussionen suchen, welche sich mit den Unterschieden zwischen der antiken und der klassizistischen Form befassen. Gerade weil das mock-heroic poem so jung war, benötigte es, ähnlich wie eine englische Familie von jungem A d e l nach einem Ahnherrn möglichst aus der Zeit der normannischen Eroberung zu suchen pflegte, ein Vorbild aus der antiken Literatur. Erst etwa ab 1750, als der Klassizismus und seine Literaturanschauung sich allmählich zu zersetzen begannen, finden sich auch literarkritische Auseinandersetzungen mit der Frage, inwiefern die klassizistischen mock-heroic poems von ihren „Stammvätern" abweichen. 32 Was dagegen die komischen Epen der Renaissance und der Restauration betrifft, so w a r bei diesen Epochen, die für den Klassizismus keineswegs den Leitbildcharakter der Antike besaßen, eine solche Vorsicht unnötig. Daher sind uns zahlreiche zeitgenössische Äußerungen über die Formen komischer Epik der voraufgegangenen 250 Jahre überliefert, wobei hier durchaus nicht die Gemeinsamkeiten dieser Formen und der klassizistischen, sondern gerade die Unterschiede betont wurden. Man kann sogar sagen, daß die Schaffung des mock-heroic poem H a n d in H a n d mit einer rigorosen Distanzierung von den Formen komischer Epik der voraufgegangenen Epochen v o r sich ging. Es sind v o r allem drei Formen, die in diesen Diskussionen immer wieder auftauchen: i . d a s komische Ritterepos, das in Italien v o m 15. bis zum 17. Jahrhundert geblüht hatte (in der modernen englischen Sekundärliteratur meist als serio-comic romance oder medley epic bezeichnet) und das dem heutigen Leser vornehmlich durch Pulcis Morgante Maggiore (1460-1483), Bojardos Orlando Innamorato (1472-1495), Ariosts Orlando Furioso ( 1 5 1 6 - 1 5 3 2 ) und Tassonis schon am Ubergang zu einer neuen Zeit stehende Secchia Kapita (1622) vertraut ist; 2. die 31

32

Vgl. Addison, Spectator N r . 249 vom 1 5 . 1 2 . 1 7 1 1 . Vgl. dazu auch Anhang, Anm. A 22, S. 359L - Z u weiteren antiken Eposparodien (die sämtlidi das mockheroic nicht nachweisbar beeinflußten) vgl. Robert Schröter, „Horazens Satire I, 7 und die antike Eposparodie", Poetica, I/i967, pp. 8-23. Ausführlicher darüber siehe S. 192.

20

epische Travestie, die in Frankreich von etwa 1640 bis 1660, in England von 1660 bis ca. 1680 ihren Höhepunkt erlebte und deren bekanteste Vertreter Scarrons Virgile Travesti (1648-1652) und Cottons Scarronides (1664) sind; 3. das hudibrastische Epos, eine spezifisch englische Form, die durch Samuel Butlers Hudibras (1663-1678) inauguriert wurde und die bis weit ins 18. Jahrhundert hinein am Leben blieb. Nach der Jahrhundertwende wurde das hudibrastic vom mock-heroic poem aus seiner führenden Stellung verdrängt. Das mock-heroic blühte bis zum Anfang der vierziger Jahre, um dann seinerseits von einer neuen Form komischer Epik abgelöst zu werden: dem komischen Roman. Diese Erzählform existierte zwar natürlich seit langer Zeit, und Defoes Moll Flanders (1722) war keineswegs ihr erster bedeutender Vertreter. Aber erst Fielding erhob im Joseph Andrews (1742) und Tom Jones (1749), d. h. also zu einer Zeit, als der künstlerische Abstieg des mock-heroic bereits begonnen hatte, den Anspruch, mit seinen beiden Romanen echte komische Epen im Sinne der auf S. 18 zitierten Definition des Aristoteles geschaffen zu haben. Daher nannte er sie comic epics in prose, eine Bezeichnung, die von vielen Literarkritikern gegen Ende des 18. Jahrhunderts entweder übernommen oder durch den analogen Begriff comic epopee ersetzt wird. Um einen besseren Überblick zu gewährleisten, seien diese Formen komischer Epik noch einmal übersichtlich zusammengestellt: Komisches Epos {comic epic)

1. komisches 2. epische Ritterepos Travestie

3. hudibrastisches Epos

4. komisches Heldengedicht

j. komischer Roman

( serio-comic romance, medley epic)

(epic travesty)

(hudibrastic)

( mock-heroic poem)

(comic epic in prose)

Italien, 1 5 . - 1 7 . Jh.

Höhepunkt in Frankreich 1640-1660 Höhepunkt in England 1660-1680

England, 1663-ca. 1740, Höhepunkt bis etwa 1 7 1 0

in England von ca. 1680-1800, Höhepunkt ca. 1710-174$

England, ab 1 7 4 2

z.B.

z.B.

z.B.

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Orlando Furioso

Virgile Travesti Hudibras

Rape of the Lock, Dunciad

Joseph Andrews

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M i t den ersten drei dieser fünf Formen komischer Erzählkunst, d.h. mit den vorklassizistischen Formen komischer Epik, wird sich Teil I dieser Arbeit zu befassen haben, 33 wobei diese Formen in ihrer Gesamtheit hier erstmalig in einer Diskussion des komischen Epos zusammen mit dem mock-heroic poem behandelt werden. Es wird jeweils eine kurze Charakterisierung der wesentlichen Merkmale und der Geschichte der betreffenden Form des komischen Epos gegeben, worauf die Betrachtung sich schließlich ihrem eigentlichen Ziel zuwendet, nämlich der Auseinandersetzung der klassizistischen Literarkritiker und Dichter mit dieser Form. Indem dabei die Gedankengänge nachvollzogen werden, die zur Ablehnung dieser Formen im Klassizismus führten, können bereits die ästhetischen Forderungen dieser Zeit an ein komisches Epos abgeleitet werden, aus denen dann schließlich das mock-heroic poem erwuchs. Mancher Leser wird hier vielleicht die nicht mit dem mock-heroic zu verwechselnde komische Verserzählung (tale in verse) in der A r t von G a y s "True Story of an Apparition" 3 4 vermissen. G e w i ß w a r die von der Forschung bisher fast völlig vernachlässigte komische (und ernste) Verserzählung, die zum Teil wie die Fabel didaktische, zum Teil wie die Verssatire satirische, zum Teil aber auch rein unterhaltende Ziele verfolgte, im Klassizismus eine beliebte Gattung. 3 5 Während w i r aber im Klassizismus wiederholte Erörterungen der Frage antreffen, ob z. B. das komische Ritterepos oder der Hudibras komische Epen im Sinne der Definition des Aristoteles und überhaupt den „Regeln" der klassizistischen Poetiken entsprechende Formen sind, wird die klassizistische Verserzählung, ebenso wie der Roman, bis zur Mitte des Jahrhunderts im allgemeinen totgeschwiegen. U n d auch nach 1750, als der Roman schon zu einem Gegenstand häufiger Diskussionen geworden war, wird die Verserzählung nur selten erwähnt. Immerhin behandelt The Art of Poetry on a New Plan (1/62) von Newbery-Goldsmith neben den Fabeln auch kurz die tales in verse; und um die gleiche Zeit bestritt in Deutschland J . P . U z die Notwendigkeit eigener Regeln für das mockheroic poem und behauptete, es reiche aus, wenn man eine gute komische D a es im Klassizismus, wie sdion oben dargelegt, keine ausführliche Diskussion des komischen Tierepos als möglicher Form komischer Epik (wohl natürlich der Fabel) gibt, braucht ihm in Teil I kein eigenes Kapitel gewidmet zu werden. Vom komischen Tierepos und seiner Stellung in der klassizistischen Literarkritik und Dichtung wird kurz auf S. 192fr. die Rede sein. 3 4 In: Johnson-Chalmers, X , p. j o 6 f . 35 Vgl. J . W . D r a p e r , "The Metrical Tale in X V I I I - C e n t u r y England", PMLA, LII/1937, pp. 390-397. 33

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Erzählung in Versen schreibe.36 In der Romantik wurde die Verserzählung dann häufiger zum Gegenstand literarkritischer Erörterungen. In der Blütezeit des Klassizismus jedoch, also etwa bis 1750, standen die Verserzählung als Form der Epik und die komische Verserzählung als Form des komischen Epos gar nicht zur Debatte und wurden auch nicht in den klassizistischen Gattungskanon aufgenommen. Komische Erzählungen (d.h. komische tales in verse, Fabeln oder Balladen37) durften also nicht schon als komische Epen gelten, bloß weil sie in Versen abgefaßt waren, sofern der Bezug auf das Epos fehlte. Ebensowenig betrachtete man Epenparodien als komische Epen, wenn sie keine Handlung besaßen. So finden wir bei den fast oder gänzlich jeder Handlung entbehrenden Miltonparodien wie "Fanscomb Barn" der Lady Winchilsea, Philips' The Splendid Shilling oder Gays Wine oder bei Spenserparodien wie Popes "The Alley", Pitts "Jordan", Shenstones School-Mistress und Cambridges "Archimage" durchweg nicht die beim mock-heroic üblichen Untertitel epic poem, heroic poem, mockheroic poem, heroi-comical poem, sondern nur "In Imitation of Milton" oder "In Imitation of Spenser". Mit diesen Gedichten hat sich diese Untersuchung also ebensowenig zu befassen wie mit der komischen tale in verse, der komischen Ballade und der Fabel. Es läßt sich schon jetzt sagen, daß das mock-heroic poem im Klassizismus sowohl von früheren Formen komischer Epik als auch von anderen klassizistischen Formen komischer Erzählkunst sowie Epenparodien anderer Art klar abgegrenzt wurde und daß recht präzise Vorstellungen über die zum Wesen dieser Gattung gehörigen Züge bestanden. Aufgabe von Teil II dieser Arbeit wird es sein, diese Gattungskriterien an Hand der literarischen Theorie und Praxis ausführlich und systematisch zu untersuchen und sie von allen anderen Gattungen, zu denen eine Affinität bestand, abzugrenzen. Nachdem dann Teil II die Gattungsmerkmale des mock-heroic poem systematisch untersucht hat, wird sich Teil III dieser Untersuchung der Geschichte dieser Gattung zuwenden. Wie der Forschungsbericht ergeben hat, ist es dabei nicht zwedkmäßig, nach der Art von Bond und Schmidt eine chronologisch geordnete Folge von Einzelinterpretationen komischer Epen lose aneinanderzureihen und auch die völlig unbedeutenden 36 37

Siehe Anhang, Anm. A 2, S. 3 5 2 ^ Daher handelt es sich auch bei "The Drinking Match. In Imitation of ChevyChace. By the Duke of Wharton", in: Whartoniana . . . (London, 1727), einer dem mock-heroic nahestehenden Parodie der Ballade Chevy Chase, nicht um ein komisches Epos im Sinne des Klassizismus.

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Vertreter der Gattung ausführlich zu berücksichtigen. Teil III wird vielmehr versuchen, einen zusammenhängenden Überblick über die Geschichte der Gattung in ihren drei bereits erwähnten Hauptphasen zu geben. Die künstlerischen Höhepunkte der Gattung, Popes Lockenraub und Dummkopfiade, werden dabei jeweils in einem eigenen Kapitel behandelt. Andere Werke werden nur dann ausführlicher besprochen, wenn ihnen eine besondere entwicklungsgeschichtliche Bedeutung zukommt; und auch nicht völlig unbedeutende Werke wie Gays Fächer und Somerviles Hobbinol können daher nur ganz kurz berücksichtigt werden. Abschließend noch eine Bemerkung zur Terminologie. Es wäre wünschenswert, im weiteren Verlauf dieser Arbeit mock-heroic poem durch einen deutschen Ausdruck zu ersetzen. Der in der deutschen Sekundärliteratur meist verwandte Terminus „komisches Epos" ist allerdings zu diesem Zweck nicht geeignet. Seine Verwendung in diesem Sinn würde Unklarheiten zur Folge haben, da er auch immer wieder als Oberbegriff für das komische Ritterepos, das hudibrastische Epos, das mock-heroic usw. gebraucht wurde. Auch Schmidts Terminus „komisches Epos klassizistischer Richtung" ist wenig empfehlenswert, sowohl wegen seiner Länge als auch deshalb, weil es im englischen Klassizismus noch andere Formen gab, die den Anspruch erhoben, komische Epen zu sein.88 In Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch der deutschen Dichter und Literarkritiker des 18. Jahrhunderts und einiger Germanisten unserer Zeit soll daher in dieser Arbeit der Terminus „komisches Heldengedicht" durchweg als deutsche Übersetzung für mock-heroic poem verwandt werden.39

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39

Die Verwirrung in Schmidts Buch wird dadurch gesteigert, daß er die Termini „komisches Epos" und „komisches Epos klassizistischer Richtung" durcheinander verwendet. Belege siehe Anhang, Anm. A 3, S. 353. 24

TEIL I

VORKLASSIZISTISCHE FORMEN KOMISCHER EPIK

KAPITEL I

Das italienische komische Ritterepos Sed non ut placidis coeant inmitia, non ut Serpentes avibus geminentur, tigribus agni. (Horaz, Epistula ad Pisones)

Die trotz ihrer schier nicht enden wollenden Länge nie zum Abschluß gelangten Epen Bojardos und Ariosts, in denen vor dem Leser eine kaum übersehbare Fülle von Personen, Handlungen und Schauplätzen ausgebreitet wird und die auch heute noch durch ihre Buntheit und den mitreißenden Fluß ihrer Erzählung bezaubern, scheinen durch Welten getrennt zu sein von den komischen Heldengedichten eines Garth, Pope oder Gay. Das mock-heroic poem umspannt einen viel begrenzteren Rahmen und weist eine weit diszipliniertere Form auf als das komische Ritterepos; seine Länge erreicht nur die weniger Gesänge etwa des Orlando Furioso, und sein größter Vorzug ist sicher nicht die spannende und mitreißende Erzählkunst. Dennoch besteht in mancher Hinsicht eine Verwandtschaft zwischen beiden Formen. Überdies stammt die Gattung des komischen Heldengedichts in direkter Linie, d.h. auf dem Weg über die oft als Vorbild genannte Secchia Rapita, von den komischen Epen Pulcis, Bojardos und Ariosts ab. Wichtiger für unsere Betrachtung sind aber die Unterschiede beider Erzählformen. Nicht nur wurden die ästhetischen Maßstäbe des französischen und englischen Klassizismus zum Teil auf dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit der so andersartigen italienischen Dichtung, die in der vorklassizistischen Zeit in beiden Ländern so beliebt gewesen war, erarbeitet. Auch das komische Heldengedicht entstand auf dem Hintergrund einer Auseinandersetzung nicht nur mit den vorklassizistischen Formen komischer Epik Englands und Frankreichs, sondern auch mit dem italienischen komischen Ritterepos. Eigentliches Ziel dieses Kapitels wird somit eine Skizzierung der klassizistischen Diskussion dieser italienischen Form komischer Epik sein. Dabei kann bereits gezeigt werden, welche Züge das vom Klassizismus gesuchte komische Epos nicht haben durfte, aber zum Teil auch, welchen ästhetischen Maßstäben es gerecht werden mußte. Diese Betrachtung wird dann in den darauffolgenden Kapiteln durch eine Analyse der Bewertung der epischen Travestie und des hudibrastischen Epos im Klassizismus zu ergänzen sein. 2

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Zuerst ist es aber erforderlich, einige in diesem Zusammenhang relevante Züge des komischen Ritterepos zusammenzustellen, wobei dieser Uberblick recht kurz sein darf, da er sich weitgehend auf die Resultate der bisherigen Forschung stützen kann. 1 x. Grundzüge des komischen Ritterepos i) Sowohl das komische Heldengedicht als auch das komische Ritterepos entstanden in einer Spätzeit. Die Anfänge des komischen Heldengedichts fallen in eine Epoche, in welcher der englische Adel die Geschlossenheit und Exklusivität seiner ästhetischen und gesellschaftlich-ethischen Wertmaßstäbe bereits zu verlieren begann, aber sich noch einmal bemühte, diesem Prozeß Einhalt zu gebieten. Wie bereits in der Einleitung dargelegt, führten diese Bemühungen zur Forderung und Suche nach dem großen nationalen Epos, resultierten jedoch schließlich nur in der Schaffung einer kurzen, komisch-parodistischen Erzählform. Da diese fast nur durch die Parodie des antiken Epos an der Gattung des Epos teilhaben konnte, so war sie, wenigstens in dieser Hinsicht, eine sekundäre, ja parasitäre Gattung. Dies trifft, mutatis mutandis, auch auf das komische Ritterepos zu. Es entstand in einer Zeit, als sich Wertwelt und Lebensformen des mittelalterlichen Rittertums, wie sie in den Epen des Chretien de Troyes und Wolframs von Eschenbach ihren bleibenden Ausdruck gefunden hatten, im Zuge eines gesellschaftlichen Umschichtungsprozesses zersetzten. Die Erfindung des Schießpulvers bedeutete einen wichtigen Schritt in dieser Entwicklung. Dies beweist nicht nur die Sozialgeschichte dieses Zeitraums, sondern auch Ariosts Klage über die Erfindung der Kanonen, die er im Rasenden Roland anachronistisch in die Zeit Karls des Großen verlegt; eine Klage, die ihren unmittelbaren Anlaß in der Tatsache hat, daß das Heer König Karls VIII. von Frankreich 1494 auf seinem Italienzug erstmalig in diesem Land in größerem Maße Gebrauch von Kanonen machte. Wie der Adel im englischen Klassizismus die seine Existenz als politische, gesellschaftliche und literarische Macht bedrohende Entwicklung aufzuhalten suchte, so bemühten sich auch die oberitalienischen Höfe, 1

Der i.Abschnitt dieses Kapitels ist an verschiedenen Stellen R.D.Wallers ausgezeichnetem Vorwort zu seiner Ausgabe von Freres The Monks and the Giants (Manchester, 1926), der heute noch bemerkenswerten Geschichte der italienischen Literatur (1870/71) von Francesco De Sanctis, übers, von Lili Sertorius, 2 Bde. (Stuttgart, 1 9 4 1 - 4 3 ) , sowie Francesco Floras Storia della Letteratura Italiana, 5 Bde. (Mailand, 1950), verpflichtet.

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diesem Prozeß Einhalt zu gebieten. So strebten z.B. die Este am Hofe von Ferrara danach, das Rittertum, seinen Geist und seine Turniere neu zu beleben. Dabei war den vom Hofe von Ferrara patronisierten Dichtern Bojardo und Ariost, beide selbst aristokratischer Abstammung, die Rolle zugedacht, auf literarischem Gebiet diese künstliche Neubelebung der ritterlich-höfischen Lebensformen und Wertwelt zu unterstützen. Sie sollten die Stoffe der mittelalterlichen Karlsepik, die in Italien bis dahin auf den Marktplätzen der Städte von cantastorie, d. h. Geschichtenerzählern niederen sozialen Ranges, vor einem gemischten Publikum vorgetragen worden waren, „dem Volk wieder aus den Händen . . . winden und [ihnen] . . . die ernsten Maße eines E p o s . . . geben".2 Wie im Klassizismus finden wir also auch hier eine „Suche nach dem Epos". 8 Und auch in der italienischen Renaissance wurde das große heroische Epos - allenfalls mit Ausnahme von Tassos Gerusalemme Liberata - nicht verwirklicht. Statt des großen Epos, das die idealistische Weltanschauung und die disziplinierte Lebensform des Rittertums als noch lebendig darstellen sollte, entstand so eine die menschliche Natur weit weniger idealisierende und die Wirklichkeit viel weniger stilisierende epische Form. Wo echtes, heroisches und idealistisches Rittertum in diesen Werken geschildert wird, lebt es in einem Reich der reinen Phantasie, einem Reich der Riesen, Zauberer, Zwerge, Flügelpferde und Zauberschlösser, das sich trotz der Bemühungen der Dichter nicht mehr wie noch im hochhöfischen Ritterepos als eine stilisierte Gestaltung der wirklichen, gegenwärtigen Welt verstehen läßt. Ähnlich wie im Klassizismus beobachten wir also auch hier eine Spannung zwischen heroisch-ritterlichem Ideal und unheroischer, unritterlicher Wirklichkeit; und wie das klassizistische komische Heldengedicht Motive und Formen des antiken heroischen Epos übernahm, aber durch die Übertragung in eine andere Welt notwendig ins Parodistische wenden mußte, so werden auch im komischen Ritterepos die Motive und Helden des hochmittelalterlichen Ritterepos oft travestiert, seine Formen parodiert und seine Ideale ironisch ins Gegenteil verkehrt. Als Beispiel diene die bekannte Giocondo-Episode aus dem Rasenden Roland, die in der Auseinandersetzung des Klassizismus mit dem komischen Ritterepos ein Hauptangriffspunkt war. Sie schildert, wie die bei2

D e Sanctis, a.a.O., I p. 4 7 2 .

3

In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Zielsetzung des komischen Heldengedichts und des komischen Ritterepos von der Intention der ebenfalls in „Spätzeiten " entstandenen Batrachomyomachia und der epischen Travestie des 1 7 . Jahrhunderts, die gewiß nicht als „Suche nach dem E p o s " bezeichnet werden kann.

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den schönsten Männer Italiens entdecken, daß sie von ihren Frauen betrogen werden. Sie kommen daraufhin zu folgender Entscheidung: 4

Mit anderen Worten: sie legen sich eine gemeinsame Geliebte zu. Sie müssen jedoch bald feststellen, daß sie von ihr mit einem Dritten betrogen werden, während sie mit ihr zusammen im gleichen Bett schlafen. Hier wird das Ideal des christlichen Ritters, das in anderen Gesängen des Orlando Furioso noch durchaus verbindlich ist, mit der Wirklichkeit, dem Allzumenschlichen, konfrontiert. Giocondo und sein Freund sind von ihren Frauen auf schändliche Weise betrogen worden. Die Folge ist, daß sich das ritterliche Ideal für beide ins Gegenteil verkehrt. Nicht mehr wollen sie eine weit über dem Manne stehende Dame verehren, sondern sich der sinnlichen Liebe zu einem Mädchen niederer Herkunft erfreuen, sobald sie das Bedürfnis dazu verspüren; wobei Welten dieses «natural bisogno» von der idealistischen und asketischen Minne des höfischen Ritters trennen. Sie wollen nicht mehr Kämpfe und Heldentaten zu Ehren der Geliebten vollbringen, sondern suchen eine Möglichkeit zu sexueller Befriedigung ohne ritterliche «contese», «liti» und «querele». Auch die Treue, ein für den höfischen Ritter bis zum Tode verpflichtendes Ideal, wird ins Gegenteil pervertiert, wenn von dem Mädchen verlangt wird, daß sie zwei Rittern zugleich treu sei («a duo saria fedele»). Gerade diese Stelle zeigt, wie sehr die komischen Ritterepen ihre Existenz einem Auflösungsprozeß verdanken und parasitärer Natur sind. Dies gilt, wie schon angedeutet, auch für das komische Heldengedicht und für die meisten anderen Formen komischer Epik, so daß die klassizistische Ansicht, ernstes und komisches Epos seien komplementäre, historisch gleichzeitig auftretende Formen, als Resultat bloßen Wunschdenkens erscheint.5 4

5

Lodovico Ariosto, Orlando Furioso, ed. Eugenio Camerini (Mailand, 1890), p.266 (c. X X V I I I , st. 5of.) - Übersetzung siehe Anhang, Anm. A 4 , S. 3J3f. Belege zu dieser Ansicht siehe S. 140ÌÌ. 3°

z) Jedoch enthalten der Orlando Furioso und die anderen Epen dieses Typs durchaus nicht nur Stellen in der oben zitierten Art. Vor allem Bojardo und Ariost stellen in ihren Werken oft genug auch wahrhaft edles, idealistisch gesinntes, opferbereites, tapferes und asketisches Rittertum dar. Damit gelangen wir zu einem weiteren Wesenszug dieser Gedichte und zugleich zu einem entscheidenden Unterschied zwischen ihnen und dem komischen Heldengedicht des englischen Klassizismus. Es gehört zum Wesen des komischen Ritterepos, kein rein komisches Epos zu sein, sondern Scherz und Ernst, realistisch-desillusionierende und ritterlich-idealisierende Szenen miteinander zu verbinden und zu kontrastieren. Daher gab ihm die englische Literaturkritik den Gattungsnamen medley epic und die vielleicht treffendere, da keine Abwertung implizierende, Bezeichnung serio-comic romance.6 Als besonders extremes Beispiel dafür sei Pulcis Morgante Maggiore (1460-1483) genannt. In diesem Werk findet sich völlig Phantastisches neben Dingen aus der Alltagswirklichkeit, Anrufungen Gottes stehen neben Stellen, die Religiöses verspotten, Schilderungen ritterlichen neben solchen unritterlichen Inhalts, Parodien der Vorlagen neben ernstgemeinten Nachahmungen; und selbst bei der Darstellung der Schlacht von Roncevaux, in der Roland getötet wird, kann es sich der Autor nicht verkneifen, seine Spaße zu machen. Pulci hat selbst in einem seiner Briefe an Lorenzo il Magnifico die Weltsicht in wenigen Worten charakterisiert, aus der ein halb komisches, halb ernstes Epos dieser Art erwachsen mußte: «Tutte le nostre cose sono cosi fatte; uno zibaldone mescolato di dolcie et amaro et mille sapori varij.» 7 Wenn man will, kann man in dieser Haltung sogar noch einen säkularisierten Ausläufer der mittelalterlichen, im ursprünglichen Sinne des Wortes „katholischen" Haltung sehen, die Heilige und Teufelsfratzen zusammen an der Fassade einer gotischen Kathedrale und derbkomische Szenen in den Misterienspielen dulden konnte. Es kann hier nicht untersucht werden, wie die komischen Ritterepen trotz der Mischung ritterlich-idealisierender, in einer Zauberwelt spielender und dem mittelalterlichen Ritterroman verwandter Gesänge und novellahafter Szenen, die in ihrer realistischen Darstellung des Allzumenschlichen weit eher an den Decamerone als an die Chanson de Ro6

7

Vgl. z . B . Waller, a.a.O., passim. - James Beattie nennt Epen wie die Ariosts (und Spensers) "Mixed Epic", die Homers, Vergils und Miltons dagegen "pure Epopee" ( " A n Essay on Poetry and Music", in: Essays [London, 1776], p. 46). Lettere (Lucca, 1886), p.98. Eine Übersetzung findet sich im Anhang, A n m . A 4 , S- 353-

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land erinnern, doch zu einer künstlerischen Einheit gelangen. Nur ein Aspekt dieser Einheit sei hier angedeutet, da er für die Andersartigkeit des komischen Heldengedichts besonders aufschlußreich ist. In wohl allen komischen Ritterepen, besonders aber bei Ariost, dem die künstlerische Einheit des Heterogenen am besten gelang, begleitet der allwissende und allgegenwärtige Erzähler mit seinen Reflexionen die so verschiedenartigen Teile des Werkes, durchdringt sie mit seiner überlegenen Ironie und stiftet die strukturelle Einheit.

2. Tassonis Secchia Rapita Nach dieser summarischen Charakterisierung des komischen Ritterepos ist nun ein Epos gesondert zu betrachten, das ein Zwischenglied zwischen komischem Ritterepos und komischem Heldengedicht bildet und das sowohl in enger Anlehnung an die Tradition Pulci-Bojardo-Ariost entstand als auch immer wieder in den „Genealogien" klassizistischer komischer Heldengedichte als Vorbild genannt wird. 8 Es handelt sich um Tassonis Secchia Rapita (1622), von der auch an anderer Stelle dieser Arbeit noch die Rede sein wird. 9 1) Tassonis Vorgänger hatten an den ritterlichen Stoffen des Karlszyklus festgehalten, hatten deren ritterlichen Gehalt aber von der Form her mehr und mehr aufgelöst. Tassoni dagegen wählt einen Krieg von oberitalienischen Städten, d.h. den Kampf von Bürgern, an dem sich allerdings auch Ritter beteiligen, zum Thema und schildert ihn parodistisch in der Form des Ritterepos. Darum ist aber der Eimerraub noch keine konsequente Parodie des Epos. Auch hier stehen ernstgemeinte Stellen neben parodistischen oder derbkomischen. Hierfür nur zwei Beispiele. Das erste Zitat handelt von einer Liebesnacht zwischen Venus, Mars und Bacchus: G l i abbraciamenti i baci e i colpi lieti Tace la casta Musa e vergognosa : D a la congiunzi'on di que' pianeti Ritorce il plettro, e di cantar non osa. Mormora sol fra sé detti segreti; C h ' a i fuggir de la notte umida ombrosa Fatto avean Marte e'1 giovine tebano Trenta volte cornuto il dio Vulcano. 1 0 8 9 10

Beispiele siehe S. 196ff. - Vgl. audi Bond, p. 194fr. Siehe S.43 und S. i99f. Secchia Rapita, p. 32 (c. II, st. J9). Ubersetzung siehe Anhang, Anm. A 4 , S. 354.

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Wie in der aus dem Rasenden Roland zitierten Stelle ist also auch hier von einer „Liebe zu dritt" die Rede. Bei Ariost blieben aber trotz der Ersetzung der höfisch-ritterlichen Werte durch das «natural bisogno» diese immer nodi in Sichtweite; und die Pervertierung des Treuebegriffs war nur durch Giocondos maßlose Enttäuschung über die Unmöglichkeit der Realisierung dieses Ideals bedingt. In der aus dem Eimerraub zitierten Stelle ist jedoch eine solche Beziehung zur ritterlichen Wertwelt gar nicht mehr ersichtlich. Das «natural bisogno» wird verabsolutiert; und die Verbindung zum ernsten Epos liegt nur darin, daß die heroische Strophenform des italienischen Epos und die Götter des antiken Epos übernommen werden. Die alles menschliche Maß übersteigenden «colpi» des höfischen Ritters oder des antiken Helden im Kampf gegen seine Feinde werden dagegen durch die ebenso überdimensionalen «colpi lieti» des Mars und des Bacchus auf sexuellem Gebiet ersetzt. Auf diese Weise entsteht auch hier wieder die schon aus der zitierten AriostStelle ersichtliche Diskrepanz zwischen epischer Form und der epischen Tradition entstammenden Charakteren einerseits und unepischem, unheroischem, ja obszönem Gegenstand andererseits und damit eine komische Wirkung. Nun ein Ausschnitt aus einer Schlachtschilderung im Eimerraub: Ernesto di due colpi in su l'elmetto Con tanta forza il cavalier percosse, Che ribattendo su l'arcion col petto Sovra il morto destrier tutto p i e g o s s e . . . Cade Ernesto morendo in su la piaga E chiama Jaconia che nulla sente: Esce un rivo di sangue e si dilaga, S'oscura de' begli occhi il di l u c e n t e . . - 11

Hier sind die «colpi» im ursprünglich ritterlichen Sinne gemeint, und ihre Folgen wie überhaupt alle Details des Kampfes werden mit einer an Homer erinnernden Anschaulichkeit und Ausführlichkeit beschrieben. Wie die Helden des antiken und die Ritter des mittelalterlichen Epos setzen die cavalieri auch hier ihr Leben aufs Spiel. Der Ruf an den bereits gefallenen Freund, „der nichts mehr hört", und der Tod des schönen Jünglings, in dessen Augen sich „der leuchtende Tag" verfinstert, erregen des Lesers Mitgefühl, atmen trotz einer gewissen Sentimentalisierung noch heroischen Geist und stehen, aus dem Zusammenhang ge11

Secchia Rapita, p. 107 (c. VI, st. 58, 62). - Übersetzung siehe Anhang, Anm. A 4 ,

S- 354-

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rissen, dem ernsten Epos und seiner idealisierenden Darstellung heldischen K ä m p f e n s und Sterbens näher als der oben aus dem gleichen Epos zitierten Strophe. Diese Tonmischung entsprach v ö l l i g der Absicht Tassonis, der im V o r w o r t z u der Ausgabe des Eimerraubs

v o n 1624 schrieb, sein W e r k

beschreite einen „neuen W e g " ; es sei ein neuartiges W e r k , dessen H a n d lung „halb heroisch und halb bürgerlich" sei und in dem der ernste und der burleske Stil vermischt seien; denn er habe geglaubt, «se ambedue dilettavano separati, avrebbono eziandio dilettato congiunti e misti». 12 Dementsprechend

gab Tassoni seinem Gedicht auch den

Untertitel

«poema eroicomico», auf den übrigens der beim komischen Heldengedicht häufig anzutreffende Untertitel heroi-comical

poem

zurückgehen

dürfte, der dort allerdings etwas g a n z anderes bedeutet. 2) Natürlich hat Tassoni nicht recht, w e n n er die Mischung v o n Scherz und Ernst als das N e u e in seinem W e r k hinstellt. A u c h Pulci, B o j a r d o und Ariost hatten ja Scherz, Ironie und tiefere Bedeutung gemischt und kontrastiert. D a s N e u e und in die Z u k u n f t Weisende des Eimerraubs

liegt vielmehr auf anderem Gebiet: der ursprünglich hero-

ische Stoff und die epische Form w u r d e n in den Dienst der Satire und damit einer unmittelbar gegenwartsbezogenen Intention gestellt. D a z u k o m m t ein neues Verhältnis z u r Wirklichkeit. Tassonis V o r gänger hatten ein romantisches never-never

land dargestellt und eine

H a n d l u n g erzählt, die dadurch nicht weniger phantastisch w u r d e , d a ß sie in der historischen Zeit Kaiser K a r l s spielte und immer wieder durch die B e r u f u n g auf den Pseudoturpin als fiktive Quelle legitimiert wurde. D i e W o r t e v o n D e Sanctis über den Rasenden

Roland

charakterisieren

treffend den Wirklichkeitsbezug der gesamten G a t t u n g des komischen Ritterepos bis z u m Erscheinen des

Eimerraubs:

Bei Ariost zeigt und begreift sich die Kunst als reine Kunst und weiß, daß die wirkliche Welt nichts mit ihr zu tun hat, und der Dichter sieht mit einem Lächeln auf seine Schöpfung. Dieses Lächeln, diese Gegenwärtigkeit des Realen . . . inmitten der genialsten Schöpfungen der Phantasie stellt die negative Seite dieser Kunst dar und enthält schon den Keim der Auflösung und des Todes. 13 Tassoni hingegen w a r mit einem Wirklichkeitsbezug, der sich nur in einem Lächeln äußerte, nicht zufrieden. W i e er es selbst ausdrückt, schildert er «istoria», «verità», 1 4 genauer gesagt, historische Ereignisse aus den Jahren 1249 und 1325, w o b e i deren Schauplätze in Oberitalien 12

Secchia Rapita, p. ixff.

34

13

A.a.O., I p. 512.

14

Secchia Rapita, p. ix.

aufs genaueste lokalisiert werden; und der Dichter nimmt auch die historischen Persönlichkeiten, die an diesen Ereignissen beteiligt waren - z. B. König Enzio in seine Erzählung auf. Überdies läßt er neben fiktiven und historischen Charakteren auch Menschen seiner eigenen Zeit, teils unter ihrem wahren Namen, teils, wie in der Gestalt des Grafen Culagna, unter fiktivem Namen auftreten und macht sie zum Gegenstand satirischer Seitenhiebe. Durch die Absicht, die Neigung der Italiener zu Streitereien um Kleinigkeiten und zu Bruderkriegen an Hand eines historischen Exemplums zu geißeln, verleiht Tassoni außerdem seinem Werk einen tieferen und über die persönliche Satire hinausgehenden Bezug zur Realität seiner Zeit. Auf diese Weise entsteht allerdings ein seltsames Gemisch, da verschiedene Wirklichkeitsschichten in der Secchia Rapita nebeneinander stehen und nicht völlig integriert werden: die Götterwelt des antiken Epos, die Zauberwelt des Ritterepos, die historische Welt des 13. und 14. Jahrhunderts und die zeitgenössische Wirklichkeit des Seicento. Gerade die Tatsache, daß diese heterogenen Elemente nicht mehr wie bei Ariost zu einer künstlerischen Einheit verschmolzen werden und daß die zeitgenössische Realität ein weit größeres Gewicht erlangt, zeigt, daß mit dem Eimerraub bereits der Höhepunkt des komischen Ritterepos überschritten ist und daß sich eine neue Epoche mit neuen Formen komischer Epik anbahnt. 3. Die Beurteilung des komischen Ritterepos im Klassizismus Der Eimerraub kann also wenigstens durch seinen Gegenwartsbezug und seine satirische Intention als Vorläufer des klassizistischen komischen Heldengedichts gelten. In der Tat wird er in den „Genealogien" der Werke dieser Gattung und auch in theoretischen Abhandlungen oft als Vorbild genannt, wobei die erhebliche Andersartigkeit, ähnlich wie im Falle der Batracbomyomacbia, wenigstens zunächst verschwiegen wird. 1) Die eigentlichen komischen Ritterepen, d. h. also die Werke Pulcis, Bojardos, Bernis und Ariosts, werden dagegen nicht als Vorbilder angeführt. Im Gegenteil, sie erscheinen in der klassizistischen Literarkritik als absoluter Gegenpol zum künstlerischen Wollen der eigenen Zeit. Vor allem mußte eine an den Maßstäben der Poetiken des Aristoteles und Horaz ausgerichtete Kritik neben der lockeren Struktur und der Vielzahl von Helden und Handlungssträngen die Mischung verschiedener Tonarten im italienischen komischen Ritterepos ablehnen; denn Aristoteles hatte ja das ernste und das komische Epos als zwei klar voneinander 35

unterschiedene Gattungen behandelt und die Trennungslinie zwischen ihnen ebenso scharf gezogen wie die zwischen Tragödie und Komödie. 16 Wie Clark nachwies,16 war es vor allem der Einfluß Boileaus, auf den die fast völlige Ablehnung des bis dahin in Frankreich und England so beliebten italienischen Ritterepos und besonders seiner Tonmischung in England zurückgeht. Schon in seiner Dissertation sur la Joconde (1665) macht Boileau, anknüpfend an eine sehr kritische Analyse der bereits erwähnten Giocondo-Episode im Rasenden Roland, dem komischen Ritterepos den Prozeß. Er bezieht sich zu diesem Zweck auf ein Zitat aus der Poetik des Horaz, das in England zu einem der Gemeinplätze der Literaturtheorie etwa eines Puttenham und dann auch im Klassizismus wurde. Es sei den Dichtern wie den Malern nicht erlaubt, de confondre toutes choses, de renfermer dans un même corps mille espèces différentes, aussi confuses que les rêveries d'un malade; de mêler ensemble des choses incompatibles; d'accoupler les Oiseaux avec les Serpens, les Tigres avec les Agneaux.

Und er fährt fort, Horaz habe in seiner Poetik fait le procès à Arioste, plus de mille ans avant qu'Arioste eût écrit. En effet, ce corps composé, de mille espèces différentes, n'est-ce pas proprement l'image du Poëme de Roland le furieux? 1 7

In England wird dieses Urteil vor allem von Addison wiederaufgenommen; aber auch Dry den lehnte bereits die Mischung von Verschiedenartigem bei Ariost ab.18 Diese Haltung fand ihre Entsprechung in der klassizistischen Haltung gegenüber dem Drama: die Nebeneinanderstellung ernster und komischer Szenen in Shakespeares Tragödien und in der zeitgenössischen Tragikomödie wurde verurteilt und eine saubere Scheidung von Tragödie Poetik, a.a.O., p. 30. 1« Boileau and the French Classical Critics in England (1660-1830) (Paris, 1925), P-357ff1 7 Boileau, Dissertation sur la Joconde. Arrêt burlesque. Traité du sublime, ed. Ch.-H. Boudhors (Paris, 1942), p. 11. Vgl. Horaz, Epistula ad Pisones, v. n f . 1 8 Z.B. "Dedication to the Aeneis" (1697, in: Essays, II p. 15$). Dryden hatte allerdings die komisch-ernsten Mischformen nicht immer abgelehnt. Vgl. z. B. seine Befürwortung der Tragikomödie im Essay of Dramatic Poesy, in: Essays, I p. 6 P-386, bezeichnet den Hudibras also zu Unrecht als "mock-heroic", während Bond (vgl. Anm. j) die Ähnlichkeit mit der Travestie überbetont.

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hudibrastisches Epos, sondern ein komisches Lehrgedicht in hudibrastischen Reimpaaren ist. Ebensowenig ist Priors Versuch, den unklassizistischen hudibrastischen Vers in Alma und anderen Werken eleganter zu gestalten, für die Mehrzahl der im Klassizismus entstandenen hudibrastischen Gedichte typisch. Alma ist vielmehr ein relativ vereinzelt dastehendes Werk, wenn auch eine der künstlerisch bedeutendsten //«¿¿¿»ras-Nachahmungen nach 1700. Auch soziologisch nimmt Prior eine Sonderstellung ein, da er wie Butler vorwiegend für ein gebildetes und aristokratisches Publikum dichtete, während es sich bei den meisten anderen Verfassern von hudibrastics in der Zeit des Klassizismus um für anspruchslosere Leser schreibende hack-writers handelte. Nicht ein von vielen Adligen patronisierter, gebildeter und angesehener Dichter wie Prior ist typisch für die Verfasser von hudibrastics im Klassizismus, sondern der Kneipenbesitzer und Vielschreiber Ned Ward, der wegen eines seiner hudibrastischen Epen, Hudibras Redivivus (1705), an den Pranger kam und mit faulen Eiern beworfen wurde.7 Der Versuch, die Gattung des hudibrastic durch elegantere Diktion und diszipliniertere Form auch den Gebildeten und den Gentlemen unter den klassizistischen Lesern schmackhaft zu machen, wurde also kaum unternommen. Zwei typischere und häufigere Abwandlungen der von Butler geschaffenen Form bezogen sich vielmehr auf Ziel und Art der Satire sowie auf das Verhältnis zur zeitgenössischen Wirklichkeit. Der Hudibras hatte zwar scharf gegen Cromwell und die Puritaner, nicht aber ebenso eindeutig für die anglikanische Kirche oder die Monarchie Partei ergriffen. Diese Parteinahme fällt bei seinen Nachahmern viel entschiedener aus. Ihre Werke sind oft in noch weit stärkerem Maße littérature engagée, ja oft nicht mehr als parteipolitische Pamphlete in Versen. Sie greifen nicht nur die Feinde des Establishment satirisch an, sondern verteidigen auch entschieden das Establishment selbst, was Butler nicht getan hatte. Die Form des hudibrastischen Epos bleibt dabei trotz der zunehmenden parteipolitischen Orientierung eng verbunden mit einer konservativen, die bestehende politische und religiöse Ordnung bejahenden Haltung und einer gegen die Feinde des Establishment gerichteten Satire.8 Es zeigt sich hier also trotz mancher Wandlungen ein thematisches Be7

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Vgl. Dunciad A III, v. 26, Twickenham Edition, V p. 152. Pope greift in seiner Dunciad Ward als einen Dichter an, "whose work appealed to the uneducated reader". (Ebd., V p . 457). Vgl. Edward Ames Richards, Hudibras in the Burlesque Tradition (New York, 1937). P-59*f-

harrungsvermögen innerhalb einer Gattung, wie es in der heutigen Dichtung undenkbar wäre. Mit der noch stärkeren Parteinahme verstärkt sich in den späteren Hudibras-Nachahmungen zugleich ihr Bezug auf aktuelle Ereignisse, auf die zeitgenössische Wirklichkeit. Zwar werden im Hudibras religiöse Sekten angegriffen, die auch zur Zeit der Abfassung des Werkes eine große Anhängerschaft besaßen; zwar hat die Titelgestalt in Sir Samuel Luke ein zeitgenössisches Vorbild. Aber die satirisch beleuchteten Ereignisse, d. h. der Bürgerkrieg und die Gründung des Commonwealth, gehörten längst der Vergangenheit an; und die Identifizierung von Hudibras mit Sir Samuel Luke konnte nur wenigen Eingeweihten deutlich werden. Dazu kommt, daß Butler den Gegenstand seiner Satire in äußerst starker Verfremdung darstellt. Dies wird durch die Parodie der Ritterromane im Hudibras ermöglicht. Butler läßt seinen Titelhelden wie im Ritterepos durch ein romantisches never-never land ziehen, und obwohl die Handlung anscheinend in England spielt, entsteht kein konkretes Bild dieses Landes.9 Auch seine Gestalten sind keine realen Menschen, sondern Karikaturen der Figuren der Ritterromane. All diese Züge veranlassen E. A. Richards mit Recht zu der Schlußfolgerung, Butlers komisches Epos sei „kein realistisches Gedicht". 10 Dies wird jedoch anders bei den Nachahmungen des Hudibras im Klassizismus. Zwar gibt es unter den hudibrastics in dieser Zeit zunächst nur wenige, die völlig auf den die dargestellte Handlung verfremdenden und sich parodistisch an die Ritterromane anlehnenden Rahmen verzichten.11 Aber auch in denjenigen Gedichten, die sich in dieser Hinsicht enger an Butlers komisches Epos anschließen, wird der Schauplatz zum zeitgenössischen England; und die Charaktere haben wirkliche zeitgenössische Menschen zum Vorbild, welche die Autoren in durchsichtiger Verkleidung darstellen und satirisch porträtieren. Die Ereignisse schließlich sind nur noch teilweise fiktiv; und fast immer steht ein wirklicher Vorfall, oft ein solcher von nur ephemerer Bedeutung, der sich unmittelbar vor der Abfassung des Gedichts ereignete, im Mittelpunkt. Dieser Zeitbezug wird schon, um einige Beispiele anzuführen, in Samuel Colvils Mock Poem, or Whiggs Supplication12 sehr deutlich. Colvil erwähnt Ereignisse wie den großen Brand Londons, den Aufstand von Pentland im « Ebd.,p.2jf. 10 Ebd., p. 128. Ein Beispiel dieser Art ist die satirisch-komische Verserzählung "The Progress of Patriotism" (1729?), in: Robin's Panegyrick or, The Norfolk Miscellany (London,

11

12

1681 gedruckt, aber mehrere Jahre früher verfaßt.

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Jahre 1666, die Unterdrückung der schottischen Whigs durch Colonel Dalziel; und im Mittelpunkt stehen die damals aktuellen Bemühungen der Schotten um Anerkennung des Covenant durch den König. William Clelands "Mock Poem, upon the Expedition of the Highland H o s t " 1 3 hat die 1678 stattgefundene Unterwerfung der presbyterianischen Bevölkerung des schottischen Südwestens durch einige Clans aus dem Hochland zum Thema; und das ebenfalls hudibrastische Gedicht "Effigies Clericorum" 14 des gleichen Verfassers stellt satirisch eine Versammlung schottischer Geistlicher im Jahre 1681 dar. Archibald Pitcairnes Babell16 behandelt das Zusammentreten des schottischen Parlaments im Jahre 1692. Dabei ist das Element der persönlichen Satire in all diesen Gedichten stark; und manche von ihnen, wie z.B. Ned Wards Sir Robert Brass ( 1 7 3 1 ) , 1 6 ein Angriff auf Sir Robert Walpole im Gewand einer Erzählung in hudibrastischen Versen, sind ausschließlich zum Zwecke der Diffamierung einer einzigen Person geschriebene Satiren.

Die frühen Nachahmungen des Hudibras hatten sich, wie die obenerwähnten Gedichte von Colvil, Cleland und Pitcairne zeigen, noch wie ihr großes Vorbild auf politische Ereignisse von großer Tragweite bezogen. Dies wird jedoch in den letzten dreißig Jahren, in denen noch eine nennenswerte Zahl von hudibrastics entstand, d.h. von etwa 1 7 1 0 bis etwa 1740, anders. In einigen Fällen verzichten die Verfasser ganz auf die satirische Zielsetzung und auf die Verfremdung der dargestellten Handlung durch Travestie und Satire und schreiben komische Verserzählungen, die mit dem Hudibras nur durch das gleiche Versmaß und einige Motive und Formelemente verbunden sind, wie z. B. der erotische Schwank The Rape of the Bride (1723) oder die pikareske Geschichte der Abenteuer eines Gauners Notus-Notarius (1762). Noch charakteristischer für die Entwicklung der hudibrastischen Erzählung in ihrer Verfallsphase ist jedoch ein sehr häufiger und vor allem durch Ned Ward repräsentierter Typus, der sich ausschließlich auf ephemere, wirklich geschehene Ereignisse bezieht und eine Art von satirischer Zeitchronik in hudibrastischen Versen oder gar nicht viel mehr als die Verifizierung und Amplifizierung von Zeitungsartikeln darstellt. Als erstes Beispiel mögen Ned Wards British Wonders ( 1 7 1 7 ) dienen. 13

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16

" A Mock Poem, upon the Expedition of the Highland Host : who came to destroy the Western Shires in Winter 1 6 7 8 " , in: A Collection of Several Poems and Verses, Composed upon Various Occasions (o.O., 1697), pp. 7 - 5 1 . "Effigies Clericorum or a Mock Poem on the Clergie when they met to Consult about taking the Test In the Year 1 6 8 1 " , in: A Collection of Several Poems.. a.a.O., pp. 5 2 - 1 1 4 . Zuerst gedruckt durch den Maitland Club (Edinburgh, 1830), ed. George R . K i n loch. Anonym veröffentlieht, von Albert H . West, L'Influence française ..., a.a.O., p. 192, Ward zugeschrieben.

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Das Gedicht berichtet von im gleichen Jahre vorgefallenen Ereignissen wie z. B. a great plague among cattle with bad results to beef, milk, butter, and milkmaids; the fall of a scaffold at the coronation; a "destructive Conflagration" with great loss of commodities; an eclipse of the sun; the Scotch rebellion of 'i $ .. . 17 William Mestons Mob contra Mob ( 1 7 3 1 ) basiert auf einem wahren Vorfall aus dem Jahre 1 7 1 1 , in dem in der kleinen schottischen Pfarre von Deer ein Streit um die Besetzung der Stelle des Pfarrers entstand.18 Am deutlichsten wird die Tendenz des späten hudibrastischen Gedichts zu einer Darstellung ephemerer Themen in Pbino-Godol (1732). Hier zeigt schon der Untertitel die enge Beziehung auf ein belangloses zeitgenössisches Ereignis: We hear that the Effigies of the late ingenious William Congreve, Esq; done in Wax-Work, at the Expence of 200 I. and which was kept at a Person of Quality's in St. James's, was broke to Pieces by the Carelessness of a Servant in bringing it down Stairs last Monday night. Daily Post. Numb. 3997.19

Gerade dieses Gedicht macht die Entwicklung des hudibrastischen Epos von der allgemeinen Satire und der relativen Wirklichkeitsferne des Hudibras zum satirisch-komischen Gelegenheitsgedicht mit unmittelbarem Bezug auf einen aktuellen, unbedeutenden Vorfall deutlich. Dabei ist der Hinweis auf die Daily Post, eine Tageszeitung, deren Notiz vom 15. Juli 1732 über den "last Monday night" geschehenen Vorfall im Untertitel wörtlich zitiert wird, besonders bezeichnend. In dieser Verifizierung aktueller, auch in Zeitungsartikeln dargestellter Begebenheiten äußert sich eine für das klassizistische komische Epos typische Eigenart. Wie noch in Kapitel IV zu zeigen sein wird, wurden auch komische Heldengedichte über Vorfälle geschrieben, über die auch die Tageszeitungen berichteten; und zwar vor allem nach etwa 1740, als diese Form des hudibrastic und das hudibrastische Gedicht überhaupt auszusterben begannen. Audi das Zurücktreten von Parodie und Travestie in den klassizistischen budibrastics weist auf den steigenden Realismus dieser Form hin. Je weniger die Charaktere des hudibrastischen Gedichts burleske Karikaturen von realen Menschen oder von Figuren aus dem Ritterroman waren, desto mehr konnten sie als reale Menschen ohne die im Hudibras so starke Verfremdung dargestellt werden. "

Bond, p. 289.

18 V g l . Bond, p. 3 5 6 .

1 9 Dieses Gedicht w a r mir nicht zugänglich. D a s argument p.362f.

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ist zitiert nach Bond,

Damit verlieren die Verfasser aber das epische Ideal, das dem Klassizismus so viel bedeutete, völlig aus den Augen. Während für Butler Ritterroman und klassisches Epos als Bezugspunkte von Parodie, Travestie und Allusion ständig präsent waren und der Hudibras auf seine Weise, d. h. in ironischer Brechung und indirekt, ein gleichsam episches Thema behandelte, wird das späte hudibrastische Gedicht zu einem bloßen satirischen oder komischen Gelegenheitsgedicht. Damit verliert es nicht nur eine über das Erscheinungsjahr hinausgehende gehaltliche Bedeutung, sondern zugleich auch seinen künstlerischen Rang. Es machte also eine ähnliche Entwicklung durch, wie sie sich beim komischen Heldengedicht wenige Jahrzehnte später, d.h. ab etwa 1740, nachweisen läßt.20 3. Das hudibrastische Epos im Spiegel der klassizistischen Literarkritik Wie am Ende der Betrachtung des komischen Ritterepos und der Travestie ist audi hier die Frage zu stellen, welche Haltung die klassizistische Kritik gegenüber dem hudibrastic bezog und ob dieses von den orthodoxen klassizistischen Kritikern als „legitime" Gattung akzeptiert wurde. Trotz des großen künstlerischen Abstands zwischen dem Hudibras und seinen Nachahmungen können sie hier zusammen behandelt werden, da der Klassizismus nicht nur das individuelle Kunstwerk, sondern auch die kind wertete und jeder Gattung vom Epos bis zum Epigramm einen wertmäßig bestimmten Platz in der Hierarchie der Gattungen ohne Rücksicht auf die Wertunterschiede der einzelnen Werke zuwies. Die wohl interessanteste Äußerung über das hudibrastische Epos als Gattung findet sich in einem 1730 im Grub-street Journal anonym veröffentlichten Essay über dieses Thema. Hier heißt es: It will not be amiss to consider, what name ought to be given to this kind of writing. Some have called this piece [i.e. Hudibras] a Burlesque poem; but that name, I think, belongs more properly to those poems, in which a thing in its own nature serious is turned to ridicule. Others call it a MockHeroick; but this seems rather to express those pieces in which ridiculous actions are burlesqued, by being related in heroick verse. N o r can I, with others, call it a Mock-Epick; which name is no more proper to be given to this Poem, than that of a Mock-Tragedy, to be ascribed to Comedy. Give me leave to call this w a y of writing HUDIBRASTICK, in honour of this excellent example now before me. The HUDIBRASTICK, for so I now take leave to call it, is to diiTer from the Epick, as Comedy does from T r a g e d y . . . 20 Siehe Kap. X I V .

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Bereits kurz vorher hatte sich der Verfasser auf die aristotelische Definition des komischen Epos berufen und dem Hudibras denselben Platz angewiesen, den Aristoteles dem Margites gegeben hatte, der nach Aristoteles "the same relation to Comedy, which the Ilias and Odyssey have to Tragedy" gehabt habe. 21 Aus diesem Zitat könnte geschlossen werden, daß der Klassizismus glaubte, im hudibrastischen Epos das gesuchte und durch die Abstammung vom Margites legitimierte komische Epos gefunden zu haben, das der bereits mehrfach zitierten Definition des Aristoteles voll entsprach. Der Verfasser schreibt, daß das "Burlesque poem", das "Mock-Heroic" und das "Mock-Epick" - gemeint sind die Travestie im weiteren Sinn, die sich nicht auf eine bestimmte Vorlage bezieht, das komische Heldengedicht und die epische Travestie - nicht komische Epen im Sinne des Aristoteles seien. Allen ist die burleske Absicht gemeinsam, d.h. alle wenden durch Parodie oder Travestie eine bestimmte ernste Vorlage oder ernste Gattung o. dgl. ins Komische, und alle weisen die für Travestie und Parodie charakteristische Diskrepanz zwischen Form und Gegenstand auf. Das komische Heldengedicht und die epische Travestie verhalten sich somit nach der Ansicht dieses Kritikers nicht zum ernsten Epos wie die Komödie zur Tragödie. Ebensowenig wie der Tom Thumb von Fielding eine Komödie ist, so läßt sich aus seinen Worten folgern, sind der Virgile Travesti oder der Lockenraub komische Epen. Das hudibrastische Epos dagegen, so geht aus seinen Worten hervor, ist keine Form der Travestie oder Parodie; seinem komisch-niedrigen Inhalt entspricht wie in der Komödie eine komisch-niedrige Form; es ist also das gesuchte komische Epos. Vom heutigen Standpunkt könnten wir diesem Kritiker vielleicht teilweise recht geben. Im Klassizismus dagegen wurde das hudibrastische Epos keineswegs uneingeschränkt als das komische Epos akzeptiert. Ein Blick auf andere kritische Äußerungen dieser Zeit über das hudibrastic zeigt, daß der zitierte Kritiker ein Einzelgänger war, daß nur wenige der maßgeblichen Literarkritiker seiner Zeit das hudibrastische Epos als Gattung voll und ganz bejahten und daß überhaupt die Stellungnahmen zum hudibrastic viel weniger einhellig und weit komplexer waren als die zu den zuerst besprochenen Typen des komischen Epos. Die Uneinheitlichkeit der Bewertung wird besonders deutlich, wenn man die Wiedergabe der bereits zitierten, die «burlesque» verdammenden Stelle aus Boileaus Art Poétique22 in den englischen Übersetzungen 21

Grub-street Journal, 7°

i. Oktober 1730, N r . 39.

22

Siehe S. 52t.

der damaligen Zeit miteinander vergleicht. Die Übersetzung von Sir William Soame (1683), in der Dryden die französischen Eigennamen durch englische ersetzte, bringt, nachdem wie bei Boileau die "dull Burlesque" ( = Travestie) abgelehnt und als ihr Vertreter Richard Flecknoe (statt, wie bei Boileau, Scarron) genannt wurde, Butler (statt, wie bei Boileau, Marot) als positives Gegenbeispiel für die wahre "Buffooning grâce". 23 John Ozell nennt dagegen in seiner Ubersetzung der Art Poétique von 1 7 1 2 statt dessen als Beispiel f ü r die abgelehnte Form der komischen Dichtung die hudibrastischen Werke des N e d Ward und Garths Dispensary als positives Gegenbeispiel. 24 Gewiß wird die Ersetzung Flecknoes durch Ward und Butlers durch Garth zum Teil darauf zurückzuführen sein, daß nach der Jahrhundertwende und nach dem Erscheinen der ersten komischen Heldengedichte das hudibrastische Epos in der Wertschätzung vieler namhafter Kritiker sank. Wenn man jedoch weitere Belege auswertet, so wird deutlich, daß die verschiedene Bewertung des hudibrastischen Epos nicht ausschließlich eine Frage der historischen Geschmacksveränderung ist, wie Clark annimmt. 25 Vielmehr standen sich noch bis weit ins 18. Jahrhundert Bewunderer und Gegner des hudibrastischen Epos gegenüber, wobei es natürlich nie wieder solche Beliebtheit gewinnen konnte wie in der Restauration, in der der Hudibras zeitweise ein Buch war, das man am H o f e Karls II. einfach gelesen haben mußte.28 So konnte der bereits zitierte Kritiker im Grub-street Journal 1 7 3 0 feststellen, daß der Hudibras den aristotelischen Regeln, genauer gesagt, der Forderung nach einer "narration of one, e n t i r e . . . Action" genüge,27 während Walter Harte im gleichen Jahre in seinem Essay on Satire zwar die Genialität Butlers anerkannte, ihn aber zugleich zusammen mit Shakespeare unter die "Poets without Rules" aufnahm, 28 also unter die 23

Sir William Soame und John Dryden, The Art of Poetry ..a.a.O., p. 6. The Works of Monsieur Boileau. Made English . . . By SEVERAL Hands, 3 Bde. (London, 1 7 1 1 - 1 7 1 3 ) , I p. 88 f. - Ozell erwähnt neben den hudibrastischen Dichtungen Wards auch Cottons Travestien. 25 Boileau and the French Classical Critics ..., a.a.O., p. 183. 26 Samuel Pepys, Diary, 10. Dezember 1663; vgl. auch Alexandre Beljame, Men of Letters and the English Public in the Eighteenth Century, ed. B.Dobree, übers, von E.O.Lorimer (London, 1948), p . 2 1 . 27 Siehe Anm. 21. 28 In: Johnson-Chalmers, X V I p. 349. - Audi die Verfasser hudibrastischer Dichtungen waren sich im allgemeinen darüber klar, daß ihre Werke nicht den klassizistischen „Regeln" entsprachen. So spricht Meston in seinem hudibrastischen Epos Mob contra Mob (Edinburgh, 1 7 3 1 ) von der "Lawless Freedom of my Muse" (p. 6f.); und in dem hudibrastischen Epos The Hyp (London, 1 7 3 1 ) heißt es, das 24

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dem Klassizisten trotz aller Größe suspekten Dichter. Dieser Widerspruch löst sidi allerdings wenigstens teilweise, wenn man die Beurteilung von Vers und Sprache und die Bewertung von Inhalt und Intention der hudibrastischen Dichtung durch die klassizistische Literarkritik gesondert untersucht. i) Es wurde bereits genug über Vers und Stil der hudibrastischen Form gesagt, damit sichtbar werden konnte, wie sehr beide dem klassizistischen Ideal widersprachen. Die Gegner Butlers und seiner Nachahmer gründeten denn auch ihr Urteil vorwiegend auf eine Ablehnung der Versform und der Sprache, denen sogar Autoren, die den Hudibras sonst positiv bewerteten, kritisch gegenüberstanden. So schreibt Dryden in seinem "Discourse concerning . . . Satire" (1693): The sort of verse which is called burlesque, consisting of eight syllables, or f o u r feet, is that which our excellent Hudibras has c h o s e n . . . The w o r t h of his poem is too well k n o w n to need m y commendation, and he is above m y censure. . . . b u t . . . the shortness of his verse, and the quick returns of rhyme, had debased the dignity of style. A n d besides, the double rhyme, (a necessary companion of burlesque writing,) is not so proper f o r manly satire; f o r it turns earnest too much to jest, and gives us a boyish kind of pleasure. 29

Ähnlich urteilt Walter Harte in seinem Essay on Satire (1730): W e grant, that Butler ravishes the h e a r t . . . W h a t burlesque could, was b y that genius done; Y e t faults it has, impossible to shun: Th'unchanging strain f o r w a n t of grandeur cloys, A n d gives too oft the horse-laugh mirth of boys: The short-legg'd verse, and double-gingling sound, So quick surprise us, that our heads turn r o u n d . . . 80

Diese beiden Zitate, die durch weitere vermehrt werden könnten, zeigen, daß die Klassizisten, d. h. die an den Maßstäben der antiken Dichtung orientierten Literarkritiker, den Vers und den Stil der hudibrastischen Dichtung wie auch den der Travestie häufig mit den typisdien Epitheta boyish und unmanly ablehnten. Gewiß, es gab auch Kritiker, die dem hudibrastischen Versmaß positiv gegenüberstanden. Aber es waren vorwiegend solche, die sich selbst in ihren Dichtungen gern des Gedicht sei geschrieben: " . . . Without the common tedious Rules, Authorities, and musty Schools... It's Fact! - and that I think's enough." (p. 76). 30 Johnson-Chalmers, X V I p. 349. Essays, II p. 105.

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hudibrastischen Reimpaars bedienten und die daher bei dessen Verteidigung pro domo sprachen; so z.B. Dennis, der im Vorwort zu seinen Miscellanies in Verse and Prose (1693), die Fabeln in achtsilbigen Reimpaaren enthalten, die Reinheit der Sprache Butlers verteidigt.81 2) Weit positiver als die Stellung der klassizistisdien Kritik zu Vers und Stil der hudibrastischen Dichtung ist ihre Bewertung von Inhalt und Intention der Werke dieses Genres, d. h. also von dem, was sie von den Travestien unterscheidet. Zwar gibt es Kritiker, die den Hudibras und seine Nachahmer auch in dieser Hinsicht ablehnten. So macht z.B. Sir William Temple, bezeichnenderweise einer der prominentesten Parteigänger der antiken Dichtung im Quarrel between the Ancients and Moderns, in dem 1690 erschienenen Essay "Of Poetry" keinerlei Unterschied zwisdien dem Virgile Travesti und Hudibras und schreibt, bei beiden seien "the Design, the Custom, and Example . . . very pernicious to Poetry, and indeed to all Virtue and Good Qualities among Men".82 Die Mehrzahl der Kritiker lobt dagegen am Hudibras Eigenschaften, deren Fehlen sie bei den epischen Travestien immer wieder beanstandet hatte. Sdion Dryden, der das Versmaß des Hudibras kritisierte,88 preist Butler im gleichen Zusammenhang, weil his good sense is perpetually shining through all he writes; it affords us not the time of finding faults. We pass through the levity of his rhyme, and are immediately carried into some admirable useful thought.84

Peter Motteux übernimmt Dennis' Scheidung "between Butler's and Scarron's Burlesque" und die positive Bewertung des Hudibras sowie die negative des Virgile Travesti, da "good sence and a Gentleman's manner ought to be preserv'd, or Burlesque dwindles to Buffoonry, and the Dialect of the Mob".85 William Coward lehnt zwar den Vers und die "double rhymes" der Travestie und der hudibrastischen Dichtung ab, erkennt aber durchaus die "prodigious Efforts of Wit, and Solid Reason", "Solid Sense, Emphatic Turns of Wit" im Hudibras an.88 Addison nimmt eine ähnliche Position ein.87 Auch Walter Harte, der äi Sig. a j T . 82 In: Sir William Temple's Essays on Ancient and Modem Learning and On Poetry, ed. J. E. Spingarn (Oxford, 1909), p. 72. ss Siehe S. 72. 34 Essays, II p. 106. Gentleman's Journal, Januar 1693, p. 26. 38 Licentia Poetica discuss'd (London, 1709), p. 71. 37 Nadi Addison wäre der Hudibras ein besseres Werk, wenn er "had been set out with as much Wit and Humour in Heroic Verse as he is in Doggerel". (Spectator Nr. 249, 1 j. Dezember 1711, II p. 239; siehe audi Nr. 60, 9. Mai 1711). 73

in seinem Essay on Satire den hudibrastischen Vers verwirft, gibt zu, daß im Hudibras . . . peculiar Life presides, And Wit, for all the world to glean besides.38

Besonders nachdrücklich ist die Verteidigung der hudibrastischen Form durch John Dennis. Auch Dennis verurteilt die Travestie und hält es nicht für verwunderlich, daß diese Form wegen ihrer Verstöße gegen "a Gentleman's manner",39 wie er Boileaus «bassesse» wiedergibt, vom französischen Hof zurückgewiesen worden sei.40 Dies gelte aber nicht für das hudibrastische Epos: But the contrary of whatever has been said of Scaron [sic], is certainly true of Butler: There is seen much of a Gentleman in his Burlesque; There is so much Wit and Goodsense to be found in him . . .

sowie "a just design, which was to expose Hypocrisie".41 Da Dennis sich mit seiner vorbehaltlosen Verteidigung des hudibrastic nicht auf den führenden Literarkritiker seiner Zeit, Dryden, berufen konnte, wählt er als Kronzeugen einen Aristokraten ("noble Wit") und Höfling ("Honour to . . . the English Court"), nämlich Lord Rochester: N o r would a noble Wit, who is a living Honour to his Country, and the English Court, have condescended to write Burlesque, if he had not discern'd that there was in Butler's manner something extreamly fine, as well as something extreamly sensible in very many of his Thoughts. 42

Dennis versucht also, eine literarische Form, die zu dieser Zeit nachweislich zusammen mit der Travestie am Hofe, beim Adel und bei den Gebildeten weitgehend in Ungnade gefallen war, durch Berufung auf einen Adligen zu verteidigen; und es ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich, daß er sich in dem Essay, aus dem hier zitiert wurde, an Lord Dorset, einen zweiten Aristokraten, wendet. Zugleich versucht er, wie auch andere Kritiker, nachzuweisen, daß das hudibrastische Epos nicht im Widerspruch zu den aristokratischen Wertmaßstäben, zu "a Gentleman's manner" stehe. Dies zeigt wiederum die enge Verbindung von literarischen und gesellschaftlichen Wertmaßstäben ("a Gentleman's manner"!) in der klassizistischen Literarkritik. Dabei geht natürlich aus der bloßen Tatsache einer solchen Apologie hervor, daß das hudibrastic nicht die einhellig von den Gentlemen der Jahrhundertwende akzeptierte Form des komischen Epos war. Im übrigen verwendet Dennis 38

Johnson-Chalmers, X V I p. 349. Vorwort zu Miscellanies . . a.a.O., sig. a 4r. 40 Ebd., sig.ajr. 41 Ebd., sig. a 5. 39

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42 Ebd., sig. a 6'.

aber die gleichen Argumente wie seine bereits zitierten Zeitgenossen und gibt dem hudibrastischen Gedicht - im Gegensatz zur Travestie - die lobenden Attribute "good sense" und "sensible". Diese Zitate belegen, daß vor allem das Wort good sense, ohnehin einer der wichtigsten literarkritischen Schlüsselwörter des Klassizismus,43 auch das Schlüsselwort in den positiven Stellungnahmen der Kritiker in dieser Zeit zur hudibrastischen Gattung war, während dieselben Kritiker der Travestie und auch dem komischen Ritterepos eben diesen good sense absprachen.44 Es ist nicht leicht, die komplexe Bedeutung dieses zentralen Kriteriums ohne eine längere semantisch-philosophische Untersuchung klarzulegen. Annäherungsweise wird jedoch der Sinn von good sense ersichtlich, wenn man die Begriffe hinzunimmt, welche die Kritiker im gleichen Zusammenhang und zum Teil sogar synonym für good sense verwenden. Es handelt sich in den angeführten Zitaten vor allem um wit und reason,45 aber auch um useful thought, just design und life; ferner um a gentleman's manner;46 hinzugefügt werden könnten nodi decency und die Vermeidung von excés.i7 Betrachtet man alle die Zitate, in denen das Wort good sense bzw. sense verwandt wird, in ihrem Kontext, so ergibt sich, daß es u. a. „Vermeidung des Vulgären und Obszönen", „Befolgung der Geschmackskriterien eines Gentleman" bedeutet. Dies wird bestätigt durch eine Äußerung Lord Roscommons in seinem Essay on Translated Werse, der zufolge ein Mangel an Decency meist zugleich ein Mangel an Sense sei.48 Dies kann jedoch nicht der Hauptsinn dieser Zitate sein, in denen der Hudibras wegen seines good sense über die Travestien gestellt wird, denn die Abwesenheit von Verstößen gegen das Gebot der decency wäre lediglich ein negatives Kriterium; und außerdem sind die vulgären Momente und obszönen four-letter words im Hudibras und seinen Nachahmungen im allgemeinen nicht viel seltener als in den Travestien. Wichtiger ist schon, daß dem Hudibras, trotz der Ähnlichkeiten zwischen ihm und den ernsten und komischen Ritterepen, der good sense zugesprochen wird, während an letzteren das Fehlen von truth und sense sowie die extravagances und excés getadelt werden und diese sich da43 44 45

48 47 48

A . F. B. Clark, Boileau and the French Classical Critics . . a.a.O, p. 3 80. Siehe S. 38 und S. j i f f . Reason, nature und good sense gehören bekanntlich im literarkritischen und philosophischen Denken des Klassizismus eng zusammen. Vgl. auch die Zitate auf S. J4f. Siehe auch die Zitate auf S. 3 8 f. (London, 1684). p. 8. Siehe audi Charles Gildon, The Laws of Poetry Explain'd and Illustrated (London, 1 7 2 1 ) , p. 90.

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durch das verdammende Beiwort boyish zuziehen.49 Wie sich in K a pitel I ergab, sollte damit kritisiert werden, daß die komischen Ritterepen sich weit von der „Wahrscheinlichkeit" und der „Wirklichkeit" und damit von der Natur entfernen, sich in eine reine Phantasiewelt verlieren und magic statt truth darstellen. 50 Diese Bedeutung von good sense kann durch ein Dennis-Zitat belegt werden, das sich allerdings nicht speziell auf die hudibrastische Dichtung bezieht. Dennis schreibt: "Good Sense is the only Foundation both of Pleasantry and Sublimity; but that which is out of Truth is certainly out of Nature and Good Sense."51 Die hudibrastische Dichtung hat dagegen im Gegensatz zum komischen Ritterepos eine enge Beziehung zur Wirklichkeit, trotz der phantastischen Form, in welche die Aussage bei Butler und einigen seiner Nachahmer gekleidet wird. Sie erfüllte somit die zweite Forderung, die in dem Begriff good sense eingeschlossen ist und die der Klassizismus, wie das Dennis-Zitat zeigte, in besonderem Maße an die komische Dichtung richtete. Die enge Wirklichkeitsbeziehung der hudibrastischen Epen wurde dadurch erreicht, daß es sich fast ausnahmslos um Zeitsatiren handelt. Daraus ergibt sich zugleich, daß sie einem über die bloße Unterhaltung hinausgehenden Ziel, einem just design, dienen und useful thought enthalten, so daß also in ihnen beide Pole der vom Klassizismus in Anlehnung an Horaz erhobenen Forderung, Dichtung müsse prodesse et delectare, zu ihrem Recht kommen. Das komische Ritterepos und die epische Travestie boten dagegen in den Augen der damaligen Kritiker nichts als «un vain amusement», 52 und das prodesse - und damit auch der good sense - kam in ihnen zu kurz. Das Urteil der klassizistischen Kritik über die hudibrastische Dichtung läßt sich daher so zusammenfassen: Wenn man auch dem Vers und dem Stil meist skeptisch oder ablehnend gegenüberstand, das "satirical treatment of contemporary conditions", 53 d.h. also die Wirklichkeitsnähe und die satirische Lehrhaftigkeit, rechtfertigten trotzdem - im Gegensatz zur Travestie - eine positive Bewertung. Demzufolge ist auch die Zahl der hudibrastischen Gedichte im Klassizismus weit größer als die der Travestien. Von 1700 bis 1 7 7 5 entstand nach Bond mehr als ein Dutzend epischer Travestien, dagegen ein Mehr49

So z.B. Dryden über Tasso und Ariosi (Essays, II p. 27). Siehe S. 39. 51 Remarks on Mr. Pope's Rape of the Lock (London, 1728), p. 4 j. 52 Art Poétique, c. IV, zitiert nach Œuvres, p. 185. s» A.F.B.Clark, a.a.O., p. 330. 50

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faches an hudibrastischen Gedichten. Die hudibrastische Mode, die unmittelbar nach der Veröffentlichung des Hudibras begann und bald darauf ihren ersten Höhepunkt hatte, starb also auch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nur langsam, und die hudibrastischen Gedichte konnten sich lange Zeit neben den komischen Heldengedichten behaupten. Auch daraus ergibt sich, daß die hudibrastische Form des komischen Epos dem klassizistischen Geschmack nicht völlig widersprach, zumindest weit weniger als Travestie und komisches Ritterepos. Obwohl sich ein starkes quantitatives Absinken der hudibrastischen Gattung nach etwa 1740 nachweisen läßt, so ist der Grund nicht, daß sich jetzt der klassizistische Geschmack endgültig durchgesetzt hätte und das hudibrastic nun völlig verpönt gewesen wäre. Im Gegenteil, die allmähliche Aufweichung der strengen klassizistischen Maßstäbe und die Preisgabe des Ideals des komischen Epos sind für diese Entwicklung verantwortlich zu machen. Wie Kapitel X I V nachweisen wird, ging bei der anspruchsvollsten und dominierenden Form komischer Epik im Klassizismus, dem komischen Heldengedicht, in den vierziger Jahren die „epische Intention" verloren, d. h. diese Werke waren nicht mehr ernsthaft auf ein episches Ideal bezogen. Das komische Heldengedicht wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorwiegend zu einem Vehikel für parteipolitische Auseinandersetzungen, zu einem an die Ereignisse des Tages gebundenen satirischen Gelegenheitsgedicht ohne epische und künstlerische Ambitionen. Genau die gleiche Rolle aber hatte das hudibrastische Epos, wie auf S. 67 ff. nachgewiesen, schon Ende des 17. Jahrhunderts, besonders aber seit ca. 1 7 1 0 gespielt. Indem nun eine andere Form komischer Epik diese Funktion übernahm, konnte die hudibrastische Form des komischen Epos somit ab 1740-1745 überflüssig werden. Das hudibrastic gehört also ebenso zur literarischen Szenerie des Klassizismus wie das komische Heldengedicht. Da es der im Klassizismus so beliebten und häufigen Gattung der Satire zuzurechnen ist, erfüllte es trotz seines ephemeren Charakters und niedrigen künstlerischen Niveaus eine wichtige, wenn auch untergeordnete Rolle. Echte und den strengen Regeln der Poetik entsprechende komische Epen wollten aber die meisten Hudibras-Nachahmungen des Klassizismus selbstverständlich nicht sein. Nicht einmal der bedeutendste Apologet dieser Form, John Dennis, behauptete, daß das hudibrastic das gesuchte komische Epos sei; und der Kritiker im Grub-street Journal blieb mit seiner Stimme allein. Auch das hudibrastische Epos konnte also nicht den klassizistischen Anforderungen an ein komisches Epos gerecht werden, das - dies dürfen 77

wir bereits jetzt sagen - nicht nur die satirisch-moralische Intention und den good sense des Hudibras sowie den Bezug des hudibrastic auf die zeitgenössische Wirklichkeit besitzen mußte, d. h. also Züge, die dem komischen Ritterepos und den epischen Travestien gefehlt hatten. Es hatte vielmehr außerdem noch, wenigstens in der Form, den Geist des großen Epos und zugleich auch die verfeinerten, strenger gewordenen und die decency mit größerem Nachdruck betonenden Umgangsformen der oberen Gesellschaftsschichten,54 kurz "a Gentleman's manner", in stärkerem Maße widerzuspiegeln. Überdies mußte es die strenger gewordenen Forderungen der Poetiken in größerem Maße beachten, als dies in den während des Klassizismus geschriebenen hudibrastics der Fall war. Es ist daher bezeichnend, daß von den bedeutenderen Dichtern dieser Zeit keiner außer Prior längere hudibrastische Gedichte schrieb und daß Dennis sich bei der Suche nach einem hudibrastische Dichtungen schreibenden Aristokraten nur auf den Earl of Rochester berufen konnte, 55 also auf einen Adligen, der eindeutig noch den Geschmack der Restaurationszeit repräsentierte und der im Jahre 1680, also auf der Schwelle zum Klassizismus, starb.

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Zu diesem Begriff vgl. Kap. V I I I .

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Siehe S. 74.

T E I L II

DIE GATTUNGSKRITERIEN DES KOMISCHEN HELDENGEDICHTS

KAPITEL IV

Die Darstellung der zeitgenössischen Wirklichkeit Il poema . . . ha per tutto ricognizione d'istoria e di verità. (Tassoni über seinen Eimerraub)

Die Ausstellungen der klassizistischen Literaturkritiker an den bisher behandelten Formen komischer Epik lassen sich fast ausnahmslos auf den im Klassizismus enger denn je zuvor gefaßten Begriff des Dekorum als gemeinsamen Nenner bringen. Mit anderen Worten: diese Formen wurden danach beurteilt, ob sie einen der Gattung angemessenen Gegenstand darstellten, ob sie eine der Gattung gemäße Form, Tonart und Diktion wählten und ob sie eine der Gattung entsprechende Intention besaßen. Diese Aspekte sollen auch der folgenden systematischen Analyse der Gattungskriterien des komischen Heldengedichts zugrunde gelegt werden. i. Der Gegenstandsbereich des komischen Heldengedichts Die Lehre von dem einer Gattung angemessenen Gegenstandsbereich geht bekanntlich auf Aristoteles zurück. Die Komödie soll nach Aristoteles gemeine Menschen und Gegenstände, die Tragödie und das Epos dagegen sollen edle Charaktere und Gegenstände darstellen. In dieser Abgrenzung ist sowohl eine moralische als auch eine ständische Differenzierung impliziert, wobei Aristoteles auf die erstere das Hauptgewicht gelegt zu haben scheint. Spätere Zeiten, die dieser Lehre von den jeder Gattung angemessenen Höhenlagen folgten, legten den Akzent stärker auf den Standesunterschied der in der Tragödie und dem Epos sowie in der Komödie dargestellten Charaktere. Der edle Kaufmann als Held einer Tragödie oder eines Epos verstieß aber in allen dem Prinzip der Stiltrennung verpflichteten Epochen ebensosehr gegen das Dekorum wie etwa der wegen seiner Eitelkeit oder blinden Verliebtheit komische König. Bei der ständischen und moralischen Bedeutung von „edel", „adlig" und „gemein" handelt es sich also, wie auch die Etymologie andeutet, um zwei Seiten derselben Sache. Am stärksten gegen das Dekorum des angemessenen Gegenstands hatten von den bisher behandelten Formen komischer Epik das komische Ritterepos und die epische Travestie verstoßen. Der aus enttäuschter Liebe rasende Roland war eine ebenso unangemessene Gestalt gewe81

sen wie die wie ein Marktweib keifende Dido. Beide besaßen zwar die den Gestalten komischer Dichtung adäquaten sentiments, aber Roland und Dido waren eben als Charaktere nicht einer komischen Gattung angemessen. Hudibras und sein Knappe Ralpho entsprachen dagegen als Charaktere dem Dekorum komischer Dichtung ebensosehr wie ein Joseph Andrews oder Parson Adams; und u. a. auf diese Tatsache beriefen sich dann auch der anonyme Kritiker im Grub-street Journal in seiner Apologie des hudibrastischen Epos und Fielding in seiner Apologie des komischen Romans im Vorwort zum Joseph Andrews. Erst recht hielt sich aber das komische Heldengedicht als die am eindeutigsten „klassizistische" von allen Formen komischer Epik an diese Doktrin. In zahlreichen Definitionen des mock-heroic poem wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die Charaktere in dieser Gattung nicht noble, lofly, sublime und great sein dürften - wie in Tragödie, Epos (sowie im komischen Ritterepos und in den epischen Travestien) - , sondern low, mean oder common zu sein hätten. Nach Boileau stellt das komische Heldengedicht nicht Menschen von der Art eines Aeneas oder einer Dido dar, sondern Menschen von der Art eines Uhrmachers oder seiner Frau, 1 nach Crowne Charaktere vom Stand eines Chorsängers, Geistlichen oder Küsters.2 Nach Addison bilden "low characters" den Gegenstand des komischen Heldengedichts,3 und auch andere Kritiker verwenden die Adjektive low, common und mean in diesem Zusammenhang. Betrachten wir allerdings die komischen Heldengedichte selbst, so ergibt sich die Notwendigkeit einer Differenzierung. Viele behandeln zwar tatsächlich Charaktere, die, von ihrem sozialen Stand her gesehen, ohne weiteres als low im Sinne der damaligen Zeit bezeichnet werden dürfen. Man denke etwa an die dichtenden dunces in Popes Dunciad, an die Bauern im Somerviles Hobbinol oder Concanens Match at FootBall oder die Lokalpolitiker in Brices Mobiad und Chattertons Consuliad. Immerhin könnte man schon darüber streiten, ob ein Arzt (The Dispensary) oder ein Mitglied des höheren Klerus (Le Lutrin) ihrem sozialen Stand nach als low anzusehen sind. Noch mehr Anlaß zum Zweifel besteht beim Lockenraub und seinen Nachahmungen. So sind im Lockenraub Sir Plume und der Baron als Adlige ausgewiesen, und auch in anderen Gedichten dieser Art treten Lords, Knights, kurz Gentlemen und Damen von Stand auf. 1 2 3

Le Lutrin, in: CEuvres, p. 190. Vorwort zur History 0} the Famous and Passionate Love (London, 1692), sig. A 2. Spectator N r . 249, 15. Dezember 1 7 1 1 , I I p. 239. 82

Gewiß wäre im gesellschaftlichen Leben der damaligen Zeit der soziale Status dieser Menschen nicht als low bezeichnet worden. In der literarischen Theorie und Praxis zog man dagegen die Trennungslinie zwischen „niedrig" und „edel" anders als im Leben. Gerade die literarische Praxis des Klassizismus, aber auch der ihm voraufgegangenen Epochen, zeigt, daß Adlige durchaus Gegenstand von komischer Dichtung werden konnten. Man denke hier etwa an die zahlreichen Aristokraten in der Komödie Lylys, Shakespeares, der Restauration und des Klassizismus oder an Lady Booby und Lady Bellaston, die in Fieldings Romanen eindeutig zu den "persons of inferior rank" 4 gehören, die nach seiner Ansicht dem Dekorum des komischen Romans angemessen waren. Die Charaktere in Popes Lockenraub scheinen somit keinen Verstoß gegen das im Klassizismus übliche Dekorum der komischen Gattungen darzustellen.5 Wir können somit aus der literarischen Praxis des Klassizismus schließen, daß die Begriffe persons of inferior rank und low characters hier in einem sehr weiten Sinne gefaßt wurden und daß sie Charaktere vom Stande eines Joseph Andrews oder einer Molly Seagrim bis zu dem eines Sir Plume oder Lord Fellamar einschließen. Dem Epos und der Tragödie blieben dagegen nach wie vor die «res gestae regumque ducumque», also Charaktere wie Addisons Cato oder Glovers Leonidas vorbehalten. Dabei sind mit den res gestae der Staatsmänner selbstverständlich nicht ihre Handlungen als Privatpersonen gemeint, und die Handlungen Lord Fellamars oder des Barons im Lockenraub sind keineswegs res gestae im horazischen Sinn, sondern nur diejenigen Handlungen, die ein Adliger oder Staatsmann als Staatsmann ausführt. Dem widerspricht nicht, daß das Dekorum der komischen Gattungen kein einheitliches war. Wie in den ernsten Gattungen des Epos, des Georgicon und des Pastoralgedichts den verschiedenen Höhenlagen der Charaktere eine jeweils andere Höhenlage des Stils entsprach, so wurde auch innerhalb der komischen Gattungen differenziert. Wenn Komödie oder komisches Epos Adlige als Charaktere wählten, hatte der Stil ein anderer und hatte die Komik weniger derb zu sein als in einer komischen Dichtung, deren Helden Bauern oder Diener waren. Dies wird in der literarischen Praxis des Klassizismus einerseits belegt durch das Nebeneinander von Komödie und Farce, andererseits durch die Existenz zweier Formen des komischen Heldengedichts: des graziöseren, feineren „Rokokoepos", wie Brie es nannte, dessen Helden und Heldinnen wie im 4 5

Joseph Andrews, Everyman's Library Bd. 467 (London, 1952), p. xxviii. Siehe Anhang, Anm.A 8, S. 355.

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Lockenraub weitgehend der Aristokratie angehören, und einer stärker satirischen und in ihrer Komik derberen Spielart, deren Helden zumeist Bürgerliche sind und die etwa durch Mac Flecknoe und The Dispensary repräsentiert wird. Diese Scheidung wird theoretisch untermauert durch Dusch, der die ausführlichste Abhandlung dieser Zeit über das komische Heldengedicht als Gattung schrieb und dessen Maßstäbe sich im wesentlichen mit denen seiner englischen Zeitgenossen decken. Dusch sagte: „Der Ton des Komischen, richtet sich . . . nach dem Stand der Personen, die man einführet, oder deren Handlungen man nachahmen will"; 6 und er sei anders, wenn man z.B. gemeinen Pöbel als wenn man etwa einen gebildeten Bürger darstelle. 7 Auf diese mehr die Form und den Stil als den Gegenstandsbereich betreffende Fragestellung werden wir noch wiederholt zurückzukommen haben (siehe S. 156 f. und S. 278). Trotz der Differenzierung der Tonlagen innerhalb der komischen Gattungen darf jedoch an zwei Ergebnissen festgehalten werden: 1. Die Charaktere des komischen Heldengedichts - wie die der klassizistischen Komödie - wurden von denen des ernsten Epos und der Tragödie durch eine klare soziologische Trennungslinie geschieden. 2. Der Begriff der den komischen Gattungen angemessenen low characters und persons of inferior rank umfaßt die Angehörigen aller sozialen Stände bis einschließlich des Adels, aber ausschließlich der Herrschenden, und zwar als Privatmenschen. 8 Es gibt daher einerseits unter den zahlreichen ernsten Epen des englischen Klassizismus außer Falconers Shipwreck kein einziges bürgerliches Epos. Andererseits befindet sich unter der noch größeren Zahl komischer Heldengedichte so gut wie keines, in dem Könige und andere Charaktere vom sozialen Rang und in der öffentlichen Funktion epischer Helden auftreten. Ausnahmen sind zwar u.a. Morrices "Battie of the Mice and Frogs", dessen Thema eine Schlacht zwischen England und seinen Gegnern im Spanischen Erbfolgekrieg bildet, und Fieldings Vernon-iad, in der ein Admiral (Vernon) und ein Premierminister (Walpole) im Mittelpunkt stehen; ferner Wolcots Lousiad, deren Held gar ein König (Georg III.) ist. Es handelt sich jedoch 6

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„Von der komischen Heldenpoesie", in: Vermischte Kritische und Satyrische Schriften, a.a.O., p. 1 3 5 . Audi in den romantischen Komödien Lylys und Shakespeares ist die Tonart der Komik in der Dienerhandlung eine andere als in denjenigen Handlungssträngen, in deren Mittelpunkt Standespersonen stehen. Vgl. dazu z.B. James Beattie, " A n Essay on Poetry and Music", in: Essays, a.a.O., p. 4 5 : "Comedy, whether Dramatic or Narrative, must seldom deviate from the ordinary course of human affairs, because it exhibits the manners of real, and even of familiar life."

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hier um für die Gattung untypische Werke. "The Battle of the Mice and Frogs" ist nur mit großen Vorbehalten als komisches Heldengedicht zu bezeichnen;9 und in The Lousiad, einem gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstandenen Spätwerk, mokiert sich der Verfasser wiederholt und unmißverständlich über den Begriff des Dekorum, der ihm in einem Zeitalter der "Equality", d. h. nach der Französischen Revolution, als nicht mehr zeitgemäß erscheint.10 Den low characters im klassizistischen Sinn entspricht im komischen Heldengedicht eine low action. So spricht Peter Motteux von "common things" und einer der Übersetzer von Holdworths Muscipula von "lowly Subjects" als dem Thema des komischen Heldengedichts, Pope von "low actions or thoughts", Ozell von "things of mean Figure and Slight Concern", Walter Harte von "low things" und James Beattie von "mean" und "little things". 1 1 Neben der Niedrigkeit des Themas wird also auch seine „Kleinheit" als Gattungsmerkmal aufgeführt; und man könnte sogar mit Boileau die Bagatelle als das Thema des komischen Heldengedichts schlechthin bezeichnen. 12 Der Abstand der Handlung des komischen Heldengedichts von der des ernsten Epos und der Tragödie ist also noch größer als der der Charaktere. Während in all diesen Gattungen adlige Charaktere zugelassen waren und man zwischen Adligen als Privatpersonen und Adligen in ihrer Funktion als Staatsmänner unterscheiden mußte, um zu einer D i f ferenzierung zu gelangen, liegt der Unterschied der ernsten und der komischen Formen im Hinblick auf die action auf der Hand. Die Handlung des komischen Heldengedichts ist nicht nur, wie die der Komödie, keine öffentliche, sondern eine private, 13 keine ernste, sondern eine lächerliche. Vielmehr ist sie im Idealfall nichts weiter als etwa der Streit um den Standort eines Chorpults oder um eine abgeschnittene Locke, ist also - wenigstens in den genannten Beispielen - in ihrem Gewidit noch stärker reduziert als in der Komödie. » Siehe S. 9 1 . « Siehe S. 3 3 3 f r . Peter Motteux, Gentleman's Journal, Januar 1693, p. 26; John Quincy, Tbe Mouse-Trap: or, the Welsh Engagement with the Mice (London, 1709), p. 5; Pope, "Postscript" zur Odyssey Of Homer, 5 Bde. (London, 1725), V p. 2 7 4 ; John Ozell, Boileau's Lutrin: a Mock-Heroic Poem (London, 1708), sig. ; James Beattie, "Essay on Laughter, and Ludicrous Composition", in: Essays, a.a.O., p-396f. 12 Œuvres, p. 190. Boileau spricht allerdings nicht von der ganzen Gattung, sondern nur von seinem eigenen Gedicht. 1 3 Die Forderung, komische Dichtung solle „private" Handlungen darstellen, hat eine fast ebenso lange Tradition wie die, daß sie Charaktere von niedrigerem sozialem und moralischem Status als die Tragödie und das Epos gestalten solle. Vgl. z . B . Philip Sidney, Defence of Poesy, ed. A l b e r t S . C o o k (Boston, 1890), p. 28: die Komödie solle "private and domestical matters" darstellen.

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2. Die zeitgenössische Gesellschaft und die genaue Lokalisierung der Schauplätze Das Dekorum des komischen Heldengedichts war mithin ein ähnliches wie in der Komödie, d. h. der Gegenstand - characters und action - hatten in beiden Gattungen ähnlich zu sein. (Zu den bedeutsamen Unterschieden in der Darstellungsweise, in sentiments und diction siehe Kap. VI.) Außerdem stellten beide Gattungen - im Gegensatz zum Epos und z. T. auch zur Tragödie - die Welt der Gegenwart dar. Damit ist jedoch der Gegenstandsbereich des komischen Heldengedichts nur schematisch eingegrenzt und ist über die dargestellte Welt und den Realitätsgehalt in dieser Gattung noch sehr wenig gesagt. Es ist daher zu prüfen, ob nicht eine genauere Analyse dieses in der bisherigen Sekundärliteratur so unzureichend behandelten Aspektes14 nicht doch noch zu weiteren und präziseren Charakterisierungen und vielleicht auch zu wichtigen Unterschieden zwischen komischem Heldengedicht und Komödie im Hinblick auf die dargestellte Wirklichkeit führt. i) Im Gegensatz zum Ritterroman, zum antikisierenden klassizistischen Epos und zur heroischen Tragödie und ähnlich wie die Komödie, aber auch wie der zeitgenössische Roman und das bürgerliche Trauerspiel stellte das komische Heldengedicht nicht Charaktere aus ferner legendärer Vergangenheit dar, keine unwirkliche pseudoheroische oder pseudopastorale Welt, sondern die Gesellschaft und Welt des englischen Klassizismus. So kann man z.B. dem Lockenraub und seinen Nachahmungen - ebenso wie der klassizistischen Gesellschaftskomödie - zahlreiche Einzelheiten über die Lebensweise der Damen der gesellschaftlichen Oberschicht in dieser Zeit entnehmen. Man erfährt aus ihnen, wann sie morgens aufstanden, wie sie Toilette machten, welche Kleider sie trugen, welche Getränke sie bevorzugten, wie ihnen der Hof gemacht wurde und welche Arten von Zeitvertreib sie pflegten.15 Diese Erkenntnis findet sich schon in Bries Englischer Rokoko-Epik; und vom Lockenraub selbst sagte bereits Joseph Warton, er gebe "the truest and liveliest picture of modern life". 16 Aber auch die nicht dem Lockenraub als Vorbild verpflichteten komischen Heldengedichte schil14

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So widmet Schmidt dem „Realitätsgehalt" des komischen Heldengedichts nur ein Teilkapitel von nicht einmal einer Seite (p. 24f.). Sogar wenig bekannte Einzelheiten gehen aus ihnen hervor, wie z. B. aus Ph. Bacons The Kite die Tatsache, daß es bei den Damen der Gesellschaft zeitweise modern war, nachts Drachen steigen zu lassen. Siehe dazu Schmidt, p. 130. An Essay on the Genius and Writings of Pope, a.a.O., I p. 254. - Vgl. auch Schmidt, p. 18 f.

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dem die englische Gesellschaft und die Lebensweise der Menschen des Klassizismus, so etwa die Machenschaften beim Wahlkampf in den Provinzstädten, die Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Berufsgruppen, die Sportarten, die von Angehörigen der höheren und niederen Stände betrieben wurden, und vieles andere nicht nur für den Literar-, sondern auch für den Kulturhistoriker Interessante. In dieser Detailliertheit des Zeitbezugs gehen viele komische Heldengedichte weit über das in der Komödie Übliche hinaus; aber ein wesentlicher Unterschied beider Gattungen ist damit noch nicht erreicht. 2) Wie das komische Heldengedicht Menschen, Gesellschaft und Lebensweise einer ganz bestimmten Zeit, und zwar der damaligen Gegenwart, darstellte, so ist es ebenso charakteristisch, daß die Handlung der Werke dieser Gattung mit wenigen Ausnahmen an genau bezeichneten Schauplätzen stattfindet. Dem „Urbanen"17 Charakter dieser Gattung entsprechend, spielen die meisten in der Hauptstadt, d.h. in Paris, 18 London 19 oder allenfalls, wie The Battel, in Edinburgh. Die Bindung der Gattung an die gesellschaftliche Oberschicht geht u. a. daraus hervor, daß in einigen von ihnen vornehme Badeorte 20 oder die beiden Universitätsstädte 21 als Orte der Handlung genannt werden. N u r wenige Gedichte spielen an anderen als den genannten Orten. Die Schauplätze sind dann meistens Landhäuser von Adligen, 22 die ja damals einen Teil des Jahres auf dem Land und einen Teil in der Hauptstadt zu verbringen pflegten. N u r in wenigen Werken findet die Hand17

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Das Wort „urban" darf hier sowohl im Sinne des englischen Wortes urban ( = städtisch) als auch urbane ( = "having the manners, refinement, or polish regarded as characteristic of a town", "refined in expression; politely expressed" [ O E D ] ) verstanden werden. Einerseits ist das komische Heldengedicht, im Gegensatz etwa zur romantischen Lyrik, Stadtdichtung; d.h. es ist geschrieben von in der Stadt lebenden Dichtern für ein städtisches Publikum und spielt auch in der Stadt, wobei diese Stadt, wie auch in der Komödie dieser Zeit, vorzugsweise London ist. Andererseits ist es auch urbane, also refined und polite im Sinne der obigen Definition, in einem Sinne, in dem es etwa Bunyans und Defoes für eine andere Gesellschaftsschicht geschriebene Werke nicht sind. Boileaus Le Lutrin und Crownes History of the Famous and Passionate Love. Mac Flecknoe, The Dispensary, The Furmetary, Kit-Cats, der erste Teil des Lockenraubs, der zweite Teil von Clarinda, The Dunciad, The Pettycoat, The Quackade, The Battle of the Wigs, Tom K.. .g's, The Rape of the Faro-Bank, The Battle of the Bards u. v. a. m. "The Battle of the Hoops" spielt in Tunbridge Wells, "The Battle of the SugarPlumbs" in Scarborough. The Patch spielt in Oxford, "The Refusal of the Hand" (2. Fassung: "Stirbitch Fair") in Cambridge. Dies gilt wahrscheinlich für The Assembly, Clarinda und mit Sicherheit für Lucifer's Defeat, die auf Landsitzen am Stour in Dorset, bei Richmond Hill (1. Teil) und in Odsey, Devonshire, spielen.

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lung in der „Provinz" im engeren Sinne des Wortes statt.28 Ob bestimmte Schauplätze für bestimmte Entwicklungsstufen des komischen Heldengedichts charakteristisch sind, muß hier zunächst offen gelassen werden. Die Handlung der komischen Heldengedichte spielt somit durchweg nicht in einem romantischen Irgendwo wie der Ritterroman, nicht in einem fernen Arkadien wie Sidneys Roman, nicht in einem Pseudogriechenland wie manche klassische Epen, sondern an genau lokalisierbaren Schauplätzen des zeitgenössischen England. Aber auch das ist noch kein allein für diese Gattung typischer Zug; denn auch viele Komödien und die meisten Romane des 18. Jahrhunderts24 bevorzugen konkrete Schauplätze im England dieser Zeit. Allenfalls die Genauigkeit der Lokalisierung darf man als Spezifikum des mock-heroic poem ansehen. Wenigstens ein Teil von ihnen geht in der Genauigkeit bei der Angabe der Schauplätze weiter als die meisten Romane und Komödien und nennt sogar Straße und Haus, wo die Handlung stattfindet. Als Beispiele seien genannt Le Lutrin (die Sainte-Chapelle und das Geschäft des Buchhändlers Barbin in Paris), The Rape of the Faro-Bank (St. James's, Portland Place und The Mall), Tom K.. .g's (Covent Garden, Drury Lane, Temple Bar und das Kaffeehaus von Tom King), The Furmetary (Ludgate und Fleet Street Ditch) und The Battie of the Bards (Wrights Buchladen in Piccadilly). In Popes Dunciad erscheinen u. a. Grub Street, Rag Fair, The Strand und Drury Lane als die Orte der Handlung. Aubrey Williams konnte daher seinem Buch über die Dunciad einen detaillierten Plan der Londoner Innenstadt beifügen, auf dem alle Schauplätze des Gedichts genau verzeichnet sind.25 Schon bei Tassoni, dessen komisches Epos manche der Gattungskriterien des komischen Heldengedichts noch nicht aufweist, war die geographische Lokalisierung der Handlung immerhin bereits so genau, daß P. L. Kritz seiner Ubersetzung der Secchia Rapita eine minuziöse Karte Oberitaliens zum besseren Verständnis des Werkes beifügen konnte.26

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Z . B . The Consuliad in Bristol, The Mobiad in Exeter, The Battle of the Briefs bei Salisbury, A Match at Toot-Ball auf dem Land in der Nähe von Dublin, Little Preston in Holywell in Wales. Zur Bedeutung der vor allem in den späten komischen Heldengedichten zu beobachtenden Verlegung des Schauplatzes in die Provinz vgl. S. 328. 24 Vgl. Ian Watt, The Rise of the Novel (London, i960), p. 26. 25 Williams, p. 34f. 28 Der geraubte Eimer (Leipzig, 1842). Kritz zeichnete diese Karte nach zwei der Ausgabe von Modena (1744) beigefügten Karten (p. 2 j i ) .

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3. Die Darstellung wirklicher Menschen und Ereignisse i) Trotzdem geht das komische Heldengedicht auch hierin noch nicht wesentlich über das hinaus, was auch in der Komödie und dem Roman der damaligen Zeit üblich war. Es ist aber typisch für diese Gattung, daß sie in ihrer Darstellung der zeitgenössischen Wirklichkeit noch einen Schritt weiter ging. Während Roman und Komödie mit wenigen Ausnahmen fiktive Charaktere darstellten und Fielding in seinen Romanen ausdrücklich nicht "individuals", sondern "a species" beschreiben wollte,27 finden sich im komischen Heldengedicht schon seit Tassoni vorzugsweise Menschen, die wirklich gelebt haben und die oft historisch genau nachweisbar sind.28 Gerade diese Tatsache wurde von der bisherigen Forschung weitgehend übersehen. Es wurde wohl erkannt, daß die Charaktere einzelner Gedichte auf wirkliche Menschen zurückgehen. Außerdem versteht es sich von selbst, daß dies in denjenigen Gedichten der Gattung, bei denen es sich um personal satires handelt, notwendig der Fall sein muß. Wir finden den gleichen Zug jedoch auch in komischen Heldengedichten, in denen die Satire zurücktritt. Da sich hieraus also ein Gattungskriterium des komischen Heldengedichts ableiten läßt, das die bisherige Forschung ignorierte, sind ausführliche Belege erforderlich. Eine große Rolle im komischen Heldengedicht spielen Politiker und andere Männer des öffentlichen Lebens im klassizistischen Zeitalter. In Le Lutrin tritt M. de Lamoignon, der Präsident des Parlaments in Paris, auf; in der Vernon-iad der bekannte Admiral Vernon, der „Erfinder" des Grogs, und der Premierminister Sir Robert Walpole; in Paradise Regain'd sind die Helden die Politiker William Adam und Charles James Fox. In der Lousiad ist es u. a. König Georg III. und im Eimerraub u. a. König Enzio, wodurch sich diese beiden Werke jedoch, wie schon auf S. 84 erwähnt, als Ausnahmen erweisen. Der Held der Rolliad ist das heute vergessene Unterhausmitglied Rolle; die Hauptrolle in den Remarks on the Jacobiniad spielt der Bostoner Politiker Benjamin Austin; und in der Mobiad und der Consuliad schließlich finden wir eine Reihe von Lokalpolitikern aus Exeter und Bristol, die wahrscheinlich fast ausnahmslos auf wirkliche Personen zurückgehen. Weit häufiger gehören Personen des kulturellen Lebens des Klassizismus zu den Charakteren komischer Heldengedichte, so z. B. die Komödienautoren Shadwell (Mac Flecknoe), Mrs. Centlivre und Cibber (The Dunciad), die 27 Joseph Andrews, a.a.O., p. 144; vgl. Sarauel Johnson, Rasselas, in: Shorter Novels of the Eighteenth Century, Everyman's Library Bd. 856 (London, 1958), p. 22; ferner James Beattie, "An Essay on Poetry and Music", a.a.O., p. 61. 28 Dem widerspricht nicht, daß diese „historischen" Charaktere im komischen Heldengedicht ins Typische umstilisiert werden. Popes Belinda ist selbstverständlich kein individuelles Porträt Arabella Fermors, sondern ein Typus. Vgl. dazu das folgende Kapitel. 89

Autoren hudibrastischer Dichtungen Ned Ward (The Dunciad) und Richard Flecknoe (Mac Flecknoe), der Shakespeare-Herausgeber Theobald (The Dunciad), die Satiriker Wolcot und Gifford (The Battie of the Bards), die Literarkritiker Dennis (The Dunciad) und Warburton (A New Book of the Dunciad), die Wissenschaftler Dr.Bentley ("The Refusal of the Hand" und The Dunciad) und Dr. Hill (The Hilliad und The Pasquinade), die Verleger Jacob Tonson (Kit-Cats) und Edmund Curll (The Dunciad) und der Prediger und theologische Schriftsteller Dr. Sacheverell (Charnock's Remains). Garrick und andere bekannte Schauspieler stehen im Mittelpunkt der Rosciad und mehrerer ihrer Nachahmungen. Selbst Sportler des 18. Jahrhunderts wurden zu Helden einiger mockheroic poems, so z. B. der historisch nachweisbare Boxer John Broughton (The Gymnasiad), die Amateur-Golfspieler Thomas Mathison und Alexander Dunning (The Goff)29 und eine prominente Cricket-Mannschaft aus Kent (Cricket). Sogar ein Mr. Dickson, Hersteller von Golfschlägern in Leith, und ein Mr.Bobson, Hersteller von Golfbällen in St. Andrews, bleiben nicht unerwähnt (The Goff). In Lucifer's Defeat schließlich sind zwei Handwerker, die anscheinend wirklich gelebt haben, die Helden des Gedichts, nämlich ein gewisser Fabeni und ein gewisser Campbell, die eine neue Methode erfanden, Kamine rauchfrei zu halten. Auch historisch nachweisbare Herren und Damen der höheren Gesellschaft treten in einigen Werken auf oder lassen sich als Vorbilder der Charaktere nachweisen. In The Rape of the Smock, The Shuttlecock und The Thimble scheinen die Heldinnen mit einer von den Verfassern angebeteten Dame, deren Name allerdings ungenannt bleibt, identisch zu sein. Der Held und Dichter von The Pettycoat ist der Bruder der Herausgeberin Mary Broggin, der der Diaboliad Simon Lord Irnham. In The Rape of the Lock geben sich bekanntlich, wie Pope selbst schon andeutet, mehrere Damen und Herren der klassizistischen Aristokratie, so z. B. Arabella Fermor, Robert Lord Petre und Sir George Browne, ferner Mrs.Morley, ein Stelldichein.30 Auch Barford zeichnete die weiblichen Porträts in seiner Assembly nach realen Vorbildern aus dieser Gesellschaftsschicht, wie aus seinem Vorwort hervorgeht. Die Hauptgestalten von Mitchells unvollendetem komischem Heldengedicht "The Cudgel" schließlich sind Sir Robert Montgomery, Bart., und seine Frau, die wirklich gelebt haben und die der Dichter persönlich kannte. Es wäre nicht schwer, diese Aufzählung noch erheblich zu verlängern; und selbst in den wenigen komischen Heldengedichten, in denen sich keine historischen Gestalten hinter den dichterischen nachweisen lassen, ist es nicht ausgeschlossen, daß ein solcher Bezug vorhanden w a r und von den zeitgenössischen Lesern auch erkannt wurde. 2) Das komische Heldengedicht stellte jedoch im allgemeinen nicht nur wirkliche, historisch nachweisbare Menschen, sondern auch Ereig29

30

Siehe die handschriftlichen Bemerkungen im E x e m p l a r des British Museum (Fassung von 1 7 6 3 ) . Siehe Twickenham Edition, I I p. 3 7 6 .

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nisse dar, die wirklich stattgefunden haben. Auch diese Tatsache und ihre Bedeutung für die Mehrzahl der Werke dieser Gattung wurde bisher von der Sekundärliteratur nicht gesehen. In einigen wenigen Werken handelt es sich um Vorfälle von historischer Bedeutung, d.h. nicht um „private", sondern um „öffentliche" Ereignisse. Tassoni stellt z. B. die Kriege zwischen oberitalienischen Städten im 13. und 14. Jahrhundert dar, Morrice ("The Battie of the Mice and Frogs. Written just after the Battie of Almanza in Spain", 1 7 1 2 ) die Schlacht von Almanza (1707) im Spanischen Erfolgekrieg. The Flight of the Pretender (1708) hat die Flucht des Kronprätendenten James Edward im Jahre 1708 zum Thema und Fieldings Vernon-iad (1741) kurz zuvor im Seekrieg gegen Spanien geschehene Ereignisse. Diese Werke sind jedoch nicht nur in ihrer Thematik untypisch. Daß sie von ihren Verfassern kaum für „regelrechte" komische Heldengedichte gehalten wurden, geht u. a. daraus hervor, daß keines von ihnen einen der in dieser Gattung üblichen Untertitel besitzt. In wesentlich zahlreicheren und für die Gattung typischeren Fällen handelt es sich jedoch um unbedeutende, nicht in der öffentlichen, sondern in der privaten Sphäre spielende, triviale und daher der komischen Deutung angemessenere Begebenheiten, von deren Historizität wir oft nur deswegen wissen, weil die Verfasser in ihren Vorworten oder Fußnoten darauf hinweisen. Das berühmteste Beispiel ist der Raub von Arabella Fermors Haarlocke, der wahrscheinlich im Sommer des Jahres 1 7 1 1 geschah31 und der in dem im gleichen Jahre verfaßten und 1 7 1 2 in der ersten Version veröffentlichten Gedicht Popes verewigt wurde. Auch die erste Fassung von Popes Dunciad hat wahrscheinlich einen wahren Handlungskern: die Wahl des City Poet (Settie) und die des Poeta laureatus (Eusden) im Dezember 1718. 3 2 Schon das erste eigentliche komische Heldengedicht, Boileaus Chorpult, enthielt einen Kern von Ereignissen, die wirklich stattgefunden hatten; d. h. das Thema ist, wie der Dichter selbst schreibt, «un différend assez léger qui s'émut dans une des plus célèbres églises de Paris». 33 Es läßt sich sogar nachweisen, daß die Versetzung eines Chorpultes, die Le Lutrin schildert und die den Anlaß zu dem erwähnten «différend assez léger» gab, in der Nacht des 3 1 . Juli 1667 geschah.34 Auch The Dispen31 32

33 34

Twickenham Edition, I I p. 8 i f . Siehe Nachwort von George Sherburn in: Selections jrom Alexander Pope (New York, 1929). p.450. Œuvres, p. 1 9 1 . Paul Émard und Suzanne Fournier, La Sainte-Chapelle du Lutrin. Pourquoi et comment Boileau a composé son Poème (Genf, 1963), p. 52.

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sary geht auf einen wahren Vorfall, auf einen dem Boileaus ähnlichen «différend assez léger» zurück, nämlich auf die Bemühungen der Ärzte, gegen den Willen der Apotheker eine Armenapotheke einzurichten, was seit 1687, vor allem aber um das Jahr 1696, zu Streitigkeiten und tätlichen Auseinandersetzungen führte.35 Garth selbst schreibt in seinem Vorwort: The Description of the Battel is grounded upon a Feud that hapned in the Dispensary, betwixt a Member of the College with his Retinue, and some of the Servants that attended there, to dispence the Medicines; and is so far r e a l . . . 3a Beispiele ähnlicher Art lassen sich in großer Zahl anführen. So nennt z. B. Bonneil Thornton im Untertitel zu seiner Battle of the Wigs den wahren Vorfall, der seinem Werk zugrunde liegt: "the DISPUTES between the Fellows and Licentiates of the COLLEGE of PHYSICIANS, in LONDON". Lucifer's Defeat wurde, wie der Untertitel mitteilt, "Occasion'd by his Majesty's Grant of Letters Patent to Messieurs FABENÉ and CAMPBELL, for the sole Use and Benefit of their new and effectual Method of curing Smoky Chimneys." Der Anlaß zu Kings Turmetary war, seinem Vorwort zufolge, die Tatsache, daß "several worthy persons . . . have desired several matrons to stand at Smithfield-bars, Leadenhall-market, Stocks-market, and divers other noted places in the city, especially at Fleet-ditch; there to dispense furmetry to labouring people, and the poor . . . at three-half-pence and two-pence a dish, which is not dear, the plums being considered".37 The Mobiad schildert die Ereignisse an einem Wahltag in Exeter; und auch das anonym überlieferte Gedicht The Pettycoat beruht nach den Worten der Schwester des Verfassers im "Advertisement to the Reader" auf einem wahren Vorfall. Das zentrale Ereignis in The Lousiad — Georg III. entdeckt auf seinem Teller eine Laus - geht nach Reitterer auf einen wahren Vorfall am Hofe zurück; nur hatte der König in Wirklichkeit ein Haar auf seinem Teller gefunden.38 Paradise Regain'd schildert das Duell zwischen den Politikern Charles James Fox und William Adams, das am 29. November 1779 im Hyde Park stattfand. 39 The Deviliad schließlich erzählt davon, daß einige Diener, denen die Schlüssel zu ihrem gewohnten Versammlungsort vorenthalten wurden, das Haus des Obersten De Veil, des Friedensrichters von Middlesex und Vorgängers von Henry Fielding in diesem Amt, stürmten. De Veil bewahrte angeblich diese Schlüssel auf. Die Diener griffen sein Haus an, richteten dort einige Schäden an und wurden schließlich vom Obersten mit der Schußwaffe in Schach gehalten. Es wäre heute schwer nachzuprü35 38

39

38 37 Dispensary, Ebd., p. 36. Johnson-Chalmers, I X p. 2 8 1 . Theodor Reitterer, Leben und Werke Peter Pindars (Dr.JohnWolcot), Wiener Beiträge zur englischen Philologie Bd. 1 1 (Wien und Leipzig, 1900), p. 5 6f. Audi Barford schreibt im Vorwort zu The Assembly (London, 1726), der darin dargestellte Verlust eines Taschentuchs habe sich wirklich ereignet ( s i g . A 3 ) .

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fen, ob sich diese Vorfälle wirklich ereigneten, wenn der Verfasser nicht ausdrücklich festgestellt hätte, daß auch der Daily Advertiser vom 12.März 1744 und ein "Pamphlet . . . call'd The Justice and the Footmen" darüber berichteten.40 Ähnlich weist der Verfasser des komischen Heldengedichts The Battie of the Bards (1800) im Vorwort darauf hin, daß der Streit zwischen Wolcot und Gifford, der sich am 18. August 1800 in einem namentlich genannten Buchladen in London ereignete und der das Thema des Gedichts bildet, auch Gegenstand einer Notiz im Morning Advertiser war. Zwei Tatsachen verdienen hierbei festgehalten zu werden. 1) The Deviliad und The Battie of the Bards wurden im gleichen Jahre veröffentlicht, in dem das zugrunde liegende Ereignis geschah, d. h. also, bevor es seinen aktuellen Charakter verlieren konnte. Auch mehrere andere Gedichte dieser Art, wie z.B. der Lockenraub, The Flight of the tretender und Paradise Regain'd wurden nur wenig später als der in ihnen berichtete wahre Vorfall geschrieben. Eine Ausnahme bildet hier nur der Eimerraub, der 1622 entstand, aber Ereignisse aus den Jahren 1249 und 1325 schildert. 2) The Deviliad und The Battie of the Bards erzählen Vorfälle, über die auch in den Zeitungen berichtet wurde. Diese Tatsache ist auch bezeichnend für das komische Heldengedicht als Gattung. Zwar sind die Fälle selten, in denen die Verfasser selbst Namen, Erscheinungstag und Nummer der Zeitung angeben, die über das gleiche Ereignis wie ihr Gedicht berichtete. Auch bei dem als einzige andere Form des komischen Epos einen stark „aktuellen" Charakter aufweisenden hudibrastic scheint es nur ein Gedicht dieser Art zu geben, nämlich Phino-Godol.41 Aber auch in zahlreichen anderen komischen Heldengedichten gingen die Tageszeitungen auf die gleichen Begebenheiten ein, wie z. B. die Zeitungen Morning Chronicle, Morning Post und Gazetteer auf das erwähnte Duell zwischen den Politikern Adams und Fox in Paradise Regain'd;*2 oder es wurden zumindest Geschehnisse erzählt, die thematisch in eine Tageszeitung gepaßt hätten. So wäre es denkbar, daß eine Zeitung in ihrem Sportteil über das Golf spiel in The Goff, das anscheinend wirklich stattfand, 43 berichtet hätte. Ebenso könnte man sich vorstellen, daß eine Zeitung in ihrem Skandalteil genüßlich die Details des wahren Vorfalls ausgekostet hätte, der zu dem Gedicht The Pettycoat führte, in dem 40 42

48

41 The Deviliad (London, 1744), p. v., p. x.; siehe auch p. 20. Siehe S. 68. Siehe Morning Chronicle, 3 0 . 1 1 . 1 7 7 9 , Nr. 3286; Morning Post, 3 0 . 1 1 . 1 7 7 9 , Nr. 2224; Gazetteer and New Daily Advertiser, 3 0 . 1 1 . 1 7 7 9 , Nr. 15848. Siehe Bond, p. 416.

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erzählt wird, wie ein junger Mann aus der höheren Gesellschaft sich mit seinen Sporen im Reifrock einer Dame verfing und diese so zu Fall brachte, daß sie auf ihn zu liegen kam. Die Thematik von "The Battie of the Hoops" und "The Battie of the Sugar-Plumbs" schließlich berührt sich mit der einer Kurzeitung. Auch eine andere Tatsache enthüllt den aktuellen Bezug dieser Gattung. Bei den in vielen Fällen vorhandenen, mehrere Jahre später geschriebenen zweiten Fassungen wurde der Inhalt wiederholt den gewandelten Verhältnissen entsprechend abgeändert und reaktualisiert so z. B. in der zweiten Fassung der Dunciad, in welcher der ursprüngliche Held Theobald durch den inzwischen „aktuelleren" Helden Cibber ersetzt wurde. Auch Ziel und Zweck vieler klassizistischer komischer Heldengedichte waren aktueller Art. Bei den stärker satirischen unter ihnen, die bestehende Mißstände bessern oder bestimmte Personen verspotten wollten, versteht sich dies von selbst. Aber auch andere „aktuelle" Intentionen kamen vor, wie z. B. die Popes, mit seinem Lockenraub zwei streitende Familien zu versöhnen, oder Broggins(?), mit seinem Reifrock eine Ungeschicklichkeit gegenüber seiner Geliebten wiedergutzumachen. Ähnlich ist es in der Deviliad, wo im Vorwort gesagt wird, daß das Gedicht im Gegensatz zu einer unrichtigen früheren Darstellung des gleichen Vorfalls dessen wahren Hergang erzählen und den Charakter des Helden ins richtige Licht rücken solle. Allerdings basieren nicht alle mock-heroic poems auf wahren Vorfällen. Bei manchen mag man einen solchen vermuten, aber nicht nachweisen können; in anderen sind nur die Schauplätze und Charaktere real, während die Handlung rein fiktiv ist, wie z.B. in Mac Flecknoe. Darüber hinaus ist in den verschiedenen Typen des komischen Heldengedichts der Bezug zur zeitgenössischen Wirklichkeit und ihr Gehalt an historisch nachweisbaren Fakten verschieden. E r ist am kleinsten in dem durch Gays Fächer begründeten T y p des komischen Heldengedichts, der die Erfindung eines Luxus- oder Gebrauchsgegenstandes durch die olympischen Götter darstellt; 44 und er ist am größten in der Verfallszeit des komischen Heldengedichts, d.h. nach 1740/45, als diese Gattung das hudibrastische Epos ablöste und dessen Funktion der gegenwartsbezogenen und parteipolitisch gebundenen Satire übernahm. Mit diesen D i f ferenzierungen wird sich Teil I I I dieser Arbeit ausführlicher auseinandersetzen. 44

A b e r auch bei diesen Gedichten besteht eine A f f i n i t ä t zu der Thematik der Z e i -

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4. Das komische Heldengedicht als Gelegenheitsgedicht Trotzdem ist daran festzuhalten, daß der unmittelbare Bezug auf wirkliche Personen und aktuelle Ereignisse ein Merkmal fast aller komischen Heldengedichte ist, das die stärker satirischen (z. B. The Dispensary, The Dunciad) und die galanteren, spielerischeren (z. B. The Rape of the Lock, The Pettycoat), die bedeutenden wie auch die heute mit Recht vergessenen miteinander verbindet. Hier haben wir in der Tat ein Gattungskriterium erreicht, welches das komische Heldengedicht von anderen komischen Gattungen, d. h. vom komischen Roman 45 und der Mehrzahl der klassizistischen Komödien, aber auch vom komischen Ritterepos und von der epischen Travestie, unterscheidet. Die bisherige Forschung hielt diese Tatsache für irrelevant. So fragt Bond in bezug auf den Lockenraub'. Is our appreciation of the poem really enhanced by knowledge that one Lord Petre offended his kinswoman, Mistress Arabella Fermor, by cutting off a lock of her hair, that the families accordingly quarreled, and that John Caryll in his desire for peace asked the poet Pope to apply the styptic pencil? 46 Und Schmidt schreibt, die Anspielungen mancher komischer Heldengedichte auf „Verhältnisse, Tagesereignisse, Moden u.ä." seien Dinge, die nur „damals den unmittelbar Beteiligten und heute den Soziologen interessieren".47 Sicher sind diese Tatsachen ohne Belang, wenn es uns ausschließlidi darauf ankommt, ein komisches Heldengedicht als heute noch lebendiges und aus sich selbst heraus verständliches sprachliches Kunstwerk zu deuten. Aber nur wenige Gedichte dieser Gattung lohnen eine solche Betrachtungsweise. Soll dagegen das Wesen der Gattung charakterisiert und auf dem Hintergrund der geistes- und gattungsgeschichtlichen Entwicklung gesehen werden, so ist ihr Bezug auf ein unbedeutendes, wirklich geschehenes Ereignis ebenso wesentlich wie der ursprüngliche Bezug der Novelle auf eine „sich ereignete unerhörte Begebenheit".48 tungen. So wies schon Brie die engen thematischen Beziehungen zwischen den „Rokokoepen" und den moralischen Wochenschriften nadi, z.B. in der Behandlung von Themen wie der Reifrock, der Schoßhund, der Klatsch, die exotische Herkunft der Gegenstände im Zimmer einer Dame usw. 45 Allenfalls Hintergrundsereignisse in manchen Romanen des gleichen Zeitraums sind historisch, so z.B. die Schlacht von Cartagena (1743) in Smolletts Roderick Random (1748). 4 « Bond, p. 64. 4 ? Schmidt, p. 18. 48 Eikermanns Gespräche mit Goethe, 29. Januar 1827.

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Der aktuelle und konkrete Wirklichkeitsbezug dieser Gedichte beweist, daß sie, wie auch die zunächst als Gesellschaftsdichtung auftretende Novelle, untrennbar mit einer wirklich existierenden Gesellschaft verknüpft sind. Besonders deutlich wird dies bei dem von Brie als „Rokokoepos" bezeichneten Typ, d.h. dem Lockenraub und seinen Nachahmungen. Diese Gedichte beziehen sich auf eine adlige Gesellschaftsschicht, die, wie Kap. VIII belegen wird, auch einen Teil der Leserschaft dieser Gedichte bildete und die Dichtern wie Pope durch persönlichen Umgang bekannt war. 49 Aber gerade dadurch gerät das komische Heldengedicht in die Nähe zweier literarischer Formen, die in der Hierarchie der Gattungen im Klassizismus keine hohe Stellung einnahmen: des occasional poem und des lampoon. Das Gelegenheitsgedicht war zwar eine der beliebtesten Formen in der klassizistischen Dichtung, stand aber im Gattungskanon an tiefer Stelle; und die persönliche Satire wurde von vielen Literarkritikern dieser Zeit abgelehnt; denn beide widersprachen ja der aristotelischen, im Klassizismus nach wie vor gültigen Forderung, Dichtung solle nicht das Individuelle, sondern das Allgemeine und Typische darstellen. Es ist auf den ersten Blick erstaunlich, daß eine Gattung, die auf der Suche nach dem Epos entstand und ebenso ein echtes Epos sein sollte, wie die Komödie ein echtes Drama ist, von der Thematik her so wenig Gemeinsames mit dem ernsten Epos, aber auch mit einem komischen Epos wie der Batracbomyomachia oder der zeitgenössischen Komödie besitzt. Statt dessen besteht in dieser Hinsicht eine viel größere Verwandtschaft mit den im Klassizismus so beliebten Gedichten über die Hochzeit eines bestimmten Menschen, den Tod einer hochgestellten Persönlichkeit oder eines Schoßhundes, die Genesung eines Bekannten von einer langen Krankheit, ein Kleidungsstück der Geliebten u. dgl., kurz mit dem Gelegenheitsgedicht.50 Gerade die Affinität zu dieser aus bestimmten äußeren Anlässen verfaßten Lyrik ist ein typischer Zug der Dichtung eines Pope, Garth, Swift oder Gay. Wurde der klassizistischen Dichtung bisher oft ihre Allgemeinheit und Abstraktheit vorgeworfen, so könnte man ihr mit dem gleichen Recht ihre Aktualitäts- und Gelegenheitsbezogenheit zum Vorwurf machen. Selbst ein so philosophisches Gedicht wie der Essay on Man weist 49 50

Siehe Anhang, Anm. A 9, S. 3 5 5 f. „Gelegenheitsgedicht" ist hier natürlich nicht im Sinne Goethes aufzufassen, der etwas völlig anderes, nämlich Erlebnislyrik, darunter verstand. - Vgl. dazu den Artikel „Gelegenheitsdichtung" in Gero von Wilperts Sachwörterbuch der Literatur (Stuttgart, 4. Aufl. 1964), p. 2 3 9 ^

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diese Bezogenheit auf und ist gleichsam ein Gelegenheitsgedicht ganz großen Stils, und erst recht konnte das komische Heldengedicht sich von ihr nicht frei machen. Da das Gelegenheitsgedicht also im Klassizismus eine so häufig vertretene Gattung war und da sein Einfluß auch auf andere Gattungen ausstrahlte, ist es besonders bedauerlich, daß bisher keine adäquate Monographie darüber geschrieben wurde und m.W. auch keine brauchbare Anthologie erschien. Es ist nach dem bisher Gesagten noch verständlicher geworden, warum dieser Epoche kein großes ernstes Epos gelang. Es leuchtet aber ebenso ein, daß das komische Epos des englischen Klassizismus eine fundamentale innere Spannung aufwies: die Spannung zwischen „epischer Intention" in dem auf S. 77 definierten Sinn und seiner der occasional poetry und dem lampoon verwandten Bindung an das Ephemere. Vielleicht ist es darauf zurückzuführen, daß in den klassizistischen Definitionsversuchen des komischen Heldengedichts in England von diesem Kriterium nie die Rede ist. Zwar weisen mehrere Autoren an Stellen, von denen einige in diesem Kapitel wiedergegeben wurden, eindeutig darauf hin, daß ihre Gedichte wirkliche Ereignisse und Personen darstellen. Aber diese Äußerungen werden nicht für die ganze Gattung verallgemeinert;51 und Gottsched dürfte der einzige Kritiker gewesen sein, der von der Handlung des komischen Heldengedichts generell verlangte, sie müsse wirklich vorgefallen sein.52 Man sieht also, mit welcher Vorsicht die klassizistischen Charakterisierungen dieser Gattung zu lesen sind, und wird vermuten, daß auch in anderer Hinsicht das Wunschdenken der Dichter und Kritiker in ihren Definitionen ein falsches Bild vom komischen Heldengedicht zeichnete.

51 52

Siehe Anhang, Anm. A 10, S. 3 $6. Siehe Anhang, Anm. A 1 1 , S. 356.

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KAPITEL V

Die epische Verkleidung und Verfremdung der Wirklichkeit Le poëme suivant a été composé à l'occasion d'un différend assez léger qui s'émut dans une des plus célèbres églises de Paris . . . Le reste . . . est une pure fiction; et tous les personnages y sont inventés. (Boileau über Le Lutrin)

i. Allgemeinheit und Fiktivität als Prinzipien klassizistischer Dichtung Von den fünf literarischen Formen, auf deren Schnittpunkt das komische Heldengedicht entstand, nämlich Komödie, Gelegenheitsgedicht, Epos, Parodie und Satire, sind nun die beiden ersten in ihrer Beziehung zum komischen Heldengedicht kurz betrachtet worden. Die Affinität des mock-heroic poem zur Komödie und zum Epos entsprach durchaus den Maßstäben der klassizistischen Poetiken, da sie sich bereits aus der im Klassizismus so oft zitierten aristotelischen Definition des komischen Epos ergab. Auch die Verwandtschaft mit der Satire stand keineswegs im Widerspruch zu den klassizistischen Poetiken. Diese hielten ja den von Aristoteles als Beispiel angeführten Margites (wohl mit Recht) für ein satirisches komisches Epos; und außerdem lieferte die satirische Intention dem komischen Heldengedicht die vom Klassizismus von jeder ernstzunehmenden Dichtung geforderte „Moral". Die Affinität des mock-heroic zum Gelegenheitsgedicht war dagegen vom Standpunkt der Poetik dieser Zeit problematisch, da es eine ihrer Grundforderungen war, Dichtung solle nicht das Individuelle, sondern das Typische darstellen. Diese Forderung beruht bekanntlich auf einer langen Tradition. Piaton hatte in seiner Politeia behauptet, Dichter und Maler stellten nicht direkt die Ideen, d. h. die eigentliche Wirklichkeit, dar, sondern ahmten die Dinge der realen Welt nach, die ihrerseits nur Nachahmungen der Ideen seien. Dichtung habe „es also mit Dingen zu tun, die auf der dritten Stufe abwärts von der Wahrheit liegen".1 Die Apologeten der Dichtung von Aristoteles über Sidney bis zum Klassizismus hatten darauf entgegnet, dies sei nur dann wahr, wenn Dichtung einzelne Dinge unserer Welt nachahme. Stelle sie dagegen das Allgemeine, das Typische, den Idealfall dar, enthalte sie einen höheren Grad von Wahrheit als die 1

Piaton, Der Staat, übers, v. Otto Apelt, Philosophische Bibliothek Bd. 80 (Leipzig, 3. Aufl. 1923), p. 399.

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Dinge der realen Welt und somit auch als Historiographie und Biographie, die beim Einzelfall stehen blieben. Die Allgemeinheit der Dichtung bedingt also ihre Fiktivität und zugleich, so paradox dies klingt, ihre höhere Wahrheit. Diese Doktrin vom Gegenstand der Dichtung besaß im Klassizismus in der dichterischen Praxis noch weitgehend, in der poetischen Theorie aber noch in vollem Maße ihre Gültigkeit. So schildern die klassizistischen Gedichte meistens nicht eine individuelle Landschaft, sondern general nature, selbst wenn ein Gedicht dem Titel nach eine bestimmte Landschaft zum Thema hat wie z. B. Denhams Cooper's Hill und Popes Windsor Forest. Entsprechend betont Fielding ganz im Sinne der klassizistischen Poetik, die Charaktere in seinem Joseph Andrews seien zwar durch die Beobachtung wirklicher Menschen angeregt und insofern „wahr"; er habe sie aber ganz des Individuellen entkleidet, da er "not an individual, but a species" darstellen wolle. Und an anderer Stelle schreibt er: Though everything is copied from the book of nature, and scarce a character or action produced which I have not taken from my own observations and experience; yet I have used the utmost care to obscure the persons by . . . different circumstances, degrees, and colours, that it will be impossible to guess at them with any degree of certainty. 2

Das gilt mutatis mutandis auch für die Gattung der Satire. Obwohl die Mehrzahl der im Klassizismus verfaßten Satiren sich nicht ausschließlich gegen allgemeine Laster richtet, sondern auch wirkliche Menschen der damaligen Zeit angreift, tendierte der Klassizismus zumindest theoretisch zur Ablehnung dieser persönlichen Form der Satire, des lampoon oder libel.3 Daher wurde z. B. Pope, dessen Satiren häufig den Charakter von lampoons tragen, oft genug angegriffen, und zwar nicht nur von den Opfern seiner Satire. Aus einer ähnlichen Haltung heraus schreibt Fielding über die satirischen Stellen im Joseph Andrews: "In most of our particular characters we mean not to lash individuals, but all of the like sort." Seine Absicht sei not to expose one pitiful wretch to the small and contemptible circle of his acquaintance; but hold the glass to thousands in their c l o s e t s . . . This places the boundary between, and distinguishes the satirist from the libeller. 4 2 3 4

Joseph Andrews, a.a.O., p. 144, p. xxxii. - Zu diesem Thema vgl. auch Iser, a.a.O., P; 94Siehe z.B. Dryden, Essays, II p.zii. A.a.O., pp. 14j und 144. - Vgl. dazu z.B. Pope, "Advertisement" zu Satire II, 1 in den Imitations of Horace, Twickenham Edition, IV p. 3.

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Den Eindruck, daß die von ihm dargestellten Charaktertypen und seine „allgemeinen Beschreibungen" dann nicht „aus dem Leben genommen" seien, wehrt Fielding ab. Wenn er ein satirisches Porträt eines Rechtsanwalts zeichne, so geißele er zwar keinen bestimmten Menschen; dennoch sei sein Rechtsanwalt "alive" und "hath been so for these four thousand years". 5 Eine Ausnahme von dieser klassizistischen Bevorzugung des Fiktiven und Allgemeinen scheint neben dem lampoon nur das Gelegenheitsgedicht zu bilden. So ist z.B. ein Epitaph naturgemäß einem bestimmten wirklichen Menschen gewidmet.6 Aber die occasional poetry stand am unteren Ende des klassizistischen Gattungskanons, während das hier Gesagte vorwiegend für die höheren Formen gilt, zu denen der Roman zwar nicht gehörte, aber unter die Fielding seine Romane einreihen wollte. Damit wird aber auch deutlich, daß die Werke eines Defoe oder Richardson, also im Gegensatz zu Fielding nicht der klassizistischen Poetik verpflichteter Romanautoren, in diesem Punkt den Forderungen der Poetiken widersprachen. Zwar stellte Defoe, wie schon Bunyan, gern typische Jedermanngestalten in den Mittelpunkt seiner Romane. Aber Defoe und Richardson versuchten, ihre fiktiven Helden und Handlungen als wirklich hinzustellen und die Wirklichkeitsillusion möglichst überzeugend zu gestalten. Aus diesem Grunde wählte Defoe seine circumstantial method; und daher gab Richardson vor, nur Herausgeber wirklicher Briefe von wirklichen Menschen zu sein. Für den Puritaner war ja bekanntlich7 Dichtung mit dem Odium des Fiktiven behaftet. 8 Gerade in dieser Haltung fand der neue Roman einen besonders günstigen Nährboden; und aus ihr heraus konnte dann auch ein psychologischer Realismus mit individualisierten Charakteren erwachsen. Die Ablehnung des Romans und dieser für ihn typischen Haltung zur Wirklichkeit bedeutet jedoch nicht, daß in den an den orthodoxen klassizistischen Poetiken orientierten Gattungen ein Bezug auf reale zeitgenössische Ereignisse und Charaktere verpönt gewesen sei. Aber es ist typisch, welcher Weg dabei beschritten wurde. Man versuchte nicht wie Defoe und Richardson, Fiktives als wirklich geschehen erscheinen zu 5

A . a . O . , p. 1 4 4 . Dabei ist es jedoch immerhin bezeichnend, daß das klassizistische Epitaph im allgemeinen nicht ein individuelles Porträt des Verstorbenen zeichnete, sondern das Individuum ins Typenhafte umstilisierte. 7 V g l . S. 1 4 . 6

8

V g l . Herbert Schöffler, a.a.O., p. "populär Puritan aversion to fiction".

IOO

-

W a t t , a.a.O., p. 90, spricht von der

lassen, sondern hüllte das wirklich Geschehene in den Mantel des Fiktiven, Legendären oder längst Vergangenen. So liegt z.B. dem Kampf des christlichen Königs Artus gegen den heidnischen Frankenkönig Clotar in Blackmores Epos King Arthur der Konflikt zwischen dem protestantischen König Wilhelm III. von England und dem katholischen Ludwig X I V . von Frankreich zugrunde. Aber ein Epos, in dem dieser Konflikt unmittelbar dargestellt worden wäre, hätte den Regeln der Poetiken widersprochen, die aus dem gleichen Grund z. B. Lukans Pharsalia kritisierten,9 es aber billigten, daß in der Aeneis Menschen und Werte aus Vergils eigener Zeit in eine graue Vorzeit transponiert wurden. 10 Also konnte Blackmore nicht umhin, zeitgenössische Ereignisse als Vorfälle aus legendärer Vorzeit zu verkleiden. Daß eine solche verborgene, verschleierte Beziehung zur Gegenwart nicht nur geduldet, sondern sogar geschätzt wurde, beweist das Epos Leonidas (1737) von Glover. Seine außerordentliche Beliebtheit verdankte es u. a. der Tatsache, daß die toryistische Leserschaft, vom Autor wohl unbeabsichtigt, in der Darstellung des Kampfes der Griechen für die Freiheit und gegen die Tyrannei der Perser Anspielungen auf die damaligen Auseinandersetzungen zwischen Whigs und Tories zu erkennen glaubte und die Griechen mit den Tories, die Perser mit den Whigs identifizierte. 11 Ähnliches gilt für viele klassizistische Satiren. So stellte z. B. Dryden in Absalom and Achitophel die zeitgenössischen Charaktere nicht unter ihrem wahren Namen und als Engländer seiner Zeit dar, sondern als Juden aus der legendären Zeit König Davids. Selbst in den soviel unmittelbarer auf zeitgenössische Menschen und Laster bezogenen horazischen Satiren Popes erscheint z.B. Addison nicht unter seinem wahren Namen, sondern „verkleidet" als Atticus, als „alter Römer". Auch die im allgemeinen eine zeitlose und unwirkliche pastorale Welt gestaltende Gattung des Hirtengedichts wurde der Darstellung konkreter Personen und Vorfälle in der gegenwärtigen Welt dienstbar gemacht; und zwar in einem vielleicht noch größeren Maße, als dies ohnehin in der pastoralen Tradition in Antike und Renaissance üblich gewesen war.

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Belege siehe: H. T. Swedenberg jr., The Theory of the Epic in England 1650-1800, University of California Publications in English Bd. 1$ (Berkeley und Los Angeles, 1944), p. 43, p. 130 u. o. Vgl. z.B. Dryden, "Dedication to the Aeneis", in: Essays, II p. i66ff. A. Chalmers, "Life of Glover", in: Johnson-Chalmers, X V I I p. j f .

IOI

2. Die „Verkleidung" der zeitgenössischen und „niedrigen" Wirklichkeit als Prinzip klassizistischer Dichtung Aus den angeführten Beispielen geht aber, neben der Tendenz zur Verschleierung der Bezüge auf reale Ereignisse und Personen, noch ein weiterer Zug hervor, der für die Literatur des Klassizismus typisch ist, soweit sie den traditionellen Poetiken verpflichtet war. Auch ein allgemeiner Bezug auf die zeitgenössische Wirklichkeit war, zumindest in den ranghöchsten Gattungen, in unverschleierter Form nicht zulässig. Die Welt der Gegenwart mußte zu einer zeitlosen pastoralen Welt stilisiert werden, im Gewände einer legendären oder längst vergangenen historischen Zeit erscheinen oder auf andere Weise in eine Distanz zur Gegenwart gebracht werden. Daher wählten die klassizistischen Dichter beileibe nicht nur dann z.B. die pastorale Form, wenn sie sich wie etwa Congreve in seiner Klageekloge auf den Tod Königin Marys, The Mourning Muse of Alexis (1695), auf reale zeitgenössische Personen und Vorfälle bezogen. Vielmehr bedient sich z. B. auch die Gräfin von Winchilsea der pastoralen Form, wenn sie typische Charaktere aus der high society ihrer Zeit darstellen will. So wirft sie in ihrem "Pastoral Dialogue" typischen weiblichen Mitgliedern der zeitgenössischen Adelsgesellschaft das Gewand der Schäferinnen Theokrits und Vergils über.12 In der Gattung der town-eclogue, einer parodistischen Abart des Pastoralgedichts, der man auch den genannten "Pastoral Dialogue" zuordnen könnte, durften sogar die banalsten und unerfreulichsten Dinge aus dem Leben der unteren Gesellschaftsschichten im damaligen London dargestellt werden, obwohl sie ohne ihr pastorales Gewand in der Dichtung verpönt gewesen wären. Und auch so prosaische Themen wie der Hopfenanbau, die Apfelweinbereitung und der Wollhandel waren legitime Themen der Dichtung, vorausgesetzt, sie wurden durch die Form des Georgicon auf eine höhere Ebene transponiert. Die klassizistische Grundforderung nach Wahrung des Dekorum muß daher für diese Gattungen modifiziert werden. Während der Begriff des Dekorum sonst die Forderung beinhaltete, daß Gegenstandsbereich, Gattung und Diktion einander entsprechen müßten, wird bei den niedrigen Bereichen der zeitgenössischen Wirklichkeit geradezu ein Brudi des Dekorum verlangt. Low life sollte, den orthodoxen Kritikern zu12

In dem Gedicht Congreves besitzt die pastorale Verkleidung die Funktion einer Huldigung, im "Pastoral D i a l o g u e " w i r d sie als Mittel zu einer indirekten Satire benützt. V g l . Stratmann, a.a.O., p. 1 4 2 : „Indem dieser [aristokratischen] G r u p p e das G e w a n d des Hirten und der Hirtin übergeworfen wird, soll die Unangemessenheit des Gewandes hervorgehoben werden."

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folge, nicht, wie im Roman und im hudibrastischen Epos (und in der Komödie), in einer ihm entsprechenden „niedrigen" Form dargestellt werden. Vielmehr wird in diesen Fällen immer wieder die Forderung erhoben, es sei erforderlich, den Gegenstand durch die Form zu „heben" (to raise the subject matter). Neben der Metapher des „Anhebens" und „Erhöhens" wird dabei in den theoretischen Diskussionen eine andere oft verwendet: die der Verkleidung. Schon die Renaissance-Poetiken hatten häufig vom garment of style gesprochen und hatten die Diktion als ein Gewand bezeichnet, in das der Gegenstand gekleidet werden und das dem Gegenstand angemessen sein mußte. Im Klassizismus wird das Bild des Gewandes oft schon dann durch das Wort disguise wiedergegeben, wenn Stil und Gegenstand sich entsprechen. So findet es sich z. B. wiederholt in einem der bedeutendsten kritischen Essays des frühen Klassizismus, Sir William Temples " O f Poetry", wo u.a. die Einkleidung der „Moral" in eine dichterische Form als "disguise" bezeichnet wird. 13 Erst recht aber wird das garment of style zu einer disguise, die „Einkleidung" 14 zu einer „Verkleidung", wenn Stil und Gegenstand nicht übereinstimmen. So entspricht es durchaus der klassizistischen Terminologie, wenn wir sagen, daß in Congreves Klagepastoral Königin Mary in the disguise of Pastora erscheine, erst recht aber, daß im "Pastoral Dialogue" der Lady Winchilsea Damen der Gesellschaft als Schäferinnen „verkleidet" auftreten (so wie sie sich ja auch im Leben gern als Schäferinnen verkleideten). Auch im Bereich des komischen Epos, das ja weitgehend auf einer Diskrepanz von Stil und Gegenstand beruhte, ist der Begriff der Verkleidung angebracht. Impliziert ist er bereits in der Gattungsbezeichnung „Travestie", die besagt, daß hier Helden „verkleidet" als Menschen niedrigen Standes erscheinen. Umgekehrt tragen im komischen Heldengedicht characters of inferior rank das Gewand epischer Charaktere. Demgemäß spricht Dusch von einer „Mißhelligkeit" „zwischen der Handlung und der Tracht" des komischen Heldengedichts. Die Handlung „ist viel zu klein für dasselbe. Das Kleid ist zu prächtig, oder zu 13

14

So schreibt Temple, das Drama lehre "under the disguise of Fables or the Pleasure of Story". (In: Temple's Essays on Ancient and Modern Learning and On Poetry, ed. J.E.Spingarn [Oxford, 1909], p. 59.) Zu der Verwendung der Begriffe disguise, dress, clothes, weed, u. dgl. siehe besonders ebd., p. ^ f f . Das Wort „Einkleidung" wird z.B. häufig von Dusch verwendet („Von der komischen Heldenpoesie", a.a.O., p. I22ff. u. ö.). Nach seiner Definition in seinem Brief über den Sieg des Liebesgottes von Uz werden im komischen Heldengedicht „Kleinigkeiten . . . in königliche Tracht eingekleidet" (a.a.O., p. i4f.).

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groß; die Person, die es tragen soll, ist ein Bettler, oder ein Kind". 15 Uberhaupt dürften wir im Begriff der Verkleidung (und dem ihm nahestehenden Begriff der Stilisierung) ein zentrales Prinzip klassizistischer Dichtung gefunden haben, ein Prinzip, das den überaus stilisierten Umgangsformen und der Vorliebe der damaligen oberen Gesellschaftsschichten für Maskerade und Verkleidung entspricht. Zwar war, strenggenommen, kein Wirklichkeitsbereich grundsätzlich aus der dichterischen Darstellung ausgeschlossen. Aber bestimmte Bereiche - reale Charaktere und Ereignisse, die zeitgenössische Welt 16 und low life - durften nicht direkt dargestellt, sondern mußten, wenigstens in den höheren Gattungen, durch das Gewand der poetic diction „gehoben", stilisiert und „verkleidet" werden, damit der Gegenstand zugleich poetisch und „salonfähig" wurde.17 Am Rande darf noch erwähnt werden, daß ein anderes Prinzip klassizistischer Dichtung damit eng zusammenhängt, das der Allusion. Der Begriff der Anspielung erfaßt nicht nur das Verhältnis der klassizistischen Dichtung zu den nachgeahmten, meist antiken Vorbildern,18 sondern auch ihren Bezug auf reale Personen und Vorfälle der zeitgenössischen Welt und auf die niedrigen Wirklichkeitsbereiche. Da diese im allgemeinen nicht unmittelbar dargestellt werden durften, wählten die Dichter den Weg der Anspielung. Wie etwa Blackmore, Congreve und Lady Winchilsea in den genannten Beispielen auf Menschen, Ereignisse, Probleme und Sitten ihrer Zeit anspielten, so wurde z. B. auch das dem Bereich des low life zugehörige Obszöne meist nicht direkt gestaltet, sondern kam nur in der Allusion, in der geistreichen Zweideutigkeit, zum Ausdruck. 3. Die Verschleierung des Bezugs auf wirkliche Ereignisse und Personen im komischen Heldengedicht Was bisher von dem Verhältnis der im engeren Sinn klassizistischen Dichtung zur Wirklichkeit gesagt wurde, trifft in vollem Maße auch auf das komische Heldengedicht zu. Zwar bildet es scheinbar eine Ausnahme, da es ausschließlich die zeitgenössische Welt und Gesellschaft und mit Vorliebe wirkliche Menschen und Ereignisse darstellt. Aber es weicht 15 16 17 18

„Von der komischen Heldenpoesie", a.a.O., p. 122. Eine Ausnahme bildet hier allerdings die Komödie. Siehe Anhang, A n m . A 12, S. 357. Diese Bedeutung legt Brower seiner Untersuchung Alexander of Allusion (Oxford, 1959) zugrunde.

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Pope:

The

Poetry

nur dann von den anderen Gattungen ab, wenn man es allein vom Gegenstand her betrachtet. Ein bezeichnender Zug, der bestätigt, daß das komische Heldengedicht nicht die Maßstäbe der klassizistischen Poetiken verletzen will, ist das Bemühen mancher, wenn auch nicht aller Autoren, den Bezug ihrer Gedichte auf reale Vorfälle und Menschen zu verschleiern. Es ist, als ob sie nur widerwillig zugäben, daß Handlung und Charaktere ihrer Werke reale Vorbilder hatten, und als ob ihnen viel an der Feststellung gelegen wäre, daß sie im wesentlichen doch fiktiv seien. Gewiß handelt es sich in vielen Fällen um ein bewußtes Spiel der Dichter mit ihren Lesern, und sicher erwarteten die meisten Verfasser komischer Heldengedichte, daß ihre Leser die Anspielungen auf reale Menschen und Ereignisse ihrer Zeit erkennen und die Verschleierung durchschauen würden. Aber dieses Versteckspiel gewinnt eine tiefere Bedeutung, wenn man sieht, daß die Dichter sich auf diese Weise wenigstens den Anschein gaben, die Regeln der Poetiken zu erfüllen. Dazu einige Beispiele. Schon im ersten komischen Heldengedicht hatte der Dichter den Bezug auf wirkliche Personen und Vorfälle auf raffinierte Weise verhüllt. Boileau behauptete nämlich im ersten Vorwort zu Le Lutrin, que tout le poëme du Lutrin n'est qu'une pure fiction, et que tout y est inventé, jusqu'au nom même du lieu où l'action se passe. 19

Als er dies dann im zweiten Vorwort nicht mehr aufrecht erhalten konnte, räumte er ein, daß il seroit inutile maintenant de nier que le poëme suivant l'occasion d'un différend assez léger qui s'émut dans une églises de Paris entre le trésorier et le chantre; mais c'est de vrai. Le reste, depuis le commencement jusqu'à la fin, tion; et tous les personnages y s o n t . . . inventés . . . 2 0

a été composé à des plus célèbres tout ce qu'il y a est une pure fic-

Und Garth schreibt im Vorwort zu The Dispensary : "The Description of the Battel... is so far real: tho' the Poetical Relation be fictitious."21 Pope schließlich betont in der Widmung der zweiten Fassung des Lockenraubs an Arabella Fermor, die Heldin Belinda ähnele ihrem realen Vorbild nur durch ihre Schönheit, und das Gedicht sei as Fabulous, as the Vision at the Beginning, or the Transformation at the E n d ; (except the Loss of your Hair, which I always mention with Reverence.). 2 2 20 19 Œuvres, p. 189. Ebd., p. 1 9 1 . 22 Twickenham Edition, II p. 143.

21

Dispensary, p. 36.

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Diese Äußerung Popes ist gewiß auch darauf zurückzuführen, daß die erste Fassung wegen ihrer weniger verhüllten Darstellung des dem Gedicht zugrunde liegenden wahren Vorfalls das Mißfallen Arabella Fermors und ihrer Familie erregt hatte. Wenn Pope aber in der zweiten Fassung den fiktiven Charakter des Werkes hervorhebt, dürfte er dies nicht nur getan haben, um Arabella Fermor zu beschwichtigen, sondern auch um allgemein den ästhetischen Maßstäben des Klassizismus und der Gesellschaftsschicht, für die er schrieb, noch mehr gerecht zu werden. Dies kann jedoch erst bei der Interpretation des Lockenraubs in Kapitel X I nachgewiesen werden. Auch von dem allmählichen Schwinden dieser Verschleierungstendenz in der Verfallszeit der Gattung kann erst im historischen Teil dieser Arbeit die Rede sein.

4. Die Verkleidung und Verfremdung der Wirklichkeit im komischen Heldengedicht Bisher war fast nur von Äußerungen der Verfasser von mock-heroic poems in ihren Vorworten, Widmungen und Fußnoten die Rede. Dort fanden sich die Hinweise darauf, daß ihre Gedichte wirkliche Ereignisse und Charaktere darstellten, aber auch der Versuch, diese Tatsache zu bagatellisieren und zu verschleiern. Es ist aber nun zu erwarten, daß auch in den Gedichten selbst ihr Bezug auf die zeitgenössische Wirklichkeit verhüllt, die realen Charaktere zu allgemeinen und typischen Gestalten stilisiert und dem Thema eine die dargestellte Welt „verkleidende" Form gegeben wird. Ein wichtiger, wenn auch nur äußerlicher Hinweis darauf ist die Namengebung im komischen Heldengedicht. Wie schon Watt feststellte,23 zeigt sich das neue Verhältnis zur Wirklichkeit im Roman des 18. Jahrhunderts u. a. auch darin, daß die Charaktere nicht mehr etwa Gynecia, Philoclea oder Cecropia heißen - wie in Sidneys Arcadia - und meist keine telling-names mehr haben, sondern englische Vor- und auch Zunamen besitzen, wie sie auch wirkliche Menschen tragen könnten. Das komische Heldengedicht stellt nun im Gegensatz zum Roman zwar durchweg Vorfälle aus dem Leben wirklicher, nicht fiktiver Menschen dar, aber die Charaktere erhalten meist nicht Namen wie Pamela Andrews, Tom Jones oder Humphry Clinker, sondern antikisierende Na23

The Rise of the Novel, a.a.O., p. i é f f . - W a t t erwähnt nicht, daß dies gelegentlich auch im vorklassizistischen Roman vorkam, besonders natürlich in dem realistischen pikaresken Roman (z.B. im Jack Wilton).

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men, die oft den Charakter von telling-names namen. 24

tragen, und keine Zu-

So wird der junge Broggin(?) in The Pettycoat zu Strephon, der golfspielende Geistliche Thomas Mathison in The Goß zu Pygmalion, Arabella Fermor im Lockenraub zu Belinda, Sir George Browne zu Sir Plume; und Mrs. Morley erhält den Namen der Amazonenkönigin Thalestris. Polizisten treten als "Myrmidon" oder "Irenarcha" (Tom K.. .g's) auf. Aus M. de Lemoignon in Le Lutrin wird Ariste, der Geistliche Guironnet erhält den Namen Gilotin, aus dem Küster François Syreulde wird Boirude.25 In The Dispensary wird z. B. Dr. Bernard zu Horoscope und Thomas Foley zu Mulciber.26 Allerdings gibt es hier auch Ausnahmen. Der Perückenmacher und seine Frau in Le Lutrin treten unter ihren wahren Namen l'Amour und Anne auf; und gerade in den stärker satirischen Gedichten wie Mac Flecknoe oder The Dunciad erhalten die Charaktere oft entweder ihre wahren Namen oder wenigstens deren Initialen. Auch der Schauplatz der Handlung der Gedichte wird meist „verkleidet". In vielen von ihnen wird aus London Augusta; aus Edinburgh, Leith und St. Andrews werden Edina, Letha und Andrea (The Goff); aus Oxford wird Oxonia, aus der Seine Sequana (The Dispensary); und schließlich wird aus dem im Krieg gegen Spanien heiß umkämpften Portobello in Fieldings Vernon-iad eine Insel in der Ägäis, wobei Fielding vorgibt, daß die ganze Handlung im antiken Griechenland spiele und das Gedicht eine Übersetzung eines neuentdeckten Werkes von Homer sei. Die „Verkleidung" der Charaktere und Schauplätze findet sich also in der Mehrzahl aller mock-heroic poems. Zwar fügen manche Verfasser oder spätere Herausgeber ihren Gedichten zum besseren Verständnis keys oder erklärende Fußnoten bei, in denen die „Verkleidung" wieder aufgehoben wird. Aber der humanistisch gebildete und der „Gesellschaft" angehörende Leser, für den diese Gedichte in erster Linie bestimmt waren, bedurfte eines solchen „Schlüssels" nicht. Er durchschaute das gleichsam mit einem Augenzwinkern veranstaltete Versteckspiel des Dichters auch ohne eine solche Hilfe und genoß es fraglos, auf diese Weise als Eingeweihter angesprochen zu werden. Doch die Namengebung ist nur ein äußeres Kriterium für die Tendenz zur Verkleidung der zeitgenössischen Welt im komischen Helden24

25 26

Die Zwischenstellung der Komödie zwischen den mehr und den weniger realistischen Gattungen im Klassizismus geht u.a. daraus hervor, daß die Charaktere hier zwar meist Vor- und Zunamen besitzen, es sich bei diesen aber sehr oft um telling-names handelt. Œuvres, p. 38 j, Anmerkungen. " A Compleat Key to the Dispensary", in: Dispensary, p. 126, p. 1 3 1 .

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gedieht. Auch die Charaktere selbst werden in der Darstellung „verkleidet", und der allzu offensichtliche Bezug auf die wirkliche Welt und wirkliche Menschen wird ihnen genommen. Das soll an je einer Textstelle aus zwei recht verschiedenartigen komischen Heldengedichten veranschaulicht werden. Zuerst eine Stelle aus Popes Lockenraub: A n d now, unveil'd, the Toilet stands display'd, Each Silver Vase in mystic Order laid. First, rob'd in White, the N y m p h intent adores With H e a d uncover'd, the Cosmetic Pow'rs. A heav'nly Image in the Glass appears, T o that she bends, to that her Eyes she rears; Th'inferior Priestess, at her Altar's side, Trembling, begins the sacred Rites of Pride. Unnumber'd Treasures ope at once, and here The various Off'rings of the World appear; From each she nicely culls with curious Toil, A n d decks the Goddess with the glitt'ring Spoil. N o w awful Beauty puts on all its Arms; The Fair each moment rises in her Charms, Repairs her Smiles, awakens ev'ry Grace, And calls forth all the Wonders of her Face; Sees by Degrees a purer Blush arise, And keener Lightnings quicken in her Eyes. 2 7

Hier wird eine Szene aus dem Alltagsleben beschrieben, wie sie sich jeden Tag tausendfach ereignet: ein Mädchen erneuert sein Make-up, bevor es sich seinen Verehrern zeigt. Nicht eine bedeutende Handlung wird dargestellt, wie z. B. im ernsten Epos, sondern eine Handlung, wie man sie etwa in einem Roman finden könnte, die aber in jeder Beziehung „unter der Würde" des Epos war. In diesem Sinn darf in der Tat von „Realismus" in dieser Szene die Rede sein. Doch dieser Realismus erschöpft sich im rein Inhaltlichen. Wäre die Darstellung auch in der Form realistisch gewesen, hätte sie ein ebenso anschauliches und wirklichkeitsgetreues Bild einer zeitgenössischen Schönen gezeichnet, wie es die Romane und Genrebilder taten. Doch das ist hier nicht der Fall. Pope wählt vielmehr allein in den wenigen hier zitierten Zeilen für seine Heldin immer neue Arten der Verkleidung. Zuerst erscheint sie als Nymphe, ein Wort, das allerdings in der klassizistischen Dichtung noch die gängige Bezeichnung für junge Mädchen war; dann 27

Twickenham Edition, II p. i j j f f . (c. I, vv. 121-132, vv. 139-144). 108

wird sie zu einer ein Götterstandbild schmückenden Priesterin - und ihre Zofe zur "inferior Priestess" - , dann, in weiterer und paradoxer Steigerung, in ihrem eigenen Spiegelbild zur Göttin selbst und schließlich noch zum „schrecklichen", d. h. „ehrfurchtgebietenden" Helden, der seine Waffen anlegt. Auf diese Weise werden Belinda alle individuellen Züge genommen. Aus der wirklichen Arabella Fermor wird eine Belinda, ein Typus, und sie wird, zumindest scheinbar, zur Idealgestalt gesteigert. 28 Nicht nur Arabella Fermor wird auf diese Weise „verkleidet", sondern auch jedes Detail der Szene. Der Toilettentisch wird zu einem entschleierten Heiligtum, in dem eine „mystische Ordnung" waltet. Die Kosmetika erscheinen als Geräte in einer rituellen Weihehandlung, als Opfergaben, wie sie Menschen aus allen Teilen der Welt einem Gott darbringen, als "glitt'ring Spoil", d.h. als Waffen gefangener Krieger, welche die antiken Helden ihren Göttern nach der siegreichen Schlacht opferten. Es hätte dieser Art der Darstellung widersprochen, wenn die einzelnen Kosmetika beim Namen genannt worden wären. Dementsprechend wird nicht gesagt, daß Belinda Belladonna und Schminke verwendet, sondern nur, daß als Folge ihrer kosmetischen Bemühungen " a purer Blush" auf ihrem Gesicht entsteht und daß "keener Lightnings quicken in her Eyes". Ein an sich unbedeutendes alltägliches Geschehen wird so durch heroische und religiöse Metaphern und Bilder und ähnliche Wendungen auf eine höhere Ebene gehoben, und die triviale Handlung des Make-up gewinnt eine epische Würde und Bedeutung, die scheinbar etwa der Szene der Waffnung des Achill in der Ilias oder der des Besuchs des Aeneas bei der Sibylle am Anfang des 6. Gesangs der Aeneis entspricht. Die zitierte Textstelle ist damit bei weitem nicht ausgeschöpft. Wir werden in anderem Zusammenhang auf sie zurückkommen. Auch bei der nun zu besprechenden Stelle aus Garths Dispensary soll zunächst ausschließlich das Verkleidungsmotiv betrachtet werden. As bold Mirmillo the gray Dawn descries, Arm'd Cap-a-pe, where Honour calls, he flies, And finds the Legions planted at their Post; Where mighty Querpo fill'd the Eye the most. His Arms were made, if we may credit Fame, By Mulciber, the Mayor of Bromingham. 28

Auch im ganzen Gedicht ist Belinda kein individuell gezeichneter Charakter, sondern der T y p der coquette, wie ihn auch die Spectator-Essays schilderten. Vgl. dazu Hugo M. Reichard, "The Love Affair in Pope's Rape o} the Lock", PMLA, L X I X / 1 9 J 4 , p. 887fr. - Vgl. dazu die Steigerung des Individuellen zum Typischen im Epitaph (s. Anm. 6). 109

Of temper'd Stibium the bright Shield was cast, And yet the Work the Metal far surpass'd. A Foliage of Vulnerary Leaves, Grav'd round the Brim, the wond'ring Sight deceives. Around the Center Fate's bright Trophies lay, Probes, Saws, Incision Knives, and Tools to slay. Embost upon the Field, a Battle stood, Of Leeches spouting Hemorrhoidal Blood. The Artist too express'd the solemn State Of grave Physicians at a Consult met; About each Symptom how they disagree, But how unanimous in case of Fee. Beneath this Blazing Orb bright Querpo shone. Himself an Atlas, and his Shield a Moon.29

Auch in dieser Szene liegen den Charakteren reale Menschen zugrunde. Wie der der Ausgabe von 1 7 1 4 beigefügte "Compleat Key to the Dispensary" mitteilt, ist mit Mirmillo ein Dr. Gibbon und mit Querpo ein Dr. How gemeint, beides Ärzte, also keine Helden im epischen Sinne des Wortes. Charakteristisch ist aber nicht nur, daß sie wie Arabella Fermor nicht unter ihrem wahren, sondern unter antikisierendem Namen auftreten, sondern auch, daß sie ebenfalls in „episches Gewand" gekleidet sind. Aus Quacksalbern, deren höchster Wert das Honorar ist und die wegen der Einrichtung einer Armenapotheke einen höchst kleinlichen Streit beginnen, werden scheinbar epische Helden, die dem Ruf der Ehre aufs Schlachtfeld folgen und die von Legionen anderer Helden begleitet sind. Querpo trägt einen an den des Achill oder Aeneas erinnernden Schild mit bildlichen Darstellungen, der von Mulciber, d.h. dem Gott Vulkan, angefertigt wurde, und erscheint in dieser Rüstung, ins Überdimensionale gesteigert, wie der Riese Atlas. Allerdings ist das epische Gewand Querpos durchsichtiger als das Belindas. Bei Belinda konnte der Leser fast, aber nur fast, vergessen, daß er keine Göttin oder epische Heldin vor sich hat, so täuschend echt war die von Pope geschaffene Verkleidung. Garth dagegen will den Leser keinen Augenblick vergessen lassen, daß das epische Gewand nur Verkleidung für recht unheroische „Anti-Helden" ist. Vulkan ist in Wirklichkeit ein Schmied aus Birmingham; und bei dem Schild des Querpo wird die epische Illusion dadurch zerstört, daß auf ihm nicht heroische Szenen und Trophäen, sondern blutspeiende Blutegel, Knochensägen und Skalpelle sowie auf ihr Honorar bedachte Ärzte abgebildet sind. 29

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