Studien zum jüdischen Neuplatonismus: Die Religionsphilosophie Des Abraham Ibn Ezra [Reprint 2012 ed.] 3110041162, 9783110041163

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Ernst Ludwig Ehrlich (1921-2007)herausragende israelische Gelehrte in englisch- und deuts

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German Pages 238 [236] Year 1973

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Studien zum jüdischen Neuplatonismus: Die Religionsphilosophie Des Abraham Ibn Ezra [Reprint 2012 ed.]
 3110041162, 9783110041163

Table of contents :
Zur Umschrift des Hebräischen
Abkürzungen
Einleitung
I. Leben und Bedeutung des Abraham ibn Ezra
II. Religionsphilosophische Lehren
1. Die Materie der irdischen Welt
2. Das Wozu des Aufenthaltes der menschlichen Seele in der irdischen Welt
3. Die menschliche Gotteserkenntnis
4. Die Welt der Engel
III. Religionsphilosophische Schriften
1. (’Iggärät) Ḥaj ben Meqị̣̂ṣ
2. Ărûgat ha-hokma̅h ûfardes ha-mezimma̅h
Schlußbemerkung
Literaturverzeichnis
Register

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H E R M A N N GREIVE

STUDIEN ZUM J Ü D I S C H E N NEUPLATONISMUS

w DE

G

STUDIA J U D A I C A FORSCHUNGEN DES

ZUR

WISSENSCHAFT

JUDENTUMS

H E R A U S G E G E B E N VON E. L. EHRLICH BASEL

BAND VII

WALTER DE GRUYTER · BERLIN · NEW YORK 1973

S T U D I E N ZUM JÜDISCHEN NEUPLATONISMUS DIE RELIGIONSPHILOSOPHIE DES ABRAHAM IBN E Z R A

VON HERMANN GREIVE

W A L T E R D E G R U Y T E R · B E R L I N · NEW Y O R K I

973

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

I S B N 3 1 1 004116 2 Library of Congress Catalog Card Number 73-75485 Alle Recite vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Budi oder Teile daraus auf photomechanisdiem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. © 1973 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Printed in Germany Satz und Drude: H . Heenemann K G , Berlin 42

VORWORT

Die vorliegenden Studien, die 1969/70 mit der Übersetzung und Interpretation des Haj ben Meqis, und zwar ursprünglich mit dem Ziele der getrennten Veröffentlichung dieses Teiles, in Angriff genommen worden sind und deren gegenwärtige Form als Ausgestaltung und Erweiterung in und mit dieser Dichtung und ihrer Erklärung bereits gegebener Ansätze aufzufassen ist, sind schon 1971 abgeschlossen worden. Auf Literatur der jüngsten Zeit konnte somit nurmehr in Ausnahmefällen hingewiesen werden. Da indessen seit 1971 — abgesehen von einigen Nachdrucken, die jedoch nachgetragen werden konnten — speziell von oder zu Abraham ibn Ezra und seinem philosophischen Denken, soweit ich sehe, keine größeren Arbeiten mehr erschienen sind, entspricht die Schrift trotz ihres vergleichsweise lange zurückliegenden Abschlusses im wesentlichen durchaus auch und noch dem Forschungsstand des Erscheinungsjahres. Ich danke allen, die das Zustandekommen der Untersuchungen gefördert und ihr Erscheinen in der Reihe „Studia Judaica" ermöglicht haben. Martin-Buber-Institut für Judaistik der Universität zu Köln Mai 1973

Hermann

Greive

INHALTSVERZEICHNIS

Zur Umschrift des Hebräischen

IX

Abkürzungen

X

Einleitung

1

I. II.

III.

Leben und Bedeutung des Abraham ibn Ezra

35

Religionsphilosophische Lehren 1. Die Materie der irdischen Welt

53 53

2. Das Wozu des Aufenthaltes der menschlichen Seele in der irdischen Welt a) Abstieg und Individualität b) Individuelle Unsterblichkeit Korollarium: Die Auferstehung der Toten

60 64 67 73

3. Die menschliche Gotteserkenntnis

73

4. Die Welt der Engel a) Die Stufen und Klassen der Engelwelt b) Das Wesen der obersten Engel oder Intelligenzen

84 88 100

Religionsphilosophische Schriften 1. ('Iggärät) Haj ben Meqis a) Sinn und Gestalt der Dichtung b) Der Haj ben Meqis im Verhältnis zum Hayy ibn Yaqzän des Avicenna c) Der Haj ben Meqis im Verhältnis zum Katar Malküt des Salomo ibn Gabirol d) Der Haj ben Meqis und die Divina Commedia Die Allegorie der drei Tiere Übersetzung Zeilenkommentar

104 104 104

123 129 137 149 165

2. 'Ärügat ha-hokmäh ufardes ha-m'zimmäh Das Problem der Zusdireibung Ubersetzung Zeilenkommentar

175 175 181 187

114

Schlußbemerkung

190

Literaturverzeichnis

192

Register I. Personen und Sachen II. Hebräische Termini III. Schriftstellen

210 210 222 224

ZUR UMSCHRIFT DES HEBRÄISCHEN

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Eingedeutschte Wörter wie Kabbala, Seraphim usf. sowie auch Eigennamen werden — vielfach gegen die Angaben der obigen Transkriptionsliste — in (einer) der gängigen Schreibweise(n) wiedergegeben.

ABKÜRZUNGEN

Gn Ex Lv Nm Dt Jos Ri Sm Kg

Js Jr Ez Hos Jo Am Ob Jon Mi

Genesis Exodus Leviticus Numeri Deuteronomium Josua Richter Samuel Könige Jesaja Jeremia Ezechiel Hosea Joel Arnos Obadja Jona Micha

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(Talmud) babli (Talmud) jeruSalmi

Nahum Habakuk Zephanja Haggai Sadiarja Maleadii Psalmen Sprüche Job Hoheslied Ruth Klagelieder Qohelet Esther Daniel Esra Nehemia Chronik

EINLEITUNG

Die jüdische Philosophie des Mittelalters bildet keinen abgetrennten, auf sidi selbst gestellten Bereich, viel weniger nodi als die christlich-lateinische Scholastik. Zwar gibt es eine nahezu kontinuierliche Folge jüdischer Philosophen. Doch die durch deren philosophische Positionen beschriebene Entwicklungslinie philosophischen Denkens erklärt sich bei weitem nicht in demselben Maße und Umfange aus sich selbst, wie dies etwa im islamisch-arabischen und im christlich-lateinischen Räume der Fall ist. Die ältere jüdische Philosophiegeschichtsschreibung hat zuweilen jüdische Philosophen als originelle Denker gefeiert, die es in Wahrheit nicht oder nicht in dem vorausgesetzten Umfange — waren, sondern nur aufgrund einseitiger Vergleidiung mit jüdisdien Vorläufern oder Zeitgenossen als solche erschienen. Trotzdem kann in Grenzen von einer Geschichte der Philosophie des Judentums gesprochen werden. Die philosophierenden Juden sind durchweg darauf bedacht, ihr Denken von jüdischen Voraussetzungen her oder doch zumindest in Auseinandersetzung mit ihnen zu entwickeln. Sie beziehen sich demgemäß mit Vorzug auf Gedanken und Schriften der jüdischen Tradition und jüdischer Autoren. Die Lebensquelle des Salomo ibn Gabirol stellt in dieser Hinsicht eine - wohl die prominenteste — Ausnahme dar. Aus der Häufigkeit und Nachdrücklichkeit, mit der auf diesen Umstand verwiesen wird, erhellt, wie sehr dieses Werk und damit sein Autor als Ausnahmeerscheinung empfunden wird. Wenn im folgenden ein Überblick über den jüdischen Neuplatonismus gegeben wird (indessen nicht ohne Verweise auf Parallelen in der islamischen Umwelt), so geschieht dies aufgrund der genannten Zusammenhänge. Diese, was den Bereich des jüdischen Neuplatonismus angeht, detailliert vor Augen zu führen, ist eines der Ziele, das mit dem Uberblick angestrebt wird. Zugleich jedoch, und dem gilt unser Hauptaugenmerk, geht es in und mit diesem Überblick darum, die Voraussetzung dafür zu schaffen, die Differenzen der im Hauptteil behandelten Philosopheme Ibn Ezras zu verwandten Positionen des innerjüdischen Raumes in den Blick zu bekommen, um auf diese Weise am Beispiel des diskutierten Autors die Unzulänglichkeit jüdisch-immanenter Betrachtung der philosophischen Lehren jüdischer Denker deutlich zu machen. Das philosophische Denken des Abraham ibn Ezra bringt, wie uns scheint, die Problematik solcher,

2

Einleitung

d. h. mehr oder weniger ausschließlich auf den jüdischen Bereich gerichteter Geschichtsbetrachtung besonders deutlich zum Vorschein. D i e wichtigsten Repräsentanten des jüdischen Neuplatonismus sind Isaak Israeli (ca. 8 5 0 - 9 5 0 ) , Salomo ibn Gabirol ( 1 0 2 1 / 2 2 - 1 0 5 3 / 5 8 ) , B a h j a ibn P a q u d a (um 1 0 8 0 ) , A b r a h a m bar H i j j a (gest. ca. 1 1 3 6 ) , Josef ibn Saddiq (gest. 1 1 4 9 ) und schließlich A b r a h a m ibn E z r a ( 1 0 8 9 - 1 1 6 4 ) . Isaak Israeli 1 w a r ein Zeitgenosse Al-Färäbis. W i e das Denken A l Färäbis so ist auch das seine in nicht unerheblichem M a ß e durch plotinisches Gedankengut bestimmt. Plotins Philosophie w a r in der islamischen W e l t des 10. Jahrhunderts insbesondere durch Kompilationen aus den Enneaden, die unter dem N a m e n Der griechische Weise verbreitet w a r e n 2 , und durch die sogenannte Theologie des Aristoteles bekannt 3 . N e b e n diesen Gedankengut Plotins vermittelnden Schriften haben im islamischen und jüdischen Neuplatonismus ferner das pseudo-empedokleische Buch von den fünf Substanzen4 und das proklische T e x t e enthaltende Buch von den Ursachen5 eine gewisse R o l l e gespielt 6 . 1 Ich orientiere mich im folgenden vornehmlich an der Arbeit von A. Altmann und S. M. Stern: Isaac Israeli, A Neoplatonic Philosopher of the Early Tenth Century, Oxford 1958, die Ubersetzungen der überlieferten Schriften Isaac Israelis enthält. Vgl. audi Jakob Guttmann, Die philosophischen Lehren des Isaak ben Salomon Israeli, Münster 1911. 2 Gesammelt v. F. Rosenthal, As-Sayfe al-Yünäm and, the Arabic Plotinus Source, in: Orientalia 21 (1952), 461-492; 22 (1953), 370-400; 24 (1955), 42-66. 3 Die gängige Version hat F. Dieterici ediert: Die sogenannte Theologie des Aristoteles, Leipzig 1882 und (deutsche Übersetzung) ebd. 1883 (Nachdruck: Hildesheim 1969); Auszüge aus der von A. Borisov entdeckten längeren Version, die dem lateinischen Text entspricht, hat Borisov in: Izvestiya Akademiyi Nauk SSSR 1933, 755768, veröffentlidit. S. audi: Plotini Opera, II: Enneades IV-V, Ed. P. Henry et H.-R. Sdrwyzer, ParisBrüssel 1959; der Band enthält in engl. Obers, v. G. Lewis die Plotiniana Arabica: Theologia quae dicitur Aristotelis, Epistola de scientia divina, Dicta Sapientis Graeci. 4 Die erhalten gebliebenen hebräischen Fragmente dieser Schrift s. D. Kaufmann, Studien über Salomon ibn Gabirol, Budapest 1899, 17-51. s O. Bardenhewer, Die pseudo-aristotelische Schrift Ueber das reine Gute, bekannt unter dem Namen Liber de causis, Freiburg 1882 (Nachdruck: Meisenheim o. J.). Das Problem der zeitlichen Ansetzung der arabischen Version der Schrift ist ungelöst. Auf arabistisdier Seite gilt durchweg das 9. oder 10. Jahrhundert als Entstehungszeit. (Siehe hierzu bes. H.-D. Saffrey, L'etat actuel des recherches sur le Liber de causis comme source de la metaphysique au moyen age, in: P. Wilpert - W. P. Eckert (Hrsg.), Die Metaphysik im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia II), Berlin 1963, 267-281, deutsche Ubers, v. M. Lakebrink: Der gegenwärtige Stand der Forschung zum „Liber de causis" als einer Quelle der Metaphysik des Mittelalters, in: W. Beierwaltes (Hrsg.), Piatonismus in der Philosophie des Mittelalters, Darmstadt 1969, 462-483). 6 Vgl. zu dem angeschnittenen Fragenkomplex die einschlägigen Abschnitte der bequemen Zusammenstellung von Ilona Opelt: Griechische Philosophie bei den Arabern, München 1970.

Einleitung

3

Das neuplatonische Denken begreift die Weltwirklichkeit im allgemeinen und entsprechend den Menschen im besonderen vom Gedanken der Emanation 7 her, deren Prozeß, vom absoluten Einen ausgehend, in seinem auf Selbstanschauung begründeten Fortgang durch den Dualismus von Form und Materie bestimmt die Phasen des Geistes, der Seele und der Natur durchläuft, um beim Vielen der irdischen Welt zu enden. Der an diesem Ende befindliche Mensch kann aufgrund seines die gesamte (emanierte) Wirklichkeit widerspiegelnden Wesens durch wachsende Selbsterkenntnis vom Ende zum Anfang zurückfinden, dem er seiner höchsten Bestimmung, dem Geiste nach immer schon und ursprünglich zugehört. Dieses Schema liegt auch den Spekulationen Isaak Israelis zugrunde. Daß er neben dem Begriff der Emanation, den er auf die Welt der geistigen Substanzen eingeschränkt wissen will, noch den der Erschaffung aus Nichts und der Erschaffung im Sinne der Hervorbringung von etwas aus etwas schon Vorliegendem, ersteren im Hinblick auf die allerersten Substanzen - Materie und Form sowie (einschlußweise) den durch diese konstituierten Intellekt - , letzteren im Hinblick auf die körperlichen Substanzen, kennt und von dem der Emanation unterscheidet8, ist für sein Denken als Ganzes weniger entscheidend, als es zunächst den Anschein hat. Das für den Emanationsgedanken so zentrale Moment der vermittelten Entstehung der Welten, Wesen und Dinge - mit Ausnahme des ersten Emanierten oder Geschaffenen — wird dadurch nicht berührt. Nicht viel anders steht es mit dem für die Emanationsvorstellung ebenfalls zentralen Moment der notwendigen Weltentstehung. Der Gedanke der creatio ex nihilo der allerersten Substanzen käme diesbezüglich erst wirklich zum Tragen, wenn ihm klar und deutlich der Begriff eines zum Schaffen oder Nichtschaffen frei sich entscheidenden göttlichen Willens entspräche. Das ist jedoch nicht der Fall®. Besondere Beachtung verdient im Zusammenhang dieser Betrachtung Israelis Position in der Frage der allerersten Substanzen. Sie ist bemerkenswert sowohl in Ansehung des Zieles, die Sonderstellung Ibn Ezras 7 Wer - H . Dörrie folgend (Emanation, in: Parusia, Festgabe für Joh. Hirschberger, Hrsg. K . Flasch, Frankfurt/M. 1965, 119-141, bes. 136f.) - in diesem Kontext den Terminus Emanation vermieden wissen möchte, ersetze ihn durch πρόοδος (ο. ä.). Mit Rücksicht auf den uns hier vor allem interessierenden (mittelalterlichen jüdischen) Neuplatonismus ist der Ausdruck Emanation durchaus gerechtfertigt. Salomo ibn Gabirol ζ. B. nennt sein Hauptwerk Fons vitae. Im christlichen Bereich bedient sich zumindest Johannes Scotus Eriugena nicht nur beiläufig der Quell- bzw. Ausflußsymbolik (vgl. T. Gregory, Vom Einen zum Vielen, in: Beierwaltes, Piatonismus in der Philosophie des Mittelalters, 343-365, bes. 364; Zitat aus: De divisione naturae, III, 4, Patrologiae cursus completus (Migne), Series Latina, T. 122, Ed. H . J . Floss, Paris 1853, 632). 8 9

Altmann-Stern, Isaac Israeli, 171ff. Vgl. Altmann-Stern, Isaac Israeli, 154f.

4

Einleitung

innerhalb des jüdischen Neuplatonismus in den Blick zu bekommen, wie auch insofern, als von anderer Seite, und zwar von Salomo ibn Gabirol, an sie angeknüpft worden ist. In der obigen kurzen Charakterisierung neuplatonischen Philosophierens wurde gesagt, in diesem Denken erscheine der Entstehungsprozeß der Seinshierarchie durch den Dualismus von Form und Materie bestimmt. Dies trifft auch für jene Denker zu, die die erste(n) Substanz(en) als immaterielle(s) Wesen begreifen. Bei Ibn Ezra ζ. B. tritt dies schon in der Terminologie klar zutage. Er nennt die Wesen der obersten Welt wahre Formen — süröt ' ä mät. Indessen soll hierauf, um den folgenden Untersuchungen nicht vorzugreifen, an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Im System Isaak Israelis ist dieser Dualismus, der das - zumindest logisch - Umgreifende der Seinshierarchie ist, auch das ontologisch Frühere und rangmäßig Höhere. Materie und Form (oder Weisheit) stehen an der Spitze der Weltwirklichkeit. Ihre Einheit bildet den Intellekt, dem dann die Seele und die Natur folgen. Im Buch der Substanzen schreibt Israeli: „As the intellect is composed of matter and form it is clear that matter and form precede it by nature; thus it is clear and manifest that the first of created things are two simple substances and that the intellect is composed of them" 10 . Noch ein zweites Moment der Lehre Israelis ist im Hinblick auf die folgende Darstellung der Philosophie Ibn Ezras beachtenswert. Der Aufstieg der geistigen Seele, der sich durch wachsende Selbsterkenntnis vollzieht, endet an der Grenze der geschaffenen Welt, auf der Stufe der ersten Substanzen. Das höchste dem menschlichen Geiste erreichbare Ziel ist die Vereinigung mit der ersten Form, dem unmittelbar von Gott erschaffenen Licht. Auffälligerweise ist in diesem Zusammenhang nicht von Gotteserkenntnis die Rede. „Israeli does not assert", schreibt Altmann11, „that self-knowledge finds its consummation in the knowledge of God". Dies ist im Umkreis des jüdischen und islamischen Neuplatonismus keineswegs selbstverständlich. Der im übrigen vielzitierte islamische Sprach: „Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn", wird von Isaak Israeli — kaum zufällig — nicht verwandt. Schließlich sei angemerkt, daß Israeli nach dem Vorgange des Proklos drei Stadien der Erhebung der Seele unterscheidet, nämlich das Stadium der Reinigung, der Erleuchtung (durch das Licht des Intellekts) und der Vereinigung (mit der ersten Form)12. Dieses Schema ist über Pseudo-

1 0 Altmann-Stern, Isaac Israeli, 88, fol. 8 r ; s. audi ebd. 159ff., wo die Frage diskutiert wird. 1 1 Altmann-Stern, Isaac Israeli, 207f. 1 2 Vgl. Altmann-Stern, Isaac Israeli, 185ff.

5

Einleitung

Dionysius auch in die christliche Mystik gelangt. Dort pflegt von einem dreifachen Wege die Rede zu sein, von der via purgativa, der via illuminativa und der via unitiva. Der zweifellos bedeutendste der jüdischen Neuplatoniker ist Salomo ben Jehuda ibn Gabirol, im lateinischen Mittelalter unter dem Namen Avencebrol und Avicebron bekannt. Er lebte 1021/22-1053/58 im damals islamischen Spanien. Neben den bereits im Rahmen der Behandlung Isaak Israelis genannten neuplatonischen Schriften dürften insbesondere die Briefe der lauteren Brüder (Rasä'il Ihwän al-Safä') sowie auch die Lehre Ibn Masarras von nicht unbedeutendem Einfluß auf sein Denken gewesen sein13. Die Enzyklopädie der „Lauteren Brüder" ist um die Mitte des 10. Jahrhunderts in Basra entstanden und zu Beginn des 11. Jahrhunderts in Spanien eingeführt worden. Wahrscheinlich hat Ibn Gabirol auch die oder einige Schriften Isaak Israelis gekannt14. Das philosophische Hauptwerk Ibn Gabirols ist die Lebensquelle. Vom Autor in arabischer Sprache abgefaßt, liegt sie uns jedoch nur in der lateinischen Ubersetzung, die Johannes Hispanus und Dominicus Gundissalinus hergestellt haben15, sowie — auszugsweise — in der hebräischen Ubersetzung des Schem-Tob ibn Falaqera16 vor. Von den Dichtungen Ibn Gabirols ist insbesondere die Königskrone - Katar malküt philosophisch bedeutsam17. Die Sekundärliteratur zur Philosophie Ibn Gabirols ist außerordentlich umfangreich. Außer den bereits zitierten Arbeiten verdient besonders die ältere Gesamtdarstellung Jakob Guttmanns Die Philosophie des Solomon ibn Gabirol18 Erwähnung. Das beherrschende Thema des philosophischen Hauptwerkes Ibn Gabirols ist die Lehre von Materie und Form. G. Vajda bezeichnet sie als „clef 13

Siehe J . Schlanger, La philosophic

de Salomon

Zu der Arbeit von M. Asin Palacios: Abenmasarra jia hispano-musulmana

ihn Gabirol,

Leiden 1968, 94ff.

y su escuela, Origines

(Obras escogidas I), Madrid

2

de la filoso-

1 9 4 6 , vgl. Sdilanger, a. a. O.,

85, Anm. 14

Vgl. Schlanger, La philosophic

de Salomon

ihn Gabirol,

9 7 : „On peut supposer

sans trop s'avancer qu'Ibn Gabirol a pu avoir connaissance des traites philosophiques d'Israeli". is Avencebrolis Johanne

Hispano

i« Liqqütim

(Ihn

Gabirol)

et Dominico min Sefär

m'qor

Ubers.) in: S. Münk, Melanges

Fons

vitae,

Gundissalino,

ex Arabico

in Latinum

translatus

ab

Ed. Cl. Baeumker, Münster 1 8 9 2 - 1 8 9 5 .

hajjim - Extraits

de philosophie

de La source

de vie, (mit franz.

juive et arabe, Paris 1859 (Nachdrucke

1927 und 1955). 17

Hebr. Originaltext in: H . Schirmann, Has-siräh

I, Jerusalem -

Tel-Aviv

mentar: Joh. Maier, Die Judaica 18 (1962), 1 - 5 5 . ι» Göttingen 1889.

2

hä-'ibrit

biSfäradübap-Provence,

1961, 2 5 7 - 2 8 5 ; deutsche Übers, mit Einleitung und K o m „Königskrone"

des Salomo

ben

Jehuda

ibn Gabirol,

in:

6

Einleitung

de voüte" seines Systems 19 . Ähnlich wie für Isaak Israeli steht auch für Ibn Gabirol die Zweiheit von Materie und Form an der Spitze der Weltwirklichkeit. Indessen bildet nach ihm — anders als bei Isaak Israeli diese Zweiheit als solche keine selbständige Seinsstufe. Sie ist in Wahrheit erst in ihrer zum Intellekt geeinten Einheit. Abweichend von Plotin - und auch, wie schon hier vermerkt sei, von Ibn Ezra - lehrt Ibn Gabirol die Einheit alles materiellen Seins in einer Materie. Diese ist also universale Materie im strengen Sinne. Wird Materialität als von sich aus auf Körperlichkeit hin angelegt begriffen und demgemäß Körperlichkeit als niedere Stufe der Materialität aufgefaßt, so ist diese Position problematisch. Doch das geschieht nicht. Der Begriff der Materie bezeichnet im System Ibn Gabirols das (die Form) Tragende. Die Materie ist in bezug auf Geistigkeit oder Körperlichkeit prinzipiell indifferentes Substrat. Die Materie der Körperlichkeit ist von sich aus unkörperlich und damit sinnlich nicht wahrnehmbar. Die Körperwelt, d. h. die Welt des sinnlich Wahrnehmbaren, erscheint erst durch Hinzutreten der Form der Körperlichkeit zur Materie der Körperlichkeit. Doch wie kann dies sein? Wird damit die Problematik nicht lediglich von der Seite der Materie auf die Seite der Form verlegt? Wie die universale Materie die Einheit alles Materiellen ist, so ist die universale Form die Einheit alles Formalen. Wie kann formales Sein, dessen höchste (geschaffene) Einheit die universale Form, d. h. die Form des Intellekts ist, zum Prinzip der Körperlichkeit werden? Zunächst ist festzuhalten, daß alle Besonderung von Seiten der Form herkommt. Das formale Sein ist von sich aus das Sein des Besonderen. Der Grund des Zusammenhalts dieses Seins in der universalen Form des Intellekts ist die universale Materie. Ohne sie würde es ins Nichts zerfließen. Sie trägt es. Die Materie ist somit Einheitsgrund der Vielheit der Besonderungen. Damit natürlich auch Grund der Vielheit, wie immer wieder betont wird. Anders ist das Verhältnis der Form zu Einheit und Vielheit. Sie stiftet die Einheit des (jeweils) Besonderen, ist somit nicht eigentlich der Grund der Vielheit (wiewohl solche Ausdrucksweise richtig verstanden werden kann), sondern das Prinzip ihrer Entfaltung. Geschieht somit die Besonderung des Seienden durch (Uber-)Formung, so daß das jeweils Höhere die Materie, d. h. der Träger der Form des jeweils Niedrigeren ist, so muß auch das Sein des Körpers, welches ein besonderes Sein ist, zum Prinzip seiner Besonderheit eine Form haben, die Form der Körperlichkeit. Wenn der Intellekt als Geist begriffen wird und zugleich alles formale Sein in der universalen Form des Intellekts einbehalten bleiben soll, kann indessen die Form der Körperlichkeit ebensowenig wie die Materie der Körperlichkeit selber schon Körper sein. Die Körperwelt tritt somit 19

Introduction a la pensee juive du moyen age, Paris 1947, 77.

Einleitung

7

erst als Resultat der Vereinigung dieser Form mit dieser Materie hervor. Die unkörperlidie Materie der Körperwelt steht auf der untersten Stufe der intelligiblen Welt. Sie ist keiner anderen Uberformung mehr fähig als der durch die Form der Körperlichkeit. Der weitertreibende Prozeß der Formung oder Besonderung muß also in dieser Phase die sinnlich wahrnehmbare Welt hervorbringen. An dieser Stelle schlägt der Emanationsprozeß in das Gegenteil dessen um, wovon er seinen Ausgang genommen hat. Die Weise, in der hier die Problematik des Geist-Körper-Dualismus hervortritt, verdient Beachtung. Das Erscheinen der Körperwelt ist nicht einfach die Folge zunehmender Materialisierung, sondern ebenso zunehmender Formalisierung20, wobei nicht mehr gefragt werden kann, was das letztlich Entscheidende ist. Daß die Materie der Körperwelt nur noch mit der Form der Körperlichkeit überformt werden kann, kommt ihr ja nicht aufgrund ihres Materieseins als solchen, sondern deswegen zu, weil sie die Materie einer ganz bestimmten Stufe des Emanationsprozesses ist. Es gibt somit in der Sicht Gabirols keine eindeutige Zuordnung von Geist und Form einerseits sowie von Körper und Materie andererseits. Nichtsdestoweniger ist wie in anderen neuplatonischen Systemen so auch in dem seinen die vertikale Ordnung des Seins vom Geist-KörperDualismus her konzipiert. Die Stufenfolge wird absteigend als Entgeistigung und Verkörperlichung (oder fortschreitende Annäherung an das Körperliche) und aufsteigend als Entkörperlichung und Vergeistigung aufgefaßt. Dem Geist-Körper-Dualismus in der angezeigten Weise nicht zugeordnet, spielt dagegen der Materie-Form-Dualismus eine sehr andere Rolle. Wird vom Geist-Körper-Dualismus her die Seinshierarchie begriffen, so vom Materie-Form-Dualismus her die allen Seinsstufen gemeinsame einheitliche Seins struktur. Diese Herausarbeitung des Materie-Form-Dualismus als einer eigenen von der des Geist-Körper-Dualismus in der skizzierten Weise zu scheidenden Dimension und die dadurch erreichte Aufhellung des Gedankens einer einheitlichen, die gesamte Seinshierarchie bestimmenden Seinsstruktur dürfte als eine der bedeutendsten Leistungen des philosophischen Denkens Ibn Gabirols zu betrachten sein. In Anknüpfung an diese Klärung, d. h. aufgrund dessen, daß ihm der Materie-Form-Dualismus eindeutig und konsequent als Grundstruktur alles Seins gilt, kann Gabirol Materie und Form in einer Weise auf Gott selbst zurückführen, die anders als äußerst befremdlich, wenn nicht gar absurd erscheinen müßte. Gegen Ende seines umfangreichen Werkes lehrt er, die Materie sei vom Wesen Gottes, die Form von der Eigenschaft 20

„unde cum tu consideraueris formam hoc modo, uidebis earn quod incipit spiritualis perfecta, et post modum consequenter crassescit, donec peruenit ad infimum extremum" (Fons vitae, Ed. Baeumker, IV 18; 251,17-20).

2 Greive: Neuplatonismus

8

Einleitung

dieses Wesens, d. h. von der Weisheit und Einheit (bzw. vom göttlichen Willen) geschaffen 21 . Der seinsstrukturbestimmende Dualismus von Materie und Form ist also in Gott, dem Quell alles Seins, schon vorgebildet. F. Brunner schreibt durchaus zu Recht: „Cette distinction [zwischen Wesen und Eigenschaft oder Willen in Gott] est analogue ä celle que nous faisons entre la matiere et la forme" 2 2 . Obwohl in Gott Wesen und Eigenschaft letztlidi eins sind, ist diese Zweiheit nicht nur eine Sache des Hinblicks. Als soldie könnte sie nicht der Grund der Materie-Form-Struktur des geschaffenen Seins sein. (In den folgenden Ausführungen zur Willenslehre Gabirols wird dies noch deutlicher werden.) Das Überraschende an der skizzierten Konzeption ist der überragende Rang, der in ihr der Materie zukommt. Uberspitzt und insofern verzeichnend, aber dennoch die Tendenz des gabirolschen Denkens in ein helles Licht rückend, formuliert F. Brunner: „la forme, qui etait cause et substance, realite en soi et Dieu meme, a cede son rang ä la mati£re, devenue ä son tour substance, realite superieure et Dieu meme" 23 . Möglicherweise ist diese Auffassung mit jener jüdisch-traditionellen Vorstellung in Zusammenhang zu bringen, nach welcher Gott alles trägt und erhält 24 , ein Gedanke, der auch in den Gedichten Gabirols eine Rolle spielt 2S . Auf derselben Linie liegt die Vorstellung von Gott als dem „Ort" der Welt. Im Sefär Jesiräh heißt es: „Gott ist der Ort der Welt, die Welt jedodi nicht sein Ort" 2 6 . Entsprechend stellt Ibn Gabirol den ersten Wirkenden, d. h. Gott, als „unendlichen Ort" 2 7 und konsequent die universale Materie als „Ort aller Dinge" 2 8 vor. Ein vieldiskutiertes Thema der Philosophie Ibn Gabirols ist seine Lehre vom göttlichen Willen. Sie bringt zur Klarheit, daß die innergöttlidie „Struktur" (wenn der Ausdruck erlaubt ist) von Wesen und Eigenschaft nicht nur eine Sache geschöpflichen Denkens und Sagens sein kann. 21 Fons vitae, E d . Baeumker, V 42; 333,4ff. und 335,4f. An anderen - früheren Stellen wird zwar die Materie und die Form auf den göttlichen Willen zurückgeführt, doch dürfte die oben wiedergegebene Lehre das letzte Wort Gabirols zu dieser Frage sein. 2 2 F. Brunner, La doctrine de la matiere chez Avicebron, in: Revue de thiologie et de philosophie 6 (1956), 274. 23 La doctrine de la matiere, 276. 2 4 F. Brunner, Platonisme et Aristotelisme, Löwen-Paris 1965, 59. 2 5 Vgl. ζ. B. „'Ähabtikä" und „Soken 'ad me'äz", veröffentlicht in: Η . N . Bialik und J . H . Rawnitzki (Hrsg.), Sire Salomo ben Jehuda ibn Gabirol, Tel-Aviv 2 1 9 2 7 1932, I, 112 und III, 56f. 2 6 Vgl. Brunner, La doctrine de la matiere, 275. 2 7 „factor primus est locus infinitus" (Fons vitae, Ed. Baeumker, III 8; 95,28). 2 8 „Imaginare materiam uniuersalem per se tamquam rem, quae est in ultimo fine eorum quae sunt posita, in ultima extremitate substantiarum sitam, sicut locum omnium rerum, scilicet ex intellectu sustinentis". (Fons vitae, Ed. Baeumker, V 4; 262,18-21)

Einleitung

9

(Es sei denn, man interpretierte die ganze Willenslehre in diesem Sinne; doch damit würde die gabirolsche Konzeption von der geschöpflichen Wirklichkeit unverständlich.) Die Differenz von Wesen und Eigenschaft in Gott ist die Bedingung der Möglichkeit des weltbildenden Wirkens Gottes. Gottes weltbildendes Wirken geht von den göttlichen Eigenschaften Weisheit und Einheit bzw. vom göttlichen Willen aus29. Dieser Wille ist göttlich im strengen Sinne, Gott selbst, nicht lediglich, wie Scholem schreibt, „unendlich nah mit ihm verbunden" 30 . Im Hinblick auf das Wesen des Willens ist dies unproblematisch. Der Wille ist seinem Wesen nach unendlich. Nichts spricht dagegen, daß dieses unendliche Wesen mit dem unendlichen Wesen Gottes identisch sei31. Wie aber verhält es sich mit dem weltbildenden Wirken des Willens, das, da es Endliches wirkt, selber endlich sein muß? Ibn Gabirol spricht von einer „separatio" des (wirkenden) Willens von der Einheit Gottes 32 . Dies kann jedoch nicht besagen, daß das Wirken des Willens etwas Für-sich-selbst-Seiendes ist. Dann wäre es nicht mehr sein Wirken, sondern schon sein Bewirktes. Ein und derselbe Wille ist endlich sowohl wie unendlich, endlich nach dem, was er handelnd bewirkt, unendlich nach dem, was er wesentlich, ist33. Gilt zugleich, daß dies sein unendliches Wesen mit dem Wesen Gottes identisch ist, so kann die Rede von der Trennung des wirkenden Willens von der Einheit Gottes nicht anders denn als Hinweis auf eine innergöttliche Differenz verstanden werden. Ibn Gabirol verlegt somit in seiner Lehre vom göttlichen Willen den Ubergang vom Unendlichen zum Endlichen in Gott. Dies ist eine im Umkreis des Neuplatonismus ungewöhnliche Position. Wie aus dem Gesagten erhellt, ist das Kernanliegen der Willenslehre die Vermittlung des Unendlichen mit dem Endlichen. Daß Gabirol diese Problematik als Problematik des (göttlichen) Willens begreift und behandelt, liegt an dem engen Bezug von Willen und Wirken. Die biblische Gottesauffassung, nach welcher Gott zum Handeln und Nichthandeln frei sich entscheidet, holt diese Willenslehre nicht oder doch nur im Ansatz ein. Die Ausführungen lassen erkennen, daß Ibn Gabirol in der Frage der Gotteserkenntnis entschieden weniger streng urteilt als Isaak Israeli. Er kennt eine „scientia de saeculo deitatis", deren Zugangspforte die „scien2 9 Zu dem Verhältnis von Weisheit und Einheit Gottes zum göttlichen Willen s. H. Greive, Die Weisheit Gottes im System Salomo ibn Gabirols, in: Judaica 23 (1968), 245-251. 30 Das Ringen zwischen dem biblischen Gott und dem Gott Plotins in der alten Kabbala, in: ders., Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt/M. 1970, 9-52, s. 37. 31 Vgl. Fons vitae, Ed. Baeumker, IV 19; 253,4f. und V 37; 325,22-24. 32 Fons vitae, Ed. Baeumker, V 40; 329,27-330,1. 33 „Voluntas... finita est secundum effectum et non est finita secundum essentiam" (Fons vitae, Ed. Baeumker, III 57; 205,23f.); s. auch a. a. Ο. IV 19; 252,18-253,4.

2

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Einleitung

tia de voluntate" ist34. Sie betrifft zwar nur den wirkenden Gott, aber doch in Wahrheit Gott selbst. Denn der Gott des wirkend sich zeigenden Willens und der Gott des verborgenen Wesens ist letztlich einer. Um 1080 entstand in Spanien eine durch neuplatonische Vorstellungen geprägte Schrift, die im Unterschied zur Lebensquelle Ibn Gabirols im jüdischen Räume viel Interesse und weite Verbreitung gefunden hat. Es ist Bahja ibn Paqudas Anleitung zu den Herzenspflichten35. Die Herzenspflichten sind, wie schon der Titel erkennen läßt, nicht eigentlich ein philosophisches Werk. Julius Guttmann spricht von einem „Erbauungsbuch", G. Vajda von einem „Handbuch des inneren Lebens"36. Bähja schreibt weniger aus einem spekulativen denn aus einem religiös-moralischen Interesse heraus. Dennoch ist seine Schrift mehr als nur ein Moraltraktat. Sie dürfte nicht unerheblich dazu beigetragen haben, weitere, insbesondere stärker traditionsgebundene Kreise des Judentums mit neuplatonischem Gedankengut bekannt und vertraut zu machen. Bahjas Thema ist Gott und die Seele. Es geht ihm um die rechte Gesinnung des Herzens, durch die das menschliche Handeln erst wahrhaft Gott wohlgefällig wird. Er entwickelt seine Vorstellungen im Rahmen einer neuplatonischen Weltsicht am Leitfaden asketischer und mystischer Lehren des Islam seiner Zeit, und zwar so, daß die religiöse Tradition jüdischer Gesetzesfrömmigkeit mehr oder weniger bruchlos darin eingeht. Seinem Thema entsprechend tritt die kosmologische Seite neuplatonischen Denkens, die Lehre von dem hierarchischen Aufbau der Welt und den zwischen Gott und der irdischen Sphäre vermittelnden Wesen gegenüber der anthropologischen Seite zurück. Freilich ist dieses von jenem nicht gänzlich zu trennen, kann vom menschlichen Mikrokosmos37 nur im Hinblick auf den Makrokosmos die Rede sein. Doch Bahjas Aufmerksamkeit wendet sich keineswegs gleichmäßig beiden zu. Sein Interesse gilt vor allem dem Menschen in seinem Verhältnis zu Gott. Die Welt ist zusammengesetzt. Folglich muß es ein Wesen geben, das ihr vorausgeht und sie in ihrer Zusammensetzung geschaffen hat. Zugleich verrät ihr planvoller Aufbau die planende Weisheit des Schöpfers. Als Ursprung der Vielfalt und Veränderlichkeit ist dieser Schöpfer notwendig einer und ewig. 34 Vgl. Fons vitae, Ed. Baeumker, V 43; 338,5ff. 35 Al-hidäja 'ilä farä'id al-qulüb, Hrsg. A. S. Yahuda, Leiden 1912; s. ferner: Sefär häbot hal-l'bäbot b'tirgümo säl Jehuda ibn Tibbon, Hrsg. A. Zifroni und J. Toporowsky, Tel-Aviv 2 1959, und: Duties of the Heart, Translated from the Arabic into Hebrew by Jehuda Ibn Tibbon, With English Translation by M. Hyamson, New York 1925-1927 (5 Bde.), Neudruck: Jerusalem 1965 (2 Bde.). 36 Vgl. Julius Guttmann, Die Philosophie des Judentums, Mündien 1933, 119, und Vajda, Introduction, 85. 37 Vgl. G. Vajda, La theologie ascetique de Bahya ibn Paquda, Paris 1947, 25.

Einleitung

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Das so gewonnene Wissen von Gott ist jedoch wesentlich unvollkommen. Zwar sind Einheit, Existenz und Ewigkeit Wesensattribute Gottes. Sie haben indessen nur als negative Bestimmungen Geltung. Zutiefst ist Gottes Wesen dem menschlichen Denken verborgen. Gott ist über alles geschaffene Sein schlechthin erhaben. Was ist demgegenüber der Mensch? Er ist in allem und jedem dem erhabenen Gotte verpfliditet und findet seine wahre Erfüllung, indem er dieser Verpflichtung entspricht. Wie dies geschehen kann und soll, ergibt sich aus seiner Stellung im Ganzen der Welt. Der Mensch ist aus Leib und Seele zusammengesetzt. Dieser wiederum eignen zwei sich widerstreitende Fähigkeiten: die Konkupiszenz und die Vernunft. Die Aufgabe der Konkupiszenz ist die Erhaltung des Individuums und der irdischen Ordnung. Die Vernunft dagegen wirkt auf Abkehr und Lösung vom leiblich-irdischen Leben hin. Die Seele hat dem Leib gegenüber eine gottgewollte Aufgabe zu erfüllen, hierin jedoch als geistiges Wesen nicht ihre letzte Bestimmung. Alles kommt für sie darauf an, über der Erfüllung ihrer Aufgabe gegenüber dem Leib nicht auf ihr geistiges Wesen zu vergessen und das ihr bestimmte Ziel zu verfehlen. Als geistigem Wesen ist es ihr aufgetragen, sich frei von den fesselnden Banden des Leibes zum Rang der Erwählten zu erheben und im himmlischen Lichte zu weilen, um so - den Engeln ähnlich - dem erhabenen Gotte zu dienen. Dieser Gottesdienst besteht in dankbarer Anerkennung der Wohltaten Gottes, die sich in völliger Unterwerfung unter den göttlichen Willen, in selbstvergessener Hingabe an Gott und schließlich - auf der höchsten Stufe — in selbstloser Gottesliebe zu äußern hat. Um dahin zu gelangen, ist demütige Selbsteinschätzung, gewissenhafte Selbstüberwachung und, wenn es zum Fehltritt gekommen ist, Bußfertigkeit vonnöten. Der Führer der Seele auf diesem Wege des Aufstiegs ist die Vernunft. Diese behält in der bahjaschen Konzeption trotz aller Wendung zum Individuellen ein überindividuelles Moment, das an die neuplatonische Nous-Vorstellung erinnert 38 . Die Vernunft hat indessen gegenüber der Konkupiszenz einen schweren Stand. Deshalb hat Gott ihr in seinem geoffenbarten Gesetz eine Hilfe an die Hand gegeben. Vernunft und Gesetz gehören also zusammen. Sie weisen im Grunde denselben Weg. Beide sind dazu da, der Seele zu helfen, sich aus der Verfallenheit an die leiblich-sinnliche Welt zur Höhe reiner Liebe zu Gott zu erheben. 38 Vajda schreibt: „la raison n'est pas pour lui uniquement une faculte residant dans l'homme; eile est aussi et surtout le h£raut du monde spirituel, le guide de Γ äme vers ses veritables destinies". {La theologie ascetique de Bahya ihn Paquda, 139) Vgl. ferner G. Vajda, Le dialogue de l'äme et de la raison dans les „Devoirs des Coeurs' de Bahya ihn Paquda, in: Revue des itudes juives 162 (1938), 39-104; und ders., Introduction, 90f.

12

Einleitung

Aus dem Gesagten erhellt, daß in Bahjas Sicht - sehr anders als etwa bei Ibn Gabirol oder später bei Ibn Ezra - alles, was zwischen Gott und der Seele steht, von höchstens sekundärer Bedeutung, ja letztlich nichtig ist. An Wissen um die Dinge und Wesen der Welt ist nur insofern gelegen, als dies zur Erkenntnis des göttlichen Willens verhilft. Das aber ist nur in Grenzen der Fall. Bahjas Charakterisierung des höchsten der menschlichen Seele erreichbaren Zieles, der selbstlosen Gottesliebe, trägt wesentlich jüdisch-traditionelles Gepräge. „L'amour de Dieu", schreibt Vajda, „est, dans sa theologie, tout au plus la somme des degres de perfections precedement decrits, mais ne les depasse guere. L' ,amoureux' de Dieu, tel qu'il en trace le portrait ideal, se tient a distance respectueuse de Pobjet de l'amour" 39 . Dies steht in Ubereinstimmung mit der zuvor skizzierten Position in der Frage der Gotteserkenntnis. Gott ist über alles menschlidie Sinnen und Trachten erhaben. Der Mensch kann ihn weder erkennend schauen noch liebend umfangen, ihm lediglich — alles andere hingebend - liebevoll zugetan sein. Trotz mancher Gemeinsamkeiten in Einzelfragen ist Bahja ibn Paqudas Denken vom Denken des Ibn Ezra grundlegend verschieden. Abraham bar Hijja, etwa eine Generation jünger als Bahja ibn Paquda, war als Astrologe, Astronom und Mathematiker ungleich bedeutender denn als Philosoph. Im Hinblick auf das philosophische Denken Abraham ibn Ezras, dessen älterer Zeitgenosse er war, sind seine philosophischen Lehren indessen interessant genug, um wenigstens in ihren wichtigsten Zügen kurz erörtert zu werden. Bar Hijja hat seine philosophischen Anschauungen vornehmlich in zwei Werken niedergelegt, im Sefär hägjon han-näfäs40 und im Sefär m'gillat ha-m'galläb41. Ersteres stellt eine Folge von Betrachtungen über biblische Texte, u. a. über die prophetischen Lesungen des Versöhnungstages, letzteres einen messianologischen Traktat dar. Die Arbeiten sind also nicht als philosophische Schriften im engeren Sinne anzusehen, enthalten aber dennoch eine Fülle philosophischen Materials. Das Buch M'gillat ha-m'galläb dürfte zwischen 1120 und 1129 verfaßt worden sein, das Buch Hägjon han-näfäs wahrscheinlich früher. Die Kosmologie Abraham bar Hijjas ist von der sowohl Isaak Israelis wie auch Ibn Gabirols verschieden. Bar Hijja unterscheidet zwei Arten oder Stufen formellen und zwei Arten oder Stufen materiellen Seins. 39

Vajda, Introduction,

40

Hrsg. E . Freimann, Leipzig 1860 (Nachdruck: Jerusalem 1967). Vgl. auch: Abra-

93.

ham bar Hayya, The Meditation

of the Sad Soul, Translated and with an Introduction

by G. Wigoder, New Y o r k 1969. 41

1968).

Hrsg. Α. Poznanski und Jul. Guttmann, Berlin 1924 (Nachdruck:

Jerusalem

Einleitung

13

Die Form-süräh ist teilweise kompakt und versdilossen-s e tümäh wah 1 tümäh und teilweise hohl und offen - h a lüläh üf e tühäh, die Materie hijjuli teilweise lauter und rein - zak w e näqi und teilweise befleckt: Schmutz und Abschaum - tinöfät üs e mänm. Man beachte die besonders hinsichtlich der Form ungewöhnliche Terminologie! Die kompakte und verschlossene Form ist die Form der oberen Welt, d. h. der Engel und Seelen. Wie ihr Name anzeigt, vereinigt sie sich nicht mit der Materie. Durch die kraft dieser höchsten Form bewirkte Verbindung der hohlen und offenen Form mit der reinen Materie entstehen die trotz ihrer Zusammensetzung unveränderlichen Himmelskörper, durch die Verbindung der hohlen und offenen Form mit der befleckten Materie die veränderlichen Körper der irdischen Welt42. Nicht nur das Sein der Form, auch das der Materie scheint letztlich unmittelbar auf Gott selbst zurückzugehen. Form und Materie bestanden schon im göttlichen Denken, bevor sie ins Dasein traten 43 . Die Welt ist nicht ewig. Sie wurde durch Gottes Wort oder Willen (wie besonders in der messianologischen Schrift deutlich wird) ins Dasein gerufen, als Gott es gefiel44. Die in der messianologischen Schrift vorgetragene Lehre von den fünf Lichtwelten, deren drei untere — 'olam ham-maddä', 'olam han-näfäs, 'olam haj-j'siräh - der neuplatonischen Hypostasentriade Geist-SeeleNatur entsprechen, deren zwei obere — 'olam nuräni und 'olam rabr e bänüt - indessen schwierig zu deuten sind (sie werden theologisch bestimmt), kann und braucht hier nicht näher erörtert zu werden45. Welt und Mensch entsprechen einander. Der Mensch kann somit durch Selbsterkenntnis zur Erkenntnis des Universums und so der Weisheit Gottes gelangen46. Abraham bar Hijja folgt hierin gängigen Vorstellungen. Nicht anders in seiner Seelenlehre. Er unterscheidet — bald an Piaton, bald an Aristoteles anknüpfend - einerseits zwischen der konkupisziblen, der animalischen und der vernünftigen Seele47 und andererseits zwischen der vegetativen, der bewegenden und der vernünftigen Seele48. Die verschiedenen Einteilungen gelten ihm, wie es scheint, als gleichbedeutend. 42

Hägjon han-näfäs, Ed. Freimann, 2a~b. Die Lehre von Materie und Form findet sich nach Abraham bar Hijja sdion in der Torah. Im Schöpfungsberidit soll tohü die Materie und bohü die Form bezeichnen. (Hägjon han-näfäs, Ed. Freimann, 2b-3a). 44 Hägjon han-näfäs, Ed. Freimann, 2a, s. audi 2b. 45 Vgl. hierzu G. Vajda, Les idees theologiques et philosophiques d'Abraham bar Hiyya, in: Archives d'histoire doctrinale et littiraire du moyen age 21 ji> b'dm ilS npswt h'ht npl hswmh' wh'njn k j kmw SjiS bmjnj hsmhjm whdi'jm wkl '5 kh qr' 2mw npS 'w mh JStrsh SSjgdl gSm h?mh wjgbjhnw wjrhjbnw kn ji> b'dm wz't hnp? mtgbrt 'd zmn qswb wz't hnpi> hj' hmtVh whjrjkh l'kwl. whnp? hinjt npi> hbhmh whj' b'lt hhrgswt hm?h. wb'lt htnwdh hhwlkt mmqwm lmqwm wz't gm hj' b'dm wl'dm lbdw ηρϊ iljsjt hj' hnqr't ni>mh hj' hmdbrt hmkrt bjn 'mt wSqr b'lt hhkmh whnpi hSnjt hj' 'ms'jt bjn Stj hnpiSwt wh'lhjm nt' Ikl b'dm hw' hnqr' lb lml't hps kl ηρϊ b'tw . . ." "p ShiliS np&wt nqr'wt bsm 'hd b'bwr ht'hdt k j hnSmh tqr' rwh wnps lkn 'ijm imwt Ihm lm'n 1' "rjk btw'r kl 'lid wjhjh him hnp? hmt'wh l'kwl wlimwh wh?q hmlSgl npS. wjhjh !>m npSS b'lt hhrgsh hmbqk irrh wgdwlh rwh. wjhjh im npl hhkmh nSmh. g"k hlqm rbjnw s'djh g'wn z"l." (Kom. zu Qoh 3,7) Vgl. audi Stitskin, Abraham ibn Ezra's Concept of Man, 254-256. Die dort wiedergegebene engl. Ubers, ist jedoch an einigen Stellen ungenau.

s Vgl. dazu Rosin, Religionsphilosophie, MGWJ 42, 448ff.

62

Religionsphilosophisdie Lehren

lidies kann, wie in der Einleitung angemerkt worden ist, bei Abraham bar Hijja und Josef ibn Saddiq festgestellt werden.) Dies wird noch deutlicher, wenn man hinzunimmt, daß sowohl in der Fortsetzung des zitierten Textes aus dem Qoheletkommentar wie audi in dem Exkurs des gängigen Kommentars zu Ex 23,25 ausdrücklich gesagt wird, die animalische Seele - rüah, sei der Sitz des Zornmuts 6 . Damit liegen beide Schemata vollständig vor, das platonische, nach welchem die begehrende, die zürnende und die vernünftige Seele, und das aristotelische, nach welchem die vegetative, die animalische oder bewegende und die vernünftige Seele bzw. seelische Kraft zu unterscheiden sind. Ibn Ezra bezeichnet die genannten Momente schlicht als Seelen — n e fäsöt 7 oder als Seelenteile — hälqe han-n e fäsot 8 oder auch als seelische Kräfte oder Fähigkeiten - kohot'. Wie aus einer kurzen Bemerkung des wiedergegebenen Textes aus dem Kommentar zu Qohelet hervorgeht, bilden diese Seelen, Seelenteile oder seelischen Fähigkeiten eine Einheit. „Ihrer Einheit wegen", heißt es dort, könnten die drei Seelen mit einem und demselben Namen belegt werden. Welcher Art ist diese Einheit? Der Kommentator verwendet an der bezeichneten Stelle den Ausdruck hit'ah a düt. Dieses Wort läßt an einen Prozeß des sich Vereinigens denken. Damit dürfte in der Tat in die richtige Richtung verwiesen sein. Das Wort von der hit'ahadüt, d. h. Einheit oder Einigung der Seelen, Seelenteile oder seelischen Fähigkeiten des Menschen steht in einem Kontext, in welchem von der Auswechselbarkeit der Seelentermini die Rede ist. In ähnlichem Zusammenhang heißt es in Jesod mora', VII 1 0 : „das Gehirn [in welchem sich die vernünftige Seele befindet] bedarf der Leber [in welcher sich die vegetative Seele befindet] und des Herzens [womit hier das körperliche Organ gemeint ist, in welchem sich die animalische Seele befindet] und diese beiden wiederum des Gehirns. Es gilt ganz allgemein: ein jedes (dieser Organe) bedarf des anderen". Nach der Bemerkung, daß eben hierin die Begründung dafür zu suchen sei, daß die Hebräer die vernünftige oder Geistseele - n'sämäh auch rüah und näfäs nennen, heißt es weiter: „Siehe, sie alle [nesämäh, rüah, näfäs] sind mit dem Körper verbunden" 11 . Daraus ergibt sich, daß die Einheit der drei menschlichen Seelen als eine nachträgliche Einheit, eine durch Zusammenwirken sich vollziehende Einigung aufgefaßt werden muß, deren Grund die gemeinsame Körperverbundenheit ist. β „bit hk's"; vgl. audi J'sod mora', VII, Ed. Stern, 28a: „whj' hk'snjt". 7 Vgl. Kom. zu Qoh 7,3. β Vgl. Kom. zu Qoh 7,3. 9 Vgl. Exkurs des gäng. Kom. zu Ex 23,25 und ]es6d mörä', VII, Ed. Stern, 28a. 10 Ed. Stern, 28a. 1 1 „wb'bwr sswr' js lmwh Ί hkbd whlb gm snjhm lmwh, whkll kl 'hd zh lzh, ' "k qr'w h'brjm hniimh rwh wnps, whnh hkl qSwrjm 'm hgwp". (J'sod mora', VII, Ed. Stern, 28a)

63

Die menschliche Seele in der irdischen Welt

Daß zumindest die vegetative und animalische Seele einerseits und die vernünftige Seele andererseits unabhängig vom Körper keine Einheit bilden, geht auch daraus hervor, daß sie beim Tode des Menschen ein sehr unterschiedliches Schicksal erwartet. „Ein und dieselbe (animalische) Seele (rüah)", schreibt Ibn Ezra, „kommt dem Menschen und dem Tiere z u , . . . und wie diese stirbt, so stirbt auch jene. Eine Ausnahme bildet der höchste (Seelen-) Teil, den der Mensch über das, was dem Tiere zukommt, hinaus besitzt" 12 . Die animalische Seele und somit erst recht die vegetative sind also vergänglich. Ibn Ezra kommt in diesem Punkte (wie in vielen andern) mit Avicenna überein, der ebenfalls ein Nachleben der animalischen Seele bestreitet 13 . Demgegenüber ist die vernünftige Seele unvergänglich. Im Qoheletkommentar schreibt der Kommentator, in dem Schriftwort: „er blies in seine Nase die Seele (nismat) des Lebens", spiele der Ausdruck Leben darauf an, daß die vernünftige Seele - nesämäh bestehen bleibe und nicht vergehe wie die Seele des Tieres 14 . Die Unvergänglichkeit der vernünftigen Seele gründet darin, daß sie unkörperlicher Natur ist. (Die vegetative und animalische Seele bezeichnet Ibn Ezra dagegen schlicht als (irdische) Körper 15 .) Der Mensch, und zwar nicht der Mensch schlechthin, sondern das, wodurch er sich von den andern Wesen der Erde unterscheidet, d. h. die vernünftige Seele, gleicht den höchsten geschaffenen oder emanierten Wesen, den obersten Engeln maFäkim, und ist wie diese unsterblich. „Der Mensch wurde gemacht", führt Ibn Ezra auf Gn 1,26 anspielend aus, „in dem Bilde des (obersten) Engels, und wie der (oberste) Engel ewig lebt, so auch, wer in seinem Bilde (gemacht ist)" 1 6 . Die menschliche Geistseele ist von der Art der Wesen der oberen Welt 1 7 . Von der oberen Welt kommt sie her und nach ihr verlangt sie zurück 18 . 12

„rwh 'hd l'dm w l b h m h . . . wkmwt zh kn mwt zh, mlbd hhlq h'ljwn

l'dm

rawtr mn hbhmh". (Gang. Kom. zu Gn 3,6) 13

Vgl. I. Madkour,

La place d'al Farabi dans l'ecole philosophique musulmane, La philosophie et la theologie de Joseph ibn Qaddiq,

Paris 1934, 156f.; sowie Vajda, 132, Anm. 1. 14

„w'hr kk wjph b'pjw nSrnt hjjm, wrmz hjjm b'bwr shj' 'wmdt wP t'bd knp?

hbhmh". {Kom. 15

z » Qoh 3,12)

„wz't hnps [nämlich die vegetative] gwp . . . whrwh [d. h. die animalische Seele]

. . . gm hj' gwp". {J'sod morä', VII, Ed. Stern, 28a)

i*„n'sh h'dm b$lm ml'k, w'm hml'k hj l'wlm kkh mj 5>hw' bslmw".

{J'sod morä',

VII, Ed. Stern, 27a) 17

Vgl. Exkurs des gäng. Kom. zu Ex 3,15 und die diese Stelle betreffenden Aus-

führungen des Kapitels „Die Welt der Engel". 18

Daß die n e sämäh ein „Theil der Weltseele" sei (Rosin,

Religionsphilosophie,

M G W J 42, 450), läßt sich nicht aufrechterhalten. Vgl. hierzu das Kapitel „Die Welt der Engel", in welchem die angezeigte Problematik unter Berücksichtigung der von Rosin angeführten Texte Ibn Ezras näher erörtert wird.

64

Religionsphilosophische Lehren

Es ist diese Seele, die n'sämäh, welche nach Herkunft und Wesen der oberen Welt zugehört, um die es in der Frage nach dem Wozu des Aufenthalts der menschlichen Seele in der irdischen Welt geht. Nur sie, nicht die menschliche Seele im allgemeinen (einschließlich der vegetativen und der animalischen Seele) steht in den folgenden Ausführungen zur Diskussion. a) A b s t i e g u n d I n d i v i d u a l i t ä t Die Frage nach dem Wozu des Aufenthaltes der nesämäh in der irdischen Welt ist Abraham ibn Ezra nicht fremd, sie wird also nicht von außen her an seine Lehre herangetragen. Er hat sie vielmehr selber gestellt. Im kürzeren Kommentar zu Ex 23,20 führt er aus: „Siehe, der Mensch weiß nicht, was seine Seele ist, ob Substanz oder Akzidens, und ob sie bei der Trennung vom Körper stirbt und warum sie mit ihm verbunden ist"19. Die Aussage ist nicht so zu verstehen, als sei solches Wissen dem Menschen schlechthin unzugänglich. Vielmehr ist gemeint, daß die Antworten auf diese Fragen nicht auf der Hand liegen. Der Philosoph geht selbst wiederholt auf sie ein. Die Seele ist — allgemein gesprochen — zu ihrem eigenen Vorteil und Nutzen in dieser Welt. In einem unsere Frage nach dem Sinn des Erdendaseins der Seele behandelnden Texte wird dies unzweideutig ausgesprochen20. In demselben Texte wird angedeutet, worin der Nutzen besteht. Ibn Ezra schreibt: „Um sie sehen zu machen21, wurde sie hierher gebracht, deshalb wurde sie eingekerkert in ein Gefängnis"22. Ähnlich, aber ein wenig ausführlicher und zugleich deutlicher, heißt es in der Schrift J'sod morä': „Um sie sehen zu machen wurde sie in den Körper gebracht, damit sie das Werk ihres Herrn (kennen-)lerne" 23 . Wie ist dies zu verstehen? Die Seele entstammt der oberen Welt. Die Wesen der oberen Welt aber umfassen jegliches die geschaffene Welt, d. h. die Werke Gottes betreffende Wissen. (Die Erkenntnis des Einzelnen als Einzelnen, die sich durch die Sinne vollzieht, steht hier nicht zur Diskussion. Sie ist eine niedere Form der Erkenntnis.) Befand sich somit die Seele nicht vor ihrer Verbindung mit dem Körper bereits an dem Ziele, zu dessen Erreichung sie nach den angeführten Zitaten dem Leibe verbunden worden sein soll? Das Wissen, das die dem Leibe verbundene Seele anstrebt, ist identisch mit dem Wissen, das die Wesen der oberen Welt schon immer besitzen. Wenn die zitierten Aussagen Ibn Ezras sinnvoll „hnh h'dm 1' jd' mh hj' npsw 'm 'sm 'm mqrh w'm tmwt bhprdh m'l hgwp wlmh ndbqh bw". (Kürz. Korn, zu Ex 23,20, Ed. Reggio, 72) 2 0 Vgl. Einleitung des Kom. zu Qoh: „kl zh lhw'jl wlhtjb lh". 2 1 Rosin ergänzt: „njsj h'lhjm". (Religionsphilosophie, MGWJ 43, 173) 2 2 „lm'n hr'wth hwb'h hnh, Ί kn nkl'h bmsgr". (Einl. des Kom. zu Qoh) 2 3 „lm'n hr'wth hwb'h bgwjh llmwd m'sh 'dwnjh". (J'sod morä', Einleitung, Ed. Stern, 7a) Vgl. auch Egers, Diwan, 96 (V. 94): „lm'n hr'wtk hnh hbj'"; und ebd. 131 (Nr. 245, V. 6): „hwb'tj hnh lhtbwnn 'njnj". 19

Die menschliche Seele in der irdisdien Welt

65

sein sollen, muß eine Differenz bestehen zwischen dem Zustand, in dem sich die Seele vor ihrer Verbindung mit dem Leibe befand, und dem Zustand, den sie nadi ihrer Verbindung anstrebt. Dies ist in der Tat der Fall. Sie betrifft indessen nicht den Inhalt des Wissens, das Gewußte, sondern den Träger desselben, den Wissenden. Von den angeführten Stellen her läßt sich dies bloß vermuten. Es gibt jedoch einen Text, der in diesem Punkte um einiges klarer ist. Der Kommentar zu Ps 22,21 enthält folgenden Satz: „Jede menschliche Seele ist eine Einheit (j e hidäh), die - (in Verbindung) mit ihrem Körper - von dem Universalgeiste abgetrennt (für sich allein) ist" 24 . Daß mit dem Ausdruck nismat hak-kol die Gesamtheit der obersten Engel, also der Universalgeist gemeint ist, wird in dem Kapitel über die Welt der Engel ausführlich dargetan. Hier sei lediglich auf den Kommentar zu Dn 2,11 verwiesen, wo in vergleichbarem Zusammenhang statt von der nismat hak-kol von den mal'äkim 'äljönlm die Rede ist25. Die mit Hilfe von Klammern der obigen Ubersetzung eingefügte Bestimmung „für sich allein" ist nicht eigentlich ein Zusatz oder eine Ergänzung. Das hebräische Verb hitboded bezeichnet in der Tat dieses Doppelte: ein Abgetrenntsein und Für-sich-allein-Sein (aufgrund von Abtrennung). ÄbänSchoschan umschreibt den Sinn von hitboded: päras min has-sibbür, häjäh l e baddo 26 . Die n e sämäh ist in Verbindung mit ihrem Körper eine von dem Universalgeiste abgetrennte für-sich-allein-seiende Einheit, ein Wesen also, das seinen eigenen Mittelpunkt hat. Die Hervorhebung dessen, daß sie dies „in Verbindung mit ihrem Körper" ist, weist darauf hin, daß sie es vor dieser Verbindung nicht war. Die Aussage dürfte somit die Vorstellung implizieren, daß die Verbindung der Seele mit dem Körper die Konstituierung ihrer individuellen Existenz ist. Diese Auslegung wird dadurch gestützt, daß in ihrem Lichte die zuvor besprochenen Texte erst verständlich werden. Tritt die Seele im Abstieg aus der oberen Welt als individuelles Wesen überhaupt erst hervor, so ist dieser Abstieg in die niedere Welt wirklich zu ihrem Vorteil und Nutzen, gewinnt sie in diesem Abstieg etwas, und zwar recht eigentlich sich selbst. Dann ist auch die vorher gegebene und die nachher anzustrebende Erkenntnis etwas je anderes, mag sie auch ihrem Inhalte nach identisch sein. Das Wissen der Wesen der oberen Welt war vor dem Abstieg nicht eigentlich ihr Wissen, da es sie als für-sich-selbst-seiende Einheit noch gar nicht gab. Erst das Wissen, das sie als abgestiegene aufsteigend erwirbt, ist wirklich ihr Wissen. Die Seele verdankt es also in dieser Konzeption der Verbindung 24

„b'bwr hjwt kl näSmt 'dm jhjdh mtbwddt 'm gwph mnämt hkl". (Kom.

zu Ps

22,21) 25

„hm hml'kjm h'ljwnjm Ihm $wrwt 'mt w'jnm kgwpwt [vielleicht ist bgwpwt zu

lesen] whnSmwt ngzrwt mhm". {Kom.

zu Dn 2,11)

26 Ham-millon hä-hädäs, I, Jerusalem 1956, 183.

66

Religionsphilosophische Lehren

mit dem Körper, daß sie eine für-sich-selbst-seiende Einheit und so befähigt ist, das ihr aufgrund der Herkunft zugängliche höchste Wissen als seiner selbst sich bewußtes Subjekt zu besitzen. Die Konstituierung der Seele als einer für-sich-seienden Einheit ist, wie im letzten Satz bereits deutlich wurde, nur ein Anfang. Die Seele ist nach ihrer Verbindung mit dem Leibe, durch welche sie zum individuellen Wesen wird, zunächst ohne jegliches Wissen, eine tabula rasa27. Die eigene Einheit, zu der sie durch ihre Abtrennung von der nismat hak-kol und die Verbindung mit dem Körper geworden ist, ist eine leere Einheit. Es gilt, sie zu einer erfüllten zu machen. Um das Werk Gottes kennenzulernen, wurde die Seele in den Körper gebracht, heißt es in einem der zuvor zitierten Texte. Dies geschieht durch Rückwendung zum Ursprungsort, an welchem die Fülle des Wissens ist. Die Rückwendung vollzieht sich in schrittweisem Aufstieg. In gewissem Sinne ist also der Aufstieg das Wozu des Abstiegs, freilich — und dies ist von entscheidender Bedeutung - der Aufstieg von etwas, wozu es nur infolge des Abstiegs gekommen ist, nämlich der Seele als einer für-sich-seienden Einheit. Rückwendung und Aufstieg bedeuten fortschreitende Ablösung vom Leibe. Dieser Prozeß scheint indessen nicht auf den Verlust dessen hinauszulaufen, was durch die Verbindung mit dem Leibe zustande gekommen ist, nämlich des individuellen Seins. Im Kommentar zu Ps 1,3 bringt Ibn Ezra ein aufschlußreiches Beispiel. Zum besseren Verständnis des Textes seien die ersten Verse des Psalms zitiert. Sie lauten: „Glücklich der Mann, der nicht wandelt im Rat der Frevler, den Weg der Sünder nicht geht, am Sitze des Dreisten nicht sitzt, sondern Lust hat an seiner Lehre, über seiner Lehre sinnt bei Tag und Nacht. Er wird sein wie ein Baum, an Wasserbächen gepflanzt, der zu seiner Zeit seine Frucht gibt und dessen Laub nicht welkt: was alles er tut, es gelingt". Das Wort „seine Frucht" (in dem letzten zitierten Verse) erklärt der Kommentator wie folgt: „Meiner Meinung nadi bedeutet »seine Frucht« die weise Seele, die erfüllt ist von der Lehre Elohims, so daß sie ihren Schöpfer und seine ewig bestehenden Werke erkennt, und die bei der Trennung von ihrem Körper ihrer oberen Welt anhaften wird28. Sie ist wie die reife Frucht an einem Baume. Sie trennt sich von ihm und ist seiner nicht (mehr) bedürftig. Denn um der Frucht willen war der Baum" 29 .

27 J'sod mora3, X, Ed. Stern, 34b. Vgl. ferner Rosin, Religionsphilosophie, MGWJ 42, 451, wo sich auch weitere Stellen finden. 2 8 Es geht hier also nicht schlechtweg um die vernünftige Seele, sondern um die zu Wissen gelangte vernünftige Seele. » »wlpj d'tj kj t*m prjw hnSmh hhkmh sthjh ml'h twrt 'Ihjm lhkjr bwr'h wm'ijw h'wmdjm lnsh wtdbq b'wlmh h'ljwn bhprdh m'l gwjth kmw hprj hmbwll b'jln wjprd mmnw w'jn ?wrk lw kj b'bwr hprj hjh h's". ( K o m . zu Ps 1,3)

Die menschliche Seele in der irdischen Welt

67

Der Baum ist in diesem Bilde ganz offenbar der Körper. Anfänglich bedarf die Frucht des Baumes (d. h. die Seele des Körpers), mit vollendeter Reife aber kann sie seiner entraten. Diesem Texte zufolge vermag die Seele durch Erkenntnis dahin zu gelangen, ihr anfänglich der Verbindung mit dem Körper verdanktes Sein — und das ist ihr individuelles Sein - als vom Körper abgetrennte zu bewahren. Um diesen Gedanken nachvollziehen zu können, ist es notwendig, sich vor Augen zu halten, daß im System Ibn Ezras Erkenntnis und Selbsterkenntnis eng zusammengehören30. Wachsende Erkenntnis ist immer wachsende Selbsterkenntnis. Die erkennende Seele gewinnt also Wissen gewinnend fortschreitend sich selbst, und zwar als das, was sie ist, nämlich individuelles Wesen. Dieser Selbstbesitz der wissenden Seele ist eine höhere Form des Für-sich-Seins. Er macht die Auflösung jener Verbindung mit dem Körper, der die unwissende Seele bedarf, um fürsich-seiende Einheit zu sein, nicht nur möglich, sondern in zunehmendem Maße erforderlich. Bei alledem ist und bleibt gültig, daß jene niedere Form des Für-sich-seiende-Einheit-Seins, die durch die Verbindung mit dem Körper gestiftet wird, notwendig ist, um die geschilderte höhere Form zu erreichen. Die Frucht ist nicht denkbar ohne den Baum, mag sie auch ausgereift seiner nicht mehr bedürfen. b) I n d i v i d u e l l e U n s t e r b l i c h k e i t Die Einzelwesen der niederen Welt sind vergänglich. Eine Ausnahme bildet der Mensch, sofern er vernünftiges Wesen ist. Aus diesem Grunde nennt Ibn Ezra den Menschen das Geheimnis dieser (niederen) Welt31. Der Mensch als vernünftiges Wesen, d. h. die vernünftige Seele, die n'sämäh, entstammt der oberen Welt und hat aufgrund dieser ihrer Herkunft Anteil an der Unvergänglichkeit jener Welt. Es verhält sich mit ihr anders als beispielsweise mit der animalischen Seele, die der Mensch mit dem Tiere gemeinsam hat und von der der Philosoph in einem bereits zitierten Texte schreibt, daß sie im Unterschied zu dem „obersten (Seelen-) Teile", den der Mensch über das, was dem Tiere eigne, hinaus besitze, sterblich sei32. Als für-sich-seiender Einheit, welche die Seele ja nicht als der oberen Welt entstammendes Wesen schon ist, sondern aufgrund des Abstiegs in die niedere Welt bzw. ihrer Verbindung mit dem Körper erst wird, ist ihr jedoch solche Unvergänglichkeit nur der Möglichkeit nach zu eigen.

30

Vgl. hierzu das dem Haj ben Meqls gewidmete Kapitel dieser Arbeit: „Sinn und Gestalt der Dichtung". Exkurs des Kom. zu Dn 10,21. 32 „kj rwh 'dm l'dm wlbhmh Sbh jhjh wjrgjl b'wlm hzh wkmwt zh kn mwt zh, mlbd hhlq h'ljwn l'dm mwtr mn hbhmh". (Gang. Kom. zu Gn 3,6, Ende)

68

Religionsphilosophische Lehren

Die obere Welt ist die Welt des umfassenden Wissens. Dies ist ihre wesentliche Bestimmung. Sie ist überhaupt nur als Fülle des Wissens und eben als solche ewig. Ihre Ewigkeit ist die Ewigkeit unveränderlich gültiger Weisheit. Solches Wissen oder solche Weisheit kommt indessen der vereinzelten, individualisierten Seele zu Anfang nicht zu, wie weiter oben dargetan wurde. Sie ist zunächst eine Tafel, auf der nichts geschrieben steht, fähig freilich, beschrieben zu werden. „Die vernünftige Seele (n e sämäh) des Menschen", schreibt der Autor des J'sod morä', „ . . . ist wie eine Tafel, die geeignet ist, darauf zu schreiben, und wenn auf diese Tafel die göttliche Schrift niedergeschrieben wird, welche Erkenntnis der Universalien in dem aus den vier Wurzeln Entstandenen [d. h. der beständigen Arten], Erkenntnis der Sphären, des Gottesthrones, des Geheimnisses des Thronwagens und Erkenntnis des Höchsten bedeutet, dann wird die Seele (n e sämäh) dem erhabenen Gott anhängen" usf. 33 . Nach der Einleitung des Kommentars zu Qohelet werden diese göttlichen Schriftzüge - „Worte der Wahrheit" - so in die Seele eingegraben, daß sie nicht mehr getilgt werden, auch nicht bei der Trennung der Seele vom Leibe 34 . Durch die Aufnahme solchen Wissens, das in sich selber unveränderlich ist und ihr darüber hinaus als unverlierbares mitgeteilt wird, entfaltet die Seele ihre oberweltliche Anlage. Sie gewinnt mit zunehmendem Wissen zunehmend Anteil an der oberen Welt und ihrer Unvergänglichkeit. „Wenn die Seele weise wird", heißt es im gängigen Exoduskommentar, „hat sie Bestand im Geheimnis der obersten Engel (mal'äkim) und vermag sie große K r a f t von der höchsten K r a f t aufzunehmen" 35 . Wissen ist somit Quelle der Kraft. Die Kraft, die es spendet, verhilft zum Leben. „Alle Weisheit (oder Wissenschaft)", schreibt Ibn Ezra in seinem J'sod morä', „spendet denen, die sie besitzen, Leben. Der Wissenschaften sind viele. Jede einzelne ist von Nutzen. Sie alle sind wie Stufen der Leiter für den Aufstieg zur wahren Weisheit" 36 . Das Leben, das Wissen und Weisheit spenden, ist ewiges Leben. Dies ergibt sich schon aus dem Gesagten, wird aber überdies auch ausdrücklich ausgesprochen. Im 33 „wniSmt h'dm . . . hj' klwh mwkn lktwb 'ljw, wbhktb Ί zh hlwh mktb 'lqjm !>hw' d't hklljm bnwldjm mh'rb'h hSrSjm, wd't hglgljm wks' hkbwd wswd hmrkbd wd't 'ljwn 'z thjh hnSmh dbqh bsm hnkbd". (J'sod morä', X , Ed. Stern, 34b) 3 4 Ibn Ezra schreibt dort von den „Worten der Wahrheit", die die Seele aufzunehmen hat: „wjhjw mhwqqjm 'ljh S>1' jmhw bhprdh m'l gwjth k j hmktb mktb 'lhjm hw'". Vgl. audi die Fortsetzung der in der vorausgehenden Anmerkung zitierten Stelle. 3 5 „w'm thkm hnsmh t'mwd bswd hml'kjm wtwkl lqbl kurs des gäng. Kom. zu Ex 3,15) 3 6 „wkl hkmh thjh 't b'ljh, whhkmwt hm rbwt, wkl hswlm l'Iwt Ί ljkmwt h'mt". (J'sod morä', Einleitung, Ed. ζ « Qoh 7,12, wo es ebenfalls heißt: „Shhkmh thjjh b'ljh", hhkmh hj' swrt hnSmh h'ljwnh s'jnh mth bmwt hgwp".

kh gdwl mkh 'ljwn". (Ex'ht mw'lt wkwlm km'lwt Stern, 7a) Vgl. audi Kom. und hinzugefügt wird: „kj

Die menschliche Seele in der irdischen Welt

69

Kommentar zu Lv 18,5 führt Ibn Ezra aus: „Wer ihr Geheimnis erkennt [nämlich das Geheimnis der Gesetze und Satzungen Gottes], den wird das Leben der Ewigkeit beleben. Er wird auf ewig nicht sterben" 37 . Ferner läßt Ibn Ezra im Haj ben Meqis den Wanderer nach einem Zuspruch des H a j , der ein Wesen der oberen Welt ist38, sagen: „Als ich diese Worte von ihm vernommen, die kostbarer waren als Perlen, erkannte ich: wer seine Lehren mißachtet, seine Reden verkehrt und (nur) eines von seinen Worten verwirft, tut seiner Seele Gewalt an und läßt sie verderben, macht seine „Einzige" zuschanden und bringt ihr den Tod. Wer aber an ihnen festhält, von ihnen nicht läßt, wird ewig leben und nicht vergehen. Denn sie (gereichen) denen, die sie erfassen, zum Leben, zur Heilung des ganzen Wesens" 39 . Es gehört zum Wesen der Weisheit, beständig zu sein. Indem die Seele Weisheit erwirbt, erwirbt sie zugleidi Beständigkeit, wird sie - anders gesagt - unsterblich. Kommt diese Unsterblichkeit der Seele als individuellem Wesen zu? Rosin bestreitet dies. „Die Frage nun", schreibt er in dem Abschnitt über die Unsterblidikeitslehre Abraham ibn Ezras, „ob diese Unsterblichkeit eine individuelle sei, ist nach den angeführten Stellen ohne Zweifel zu verneinen" 40 . In Wahrheit verweisen, wie man nachlesen kann, „die angeführten Stellen" eher in die entgegengesetzte Richtung. Aufnahme in die obere Welt (Rosin spricht durchweg von der Weltseele) muß nicht, wie Rosin voraussetzt, Aufgehen in ihr bedeuten 41 . Einem Text gegenüber tut sich Rosin selber mit seiner Auffassung schwer. Er schreibt: „Wenn IE also zu 1 Mos. 1,26 im gangb. Comm. S. 32, ed. Friedländer 42 . .., von dem Menschen sagt, er sei vor allen irdischen Geschöpfen dadurch ausgezeichnet, daß er auch als Einzelner unvergängliche Dauer erlangen könne, während seine Mitgeschöpfe nur als Art unvergänglich seien, so ist hiermit nicht gemeint, daß er als Einzelner auch ein geson37

„hmbjn swdm hj h'wlm jhjjnw wl' jmwt l'wlm". ( R o m . zu Lv 18,5) Vgl. das Kapitel „Sinn und Gestalt der Dichtung". 39 V. 156-165 (nach der Zahlung der dieser Arbeit beigegebenen Gesamtübersetzung). Der hebr. Text lautet: „wjhj k'JSr Sm'tj mmnw 'lh hdbrjm 'Sr mpnjnjm jqrjm jd'tj kj hsr mmwsrjw whmmjr 'mrjw whmpjl dbr 'hd mdbrjw hwms npsw wmShjth w'wlb jhjdtw wmmjth whmljzjq bhm w'wtm l'-jrph I'd jhjh wl'-jsph kj hjjm h m lmws'jhm wlkl-bsrw mrp'". (Rosin, Reime und Gedichte, 175) 38

4° Religionsphilosophie, MGWJ 42, 453. « Religionsphilosophie, MGWJ 42, 454. 42 Es geht in Wirklichkeit um den fragm. Kom. zu Gn 1,26, Ed. Friedlaender, 31.

70

Religionsphilosophische Lehren

dertes unvergängliches Dasein behaupte" usf. 43 . Es ist schwer zu erkennen, welchen Unterschied es im Hinblick auf unsere Frage macht, „auch als Einzelner unvergängliche Dauer erlangen" zu können oder „als Einzelner auch ein gesondertes unvergängliches Dasein" zu behaupten, und wie es demgemäß möglich sein soll, daß ersteres gilt, letzteres aber nicht. Ähnlich wie Rosin (und wahrscheinlich durch dessen Darstellung angeregt) urteilt Orschansky. „Es versteht sich von selbst", führt er aus, „daß man dabei die Vorstellung einer individuellen Unsterblichkeit . . . bei Seite lassen muß" 4 4 . Die Position Rosins und Orschanskys läßt sich nicht halten. Zunächst ist daran zu erinnern, daß - wie im vorigen Abschnitt gezeigt werden konnte - die Auflösung der individualitätsstiftenden Verbindung der Seele mit dem Körper nicht ipso facto zum Individualitätsverlust führt. Zudem ist auch davon abgesehen erkennbar, daß die zitierten Aussagen Ibn Ezras zur Unsterblichkeit der Seele die individuelle Seele betreffen. Für den einschlägigen Text aus dem fragmentarischen Kommentar zu Gn 1,26 gibt dies auch Rosin ausdrücklich zu. Die Annahme, Ibn Ezra rede zwar mit dem Blick auf die individuelle Seele von der Unsterblichkeit, dies bedeute jedoch nicht, daß die individuelle Seele als individuelle unsterblich sei, ist unbegründet. Sie wird weder durch die Aussagen selbst noch durch den Kontext der Lehre des Philosophen nahegelegt. Überdies gibt es außer dem Text des fragmentarischen Kommentars zu Gn 1,26 noch andere Stellen, die kaum in dem angezeigten Sinne aufgefaßt werden können. So läßt Ibn Ezra den Himmelswanderer des Ha) ben Meqis wie folgt die obere Welt beschreiben: „Als wir an seine Grenze [d. h. die Grenze des Raumes der Umgebungssphäre] gelangten und ihn fast schon durchschritten hatten, da schaute ich erhabene Formen, Gestalten, die Furcht erregen: Engel - gewaltige Heere, Cherubim - machtvolle Scharen, Seraphim — (zum Dienste) dastehend, lobpreisend und seine Einheit verkündend, Sdiinanim und Ophannim, singend und spielend, „heilig" jubelnde Seelen und triumphierende Geister" 45 . 43

Religionsphilosophie,

** Abraham 45

Ibn-Esra,

M G W J 42, 454. 29.

V. 6 1 1 - 6 2 2 (nach der Zahlung der dieser Arbeit beigegebenen Gesamtüberset-

zung). Der hebr. T e x t lautet: „wjhj k'sr hg'nw lqswtw wqrbnw l'bwr 'wtw w'hzh swrwt m p l V t wmr'wt nwr'wt ml'kjm hjljm gdwljm wkrwbjm 'swmjm wrbjm srpjm

Die menschliche Seele in der irdischen Welt

71

Die „heilig" jubelnden Seelen und triumphierenden Geister der beiden letzten Verse sind die zur oberen Welt gelangten menschlichen (Geist-) Seelen. Daß anstelle von nesämot von n e fäsot und rühot die Rede ist, widerspricht dem nicht. In seinen Dichtungen hält Ibn Ezra sich nicht immer und überall streng an seine philosophische Terminologie. Auch Rosin versteht die Verse, wie aus einer Anmerkung zu der Stelle hervorgeht46, in dem angezeigten Sinne. Trifft diese Auffassung zu, so nennt Ibn Ezra die der oberen Welt verbundenen menschlichen Seelen in einer Reihe mit und neben den obersten Engeln. Diese Weise, von den vom Leibe getrennten menschlichen (Geist-) Seelen zu reden, wäre völlig unangemessen, wenn diese Seelen mit ihrer Trennung vom Leibe aufhörten, eigenständige Wesen zu sein, ihre Aufnahme in die obere Welt auf ein Aufgehen in sie hinausliefe. Noch klarer ist ein anderer Text. Er lautet: „Siehe er [der Mensch] hat (bleibende) Existenz auf der Erde als Art, oben indessen als Substanzen"47. Daß der Satz in der Tat von der bleibenden Existenz handelt, was sich aus dem Ausdruck nimsä' - existiert nicht schon ergibt, geht vor allem daraus hervor, daß von der Existenz als Art die Rede ist. Der Satz läßt sich kaum anders interpretieren, als ihn Friedlaender schon 1875 interpretiert hat: „man continues to exist on earth in his species, just as he (i. e. his soul) endures above individually" 48 . Ein Text indessen scheint — zumindest auf den ersten Blick - schwer mit der skizzierten Auffassung in Einklang zu bringen zu sein und eher für die Auffassung Rosins zu sprechen. Ibn Ezra bemerkt zu dem Psalmwort: „ich freue mich im Herrn" (Ps 104,34): „Der Sinn ist, daß seine Seele (ewigen) Bestand haben und universales (Sein) sein wird" 49 . Es ist jedoch unzulässig, den Inhalt, den man bei erstem Zusehen mit diesem Satz verbinden zu müssen glaubt, zum Maßstabe der Interpretation aller anderen diesen Gegenstand betreffenden Texte zu machen. Vielmehr ist der Versuch zu machen, ihn von dem durch die andern Stellen dokumentierten Kontext der Lehre des Philosophen her zu interpretieren. Dies ist in der Tat zwanglos möglich. K e läl, d. h. Universales zu sein, bildet keineswegs einen Widerspruch dazu, 'äsäm, d. h. Substanz oder eigenständiges Wesen zu sein. Auch die obersten Engel — maräkim sind universale Formen — sürot ' ä mät und dennoch eigenständige Wesen. Der Gegensatz zu k'läl - Universales ist vielmehr p e rät - Einzelnes im Sinne des vergänglichen Einzelnen der irdischen Welt. Wenn es also heißt, die Seele 'wmdjm msbhjm wmjhdjm wsn'njm w'wpnjm mzmrjm wmngnjm npswt mqdjswt wrwhwt mnshwt". (Rosin, Reime und Gedichte, 196) « Reime und Gedichte, 196, Anm. 29. 47 48

49

6

„hnh [hw'] nms' b'r? bmjn k'5r hw' bm'lh b'jmjm". (Gang. Kom. zu Gn 4,1) Friedlaender, Essays, 39, Anm. 2.

„wt'm kj t'mwd nlmtw wthjh hkll". {Kom. zu Ps 104,34)

Greive: Neuplatonismus

72

Religionsphilosophische Lehren

werde einmal k'läl - ein Universales sein, so besagt dies, daß sie dann nicht mehr der Welt der p e rätim - der vergänglichen irdischen Einzelwesen verhaftet ist. Wie die obersten Engel sürot ' ä mät — wahre Formen und zugleich '"sämim — Substanzen sind, sind die vom Körper getrennten und der oberen Welt verbundenen menschlichen (Geist-) Seelen k e lälim (wie die zur Diskussion stehende Stelle lehrt) und zugleich ' a sämim (wie aus dem vorher zitierten Text des gängigen Kommentars zu Gn 4,1 hervorgeht). Die Frage, wodurch denn die vom Körper getrennten Seelen - sie alle menschliche Seelen - voneinander verschieden seien, ist von der dargestellten Lehre her leicht zu beantworten. Der Bestand an Wissen, zu dem die vernünftige Seele in der irdischen Welt gelangt und welcher zugleich das Maß ihres Selbstbesitzes ist, ist je und je ein anderer. Was als individuelles Wesen bleibt, ist ja nicht die vernünftige Seele als in allen Einzelmenschen wesentlich gleiche Anlage zur Vernunfterkenntnis, sondern die vernünftige Seele, sofern sie diese Anlage bereits entfaltet hat, „die weise Seele, die erfüllt ist von der Lehre Elohims" usf., wie es in dem zuvor zitierten Texte aus dem Kommentar zu Ps 1,3 heißt 50 . Damit ist die Frage nach dem Wozu des irdischen Aufenthaltes der Seele beantwortet. Die Verbindung der Seele mit dem Körper und der damit gegebene Aufenthalt in der irdischen Welt haben zum Ziele, die Seele als individuelles Wesen zu konstituieren und es diesem individuellen Wesen zu ermöglichen, rückkehrend zum Ort der Herkunft als individuelles Wesen Unsterblichkeit zu erlangen. Der Weg von der oberen Welt zur niederen Welt und zur oberen Welt zurück ist also nicht ein sinnloser Umweg. Er führt zur Stiftung von Neuem. Das unsterbliche Individuum, das am Ende des Weges steht, hat es an seinem Anfang nicht gegeben. Die Lehre des Ibn Ezra kommt in wichtigen Zügen mit Vorstellungen Avicennas überein. Ähnlich wie nach unserer Darstellung Ibn Ezra lehrt auch schon Avicenna, daß die menschliche (Geist-) Seele zwar ihrem Wesen nach himmlischer Herkunft ist 51 , ihr individuelles Sein jedoch erst der Verbindung mit dem Körper zufolge gewinnt, also lediglich ihrem Wesen nach, nicht aber als individuelle präexistent ist 52 . Ferner ist auch und schon für Avicenna die (individuelle) menschliche Seele als individuelle unsterblich53. 50

Vgl. Abraham ibn Ezra, Sefär

ligionsphilosophie, 51

hä-'ibbür,

Ed. Halberstam, 9b, dazu Rosin, Re-

M G W J 43, 184.

Vgl. M. Cruz Hernandez, El poema de Avicena

sobre el alma, in: Miscellanea de

estudios arabes y hebraicos 1 (1952), 6 7 - 8 3 . 52

Vgl. Gardet, La pensee, 9 1 ; sowie Vajda, La philosophie

ibn Qaddiq, 53

et la theologie de

131, Anm. 4.

Vgl. Münk, Melanges,

3 6 5 ; sowie Gardet, La pensee,

91.

Joseph

Die menschliche Gotteserkenntnis

73

Korollarium: Die Auferstehung der Toten Für die traditionell-religiöse Lehre des Judentums (wie auch des Islams und des Christentums) von der Auferstehung der Toten ist in dem dargestellten Gedankenkomplex kein Platz. So verwundert es nicht, daß Ibn Ezra sich von ihr - wenngleich vorsichtig - distanziert. Zu dem Prophetenwort: „das Totenreich huldigt dir nicht" (Js 38,18), äußert er sich in dem zugehörigen Kommentar wie folgt: „Viele wundern sich, wie der Prophet derartiges schreiben kann, was die (Lehre von der) Auferstehung der Toten verleugnet. Darauf ist zu antworten, daß der Körper keine Kraft und keine Erkenntnis besitzt, wenn die Seele ihn verläßt. Warum wundern sie sich? Siehe, audi während die Seele mit dem Körper verbunden ist, kommt ihm keine Einsicht zu, erst recht nicht in seinem Tode" 54 .

3. Die menschliche

Gotteserkenntnis

Im vorausgehenden Kapitel wurde gezeigt, daß das Wozu des irdischen Aufenthaltes der nesämäh darin besteht, als Individuum Unsterblichkeit zu erlangen. Diese Unsterblichkeit der individuellen Seele ist keine leere Ewigkeit, etwa der Art, wie sie der irdischen Materie zukommt, sondern gründet und vollendet sich in Erkenntnis, sie ist geradezu die Unvergänglichkeit unvergänglicher Erkenntnis, deren höchste Stufe die Gotteserkenntnis ist. So kann Ibn Ezra schreiben, daß der Mensch um der Gotteserkenntnis willen geschaffen wurde. „Wir wollen uns damit vertraut machen und danach streben", heißt es im Kommentar zu Hos 6,3, „Gott zu erkennen, denn dies ist das Geheimnis aller Wissenschafte n ) und um dessentwillen allein ist der Mensch geschaffen"1. Solche Erkenntnis ist Sache der n e sämäh, mag hier audi schlicht vom Menschen die Rede sein. Die animalische und vegetative Seele sowohl wie der Körper sind nur vorübergehend von Bedeutung. Das Wesentliche des Menschen ist die vernünftige Seele. Ähnlich wie im Kommentar zu Hos 6,3 heißt es in der Schrift über die Gebote: „David sprach [zu Salomo]: »Erkenne den Gott deines Vaters«, danach: »und diene ihm« [1 Chr 28,9], Um dessentwillen nämlich ist der Mensch geschaffen" 2 . Gottesdienst ist zutiefst Gotteserkenntnis. Jeder wahre Gottesdienst ist zumindest 54

= wrbjm jtmhw 'jk ktb hnbj' kdbrjm h'lh 2mkhjsjm bthjjt hmtjm. wjS lhsjb kj gwp 'jn lw kh wl' d't bs't hnsmh mmnw. wlmh jtmhw. whnh gm bhjwt hnsmh dbqh 'm hgwp 'jnnw mbjn, 'p kj bmwtw". ( K o m . zu Js 38,18) 1 „wnd'h wnrdph ld't him kj zh swd kl hhkmwt wb'bwr zh lbdw nbr' h'dm." {Kom. zu Hos 6,3) 2 „w'mr dwd d' 't 'lhj 'bjk, w'bdhw 'hr kk, kj b'bwr zh nbr' h'dm." (J'sod morä', I, Ed. Stern, 16a)

6 *

74

Religionsphilosophische Lehren

auf Gotteserkenntnis hingeordnet. „Es scheint", bemerkt der Philosoph im Kommentar zu Dt (3,7, „daß die Hauptaufgabe aller Menschen Gottesdienst ist; (dieser) sein Dienst aber besteht darin, seine Werke zu erkennen" 3 . Ibn Ezra verwendet an dieser Stelle das Wort l e hakkir. Es verweist auf ein anerkennendes Erkennen. In einem wichtigen Punkte führt der letzte Text über die vorher zitierten hinaus. Anstelle von Gotteserkenntnis ist von der Erkenntnis der Werke Gottes die Rede. Hier deutet sich an, daß f ü r den Menschen Gotteserkenntnis in der Erkenntnis der Werke Gottes (natürlich als von Gott gewirkter) besteht. Ein anderer Text bringt dies klarer zum Ausdruck. Er lautet: „Der Mensch ist gehalten, sich herzurichten und die Gebote Gottes, der ihn geschaffen hat, zu erkennen und seine Werke zu verstehen. Dann (nämlich) erkennt er seinen Schöpfer. So auch sagt Mose4: »Laß mich deine Wege erkennen, dann erkenne idi dich« [Ex 33,13]" s . Der Weg zur Gotteserkenntnis führt also über die Erkenntnis der Werke Gottes. Es ist dies nicht etwa einer von mehreren gangbaren, sondern der einzige gangbare Weg. Der Mensch vermag nur über die Erkenntnis der Werke Gottes zur Erkenntnis Gottes zu gelangen. Ibn Ezra erläutert eben dieselbe Stelle, die in dem zuletzt angeführten Text als Schriftbeleg f ü r die dort vertretene Auffassung dient, in seinem kürzeren Exoduskommentar wie folgt: „Der Sinn von »laß mich deine Wege erkennen« ist dieser, daß im Geschaffenen keine K r a f t ist, den Gestalter der Schöpfung zu erkennen, außer aufgrund seiner Wege. Denn wer seine Wege erkennt, erkennt ihn. Dann nämlich [wenn er seine Wege erkennt] ist er wie eine (universale) Form. Deshalb sagt (Mose): »laß mich erkennen«, und danach: »dann erkenne ich dich«" 6 . Anstatt von den Werken Gottes ist mehrfach — so auch im letzten Zitat - von den Wegen Gottes die Rede. Gemeint sind die Wege des göttlichen Wirkens. Der Mensch gelangt zum wirkenden Gott, indem er die Wege seines Wirkens zurückschreitet. Es gilt, nicht am Ende dieser Wege, d. h. bei der Erkenntnis der irdischen Welt, stehenzubleiben, sondern sich fortschreitend ihrem Anfang zu nähern. Im gängigen Kommentar zu Ex 31,18 bringt der Kommentator deutlich zum Ausdruck, daß es im Hinblick auf Gotteserkenntnis mit der Erkenntnis der niederen Welt keineswegs sein Bewenden hat. „Die Wurzel aller Gebote ist 3 „whnh nr'h kj 'jqr kl h'dm 'bwdt him w'bwdtw lhkjr p'ljw." {Kom zu Dt 6,7) D. h.: Dies ist auch der Sinn des Mosewortes. s „wh'dm hjjb ltqn 'smw wlhkjr m$wt him SSbr'hw wlhbjn m'sjw, 'z jd* bwr'w, wkkh 'mr mSh hwdj'nj n' 't drkjk w'd'k." (J e sod morä', I, Ed. Stern, 15b-16a. Sterns Text hat hjwb und lhbjn statt hjjb und wlhbjn; ich folge hier der Erstausgabe.) 6 „wt'm hwdj'nj n' 't drkjk kj jw?r br'ljt 'jn kh bnbr' ld'tw kj 'm bdrkjw, wmj sjd* drkjw jd'nw, kj 'z jhjh kmw swrh, w'l kn 'mr hwdj'nj w'hr kn w'd'k." (Kürz. Kom. zu Ex 33,13, Ed. Reggio, 103) 4

Die menschliche Gotteserkenntnis

75

dies", heißt es dort, „daß er [der Mensch] Gott liebe mit seiner ganzen Seele und ihm anhange, und das ist nicht vollkommen der Fall, wenn er nicht um das Werk Gottes in den Höhen und in den Tiefen weiß und seine Wege kenne" 7 . Worum es in dieser Erkenntnis der Tiefen und Höhen, bzw. der niederen und der oberen Bereiche oder Wesenheiten näherhin geht, wird im gängigen Kommentar zu Ex 20,2 deutlich, wo es heißt: „Wen sein Herz erhebt, die Wissenschaften zu lernen, welche wie Stufen sind, auf denen man zum Ort seines [des göttlichen] Wohlgefallens 8 emporsteigt, gewahrt Gottes Werk in den Metallen® und in den Pflanzen und in den Tieren und im eigenen menschlichen Körper, der erkennt das Werk jedes einzelnen Gliedes gemäß der Natur und warum es nach diesem seinen Maße (gemacht) ist; danach ist sein Herz erhaben genug, die Dinge der Sphären zu erkennen, die Gottes Werk in der mittleren Welt sind, welche beständig ist... All dieses erkennt er mit vollgültigen Beweisen, die unbezweifelbar sind. Und von den Werken Gottes her erkennt der Wissende Gott. So auch sagt Mose: »Lasse midi deine Wege erkennen, dann erkenne ich dich« [Ex 33,13] " 10 . Ibn Ezra zählt hier die wichtigsten Seins- bzw. Formbereiche der irdischen Welt auf und nennt danach die mittlere Welt, d. h. die Welt der Sphären. Von der oberen Welt ist keine Rede. Auch sie ist indessen gerade sie - für die menschliche Gotteserkenntnis von großer, ja größter Bedeutung. In einem anderen Text bezieht er die obere Welt in den Kreis der zum Zwecke der Gotteserkenntnis zu erkennenden göttlichen Werke ausdrücklich mit ein. Im ersten Kapitel des J'sod, morä' heißt es in demselben Abschnitt, der jene bereits zitierte Stelle enthält, an der der Verfasser das Davidwort aus 1 Chr 28,9 anführt: „Erkenne den Gott deines Vaters": „Wie kann der Mensch zu erkennen suchen, was über ihm steht, ohne zu wissen, was seine Seele ist und was sein Körper. Erst wenn er 7

„w5n> kl hmswt 'd iäj'hb 't hSm bkl npiw wjdbq bw. wzh Γ jhjh l>lm 'm Γ jkjr ra'sh hSm b'ljwnjm wblSpljm wjd' drkw." (Gang. Kom. zu Ex 31,18) 8 Das Suffix des Ausdrucks häf?o - sein Wohlgefallen kann sich sowohl grammatisch wie dem Sinnzusammenhang nach auch auf die Person beziehen, von der es heißt: „Wen sein Herz erhebt" usf. ' Die Bibelausgabe des Schockenverlags hat an dieser Stelle matkönät. Es ist jedoch, wie sich aus dem Zusammenhang ergibt, mattäkot zu lesen. In der den Superkommentar „Mehoqeqe Jehudäh" zu den Kommentaren des Ibn Ezra enthaltenden Torahausgabe (Hrsg. J. L. Krinsky, Bene Berak - Tel Aviv - Jerusalem 1961) findet sich diese Lesart (s. Sefär iemot, 301). 10 „w'iSr ni'w lbw llmwd hkmwt, Ihm kmw m'lwt l'lwt bhm Ί mqwm hpsw. jkjr m'sh him bmtkwt wbsmhjm wbhjwt wbgwp h'dm b'smw iijd' m'ih kl 'br w'br kpj htwldt. wlmh hjh Ί z't hmtkwnt. wjgbh lbw 'hr kn ld't dbrj hglgljm shm m'ih him b'wlm h'm§'j ihw' 'wmd . . . wkl 'lh jd' br'jwt gmwrwt s'jn bhm spq. wmdrkj him jd' hmskjl 't h?m. wkkh 'mr mSh hwdj'nj n* 't drkk w'd'k." (Gang. Kom. zu Ex 20,2)

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Religionsphilosophische Lehren

die Wissenschaft von der Natur (Physik) mit all ihren Beweisen und die (wissenschaftliche) Logik zur Erkenntnis der Universalien, welche die Wächter der Mauern sind, und die Wissenschaft von den Gestirnen (Astronomie und Astrologie) mit vollgültigen Beweisen aus der Wissenschaft der Berechnung (Arithmetik) und die Wissenschaft von den Abmessungen (Geometrie) und die Wissenschaft von den Proportionen kennt, (erst) dann kann er zur höchsten Stufe aufsteigen, so daß er das Geheimnis der Seele erkennt und die Engel des Höchsten11 und die kommende Welt" usf.12. Der Text deutet an, daß es mit der Erkenntnis der oberen Welt seine besondere Bewandtnis hat, und zwar - bedenkt man den Zusammenhang, in welchem er steht - auch und gerade in bezug auf Gotteserkenntnis. Er macht zugleich noch etwas anderes deutlich, dies nämlich, daß in der Sicht Ibn Ezras ein Zusammenhang besteht zwischen Welterkenntnis und Selbsterkenntnis und damit auch zwischen Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis. Später wird hierauf näher einzugehen sein13. Die Ausführungen sind nicht so zu verstehen, als sei Gotteserkenntnis erst dann möglich, wenn die höchste Stufe der Erkenntnis der Welt bzw. der Werke Gottes erreicht ist. Das vorletzte Zitat handelt von der Gotteserkenntnis aus der Erkenntnis der Werke Gottes, ohne daß die obere Welt überhaupt genannt wird. Die Vorstellung ist offenbar diese, daß von jeder Stufe der Welt- bzw. Selbsterkenntnis her Gotteserkenntnis möglich ist. Es ist lediglich vonnöten, das Werk wirklich als Werk, d. h. als Gewirktes, zu begreifen. Damit wird der Blick auf den Wirkenden frei. Natürlich ist die Gotteserkenntnis aus den Werken der niederen Welt weniger vollkommen als die aus den Werken der mittleren, geschweige denn denen der oberen Welt. Die Gotteserkenntnis ist um so vollkommener, je weniger das Wirken, wodurch die Werke, aus denen die Gotteserkenntnis geschieht, gewirkt sind, nur mittelbar göttliches Wirken ist. Die höchste Form der Gotteserkenntnis ist also die aus jenen Werken, die unmittelbar auf Gott zurückgehen. Diese Werke sind die mal'äkim oder Intelligenzen und die ihrer Welt zugehörige menschliche Seele - n e sämäh. 11

Mit dem Höchsten kann das Höchste, d. h. die obere Welt, oder audi der Höchste, d. h. Gott selbst, gemeint sein. In jedem Falle sind die Engel des Höchsten die obersten Engel oder Intelligenzen, die Wesen der oberen Welt. 12 »'jk jljpi 'dm Id't nigb mmnw, whw' Γ jd' mh npiw wmh gwjtw, rq hjwd' hkmt htwldwt wkl r'jwtjh, wljkmt hmbt' ld't hklljm, ihm Swmrj hhwmwt, whkmt hmzlwt br'jwt gmwrwt, mljkmt hhibwn, whkmt hmdwt, whkmt h'rkjm, 'z jwkl l'lwt 1 m'lh gbwhh, ld't swd hnp?, wml'kj 'ljwn, wh'wlm hb* . . (J'sod morä', I, Ed. Stern, 16b) 13 Vgl. audi das den Haj bert MeqU behandelnde Kapitel „Sinn und Gestalt der Dichtung".

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Im folgenden geht es allein um diese zuletzt erwähnte höchste Form der Gotteserkenntnis. Ibn Ezra äußert sich zu dieser Gotteserkenntnis am ausführlichsten an jenen Stellen seines Werkes, die die Gestalt des Mose, insbesondere seine Mittlerrolle bei der Offenbarung der Torah behandeln. Auch wenn er von anderen Fragestellungen her darauf zu sprechen kommt, führt er nicht selten Texte aus der Mosegeschichte als Schriftbelege für seine Auffassung an. Mose ist die überragende Gestalt der jüdischen Uberlieferung, ihm wird durchweg die größtmögliche Gottesnähe zugesprochen14. So sieht ihn auch Ibn Ezra. „Kein Mensch weder vor ihm noch nach ihm", bemerkt der Kommentator im gängigen Kommentar zu Ex 33,21, „reicht an seine Stufe heran" 15 . Größtmögliche Gottesnähe bedeutet aber - zumindest für Ibn Ezra — zugleich Vollkommenstmögliche Gotteserkenntnis. Dies ist von jenem nicht zu trennen. Wir werden uns deshalb im folgenden vornehmlich auf Mose und seine Mittlerrolle betreffende Stellen aus dem Werk Ibn Ezras beziehen. In den vorausgehenden Ausführungen ist festgestellt worden, daß menschliche Gotteserkenntnis nach Auffassung Ibn Ezras immer und nur Erkenntnis Gottes aus seinen Werken ist. Nun enthält aber die Schrift Mose betreffende Stellen, die in eine andere Richtung zu verweisen scheinen. Ex 33,11 heißt es: „Es sprach Gott zu Mose von Angesicht zu Angesicht". Ähnlichen Inhalts ist das Gotteswort aus dem Buche Numeri: „Von Mund zu Mund spreche ich mit ihm [Mose]" (12,8). Ibn Ezra weicht diesen Texten keineswegs aus. Im kürzeren Exoduskommentar bemerkt er zu der ersten zitierten Stelle, sie werde mit dem Vers erklärt: „Zeige mir deine Herrlichkeit" (Ex 33,18). Dort heißt es sodann: „Die Erklärung (lautet), daß es [das Wort deine Herrlichkeit] gleicher Bedeutung ist wie dich selbst"16. Moses Verbindung mit Gott ist also eine Verbindung mit Gott selbst. Die Bemerkung Ibn Ezras zu N m 12,8, der zweiten zitierten Stelle, bestätigt diese Auffassung. Es heißt dort, das Schriftwort: „Von Mund zu Mund spreche ich mit ihm", habe den Sinn: „ohne ein Vermittelndes" 17 . Lassen sich diese Aussagen mit der zuvor skizzierten Lehre des Philosophen in Einklang bringen? Ibn Ezra unterscheidet eine zweifache Unmittelbarkeit zu Gott: die Unmittelbarkeit zu Gott, sofern er das Ganze 14 Vgl. u. a. R. Bloch, Die Gestalt des Moses in der rabbinisdien Uberlieferung (Deutsche Übersetzung von K. Hruby), in: Moses in Schrift und Überlieferung, Düsseldorf 1963, 95-171. 15 „wl* hgj' 'dm lpnjw w'hrjw Ί m'ltw." (Gang. Kom. zu Ex 33,21) i* „wpj' pnjm Ί pnjm bpswq hr'nj n' 't kbwdk." (Kürz. Kom. zu Ex 33,11, Ed. Reggio, 103) „wj'mr h r ' n j n' 't kbwdk, pjrwiS kmw 'smk." (Kürz. Kom. zu Ex 33,18, Ed. Reggio, 104) " „ph Ί ph 'dbr bw ht'm bl' 'ms'j." (Kom. zu Nm 12,8)

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des Guten oder das Gute schlechthin ist, und die Unmittelbarkeit zu Gott, sofern er das Ganze ist, das Ganze in ihm ist und seine Herrlichkeit das Ganze erfüllt. So heißt es in J'sod morä', X I I : „Von daher kann der Begreifende den Einen (oder: das Eine) erkennen, sofern (nämlich) das Ganze in ihm ist, hängt er (ihm) an, nur sofern er das Gute schlechthin ist, gibt es keine Kraft im Geschaffenen18, ihn (oder: es) zu erkennen" 19 . Von der ersten Art ist auch die Beziehung Moses zu Gott, von der zuvor gezeigt worden ist, daß Ibn Ezra sie als unmittelbare Beziehung betrachtet. Der Philosoph schreibt im Exkurs des gängigen Kommentars zu Ex 33,21: „Siehe (das Schriftwort) »dann siehst du meinen Rücken« [Ex 33,23] (bedeutet): sofern er das Ganze ist und seine Herrlichkeit das Ganze erfüllt und das Ganze von ihm ist"20. Der Mensch vermag also Gott nur insofern zu schauen, als Gott das Ganze ist. Die biblische Rede vom Rücken Gottes ist als Bild aufzufassen, sie meint Gott, sofern er das Ganze ist. Im kürzeren Exoduskommentar bemerkt Ibn Ezra zu derselben Stelle: „Meiner Meinung nach spricht (hier) die Schrift nach ihrer Weise, denn wir haben ein klares Wissen (davon), daß Gott kein Körper ist" 21 . Wie die biblische Rede vom Rücken Gottes Gott, sofern er das Ganze ist, bezeichnet, so meint das unmittelbar folgende Wort vom Angesicht Gottes, das nicht gesehen wird 22 , Gott, sofern er das Gute schlechthin bzw. das Ganze des Guten ist. Im kürzeren Exoduskommentar schreibt der Verfasser: „Der Sinn des (Schriftwortes) »ich lasse das Ganze meiner Güte vorübergehen« ist das Angesicht"23. Das Ganze der Güte oder des Guten ist nach Auffassung Ibn Ezras gerade das, was Gott bei seinem Vorübergang vor Mose verbirgt, ja verbergen muß, um ihn zu schützen24. Daß es Ex 33,23 heißt, das Angesicht Gottes werde nicht gesehen, Ex 33,11 aber, Gott habe mit Mose von Angesicht zu Angesicht gesprochen, bildet in der Sicht Ibn Ezras keinen Widerspruch. Die Rede vom Angesicht Gottes hat hier und dort einen anderen Sinn. Der Ausdruck „von Angesicht zu Angesicht" verweist lediglich auf eine unmittelbare Beziehung. Er besagt nicht, daß es 18

Der von Stern edierte Text hat näbi' - Prophet. Es muß indessen wie in der Editio princeps (analog zu der weiter oben zitierten Stelle des kürz. Kom. zu Ex 33,13, Ed. Reggio, 103) nibrä' - Geschaffenes heißen. 19 „wmzh hdrk jwkl hmskjl ld't h'hd mp't shkl bw hw' dbq rq mp't htwb kwlw 'jn kh bnbr' [Ed. Stern: bnbj'] ld'tw." (J'sod morä', XII, Ed. Stern 43a) 20 „whnh wr'jt 't 'hwrj mp't Shw' hkl wkbwdw ml* hkl wm'tw hkl." (Exkurs des gäng. Kom. zu Ex 33,21) 21 „wlpj d'tj iShktwb dbr kmnhgw, kj jd'nw d't brwrh kj 'jn h?m gwp." (Kürz. Kom. zu Ex 33,23, Ed. Reggio, 104) 22 Vgl. Ex 33,23 (Ende). 23 „wt'm "bjr kl twbj hm hpnjm." (Kürz. Kom. zu Ex 33,19, Ed. Reggio, 105) 2* Vgl. Ex 33, 17-23.

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um ein Erscheinen dessen geht, was nach der dargestellten Auffassung in E x 33,23 mit dem Angesicht Gottes gemeint ist. Läßt sich näherhin sagen, was mit der Unterscheidung zwischen Gott, sofern er das Ganze des Guten bzw. das Gute schlechthin ist, und Gott, sofern er das Ganze ist und das Ganze erfüllt, gemeint ist? Vorweg ist darauf hinzuweisen, daß diese Unterscheidung selbstverständlich nicht im Sinne einer innergöttlichen Differenz zu verstehen ist. Die Unterscheidung betrifft nicht Gott, wie er in sich selber ist, sondern das Verhältnis der Geschöpfe zu Gott 2 5 . Das Ganze - hak-kol bezeichnet bei Ibn Ezra das Ganze der Schöpfung bzw. das All oder Universum (und zwar als gestaltetes, also ausschließlich der Materie der irdischen Welt, sofern sie ein schlechthin Vorliegendes ist) oder auch jenen Teil der Schöpfung, der die Ursache der anderen Teile ist und so das Ganze enthält: die obere Welt 26 . Gott, sofern er das Ganze ist, ist also Gott als Schöpfer und Gestalter des Universums, Gott als Wirkender. Im folgenden wird dies noch deutlicher werden. Mit Gott, sofern er das Ganze des Guten oder das Gute schlechthin ist, ist etwas anderes gemeint. Dies folgt nicht nur aus den bereits angeführten Texten, sondern wird auch an einer anderen Stelle unzweideutig ausgesprochen. „Der Sinn von »das Ganze meiner Güte« [Ex 33,19] ist", schreibt Ibn Ezra im Exkurs des gängigen Kommentars zu Ex 33,21, „daß es nicht wie das Ganze ist und nicht in dem Ganzen und nicht mit dem Ganzen" 2 7 . Gott, sofern er nicht das Ganze, nicht im Ganzen und nicht mit dem Ganzen ist, kann aber nichts anderes sein als Gott, wie er in sich selber ist. Zu Gott, wie er in sich selber ist, hat das geschaffene Sein keinen Zugang, es vermag nur zu Gott, sofern er der Schöpfer des Alls ist, hinzugelangen. „Siehe", heißt es im Exkurs des gängigen Kommentars zu Ex 33,21, „Mose, Friede sei ihm, vermag mit dem Auge seines Herzens zu erkennen und zu sehen, wie die Geschöpfe dem Schöpfer der Schöpfung anhangen, der (da) genannt wird: Rücken" 28 . Die Gottesschau des Mose, von der (u. a.) in E x 33 die Rede ist, geht also auf Gott als Schöpfer. Eben dies ist der Sinn der Phrase: „dann siehst du meinen Rücken" (Ex 33,23). Dieses, nämlich — bildlich gesprochen — Gottes Rücken zu sehen, ist die erhabenste Stufe der Gotteserkenntnis, zu der geschaffenes Sein befähigt ist. Es ist eine Gotteserkenntnis, die sich zwar nicht auf Gott, wie er in sich selber ist, d. h. Gottes Wesen, dennoch aber auf Gott selber, » Vgl. den kürz. Kom. zu Ex 33,22, Ed. Reggio, 105. 2 6 Vgl. u. a. die bereits zitierte Stelle aus dem Exkurs des gäng. Kom. zu Ex 33,21, an der es heißt, seine (nämlidi Gottes) Herrlichkeit erfülle das Ganze - hak-kol. 2 7 „wt'm kl twbj S'jnw kmw hkl wl' bkl wP 'm hkl." (Exkurs des gäng. Kom. zu Ex 33,21) 2 8 „whnh müh ' "h jkwl ld't wlr'wt b'jn lbw 'jk hbrjwt dbqwt bjwsr br'Sjt hnqr' 'hwrjm." (Exkurs des gäng. Kom. zu Ex 33,21)

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nämlich auf Gott als Wirkenden, richtet. Das Augenmerk gilt in dieser Erkenntnis dem Punkte, in dem das gewirkte Werk mit dem es wirkenden Gott zusammentrifft. Sie ist damit einerseits über alle bloß schlußfolgernde Ermittlung des Schöpfers aus seinen Geschöpfen hinaus, andererseits aber dennoch Erkenntnis des Schöpfers aus seinen Geschöpfen. Die Verbindung mit Gott, in welcher die Seele auf dieser Erkenntnisstufe steht, läßt sich vielleicht am ehesten als eine Verbindung vermittelter Unmittelbarkeit bezeichnen. Rosins Unterscheidung zwischen einer „theils unmittelbare[n], wie bei Moseh, theils durch Engel vermittelte[n] Beziehung" zu Gott ist irreführend29. Einerseits ist auch die Gotteserkenntnis des Mose durch Engel vermittelt und andererseits vermögen auch die übrigen Menschenseelen zu der Stufe der Gotteserkenntnis des Mose zu gelangen. Wenn es heißt, die Stufe des Mose habe vor ihm und nach ihm keiner erreicht30, so soll damit aller Wahrscheinlichkeit nach nur gesagt sein, daß niemand außer Mose bereits zu Lebzeiten solcher vollkommenen Gotteserkenntnis teilhaftig geworden ist. Im kürzeren Exoduskommentar beschließt Ibn Ezra seine Erklärung des Mose betreffenden Schriftwortes: „dann siehst du meinen Rücken", mit der Bemerkung: „dies ist für den (noch) Lebenden nicht möglich wegen des Körpers" 31 . Es ist indessen hinzuzufügen, daß Ibn Ezra, wie sidi später zeigen wird, an dieser Auffassung nicht konsequent festhält. Der geschilderten Gotteserkenntnis, die als eine Erkenntnisbeziehung vermittelter Unmittelbarkeit charakterisiert worden ist, sind nur die Wesen fähig, deren Sein unmittelbar auf Gott bzw. göttliches Wirken zurückgeht. Die Seinsunmittelbarkeit zu Gott ist der Grund der dargestellten Erkenntnisunmittelbarkeit. Unmittelbar von Gott gewirkt sind die Wesen der oberen Welt, d. h. die obersten Engel, und — was ihr Wesen betrifft - die menschliche (Geist-) Seele32. Wenngleich den obersten Engeln verwandt, unterscheidet sich diese jedoch von den Engeln dadurch, daß sie — und zwar der Verbindung mit dem Körper zufolge — von sich aus passiver Intellekt

2» Rosin, Religionsphilosophie, M G W J 43, 240. 30 Gang. Kom. zu Ex 33,21; vgl. Anm. 15. 31 „wzh 1' jtkn lhj b'bwr hgwp." (Kürz. Kom. zu Ex 33,23, Ed. Reggio, 104) 32 Neben den im folgenden Kapitel angegebenen Texten zur Wesensverwandtschaft der menschlichen Geistseele und der obersten Engel (vgl. Anm. 40 u. 41) s. den gäng. Kom. zu Gn 1,26, wo es heißt: „Danadi sprach Gott zu den obersten Engeln: »Lasset uns den Mensdien machen«. Wir [d. h. Gott und die obersten Engel] wollen uns damit befassen, nidit das Wasser und die Erde" - „w'h"k 'mr hSm lml'kjm n'sh 'dm. 'nhnw nt'sq bw wl' hmjm wh'rs." (Die Wirksamkeit der obersten Engel bei der Konstituierung des Mensdien betrifft in bezug auf die Geistseele deren Verbindung mit dem Körper.) Vgl. zur Frage der Gottunmittelbarkeit des Mensdien auch Perlitz, Filosofische Ansichten Ibn Ezras, 729.

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ist. Während die obersten Engel als aktive Intellekte von vornherein aktuell erkennende Wesen sind, ist dies die vernünftige Seele anfänglich nur der Möglichkeit nach. Die Aktualisierung dieser Potenz geschieht durch „Information" von Seiten des (oder eines) aktiven Intellekts. Gelangt die (Geist-) Seele zu der beschriebenen Form der Gotteserkenntnis, so ist diese also nicht nur in dem Sinne mittelbar, daß sie Erkenntnis Gottes aus seinen Werken ist (dies trifft ebensowohl für die Gotteserkenntnis der Intelligenzen zu), sondern auch insofern, als die Seele sich nur durch die aktualisierende bzw. „informierende" Mittlertätigkeit eines Wesens der oberen Welt zu ihr zu erheben vermag. Dies ist der gedankliche Hintergrund der Bemerkung des Ibn Ezra, daß es Mose, als er sein „Gespräch mit dem Schöpfer der Schöpfung, nicht mit einem Engel" (also unmittelbar mit Gott) führte 33 , gelungen war, „sich mit den Formen, die keine (körperliche) Substanz haben, zu vereinigen". „Sie nämlich", fährt er fort, „sind die Leiter für den Aufstieg zum Erhabenen" 3 4 . In den Prozeß der Vereinigung mit den obersten Engeln, der ein Erkenntnisprozeß ist, kann die menschliche Seele nur eintreten, weil sie von Anfang an der Welt dieser Engel wesentlich zugehört. Was sich der Seele in diesem Erkenntnisprozeß fortschreitend enthüllt, ist letztlich nichts anderes als das Geheimnis ihres eigenen Seins. Das Ziel des Prozesses ist die geschilderte höchste Form geschöpflicher Gotteserkenntnis. Das Werk, das in dieser Gotteserkenntnis als unmittelbar von Gott gewirktes erfaßt wird und an welchem in jenem Punkte, in dem es an den Wirkenden rührt, dieser Wirkende selbst, nämlich Gott, in Erscheinung tritt, ist somit das eigene Selbst. Dies gilt für die menschliche Seele ganz ebenso wie für die Engel. Die bezeichnete Gotteserkenntnis vollzieht sich also durch Selbsterkenntnis. So wird verständlich, daß Ibn Ezra im Haj ben Meqis den gleichnamigen Führer, ein Wesen der oberen Welt, der menschlichen Seele, nachdem sich diese bereits zur Schau der Intelligenzen erhoben hat, sagen läßt: „Wenn du meinen Worten folgst, an meinen Weisungen festhältst, auf meinen Wegen wandelnd von meinen Spuren nicht weichst und deinen (eigenen) Geist erkennst nach Kraft und Vermögen, dann wirst du imstande sein, Ihn zu erkennen und Ihn zu schauen" 33 . „wzh dbwr 'm jwsr br'sjt jdbr Γ 'm ml'k." (Kürz. Kom. zu Ex 33,23, Ed. Reggio, 104) 3 1 „wht'm lht'hd bjwrwt SS'jn 'sm Ihm kj hm hslm l'lwt Ί hnsgb." (Kürz. Kom. zu Ex 33,23, Ed. Reggio, 104) 35 V. 687-693 (nach der Zählung der dieser Arbeit beigegebenen Gesamtüberset-

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Die dargestellte Lehre von der Gotteserkenntnis ist eine philosophische Lehre. Auch die höchste Form der Gotteserkenntnis ist von den Prinzipien rationaler Erkenntnis, wie Ibn Ezra sie konzipiert, her verstehbar. Das bedeutet indessen nicht, daß diese Theorie nicht wenigstens in einem weiteren Sinne audi als mystische Theorie bezeichnet werden könnte. Die verwendete Terminologie, die Rede von der Vereinigung mit den obersten Wesen, dem Anhangen an den obersten Wesen, dem Anhangen an Gott usf., sowie die Auffassung, daß es zu alledem nur unter der Bedingung der Loslösung vom Leibe, wie überhaupt von den Dingen der irdischen Welt kommen kann, lassen dies gerechtfertigt erscheinen. Ob und wieweit von einer ekstatischen Gottesschau oder Vereinigung mit Gott die Rede sein kann, wird anschließend noch kurz zu erörtern sein. Es ist indessen festzuhalten, daß es, wie angedeutet, einen Bruch zwischen rationaler Erkenntnis und Gottesschau in der Sicht Ibn Ezras nicht gibt. Wenn L. Gardet über die avicennische Lehre von der Erkenntnis der Intelligenzen und Gottes schreibt: „Connaissance des intelligibles et de Dieu, non en leurs effets, maiseneux-memes; mais connaissance naturelle, puisque s'operant en l'ame, telle qu'elle est par nature, et m£diate cependant, en ce medium de l'äme, qui est pure transparence, et se perd lui-meme du regarde", so wird deutlich, daß Ibn Ezra auch in seiner Theorie der Gotteserkenntnis dem Denken des Avicenna zumindest nahesteht36. Die Formulierung Gardets: „non en leurs effets", sagt, wie die folgenden Ausführungen zum medium der Seele zeigen, nicht, nach Auffassung Avicennas gebe es eine Gotteserkenntnis, die nicht mehr Erkenntnis Gottes aus seinen Werken ist, sondern lediglich, daß die Erkenntnis, um die es hier geht, Erkenntnis der Intelligenzen und Gottes selbst ist. In der Sicht Ibn Ezras setzt höhere Erkenntnis Distanzierung vom Leibe und seinen Bedürfnissen voraus. So schreibt der Philosoph im Kommentar zu Dn 2,11: „Deshalb erkennen sie [die Seelen] von den Geheimnissen nur ein wenig und in den Visionen der Nacht, wenn die Seelen nicht mit den Bedürfnissen des Leibes befaßt sind" 37 . Zur Erreichung der höchsten Stufe der Gotteserkenntnis bedarf es vollkommener Trennung vom Leibe. Die Frage dieses Abschnittes ist, ob es zu solcher vollkommenen Loslösung vom Leibe und damit zu der erörterten Form der Gotteserkenntnis schon zu Lebzeiten des Menschen kommen kann. Im Exkurs des gängigen Kommentars zu Ex 33,21 und im kürzeren zung). Derhebr. Text lautet: „'m ttmwk bdbrj wthzjq bmwsrj wtlk bdrkj wl'-tswr m'hrj wtd' 't rwhk kpj jkltk wkhk 'z twkl ld'tw wlhzwt 'wtw." (Rosin, Reime und Gedichte, 199) 36 Gardet, La pensee, 167; s. auch 149. 37 »'1 kn 'jnmw jwd'wt hnstrwt rq m't wbmr'wt hljlh JS'jn hnSmwt mt'sqwt bjrkj hgwp." (Kom. zu Dn 2,11)

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Kommentar zu Ex 33,23 (in beiden Abschnitten geht es um Mose) scheint Ibn Ezra dies prinzipiell zu verneinen. In dem ersten Texte heißt es: „Siehe, nach dem Tode des Begreifenden erreicht dessen Seele die höchste Stufe, die er während des menschlichen Lebens nicht erreicht"38. Ähnlich äußert sich der Kommentator an der zweiten Stelle: „Der Sinn [von Ex 33,23: »dann siehst du meinen Rücken«] ist (dieser), sich zu vereinigen mit den Formen, die keine (körperliche) Substanz haben. Denn sie sind die Leiter des Aufstiegs zum Erhabenen. Dies aber ist für den (noch) Lebenden nicht möglich wegen des Körpers" 39 . Nach den Ausführungen der angegebenen Stellen bildet lediglich Mose eine Ausnahme von dieser Regel. Darin gerade, so scheint es nach diesen Texten, liegt die besondere Würde des Mose, daß er im Unterschied zu dem, was anderen Menschen möglich ist, bereits zu seinen Lebzeiten gewürdigt wurde, zur höchsten Erkenntnisstufe aufzusteigen. Der Zustand, in dem sich Mose auf dieser Erkenntnisstufe befand, wird, wie schon Rosin gesehen hat 40 , als ein Zustand der Entrückung oder Ekstase beschrieben. „Der sich Vereinigende", führt Ibn Ezra aus, „hat keine (sinnliche) Wahrnehmung (mehr), und zu derselben Zeit löst sich die Kraft der Seele vom Körper" 41 . Während in diesen Texten die Erhebung der noch nicht endgültig vom Leibe getrennten Seele zur höchsten Erkenntnisstufe als ein Privileg des Mose erscheint, ist indessen an anderen Stellen auch ohne jeden Bezug auf Mose von ihr die Rede. So heißt es beispielsweise in der Erläuterung des Psalmworts: „Ich erwache und bin noch bei dir" (Ps 139, 18): „Siehe, dies ist wie eine Vision Elohims. Es ruht der Körper, wenn die Seele des Menschen der höchsten Seele42 anhängt" 43 . Deutlicher noch ist ein Wort aus dem Kommentar zu Ps 16,8. Hier schreibt Ibn Ezra über das Ich des Textes: „Seine Seele hängt ihrem Schöpfer an noch vor ihrer (endgültigen) Trennung von ihrem Körper" 44 . In dieselbe Richtung verweist der

„whnh 'hrj mwt hmskjl tgj* nämtw lm'lh gdwlh ül' jgj* bw bhjj h'dm." (Exkurs des gäng. Kom. zu Ex 33,21) 39 „wht'm lht'hd b?wrwt 2'jn 'sm Ihm kj hm hslm l'Iwt Ί hnsgb wzh 1' jtkn lhj b'bwr hgwp." (Kürz. Kom. zu Ex 33,23, Ed. Reggio, 104) « Vgl. Religionsphilosophie, MGWJ 42, 504. 41 „hmt'hd 1' jrgjä wb'wth h't jswr kh hnSmh m'l hgwp." (Kürz. Kom. zu Ex 33,22, Ed. Reggio, 105) 42 Die höchste Seele ist nicht die Weltseele, sondern das Ganze der oberen Welt, d. h. der Welt der Intelligenzen. Vgl. hierzu das Kapitel „Die Welt der Engel". 43 „whnh hw' kmr'h 'lhjm whgwp !Swkb bhdbq nlmt h'dm bnSmh h'ljwnh." (Kom. zu Ps 139,18) 44 „nSmtw dbwqh bbwr'h trm hprdh m'l gwjth." (Kom. zu Ps 16,8) Ähnlich heißt es in J'sod morä', X, Ed. Stern, 34b: „ . . . 'z thjh hnsmh dbqh bSm hnkbd b'wdh b'dm".

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Ha) ben Meqis, besonders der weiter oben zitierte Abschnitt aus dieser Dichtung45. Trotzdem bleibt gültig, daß die menschliche Seele die Gotteserkenntnis der charakterisierten Stufe in der Regel und endgültig erst nach dem Tode erreicht. Vor dem Tode gelangt sie nur ausnahmsweise und für kurze Zeit, d. h. in einem Zustand temporärer Entrückung, dahin.

4. Die Welt der Engel Wie in allen neuplatonischen Systemen so ist auch in dem Ibn Ezras das Problem der Vermittlung zwischen Gott und der irdischen Welt von zentraler Bedeutung. Dieses Problem ist der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Sie zielt also nicht darauf ab, eine umfassende Ubersicht und Analyse der Erläuterungen Ibn Ezras zu den biblischen Engeltexten zu geben. Nicht, was Ibn Ezra zu jeder einzelnen der biblisdien Engelgestalten zu sagen hat, interessiert, sondern welchen Platz in seinem philosophischen System die zwischen Gott und der irdischen Welt vermittelnden Wesen einnehmen, die er nach biblischem Vorgange u. a. als Engel - mal'äkim oder mesäretim usf. - bezeichnet. Es geht somit um die philosophische Engellehre. Daß Ibn Ezra diese vor allem an den Stellen seines Kommentarwerkes entwickelt, die biblischen Engelgestalten gewidmet sind, ist für unsern Zusammenhang unerheblich und braucht somit nur beiläufig angemerkt zu werden. Aus dieser Zielsetzung ergibt sich, daß jene Gruppe von Phänomenen, die zwar in der Bibel als Engel bezeichnet werden, jedoch nach Auffassung des Kommentators mit den Mittelwesen seines philosophischen Systems nichts zu tun haben, sondern zur Erfüllung bestimmter Aufgaben in jedem einzelnen Falle von Gott geschaffen werden - Ibn Ezra spricht von „Engeln, die in jedem Augenblick neu entstehen"1 - , in unserem Kontext außer Betracht bleiben kann2. Rosins Abhandlung über die Religionsphilosophie Ibn Ezras enthält einen längeren Abschnitt über die Engellehre3. Die Darstellung ist dadurch charakterisiert, daß Ibn Ezras Ausführungen zu den Engeln bzw. Mittelwesen von Anfang an mit dem Blick auf die neuplatonische Stufenfolge Geist-Seele-Natur, vor allem auf die durch diese Folge bestimmte

« V. 687-693 (s. Anm. 35). 1 „hml'kjm hmthdsjm bkl rg'." (Kürz. Kom. zu Ex 23,20, Ed. Reggio, 69) S. audi fragm. Kom. zu Gn 1,1, Ed. Friedlaender, 21. 2 Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung Rosins: Religionsphilosophie, MGWJ 42, 212-214 und 241-242. s MGWJ 42, 208-214 und 241-243.

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Substanzenlehre Ibn Gabirols 4 , den Begriffen Weltgeist und Weltseele unterstellt werden. (Von der Natur ist nur am Rande die Rede 5 .) L. Orsdiansky knüpft in seiner nur wenig jüngeren Arbeit über die Philosophie Ibn Ezras an diese Darstellung an und baut sie weiter aus. Seiner Auffassung nach sind bei Ibn Ezra drei intelligible Substanzen zu unterscheiden: der Weltgeist - rüah 'äljönäh, die Weltseele — nesämäh 'äljönäh oder nismat sämajim und die Natur - hokmäh 'äljonäh 6 . Aus diesen intelligiblen Substanzen „geht dann die Engel- und Sphärenwelt hervor" 7 . Diese ist wiederum dreifach und umfaßt das Reich der Geister und Engel - n e sämöt (oder - nach Rosin - nismöt 8 ) süröt >ä mät b e lo' güföt, die Stern- und Mensdienseelen - n e sämöt b e güföt und die in Sphären befestigten Gestirne - güföt b e güföt 9 . Diese Darstellung unterscheidet sich von derjenigen Rosins nicht nur dadurch, daß die Natur einen festen Platz im System erhält, sondern zusätzlich durch die Annahme zweier Engeltriaden. Orschanskys Deutung, nach der zwischen rüah 'äljonäh als Weltgeist, n'sämäh 'äljonäh als Weltseele und hokmäh 'äljönäh als Natur zu unterscheiden ist, erscheint schon terminologisch — ungeachtet dessen, ob es im System Ibn Ezras die genannte Triade gibt oder nicht — problematisch. Der Begriff rüah ist in erster Linie Seelenbegriff, und zudem wird in der Regel die rüah der nesämäh untergeordnet und nicht umgekehrt 10 . Noch weniger einsichtig ist es, daß der Begriff hokmäh (äljonäh) (höchste) Weisheit — die Natur bezeichnen soll. Nach der Einleitung zum Qoheletkommentar ζ. B. ist „mit den nie sich trübenden Augen der Weisheit" Einsicht in Grund und Geheimnis der (eigenen) Seele zu gewinnen. Diese Überlegungen reichen indessen nicht aus, die Frage zu klären. Es ist vielmehr zu überprüfen, auf welche Aussagen Ibn Ezras die Terminologie sich stützt. Damit wird zugleich deutlich werden, ob der mit dieser Terminologie bezeichnete Inhalt, die vorgetragene Konzeption der Hypostasentriade Weltgeist-Weltseele-Natur, aufgrund dieser Aussagen als Lehre des Ibn Ezra ausgemacht werden kann. Für den Gebrauch des Begriffes rüah 'äljönäh im Sinne von Weltgeist führt Orschansky lediglich eine Stelle an. Sie entstammt dem Kommentar zu Ps 143. Vers 10 dieses Psalmes lautet: „Lehre mich deinen Willen zu tun, denn du bist mein Gott. Dein guter Geist (rüh a kä töbäh) führe mich auf ebner Bahn." Zu dem Ausdruck dein Geist - rüh a kä bemerkt Ibn Ezra: * Religionsphilosophie, MGWJ 42, 209. s Religionsphilosophie, MGWJ 42, 211, Anm. 2. 6 Orschansky, Abraham Ibn-Esra, bes. 8 u. 19. 7 Orsdiansky, Abraham Ibn-Esra, 20. » Rosin, Religionsphilosophie, MGWJ 42, 210. » Orschansky, Abraham Ibn-Esra, 20. io S. u. a. J'sod morä', VII, Ed. Stern, 28a, und Kom. zu Qoh 7,3.

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„Rabbi Salomo der Spanier, sein Andenken sei gesegnet, sagt: eine Kraft von der höchsten Seele (oder: dem höchsten Geist) (me-hä-ruah hä'äljönäh)." Da ruah ebensowohl Seele wie Geist heißen kann, ist ein sicherer Schluß nicht möglich. Zudem referiert Ibn Ezra hier eine These Ibn Gabirols. Die gewählte Terminologie muß mit der seinen nicht identisch sein. Drei Stellen sollen den Gebrauch des Begriffs n e sämäh 'äljonäh im Sinne von Weltseele belegen. Die erste ist nicht, wie angegeben, dem Kommentar zu Ps 149,6, sondern zu Ps 150,6 entnommen. Ibn Ezra kommentiert den Ausdruck des Psalms kol han-n e sämäh - die ganze (oder: das Ganze der) Seele: „Rabbi Salomo der Spanier sagt: dies sei eine Anspielung auf die höchste Seele, die in den Himmeln ist." Die Lehre von der Weltseele vorausgesetzt, läßt sich dieser Text durchaus im Sinne der Deutung Orschanskys verstehen. Dies besagt, daß Ibn Ezra hier möglicherweise an die Lehre Ibn Gabirols von der universalen Seele erinnern will. Sicher ist dies indessen nicht. Es kann ebensowohl auf die gabirolsche Weltgeistlehre angespielt sein. Zudem bleibt unklar, ob Ibn Ezra die gabirolsche Anschauung, auf die er hier hinweist, in eben der Fassung, die Gabirol ihr gegeben hat, für sich selber in Anspruch nimmt. Als zweiten Beleg zitiert Orsdiansky den vorgeblich aus dem Kommentar zu Ps 139,17 stammenden Text: „Der Leib ruht, wenn die (vernünftige) Seele des Menschen der höchsten Seele anhängt", als dritten den Satz des Kommentars zu Ps 49,16: „Dies ist der Sinn des (Wortes) »er [Gott] nimmt mich (hinweg)« [Ps 49,16], daß seine Seele der höchsten Seele, der Himmelsseele, anhängt" 11 . Das zweite Zitat steht nicht, wie angegeben, in den Erläuterungen zu Vers 17, sondern zu Vers 18 des genannten Psalmes. Der Text ist wenig beweiskräftig. Betrachtet man die Stelle für sich allein, so bleibt - audi hier wiederum - vor allem im Dunkeln, ob n e sämäh den Sinn von Geist oder Seele hat. Es bedarf somit der Hinzuziehung anderer Stellen, um den Sinn der Formulierung aufzuhellen. Am weitesten führt das letzte Zitat. Es enthält eine ähnliche Formulierung wie der zuvor zitierte Hinweis aus dem Kommentar zu Ps 150,6 auf Ibn Gabirol. Daraus geht hervor, daß Ibn Ezra hinsichtlich der „höchsten Seele, die in den Himmeln ist", bzw. der „Himmelsseele" der Auffassung Gabirols zumindest nahesteht. So verwundert es nicht, daß auch Rosin den Text als Nachweis für die Weltseelenkonzeption Ibn Ezras anführt 12 . Dennoch bringt auch diese Stelle keine Klarheit. Zunächst stellt sich wieder die Frage, wie n e sämäh zu verstehen ist. Sodann muß hier Ibn Ezras Deutung des von ihm selbst in diesem Kontext als 11

Orsdiansky zitiert fälschlidi iSähi' baS-sämajim statt Sähi' niiSmat hai-Sämajim {Abraham Ibn-Esra, 20). Rosin, Religionsphilosophie, MGWJ 42, 209.

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Parallele zitierten Psalmwortes: „du nimmst mich in Ehren (hinweg)" (Ps 73,24), berücksichtigt werden. Die Deutung lautet, es gehe um „die Verbindung der (vernünftigen) Seele des Gerechten mit den höchsten Wesen, die keine Körper sind" usf. An eben der Stelle, an welcher der Autor im Kommentar zu Ps 49,16 von der - also einer - „höchsten Seele" spricht, nennt er hier eine Pluralität von „höchsten Wesen". Dies hier nur als Hinweis. Im nächsten Abschnitt wird diese Frage näher erörtert werden. Im Kommentar zu Qoh 12,10 und im Exkurs des gängigen Kommentars zu Ex 3,15 findet Orschansky den Begriff hokmäh 'äljönäh im Sinne von N a t u r als intelligibler Substanz verwendet. In dem ersten Text kommentiert Ibn Ezra das Bibel wort: „Qohelet suchte Worte des Wohlgefallens zu finden": „Es ist die höchste Weisheit, wozu er fand". Der Satz läßt mehrere Deutungen zu. Mit der hokmäh 'äljonäh ist möglicherweise schlicht menschliches Wissen um die höchsten Dinge und Wesen gemeint. Der wichtigste Passus des von Orchansky zitierten Textes aus dem Exoduskommentar lautet: „(das Buch Qohelet) spricht über (jene) Werke, denen nichts hinzuzufügen ist und von denen nichts abzuziehen ist und (für die) es keinerlei Neues gibt: die höchste Weisheit". Der Ausdruck „die höchste Weisheit" ist wahrscheinlich auf das Buch Qohelet zu beziehen, dieses enthält oder spricht die höchste Weisheit, weil es von bleibenden Dingen handelt, die keinerlei Veränderung unterworfen sind. In keinem Falle - ob man dieser Erklärung zustimmt oder nicht - kann die Stelle als Beleg für die Lehre von der intelligiblen Substanz Natur in Anspruch genommen werden 13 . Mit den besprochenen Texten läßt sich die These von der Hypostasentriade nicht begründen. Am aufschlußreichsten sind die Stellen über die „höchste Seele", die, wie die Zusatzbestimmung „Himmelseele" lehrt, von der vernünftigen Seele des Menschen verschieden ist. Doch auch sie führen nur weiter, wenn entschieden werden kann, in welchem Sinne hier n e sämäh zu verstehen ist. Um den Untersuchungen Orschanskys und Rosins gerecht zu werden, ist hier jedoch an einen Text Ibn Ezras zu erinnern, der die Bezeichnung der höchsten Seele als Weltseele zu rechtfertigen scheint. Orschansky zitiert den Text - allerdings fragmentarisch, ohne dies kenntlich zu machen - im Zusammenhang mit der Behandlung der Unsterblichkeit der menschlichen Seele 14 . D a ß er in dem zuvor besprochenen Kontext nicht auf ihn hinweist, dürfte auf das Fehlen des Begriffes n e sämäh 'äljonäh zurückzuführen sein, der dort als Terminus technicus sichergestellt werden soll. Rosin bringt ihn in dem Kapitel über die Lehre vom

w Die besprochenen Texte s. Orschansky, Abraham Ibn-Esra, 20. w Abraham Ibn-Esra, 29. 7

G r e i v e : Neuplatonismus

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Menschen15. Im Kommentar zu Ps 22,21 schreibt Ibn Ezra: „Jede menschliche Seele ist eine Einheit, die - (in Verbindung) mit ihrem Körper abgetrennt ist von der Seele des Ganzen"16. Übersetzt man den Ausdruck nismat hak-kol, für den in unserer Übertragung Seele des Ganzen steht, mit Seele des Alls, so drängt sich die Weltseelenvorstellung geradezu auf. In diesem Satz ist nur der Sinn von nesämäh dunkel. Daß es um ein Wesen geht, das rechtens als Weltseele oder Weltgeist bezeichnet werden kann, erscheint als sicher. Dies ist im Auge zu behalten, wenn im folgenden Ibn Ezras Lehre von den Stufen und Klassen der Engelwelt systematisch besprochen wird. Eine eingehende Kritik der eingangs erwähnten zweiten These Orschanskys, nach der die Triade Geist-Seele-Natur sich im Bereich der Sphärenwelt wiederholt, erübrigt sich. Orschansky bringt keine Belegstellen bei, die sich speziell auf diese Verdoppelung beziehen. Die systematische Gegendarstellung wird hinreichend deutlich machen, was es mit dieser These auf sich hat. a) D i e S t u f e n u n d K l a s s e n d e r E n g e l w e l t Zwei Texte des Kommentarwerks Ibn Ezras sind für seine Vorstellungen über die Stufen und Klassen der Engelwelt von besonderer Bedeutung. Es sind dies zwei Texte, an denen der Kommentator zusammenhängend über den dreistufigen Aufbau der Welt spricht. Rosin behandelt sie demgemäß im Zusammenhang mit der Frage nach den Teilen der Welt17. Der eine der Texte findet sich im Exkurs des Kommentars zu Dn 10,21, der andere im Exkurs des gängigen Kommentars zu Ex 3,15. Hinsichtlich der Einteilung der Welt unterscheidet sich die Darstellung des Danielkommentars von der des Exoduskommentars dadurch, daß dort Gott in die Einteilung einbezogen wird (die obere Welt ist die Welt Gottes), während er hier der Gesamtheit der drei Welten streng transzendent gegenübersteht. Damit ist zugleich gegeben, daß die oberste Stufe der Engelwelt im ersten Falle der mittleren Welt zugerechnet wird, während sie im zweiten die obere Welt konstituiert. Die Grundzüge des hierarchischen Aufbaus der Engelwelt werden jedoch durch diese unterschiedliche Zuordnung nicht berührt. In diesem Punkte stimmen die beiden Texte überein. Indessen erscheint in verschiedener Hinsicht, nicht zuletzt auch - wie sich zeigen wird - angesichts der Charakterisierung der obersten Stufe der Engel weit, die im Exoduskommentar angebotene Einteilung als die angemessenere18. Da zudem der gängige Exoduskommen15 Rosin, Religionsphilosophie, MGWJ 42, 450. „wt'm jhjdtj b'bwr hjwt kl n!>mt 'dm jhjdh mtbwddt 'm gwph mnSmt hkl." (Kom. 2u Ps 22,21) 17 Religionsphilosophie, MGWJ 42, 204-205. ι» Vgl. dazu auch Rosin, Religionsphilosophie, MGWJ 42, 205. 16

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tar jünger ist als der Danielkommentar19, dieser wurde 1155, jener 1156 vollendet, werden wir in dieser Darstellung der dortigen Terminologie folgen. Wo immer also im folgenden ohne nähere Erläuterung von der ersten oder oberen Welt die Rede ist, ist damit nicht die Welt Gottes im Sinne des Danielkommentars, sondern die Welt der obersten Stufe der Mittelwesen gemeint. Wie schon Rosin und audi Orschansky gesehen haben, spielt die neuplatonisdie Stufenfolge Geist-Seele-Natur in der Philosophie Ibn Ezras eine systembestimmende Rolle. An der angegebenen Stelle des Danielkommentars nennt Ibn Ezra folgende Bereiche der niederen Welt: feine und grobe Körper sowie Körper, in denen Seelen sind, und unterscheidet sodann zwischen näfäs - der vegetativen Seele, rüah - der animalischen Seele und n e sämäh - der rationalen Seele. Die n e sämäh kommt nur dem Menschen zu, von dem es heißt, er sei „das Geheimnis dieser niederen Welt". Ähnlich, jedoch mit teilweise unterschiedlicher Terminologie, beschreibt er die Teile der niederen Welt an der genannten Stelle des Exoduskommentars. Dort lautet die Reihe: Metalle (sie stehen wohl für den gesamten Bereich der Mineralien), Pflanzen, (animalisches) Leben und - „auf der höchsten Stufe" — der Mensch20. Diese Folge der Bereiche der sublunarischen Welt ist deutlich an dem Schema Natur-Seele-Geist orientiert. Ähnlich die Folge der engelweltlidien Wesenheiten. Die Stufen entsprechen einander. Auf eine der Entsprechungen weist Ibn Ezra in dem diskutierten Text des Exoduskommentars ausdrücklich hin. Nach der Nennung der Metalle als des ersten Bereiches der niederen Welt fährt er fort: „Sie sind sieben (an der Zahl), entsprechend den sieben Dienern". Die Diener -m e sär e tim (ein Wort, das in der Bibel u. a. als Engelbezeichnung dient) sind, wie Ausführungen zur mittleren Welt und auch andere Stellen zeigen, die Planeten und die Leuchten (Sonne und Mond). Die Wahl der Bezeichnung m e sär e tim, die im Exkurs des Kommentars zu Dn 10,21 in einer Reihe mit dem Begriff maPäkim auftaucht, läßt erkennen, daß Ibn Ezra die Planeten und Leuchten zur Engelwelt rechnet. Sie gehören ihrer untersten Stufe an, zu der, wie sich zeigen wird, außerdem die Sterne der Fixsternsphäre zu zählen sind. (Es ist eine der Inkonsquenzen der durchweg gründlichen und inhaltsreichen Untersuchungen Rosins, daß die Himmelskörper in dem Abschnitt über die Engellehre zwar beiläufig erwähnt, nicht aber als der Engelwelt zugehörig erkannt werden.) Die für Ibn Ezras Vorstellungen über den Aufbau der Engelwelt aufschlußreichste Stelle findet sich im Exkurs des Kommentars zu Dn 10,21. Hier wird unterschieden zwischen: (1) nesämot süröt ' ä mät b e lo' 19 Siehe Rosin, Religionsphilosophie, MGWJ 42, 25f. Vgl. auch die mystisch-philosophische Dichtung Ha) ben Meqis, (nach der Zählung der dieser Arbeit beigegebenen Gesamtübersetzung). 20

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güfot, (2) n'sämot b'güfot, (3) guföt k e guf6t 21 . Rosin liest den Ausdruck nsmwt swrwt, der oben mit neämöt süröt wiedergegeben wurde, ni&nöt süröt. Dies würde soviel heißen wie Geister (oder Seelen) von Formen. Das ist jedoch wenig sinnvoll. Der erste Teil der zitierten dreigliederigen Aussage ist vielmehr im Hinblick auf die folgenden beiden, besonders den zweiten zu lesen. Die Formulierung n e sämöt süröt ist eine verkürzte Ausdrucksweise für n e sämöt sähen süröt. Die zusammenhängende Ubersetzung der ganzen Phrase wird deutlich machen, daß dieses Verständnis sich nicht nur als Antwort auf die Frage nach dem möglichen Sinn der Aussage ergibt, sondern auch durch ihren sprachlichen Aufbau nahegelegt wird. Das Wort n'sämot bezeichnet - ganz allgemein geistige Wesenheiten oder Formen, nicht ausschließlich Seelen im engeren Sinne. Es gibt nach unserem Text drei Stufen engelweltlicher Wesenheiten: (1) geistige Wesenheiten, die wahre Formen ohne Körper sind, (2) geistige Wesenheiten in Körpern, (3) Körper als Körper. Die Körper als Körper sind die Sphären, die andernorts ausdrücklich als Körper bezeichnet werden22, mit ihren Gestirnen. Sie bilden die unterste Stufe der Welt der Engel oder Mittelwesen. Die Gestirne heißen auch Göttersöhne - bene ' ä lohim, da sie von den ' ä lohim ausgehen, womit in der Terminologie Ibn Ezras die Wesenheiten der obersten engelweltlichen Stufe gemeint sind23. (Näheres hierzu später.) Ibn Ezra pflegt zwei Gruppen von Gestirnen auseinanderzuhalten, nämlich die Diener - m c sär e tim, d. h. die Planeten und Leuchten (Sonne und Mond), und die Heerscharen — s e ba'äjw, auch s e bä' has-sämajim oder has-säbä' hag-gädöl genannt, d. h. die Sterne der Fixsternsphäre 24 . Sonne und Mond — die beiden Leuchten —, die nach dieser Einteilung zur Gruppe der sieben m e sär e tim gehören, werden zuweilen gesondert gezählt. Daher rührt es, daß gelegentlich von fünf (statt von sieben) m e sär e tim die Rede ist25. Die m e sär e tim stehen nach ausdrücklicher Lehre Ibn Ezras dem Bereich der irdischen Metalle gegenüber. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist die Gesamtheit der untersten Stufe der Engelwelt als überirdische Entsprechung der Gesamtheit des irdischen Bereiches der unbelebten Natur aufzufassen.

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Es dürfte kaum - wie Rosin vorschlägt - güfot b e güfot zu lesen sein. (Vgl. Religionsphilosophie, MGWJ 42, 210 mit Anm. 2) 22 Exkurs des gäng. Korn, zu Ex 3,15: „hglgljm t!>'h shm gwpwt" usf. 23 „hml'kjm nqr'jm 'lhjm whkwkbjm bnj 'lhjm." (Fragm. Kom. zu Gn 1,1, Ed. Friedlaender, 21) Vgl. ferner den kürz. Kom. zu Ex 23,20, Ed. Reggio, 70, und Kom. zu Job 38,7. 24 Es handelt sich um biblische Ausdrücke. Für $ebä'ä;w s. Ps 148,2, auf welche Stelle Ibn Ezra im Exkurs seines Kom. zu Dn 10,21 anspielt, und audi Ps 103,21. 25 Exkurs des Kom. zu Dn 10,21 und Exkurs des gäng. Kom. zu Ex 3,15.

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Über dieser dem Naturbereich der sublunarischen Welt zugeordneten Stufe höherer Wesenheiten erheben sich dem zitierten Text zufolge die geistigen Wesenheiten in Körpern. Mit diesen in Körpern wesenden Geistern sind Seelen im engeren Sinne gemeint. Zu ihnen zählen nicht, wie Rosin angibt, die Menschenseelen. Der Text handelt nicht von irdischen, sondern von himmlischen Seelen. Die Geistseele des Menschen ist zwar nach Herkunft und Wesen himmlischer Art, jedoch nicht wesentlich körperbezogen. Sie befindet sich in ihrem Körper als in ihrem Gefängnis. Zudem ist dieser Körper irdischer Natur. Ganz anders verhält es sich mit den genannten Himmelsseelen. Sie sind wesentlich auf Körper bezogen, jedoch nicht auf irdische, sondern auf sphärische. Die Geistseele des Menschen steht also, sofern sie nach Herkunft, Wesen und Bestimmung gar nicht auf Körperlichkeit bezogen ist, höher als die Seelen der mittleren Welt (hiervon wird noch zu sprechen sein), sofern sie aber tatsächlich einem irdischen Körper verbunden ist, tiefer als jene himmlischen Seelen. Ibn Ezra betont ausdrücklich, daß die Sterne „erhabener sind als wir" 26 . Andererseits verdanken sich Sätze wie dieser: „der Mensch allein ist das Geheimnis dieser niederen Welt", jener ersteren Auffassung, nach der die Geistseele des Menschen, obgleich auf Erden faktisch in einem Körper, wesentlich über jeden Bezug zur Körperlichkeit erhaben ist. Anderes wiederum gilt von der animalischen und der vegetativen Seele des Menschen. Diesen ist ihr Im-KörperSein wesentlich. Da jedoch der Körper, in welchem sie sind, ein irdischer Körper ist, gehören auch sie nicht zu den himmlischen Seelen. Sie teilen das Schicksal der irdischen Körper, entstehen und vergehen mit ihnen27. Demgegenüber heißt es, wie Ibn Ezra vermerkt, in der Schrift über alle Engel oder Mittelwesen 28 : „Denn er gebot und sie wurden geschaffen, er stellte sie hin für immer und ewig, gab ein Gesetz, das nicht vergeht" (Ps 148,5)29. Die menschliche Seele ist somit in keiner Hinsicht der Welt der himmlischen Seelen (im engeren Sinne), d. h. der mittleren Stufe der Engelwelt, zugehörig. Sehr wohl kann indessen — in Analogie zu dem Verhältnis der unbelebten irdischen Natur zu den Himmelskörpern - von einer Zuordnung der vegetativen und der animalischen Seele, und zwar nicht nur des Menschen, sondern aller irdischen Wesen, d. h. des Gesamtbereichs des vegetativen und animalischen oder kurz des irdischen Lebens, zur Welt der himmlichen Seelen gesprochen werden. Im fragmentarischen Genesis26 „whkkbjm ihm bnj h'lhjm nkbdjm mmnw." (Kürz. Kom. zu Ex 23,20, Ed. Reggio, 70) 27 Gang. Kom. zu Gn 3,6 und Kom. zu Qoh 3,12. 28 „ml'kjw gm sb'jw gm hmSSrtjm gm Inj hm'wrwt." (Exkurs des Kom. zu Dn 10,21) 29 Exkurs des Kom. zu Dn 10,21.

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kommentar erläutert Ibn Ezra den Bibelvers (Gn 2,1): M waj e kullu hassämjim w e hä-'äräs wekol-s'bä'äm", wie folgt: „üs e bä'has-sämajim hem hak-kökäbim w e ham-m e 6rot ham-mos e lim üseba hä-'äräs ha-hajjim. w e hizkir 'elläh l e baddäm ba' a bür hat-tosäfät wihjöt sibbat ha-hajjim bä-'äräs sebä' has-sämajim" 30 . Das "Wort säbä' - Heer ist hier nicht, wie ersichtlich, in jenem engeren Sinne gebraucht, nach dem es sich nur auf die Sterne der Fixsternsphäre bezieht, sondern bezeidmet an dieser Stelle in Verbindung mit has-sämajim die Gesamtheit der Gestirne und in Verbindung mit hä-'äräs die Gesamtheit der irdischen Lebewesen. Diese sind jenen - als ihrem Lebensgrund - verbunden. Solcher Lebensgrund - sibbat ha-hajjim bä-'äräs können die Sterne nicht ausschließlich als Körper sein. Als Körper sind sie, wie deutlich gemacht werden konnte, für den irdischen Bereich der unbelebten Natur zuständig. Folglich ist hier von den Sternen als beseelten Wesen die Rede. Wie ihnen als Körpern der irdische Bereich der (unbelebten) Natur zugeordnet ist, so ist ihnen als beseelten Wesen der irdische Bereich des Lebens zugeordnet. Es besteht also eine Entsprechung zwischen den vegetativen und animalischen irdischen Seelen (die Geistseele des Menschen nimmt eine Sonderstellung ein) und den himmlischen Seelen. Astronomie und Astrologie, die Wissenschaften von den Gestirnen und Sphären und ihrem Verhältnis zur irdischen Welt - Disziplinen, die einen gewichtigen Platz im Denken Ibn Ezras einnehmen-, entfalten ausgehend von der Körperlichkeit der Gestirne (durch Berechnung ihrer Positionen und Konstellationen) die Einzelheiten jener Zuordnungen und die daraus sich ergebenden Konsequenzen für das menschliche Verhalten. Die oberste Stufe der Welt der Engel oder Mittelwesen bilden die nesämot sürot ' ä mät b e lo' güfot - die geistigen Wesenheiten, welche wahre Formen ohne Körper sind. Die Formulierung aus der Einleitung des Kommentars zu Qohelet, wonach es göttliche Wesen gibt, „die nicht Bewohner (körperlich-)materieller Häuser sind", ist gleichen Inhalts und betrifft dieselbe Stufe der Engelwelt. Die Wesenheiten dieser Stufe sind unkörperlich nicht nur im Sinne irdischer, sondern auch himmlischer bzw. sphärischer Körperlichkeit. Ob sie gleichwohl aus Materie und Form bestehen oder nicht, wird im letzten Abschnitt dieses Kapitels besprochen werden. Abraham ibn Ezra nennt sie häufig mal'äkim, auch mal'äkim q e dösim, n e sämot 'äljonot 31 oder schlicht hä-'äljonim 32 . Nicht selten heißen sie audi ' ä lohim oder ' ä lohim hajjim 33 . Der biblische Gottesname ' ä lohim wird hier also zur Bezeichnung engelweltlicher Wesen30

Ed. Friedlaender, 34. Vgl. u. a.: Exkurs des Kom. zu Dn 10,21 und Exkurs des gäng. Kom. zu Ex 3,15. 32 Vgl. Kom. zu Ps 73,24. 33 S. fragm. Kom. zu Gn 1,1, Ed. Friedlaender, 21, und kürz. Kom. zu Ex 23,20, Ed. Reggio, 70, sowie Einl. des Kom. zu Qohelet. 31

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heiten verwandt. Es finden sich in der Schrift durchaus Ansatzpunkte für einen solchen Wortgebrauch, beispielsweise in Ps 82,1 und 6. Gott selbst ist in diesem terminologischen System ' ä lohe hä-' ä lohim - der Gott der Göttlichen34. In der Bibel kommt dieser Ausdruck Dt 10,17 und Ps 136,2 vor. Das Reich dieser obersten Wesenheiten der Engelwelt liegt jenseits jeglichen Ortes im engeren Sinne, d. h. oberhalb aller Körperlichkeit. Im Exkurs des gängigen Kommentars zu Ex 3,15 (vor der Stelle, an welcher die drei Welten behandelt werden) heißt es qodäs - Heiligtum. Es ist das oberste Oben der Engelwelt35. Von der Art dieser obersten Wesenheiten der gesdiöpflichen Welt, der Engel im engeren Sinne, ist die menschliche Geistseele. Im kürzeren Kommentar zu Ex 23,20 lehrt Ibn Ezra ausdrücklich, die vernünftige Seele des Menschen gleiche den obersten Engeln. Ähnlich äußert er sich im fragmentarischen Kommentar zu Gn 1,136. Deutlicher noch ist ein Text des Exkurses des gängigen Kommentars zu Ex 3,15. Dort führt Ibn Ezra aus: „Die obere Welt ist die Welt der heiligen Engel, die keine Körper sind und nicht in Körpern". (Diese Charakterisierung der obersten Engel stimmt mit der zuvor besprochenen aus dem Exkurs des Kommentars zu Dn 10,21 überein, wo die höchsten Gott unterstellten Wesen als „geistige Wesenheiten", die „wahre Formen ohne Körper" sind, bezeichnet und von „geistigen Wesenheiten in Körpern" unterschieden werden.) Wenig später heißt es sodann: „Die vernünftige Seele des Menschen ist von ihrer [nämlich dieser heiligen Engel] Art" 37 . Damit ist die angezeigte These von der Wesensverwandtschaft der vernünftigen Seele des Menschen mit den Intelligenzen so klar wie nur möglich ausgesprochen. Es war notwendig, dies hier in aller Deutlichkeit 34 Kürz. Kom. zu Ex 23,20, Ed. Reggio, 70. 35 „wkkh hglgljm tl'h 2hm gwpwt nkbdwt 'wmdwt wh'sjrj Shw' qd? nqr' kn b'bwr !>khw bkl ks' hkbwd whw' htqjp wkl hgwpwt mqjp." (Exkurs des gäng. Kom. zu Ex 3,15) 36 Die betreffenden Texte finden sich in den Abschnitten, in denen sich Ibn Ezra mit der These Saadjas auseinandersetzt, der Mensch stehe über den Engeln (und Gestirnen). Im kürz. Kom. zu Ex 23,20 heißt es: „whnh gm h V 'mr bsprw kj jä l'dm m'lh gdwlh, 1' b'bwr gwpw kj gwpw kgwp hhjwt rq bnimtw ä>hj' dwmh lml'kj 'ljwn" (Ed. Reggio, 71); im fragm. Kom. zu Gn 1,1: „kj hw' dwmh bnplw lml'k wbgwpw Ibhmh" (Ed. Friedlaender, 22). 37 „wnSmt h'dm mmjnm." (Exkurs des gäng. Kom. zu Ex 3,15) W. Bacher notiert in seiner Zusammenstellung Varianten zu Ibn Esra's Pentateuch-Commentar für diese Stelle die abweichende Lesart mij-jes0d0 - von seinem Fundament. Dies läuft dem Sinne nach auf dasselbe hinaus. Das maskuline Suffix bezieht sich hier auf das Maskulinum 'oläm ('äljon) - (obere) Welt. Das an derselben Stelle (nach der Btblia Hebraica Buxtorfs und dem Werke Margälijjot tobäh) als „gewöhnliche Lesart" verzeichnete mim-minäh dürfte irrig sein. Der Kontext enthält kein Femininum,

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herauszustellen, da sich von daher der Sinn einiger von Rosin bzw. Orschansky mißverstandener Texte aufhellen läßt. Wenn es im Kommentar zu Ps 22,21 heißt: „ba'abür h ä jot nismat hä-'ädäm jehidäh mitbodädät 'im güfäh min-nismat hak-kol üb'hippär e däh (oder: hafrädäh) mig-gewijjätäh 'äz tä' ä s6f 'äl hak-kol", so kann mit der nismat hak-kol nicht die Weltseele oder die Allseele gemeint sein38. Die vernünftige Seele des Menschen ist nadi den voraufgehenden Ausführungen von der Art jener intelligiblen Wesen, die weder Körper noch in Körpern sind. Es ist folglich deren Welt, woher sie kommt und wohin sie zurückzukehren sich sehnt. Dies ist nicht nur eine zwingende Schlußfolgerung, sondern wird auch von Ibn Ezra an anderer Stelle ausdrücklich ausgesprochen. Im Kommentar zu Dn 2,11 sagt der Kommentator: „Hem ham-maPäkim hä-'älj6nim sähem sürot ' ä mät w e 'enäm k e gufot wehan-nesämot nigzärot me-häm kä'6r haj-jose' me-has-sämäs". Sowohl aus der Wahl des Begriffes mal 'äkim 'äljonim als auch aus der folgenden Zusatzbestimmung geht klar hervor, daß von der obersten Stufe der engelweltlichen Wesenheiten die Rede ist. Ihrem Reich entstammt die geistige Seele des Menschen. Nach ihm auch verlangt sie zurück, wird dies audi in dem letzten Zitat nicht gesagt. Der Ausdruck nismat hak-kol der umstrittenen Stelle bezeichnet somit nichts anderes als die Welt der körperlosen Formen, ist also nicht im Sinne von Welt- oder Allseele auszulegen. Seelen sind Formen in Körpern. Ob und in weldiem Sinne jene Welt oder audi die körperlosen Formen selbst als Weltgeist zu bezeidinen sind, wird später erörtert werden. Die Ausführungen zeigen ferner, daß audi die anfangs besprochene Stelle aus dem Kommentar zu Ps 49,16 nicht von der Weltseele handelt. Der Text lautet: „w'zäh ta'am jiqqäheni sättidbaq niSmäto bann'sämäh hä-'äljonäh sähi' nismat has-sämajim". Der Ausdruck hann'sämäh hä-'älj6näh sähi' nismat has-Sämajim bezieht sich auf die oberste Stufe der Engelwelt, die Welt der körperlosen Formen. Weniger eindeutig ist der Sinn des ebenfalls einleitend besprochenen Textes aus dem Kommentar zu Ps 150,6. Dort heißt es: „weRabbi S'lomoh has-sefäraddi 'ämar ki zäh rämäz lan-nesämäh hä-'äljonäh sähi' bas-sämajim". Es liegt nahe, den Ausdruck han-nesämäh hä-'äljonäh Sähi* bas-sämajim aufgrund seiner Ähnlichkeit mit der obigen Formulierung aus dem Kommentar zu Ps 49,16 gleichsinnig zu verstehen. Da worauf sich das feminine Suffix sinnvollerweise beziehen ließe. (W. Badier,

nusb&'öt l'ferüs hä-Ra'"ba' 'al hat-Torah,

Hillüfe

in: Ozar Tob, Hebr. Beilage zum Magazin

für die Wissenschaft des Judenthums, Hrsg. A. Berliner u. D. Hoffmann, 18. Jg., Berlin 1891, 46) 3» Vgl. Rosin,

Ibn-Esra, 29.

Religionsphilosophie,

M G W J 42, 450, und Orschansky,

Abraham

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es sich hier jedoch um einen Hinweis auf Ibn Gabirol und dessen Lehre handelt, kann die Frage nicht mit Sicherheit entschieden werden. Nodi weniger klar ist die kurze Notiz aus dem Kommentar zu Ps 143,10: „w'Rabbi S'lomoh s e färaddi z"l 'ämar: koah me-hä-ruah hä-'äljonäh". Rosins und Orschanskys Fehlinterpretationen sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß sie den Begriff n e sämäh allzu unkritisch und selbstverständlich als Seelenbegriff im engeren Sinne auffassen. In Wahrheit wird dieser Begriff von Ibn Ezra nicht nur zur Bezeichnung von seelischen Wesenheiten (die mit Körpern verbunden sind), sondern auch von körperlosen geistigen Wesenheiten verwendet. Die Welt der körperlosen Formen oder Intelligenzen kann mit gutem Grund als Bereich des Geistes bezeichnet werden, so daß in der Tat das neuplatonische Schema Natur-Seele-Geist nicht nur den Aufbau der irdischen sondern auch den der überirdischen Welt, d. h. der Welt der Engel oder Mittelwesen, bestimmt. Den Bereichen der unbelebten Natur, des Lebens (d. h. der beseelten Körper) und des menschlichen Geistes (der nismat hä-'ädäm) auf Erden entsprechen die Bereiche der Gestirne oder Himmelskörper, Seelen, und Geister im Himmel. Wobei indessen zwischen der menschlichen Geistseele und der Welt der Intelligenzen ein Entsprechungsverhältnis besonderer Art besteht, das besser mit dem Begriff der Zugehörigkeit bezeichnet wird. Gibt es in der dargestellten Lehre von den Stufen der Engelwelt einen Platz für die Begriffe Weltseele und Weltgeist? Und in welchem Sinne sind sie zu verstehen, wenn die Frage bejaht werden kann? Im Rahmen der Beantwortung dieser Fragen werden zugleich einige Texte Ibn Ezras besprochen werden, die für seine Lehre von den Stufen der Engelwelt bedeutsam erscheinen und bisher übergangen wurden. Einer dieser Texte - aus dem Kommentar zu Ps 1,6 - enthält den Ausdruck näfäS kol haj, von Rosin mit „Weltseele" wiedergegeben39, die anderen - aus J'söd mora', X I I 4 0 , dem fragmentarischen Kommentar zu Gn 1,1 41 , dem gängigen Kommentar zu Ex 33,21 und 14,19 sowie dem Kommentar zu Dn 12,1 - handeln vom sar hap-pänim (dem Fürsten des Angesichts), worunter Rosin den Weltgeist versteht 42 , bzw. von dem mit dem Sar hap-pänim wahrscheinlich identischen sar gädol — dem Großfürsten unter den Engeln. Der erstgenannte Text lautet: „'en säfeq ki has-sem han-nikbäd jodea' hak-k e lälim w e hap-p e rätim. hak-k e lälim hem näfäs kol haj l e kol hab-b e ru im, w e hap-p e rätim hem kol min ümin bifne 'asmö '6 '»fillu kol b e rijjäh uberijjäh bifne 'asmäh". Die hier interessierende Phrase des 3» Religionsphilosophie,

MGWJ 42, 63.

« Ed. Stern, 43a. « Ed. Friedlaender, 21. « Religionsphilosophie,

MGWJ 42, 202.

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Religionsphilosophische Lehren

Textes ist zu übersetzen: „Die universalen Formen sind die Seele jeglichen Lebens [wörtlich: jedes Lebendigen] für alle Geschöpfe". Das Verständnis des Satzes hängt weitgehend davon ab, welcher Sinn mit dem Terminus k'lälim - Universalien oder universale Formen zu verbinden ist. Er dürfte kaum so zu verstehen sein, daß er die Intelligenzen mitumfaßt. In bestimmtem Sinne sind zwar auch diese universale Formen, Ibn Ezra bezeichnet sie u. a. als sür6t ' ä mät, jedoch nach dem üblichen Wortgebrauch dem, was der Autor k e lälim nennt, übergeordnet, kurz: die Prinzipien der k e lälim. Mit Vorzug benutzt Ibn Ezra das Wort für die universalen Formen - d. h. die bleibenden Arten - der irdischen Welt. Daß es auch in dem vorliegenden Kontext in erster Linie um diesen Bereich geht, erhellt schon daraus, daß die Stelle als Kommentar zu Ps 1,6 konzipiert ist und sich mit dem Problem des Wissens Gottes um die Wege, d. h. die irdischen Taten, der Gerechten und Gottlosen befaßt. Doch muß der besprochene Satz nicht ausschließlich auf diesen Bereich abzielen. Geht man von dem angezeigten Verständnis aus, nach welchem die Intelligenzen in dem Terminus k e lälim nicht einbegriffen sind, so kann man die näfäs kol haj genannte Instanz mit einem gewissen Recht, dem Vorschlage Rosins folgend, als Weltseele bezeichnen. Hierbei ist jedoch zweierlei zu beachten. Einmal ist das als Seele jeglichen Lebens vorgestellte Prinzip nicht ein Lebensprinzip im engeren Sinne. Leben oder Lebendiges steht hier für Sein oder Seiendes. Es heißen keineswegs nur die universalen Formen der Lebewesen, sondern auch die der unbelebten Natur k e lälim. Das diskutierte Prinzip ist also auch für jenen Bereich zuständig, den Orschansky (weniger deutlich Rosin) der intelligiblen Substanz Natur unterstellt wissen will. Sodann - und dies ist das zweite zu beachtende Moment - handelt die Stelle nicht von einem zur Einheit geeinten Wesen, sondern von einer Vielheit von Wesenheiten. Der Ausdruck näfäs kol haj scheint als eine Art Sammelbegriff aufzufassen zu sein. Ob und wie die von diesem Begriff umfaßte Vielheit von k e lälim der Sache nach eine Einheit bildet, kommt nicht zur Sprache. Der Begriff einer Weltseele, die als substantielle Einheit aufzufassen wäre, ist aus den verfügbaren Texten des Ibn Ezra nicht zu erheben. Anders ist der Befund hinsichtlich der geistigen Sphäre, d. h. der Intelligenzen, die die oberste Stufe der Engelwelt bilden. Sofern auch hier nebeneinander, d. h. in verschiedenen Texten, die sich auf denselben Vorgang beziehen, nämlich die Vereinigung der Geistseele des Menschen mit der Welt der himmlischen Geister, ein singularischer und ein pluralischer Begriff gebraucht wird, besteht mit dem, was über den Engelbereich der himmlischen Seelen gesagt wurde, Ubereinstimmung. Der zitierte Text aus dem Kommentar zu Ps 49,16 spricht von dem Anhangen der Geistseele des Menschen an dem oberen oder höchsten Geiste, dem Geiste des Himmels, der besprochene Paralleltext aus dem

Die Welt der Engel

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Kommentar zu Ps 73,24 von der Vereinigung der Geistseele des Gerechten mit den oberen oder höchsten (Wesen), die keine Körper sind. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist der höchste Geist des Kommentars zuPs 49,16 mit den höchsten Wesen des Kommentars zu Ps 73,24 identisch, der singularische Begriff also - ähnlich wie es in den Texten zur mittleren Stufe der Engelwelt, dem Bereich der himmlischen Seelen, zu beobachten gewesen war - ein Sammelbegriff, der die Gesamtheit der höheren Geistwesen bezeichnet. Daneben taucht hier jedoch - im Unterschied zu den Texten, die sich auf den Bereich der himmlischen Seelen beziehen — ein zusätzlicher Begriff auf, der kaum anders zu verstehen ist denn als Bezeichnung für ein ganz bestimmtes Wesen der oberen Welt. Es ist dies der Ausdruck sar hap-pänim. Dasselbe Wesen scheint der an anderen Stellen gebrauchte Ausdruck has-sar hag-gädol zu bezeichnen. Der Text, aus dem am klarsten hervorgeht, wer oder was dieser „Fürst des Angesichts" ist, steht im gängigen Exoduskommentar. Er lautet: „Der Punkt, der dem Wirkenden [gemeint ist der erste Wirkende: Gott] am nächsten ist, ist der Fürst des Angesichts und der Fürst der Kraft, und der andere Punkt [der am weitesten von jenem entfernt ist: der Mittelpunkt der Erde] ist das Ende der Kraft" 4 3 . Hiernach ist der sar hap-pänim die oberste, Gott am nächsten stehende Intelligenz. An anderer Stelle, im XII. Kapitel des J'sod mora, wird der Fürst des Angesichts audi Metatron genannt 44 . Trifft die Vermutung zu - Sicherheit ist hier nicht zu gewinnen daß der sar hap-pänim mit dem £ar gädol identisch ist, so geht es hier um dasselbe Engelwesen, das in der Bibel den Namen Michael trägt 45 . David Rosin nennt den „Fürsten des Angesichts" in seiner Abhandlung zu Ibn Ezras Religionsphilosophie Weltgeist46. Stellung und Wesen dieser Substanz rechtfertigen diese Bezeichnung, mag auch Abraham ibn Ezra selbst sie nicht benutzen. Es gibt somit im System Ibn Ezras zwei Größen, die begründet mit dem Namen Weltgeist belegt werden können: 1. die Gesamtheit der Intelligenzen, die den obersten Rang der Engel konstituieren und nach dem Welteinteilungsschema des Exkurses des gängigen Kommentars zu Ex 3,15 die oberste der drei Welten bewohnen, 2. die höchste Intelligenz, die einen besonderen Rang einnimmt, da sie allein schlechthin von Gott herkommt, während die anderen nur 43

Exkurs des gäng. Kom. zu Ex 33,21 Μ Ed. Stern, 43a. 45 Siehe Dn 12,1 und fragm. Kom. zu Gn 1,1 Ed. Friedlaender, 21, sowie gäng. Kom. zu Ex 14,19. « MGWJ 42, 202.

98

Religionsphilosophische Lehren

unter Mitwirkung der ihnen übergeordneten Intelligenz(en) zum Dasein gelangen. Diese Differenz zwischen der höchsten und den ihr untergeordneten Intelligenzen wird zwar bei Ibn Ezra nicht ausdrücklich, läßt sich jedoch von verwandten Vorstellungen Avicennas her mit einiger Wahrscheinlichkeit erschließen. Immerhin deutet die Wahl des Terminus sar hap-pänim und der zitierte Text aus dem gängigen Kommentar zu Ex 33,21 auf eine Sonderstellung der ersten Intelligenz hin. Die dargestellte Engellehre stimmt in ihren Grundzügen mit avicennischen Lehren und Vorstellungen überein. (Es ist also keineswegs abwegig, Leerstellen, d. h. von Ibn Ezra Unausgesprochenes - natürlich mit dem Blick auf ausgesprochene Lehren - , aus dem ausgebildeteren System Avicennas zu ergänzen, wie es zuvor geschehen ist.) Bedenkt man, daß Ibn Ezra eine Dichtung über den Aufstieg der Seele, den Haj ben Meqis, verfaßt hat, die auf einem Werk Avicennas, dessen Hayy ibn Yaqzän, fußt, so hat die Nähe des jüdischen Dichters und Philosophen zu seinem islamischen Vorläufer in der behandelten Frage wenig Überraschendes. Zudem geht aus den astronomischen Werken Ibn Ezras hervor, daß er auch mit anderen Schriften Avicennas vertraut war 47 . Wie Ibn Ezra unterscheidet auch Avicenna drei Stufen englischer Wesenheiten. L. Gardet zitiert den Satz Avicennas: „Tange est une substance simple, vivante, douee de langage articule . . . , intellectuelle, immortelle. Ii est intermediaire entre le Createur . . . et les corps terrestres. Parmi les anges, les uns ont une intelligence, d'autres une äme, d'autres un corps" 48 , und interpretiert ihn wie folgt: „les anges ,qui ont une intelligence' sont les Intelligences separees . . . ; les anges ,qui ont une äme' sont les Ames celestes . . . ; enfin les anges ,qui ont un corps' semblent bien etre les Corps des spheres celestes, animus et mus par Päme qui leur correspond" 49 . Diese drei Stufen höherer Wesenheiten „forment un tout qui est le monde angelique"50. Der Zusammenhang dieses triadisdien Ganzen ist genetischer Art. Hierzu zitiert A.-M. Goichon in ihrer Schrift La philosophic d'Avicenne et son influence en Europe medievale51 den Text Avicennas: „De ce que la premiere intelligence connaxt le Premier, suit ^cessairement l'etre de l'intelligence qui lui est inferieure; de ce qu'elle connait son essence, Vgl. El libro de los fundamentos de las Tablas astronomicas, Ed. Millis Vallicrosa, 25f. (Einleitung des Hrsg.) und - u. a. - 76 (Text). « Risäla fi'l-hudüd, in: Tis' rasä'il, Kairo 1908, 89; franz. Übers.: Introduction d Avicenne, Son £pitre des definitions, Traduction franjaise avec notes par A.-M. Goichon, Paris 1933, 112. *» Gardet, La pensee, 117f. 50 Gardet, La pensee, 115. si Paris 1944, 40f.

Die Welt der Engel

99

suit l'etre de la forme de la sphere la plus iloignee . . . qui est l'äme. Et par la nature de possibilite qui est mise en acte chez eile, impliquee dans l'intellection de son essence (nait) l'etre de la corporeit£ de la sphere la plus £loignee"52. Die Engelwelt hat somit in der Philosophie Avicennas einen ähnlichen Aufbau wie in der Philosophie Ibn Ezras. Von den zuletzt angedeuteten Entstehungs- oder Entfaltungszusammenhängen ist indessen bei Ibn Ezra keine Rede. Avicenna bezeichnet die oberste Intelligenz 'aql al-kull - Intellekt des Ganzen oder auch 'aql kulll - universaler Intellekt. Entsprechend heißt die oberste Seele nafs al-kull oder nafs kulliya. Interessanterweise benutzt er jedoch eben dieselben singularischen Begriffe auch zur Bezeichnung der Gesamtheit der Intelligenzen bzw. Seelen. „C'est avec l'Intellect du Tout ou l'Intellect universel ainsi entendu que l'intellect saint du prophete ou du gnostique [die nismat has-saddiq Ibn Ezras] sera mis en contact, c'est de lui qu'il recevra l'illumination parfaite", schreibt L. Gardet 53 . Die zuvor erörterte Terminologie Ibn Ezras, in der ähnlich wie hier singularische Begriffe zur Bezeichnung von Pluralitäten höherer Wesen dienen, dürfte auf diesen Sprachgebrauch Avicennas zurückgehen 54 . Unklar bleibt in den Texten des Abraham ibn Ezra, ob die drei beschriebenen Stufen der Engelwelt ebensoviele eigenständige Klassen oder Ordnungen von Engelwesen ausmachen. Während die oberste (geistige) Stufe deutlich als eigenständige Ordnung hervortritt, erscheinen die mittlere (seelische) und untere (körperliche) Stufe eng aufeinander bezogen. Am klarsten drückt sich dies darin aus, daß - nach dem Exkurs des gängigen Kommentars zu Ex 3,15 - die mal'äkim eine Welt für sich bilden (nämlich die obere Welt), während die Himmelsseelen und Himmelskörper nicht je eine Welt für sich, sondern gemeinsam eine einzige (nämlich die mittlere) Welt konstituieren. Die Himmelsseelen und Himmelskörper stehen zueinander in dem Verhältnis von Form und Materie. 52 Al-Nagät, Kairo 1913, 454f.; vgl. A.-M. Goidion, Le Recit de Hayy ibn Yaqzän, Commente par de textes d'Avicenne, Avant-propos, traduction, explication et notes, Paris 1959, 30 u. 38, ebd. weitere Quellennachweise für diese Lehre. 53 La pensee, 116. 5* Vgl. Gardet, La pensee, 115f. und 129 mit Anm. 1. - D a ß die skizzierten Lehren Avicennas großenteils schon bei Al-Färäbl vorgebildet sind (vgl. Madkour, La place d'al Faräbi dans l'ecole philosophique musulmane, u. a. 99), ist für unseren Zusammenhang von untergeordneter Bedeutung. Ibn Ezra dürfte seine Anregungen in erster Linie von Avicenna empfangen haben. Zudem ist es uns nicht darum zu tun, die Herkunftsgeschichte der einzelnen von Ibn Ezra vorgetragenen Lehren zu schreiben, sondern schlicht diese Lehren selbst und ihren Zusammenhang deutlich zu machen. Demgemäß sind die obigen Ausführungen zu Avicenna vor allem als Erläuterungen der ibn-ezrasdien Positionen aufzufassen.

100

Religionsphilosophische Lehren

Bilden sie demgemäß eine Einheit, so umfaßt die Engelwelt zwar drei Wesensstufen, aber nur zwei eigenständige Klassen oder Ordnungen von Engelwesen: rein geistige und geistig-körperliche Wesen. Abschließend sei hervorgehoben, daß bei Ibn Ezra sowohl wie bei Avicenna die gesamte Folge der Engelwelt nicht eine ruhende Hierarchie, sondern eine gestufte prozessuale Einheit darstellt, die ihrerseits wieder in den Gesamtprozeß der Emanation eingeordnet ist. Die einzelnen Stufen und die ihnen angehörenden Wesen sind in Wahrheit erst und nur in diesem Prozeß. Wenn dies bei Ibn Ezra weniger deutlich hervortritt als bei Avicenna, so liegt das wohl nicht zuletzt an dem fragmentarischen Charakter seiner philosophischen Äußerungen. b) D a s W e s e n d e r o b e r s t e n E n g e l o d e r

Intelligenzen

Ibn Ezras Konzeption vom Wesen der Engel ist in ihren Grundzügen im Zusammenhang mit der Behandlung der Stufen und Klassen der Engelwelt besprochen worden. Es bleibt jedoch noch zu erörtern, welches der genaue Sinn der Formel: sürot ' ä mät sä'enäm güfot w e lo' b'güfot, ist55, die, wenngleich in abgewandelter — auch verkürzter Form, an verschiedenen Stellen definitionsartig zur Charakterisierung der höchsten Wesenheiten der Engelwelt, nämlich der Intelligenzen, benutzt wird 56 . Abraham ibn Ezra begreift die Stufen der hierarchischen Ordnung des Seins als Zahlen(einheiten). Die Eins, die in seiner Sicht keine Zahl, sondern Grund und Voraussetzung aller Zahlen und jeglichen Zählens ist57, kann in dieser Konzeption nur vom Urgrund des Seins, d. h. von Gott ausgesagt werden, von keinem, auch nicht dem höchsten, ihm untergeordneten Wesen. So heißt es: „Gott ist eins und die geschaffenen (Wesen) sind zwei"58, oder: „alles ist zwei außer dem Schöpfer des Alls"59, oder: „nichts ist weniger als zwei, denn auch die höchsten Erhabenen, die nicht Körper sind, sind zwei" 60 . Ähnlich schreibt Salomo ibn Gabirol in der Lebensquelle·, „cum creator rerum sit unus, oportet ut creatum sit duo" 61 . 55 Fragm. Kom. zu Gn 1,1, Ed. Friedlaender, 23. 56 Vgl. neben der genannten Stelle: Exkurs des gäng. Kom. zu Ex 3,15, Kom. zu Dn 2,11 und Exkurs des Kom. zu Dn 10,21. 57 „h'hd sbt kl hmspr w'jnnw mspr." ( S e f ä r has-sem, III (Anfang), Ed. Lippmann, 5a) 58 „hSm 'hd whnbr'jm Snjm." (Einleitung zum gäng. Pentateuchkom., V. 290 nadi der Zahlung von D. Rosin, vgl. Reime und Gedichte, 42) 59 „hkl Snjm hw? mjwsr hkl." (Kom. zu Dt 32,4) 60 „'jn phwt msnjm kj hnkbdjm h'ljwnjm iä'jnm gwp gm hm snjm" usf. (Sefär has-sem, IV (Anfang), Ed. Lippmann, 8a) 61 Fons vitae, Ed. Baeumker, V 12; 279,4; s. audi ebd. V 23; 300,23.26, und V 25; 303,13 sowie 304,10.

Die Welt der Engel

101

Was soll dies besagen, daß alles Geschaffene immer schon „zwei" ist? Geschaffenes Sein ist geformtes Sein, Geformtes aber niemals schlicht eines. Die Form ist auf ein anderes Sein angewiesen, auf das sie sich stützt: „jes däbär sämük 'al jes w e nis'än 'äläjw w'lo' jimmäse' l e baddo w e hü' has-suräh" 62 . Dies gilt nicht nur für die irdischen Formen, sondern - wie die Fortsetzung des zitierten Textes deutlich macht - auch für die himmlischen, bis hinauf zu den „wahren Formen", den sürot ' ä mät. „Gam hi' [has-süräh]", schreibt Ibn Ezra, ,,'al sene d e räkim: hä-'ahat 'omädät w'lo* täsür, k'sürat haq-q e dosim . . .". Mit den „Heiligen" sind die Engel gemeint. Es ist also audi die Form der Engel ein „däbär sämük 'al jes w'nis'än 'äläjw". Die Rede von der Zweiheit der geschaffenen Wesen besagt also, daß in ihnen etwas ist - nämlich die Form ihres Geformtseins das sich auf etwas anderes stützt. In der Fortsetzung des oben angeführten Zitates aus dem vierten Kapitel des Sefär has-sem wird diese Zweiheit, gerade auch im Hinblick auf die oberste Ordnung der Engel, Träger und Getragenes - nose' w e näsü' genannt. „Der (oder: das) Eine allein", heißt es weiter, „ist Träger und nicht Getragenes". (Die Ausdrücke nose' und näsü' dienen auch zur Bezeichnung von Subjekt — Satzgegenstand und Prädikat - Satzaussage, also als grammatische Termini. An dieser Stelle dürften sie indessen höchstens konnotativ in diesem Sinne gebraucht sein63.) Ibn Gabirol kennt einen ähnlichen Wortgebrauch. Er spricht in der Lebensquelle vom sustinens und sustentatum64. Für ihn sind diese beiden Begriffe identisch mit den Begriffen Materie und Form. An anderer Stelle benutzt er in vergleichbarem Zusammenhang die Ausdrücke hyle subjecta und unitas sustentata65. Nicht so für Ibn Ezra. Wäre für ihn das nose' - Tragende identisch mit der hyle, so könnte er es nicht von Gott aussagen66. Tragend ist für ihn alles für sich Existierende, von dem - in welcher Weise auch immer - anderes abhängig ist. Die Frage nach dem Wesen der Intelligenzen läßt sich somit von dem besprochenen Text aus dem vierten Kapitel des Sefär has-sem her nicht beantworten. Klarer erscheint folgende Formulierung aus der Einleitung des gängigen Pentateuchkommentars (ihr erster Teil wurde bereits zitiert): 62

Gang. Kom. zu Ex 25,40. Anders N . Krochmal, Moreh n'buke haz-z'man, Ed. Rawidowicz, 301. 64 Fons vitae, Ed. Baeumker, V 2 4 f ; 303,11.13; s. audi die folgenden Ausführungen. Der hebr. Text des Schem-Tob ibn Falaqera hat an der dem lat. Text von V 24 entspredienden Stelle (V 31): „nose' w e näsü'". (Liqqütim min Sefär m'qor hajjim, in: Münk, Melanges, 29a) Im Unterschied zu Ibn Ezra betont Ibn Gabirol jedodi, der eine Schöpfer sei weder sustinens noch sustentatum (303,18). es Fons vitae, Ed. Baeumker, V 23; 300,23; s. audi V 26; 304,16; wo der Schüler, nachdem er die Ausführungen des Meisters über das sustinens und sustentatum angehört hat, sagt: „Iam intellexi quare est materia et forma". 66 Sefär bas-sem, IV (Anfang), Ed. Lippmann, 8a. 63

102

Religionsphilosophisdie Lehren

„Gott ist eins und die geschaffenen (Wesen) sind zwei, nämlidi Substanz und Form ('äsäm w e süräh)" 67 . Nimmt man an, was zwar nidit als sicher, wohl aber aufgrund ähnlicher bereits zitierter Formulierungen als wahrscheinlich gelten kann, daß unter den geschaffenen Wesen - nibrä'im nicht nur die irdischen, sondern alle Geschöpfe zu verstehen sind, so wird hier die Zusammensetzung auch der Intelligenzen aus Substanz 'äsäm und Form - süräh gelehrt. Was aber heißt hier Substanz? Ibn Ezra gebraucht das Wort 'äsäm zumeist zur Bezeichnung der körperlichen Substanz. Körperliche Substanz kommt jedoch den Intelligenzen nicht zu. Sie sind Formen, wie es im kürzeren Kommentar zu Ex 33,23 heißt, „die keine (körperliche) Substanz ('äsäm) haben" 68 . Das Wort Substanz - 'äsäm muß somit in dem Text der Einleitung zum Pentateuchkommentar, sofern er sich (einschlußweise) auch auf die Intelligenzen bezieht, in einem allgemeineren Sinne, körperliche und unkörperliche Substanz umfassend, gebraucht sein. Der Satz besagt dann im Hinblick auf die Intelligenzen, daß diese Wesen, wenngleich sie körperlos sind, so doch als Substanzen zu gelten haben. Sie sind nicht bloße Formen, sondern subsistierende Formen. Ihr Wesen, Formen zu sein, wird dadurch jedoch nicht beeinträchtigt. Dies bringt der wiederholt gebrauchte Begriff wahre Formen - sür6t ' ä mät deutlich und emphatisch zum Ausdruck. Daß Ibn Ezra in Übereinstimmung mit Ibn Gabirol die Zusammensetzung aller geschaffenen Wesen und somit auch der Intelligenzen aus Materie und Form gelehrt hat, läßt sich schwerlich erweisen (wobei dahingestellt bleiben soll, ob die skizzierte Anschauung nicht der Lehre Ibn Gabirols vielleicht näher steht als die Auffassung, die spätere lateinische Scholastiker sich von dieser gemacht haben). Ibn Gabirol kennt den Begriff der unkörperlichen (intelligiblen oder geistigen) Materie und lehrt die Einheit der körperlichen und unkörperlichen Materie in der universalen Materie69. Davon ist bei Ibn Ezra keine Rede. Es muß also gegen Rosin70 und Orschansky 71 festgehalten werden, daß es zumindest unsicher ist, ob und wieweit Ibn Ezra die Intelligenzen ähnlich konzipiert wie Ibn Gabirol. Der leitende Gedanke der Lehre von der Zweiheit aller geschaffenen Wesen, auch der sürot ' ä mät, dürfte sein, daß diese nicht als (durch sich selbst) notwendig begriffen werden können, sondern das Moment des Möglichen an sich haben. Dieser Aspekt spielt auch bei Ibn Gabirol und nicht zuletzt bei Avicenna eine entscheidende Rolle. Er wird ebenfalls in der lateinischen Scholastik festgehalten, und zwar in der These 67

V. 290f. nach der Zählung von D. Rosin, vgl. Reime und Gedichte, 42. «8 „s'jn 'sm Ihm." (Ed. Reggio, 104) 69 „diuersitas materiarum non prohibet quin conueniant in sensu materialitatis et fiant omnes una materia." (Fons vitae, Ed. Baeumker, IV 15; 246,13—15) 70 Religionsphilosophie, MGWJ 42, 210f., s. auch 29 u. 161. 71 Abraham Ibn-Esra, 21ff.

Die Welt der Engel

103

von der Zusammensetzung der Engel aus Potenz und Akt im Sinne von Wesen und Sein72. Im Unterschied zu der letztgenannten Position, in der die für das Moment der Möglichkeit oder Kontingenz entscheidende Zusammensetzung die aus Wesen und Sein ist, scheint jedodi im System Ibn Ezras ähnlich wie in dem Avicennas - die für den Möglichkeits- oder Kontingenzcharakter des Geschaffenen entscheidende Zweiheit die von Substanz und Form - 'äsäm w e süräh oder Träger und Getragenem - nose' w'-näsü' zu sein, wobei, wie die erste Formulierung zeigt, das Getragene nicht der Seinsakt, sondern die (Wesens-) Form ist. Da nun das Getragene - die (Wesens-) Form - das Wesen der Intelligenzen ausmacht, sie sind wesentlich wahre Formen - sürot ' ä mät, kann das Tragende nicht Wesensbestandteil im eigentlichen Sinne sein. Von Avicenna her, der das Moment der Möglichkeit oder Kontingenz als essentielle Modalität begreift (die bei den aus Materie und Form zusammengesetzten Wesen ihre letzte Erklärung in der Materialität findet)73, ist zu vermuten, daß Ibn Ezra, der auch in anderen Punkten dem Denken Avicennas nahesteht, das Tragende der Intelligenzen als Wesensmodus auffaßt. Sicherheit ist hier indessen nicht zu gewinnen, da die Texte zu dieser Frage schweigen. Daß der Begriff des Tragenden (im Gegensatz zu dem des Getragenen) auch von Gott ausgesagt werden kann, widerspricht dieser Auffassung nicht. Gott ist wesentlich und nur tragend - nose', d. h. schlechthin durch sich selbst, das Geschaffene dagegen ist wesentlich getragen - näsü', damit freilich auch tragend, jedoch - im Vergleich zu Gott in defizienter Weise. Der defizienteste Modus des Tragendseins ist der der irdischen Wesen, die in der korruptiblen Materie der sublunarischen Welt subsistieren, der am wenigsten defiziente jener der Intelligenzen, die schlicht in der Weise der Subsistenz existierende Formen sind. In der Sicht Avicennas, wahrscheinlich auch in der Ibn Ezras, ist das Moment der Möglichkeit an den Intelligenzen auf Materialität hingeordnet. Insofern nämlich, als sich von ihm das körperliche Sein der Sphären herleitet. Dieser Zusammenhang zwischen der Körperlichkeit der Sphären und dem Moment des Möglichen an den Intelligenzen berechtigt jedoch ebensowenig dazu, von der Zusammensetzung der Intelligenzen aus Materie und Form zu sprechen, wie aufgrund dessen, daß die höchste Intelligenz, deren Sein sich schlechthin von Gott herleitet, wie alle geschaffenen Wesen ein mögliches Seiendes ist, Gott als mit Möglichkeit behaftet gedacht werden kann. 72 Thomas sdireibt: „Subtracta ergo materia, et posito quod ipsa forma subsistat non in materia, adhuc remanet comparatio formae ad ipsum esse ut potentiae ad actum. Et talis compositio intelligenda est in angelis". (S. Th., I, q. 50, a.3, ad 3; zitiert nadi der Editon von P. Caramello, Turin - Rom 1952-1956) » Vgl. Gardet, La pensee, 57-66, bes. 63, Anm. 1 (Ende).

8

Greive: Neupiatonismus

III. RELIGIONSPHILOSOPHISCHE SCHRIFTEN

1. ('Iggärät) Ha} ben Meqis a)

S i n n und G e s t a l t der

Dichtung

Abraham ibn Ezras in Reimprosa abgefaßte Dichtung Haj ben Meqis - Lebendiger, Sohn des Wachen stellt eine Himmelsreise dar1. Das Werk gehört somit zu der schon in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten bekannten, vor allem im Umkreis der Gnosis, aber audi im späteren lateinischen, hebräischen und arabischen Sdirifttum verbreiteten Gattung der Aufstiegsschilderungen2. Damit ist indessen wenig genug gesagt. Denn der mit diesem Gattungsbegriff bezeichnete Komplex umfaßt Überlieferungen und Schriften unterschiedlichster Gestalt und Intention. Den Schilderungen kann ein wörtliches, mystisches oder auch allegorisches Verständnis zugrunde liegen. Darstellungen betont mystischen Charakters begegnen wir ζ. B. im Sufismus, solchen allegorischer Art vor allem im Bereich der Philosophie, nicht zuletzt auch im jüdischen Neuplatonismus3. Doch diese Unterscheidung - wie hilfreich sie dann und wann sein mag - reicht aufs Ganze gesehen zur Gliederung des heterogenen Komplexes nicht aus, ja kann sogar in die Irre führen. Die Kreise dieser Dreiteilung betreffen keineswegs immer voneinander verschiedene Vorstellungs- und Überlieferungsgruppen, sondern können sich - wie am Beispiel des Haj ben Meqis deutlich werden wird - in ein

1

Der T e x t der Dichtung ist erstmals als Anhang zum Sefär sei hä-'oläm,

Amster-

dam 1733, gedruckt worden. Die wichtigsten Editionen finden sich in: B. Goldberg (Hrsg),

Hofes

matmonim, Ezra,

Berlin

1845, 4 4 - 5 1 ;

Egers, Diwan,

139-144;

Kahana,

Abraham

ibn

II, 4 3 - 5 5 u. 134f. (Tiqqünim w h ä ' ä r o t ) ; Rosin, Reime

Gedichte,

1 6 7 - 2 0 0 . Den vorliegenden Untersuchungen einschließlich der Übersetzung

und

liegt, soweit nicht anders vermerkt, die von Rosin erarbeitete Textgestalt zugrunde. 2

Vgl. für den in der vorliegenden Untersuchung besonders interessierenden Zu-

sammenhang: A. Altmann, „The Ladder Religion,

presented

to G. Scholem,

mann, Studies in Religious 3

Philosophy

Vgl. Altmann, „ T h e Ladder

of Ascensionin:

Studies in Mysticism

and

Jerusalem 1967, 1 - 3 2 (neu abgedruckt in: A. Altand Mysticism,

of Ascension",

4.

London 1969, 4 1 - 7 2 ) .

105

('Iggärät) H a j ben Meqis

und demselben Text überschneiden. Darüber hinaus läßt diese Einteilung wichtige Differenzen, wie zum Beispiel die zwischen eher gnostischen und eher neuplatonischen Versionen, außer acht. Ibn Ezras Fassung des „Aufstiegsmythos" (wie wir sehr vorläufig sagen können) geht unmittelbar auf Avicenna zurück, der unter dem Titel Hayy ibn Yaqzän - der arabische Titel stimmt mit dem hebräischen Ibn Ezras überein - eine ähnliche Schrift verfaßt hat. Uber das Verhältnis dieser beiden Werke zueinander wird später zu sprechen sein. Versuchen wir zunächst ohne Seitenblick auf die Vorlage einige wichtige Züge der Version Ibn Ezras herauszuheben. Der Autor des Haj ben Meqis beschreibt einen Aufstieg der Seele von der irdischen Welt durch die Sphären zur Welt der Intelligenzen, d. h. in die Nähe Gottes. Ob und wieweit dieses aus der Gnosis bekannte Schema in der Bearbeitung Ibn Ezras gnostischen Charakter behält, wird im folgenden deutlich werden 4 . Das Aufstiegsmotiv begegnet uns auch in andern Schriften des Autors. So in der Einleitung zum Qoheletkommentar5. Sie handelt von der Nichtigkeit alles menschlichen Tuns und von dem einzig Bedeutungsvollen: der Gottesfurcht. Zur Gottesfurcht, heißt es sodann, kann niemand gelangen, „ohne daß er die Leiter der Weisheit besteigt und auf Einsicht baut und gründet" 6 . Ibn Ezra erwähnt diese Leiter auch sonst, ζ. B. im kürzeren Kommentar zu Ex 33,23 7 sowie im Kommentar zu Hos 6,3. Klarer als diese Stellen bringen jedoch einige Hinweise aus der Einleitung zu Qohelet zum Ausdruck, was es mit dieser Leiter und der Notwendigkeit, sie zu besteigen, auf sich hat. Dort ist vom Kerker die Rede, in den die Seele eingesperrt ist, und von ihrer Sehnsucht, daraus zu entkommen und heimzukehren, vom Wissen um den eigenen Urgrund und der Erkenntnis des Geheimnisses ihrer selbst, Einsichten, zu denen die Seele nur mit Hilfe der ungetrübten Augen der Weisheit gelangt. Diese Darstellung enthält drei auch für den Haj ben Meqis zentrale Momente: (a) die Gefangenschaft der Seele in der irdischen Welt, einer Welt der Fremde, der die Welt des himmlischen Zuhause gegenübersteht, (b) die

4

Die viel älteren Aufstiegsschilderungen im zweiten Hauptteil der Großen

Heka-

lot (in den Kapiteln 1 5 - 2 3 ) tragen, wie G. Sdiolem schreibt, „in allen Einzelheiten gnostischen Charakter". (Die jüdische Mystik, s Der Qoheletkommentar

53)

ist 1140 in R o m verfaßt worden. M. Friedlaender ver-

mutet, daß dieser Kommentar mehr von seiner ursprünglichen Form behalten hat als irgendeiner der übrigen Kommentare Ibn Ezras. (Essays, 188) Der T e x t der Einleitung ist abgedruckt und erläutert in: Rosin, Religionsphilosophie, 6

Vgl. Salomo ibn Gabirol, Fons

vitae,

Ed. Baeumker, V I ;

M G W J 43, 173f. 2 5 7 , 1 2 ; sowie audi

V 3 5 ; 322,4ff. 7

Vgl. Altmann, „ T h e Ladder

of Ascension",

16f.; s. audi Ibn Ezras gäng.

zu Gn 28,12 (Jakobsleiter) und Altmanns Ausführungen dazu (a. a. Ο., 13ff.1. 8 *

Kom.

106

Religionsphilosophisdie Schriften

Rolle der Selbsterkenntnis im Prozeß der Befreiung, (c) die Mittlerfunktion der Weisheit. Abraham ibn Ezra gilt die irdische Welt zweifellos nicht als sdiledithin böse. Er lehrt vielmehr mit Bestimmtheit: „das Ganze der Welt ist gut" 8 , und beruft sich dabei auf das Schriftwort: „ Gott sah alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut". Die Welt ist Gottes Werk und als solches gut. Ist sie indessen schlechthin Gottes Werk? Zumindest die irdische Welt kann schwerlich ohne Einschränkung gut genannt werden. Dazu bemerkt der Verfasser der Einleitung des Kommentars zu Qohelet: „Wenn es dort Böses gibt, (so) ist es an ihrem Ende" 9 . „Am Ende" also stößt Gottes - freilich vermittelte - Wirksamkeit auf Widerstand. Dieser Widerstand wird zwar als ein Mangel definiert - „die Wurzel des Bösen besteht in einem Mangel des Aufnehmenden", heißt es in demselben Kontext - , hat aber dennoch ein positives Fundament, nämlich das So-und-nicht-anders-Sein des Aufnehmenden, das „am Ende" die Materie der irdischen Welt ist, die der Autor des Textes als unersdiaffen betrachtet10. Daß es Böses in der irdischen Welt gibt, hat seinen letzten Grund also darin, daß diese Welt nicht schlechthin von Gott herkommt, sondern in ihrem materiellen Substrat von ihm unabhängig ist. Die Lehre von der Unerschaffenheit der Materie der irdischen Welt hat somit weitreichende Konsequenzen. Sie ist nicht im Sinne eines indifferenten Nebeneinander von Formprinzip und zu formendem Stoff zu verstehen, sondern als ontologische Begründung eines ethischen Dualismus. Damit tritt Ibn Ezra aus dem Kreis im engeren Sinne neuplatonischer Vorstellungen heraus, um sich gnostischen Denkmustern anzunähern 11 . Nach neuplatonischer Lehre bleibt die Materie der irdischen Welt in dem Gesamtprozeß der Emanation - wenngleich als das letzte Glied derselben - einbehalten12. Nicht so bei Ibn Ezra, der das „Aufnehmende" des „Endes", d. h. die irdische Materie, verselbständigt und so zum Anderen der Reihe der Emanationen und damit zum Anderen Gottes macht. Um die dichterischen Aussagen des Haj ben Meqis richtig verstehen zu können, ist es notwendig, sich diese Zusammenhänge vor Augen zu halten. Die Fremde, in der sich die Seele nach der Einleitung zum 8

Einleitung zum Qoheletkommentar. » Der hebr. Ausdruck b e qä$ehu kann audi schlicht den Sinn von teilweise haben. Es besteht jedoch kaum ein Zweifel, daß Ibn Ezra hier die Grundbedeutung von qä$äh - nämlich Ende, Rand - mitgehört wissen will. Es geht um den am Ende liegenden Teil, die Randzone. 10 Vgl. das Kapitel dieser Arbeit: „Die Materie der irdischen Welt". In Wolfsons Artikel The Problem of the Origin of Matter wird Abraham ibn Ezra nicht erwähnt. 11 S. auch Rosin, Religionsphilosophie, MGWJ 43, 171. 12 Vgl. u . a . Ph. Merlan, (Art.:) Neuplatonismus, in: Lexikon der Alten Welt, Zürich - Stuttgart 1965, 2065.

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Qoheletkommentar wie audi nach den Ausführungen des Haj ben Meqis13 aufgrund ihrer Bindung an die körperlich-sinnliche Welt, vor allem an den eigenen Körper befindet, ist somit von besonderer Art. Sie läßt sich mit dem neuplatonisdien Begriff der Gottesferne oder Entfernung vom Ursprung nicht angemessen erfassen. Es bleibt in der Dichtung unklar, wie und weshalb es zur Bindung der Seele an die irdische Welt und den Körper kommt. Zwar heißt es zu Anfang des Werkes: „es zürnten mir die Söhne meiner Mutter, bestellten mich zum Wächter eines fremden Weinbergs". Doch diese Verse, die ein leicht geändertes Bibelzitat darstellen, lassen einen sicheren Schluß nicht zu14. Nach dem Gedanken von der Gefangenschaft der Seele in der irdischen Welt ist das zweite für den Haj ben Meqis relevante Moment, das zugleich im Kommentar zu Qohelet anklingt, die Rolle der Selbsterkenntnis im Prozeß der Befreiung15. In der Einleitung des Kommentars erscheint das Streben der Seele nach Wissen um den eigenen Urgrund und nach Einsicht in das Geheimnis ihrer selbst als Bedingung oder Mittel des Aufstiegs zur himmlischen Welt, letztlich zu Gott. Ähnlich im Haj ben Meqis. Doch ist die Formulierung der Dichtung weniger allge13

Siehe V. 10-11: „kj nhrw-bj bnj 'mj imnj ntrh ll'-krmj." (Rosin, Reime und Gedichte, 169) Zur Frage nach dem Wozu der Bindung der Seele an die irdische Welt und den Körper vgl. das 2. Kapitel des II. Teils der vorliegenden Untersuchung. 15 Auf den Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Erkenntnis im allgemeinen besonders der höheren Welten und Wesen - geht Ibn Ezra an verschiedenen Stellen seines Werkes ein. So in J'sod mora', I u. XII, Ed. Stern, 16b u. 43a, sowie im gäng. Kom. zu Ex 25,40 u. 31,18 (s. dazu Rosin, Religionsphilosophie, MGWJ 43, 231). Im Kap. VII des J'sod morä' und an der letztgenannten Stelle wird die Gotteserkenntnis in diesen Zusammenhang einbezogen. - S. ferner Salomo ibn Gabirol, Fons vitae, Ed. Baeumker, I 2; 4,3ff.; und I 8; 11,Iff.; sowie Β ahja ibn Paquda, Al-hidäja 'ilä farä'id al-qulüb, Ed. Yahuda, II 5, 106; in der von Hyamson besorgten hebr.-engl. Edition dieses Werkes: Duties of the Heart (Jerusalem 1965), I, 150 u. 151. Vgl. auch Altmann - Stern, Isaac Israeli, insbes. 202ff., Ausführungen zu den IJiwän und anderen islamischen Autoren: 203f., zu Porphyrios: 204, zu Proklos: 204f. (Selbsterkenntnis und Aufstieg), zu den pseudo-empedokleischen Fragmenten: 206f., und zu dem verbreiteten islamischen Spruch: „Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn": 208; ferner S. Pines, La conscience de soi chez Abu'l-Barakat al-Baghdadi, in: Archives d'histoire doctrinale et litteraire du moyen äge 1954 (Paris 1955), 21-98, Bemerkungen zu Plotin, Porphyrios und Proklos: 37-39; und schließlich A. Altmann, The Delphic Maxim in Medieval Islam and Judaism, in: ders., Studies in Religious Philosophy and Mysticism, 1-40 (erstmals veröffentlicht in: Α. Altmann (Ed.), Biblical and Other Studies (Studies and Texts I), Cambridge, Mass., 1963, 196-232). Die letztgenannte Arbeit enthält auch einen Abschnitt über Abraham ibn Ezra (25ff.), in dem jedodi der Haj ben Meqis nicht berücksichtigt wird.

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mein. Sie zielt speziell auf die Gotteserkenntnis und geht in diesem Punkte über die Aussage des Kommentars hinaus. Gegen Ende der Himmelsreise erhält die Seele auf ihre Frage, wie Gott zu erkennen sei, vom H a j ben Meqis die Auskunft: „Wenn du meinen Worten folgst, an meinen Weisungen festhältst, auf meinen Wegen wandelnd von meinen Spuren nicht weichst und deinen (eigenen) Geist erkennst nach K r a f t und Vermögen, dann wirst du imstande sein, Ihn zu erkennen und Ihn zu schauen." 16 Was ist exakt der Gegenstand dieser Selbsterkenntnis? Der Mensch besteht aus Leib und Seele, letztere wiederum aus einem vegetativen, animalischen und rationalen Teile, der näfäs, rüah und n e sämäh 17 . Gegenstand der Selbsterkenntnis (im weiteren Sinne) als Weg zur Erlangung von Erkenntnis überhaupt, und das heißt zugleich als Bedingung des Aufstiegs, ist allgemein gesprochen der Mensch, insbesondere die Seele, und zwar nach dem der jeweiligen Erkenntnis- oder Aufstiegsstufe (oder -phase) entsprechenden Bereich. Den Hintergrund dieser Lehre bildet die im Umkreis des Neuplatonismus verbreitete Mikrokosmos-Makrokosmos-Vorstellung. So schreibt Josef ibn Saddiq in seinem Mikrokosmos: „Wie der Mensch von der Erkenntnis seines (eigenen) Körpers her Erkenntnis der Körperwelt erlangt, so erlangt er . . . durch die Erkenntnis seiner vernünftigen Seele Erkenntnis der geistigen Welt, und wenn er sich übt und rechte Geläufigkeit erwirbt, so erkennt er (auch) seinen Schöpfer, gepriesen sei er, und erfaßt die wahre Beschaffenheit der Dinge und die Wurzel des Seienden" 18 . Das Zitat deutet an, " V. 687-693 (s. Anm. 35 des 3. Kapitels des II. Teils dieser Arbeit). 17 Vgl. Je sod mora', VII, Ed. Stern, 28a, und Korn. zu Qoh 7,13. 18 Mikrokosmos, Ed. Horovitz, 42; s. audi ebd. 2 - w o dieser Gedanke ausdrücklich mit der Mikrokosmos-Vorstellung in Zusammenhang gebracht wird und 21. Neben der skizzierten Vorstellung, nach welcher der Mensdi als ganzer (einschließlich seines Körpers) und der Kosmos einander entsprechen, begegnet auch der für das Verhältnis von Erkenntnis (im allgemeinen) und Selbsterkenntnis nicht minder bedeutsame Gedanke, daß die Seele sowohl die sinnlichen wie die intelligiblen Dinge in der ihr gemäßen Weise enthält. So heißt es im Liber de caitsis: „In jeder Seele sind die sinnlichen Dinge, weil sie Vorbild derselben ist, und die intelligiblen Dinge sind in ihr, weil sie Abbild derselben ist". (Liber de causis, Ed. Bardenhewer, 85) Für die Ijjwän s. u. a. F. Dieterici, Die Anthropologie der Araber, Leipzig 1871, 41: „Demgemäß findet man für alles, was in der sinnlichen Welt vorhanden ist, . . . Gleidinisse und Ähnlichkeiten in den Zuständen der Menschenseele, die den Körper mit ihren Kräften durchdringt" usf.

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daß gesdiöpfliche Gotteserkenntnis Erkenntnis Gottes aus seinen Werken bedeutet. Diese Lehre wird auch von Ibn Ezra geteilt. Die eindringende Erkenntnis der Werke erfaßt diese Werke als gewirkte und führt den Erkennenden so über die Mittelwesen, die wirkend sowohl wie bewirkt sind, zum ersten Wirkenden hin. Die Bedingung der Möglichkeit für den Menschen, diesen Erkenntnisweg zu besdireiten, ist sein mikrokosmisches Wesen, der Weg zur Erkenntnis Gottes somit ein Weg fortschreitender Selbsterkenntnis. Anfanghaft ist Gotteserkenntnis, d. h. Erkenntnis des ersten Wirkenden, schon mit der Erkenntnis des letzten Bewirkten gegeben. Ihre höchste Form, um die es im Haj ben Meqis geht19, besteht jedoch darin, das erste Bewirkte als Werk des ersten Bewirkenden zu erfassen. Zur erstbewirkten Welt gehört auch die geistige Seele des Menschen. Sie gelangt zu der höchsten Form der Gotteserkenntnis, indem sie sich durch Selbstreflexion als Wesen jener Welt begreift. Die von diesem Standort aus mögliche Gotteserkenntnis ist unmittelbar zu Gott. (Freilich bezieht auch sie sich nicht auf Gott, wie er in sich selbst ist, sondern auf Gott als Wirkenden.) Die obere Welt - das erstbewirkte Werk - und mit ihr nach Ursprung und Wesen auch der menschliche Geist steht mit dem wirkenden Gott in unmittelbarem Kontakt. Es gibt somit einen Berührungspunkt des menschlichen Geistes mit Gott. Sich dieser äußersten Spitze seines geistseelischen Seins20 in letzter Selbstreflexion innezuwerden, ist Ziel und Bestimmung des Menschen21. Zu diesem Ziele führt die Leiter der Weisheit. Doch sie zu besteigen - und damit kommen wir zu dem dritten der angezeigten Momente, die sowohl im Haj ben Meqis wie auch in der mehrfach zitierten Einleitung angesprochen werden —, ist der menschliche Geist als Gefangener der irdischen Welt nur imstande mit Hilfe der ungetrübten Augen der Weisheit22. In der Dichtung begegnen wir dieser Weisheit in der Gestalt des H a j ben Meqis, von dem es nicht anders als von der Weisheit des Kommentars zu Qohelet heißt, sein Auge sei ungetrübt 23 . 19

D a ß die diskutierten Verse aus dem Haj ben Meqis sidi in der Tat auf die hödiste Form der Gotteserkenntnis beziehen, ergibt sich aus dem systematischen Ort, an welchem sie im Ganzen der Dichtung stehen. 20 Vgl. die proklische Konzeption des als Grundlage der ekstatischen Einigung dienenden Seelenvermögens des „Einen", der „Seelenspitze". (Siehe J. Trouillard, Arne et esprit selon Proclus, in: Revue des itudes Augustiniennes 5 (1959), 1-12, u. W. Beierwaltes, Der Begriff des „unum in nobis" bei Proklos, in: Wilpert-Eckert, Die Metaphysik im Mittelalter, 255-266, bes. 261 f., ebd. auch Stellennachweise) 21 Vgl. zu diesem Abschnitt das Kapitel der vorliegenden Arbeit: „Die menschliche Gotteserkenntnis". 22 Die Einleitung zum Qoheletkommentar hat wörtlich: „b'jnj hhkmh sl' tkhjnh" - „mit den Augen der Weisheit, die nicht trübe werden".

» V. 27: „1' khth 'jnw". (Rosin, Reime und Gedichte,

169)

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Religionsphilosophische Schriften

In der Schrift Avicennas, die der Dichtung des Ibn Ezra zugrunde liegt, stellt der Hayy ibn Yaq?än - die Parallelgestalt des H a j ben Meqis - nach Auskunft des Kommentators Ibn Zayla 21 den aktiven Intellekt dar 25 . Der H a j ben Meqis Ibn Ezras ist ähnlich zu interpretieren. Es geht um ein Wesen der oberen Welt, eine intelligible Substanz oder Intelligenz und damit um einen aktiven Intellekt. Genaueres läßt sich für die Dichtung des Ibn Ezra nicht sagen26. Der menschliche Intellekt ist passiv, vermag zu wahrem (begrifflichen) Wissen nur durch „Information" zu gelangen. Er bedarf eines Rufes von außen, um zu sich selbst und damit zur himmlischen Welt, zum Himmel der Himmel und letztlich zu Gott zu finden. Eine Intelligenz, d. h. ein aktiver Intellekt, muß ihn aktivieren. In der Dichtung erfüllt diese Funktion der H a j ben Meqis27. Mit seiner Hilfe befreit sich die Seele aus den Fesseln der irdischen Welt, um zum Ort ihrer Herkunft zurückzukehren. Um diesen Weg, die Verbindungslinie zwischen der irdischen Welt der Fremde und der himmlischen Welt des Zuhause ist es Ibn Ezra zu tun. Im gängigen Exoduskommentar findet sich ein Hinweis auf diese Linie, der Sinn und Ziel der Dichtung schlagartig aufhellt. „Siehe", schreibt Ibn Ezra dort, „die Länge zwischen zwei Punkten: der Punkt, der dem Wirkenden [nämlich Gott] am nächsten ist, ist der Fürst des Angesichts und der Fürst der Kraft, und der andere Punkt [der Mittelpunkt der Erde] ist das Ende der Kraft" 2 8 . Der Haj ben Meqis Ibn Ezras ist - vielleicht im Unterschied zum Hayy ibn Yaqzän des Avicenna (wovon noch zu reden sein wird) ein religiös-philosophisches Werk ausgesprochen mystischer Prägung. Hierauf verweist schon die Darstellungsform, mag diese auch zunächst einmal als allegorische Einkleidung zu betrachten sein. Vielfach lassen 24

Der Kommentar Ibn Zaylas ist - zusammen mit dem Text der Erzählung schon früh ins Hebräische übersetzt worden. Vgl. 'Iggärät Haj ben Meqis l'Ben Sind 'im perüs talmido Ben Zayla, Hrsg. D. Kaufmann, in: Qobäs 'al jäd II, Berlin 1886. 25 'Iggärät Haj ben Meqis, Ed. Kaufmann, 2; vgl. audi Goichon, Le Recit, 23ff. 26 D e r aktive Intellekt des Systems Avicennas ist die letzte von den zehn Intelligenzen. Seine kreative Erkenntnis beschränkt sidi auf die sublunarische Welt. (Vgl. Goichon, Le Recit, 10, 30, 38, 69; dies., La philosophie d' Avicenne, 41; Μ. M. Sharif (Ed.), A History of Muslim Philosophy, 2 Bde., Wiesbaden 1963-1966, I, 481) 27 In arabischen Texten des Mittelalters wird dieselbe Funktion nicht selten dem Engel Gabriel zugeschrieben. (Vgl. Sharif, A History ο} Muslim Philosophy, I, 481) 28 Exkurs des gäng. Kom. zu Ex 33,21. Nadi Altmann, „The Ladder of Ascension", 17, ist die „Länge" identisch mit der „geraden Linie" - „Ijatt mustaqlm" aus dem Kitäb al-Hadä'iq des Ibn al-Sld al-Batalyawsl. (S. audi D. Kaufmann, Die Spuren alBatlajusi's in der jüdischen Religionsphilosophie nebst einer Ausgabe der hebräischen Übersetzungen seiner Bildlichen Kreise, Amsterdam 1967, Nachdruck der Ausgabe Budapest 1880)

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sich Inhalt und Form nur gewaltsam in der Weise trennen, daß alles Mystische auf Seiten der Form erscheint. Nicht zuletzt gerade deshalb bleibt zweifelhaft, ob oder doch inwieweit solche Trennung - selbst dort, wo sie zwanglos durchführbar ist — den Intentionen des Autors entspricht. Die ganze Dichtung ist auf den Schlußabschnitt zur Gotteserkenntnis hin angelegt. Dieser Schlußabschnitt ist nicht nur der Form, sondern auch dem Inhalte nach eindeutig mystischen Charakters. Angesichts dessen kann es dahingestellt bleiben, ob die Erkenntnislehre des Werkes, nach der der Erwerb begrifflichen Wissens von dem Einfluß himmlicher Intelligenzen abhängig ist und zudem Heils- und Erlösungsfunktionen erfüllt, von vornherein dem Bereich der Mystik zuzurechnen ist oder nicht. Im Lichte der abschließenden Ausführungen über die Gotteserkenntnis und ihre Voraussetzungen enthüllt sich die Dichtung als ganze als mystische Schrift. Zwar unterbleibt entsprechend der jüdischmystischen Tradition jede Beschreibung der Gottesschau. Nichtsdestoweniger gilt solche Sdiau als möglich. Die Seele wird dazu aufgefordert und erhält Auskunft darüber, wie dahin zu gelangen sei. Die Gottesschau setzt Trennung vom Leibe voraus: „mach dich mit deiner E i n zigen' frei vom Stoff deines Leibes . . . Dann schau mit den Augen des Innern, mit den Augensternen des Herzens!" 29 Dieser Aufruf erfolgt erst nach der Schau der Intelligenzen, meint folglich mehr als jene Befreiung aus der Gewalt der irdisch-sinnlichen Kräfte, die schon hierzu vonnöten war. Andererseits ist im Umkreis der zitierten Verse nicht im mindesten von der endgültigen Trennung der Seele vom Leibe, dem Tode, die Rede. Es dürfte somit an einen Zustand temporärer Entrükkung gedacht sein30. Von der zweiten Bedingung oder auch dem Vollzug der Gottesschau, nämlich der Selbsterkenntnis - und zwar in ihrer höchstmöglichen Form - war bereits vorher die Rede. Dabei dürfte der mystische Hintergrund dieser Lehre hinreichend klar zutage getreten sein. Die diesbezüglichen Verse (687-693) bilden den mystischen Höhepunkt des Werkes und sind wohl zugleich als seine zentralste, für den Gesamtsinn aufschlußreichste Aussage überhaupt anzusehen.

29

V. 627f. u. 631f.: „whtnjl bjhjdtk mhmr gwjtk . . . wr'h b'jnj qrbjk wb'jSSwnj lbbk". (Rosin, Reime und Gedichte, 196) Die Rede von den Augen (sternen) des Herzens scheint mehr zu sein als nur eine poetisdie Ausdrucksweise. Sie taucht audi im gäng. Kom. zu Gn 28,12 (Jakobs Traum von der Himmelsleiter) auf: „'?rj mj Snpqhw 'jnj lbwtm wnhrw Ί 'dwnj w'l twbw b'hrjtm". Vgl. ferner den Gebrauch des Ausdrucks bei Al-Gazäll. (Siehe Sharif, A History of Muslim Philosophy, II, 1364) 30 Zum Moment der Ekstase in der Lehre Ibn Ezras siehe Rosin, Religionsphilosophie, MGWJ 43, 239, und das Kapitel der vorliegenden Arbeit: „Die menschliche Gotteserkenntnis".

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Religionsphilosophisdie Sdiriften

Die verschiedene Traditionen in sich aufnehmende und sich anverwandelnde Geisteshaltung, der das Werk entstammt und die es widerspiegelt, erscheint in wichtigen Zügen gnostischem Denken und Fühlen verwandt. Folgender charakteristischer Text aus dem Corpus Hermeticum dürfte geeignet sein, dies über das bereits Gesagte hinaus deutlich zu machen: „Ändert euren Sinn", spricht der Prophet, „ihr Weggenossen des Wahnes und Kameraden der Unwissenheit! Macht euch frei von dem finstern Licht, nehmt teil an der Unsterblichkeit und laßt dahinten das Verderben!" „Wohin stürzt ihr, ο Menschen, ihr Trunkene, die ihr den Wein der Unwissenheit ausgetrunken habt . . . ? Steht still, ernüchtert euch! Schaut auf mit den Augen des Herzens! Und wenn ihr es nicht alle vermögt, so doch die, die es vermögen! . . . Sucht den Führer, der euch zu den Pforten der Erkenntnis leitet, dorthin wo das strahlende Licht leuchtet, rein von der Finsternis, dort wo keiner trunken ist, sondern alle nüchtern sind und mit dem Herzen auf den blicken, der sich schauen lassen will! Denn man kann ihn nicht hören, nicht nennen, nicht mit den Augen schauen, sondern nur mit dem Geist und dem Herzen. Zuvor aber mußt du das Gewand, das du trägst, zerreißen, das Gewebe der Unwissenheit, das Bollwerk der Bosheit, die Fessel des Verderbens, das finstere Gefängnis, den lebendigen Tod, den sinnbegabten Leichnam, das Grab, das du mit dir herumträgst, den räuberischen Hausgenossen, der dich haßt, worin er dich liebt, und dich beneidet, worin er dich haßt . . . , damit du nicht hörst, was du hören mußt, und nicht siehst, was du sehen mußt" 31 . Hier wie dort der Appell an die Einsicht - „Höret . . . , neigt euer Ohr . . . Seid verständig . . . , merket auf, die ihr unwissend seid und jung!" (1—4), der Hinweis auf Verderben und Tod des irdisdi-sinnlichen Lebens - die Seele ist zum „Wächter eines fremden Weinbergs" (11) bestellt, ihre sinnlichen Begleiter: Vorstellung, Zornmut, Begehren, sind Verführer, Bedränger und Feinde: „Glücklich der Mensch, der ihnen entflieht", „wer ihre Wege geht, wird ihrer Verderbtheit nicht entfliehn", denn „Todespfade [sind] ihre Pfade und Bahnen" usf. (68ff., 80, 124f., 135) - , der Führer zum Heil - H a j ben Meqis, „wer seine Lehren mißachtet, . . . tut seiner Seele Gewalt an und läßt sie verderben, macht seine .Einzige' zuschanden und bringt ihr den Tod" usf. (158,161f.) - , die Hoffnung auf Unsterblichkeit - wer an den Worten des Führers festhält, „wird ewig leben und nicht vergehen" (163-164) - , die Forde31 Corpus Hermeticum, Texte etabli par A. D. Node, et traduit par A.-J. Festugi^re, Paris 1945, I, 28 (Bd. I, S. 16f.) u. VII, 1-2 (Bd. I, S. 81f.); deutsche Übers, nach R. Bultmann, Das Urchristentum, Hamburg 21963, 159.

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rung, sidi vom irdischen Stoff zu befreien - „mach dich mit deiner .Einzigen' frei vom Stoff deines Leibes" (627f.) - , die einzig zur Schau des Himmlischen fähigen Augen des Herzens - „schau mit den Augen des Innern, mit den Augensternen des Herzens" (631 f.) und schließlich der dem irdisch-menschlichen Erkennen entzogene Gott - ein Zug, der in der Dichtung fast noch stärker betont wird als in dem angeführten Z i t a t aus dem Corpus

Hermeticum32.

Trotz alledem ist die Dichtung nicht schlicht als gnostisch bestimmte Schrift zu bezeichnen. Einmal betreffen die angezeigten Parallelen nicht ausschließlich gnostische Lehren, der „unbekannte Gott" 33 ζ. B. gehört nicht weniger genuin zum neuplatonischen wie zum gnostisdien Vorstellungskreis. Sodann - und dies ist noch entscheidender - machen die bislang besprochenen Momente bei weitem nicht den gesamten Inhalt der Dichtung aus. Die Schilderung der Seele auf ihrer Reise durch die Bereiche der irdischen Welt und der Sphären enthalten begeistert-begeisternde Lieder auf die Fülle und Schönheit geschöpflicher Formen. Es sei hier nur an die Abschnitte über die Tier- und Pflanzenwelt (den Nußbaumgarten) erinnert34. Von manchen Passagen über die Sphären gilt dasselbe. Wie ist diese „Weltfreudigkeit" zu verstehen? Widerspricht sie nicht den zuvor skizzierten Tendenzen? Die Beantwortung dieser Fragen ist entscheidend für das Verständnis des Ganzen der Dichtung. Die Lieder auf die Tier- und Pflanzenwelt usf. sind Schilderungen der Seele, und zwar nicht der durch die sinnlichen Fähigkeiten und Kräfte bestimmten Seele, sondern der Seele als eines vernünftigen Wesens, das durch die Weisheit des H a j ben Meqis erleuchtet und geführt wird. Als so erleuchtete und geführte ist die Seele in der Lage, den Bereich der ihr zunächst - vor aller Erleuchtung - gegebenen vergänglichen Vereinzelungen des irdischen Zusammengesetzten zu übersteigen und das bleibende Allgemeine — die universalen Formen - dieses Zusammengesetzten zu begreifen. Dieses formale Element ist letztlich göttlichen Ursprungs. Wo immer die Verse der Dichtung Schönheit und Größe geschöpflichen Seins besingen, betreffen sie diese der göttlichen Schönheit und Größe verdankten Formprinzipien. Sie sind bis in den Bereich des Unbeseelten hinein wirksam und vom erleuchteten Geist als Ausfluß göttlicher Schönheit und Kraft erkennbar. Die aus der Dichtung sowohl wie aus anderen Schriften erhobenen gnostischem Geiste verwandten Züge im Denken des Ibn Ezra stehen demgemäß nicht zu den „weltfreudigen" Liedern der Dichtung in Wider32 Vgl. die Verse 635-693. 33 Zu dem unterschiedlichen Sinn, den dieser Terminus haben kann, vgl. den einschlägigen Exkurs in der von E. R. Dodds besorgten Edition der Institutio theologica des Proklos: The Elements of Theology, Oxford 1933, 310-313. 34 V. 289-325.

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sprudi. Dieses stimmt mit jenem durchaus zusammen. Entscheidend ist, daß der metaphysisdi begründete ethische Dualismus, auf dem die Verwandtschaft mit der Gnosis beruht, nicht - wie in vollausgebildeten gnostischen Systemen - in dem Gegenüber und Widerspiel eines überweltlichen Gottes und eines Demiurgen gipfelt, sondern sich auf den Gegensatz der wenigsten mittelbar auf Gott zurückzuführenden Wesensformen und der von Gott unabhängigen, seiner Wirksamkeit eine Grenze setzenden Materie der irdischen Welt beschränkt. Der Haj ben Meqis ist demnach dichterischer Ausdruck gnostisierendneuplatonischen Denkens. Die Grenze des neuplatonischen Monismus, in dem der Gegensatz von Materie und Form letztlich von Gott umgriffen ist, wird übersdiritten. Doch es bleibt das Bemühen wach, Gott trotzdem - soweit immer möglich - alles in allem sein zu lassen. Damit dürften die wichtigsten Züge der Diditung besprochen sein. Was an Bedeutsamem übergangen wurde - wie ζ. B. die Lehre von den drei Welten - wird im nächsten Kapitel, in dem der Ha} ben Meqis Ibn Ezras mit dem Hayy ihn Yaqzän Avicennas verglichen wird, zur Sprache kommen.

b)

Der

zum

Ha}

H a y y

ben

ibn

Meqis

Yaqzän

im

Verhältnis

des

Avicenna

Dem Ha} ben Meqis Ibn Ezras liegt, wie im vorigen Kapitel bereits erwähnt, der Hayy ibn Yaqzän des Avicenna zugrunde 35 . Das bekannte Werk gleichen Titels von Ibn Tufayl, der ein jüngerer Zeitgenosse des Abraham ibn Ezra war, unterscheidet sich von der Arbeit des Avicenna und folglich auch vom Ha} Ibn Ezras erheblich, kann also in unserem Zusamenhang unberücksichtigt bleiben. Zu der Schrift Avicennas existieren zwei Kommentare. Einer derselben ist anonym überliefert und geht wahrscheinlich auf den Gefährten und Sekretär Avicennas Guzgäni zurück, der andere stammt von dem Avicennasschüler Ibn Zayla 36 . Die 35

Vgl. neben der bereits genannten Arbeit von Goichon, Le Recit, dies., Le pretendu esoterisme d'Avicenne dans le Recit de Hayy ibn Yaqzän, in: Akten des 24. intern. Orientalistenkongresses: München 1957, Hrsg. H. Franke, Wiesbaden 1959, 299-301; A. F. Mehren, L'Allegorie mystique Hay ben Yaqzän d'Avicenne, in: Museon 5 (1886), 411-426; ders.; Traites mystiques . . . d'Avicenne, Texte arabe . . . avec l'explication en franjais, 1 er Fascicule: L'Allegorie mystique Hay ben Yaqzan, Leiden 1889; H. Corbin, Avicenne et le recit visionnaire I: Le Recit de Hay ibn Yaqzän, Texte arabe, ancienne version et commentaire en persan, traduction franfaise et avant-propos, Teheran 1952, 21954 (engl. Ausg.: Avicenna and the Visionary Recital, London 1960). 36 Goichon, Le Recit, 8.

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hebräische Übersetzung des Hayy ibn Yaqzän - sie trägt denselben Titel wie die Dichtung Ibn Ezras - ist von dem Kommentar Ibn Zaylas begleitet37. Die Dichtung Ibn Ezras weist besonders in mandien Einzelzügen große Ähnlichkeit mit der Schrift Avicennas auf. Es ist somit durchaus berechtigt, die genannten Kommentare auch zur Erklärung der Dichtung des Ibn Ezra zu Rate zu ziehen, wie dies audi in der vorliegenden Arbeit gelegentlich bereits geschehen ist. Die Ähnlichkeiten sollten jedoch nicht den Blick für die grundlegenden Differenzen zwischen den beiden Werken verstellen. Sie sind zuweilen übersehen oder unterschätzt worden. So wenn A.-F. Mehren schreibt, die Arbeit Ibn Ezras sei nichts als eine „traduction maladroite" 38 . Doch hat um dieselbe Zeit (1886) David Kaufmann bereits mit Nachdruck die Eigenständigkeit des Werkes betont. Er spricht von einer „Neuschöpfung" und erklärt, daß Ibn Ezra „auch in der Substanz des Liedes und in seinem Aufbau den arabischen Weg letzten Endes verlassen" habe39. Gleich zu Beginn finden sich Unterschiede, die zwar auf den ersten Blick als wenig bedeutsam erscheinen, sich jedoch bei näherem Zusehen, insbesondere unter Berücksichtigung des weiteren Verlaufs der Dichtung, als recht grundlegend erweisen. Dies betrifft weniger den Vorspruch als die diesem folgenden Ausführungen bis zur Schilderung der Begegnung mit dem Lebendigen, Sohn des Wachen. Indessen ist auch der Vorspruch bereits durchaus unterschiedlichen Charakters. Während Avicenna sich als ein Lehrer vorstellt, der nur auf Drängen seiner Schüler dazu bereit ist, seine offenbar schwierigen Gedanken zu der Gestalt des Hayy ibn Yaq?än zu formulieren 40 , tritt Ibn Ezra in der Pose des Propheten auf, der eine für alle, ob unwissend oder weise, jung oder alt, wichtige Wahrheit zu verkünden hat. Entscheidender sind jedoch die sich an diesen Vorspruch anschließenden Bemerkungen. Ibn Ezra fügt hier eine zwar kurze, aber inhaltlich dichte „Vorgeschichte" der Seele zu ihrer Geschichte in der irdischen Welt ein, für die es im Hayy Avicennas keine Entsprechung gibt41. An 37 'Iggärät Haj ben Meqis, Ed. Kaufmann (s. Anm. 24). 38 Mehren, L'Allegorie mystique, 425. 3» 'Iggärät Haj ben Meqis, Ed. Kaufmann, IV (Einleitung). « Vgl. Goichon, Le Recit, 21. 41 Damit soll nicht gesagt sein, daß Avicennas Vorstellungen über die Herkunft der Seele von denen, die Ibn Ezra im Haj ben Meqis andeutet, verschieden sind. Vgl. Avicennas Qasida fi'l nafs, worin es heißt: „une colombe est descendue vers toi, du plus profond des cieux". (H. Masse, Le Poeme de l'Ame, attribue traditionnellement a Avicenne, in: La Revue du Caire, juin 1951, 7-9; s. auch B. Carra de Vaux, La Kaqidah d'Avicenne sur l'ame, in: Journal Asiatique 14 (1899), 157-173, und Cruz Hernandez, El poema de Avicena sobre el alma)

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dieser Stelle klingt bereits voll und bestimmt das Thema von Heimat und Fremde an. Die Heimat der Seele ist in einer anderen Welt: „(Einst) verließ ich mein Haus, gab auf mein Erbteil, ließ zurück meine Heimat, mein Vaterland und mein Volk" 42 . Darauf ist vom „fremden Weinberg" die Rede, dem die Seele als Wächter vorgestellt ist. Zweifellos gilt auch Avicenna die irdische Welt nicht als eigentliches Zuhause der Seele. Dennoch liegen in seiner Schrift die Akzente völlig anders. Dort wird zu Anfang ebenderselbe Bereich - der menschliche Körper mit seinen Organen und die sinnlichen Kräfte und Fähigkeiten des Menschen - , der bei Ibn Ezra als „fremder Weinberg" erscheint, von der Seele schlicht als „mein Land" bezeichnet. Ibn Ezra denkt ganz entschieden in dem Gegensatz von himmlischer und irdischer Welt, wobei die himmlische Welt nicht einfach die Welt der Intelligenzen, sondern vor allem der ewigen Seligkeit ist43, und richtet sein Augenmerk gleich zu Beginn auf die himmlische Heimat der Seele, während es Avicenna — zumindest zuerst und zumeist - um das Sein der Seele in der irdischen Welt zu tun zu sein scheint. Der Unterschied, der sich darin bekundet, daß die Seele bei Avicenna den Körper und die sinnlichen Kräfte und Fähigkeiten „mein Land" nennt, bei Ibn Ezra dagegen als einen ihr „fremden Weinberg" bezeichnet, bleibt auch für den weiteren Verlauf der beiden Werke bedeutsam. Im Hayy ibn Yaqzän spielen die „Begleiter" der Seele — vorzüglich Zornmut, Begehrlichkeit und Vorstellungskraft (Imagination) - eine entschieden positivere Rolle als im Haj ben Meqis. Der Hayy Avicennas fordert die Seele auf, der Vorstellungskraft - wenngleich nicht bedingungslos — Vertrauen entgegenzubringen und auf sie zu hören44, und die Seele selbst erwünscht und erbittet ein gutnachbarliches Verhältnis zu ihren Begleitern45. Kaum etwas dergleichen bei Ibn Ezra. Hier sind die Begleiter durchweg ausschließlich Feinde der Seele. Ein einziger Abschnitt, der in enger Anlehnung an den Text Avicennas gestaltet ist, der Abschnitt über die „Horner des Satans" 46 , enthält Reste jener posi42

V. 6-9: „'nj 'zbtj 't-bjtj ntstj 't-nhltj hnhtj mqwmj wmwldtj w'mj". (Rosin, Reime und Gedichte, 168f.) 43 Wenn die Seele viel Mühsal ertragen habe, heißt es in der Einleitung des Kommentars zu Qohelet, werde sie dort zur Ruhe kommen und ewig-endlose Freude genießen. 44 „Quant ä ce beau parleur aux fariboles [die Imagination], n'incline pas vers lui a moins qu'il te donne, de la part de Dieu, une solide garantie. En ce cas, faislui confiance et ne te refuse pas έ icouter ce qu'il te fait parvenir, bien que ce soit melange." (Goichon, Le Recit, Absdin. VIII, 60) 45 »Que Dieu m'aide ä ,faire bon voisinage' avec ces compagnons jusqu'ä l'heure de notre separation." (Goichon, Le Recit, Abschn. VIII, 60; vgl. Absdin. VII, 48f., und die Erläuterungen Goichons zu Absdin. II, insbes. 26f.) « V. 261-288.

('Iggärät) Haj ben Meqis

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tiven Momente, die den sinnlidien Kräften und Fähigkeiten im Hayy ibn Yaqzän zugeschrieben werden. Doch die Grundtendenz der Darstellung Ibn Ezras wird dadurch nicht verändert. Freilidi betrachtet auch Avicenna diesen Bereich nicht als schlechthin positiv, kommt auch in seiner Darstellung von ihm die Verführung her. Er sieht ihn unter zwei entgegengesetzten Aspekten von annähernd gleicher Bedeutung, während im Ha) ben Meqis der negative Aspekt überwiegt. Dies besagt nicht, Ibn Ezra erkläre den natürlichen Erkenntnisprozeß völlig anders als Avicenna, von einer positiven Funktion der Sinne (im weitesten Verständnis) könne in seiner Sicht keine Rede sein (die Verse 261-288 enthalten immerhin Andeutungen gegenteiliger Art), wohl aber, daß dies in der hier diskutierten Dichtung in den Hintergrund tritt. Zwar gibt es einen gemeinsamen Rahmen, innerhalb dessen sowohl die Ausführungen Avicennas wie Ibn Ezras zu sehen sind, und dies ist die Überzeugung von der befreienden, ja erlösenden Kraft vom Wissen des Irdischen zum Wissen des Himmlischen aufsteigender Erkenntnis. Doch das besondere Augenmerk richtet sich hier und dort auf ein je anderes in dem weiten durch diesen Rahmen abgesteckten Bereich. Während es Avicenna vordringlich um die Erhellung des menschlichen Erkenntnisprozesses hier in der irdischen Welt geht, hebt Ibn Ezra entschieden auf die Erlösungsfunktion dieses Prozesses ab. So wird verständlich, daß Avicenna wiederholt auf die Bindung der Seele an ihre Begleiter hinweist47, während umgekehrt Ibn Ezra die Notwendigkeit der Trennung von ihnen betont48. Auffällig ist audi, daß im Haj ben Meqis an jener Stelle, die dem in der vorletzten Anmerkung zitierten Text aus dem Hayy ibn Yaqzän entspricht - in den Versen 122f.: „Und du hängst ihnen an" usf. - , nicht im mindesten von der endgültigen Trennung der Seele vom Leibe die Rede ist, dennoch aber der H a j die Seele zur Distanzierung von ihren Begleitern auffordert. Die Verse: „Mein Sohn, mach dich nicht mit ihnen auf den Weg" usf., stehen in diesem Zusammenhang. So erklärt sich ferner, daß Avicennas Ausführungen zur vorbereitenden Sinneserkenntnis weitaus differenzierter sind als die Ibn Ezras49, und schließlich, daß im Hayy ibn Yaqzän die Phy-

47 „ceux qui ne cessent d'etre avec toi . . ."; "Tu ne leur ediapperas sans doute pas" (Goichon, Le Recit, Abschn. VI, 45); „puisque tu ne peux te siparer de lui [von der Imagination]"; „tu a ete colle ä ceux-la, ö malheureux! de teile sorte que rien ne t'en affrandiira, sauf un exil qui t'emporte i un pays que ne peuvent fouler leur semblables". (Goichon, Le Recit, Absdin. VII, 48) « Vgl. V. 80, 86, 130f., 144f.; vielleicht sind audi die Verse 206f.: „Er nahm mir mein Kleid, warf es fort und führte midi nackt hinab [zur Genesung bringenden Quelle]", in diesem Sinne zu verstehen. 49 Vgl. die Abschnitte X V I I I - X X des Hayy ibn Yaqzän (Goidion, Le Recit, 150f., 174f., 188) mit den Versen 261-288 des Haj ben Meqis.

118

Religionsphilosophisdie Schriften

siognomik, womit dort wohl in Ausweitung des primären Wortsinnes ganz allgemein Wissen um den Zusammenhang zwischen materieller Disposition und ihr entsprechender Form gemeint ist, eine größere Rolle spielt als im Haj ben Meqis50. Der entscheidenste Ausdruck der angezeigten Differenz ist indessen der unterschiedliche Aufbau, die voneinander abweichende Gesamtanlage der beiden Werke. Der Hayy ibn Yaqzän Avicennas hat zur Grundstruktur das horizontale Schema: Westen - Osten. Die Abschnitte X I I I bis XVI handeln über den Westen, die Abschnitte XVII bis X X I I über den Osten (die von Gott handelnden Abschnitte X X I I I bis X X V können zunächst unberücksichtigt bleiben). Der Westen stellt den Bereich der Materie, der Osten den der Form(en) dar, wobei jedoch diese Regionen nicht als selbständige Welten, sondern als die metaphysischen Prinzipien der Mitte dieser Erstreckung, des aus Materie und Form Zusammengesetzten aufzufassen sind. In das horizontal - west-östlidi - orientierte Grundschema sind vertikal orientierte, vom Niederen zum Höheren fortschreitende Abfolgen der Beschreibung der West- und Ostregion je für sich eingeordnet. Das unter Leitung des aktiven Intellekts in die genannten Regionen eindringende Erkennen betrifft nach der einen Seite - nach Westen hin das „comportement de la matiere vis-a-vis de la forme" 51 , und zwar angefangen von der korruptiblen Materie der sublunarischen Welt über die inkorruptible Materie der Sphären bis zu dem „Ort" der reinen Intelligenzen52, nach der anderen Seite - nach Osten - hin das „comportement de la forme vis-a-vis de la matiere" 53 , angefangen von den vier Elementen sowie den Pflanzen und Tieren, über den Mensdien, seine sinnliche und intellektuelle Erkenntnis, bis hinauf zu den Engeln, zuletzt ihrem höchsten Rang: den reinen Intelligenzen54. Ganz anders ist die Grundstruktur des Haj ben Meqis. Wohl wird einleitend der gleiche Grund- und Aufriß von der metaphysischen Weltstruktur gegeben wie im Hayy ibn Yaqzän. Die Verse 184-197 sprechen von der gleichen Erstreckung wie der Abschnitt X 55 aus dem Werk Avicennas, nämlich von der west-östlichen Horizontalen: Materie und Form und ihre Verbindung. Dies ergibt sich nicht nur aus der Nähe der Darstellung zu dem entsprechenden Text der Schrift Avicennas (wo50 Vgl. Abschn. V u. VI (und die zugehörigen Erläuterungen) des Hayy ibn Yaqzän (Goidion, Le Recit, 40 u. 45) mit den Versen 57ff. des Haj ben Meqif. 51 Goidion, Le Recit, 143. 52 Goidion, Le Recit, 137. 53 Goidion, Le Recit, 143. 54 Vgl. zu dem ganzen Abschnitt Goidion, Le Recit, bes. das Vorwort und die Erläuterungen zu Abschn. XVII, 142-149. 55 Goidion, Le Recit, 69.

('Iggärät) Haj ben Meqls

119

bei die Verknüpfung des zweiten Teiles mit dem Osten und des dritten mit dem Westen von besonderem Gewicht ist). Die Bezeichnung des zweiten und dritten Teiles als „Wurzeln" - oder Prinzipien 56 und die drei Verse später folgende Bemerkung: „Jener läßt sein Licht auf diesen scheinen, und dieser nimmt von jenem seinen Glanz entgegen", weisen in dieselbe Richtung. Die Auffassung Steinschneiders und Rosins, nach der die drei Teile die Welt der Intelligenzen (Engel), die Welt der Sphären und die sublunarisdie Welt sind, ist nicht sicherzustellen57. Im Hinblick auf das Gesamtwerk ist die Di ei-Welten-Vorstellung dennoch keineswegs irrevelant. Die einleitende Skizzierung der metaphysischen Weltstruktur mit Hilfe des Bildes vom Westen und Osten ist nämlich bei Ibn Ezra (anders als bei Avicenna) nicht als Hinweis auf die Gesamtanlage des Werkes zu lesen. Wenn der Sammler des Diwan Abraham ibn Ezras, Josua bar Elija, bemerkt, die Schrift handle von den drei Welten 58 , so ist er damit durchaus im Recht, audi, ja gerade dann, wenn er mit den drei Welten dieselben Bereiche meint wie Steinschneider und Rosin. Bei Avicenna deutet die Unterscheidung von Westen und Osten den Grundplan des Werkes an. Das eindringende Erkennen wendet sich zuerst nach Westen, der Materie zu, sodann nach Osten, der Form zu. Demgegenüber ist die Dichtung des Ibn Ezra grundlegend vertikal orientiert. Der Materie-Form-Dualismus ist hier wie dort von zentraler Bedeutung, jedoch in verschiedenem Sinne. Avicenna geht es vor allem darum, diesen Dualismus angemessen zu erfassen, ihn nach beiden Seiten hin erkennend zu durchdringen. Das Interesse Ibn Ezras dagegen ist von Anfang an darauf gerichtet, ihm erkennend — auf der „Leiter der Weisheit" 59 von den niederen zu den höheren Formen aufsteigend - mehr und mehr zu entrinnen. Demgemäß läßt er sich, was den Aufbau seiner Dichtung angeht, nicht in erster Linie von der Unterscheidung zwischen Materie und Form, sondern von 56 V. 189: „'sr hmh h'qrjm". (Rosin, Reime und Gedichte, 176) S. dazu Salomo ibn Gabirol, Fons vitae, Ed. Baeumker, I 5; 7,22: „Quia haec duo [materia et forma] sunt radix omnium . . 57 Vgl. Egers, Diwan, 177, Anm. 2, und Rosin, Reime und Gedichte, 176, Anm. 16-24. Rosin bringt nähere Erläuterungen zu dieser Auffassung, die jedodi zur Erklärung der Stelle nur beitragen, wenn man sich bereits für die angezeigte Interpretation entsdiieden hat. Eine Ausnahme bildet Anm. 19, in der er indessen eine redit gewaltsame Deutung anbietet. Er bemerkt hier zu der Rede vom Osten und Westen in den Versen 190-191 (nach der Zählung unserer Ubersetzung): „Vor dem Osten . . . und hinter dem Westen . . . unserer sublunarischen Welt, also diese umschließend, sind die Himmelssphären der mittleren Welt und die dieselbe umfassende Oberwelt der Geister zu denken". 58 Egers, Diwan, 139; s. dazu 'Iggärät Haj ben Meqn, Ed. Kaufmann, III (Einleitung). 59 Einleitung des Kommentars zu Qohelet.

9

Greive: Neuplatonismus

120

Religionsphilosophische Schriften

der Vorstellung dreier übereinandergestaffelter Welten leiten. Diese Vorstellung ist ihm, wie schon Rosin gezeigt hat, durchaus geläufig. Sie findet sich im gängigen Exoduskommentar60 sowie auch - in etwas anderer Form - im Danielkommentar*1. Die Seele wandert unter der Führung des H a j ben Meqis von der irdischen (sublunarischen) Welt durch die Sphärenwelt zur Welt der Intelligenzen bzw. Engel und Menschenseelen. Diesem eindeutigen Aufstiegsschema entsprechend erhalten die Schilderungen der Sphären entschieden größeres Gewicht als bei Avicenna. Sie fallen weit ausführlicher aus. Überdies zwingt die grundsätzlich andere Konzeption zu Umstellungen in der Anordnung des Stoffes. Die im Hayy ibn Yaqzän im zweiten, die Ostregion behandelnden Teile untergebrachten Stücke über die vier Elemente, die Mineralien, Pflanzen und Tiere sowie die menschliche Erkenntnis stehen im Haj ben Meqis im ersten Teile, in dem von der sublunarischen Welt die Rede ist. Ibn Ezra beschreibt die genannten Bereiche der Ordnung des porphyrianischen Baumes folgend, schreitet also - mit dem Menschen beginnend - jeweils vom Besonderen zum Allgemeinen fort, vom Menschen über die Tiere, Pflanzen und Mineralien zu den Grundelementen der irdischen Welt: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Als Umkehrung der kosmogonischen Folge62 ist diese Ordnung in Ubereinstimmung mit der Gesamtanlage des Werkes durchaus aufstiegsorientiert, mag auch in anderer Sicht der Mensch dem Tiere und dieses der Pflanze usf. übergeordnet sein. Zu alledem geht Ibn Ezra in vertikaler Richtung einen entscheidenden Schritt über Avicenna hinaus. Avicenna hält nach dem erkennenden Durchmessen der materiellen und der formalen Seite der geschöpflichen Welt an deren Grenze inne. Der anschließende Lobpreis Gottes63 60

Exkurs des gäng. Kom. zu Ex 3,15 und 25,40. Exkurs des Kom. zu Dn 10,21. Siehe audi die Ausdeutung der Paradieseserzählung im gäng. Kom. zu Gn 3,24 und im fragm. Kom. zu Gn 3,21, Ed. Friedlaender, 40f.; dazu Rosin, Religionsphilosophie, MGWJ 42, 483ff. 62 Vgl. den biblisdien Schöpfungsbericht und Ibn Ezras Ausführungen dazu, insbes. folgenden Text aus dem fragm. Kom. zu Gn 1,14, Ed. Friedlaender, 28: „lpj d'tj äihjwm hr'swn hjh 'wr wl' hjh gdwl. wbjwm hSnj gdl 'd hjwtw sbt hrqj' wnr'th hjbsh. wbjwm hlljSj gdl iäqblh h'r? kh 'ljwn lhsmjh. wbjwm hrbj'j gdl 'd änbr'w hm'wrwt whkwkbjm. wbjwm hhmSj gdl 'd Sqblw hmjm kh lsrws np5 hjh. wbjwm h&j gdl 'd Xqblh h'r$ kh lhwsj' bhmh whjh." Ferner bezeichnet Ibn Ezra im Exkurs des gäng. Kom. zu Ex 25,40 den Menschen ausdrücklich als „Ende seiner Schöpfung auf Erden" - „swp brj'tw b'rs". (S. auch V. Nikiprowetzkys Ausführungen zur kosmogonischen Folge bei Philo: Problemes du „Recit de la Creation" chez Philon d'Alexandrie, in: Revue des Stüdes juives 124 (1965), 271-306, bes. 299 mit Anm. 7.) 63 Abschn. XXIII (Goichon, Le Recit, 227). 61

('Iggärät) Haj ben Meqis

121

bezieht sich vor allem auf Gottes menschlichem Sinnen und Trachten unerreichbare Größe. Die bezeichnete Grenze wird dadurch nur noch stärker markiert. (Der Ha) ben Meqis Ibn Ezras enthält zwar einen ähnlichen Passus, der jedoch, wie sich zeigen wird, in völlig anderem Zusammenhang steht.) Danach folgen im Hayy ibn Yaqzän nur noch zwei kurze Abschnitte von wenigen Zeilen. Der erste beginnt mit dem dunklen Hinweis, daß zuweilen einige Einsame unter den Menschen zu Ihm, d. h. Gott, auswandern. Das letzte Wort - von der arabischen Wurzel hgr - drückt eine Bewegung aus und zeigt an, daß es diesmal um ein sich Entfernen, sich Trennen von der körperlich-sinnlichen Wirklichkeit geht. (Die folgenden Sätze lassen dies noch deutlicher werden.) Im zweiten und letzten Abschnitt erklärt der Hayy ibn Yaqzän, daß seine Konversation mit der Seele ihn selbst Gott näher bringe, und schließt mit der Aufforderung: „Wenn du willst, folge mir zu Ihm" 64 . Sieht man von der Bemerkung des Hayy über sein eigenes Wirken ab, so liegen diese letzten Sätze des Werkes nicht auf der Linie des bis dahin behandelten Themas, sondern gehen darüber hinaus. Sie spielen auf die mystische Versenkung an, und zwar als auf etwas, das jenseits der Grenze des im Hayy ibn Yaqzän zur Diskussion gestellten Problemkreises liegt. Nicht so bei Ibn Ezra. Dort ist dieses Letzte, die Gottesschau, das eigentliche Ziel des vorher geschilderten Weges, der krönende Absdiluß des Ganzen. Es gibt kein Innehalten an der Grenze der geschöpflichen Welt. Mitten ins Staunen der Seele über den Anblick der Intelligenzen (Engel) und Seelen fällt das Wort ihres Führers: „Streife die Schuhe von deinen Füßen, mach dich mit deiner »Einzigen1 frei vom Stoff deines Leibes, gib auf deine Grübeleien, laß deine Augenlider' Dann schau mit den Augen des Innern, mit den Augensternen des Herzens!" 65 Was also im Hayy ibn Yaqzän lediglich angedeutet wird, und zwar zunächst nur in Gestalt einer Information über etwas, das zuweilen geschieht und für einige Einsame gilt, sodann zum Abschluß in der Form der bedingten Aufforderung: „Wenn du willst", d. h. wenn du zur mystischen Schau bereit und fähig bist, dann „folge mir zu 64 Abschn. XXIV u. X X V (Goichon, Le Recit, 232 u. 235). V. 625-632: „sl n'ljk m'l rgljk whtn$l bjhjdtk mhmr gwjtk wznh sr'pjk whnh 'p'pjk wr'h b'jnj qrbjk wb'jSwnj lbbk". (Rosin, Reime und Gedichte, 196) 65

9'

122

Religionsphilosophische Schriften

ihm", und demgemäß nach dem Lobpreis des unerfaßbaren Gottes steht, ist im Haj ben Meqis von vornherein als un-bedingte Aufforderung formuliert, die vor dem Lobpreis der Größe Gottes ergeht und somit auf die Erkenntnis und Schau dieser Größe - trotz aller Betonung ihrer Unfaßbarkeit - in Anknüpfung an den bis dahin zurückgelegten Weg des Aufstiegs gradlinig hinzielt. Mit der Lehre schließlich, daß Gotteserkenntnis auf dem "Wege der Selbsterkenntnis erreichbar ist, verläßt Ibn Ezra vollends den Rahmen der Vorlage Avicennas. Hierzu gibt es im Hayy ibn Yaqzän keine Entsprechung. Von diesem Ende her, worauf alles, was ihm vorausgeht, hingeordnet erscheint, erweist sich der Haj ben Meqis, wie bereits dargetan wurde, endgültig als eine vom Thema her mystische Schrift, genauer als ein Werk philosophischer Mystik oder mystischer Philosophie. Demgegenüber ist der Hayy Avicennas primär ein philosophisches Werk, das als solches freilich im Sinne der Zeit zugleich auch religiösen Charakters ist, mystische Züge indessen nur beiläufig trägt. Es liegt in der Konsequenz der skizzierten Entwürfe, daß Ibn Ezra den Prozeß der Erkenntnis und Befreiung als Wanderung oder Reise beschreibt, genauer als Aufstieg, Avicenna dagegen sich damit begnügt, schlicht einen Wissenszuwachs zu schildern. Die Seele steigt in seiner Darstellung nicht zu den Himmeln auf, sondern gewinnt lediglich im Gespräch mit dem Hayy ibn Yaqzän Einsicht in Aufbau und Wesen der Welt66. Die aufgezeigten Differenzen sind streng als Differenzen zwischen den diskutierten Werken zu verstehen, nicht zugleich als Ausdrude unterschiedlicher Grundpositionen der beiden Autoren. Ibn Ezra steht Avicenna audi in der mystischen Theorie nahe, näher als der Vergleich des Haj ben Meqis mit dem Hayy ibn Yaqzän erkennen läßt67.

66

Im Abschn. I X (Goichon, Le Recit,

64) bittet die Seele zwar den H a y y ibn

Yaqzän, ihn auf seiner Reise begleiten zu dürfen. Doch der Weise macht ihr in seiner Antwort klar, dies sei nur in sehr eingeschränkter Weise möglidi („Toi et ceux qui sont dans la mime voie que toi sont empeches de faire un voyage semblable au mien . . . Contente-toi done d'un voyage entrecoupe de haltes . . ."), und vertröstet sie auf die Stunde der endgültigen Trennung von ihren Gefährten, d. h. auf die Todesstunde. Die folgenden Abschnitte sind konsequent in der Form einer Konversation abgefaßt. Vgl. Abschn. X (a. a. O. 6 9 ) : „La conversation me ramena k l'interroger . .

; Abschn. X I I

quelques explications . . 67

(a. a. O. 8 6 ) :

„Nous lui demandames

d'ajouter

usf.

Vgl. Gardet, La pensee,

menschliche Gotteserkenntnis".

167, und das Kapitel der vorliegenden Arbeit: „Die

123

('Iggärät) H a j ben Meqis

zum

c)

Der Katar

Haj ben Μalkilt

Meqis im Verhältnis des S a l o m o ibn Gabirol

Der Haj ben Meqis erinnert in mancher Hinsicht an eine ältere hebräische Dichtung, die entschieden bekannter geworden ist als das Werk Ibn Ezras, nämlich die Königskrone des Salomo ibn Gabirol 68 . Ibn Ezra scheint mit dem Denken Ibn Gabirols wohlvertraut gewesen zu sein. Zuweilen führt er ihn ausdrücklich an (so ζ. B. in seinen Ausführungen zur Jakobsleiter) 69 , beruft sich auf ihn oder setzt sich kritisch mit ihm auseinander 70 . Die beiden Dichter gehen auf dem Gebiete der Philosophie ein gutes Stück Weges gemeinsam. Es dürfte somit nicht unnütz sein, den Ha) ben Meqis und die Königskrone wenigstens kurz miteinander zu vergleichen. Wenn wir dabei das Augenmerk nicht nur auf die Ähnlichkeiten, sondern auch, ja noch mehr auf die Differenzen richten, so deshalb, um die Eigenart und Besonderheit der Dichtung des Ibn Ezra auch von dieser Seite her so deutlich wie immer möglich sichtbar zu machen. Die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Werken betreffen in erster Linie das Weltbild im engeren Sinne, die Anschauungen vom hierarchischen Aufbau der Schöpfung. Zumindest sind in diesem Punkte die Übereinstimmungen am auffälligsten. Die in die Form eines Lobpreises Gottes gekleideten Schilderungen der Welt, besonders der Sphären, im zweiten Teil der Königskrone zeigen manche Gemeinsamkeiten mit den Darstellungen der die Weltbereiche durchwandernden Seele im Haj ben Meqis. Indessen sind auch zahlreiche Abweichungen vorhanden. Im Haj ben Meqis beginnt die Schilderung der Schöpfung mit Ausführungen über die irdische Welt als einer (irdisch-)materiellen. Das im Vers 225 als „urzeitlich und alt" bezeichnete Reich ist das Reich der irdischen Materie oder besser die irdische Welt unter dem Gesichtspunkt ihrer Materialität. Danach ist von der irdischen Formenwelt die Rede: vom menschlichen Erkennen und seiner Abhängigkeit von den äußeren und inneren Sinnen, sodann von den Tieren, Pflanzen und Mineralien und schließlich von den vier Elementen. Die irdische Welt wird somit zunächst unter dem Gesichtspunkt der Materie, sodann unter dem der Form beschrieben. Bis dahin beschränkt sich die Ähnlichkeit darauf, daß im Haj ben Meqis wie auch in der Königskrone Erde, Wasser, Luft und Feuer als die Grundelemente der irdischen Welt erscheinen. 68

Ich folge der Textausgabe Schirmanns in: Has-siräh

deutschen Zitate entstammen krone"

des Salomo Ben Jehuda

der Übersetzung Ibn Gabirol,

hä-'ibrit,

von Johann

Die

„Königs-

in: Judaica 18 (1962), 1 7 - 4 7 .

69

Gäng. Kom. zu Gn 28,12; vgl. hierzu Altmann, „The Ladder

70

Vgl. Kaufmann, Salomon

Ibn Gabirols

I, 2 5 7 - 2 8 5 . Die

Maier:

philosophische

of Ascension",

Allegorese.

15.

124

Religionsphilosophische Schriften

Bedeutsamer sind die Affinitäten in den Schilderungen der Sphärenwelt. In der folgenden Ubersicht sind die wichtigsten Vergleichspunkte zusammengestellt. Es geht vor allem um das Verhältnis der Sphären bzw. der sie beherrschenden Himmelskörper zur irdischen Welt, besonders zum Menschen, um die Gestirne als die Geschicke der Erde bestimmende Mächte.

Sphäre oder Gestirn(e)

Haj ben

Meqis

Mond

Jugendlichkeit und Zierlichkeit Herrscher: Lidit von der Sonne Abnehmen und Zunehmen des Lichtes

Königskrone

Merkur Kunstfertigkeit und Gesdiicklidikeit ~ Führung und Herrschaft Herrscher: Königsbote Venus

Weibliches Geschlecht Sorglosigkeit Spiel, Tanz, Gesang

~

Königin: von großer Schönheit Sonne

Helligkeit König: Lidit verbreitend Blendender Glanz Weise Führung

[s. Mond]

Licht von der Sonne

[s .Sonne] Gutes und Böses Festberechnung Mond- und Sonnenfinsternis Streit, Feindschaft, Intrige Gewalt, Bereicherung Weisheit, Klugheit, Einsicht

Ruhe und Stille Frohsinn, Lieder, Jauchzen Fruchtbarkeit Herrin: voller Schönheit

Alles bestrahlend Gutes Böses Zeitberechnung Fruchtbarkeit Zunehmen und Abnehmen des Mondlichts

125

('Iggärät) Haj ben Meqis Sphäre oder Gestirn(e)

Ha) ben Meqls

Mars

Rote Farbe

Königskrone

Rote Farbe (des seiner Mannen)

Doppelsinnigkeit Bedrückung Krieg Bestechung Mord Plünderung

Schildes

Krieg Mord Dürre und Feuersbrunst

(Herrsdier wie oben) Jupiter

Redlichkeit und Lauterkeit

Redit und Gerechtigkeit (Herrsdier wie oben) Saturn

Klugheit und Bedaditsamkeit im Guten und im Bösen

~

Liebe, Gottesfurcht, Reditsdiaffenheic Fruchtbarkeit Redit und Gerechtigkeit

Krieg, Plünderung, Gefangenschaft, Hunger

Herrsdier: Macht und Glanz Prahlerei Fixsterne (Tierkreis)

Ungezählte Völker und Nationen

Kraft aller untern Geschöpfe

Umgebungssphäre

Alles umfassend und bewegend

Alles umfassend und bewegend

Ibn Gabirol kennt einen zehnten Sphärenbereich, die Verstandesoder Vernunftsphäre - galgal has-Säkäl, der die Engel und Seelen angehören. Im Haj ben Meqis ist von einem solchen Sphärenbereidi keine Rede. An der Grenze der Umgebungssphäre sdiaut das Ich Engel und Seelen. Ihr „Ort", soweit dieser Ausdruck hier statthaft ist, wird nicht als Bereich, etwa als Königtum - mamläkäh wie die Planetensphären und die Fixsternsphären bzw. als Raum oder Wohnung - zebül wie die Umgebungssphäre bezeichnet. Es handelt sidi hier indessen nur um eine scheinbare Differenz. An anderer Stelle, nämlich im Exkurs des gängigen Kommentars zu Ex 3,15, verwendet auch Ibn Ezra für den genannten „Ort" den Terminus Sphäre71. 7 1 Ibn Ezra schreibt dort in einer Erörterung der Bedeutung der Zehnzahl: „wkkh hglgljm täS'h shm gwpwt nkbdwt 'wmdwt wh'sjrj Xhw* qdi nqr' kn b'bwr skhw bkl ks' hkbwd".

126

Religionsphilosophisdie Schriften

Die in der Übersicht aufgeführten Momente betreffen, wie schon gesagt, durchweg das Verhältnis der Sphären oder Gestirne zur irdischen Welt. In der Königskrone werden diese Momente schlicht als Wirkungen der Gestirne beschrieben. Im Haj ben Meqis dagegen erscheinen sie als Charakterisierungen die Sphären bewohnender Wesen. Sieht man von den Gestirnen — den Beherrschern der Sphären — ab, so sind indessen mit diesen Sphärenbewohnern nicht sphärische Wesen gemeint, sondern durch die jeweilige Sphäre oder ihr(e) Gestirn(e) in besonderer Weise beeinflußte Gruppen irdischer Menschen72. Der Dichter bezeichnet sie dementsprechend als Menschen bzw. Männer und Frauen usf. Dies gilt für die ersten sieben Sphären. Unter den Völkern und Nationen der Fixsternsphäre sind dagegen deren Gestirne zu verstehen, darüber hinaus vielleicht die Menschheit in ihrer Gesamtheit. Der Fixsternsphäre ist keine besondere Gruppe von Menschen zuzuordnen, ihrem Einfluß unterliegen alle, letztlich nicht nur alle Menschen, sondern alle „untern Geschöpfe". „Der Kraft dieser Sternbilder", schreibt Ibn Gabirol in der Königskrone, „entströmt die Kraft aller untern Geschöpfe" 73 . Trifft diese Deutung zu, so ist die angezeigte Verschiedenheit in der Schilderung der Sphärenwelt nur eine solche der Darstellungsform, die Grundauffassung dagegen auch hier in beiden Werken die gleiche. Die in der Übersicht angedeuteten Differenzen in der Charakterisierung der einzelnen Sphären werden davon natürlich nicht betroffen. Uberhaupt scheinen die bedeutsameren Gemeinsamkeiten der Königskrone und des Ha'] ben Meqis in Vorstellungen allgemeiner Art, in bestimmten Grundanschauungen, nicht in Einzelzügen zu liegen. Beide Dichtungen haben zu einem ihrer zentralen Gedanken ein gnoseo-kosmologisches Erlösungsverständnis. Nach diesem wie jenem Werk ist Erlösung Aufstieg aus der irdischen Welt durch die Sphären zur himmlischen Welt, letztlich zu Gott, Rückkehr von den Enden zu den Anfängen74, und dieser Aufstieg ein Prozeß wachsender Erkenntnis. Das für die Erlösungsauffassung des traditionellen Judentums so bedeutsame heilsgeschichtliche Moment tritt in den Hintergrund - so in der Königskrone - oder verschwindet völlig - so im Haj ben Meqis. Hier wie dort Ähnlich Rosin: „ A b r a h a m Ibn Esra versetzt in seinem C h a i b. Meqiz . . . in das Reich jedes Planeten die Menschen mit dem entsprechenden C h a r a k t e r . " {Religionsphilosophie, M G W J 42, 309) 73 X X I , 14f. (Joh. Maier, „Königskrone", 28) - „wmkh hmzlwt hhm / n'?l kh kl b r w ' j m t h " (Schirmann, Has-siräh hä-'ihrit, I, 269). In der Königskrone heißt es ( X X X I I , 1 1 - 1 3 ) : „Dies sind nur die S ä u m e deiner Wege, wie mächtig sind erst ihre Anfänge, denn sie bedeuten Leben für jene, die sie finden" (Joh. Maier, „Königskrone", 34) - „whn 'lh qswt drkjk - w m h 'smw r'ijhm, / kj hjjm hm l m w s ' j h m ! " (Schirmann, Has-siräh hä-'ihrit, I, 276). 72

127

('Iggärät) H a j ben Meqis

geht es um individuelle Erlösung, steht das Seelenheil des Einzelnen im Mittelpunkt des Interesses. Diese Ubereinstimmungen - gemeinsames neuplatonisches Erbe dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß nicht nur in vielen Einzelzügen, sondern auch in den Grundanschauungen gewichtige Differenzen vorhanden sind. Zunächst fällt auf, daß Ibn Gabirol im Unterschied zu Ibn Ezra immer wieder, mit der deutlichen Absicht, dies durch Wiederholung tief einzuprägen, auf die Abhängigkeit der Gestirne und ihrer Wirksamkeit vom Willen des Schöpfers hinweist. Die meisten der die einzelnen Sphären behandelnden Passagen des zweiten Teiles der Dichtung enthalten die Bemerkung, daß das Gestirn dem Willen dessen unterworfen ist, der es erschuf75. Dadurch, daß im Ha) ben Meqis solche die Grenze der Macht der Gestirne aufzeigenden Sätze fehlen, behält die Sternenwelt hier ein größeres Maß von Eigenständigkeit und Eigengewicht. Doch mag dies lediglich ein Unterschied der Akzentsetzung sein. Bedeutsamer ist, daß der Dichter der Königskrone die Körperlichkeit der irdischen Welt anders beurteilt als der Verfasser des Haj ben Meqis. Dies ist in der unterschiedlichen Auffassung der beiden Autoren über die Herkunft der irdischen Materie bzw. ihr Verhältnis zu Gott begründet. Ibn Gabirols Ausführungen über den Leib in den Gesängen X X I X , X X X I und X X X I I der Königskrone unterscheiden sich nicht nur im Tonfall von dem, was Ibn Ezra im Haj ben Meqis zum Bereich des Leiblich-Sinnlichen sagt. Dort ist der Leib ein Gut, wenn audi ein minderes als der Geist, das zudem beim Menschen - eben durch den Geist, den Gott auf ihn ausgegossen hat — „eine höhere Stufe erreicht" 76 als beim Tier, hier schlicht ein „fremder Weinberg" 77 . Anders als im Ha) ben Meqis erscheint in der Königskrone der Leib schlechthin als eine Wirkung göttlicher Macht. Folgende Verse lassen sich schwerlich anders verstehen: „Du hast sie [die Seele] in den Leib gegeben, ihm zu dienen, ihn zu bewahren, sie ist wie Feuer in ihm und verbrennt ihn dodi nicht, denn aus der Seele Feuer ward er geschaffen und ging aus dem Nichts hervor ins Sein, weil der Herr darauf im Feuer herabstieg" 78 . Trotzdem ist auch in der Sicht Ibn Gabirols die irdische Welt ein „Schmelzofen der Verbannung" 79 , setzt auch nach ihm Erlösung letzten 75 Vgl. X I , 14; X I I , 3 5 - 3 8 ; X I I I , 12; X I V , 8; X V , 15f.; X X , 12f.; X X I , 17f. « X X X I , 7ff. (Joh. Maier, „Königskrone", 34) - „w' 5 lt 'ljw rwh hkmh / 'h bh jbdl mbhmh / wj'lh Ί m'lh rmh" (Sdiirmann, Has-siräh hä-'ibrit, I, 275). 77

V. 11: „smnj ntrh H'-krmj". (Rosin, Reime und Gedichte,

168)

X X I X , 1 1 - 1 6 (Joh. Maier, „Königskrone", 33) - „wslhth bgwp l'bdhw wlsmrhw - / whj' k's b t w k w wl' tsrphw, kj m's hnsmh nbr' wjs' m'jn ljs, / mpnj 'ir jrd 'ljw jj b's." (Sdiirmann, Has-siräh hä-'ibrit, I, 274) 78

" X X X V I I I , 29 (Joh. Maier, „Königskrone", 44) Has-siräh hä-'ibrit, I, 283).

„bkwr glwt"

(Sdiirmann,

128

Religionsphilosophisdie Schriften

Endes Trennung der Seele vom Leibe voraus. An dieser Stelle tritt indessen eine weitere wichtige, die Grundkonzeption betreffende Differenz zutage. Die zur Frage der Heimkehr der Seele aus der Verbannung der irdischen Welt entscheidende Stelle gegen Ende der Königskrone handelt von der natürlichen Trennung der Seele vom Leibe: dem Tode80. Der bedeutsame Satz aus der Schlußszene des Ha] ben Meqis: „mach dich mit deiner ,Einzigen' frei vom Stoff deines Leibes" usf., kann sidi dagegen kaum auf den Tod beziehen. Hier ist, wie früher aufgezeigt wurde, an ein zeitweiliges den Fesseln des Leibes Enthobensein der Seele gedacht. Die Schrift Ibn Ezras ist in ihrem Aufbau und Fortschritt auf diese Schlußszene hin komponiert und somit eine mystische Schrift. Demgegenüber ist die Königskrone höchstens in einem weiteren Sinne als mystische Schrift zu bezeichnen81. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß in der Königskrone auch der Gedanke der Selbsterkenntnis und ihrer Bedeutung für die Gotteserkenntnis nicht anklingt. Nach dem Haj ben Meqis ist die Selbsterkenntnis in ihrer höchsten Form Mittel und Weg zur Gotteserkenntnis oder audi Gottesschau. Die Königskrone schweigt hierzu, obwohl ihrem Dichter dieser Gedanke zumindest in seiner allgemeinen Form, nämlich als Lehrsatz über den Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Erkenntnis überhaupt, durchaus vertraut war 82 . Als letzte die Grundkonzeption der diskutierten Werke betreffende Differenz sei genannt, daß in der Königskrone keine dem H a j vergleichbare Mittlergestalt eine Rolle spielt. In der Königskrone ist das Du des Menschen bzw. der Seele Gott selbst, im Haj ben Meqis dagegen der H a j ben Meqis. Der Vergleich ist angestellt worden, um den besonderen Charakter der Dichtung des Ibn Ezra wenigstens an einem repräsentativen Beispiel in ihrem Verhältnis zur innerjüdischen religiös-philosophischen Tradition darzutun. Die Wahl fiel dabei auf die Königskrone, weil sie in einer zentralen Thematik - der der Erlösung als eines Aufstiegs durch die Sphären - mit dem Haj ben Meqis verwandt ist. Die Unterschiede sind trotz dieser Verwandtschaft erheblich. Die gewichtigste Besonderheit der Schrift Ibn Ezras gegenüber der Königskrone Ibn Gabirols ist die in den zuletzt besprochenen Zügen zutage tretende gnostisch-mystische Tendenz.

80 XL, 30-45; vgl. audi XXXVIII, 16f. 81 Vgl. J. Wijnhoven, The Mysticism of Solomon Ibn Gabirol, in: Journal of Religion, 45 (Chicago 1965), 137-152. »2 S. Anm. 15.

('Iggärät) H a j ben Meqis

d) D e r Haj

ben

Meqis

u n d d i e D iv in a

129

Commedia

Die bisherigen Ausführungen dienten der Interpretation des Haj ben Meqis. Zu diesem Zwecke wurden auch die Vergleiche mit dem Hayy ihn Yaqzän Avicennas und dem Katar Malküt Ibn Gabirols angestellt. Ihr Ziel war, das Besondere der Schrift Ibn Ezras klarer hervortreten zu lassen. Es ging in diesen Vergleichen also nicht um Avicenna oder Ibn Gabirol, sondern um Ibn Ezra. Anders im folgenden. Der durch das Thema dieses Teils der Untersuchung angezeigte Vergleich wird weniger um des Haj ben Meqis willen durchgeführt als im Hinblick auf die Göttliche Komödie. Es wird sich nebenher zeigen, daß aufgrund der Vergleichsmomente, an welche angeknüpft werden wird, ein direkter literarischer Einfluß der Dichtung des Ibn Ezra auf Dante nicht nachweisbar ist. Das Ziel ist schlicht dieses: bestimmte Züge der Göttlichen Komödie, vor allem deren ersten Gesang - die Allegorie der drei Tiere, am Leitfaden von Gedanken und Bildern aus dem Haj ben Meqis zu interpretieren. Läßt sich eine werkimmanent befriedigende Deutung gewinnen, die über den gegenwärtigen Stand der Diskussion hinausführt, so hat der Vergleich, durdi den sie angeregt wurde, seinen ersten und wichtigsten Zweck erfüllt. Diese Eingrenzung der Fragestellung zielt nicht auf die völlige Ablösung der vergleichenden Betrachtung von dem Hintergrund wirkungsund einflußgeschichtlicher Zusammenhänge ab, sondern bedeutet nur die Zurückstellung der Frage nach deren Einzelzügen. Es soll und kann, ohne dem Vergleich den Boden zu entziehen, davon abgesehen werden, exakt den Ort zu bestimmen, den der Haj Ibn Ezras und Dantes Komödie im weitverzweigten real-ideellen Beziehungssystem des diskutierten Zeitabschnittes einnehmen, etwa vorgängig zu entscheiden, ob der Ha] im Hinblick auf Dante als Wirkungszentrum solcher Beziehungen gelten kann oder muß oder lediglich als ein Ausläufer usf. Umgekehrt ist es sehr wohl möglich, daß durch den Vergleich — je nach der Art der Parallelen, die aufgezeigt werden können - eine Richtung gewiesen wird, in der die Einzelzüge der einflußgeschichtlichen Zusammenhänge begründet weiterverfolgt werden können, ein Schritt auf einem Wege getan wird, der zu ihrer Aufhellung führt. Damit ist zugleidi ein Nebenziel der Untersuchung genannt. Der Vergleich bewegt sich hinsichtlich der zuletzt angeschnittenen Frage nicht im luftleeren Raum. Der Haj ben Meqis kommt aus der neuplatonischen Tradition islamisch-jüdischer Prägung. Als ein Werk Ibn Ezras ist er ferner durch jene Form dieser Tradition bestimmt, die im maurischen Spanien ihre Ausbildung fand. Er gehört somit einem Uberlieferungszusammenhang an, dessen Bedeutung für die Vorstellungen, die in der Göttlichen Komödie ihre vollkommenste dichterische Gestaltung gefunden haben, seit mindestens fünfzig Jahren ernsthaft

130

Religionsphilosophisdie Schriften

erörtert wird. E s ist nicht notwendig, an dieser Stelle den V e r l a u f der Diskussion im einzelnen nachzuzeichnen, sondern dürfte genügen, auf einige der wichtigsten Veröffentlichungen der K o n t r o v e r s e hinzuweisen. I m J a h r e 1 9 1 9 brachte Miguel Asin y Palacios in M a d r i d die bahnbrechende Arbeit La escatologia musulmana en la Divina Commedia heraus 8 3 . D e r Hauptgegenstand seiner Untersuchungen ist die islamische Legende v o n der Himmelsreise Mohammeds, arabisch mi'räg 8 4 . Die Legende knüpft an den A n f a n g der 17. Sure des K o r a n s a n : „Gepriesen sei der, der mit seinem Diener bei N a c h t v o n der heiligen K u l t stätte (in M e k k a ) nach der fernen K u l t s t ä t t e (in Jerusalem), deren Umgebung w i r gesegnet haben, reiste, um ihn etwas v o n unseren Zeichen sehen zu lassen!" 8 5 D a s W e r k Asins erschien 1 9 4 3 in zweiter A u f lage. Diese enthält unter dem Titel „Historia y critica de una p o l e m i c a " eine Stellungnahme des A u t o r s zu der durch seine Thesen ausgelösten Diskussion. Asins A n s a t z ist v o n zahlreichen A u t o r e n aufgegriffen worden. Ihre bedeutsamste F o r t f ü h r u n g haben seine Gedanken in den gewichtigen Arbeiten v o n E n r i c o Cerulli, II „Libro della Scala" e la questione della fonti arabo-spagnole della Divina Commedia, C i t t ä del V a t i c a n o 1 9 4 9 , und Jose Mufios Sendino, La escala de Mahoma, M a d r i d 1 9 4 9 , gefunden 8 6 . Das Werk ist in gekürzter Form auch in engl. Übersetzung erschienen: Islam an the Divine Comedy, Translated and abridged by H. Sunderland, London 1926 (Nachdruck: London 1968). 8 4 Vgl. hierzu audi die neuere Arbeit von Qasim Al-Samarrai: The Theme of Ascension in Mystical Writings, Baghdad 1968. es Der Koran, Übersetzung von Rudi Paret, Stuttgart - Berlin - Köln - Mainz 1962-1966, 227; s. auch Sure 53, 1-18 ( a . a . O . 441) und Sure 81, 22-24 (a.a.O. 501f.). 8 6 An neueren Arbeiten s. ferner: F. Gabrieli, Nuova luce su Dante e 1'Islam, in: Nuova Antologia 460 (sett. 1950), 48-59; U. Bosco, Contatti della cultura occidental e di Dante con la letteratura non dotta arabo-spagnola, in: Studi Danteschi 29 (1950), 85-102; M. Porena, La Divina Commedia e il viaggio di Moametto nell'oltre tomba narrato nel „Libro della scala", in Rendic. d. Acc. d. Lincei. Classe . . . morali, 5 (1950), 40-59; G. Levi della Vida, Dante e l'Islam secondo nuovi documenti, in: Aneddoti e svaghi arabi e non arabi, Mailand - Neapel 1959, 149-161. Freilich hat es auch an ablehnenden Stellungnahmen nicht gefehlt. Vgl. ζ. Β - um nur zwei jüngere Arbeiten zu nennen - L. Olschki, Mohammedan Escbatology and Dante's Other World, in: Comparative Literature (University of Oregon) 3 (1951), 1-17, und C. Grabher, Possibili conclusioni su Dante e I'escatologia musulmana, in: Siculorum Gymnasium, n. s. 8 (Catania 1955), Studi in onore di Salvatore Santangelo, 164-182. Asins Behandlung der Frage des islamischen Einflusses auf Dante ist in der Tat keineswegs über jede Kritik erhaben, wie beispielsweise S. Merkle bereits 1929 gezeigt hat (Dante und die Muhammedanische Eschatologie, in: Deut83

('Iggärät) Haj ben Meqis

131

Vor Erscheinen des Werkes von Asin Palacios hatte R. Ottolenghi bereits in einer größeren Arbeit den jüdischen Dichter und Philosophen Salomo ibn Gabirol als Vorläufer Dantes zu erweisen versucht87. Er stützt sich dabei vor allem auf dessen religiös-philosophische Dichtung Katar malküt, die zuvor mit dem Haj ben Meqis Ibn Ezras verglichen wurde. Es dürfte kaum eine unmittelbare Beziehung zwischen der Königskrone und der Göttlichen Komödie bestehen. Trotzdem war es kein völliger Fehlgriff, Ibn Gabirol zum Vorläufer Dantes zu machen. Der Verfasser der Königskrone gehört ebenso wie Abraham ibn Ezra zu jenen Autoren, die in ihrem literarischen Schaffen aus dem Fundus jener kosmologischen und eschatologischen Vorstellungen (nämlich der der islamisch-jüdischen Tradition insbesondere des maurischen Spanien) geschöpft haben, die seit den Untersuchungen von Asin Palacios in der Danteforschung eine bedeutsame Rolle spielen. In der Tat weist auch Cerulli in seiner Arbeit zu den arabisch-spanischen Quellen der Göttlichen Komödie gelegentlich auf Ibn Gabirol (Avicebron) hin88. In jüngster Zeit ist der Gedanke literarischer Beziehungen zwischen Ibn Gabirol und Dante erneut zur Diskussion gestellt worden, und zwar von Rudolf Palgen. Diesmal dient nicht die Königskrone des jüdischen Dichterphilosophen, sondern sein philosophisches Hauptwerk, die Lebensquelle, als Anknüpfungspunkt 89 . Palgen betrachtet die Göttliche Komödie als „eine künstlerische Synthese der eschatologischen Traditionen des 13. Jahrhunderts" und sieht „die Gründe dafür, daß Dante sich so offensichtlich aus diesem Werk Motive verschafft hat, in seiner eschatologischen Bedeutsamkeit" 90 . Die Eschatologie und damit verbunden die Kosmologie der islamischjüdischen Tradition insbesondere Spaniens war zumindest bestimmten Kreisen christlicher Autoren des 13. Jahrhunderts bekannt. Es sei hier lediglich an M.-Th. d'Alvernys Arbeit Les peregrinations de l'ame dans l'autre monde d'apres un anonyme de la fin du XII' siecle91 erinnert.

sches Dante-Jahrbuch, 11. BdVNeue Folge 2. Bd., Weimar 1929, 1-43). A. Rüeggs zusammenfassende Besprechung der Problematik (Die Jenseitsvorstellungen vor Dante und die übrigen literarischen Voraussetzungen der „Divina Commedia", 2 Bde., Einsiedeln - Köln 1945, I, 435-463) ist unzulänglich. Weitere Literaturangaben siehe u. a. in G. Siebzehner-Vivanti, Dizionario de IIa Divina Commedia, a cura di M. Messina, Florenz 1954, 146. 87 Un lontano precursore di Dante, Lugano 1910. ββ II „Libro della Scala", 521. 89 Vgl. R. Palgen, Dante und Avencebrol, in: Anzeiger der österreichischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, 94 (1957), 300-316. Ό Dante und Avencebrol, 300. 91 In: Archives d'histoire doctrinale et litteraire du moyen age 13 (1940/42), 239-299.

132

Religionsphilosophische Sdiriften

Die Quellen der Eschatologie dieser „Peregrinationes animae" sind nach Ansicht M.-Th. d'Alvernys in erster Linie der Liber de causis, die Metaphysik Avicennas und Al-Gazälis und der Fons vitae Ibn Gabirols92. Es ist kaum zu bezweifeln, daß eschatologische Vorstellungen islamischjüdischer Prägung in die Göttliche Komödie Eingang gefunden haben. Ausrichtung und Aufbau der Dichtung weisen allzu deutlich in diese Richtung. Dabei mag dahingestellt bleiben, durch welche Schriften sie Dante zur Kenntnis gekommen sind. Eschatologie und Kosmologie dieser Tradition sind aufs engste mit astrologisch-astronomischen Vorstellungen verknüpft (auch diese Verbindung findet sich sehr ausgeprägt in der Göttlichen Komödie wieder). Vom 10. Jahrhundert an ist im lateinischen Raum auf dem Gebiete der Astrologie und Astronomie arabischer Einfluß nachweisbar. Er steigert sich im 12. Jahrhundert 93 . Dante wird auf verschiedenen Wegen mit der arabischen Astrologie und Astronomie in Berührung gekommen sein. Eine seiner wichtigsten Quellen war wohl der unter Benutzung der Toledanischen Tafeln zusammengestellte Almanack des Juden Jakob ben Makir ibn Tibbon von Montpellier, auch Don Profiat genannt, der etwa 1236 bis 1307 lebte. Der Almanack entstand in hebräischer Sprache, wurde aber schon bald ins Lateinische übersetzt. 1908 erschien in Florenz eine von J. Bofitto und C. Melzi D'Eril besorgte Edition der lateinischen Fassung des Werkes unter dem Titel Almanack Dantis Aligherii, stve Propkacii Judaei Montispessulani Almanack perpetuum ad annum 1300 inckoatum9i. Neben Jakob ben Makir ibn Tibbon hat eine Anzahl anderer Juden im Prozeß der Vermittlung arabischer Wissenschaft und Philosophie an die christlichen Lateiner eine wichtige Rolle gespielt, nicht zuletzt auch der Autor des Haj ben Meqis, Abraham ibn Ezra. Des letzteren Einfluß im lateinischen Bereich betraf - wie im ersten Teile dieser Arbeit dargetan wurde — ganz besonders die Gebiete der Astrologie und Astronomie95. Zumindest astrologische Thesen Ibn Ezras können und werden wohl auch bis zu Dante gelangt sein, und zwar durch Vermittlung Peters von Abano, auf den die wichtigste lateinische 92

Les peregrinations de l'äme, 240. Vgl. u. a. Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, I, 697ff., sowie vor allem das Kapitel „Las primeras traducciones cientificas de origen oriental hasta mediados del siglo XII" in den Nuevos estudios (79-115) von MilUs Vallicrosa. 94 Vgl. Μ. A. Orr, Dante and the Early Astronomers, London 21956, 238f., und C. Roth, The Jews in the Renaissance, Philadelphia 21964, 87 u. 347, sowie R. I. Harper, Prophatius Judaeus and the Medieval Astronomical Tables, in: Isis 62 (1971), 61-68. 95 Vgl. (neben der bereits im I. Teil angegebenen Literatur) Munos Sendino, La escala de Mahoma, 164. 93

('Iggärät) Haj ben Meqis

133

Version der astrologischen Schriften Ibn Ezras zurückgeht96. Es ist wenig wahrscheinlich, daß Peter, von dem Bruno Nardi schreibt, er sei „forse lo scienziato piü significativo e piü rappresentativo di un seculo glorioso, del quale Tommaso d'Aquino fu il piu grande teologo e Dante Alighieri il sommo poeta" 97 , Dante unbekannt geblieben sein sollte98. Diese allgemeinen Überlegungen berechtigen natürlich nicht zu der Schlußfolgerung, Dante habe den Haj ben Meqis, der aller Wahrscheinlichkeit nach nur hebräisch vorlag, oder bestimmte Vorstellungen aus dieser Dichtung gekannt. Hierauf zielen sie auch keineswegs ab. Sie sollen nichts weiter als die Skizzierung des Hintergrundes sein, vor dem der angezielte Vergleich sidi abspielt95. Der Haj ben Meqis steht der Göttlichen Komödie näher als die von Ottolenghi zum Vergleich herangezogene Königskrone Ibn Gabirols oder auch dessen Lebensquelle, die Rudolf Palgen als Quelle Dantes betrachtet. Hajjim Schirmann, einer der besten Kenner der mittelalterlichen jüdischen Poesie, spricht von „zahlreichen Parallelen in den Situationen und ihrer allegorischen Ausdeutung bei Ibn Sinä und Ibn Ezra einerseits und bei Dante andererseits"100. Bevor wir auf den Hauptgegenstand der vorliegenden Untersuchung, den Prolog der Göttlichen Komödie und damit vergleichbare Züge aus dem Haj ben Meqis, zu sprechen kommen, sei kurz auf einige andere Gemeinsamkeiten der beiden Dichtungen hingewiesen. Die Göii/ic&e Komödie ist ebenso wie der Haj ben Meqis maßgeblich durch das Moment der Erkenntnis bestimmt. Dies schließt nicht aus, daß sie zugleich ein Lied der Liebe ist. Sie mag als Gesang der erkennenden Liebe und des liebenden Erkennens bezeichnet werden. Doch ist die Liebe, abgetrennt betrachtet, im Hinblick auf Weg und Ziel des Pilgers nur Voraussetzung oder Folge - Voraussetzung als unbestimmtes Streben nach Heil, Folge als festes Anhangen an dem Erreichten die Erkenntnis dagegen Weg und Ziel selbst. Die beiden genannten Formen der Liebe gruppieren sich um die Erkenntnis als um ihren Mit96

Siehe den I. Teil dieser Arbeit: „Leben und Bedeutung des Abraham ibn Ezra". B. Nardi, Dante e Pietro d'Abano, in: ders., Saggi di filosofia dantesca, Florenz 21967, 40-62, s. 41. 98 Vgl. im übrigen Nardis in der vorigen Anmerkung genannten Artikel, in weldiem wichtige Übereinstimmungen Dantes mit Peter - in Punkten, in denen Dante von Thomas abweicht - mitgeteilt werden. 99 Ob und inwieweit Dante über Immanuel von Rom mit Ideen des Vorstellungskreises Ibn Ezras bekannt geworden ist oder sein kann, kann im Rahmen dieser Untersuchungen nicht erörtert werden. Vgl. hierzu u. a. M. D. Cassuto, Dante Wimmanuel hä-Romi, Jerusalem 1965 (ital. Originalausgabe: Dante e Manoello, Florenz 1921). wo Has-nräh hä-'ibrit, II, 537. 97

134

Religionsphilosophisdie Schriften

telpunkt. Das unbestimmte Streben nach Heil ist Erkenntnisantrieb und das feste Anhangen an dem Erreichten Erkenntnisfolge. In beiden Dichtungen ist der Befreiungsprozeß des Menschen von seiner Verfallenheit an das Widergöttliche zentral ein Erkenntnisprozeß. Im 30. Gesang des Purgatoriums äußert sich Beatrice wie folgt über Dante: „Er wandte sich vom Weg der Wahrheit ab, Trugbildern eines falschen Glückes folgend, Die nie im Grunde ihn befriedgen konnten." 1 0 1 Wie umfassend auch immer Abkehr und Umkehr des Pilgers Dante, von denen hier und in den folgenden Versen sowie an vielen anderen Stellen der Dichtung die Rede ist, zu verstehen sein mögen, zuerst und zumeist bedeuten sie den Gegensatz von Unwahrheit und Wahrheit 102 . Entsprechend werden in den zitierten Versen dem „Weg der Wahrheit" „Trugbilder eines falschen Glückes" gegenübergestellt. Die folgenden Verse lassen dies noch deutlicher werden: „Umsonst erbat ich Lichtgedanken ihm, Im Traum und Wachen ihn zurückzulocken, Es nützte nichts, der Ruf drang nicht zu ihm." 1 0 3 Daß diese Lichtgedanken unwirksam bleiben, bedeutet nicht, daß es auf sie nicht ankommt, sondern zeigt lediglich an, wie weit sich der Dichter zu diesem Zeitpunkt im Dunkel der Trugbilder verloren hat. Die nächsten Verse erhellen, daß auch in diesem Falle der Weg der Umkehr ein Weg der Erkenntnis ist, freilich einer Erkenntnis besonderer Art: „Er sank zu tief, als daß ihm andres noch Zu seinem Heile hätte dienen können, Als nur der Anblick des verlornen Volks." 1 0 4 101 Purg. X X X , Alighieri,

di

Dante

Edizione Nazionale a cura della Sociedl Dantesca Italiana, V I I : La

Com-

media secondo

1 3 0 - 1 3 3 . Neue Textausgabe der Commedia:

l'antica vulgata,

Le opere

a cura di G. Petrocchio, Mailand 1966/67 (4 Bde.);

für die vorliegende Untersuchung benutzte Handausgabe: Dante Alighieri, La Commedia,

Testo critico della Societi Dantesca Italiana riveduto, col

scartazziniano rifatto da G. Vandelli, Mailand

I9

1 9 6 5 ; an deutschen Übersetzungen

siehe bes.: K. Voßler, Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, lin, Dante Alighieri, Die

Göttliche

Komödie,

Divina

commento

Berlin 1942; H . Gme-

Ital. u. deutsch, Stuttgart

(3 Textbde. u. 3 Kommentarbde.); Η . A . Prietze, Dantes

Göttliche

1949-1957

Komödie,

Hei-

delberg 1952. Die deutschen Zitate dieser Untersuchung sind der letztgenannten Übertragung entnommen. 102

Vgl. audi Β. Nardi, II preludio

103 Purg. X X X ,

133-135.

104 Purg. X X X ,

136-138.

alia Divina

Commedia,

Turin 1964, 12f.

('Iggärät) H a j ben Meqis

135

Der „Anblick des verlornen Volks" ist der Beginn der Erleuchtung, der dem Zustand der Dunkelheit, in der sich der Pilger befindet, angemessene erste Schritt jenes Erkenntnisweges, der mit der Schau der himmlischen Welt endet. Dieser Auffassung entsprechend, beginnt Dante seine Dichtung mit dem Hinweis auf den „dunklen Wald", der der Ausgangspunkt seines visionären Weges ist. Der „dunkle Wald" ist der Ort mangelnder Einsicht und Wahrheit, als solcher dann freilich auch der Ort der Sünde105. Nicht zufällig wird im Zusammenhang mit dem Bilde vom „dunklen Walde" in ähnlicher Weise wie in den vorher zitierten Worten der Beatrice vom unwahren Weg gesprochen: „Ich weiß nicht mehr, wie ich hineingeraten, So war in tiefem Traume ich befangen, Als ich vom Weg der Wahrheit abgeirrt." 106 Demgemäß ist auch im Endziel das erste Erkenntnis und Schau: „Hier kannst du sehen, daß die Seligkeit Sidi gründet auf die Tätigkeit des Sdiauns, Nicht die des Liebens, die die zweite ist."107 Dies alles entspricht den Gedankengängen, die Ibn Ezra im Haj ben Meqis entwickelt. Darüber hinaus bedarf der Mensch nach beiden Werken der Führung, um den Weg aus dem Dunkel zum Lichte gehen zu können. Sie wird ihm durch hellsichtige Mittler zuteil. Wie es vom H a j ben Meqis heißt, sein Auge sei ungetrübt, so von Beatrice: „Ihr Augenlicht war heller als ein Stern." 108 Eine zweite, sehr augenfällige Ähnlichkeit zwischen den beiden Werken besteht in ihrer tiefgreifenden astrologisch-astronomischen Orientierung. Hier wie dort werden Wissenszuwachs und Heilsgewinn - zumindest in einer wichtigen Phase - aufs engste mit Gegebenheiten der Sphärenwelt, ihrem Aufbau und ihrer Durchmessung in Verbindung gebracht. los D ; e s wird später ausführlicher besprochen werden. we Inf. I, 10-12. 107 Purg. X X V I I I , 109-111; vgl. auch Convivio IV, X X I I , lOff. (Textausgabe: Dante Alighieri, II Convivio, ridotto a miglior lezione e comm. da G. Busnelli e G. Vandelli con introd. di M. Barbi, Florenz 2 1954 (2 Bde.); deutsche Ubers.: Dante Alighieri, Das Gastmahl, aus dem Ital. übertragen und kommentiert von C. Sauter, München 1965). ίο» Inf. II, 55. 10

Greive: Neuplatonismus

136

Religionsphilosophische Sdiriften

Ibn Ezra und Dante stellen - im Unterschied zu Alanus109 - die Sphärenwelt bewohnt dar und sdiildern Begegnungen mit menschlidien Wesen im Räume der Sphären. Doch hat es mit diesen „Sphärenbewohnern" in den beiden Werken eine unterschiedliche Bewandtnis. Ibn Ezra ist es ausschließlich um den Einfluß der Sphären in der irdischen Welt zu tun. Er ordnet den Sphären durch sie in besonderem Maße beeinflußte Gruppen irdischer Menschen zu, um so die eigentümlichen Wirkungen der jeweiligen Sphäre zu erläutern. Auch Dante glaubt an sphärischen Einfluß, der, wie er einmal schreibt, „jeden Keim zu seinem Ziele lenkt, wie sich die Sterne zueinander stellen"110, läßt jedoch anders als Ibn Ezra in den Sphären solche Seelen erscheinen, die bereits aus dem iridischen Leben geschieden sind. Der Stufenbau der Sphären dient ihm dazu, die Stufen der himmlischen Seligkeit darzustellen111. Ein Ausspruch Beatrices zur Mondsphäre bringt deutlich zum Ausdruck, wie dies zu verstehen ist: „Der Seraph, der vor Gottes Antlitz steht, Johannes, sei's der eine oder andre, Auch Moses, von Maria nicht zu reden, In keinem andern Himmel leben sie Als jene Geister, die dir jetzt erscheinen, Und alle weilen sie dort ewiglich. Sie schmücken alle jenen höchsten Raum, Genießen nur verschiedne Seligkeit, Wie sie des ewgen Geistes Atem spüren. Hier sind sie sichtbar, nicht weil diese Sphären Ihr Wohnsitz ist, nur daß es sei ein Zeichen, Wie sie im Himmel niedriger geordnet." 112 Der Unterschied ist indessen weniger durchgreifend, als es zunächst erscheint. Denn auch in der Darstellung Dantes besteht ein Zusammenhang zwischen der besonderen Natur des Einflusses der jeweiligen 109 Vgl. Alain de Lille, Anticlaudianus, Texte critique avec une introduction et de tables publie par R. Bossuat, Paris 1955. « o Purg. X X X , 11 Of. Vgl. hierzu auch Dantes Versuch, die Ordnung der Himmel mit der Ordnung der Wissenschaften in Beziehung zu bringen (Convivio, II, XIII-XIV), sowie die Zuordnung der Engelklassen zu den Himmeln bzw. Gestirnen (Divina Commedia, Pir. XXVIII, u. Convivio, II ,V, 12f.). Par. IV, 28-39. 111

137

('Iggärät) H a j ben Meqis

Sphäre und den in ihrem Bereich sichtbar werdenden Seelen. So spricht in der Venussphäre eine Seele den Wanderer an: „Kunizza hieß ich einst und glänze hier, Weil dieser Stern in seinen Bann midi zwang." 113 Die dergestalt in den besprochenen Grundzügen - in dem Moment der Erkenntnis und ihrer Vermittlung als Heilsweg zum Heilsziel unvermittelter Schau sowie in der astrologisch-astronomischen Orientierung - gleichgerichteten Werke enthalten darüber hinaus eine Anzahl verwandter Einzelzüge: Details in der Charakterisierung der einzelnen Sphären, das Motiv des Quelltrunks usf. Nur eines dieser Details soll im folgenden besprochen werden: die Allegorie der drei den Aufstieg behindernden Wesen. Die A l l e g o r i e

der d r e i

Tiere

Die Frage nach der Bedeutung der drei Tiere des ersten Gesanges der Divina Commedia ist von den Kommentatoren der Dichtung unterschiedlich beantwortet worden. Eine endgültige Klärung steht aus114. In der umstehenden Übersicht sind die wichtigsten Deutungen zusammengestellt115. Die zuerst genannte Auslegung dürfte die meisten Anhänger haben. Die aufgeführten Deutungen zeigen zum Teil einen derartigen Grad der Verschiedenheit, daß es wenig erfolgversprechend erscheint, auf der Basis des bisher Erarbeiteten - etwa im Sinne einer Synthese — zu einer befriedigenden Lösung zu kommen. Es gibt eigentlich nur eine alle Erklärungen umfassende Übereinstimmung, nämlich diese, daß die Tiere Sünden oder Laster bzw. Dispositionen zur Sünde darstellen. Am stärksten weichen die Interpretationen des Leoparden voneinander ab. Man könnte sich mit der ältesten und am meisten vertretenen Auslegung zufriedengeben, nach der der Leopard die Wollust, der Löwe den Hochmut und die Wölfin die Habsucht versinnbildet. Doch diese i " Par. I X , 32f. Eine Bibliographie der älteren Literatur zur Allegorie der drei Tiere findet sich in: Vittorio Rossi, Storia della letteratura italiana per uso dei licei, Vol. I : Ii medio evo, Mailand s 1 9 1 1 ; s. ferner G. Busnelli, II simbolo delle tre fieri dantesche, Rom 1909. l l s Die Übersicht stützt sidi in erster Linie auf die Kommentare der Textausgaben von G. Vandelli (s. Anm. 101) und N . Sapegno (Dante Alighieri, La Divina Commedia, Mailand-Neapel o. J.) sowie auf G. Gettos Ausführungen zum Canto I in: Lectura Dantis Scaligera: Inferno, Florenz 1967 (zusätzliche Angaben zu den einzelnen Deutungen in den folgenden Anmerkungen). 114

10*

138

Religionsphilosophische Schriften Mit Hinweis auf 1 Joh 2,16 und Thomas von Aquin, S.Th. I-IIae, q. 77, a.5

Leopard

Wollust

Fleischeslust

Unenthaltsamkeit

Löwe

Hochmut

H o f f a r t des Lebens

Gewalttätigkeit

Wölfin

Habsucht (Geiz) oder Gier 116

Augenlust 117

Falschheit (Betrug)

Mit Hinweis auf Inf. VI. 74f. Leopard

Ungläubigkeit

Neid

Falschheit (Betrug)

Löwe

Hochmut

Hochmut

Gewalttätigkeit

Wölfin

Falsche Lehre

Habsucht (Geiz) 118

Habsucht 11 »

Mit Hinweis auf Inf. XI, 81ff. und Eth. Nie.VII Leopard oder Wölfin

Bosheit

Löwe

Vertiertheit

Wölfin oder Leopard

Unenthaltsamkeit

lie Nach dem Kom. zu Inf. I, 32 der Ausgabe von Vandelli folgen alle frühen Kommentatoren dieser Auffassung mit Ausnahme von Jacopo della Lana, der den Leoparden als Verkörperung von Eitelkeit bzw. Ruhmsucht (vanagloria) ansieht. Vgl. audi Kom. zu Inf. I, 31ff. in der Edition Sapegnos. 11 7 Siehe P. Mandonnet, Dante le theologien, Paris 1935, 97f. u s Siehe P. Fraticelli, La Divina Commedia di Dante Alighieri, Florenz 1865, 45; vgl. audi den dieser Ausgabe beigegebenen Exkurs Fraticellis: „Della prima e principale allegoria del poema di Dante" (23-39). 11 9 J. del Lungo, Lectura Dantis, Rom 1901, 11; vgl. audi Siebzehner-Vivanti, Dizionario, 300, 308, 313.

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Deutung bringt besonders hinsichtlich des Leoparden bedeutsame Schwierigkeiten mit sich. Es dürften diese Schwierigkeiten gewesen sein, die Forscher jüngerer Zeit veranlaßt haben, nach neuen Lösungen zu suchen. Zunächst einmal scheint überall dort, wo der Leopard mit der Wollust - lussuria und die Wölfin mit der Habsucht oder Gier - avarizia ο cupidigia identifiziert werden, die klare Dreiheit der dichterischen Darstellung zu verschwimmen. Es sei denn, man schließe von der durch den Wolf symbolisierten Gier alles (übermäßige) Streben nach Wohlleben: nach Bequemlichkeit, nach Üppigkeit in Speise und Trank, nach ungehemmtem Genuß geschlechtlicher Lust, konsequent aus, so daß die reine Besitzgier übrigbliebe. Doch in diesem Falle erhebt sich die Frage, ob eine solche „Restwölfin" noch der Wölfin der Dichtung entspricht120. Sollte nicht eher die Auffassung des Leoparden zu revidieren sein? Die Identifizierung des Leoparden mit der Wollust gibt ohnedies noch andere Rätsel auf. Eines der dunkelsten ist, daß ausgerechnet von der Wollust „die heitre Stunde und der liebe Lenz" befreien sollen121. Ein weiteres Problem besteht darin, daß jene im sechzehnten Gesang des Inferno erwähnte Kordel - ob hiermit nun der Strick des Franziskanerordens gemeint ist oder nicht — in dieser Deutung zur Bändigung von Falschheit oder Betrug (die Geryon symbolisiert) wie gleichzeitig auch der Wollust geeignet sein soll. Die Erklärung, die Kordel stelle getreue Gesetzeserfüllung oder den Willen, jegliche Sünde zu meiden, dar, macht ganz den Eindruck einer Verlegenheitslösung122. Wäre es nicht angemessener, Geryon und den Leoparden ihrem Sinngehalt nach einander anzunähern? 123 Zu diesen Detailproblemen tritt eine Überlegung grundsätzlicher Art. Die Tiere stehen in einem unverkennbaren Zusammenhang mit dem „dunklen Wald", dem Dante angesichts „des Berges Flanken Umhüllt von jener Sonne Strahlenkleid, Die uns auf allen Pfaden sicher leitet"124, zu entfliehen sucht. Dieser „dunkle Wald" ist - wie bereits erwähnt nicht schlicht eine moralische Größe. Das Bild ist umfassender zu verstehen. Es bezeichnet einen Erkennen und Wollen betreffenden Zustand der Unerleuchtetheit. Als gewollter - und nur, insofern er gewollt ist (wobei ein zulassendes Wollen genügt) - trägt dieser Zustand freilich das Merkmal moralischer Schuld. Dies ist wichtig, kommt jedoch nur 120 121 "Ζ 123 124

Vgl. ζ. B. Inf. I, 49. Inf. I, 42f. Vgl. Kom. zu Inf. XVI, 106-108 der Textausgabe Vandellis. Vgl. Siebzehner-Vivanti, Dizionario, 308. Inf. I, 16-18.

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hinzu. Noch mehr, er meint nicht einmal nur einen (subjektiven) Zustand, sondern einen (objektiven) Bereich, derart, daß dem in diesem Bereich Befindlichen der beschriebene Zustand eignet. Der „dunkle W a l d " ist - anders ausgedrückt - zugleich ein objektiver Zustand. Fundamental ist dieser Bereich oder Zustand die irdische Welt oder das irdische Leben. Im Gastmahl spricht Dante unzweideutig von der „selva erronea di questa vita" 1 2 5 . Wenn N a r d i schreibt: „la ,selva erronea di questa vita' e tutta la vita, dal primo all' ultimo momento; la ,selva oscura' dell' Inferno έ un periodo della vita di Dante, nel quale egli s'e smarrito per sonnolenza spirituale" 1 2 6 , so ist diese durchaus zutreffende Aussage insofern irreführend, als sie dazu angetan ist, den Eindruck zu erwecken, die „selva oscura" habe mit der „selva erronea" nichts oder wenig gemeinsam. In Wirklichkeit geht es hier wie dort um denselben Wald, den Irrwald des irdischen Lebens, der indessen - im Bilde - besonders dunkle Winkel hat. Wer sich der erleuchtenden Führung des Himmels entzieht, verfällt dem Wald, der ein Irrwald ist, und geht irre bis in sein tiefstes Dunkel — die „selva oscura" — hinein. Angesichts dessen erscheint die Interpretation der Tiere als Sünde oder Laster als unangemessen. Sie ist zwar keineswegs falsch, t r i f f t jedoch nur einen Teil des Gemeinten. Wie der Wald grundsätzlich der Bereich der irdischen Welt ist, so dürften auch die Tiere grundsätzlich die irdische Welt, speziell das irdische Leben des Menschen in besonderer Weise charakterisierende K r ä f t e sein, K r ä f t e , die der N a t u r des Waldes als Irrwald entsprechend in die Irre zu führen vermögen und damit ins Dunkel, nicht aber - wie Sünde und Laster — von vornherein Ausbund der Dunkelheit sind. A n dieser Stelle der Überlegungen drängt sich der Vergleich dieses Abschnittes der Dichtung Dantes mit dem ersten Teil des Haj ben Meqis auf. Auch dort ist von drei „Wesen" — feindlichen Gefährten der Seele die Rede, die den Weg zur H ö h e verstellen, Hindernisse des Aufstiegs sind. Der H a j ben Meqis sagt von ihnen: „jene Vertrauten, die dich beherrschen, sind keine Freunde, sondern Verführer, keine Gefährten, sondern Bedränger, keine Liebenden, sondern Feinde. Fallen und Netze 125 Convivio, IV, XXIV, 12. Nardi, II preludio, 7.

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breiten und legen sie aus, so Starke wie Mächtige fesselnd und quälend. Glücklich der Mensch, der ihnen entflieht, den Sünder aber fangen sie ein." 127 Folgende Gegenüberstellung von Texten aus dem Haj ben Meqis und der Göttlichen Komödie soll die Ähnlichkeit der drei aufstiegshindernden Kräfte in den beiden Dichtungen deutlich machen: Haj ben Meqis

Der erste, der dir vorausgeht, häuft Lüge auf Lüge, verwirft die [Wahrheit

Und der zur Rechten wiegelt didi auf und bedrängt dich. Er schäumt und zürnt jederzeit, rast und tobt jeden Tag.

Göttliche Komödie Doch weh! als idi den Aufstieg nun [begann, Sprang vor mir auf ein leichter Leopard. Sein Fell mit vielen Flecken war besät. Er wollte nidit von meinen Blicken [weidien . . . . . . neue Angst erwachte In mir beim Anblick eines wilden Leun, Der feindlich auf midi einzudringerf sdiien. Aus seinen stolzen Augen sprühte [Raubgier (wütender Hunger) 128 Daß selbst die Luft vor ihm erschrecken [mußte.

Seine Schwerter treffen, was ihm nahe, seine Funken verzehren, was ihn umgibt. Sein Zorn brennt wie Feuer, sein Grimm tobt wie ein Brand. Er gleicht dem Löwen: gierig danach [zu reißen, dem Jungleun: im Hinterhalt lauernd, [um (Beute) zu haschen. Und der zur Linken bringt dich zu Fall und verzehrt dich, ständig erwartend und hoffend, stets begehrend und schmachtend. Du magst ihn im Mörser zermalmen, seine Torheit wird nicht weidien, magst ihn mit dem Hammer zertrümmern, sein Unverstand wird nidit vergehen. Jeder Fraß ist ihm recht, nie hat er genug vom „Gib-Gib!" 129

. . . neue Angst erwadite In mir beim Anblick eines wilden L e u n . . . Aus seinen stolzen Augen sprühte [Raubgier (wütender Hunger) Mit ihm war eine Wölfin . . . Mandl einen jagte sie in Gram und Not. . . . deren Hunger Aus ihren magren Flanken war zu lesen. . . . dieses Tier, dem deine Ängste gelten, Ließ keinen noch vorbei auf seinem Wege, Es hemmt ihn stets und tötet ihn zuletzt. So grimmig ist und böse seine Art, Daß seine Raubgier nimmer sich erschöpft, Sein Hunger wächst mit jedem Fräße [mehr.1»·

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Bereits ein flüchtiger Blick auf die Übersicht lehrt, daß trotz der Verwendung teilweise unterschiedlicher Ausdrucksmittel die bezeidineten Sinngehalte - die significata - besonders des zweiten und dritten Wesens bzw. Tieres eng miteinander verwandt sind. Dies dürfte den Versuch rechtfertigen, den Anfang der Göttlichen Komödie im Sinne der den Ausführungen Ibn Ezras zugrundeliegenden Anschauungen zu interpretieren. Auf diesem Wege wird sich die Bedeutung der für das zweite und dritte Wesen augenfälligen Parallelen erweisen und außerdem deutlich werden, ob und wieweit auch für das erste Wesen eine übereinstimmende Erklärung möglich oder wahrscheinlich ist. Bei Abraham ibn Ezra bezeichnen die feindlichen Gefährten nicht Sünden oder Laster, sondern etwas, das zu Sünden und Lastern führt, nämlich sinnliche Kräfte und Fähigkeiten der menschlichen Seele, Seelenvermögen also, die für die irdische Welt und den Status des Menschen bzw. der Seele in dieser Welt charakteristisch sind und zu denen die Seele, da und sofern sie himmlischen Ursprungs ist, ein gespanntes Verhältnis hat. Dieser innerseelische Konflikt hat seinen Grund in der Bindung der Seele an die irdisch-körperliche Welt, speziell den eigenen Körper. Der Gedanke eines Widerstreits zwischen der Seele als einem Wesen himmlischen Ursprungs und ihrem irdischen Aufenthaltsort ist auch Dante vertraut. Er lehrt ihn in folgender Form: „Damit stimmt ein Ausspruch des Tullius in seinem Buche ,Vom Greisenalter' überein, wenn er in der Person Catos redet: ,Darum stieg die himmlische Seele zu uns hernieder, von der erhabensten Wohnung herab an einen Ort, der im Widerstreit mit ihrer göttlichen Natur und ihrer Ewigkeit steht'." 131 Nicht anders als Ibn Ezra ist auch Dante der Überzeugung, daß Freiheit des Menschen bzw. der Seele von der körperlich-sinnlichen Sphäre mit den ihr zugeordneten seelischen Kräften und Fähigkeiten Freiheit für 127 V. 68-81: „w'lh hdwdjm 'i>r bk rwdjm 'jnm jdjdjm kj 'm-mwrdjm wl' r'jm 'bl mr'jm wl' 'whbjm kj 'm-'wjbjm mswdjm whrmjm pwrSSjm wtwmnjm wgbwrjm w'jwmjm 'wsrjm wm'njm 'i>rj 'nw? jn$l mhm whwt' jlkd bhm". (Rosin, Reime und Gedichte, 171f.) 128 Im ital. Text: „rabbiosa fame". Die Ubersetzung Prietzes ist hier irreführend. Daß es um einen wütenden oder zornigen Hunger geht, ist für das Verständnis der Stelle wichtig. 129 V.90-99 u. 102-113: „h'hd >sr lpnjk hwlk jrbh hsqr wh'mt jSlk w i r mjmjnk msjtk wm'nk bkl-'t qw$p wzw'p wbkl-jwm zw'm wrw'm hrbjw lqrwbjw jgpw wsbjbjw sbjbjw jsrpw hmtw k'S tb'r wk'sw klhb js'r . . . dmjwnw k'rjh jkswp ltrwp wkkpjr jwSb bmstrjm lhtwp w'sr msm'lk mkäljlk wmklk l'wlm mjhl wmqwh wtmjd hwmd wmt'wh 'm-tkt3hw bmkti Γ-tsjr m'ljw 'wltw w'm-tkhw bptjs l'-thdl ks [j] lwtw kl-'kl j'hb wl'-jsb' mhb hb". (Rosin, Reime und Gedichte, 172f.) Zum zweiten und dritten Wesen vgl. auch V. 275-280. wo Inf. 1,31-34 (s. auch 42); 44-51; 94-99 (vgl. auch Purg. XX, 10-12). 131 Convivio, IV, XXI, 9; Übers, nach C. Sauter, Das Gastmahl, 238.

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den Geist, für (Vernunft-) Erkenntnis und Einsicht bedeutet. In seinen Ausführungen über den divinatorisdien Traum bei Dante sdireibt Bruno Nardi: „Questo sogno profetico ο divino avviene nell'uomo quando l'anima έ maggiormente separata dalle impressioni che le recano i sensi esterni, e piü idonea quindi a ricevere l'impressione celeste"132. Dies gilt indessen keineswegs nur für den prophetischen Traum, sondern für den ganzen Bereich der geistigen Aktivität, wie folgende Verse andeuten: „Wenn nun die Parze keinen Flachs mehr hat, Dann löst die Seele sich vom Leib und nimmt Im Keime mit, was irdisch133 und von Gott. Die andern Kräfte bleiben alle stumm, Erinnern aber, Fassungskraft und Wille, Die regen sich weit kräftger als zuvor." 134 Von daher liegt es nahe anzunehmen, daß die drei die geistige Aktivität behindernden Wesen bei Dante nicht anders als bei Abraham ibn Ezra zunächst und vor allem dem körperlich-sinnlichen Bereich verpfliditete Seelenvermögen meinen und erst in zweiter Linie — besonders bei Dante - insofern auch bestimmte Sünden und Laster, als sie auf solche hingeordnet sind. Die drei Wesen stellen im Ha] ben Meqis Phantasie, Zornmut und Begehrlichkeit (sinnliches Begehren) dar, sofern sie sich der Leitung der vernünftigen Seele, des der himmlischen Welt zugewandten Geistes, entziehen, dem Zug des Geistes nach oben entgegenwirken. Es gibt eine Anzahl von Gründen, die Tiere der danteschen Allegorie ähnlich zu interpretieren. Daß Dantes Jenseitsreise nach der einleitenden Allegorie mit dem Abstieg ins Inferno beginnt (also nicht sogleich mit dem Aufstieg zum Purgatorium usf.), spricht nicht, wie es dem oberflächlichen Betrachter erscheinen könnte, gegen die Auffassung und Bezeichnung der Tiere als aufstiegsbehindernde Kräfte. Dies sei, um Mißverständnissen zuvorzukommen, eigens hervorgehoben. Im ersten Gesang heißt es ausdrücklich: „Doch weh! als ich den Aufstieg nun begann, Sprang vor mir auf ein leichter Leopard." 135

132 Dante e Pietro d'Abano, 56. Nardi beruft sidi in diesem Zusammenhang u. a. auf Inf. I X , 16-18. 133 Wörtlich: menschlich - umano. IM Purg. X X V , 80-86. " 5 Inf. I, 31f.

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Gemeint ist der Aufstieg zu jenem Berg („umhüllt von jener Sonne Strahlenkleid"), von dem in den Versen 16-18 die Rede ist. Es geht im ersten Gesang zentral um den Aufstieg. Daß die Jenseitsreise dann trotzdem mit dem Abstieg zum Inferno beginnt, hat seinen Grund in der Verfassung des Pilgers, die zum unmittelbaren Aufstieg unfähig macht. In folgenden bereits zitierten Worten der Beatrice kommt dies deutlich zum Ausdruck: „Umsonst erbat ich Lichtgedanken ihm, Im Traum und Wachen ihn zurückzulocken, Es nützte nichts, der Ruf drang nicht zu ihm. Er sank zu tief, als daß ihm andres noch Zu seinem Heile hätte dienen können, Als nur der Anblick des verlornen Volks." 136 Der Abstieg zur Hölle ist (paradox formuliert) die erste Stufe des Aufstiegs. Bedenkt man, daß einerseits - der räumlichen Vorstellung der danteschen Schilderung folgend - der Abstieg zur Hölle und der sich anschließende Aufstieg zum Purgatorium usf. in dieselbe Richtung verlaufen 137 und andererseits - inhaltlich betrachtet - auch die Höllenreise eine Reise ins Jenseits ist (nicht anders als die Reise zum Purgatorium und zum Paradies) und es angesichts dessen als sekundär erscheint, ob es ab- oder aufwärts geht, so zeigt sich, daß dieser Satz seinem Inhalte nach weniger paradox ist, als die Formulierung vermuten läßt. Dantes Charakterisierung der Wölfin verweist deutlich in dieselbe Richtung wie die Beschreibung des dritten Wesens im Ha} ben Meqis, nämlich auf die Begehrlichkeit138. Damit ist hier das sinnliche Streben des Menschen nach sinnlichen Gütern bzw. Dingen, die dem von der Sinneserkenntnis geleiteten Menschen als Güter erscheinen, gemeint. Solches Begehren steht von vornherein in einem Spannungsverhältnis zum geistigen Bereich und somit der ungehemmten Erhebung des Geistes im Wege. Die traditionelle Auffassung des Löwen als Habgier avarizia oder Gier - cupidigia im Sinne von Sünden oder sündenhaften Neigungen bzw. Lastern wird mit dieser Deutung nicht bestritten. Sie liegt auf derselben Linie, betrifft jedoch nur das äußerste Ende dessen, was hier gemeint ist. Das vorgeschlagene, umfassendere Verständnis dürfte dem engeren Zusammenhang der Dichtung wie auch dem weiteren des danteschen Denkens überhaupt — es sei besonders an die voraufgehenden Ausführungen zur „selva erronea" und „selva oscura"

136 Purg. X X X , 133-138. 137 Siehe die Skizze in: Orr, Dante and the Early Astronomers, 233. 138 „Ed una lupa, che di tutte brame . . (Inf. I, 49; s. audi Purg. XX, 10)

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erinnert - besser gerecht werden. Dies wird mit der Besprechung der beiden weiteren Wesen bzw. Tiere und der zusammenfassenden Betrachtung der vorgeschlagenen Dreiheit noch deutlicher werden. Der Löwe der Göttlichen Komödie ist nach der gängigen Auffassung mit dem Hochmut zu identifizieren. Die Anhaltspunkte für eine solche Auslegung sind nicht gerade zahlreich. Der Verweis auf das „erhobene Haupt" verfängt kaum 13 '. Zwei andere Bestimmungen desselben Satzes, in dem vom „erhobenen Haupte" die Rede ist, zeigen nahezu unmißverständlich an, worum es in Wahrheit geht. Der Löwe wendet sich mit tollwütigem Hunger gegen das Ich der Darstellung. Der Ausdruck „erhobenen Hauptes" soll nur die wilde Gewaltsamkeit des Vorganges unterstreichen140. In der Tat weichen neuere Interpretationen von der traditionellen Auffassung ab und erklären den Löwen als Sinnbild der Gewalttätigkeit 141 . Von dieser Deutung des Löwen gilt ähnliches wie von der der Wölfin als Habsucht und Gier. Sie ist im Sinne dieser Ausführungen nur insofern zu korrigieren, als sie der überlieferten Sündentheorie verhaftet bleibt. Wenn die Tiere, wie dargelegt wurde, primär sinnliche Seelenvermögen verkörpern, so steht der Löwe für jenes, das — der Kontrolle und der Führung des Geistes entzogen - letztlich zu sinnlosen Akten brutaler Gewalt verführt, für den Zornesmut. Wie verhält es sich mit dem Leoparden? Er ist sicherlich neben dem Veltro, der hier nicht interessiert, das meistdiskutierte Tier des ersten Gesanges. Es wurde bereits gesagt, daß seine Identifizierung mit der Wollust als unangemessen erscheint. Dies gilt schon mit Rücksicht auf sein Aussehen und Verhalten, weiterhin aufgrund zweier Aussagen, die sich darauf beziehen, wie diesem Unwesen zu entkommen oder beizukommen ist. Die Beschreibung seines Aussehens und Verhaltens enthält drei wichtige Momente: (1) Leichtigkeit und Schnelligkeit, (2) Buntheit, (3) unentwegte und aufdringliche Anwesenheit vor den Blicken. Wenn es Dante darum zu tun war, sich verständlich zu machen, muß diese Charakterisierung unter dem Gesichtspunkt der Abgrenzung von den anderen beiden Tieren konzipiert sein. Trifft dies zu, so stellt sich angesichts der traditionellen Deutung der Tiere spontan die Frage, warum die Wollust leichter und schneller und bunter sein soll als etwa die Habsucht oder die Gier (im allgemeinen) oder auch als der Hochmut. Versteht man dagegen, angeregt durch den Vergleich mit dem Haj ben Meqis und darüber hinaus berücksichtigend, daß - wie bei den anderen μ» Inf. 1,47.

wo Ob und wie der Hochmut mit seinen Auswirkungen auf Zorn und Gewalttätigkeit hingeordnet ist, braucht an dieser Stelle nicht erörtert zu werden. Der Kern der Sache ist mit dieser Interpretation nicht getroffen. 141 Vgl. Siebzehner-Vivanti, Dizionario, 300.

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Tieren so audi hier - kaum primär eine Sünde oder ein Laster dargestellt werden soll, den Leoparden als Sinnbild der Phantasie, so lassen sich die drei genannten Züge seines Aussehens und Verhaltens zwanglos begreifen. Im Vergleich zu den konkupisziblen und irasziblen sinnlidien Strebungen ist die dem Bereich des Geistes näherstehende Phantasie (als innerer Sinn vermittelt sie zwischen Sinneserkenntnis und intellektueller Erkenntnis) 142 in hervorstechendem Maße leicht und schnell in ihrer Aktivität. Auch das Merkmal der Buntheit kommt ihr in besonderem Maße zu. Die wildwechselnde, vom Geist nicht geleitete Phantasie und eben diese ist hier gefragt - schafft in Anknüpfung an die Sinneseindrücke unaufhörlich eine bunte Fülle von Formen. Die „Trugbilder eines falschen Glückes"143, von denen Beatrice im Purgatorio (Dantes früheres Leben beschreibend) spricht, dürften hierher gehören. Ebenso charakterisiert das dritte Merkmal: die unentwegte, aufdringliche Anwesenheit vor dem (inneren) Blick, aufs beste die Phantasie mit ihren Produktionen. Eindeutiger noch als all dies sprechen jedoch die Hinweise Dantes darauf, wie und wann der Leopard zu bändigen ist, für die vorgeschlagene Deutung. Daß „die heitre Stunde und der liebe Lenz"144 von der Wollust befreien sollen, leuchtet - wie schon erwähnt - nicht gerade unmittelbar ein. Wie steht es hier mit der Vorstellungskraft? Die vom Geist nicht geleitete, sich selbst überlassene Phantasie ist schlechthin durch Sinneseindrücke, bildlich gesprochen durch das „Fleisch" bestimmt, reproduziert und kombiniert in ungezügelter Weise sinnliche Vorstellungen und Bilder, die das Denken beeinflussen und dazu angetan sind, den menschlichen Geist zu verwirren. Vor solcher Beeinflussung durch das „Fleisch" und derart verwirrt-verwirrendem Denken ist der Mensch, wie Dante ausdrücklich lehrt, in früher Morgenstunde am ehesten frei. Er schreibt: „zu der Stunde, wenn ihr klagend Lied Im Morgengrauen hebt die Schwalbe an, In frühen Leids Erinnerung wohl versenkt, Wenn von des Fleisches Fesseln losgelöst Der Geist vom Zwang des Denkens sich befreit" 145 , dann sieht der Geist zuweilen Träume, die fast göttlich sind. Mit dem Denken - pensier, von dem hier die Rede ist, dürfte die Tätigkeit des 142 Vgl. d a 2 u H. A. Wolfson, The Internal Senses in Latin, Arabic and Philosophical Texts, in: Havard Theological Review 28 (1935), 69-133. 1 43 „imagini di ben seguendo false" (Purg. X X X , 131). „l'ora del tempo e la dolce stagione" (Inf. I, 43). 1« Purg. IX, 13-17.

Hebrew

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Verstandes gemeint sein, sofern sie der Sinneserkenntnis verpflichtet ist und sich mit Sinneseindrücken und sinnlichen Vorstellungen befaßt. Die beiden letzten Verse erinnern inhaltlich an eine Formulierung aus dem Haj Ibn Ezras, die unmittelbar vor der Aufforderung zur Gottessdiau steht. Dort heißt es: „mach dich mit deiner ,Einzigen' frei vom Stoff deines Leibes, gib auf deine Grübeleien . . ."146 Der hier sinngemäß mit Grübeleien wiedergegebene hebräische Ausdruck147 kann auch schlicht Gedanken bezeichnen. Hier wird ebenfalls an eine Tätigkeit des Verstandes gedacht sein, die entscheidend durch die Vorstellungskraft oder Phantasie bestimmt ist. Solchem Denken, wie überhaupt - allgemeiner gesprochen - der Verfallenheit an das Fleisch, ist also, wie gezeigt, der menschliche Geist nach Auffassung Dantes zu früher Stunde weitgehend überhoben148. Bezeichnet das „bunte Tier" in der Tat die Phantasie, so erklärt sich von daher zwanglos, wiefern „die heitre Stunde und der liebe Lenz" Befreiung von ihm zu bringen versprechen. Der liebe Lenz - la dolce stagione erfüllt offenbar eine ähnliche Funktion wie die Morgenstunde149. Fast wichtiger noch als die besprochene Stelle ist indessen für unsere Deutung die Geryonsepisode150. Dort ist von einer Kordel die Rede, die Dante Vergil überreicht und deren Vergil sich bedient, um Geryon, das Ungeheuer der Lüge und Falschheit, aus der Tiefe emporzuholen. Von eben derselben Kordel sagt Dante, daß er mit ihr „vordem hatte fangen wollen Den Leopard mit seinem bunten Fell." 151 Dieser Hinweis rückt den Leoparden unzweideutig in die Nähe Geryons. Nimmt man hinzu, daß er auch seinem Aussehen nach Gemein-

d e V. 627-629 (s. Anm. 65). 147 sar'appim. 148 Vgl. dazu auch Nardi, Dante 149

e Pietro d'Abano,

56f.

Mittelbar läßt sich dieser Gedankengang auch für die Deutung des Leoparden auf die Wollust verwenden, aber eben nur mittelbar: über die Phantasie oder - allgemeiner - die inneren Sinne. Die Loslösung des Geistes vom „Fleisch" und vom Zwang den Sinnen verpflichteten Denkens ist vom Geist her gesehen zunächst dessen Befreiung von der Affizierung durch die inneren Sinne. « ο Vgl. Inf. X V I , 106ff. und X V I I . i s i Inf. X V I , 107f.

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samkeiten mit Geryon aufweist, so läßt sich kaum noch bezweifeln, daß es hier um verwandte Wesen geht. Vom Leoparden heißt es im ersten Gesang des Inferno: „Sein Fell mit vielen Flecken war besät"152, von Geryon im XVII. Gesang: „Der Rücken, Brust und beide Flanken waren Bemalt mit Knoten und verschlungnen Kreisen. So bunte, krausdurchwirkte Tücher tragen Die Türkenvölker nicht und die Tataren, So kunstreidi webte selbst Aradine nicht."153 Deutet man den Leoparden auf die Phantasie, so leuchtet die Verwandtschaft des Leoparden mit Geryon unmittelbar ein. Es sei hier an die Verse erinnert, die Ibn Ezra im Haj ben Meqis diesem Seelenvermögen widmet: „Der erste, der dir vorausgeht, häuft Lüge auf Lüge, verwirft die Wahrheit." 154 Es gehört zur Eigenart der sich selbst überlassenen Phantasie, lügenhafte und trügerische Vorstellungen und Bilder zu erzeugen. Insofern nehmen Selbsttäuschung, Falschheit und Betrug von ihr ihren Ausgang. Aufgrund ähnlicher Überlegungen über die Verwandtschaft des Leoparden mit Geryon wird der Leopard gelegentlich als Verkörperung von Falschheit und Betrug — frode angesehen155. Dies kommt mit der vorgeschlagenen Deutung zum Teil überein. Über die früheren allgemeinen Gedankengänge hinaus, die nahelegten, in den drei Tieren primär dem sinnlich-körperlichen Bereich zugeordnete Seelenvermögen zu sehen, ist hierzu zu sagen, daß eine solche Interpretation der in Dantes Darstellung trotz bestimmter Ähnlichkeiten aufdringlich deutlichen Unterschiedlidikeit der beiden Tiere allzuwenig Rechnung trägt. Der Leopard und Geryon werden zwar aufeinander bezogen, aber keineswegs gleichgesetzt. Die Verschiedenheit lediglich darauf zurückzuführen, daß Geryon Falschheit und Trug schlechthin darstellt, der Leopard jedoch nur, insofern sie dem einzelnen Menschen zukommen, ist ungenügend.

152 "3 is« 155

Inf. I, 33. Inf. XVII, 14-18. V. 90-91 (s. Anm. 129). Vgl. Siebzehner-Vivanti, Dizionario,

308.

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Rückblickend und zusammenfassend ist zu sagen, daß in den drei Tieren der danteschen Allegorie - ähnlich wie in den drei Wesen der Dichtung des Ibn Ezra - der skizzierten Deutung zufolge der Mensch bzw. die menschliche Seele nach der der körperlich-sinnlichen Welt zugewandten Seite dargestellt wird. Den komplexen Bereich der Sinneserkenntnis repräsentiert die Phantasie, die Eindrücke aller äußeren Sinne reproduziert. Das sinnliche Streben wird in seinen beiden Hauptformen, als iraszibles und als konkupiszibles, vorgeführt. Wenn diese Kräfte sich selbst überlassen bleiben und unabhängig von der Leitung des Geistes wirken, ist der Mensch in Gefahr, von ihnen in die Irre geführt und an der Verfolgung seines letzten Zieles, der ewigen Glückseligkeit, die in der Anschauung der himmlischen Welt, zuletzt Gottes selbst besteht, gehindert zu werden.

H A J BEN MEQIS (A. Einleitung) (I. Vorspruch) (1) Höret, Weise, meine Worte, Wissende, neigt euer Ohr! Seid verständig, Männer und Greise, merket auf, die ihr unwissend seid und jung! (5) Denn Wahrheit wird mein Mund verkünden, die Öffnung meiner Lippen Redlidies. (II. Zur Vorgeschichte der Seele) (Einst) verließ ich mein Haus, gab auf mein Erbteil, ließ zurück meine Heimat, mein Vaterland und mein Volk. (10) Denn es zürnten mir die Söhne meiner Mutter, bestellten mich zum Wächter eines fremden Weinbergs. (III. Die Begegnung mit dem Haj ben Meqis) Ich machte midi auf, zu wandern und Ruhe zu suchen, Erquickung zu finden für Sinn und Geist, (15) Entspannung der Seele und Einsamkeit für die »Einzige". Gefährten begleiteten midi, die meinen Worten folgten. Da sah ich einen Greis im Gefilde wandeln, Gott lobend, erhebend und preisend. (20) Seine Gestalt - eine Königsgestalt, seine Erscheinung - eine Engelersdieinung. Die Zeiten (vermochten) ihn nicht zu wandeln,

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die Jahre nicht zu verändern. Seine Augen wie Tauben, seine Schläfe(n) wie die Granatapfelblüte. Ungebeugt sein Wuchs und ungeschwädit seine Kraft, ungetrübt sein Auge und unvermindert seine Frische. Seine Salben erlesen wie Nardenduft, sein Gaumen (voll) Süße und köstlich sein ganzes Wesen. Ich sprach zu ihm: Dein Wohlergehen mehre sidi (verkünde Weisheit immerdar) und gehe niemals irre! Wessen Sohn bist du, und wie ist dein Name, welches dein Werk und wo deine Heimat? Er entgegnete mir mit Worten voller Perlen, mit Reden, wohlgesetzt wie Tummim und Urim, und sprach: Gott sei deinem Namen gnädig, und dein Wohl sei wie ein Strom, Er durchwalte stets deine Hoffnung und bewahre deinen Fuß vor Schlingen! H a j ben Meqis ist mein Name und die heilige Stadt meine Heimat. Mein Werk - du siehst es verrichte ich unermüdlich. Idi durchstreife alle Städte und Länder, alle Plätze und Winkel.

Mein Vater führt midi den Weg der Weisheit (50) und lehrt midi Wissen und Klugheit. Idi bin sein Zögling in Baal Hamon, begehr" seinen Schatten, darin zu verweilen, ohne midi (je) zu entfernen, denn seine Frucht ist meinem Gaumen lieblich und süß. (55) Als wir uns (so) unterhielten und die Rede sich hinzog - alles für den Verständigen redlich und für die Wissenden recht - , da sprach er: Dein Gesichtsausdruck lehrt, und deine Erscheinung bezeugt, daß deine Ohren geöffnet sind, (60) Weisungen zu vernehmen, und daß deine Seele bereit ist, Weisheit und Einsicht zu erwerben. Dies ist das Werk, mit dem idi prüfend und forschend befaßt bin, das nie und nimmermehr täuscht und trügt: (65) Es dient der Wahrheit als Waage und dem Sehen wie Augen. Wer es läßt, tappt (im Dunkeln) zur Mittagszeit. Doch jene Vertrauten, die dich beherrschen,

('Iggärät) H a j ben Meqis (70) sind keine Freunde, sondern Verführer, keine Gefährten, sondern Bedränger, keine Liebenden, (75) sondern Feinde. Fallen und Netze breiten und legen sie aus, so Starke wie Mächtige fesselnd und quälend. (80) Glücklich der Mensch, der ihnen entflieht, den Sünder aber fangen sie ein. Wer in ihr N e t z gerät, kann nidit entkommen, wer ihnen ins Garn geht, (85) kann nicht entrinnen. Mein Sohn, entweiche aus ihren Gezelten, und wende dich ihnen nicht zu! Adite nidit ihrer Worte! Denn ihre Füße eilen zum Bösen. (90) Der erste, der dir vorausgeht, häuft Lüge auf Lüge, verwirft die Wahrheit. Und der zur Rediten wiegelt dich auf und bedrängt dich. Er schäumt und zürnt jederzeit, (95) rast und tobt jeden Tag. Seine Sdiwerter treffen, was ihm nahe, seine Funken verzehren, was ihn umgibt. Sein Zorn brennt wie Feuer, sein Grimm tobt wie ein Brand. (100) In jeglicher Sache ein Sünder und Irrer, von jeglicher Wahrheit sich wendend und kehrend. Er gleicht dem Löwen: gierig danach zu reißen, dem Jungleun: im Hinterhalt lauernd, um (Beute) zu haschen. Und der zur Linken (105) bringt didi zu Fall und verzehrt didi, ständig erwartend und hoffend, stets begehrend und schmachtend. Du magst ihn im Mörser zermalmen, seine Torheit wird nicht weidien, (110) magst ihn mit dem Hammer zertrümmern, sein Unverstand wird nidit vergehen. Jeder Fraß ist ihm recht, nie hat er genug vom „Gib-Gib!" Wer bei ihnen (verweilt), (115) kommt nicht zu Verstand und erlangt keine Weisheit. Was er spricht und äußert, ist Trug und Wahn. Er beugt das Recht und verwirrt die Wahrheit. 11

Greive: Neuplatonismus

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Sein Herz ist verdreht, Frevel sinnt er auf seinem Lager. Seine Augen werden vom Sehen nicht satt, seine Ohren vom Hören nidit voll. Und du hängst ihnen an, dein Herz ersehnt und begehrt sie, erkennst nicht: wer ihre Wege geht, wird ihrer Verderbtheit nicht entfliehn. Kann einer Feuer schüren auf seinem Sdioß, ohne seine Kleider zu verbrennen? Kann einer wandeln auf glühenden Kohlen, ohne seine Füße zu versengen? So (der), den die Glätte ihres Mundes verführt, das Schmeicheln ihrer Worte betört. Mein Sohn, mach dich nicht mit ihnen auf den Weg, halte deinen Fuß von ihrem Pfade fern! Denn sie streckten (schon) viele durchbohrt zu Boden, brachten Mächt'ge und Starke zu Fall. Höllenwege sind ihre Wege und Kreise, Todespfade ihre Pfade und Bahnen. Regiere sie und beherrsche sie! Halte den Wilden durch den Gierigen nieder und den Gierigen durch den Wilden, richte sie in Gerechtigkeit, ohne das Recht zu beugen! Dem, der Eitles und Nichtiges spricht unter ihnen, sei nicht zu Willen, hör' nicht auf ihn, mag seine Stimme audi schmeicheln! Vertraue ihm nicht, denn sieben Greuel (wohnen) in seinem Herzen! Hiernach handle, mein Sohn, und entfliehe, ehe der Tag anbricht und der Schatten entweicht! Bewahr' meine Worte, vergiß sie nicht, laß nimmer von ihnen ab! Birg sie auf immer in deinem Innern, und schreib' sie auf die Tafel deines Herzens! Sie gehören nur dir und niemandem sonst, sind Kränze der Anmut für dein Haupt und (schmückende) Ketten für deinen Hals. Mögen deine Tage in Gutem enden und deine Jahre in Wonne.

Als ich diese Worte von ihm vernommen, die kostbarer waren als Perlen, erkannte ich: wer seine Lehren mißachtet, seine Reden verkehrt (160) und (nur) eines von seinen Worten verwirft, tut seiner Seele Gewalt an und läßt sie verderben, macht seine „Einzige" zuschanden und bringt ihr den Tod.

('Iggärät) Haj ben Meqis

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Wer aber an ihnen festhält, von ihnen nicht läßt, wird ewig leben und nicht vergehen. (165) Denn sie (gereichen) denen, die sie erfassen, zum Leben, zur Heilung des ganzen Wesens. Ich sagte: Zieh mich dir nach, laß uns enteilen! Idi will deiner frohlocken und fröhlidi sein, midi an deiner Liebe erfreun und erquicken, mehr als an Würzwein und Most. (170) Da sprach er zu mir: Du kannst nicht enteilen wie ich und mit mir entschweben. Gebrochen sind deine Flügel, es fehlen dir Schwingen. Da sprach ich: Wer wird mir Schwingen verleihen gleich (denen) der Taube? (175) Ich möchte entschweben und (bei dir) verweilen. Bitte, ο Herr, achte nicht meiner Anmaßung! Denn dir enthüllte ich meinen Hader, belud dich mit meiner Last. (180) Dir gilt mein Hoffen und Harren. Heile mein Leiden und verbinde mein Gebrechen! (B. Der Aufstieg)

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Da führte er mich auf nächstem Wege zu einem großen und weiten Land. Es besteht aus drei Teilen, tief und fern. Der erste nimmt seinen Anfang im Wasser und endet im Himmel. Und dies sind die anderen beiden - sie sind die Wurzeln - : Des ersten Rand liegt im Osten, des zweiten Anfang im Westen. Jener läßt sein Lidit auf diesen scheinen, dieser nimmt von jenem seinen Glanz entgegen. So gliedert sich das Land in (seinem) Bestand seit Ursprung und Beginn. Nur dem ist in diesen erhabenen Räumen zu wandeln verstattet, der voll ist des Geistes Gottes. An der Grenze des Landes entspringt eine Quelle, deren Laut (schon) von weitem vernehmbar ist. Sie teilt sich in Ströme,

deren Wasser mächtige Gewässer. Jeder Wunde und Krankheit bringen sie Heilung, bewirken Genesung und Linderung. Wir traten an sie heran (205) und machten bei ihr Halt. Er nahm mir mein Kleid, warf es fort, ll4

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Religionsphilosophische Schriften und führte mich nackt hinab. Dann sprach er zu mir: Trinke vom Wasser ihres Grundes, vom N a ß ihres Bronnens! (210) So findest du Stärkung für deine Gebrechen, Heilung für deine Glieder. Es werden dir Flügel (wachsen), gen Himmel zu fliegen. Und ich trank von den Wassern des Lebens, (215) den Lebensspendern der Seelen. D a verschwanden Schmerzen und Plagen, heillose und böse Leiden. Sie waren mir Balsam zur Stärkung meiner Gebrechen und Glieder. (I. Die irdische Welt) (1. Die Materie) (220) Als ich genug getrunken und meiner Leiden genesen, da reichte er seine Hand, ergriff midi und hob mich empor aus der Tiefe der Quelle, um mich in ein Reich zu geleiten (225) - urzeitlich und alt - ,

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das seine Liebhaber mordet, und seine Bewohner verschlingt. Seine Zelte sind dunkel und finster. Die Sonne ist ihnen fern, es leuchtet ihnen kein Mond. Dahinter eine glutende Quelle, in der die Sonne versinkt. Niemals versiegt ihr Schoß. Sie wirft sich wie Siegellack auf. Die Menschen in diesem Reiche sind bedürftig und arm. Ihre Tage sind wenig zahlreich und böse. Sie bauen und pflanzen, doch sehen sie ihre Gebäude zerstört, ihre Saaten zertreten, ihre Burgen geschleift, ihre Bäume entwurzelt. Ein jeder gerät in die Falle, und niemand fragt oder sudit. Wie könnten sie audi bestehen, ohne dahinzuschwinden? Sind sie (doch) umringt und umgeben von Feinden und von Bedrängern. Sie finden nidit Ruhe noch Rast, nicht Frieden noch Freude.

('Iggärät) H a j ben Meqls

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Denn was es an Gutem gibt, ist mit Bösem vermischt: der Frohsinn mit Seufzen, (255) die Lust mit Leid, die Wonne mit Weh. Trotz ihrer Kenntnis finden die Kundigen keinen Anklang, trotz ihrer Schnelligkeit gibt's für die Schnellen kein Entkommen, trotz ihrer Stärke wissen die Starken sich nicht zu retten. (260) Denn Zeit und Zufall ereilen sie alle. (2. Die Formen) (a. Die Bereiche der komplexen Formen) (Der Mensch) Dort ragen stolz und hodi die Horner des Satans auf, mit denen er Völker und Nationen niederstößt. Das erste durchstreift die Länder (der Erde), das zweite schwebt in den Himmeln. (265) Selbst Finsternis vermag ihnen nichts zu verfinstern, denn zwischen ihnen erstrahlt die Sonne.

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In zwei Wesen verzweigt sich das Horn, das (auf Erden) umherstreift, in zehn Arten, das (in den Himmeln) schwebt: Fünf äußere ziehen Erkundigung ein, fünf innere empfangen von ihnen. Jene lassen die Kunde zu diesen gelangen, diese hören sie und bewahren sie auf. Bis sie die Kunde zum Könige bringen, und der König sie aufnimmt und Einsicht gewinnt. Dies zu den zwei Wesen, die knurren und kauern: Das eine schnaubt wie ein Jungleu, das andere schmachtet und giert wie ein Schwein. Jenes überstürzt sich mit seiner Wut, dieses gelüstet's nach Fressen und Schlingen. Es wacht über sie ein Armer und Weiser, lenkt ihr Bedürfnis und führt sie den Weg des Erfolgs, befreit ihre P f a d e von Steinen und ebnet ihnen die Bahnen, hält sie fern von Grube und Grab und heißt sie Heil und Leben anhangen, lenkt sie ab von Bosheit und Sünde und läßt sie zu Recht und Wahrheit gelangen. (Die Tiere)

Im Bereich dieser Menschen (290) sind alle Arten von Tieren versammelt. D a gibt es Tauben und Vögel, Raben und Turteltauben, Schafe und Rinder

Religionsphilosophische Schriften und reißende Löwen, (295) Maulesel und Pferde und stattliche Schwäne, Füchse und Steinböcke, Eselinnen und Kamele, Eidechsen, Maulwürfe und Kröten, (300) Krokodile, Ottern und Skorpione, Frösdie und Fisdie und alles, was im Wasser sich regt. (Die Pflanzen)

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Dann führte er midi in den Nußbaumgarten, wo jede Art von Fruchtbaum (zu finden) und allerlei Zedern. Drauf lassen die Vögel sich nieder, aus dem Laubwerk erschallt ihre Stimme. Seine Quellen sprudeln, seine Pflanzen blühen. Seine Weinberge - (voll) edler Stöcke sind entsteint und gehackt. Zum Flußlauf läßt er die Wurzeln schießen, zu den Wasserbädien die Schößlinge treiben. An der Stange trägt man die Trauben, auf der Schulter schleppt man die Lese. Die Himmel sind mit Wolken bedeckt, die Furchen vom Regen getränkt. Die Zweige läßt er Würze träufeln, die Wipfel Balsam verströmen. Granatäpfel schimmern in seinen Tälern, Rosen prangen auf seinen Beeten.

Uber den Toren hängen allerlei köstliche Früchte, frisdie sowohl wie des Vorjahrs. Die Dattelpalme gibt ihre Frucht, Der Feigenbaum reift seine Knoten. Der Weinstock bereitet Würze, (325) und es duften die Liebesäpfel. (Die Mineralien) Dann führte er mich von den Gärten zu steilen Höhen hinauf, wo das Ophirgold ruht, der kostbare Karneol und der Saphir, (330) Eisen und Kupfer, Chrysolith und Beryll, Zinn und Blei, Perlmutter und roter Marmor, Chalzedon und Kristall, (335) Sdiwefel und Salz und jeder Geheimnisenträtsler.

('Iggärät) H a j ben Meqis

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(b. Die Elementarformen) (Erde und Wasser) Am Fuße dieses Gebirges dehnt sich ein weites Land, rings von Wassern umsdilossen. (340) Darinnen zerklüftete Felsen und sprudelnde Quellen, Höhen und Schluchten, Brunnen und Bäche, Steppen und Ströme, (345) Teiche und Seen. Ihre Wellen rauschen, ihre Wasser sdiäumen, die Berge erbeben bei ihrem Hochgang, doch ihr Maß und Gesetz überschreiten sie nicht. (Luft) (350) Er führte midi über die Wasser hinweg und brachte mich in ein Gebiet, das noch gewaltiger ist. Da sah idi Winde und Stürme blasen und flattern, Unwetter und Beben und Wanken, (355) Berge sprengend und Felsen zerbrechend. Dort leuchten die Blitze und rollt der Donner. Die Wolken bilden eine Decke, es strömen die Regenmassen (360) Sprühregen, Niesei, Gewitter und Tau, Spätregen, Schauer und Güsse. Dort (ruhn) die Hagelkörner in Speicher und Schelter, aufgespart für die Zeit der Bedrängnis, den Tag des Gefechtes und Kampfes. (Feuer) Auf diesen Bereich folgt fressendes Feuer, (365) das hoch zum Himmel auflodert: Verzehrend sind seine Gluten, es brausen seine Flammen. Wie Schwerter sind seine Lohen und seine Funken wie Sterne. (370) Regengüsse ersticken es nicht, Meere spülen es nicht hinweg. Felsen schmelzen in seinem Brand, Steine zerfließen in seinen Lohen. Sobald ich es sah (375) und sein Anblick mich traf, erlahmte die Kraft meiner Hände und begannen meine Knie zu schlottern.

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Meine Augen wurden trübe vor Gram, und Angst verzerrte mein Antlitz. Ich vermodite nicht (länger) zu stehen, so tief war die Seele erschrocken. Da trat er hinzu, hob midi auf und sprach zu mir: Sei furchtlos und unverzagt! Gehst du audi durch Feuer, du wirst nicht verbrannt, die Lohe wird dich nicht verzehren. Er sdiritt mir voran mit den Worten: Komm, Gesegneter des Herrn! Midi rasch ergreifend, führte er mich zu dem Brand. Da sah ich die Lohen vor uns züngeln, die Funken um uns sprühen, die Flammen uns umringen. Wir aber blieben unversehrt und wurden nicht verbrannt. (II. Die Sphärenwelt) Als wir den (Flammen-) Bereich verließen, der Glut entrannen, erblickte ich nahe dem Reiche acht Königtümer, deren Räume mächtig und gewaltig, fest (gefügt) und stark, dem Anblick gleich, den Gegossenes bietet. Eines ans andere reidien ihre Gewölbe, und zwischen sie dringt keine Luft. Sie sind miteinander verbunden, halten zusammen und trennen sich nicht. Ihr Lauf nimmt kein Ende und kennt keinen Wandel, ihre Heere sind nicht zu zählen und nicht zu bestimmen. Sie alle triumphieren, lobpreisen in gemeinsamem Jubel, ewig bestehend und ihrem „Felsen" dienend, ihre Gesetze beachtend und treu ihrem Bund. Es befällt sie kein Unheil, ihren Zelten naht keine Plage. Ihr Lauf ist ein Lauf des Verlangens, ihr Dienen ein Dienst der Sehnsucht. Ihre (Wesens-) Formen sprühen vor Eifer, ihre Seelen erzittern. Denn es bestrahlt sie das Licht aus reiner Wohnung. Dort ist die Quelle der Gärten, der Brunnen lebendigen Wassers.

('Iggärät) H a j ben Meqis (1. Die Mondsphäre) Im ersten Reiche (wohnen) reine und heilige Männer, (425) helle und klare Herren. Ihre Körper sind jung und zierlich, ihr Antlitz ist leuchtend und weiß. Sie stürmen dahin und werden nicht müde, laufen und werden nicht matt. (430) Ihr Führer, Wesir des Königs, genießt den Glanz seiner Glorie. Er erschrickt vor seinem Zorne und erzittert vor Furdit. Naht er sich ihm, so erniedrigt er sich, (435) und es schwindet sein Lidit. Sein Leib vergeht und sein Anblick wird seltsam. Entfernt er sich (wieder), so leuchtet er (hell) und glänzt wie der Morgen, (440) erreicht seine Form (ihre) Fülle, erscheint und offenbart er sich jeglichem Auge. (2. Die Merkursphäre)

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Im zweiten Reiche (wohnen) erlesene Männer, Weise und Hochgeehrte: Künstler, die ihr Handwerk verstehen, Schaffende, denen ihr Tun von der H a n d geht, Schreiber von Schriftstücken, Denker (großer) Gedanken, Mischer von Mixturen und Graveure (feinster) Gravierungen. Da sind Führer der Völker: Zeichendeuter und Magier, Herrscher und Fürsten und ihre Vertreter, Vorsteher, Richter und Edle, Räte und Rechtsanwälte und Prediger, die gut und treffend zu reden verstehn. Jeder seines Faches ein Meister und Lehrer wie Besalel und Oholiab. Ein Herrscher steht über ihnen, der wie ein Hirsch läuft, ohne zu straucheln: des Königs Schreiber und Diener, der um sein Kommen und Gehen weiß. Er bricht auf, wenn er aufbricht, und ruht, wenn er ruht. Er weicht nicht von ihm und wendet sich nicht von ihm ab. (3. Die Venussphäre)

(465) Im dritten Reiche (wohnen) sorglose Frauen, die singen und spielen.

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Sie halten Leiern, Flöten und Pfeifen, Trommeln und Schlagzeug, Zimbeln und Harfen. Sie springen und wirbeln, tanzen und singen. Eine Königin steht über ihnen, die zart ist und sanft. Ihr Antlitz (strahlt) wie die Morgensonne und wie der volle Mond. Ihre Augen (blitzen) wie Schwerter, und ihre Zähne sind gleich einer Schar von ebenmäßigen (Sdiafen) - sie alle zwillingsträchtig und vom Fehlwurfe frei - . Wie eine Karmesinschnur sind ihre Lippen und rabenschwarz ihre Locken. Der Granatapfelblüte gleicht ihre Schläfe hinter dem flutenden Haar. Mondschalenförmig ist ihr Nabel und sonnengestaltig ihre Gestalt. Hell glänzt und leuchtet ihr Licht, und wer sie sieht, erstaunt und erschrickt. (4. Die Sonnensphäre)

Im vierten Reiche (wohnen) gewaltige Recken, (490) die alles überstrahlen. In ihrer Mitte ergeht sich der König im Gespräch mit seinem Wesir. Er kleidet ihn mit seinem Glanz, umhüllt ihn mit seinem Licht. (495) Wie ein Bräutigam kommt er aus seinem Gemach, frohlockt wie ein Held, zu rennen seine Bahn. Nichts ist verborgen vor seinem Strahl, nichts versteckt vor seiner Glut. Kein menschliches Wesen vermag ihn anzuschauen (500) und seine Stirn zu erkennen. Wie ein Hirte hütet er seine Herde und weicht vom Wege nicht ab. Er leitet sie weise und kundig und führt sie zu stillen Gewässern. (5. Die Marssphäre) (505) Im fünften Reiche (wohnen) rote Menschen, die Blut vergießen: Doppelgesinnte und Heuchler, Bedrücker und Übeltäter. Der Kampf ist ihr Handwerk, (510) der Krieg ihr Gewerbe. Sie nehmen Bestechung

('Iggärät) H a j ben Meqis und morden die Seelen, strecken nieder und verzehren die Beute. (515) Sie lieben Bosheit und List und hassen Wissen und Klugheit. Ihr Herrscher - ein Kriegsmann und Wüterich poliert seine Schwerter (520) und knirscht mit den Zähnen. Seine Speere sind gerichtet und seine Lanzen geordnet, seine Pfeile gespitzt und seine Bogen gespannt. Die H u f e seiner Rosse sind wie Kiesel zu achten, und die Räder (seiner Wagen) sausen wie der Sturm. (525) Er bringt Schuldlose um und plündert Verarmte. Sein Tun ist Bosheit, sein Wirken Bedrückung. Er schämt sich nicht trugvoller Rede (530) und schrickt nicht zurück vor schändlichen Taten. (6. Die Jupitersphäre) Im sechsten Reiche (wohnen) gerechte Menschen, die sich an Redlichkeit halten. Ihre Wege sind lauter, ihr Handeln ist aufrecht. (535) Von Bestechungsgaben halten sie frei ihre Hände, vor dem Anblick des Bösen versdiließen sie ihre Augen. Sie tuen Redit und verschmähen Unrechten Gewinn. Ihre Zelte bewohnen (540) Lehrer und Rechtskundige, Richter und Offiziale, Gerichtsvorsteher und Gelehrte, Propheten und Fürsten, Priester und Gaonen. (545) Uber ihnen ein Herrscher - gerecht und gut - , der nach Wahrheit Recht spricht über sein Volk, in Gerechtigkeit richtet seinen Gefährten. Gewalttat und Bosheit sind bei ihm nicht zu finden, (550) denn das Zepter seiner Herrschaft ist ein Zepter des Rechts. (7. Die Saturnsphäre) Im siebten Reiche (wohnen) Menschen von Kenntnis und Einsicht, Verstand und Klugheit, bedachtsam in ihrem Tun und zögernd in ihrem Gang.

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Religionsphilosophische Schriften (555) Für Wohltat(en) horten und hüten sie (Schätze), Verbrechen zahlen sie heim und tragen sie grollend nach. Es schreckt sie keine Bedrängnis und ängstigt sie keine Verfehlung. Sie eilen weder zu Streit und Hader, (560) noch drängen sie sich zu Versöhnung und Sühne. Unter ihnen Gerechte, bedrückt und bedrängt, und Sünder, schamlos und stolz, Würdenträger und Heeresführer, Ränkestifter und Zauberkünstler, (565) solche, die gut stehn mit Gott und den Menschen, und Kenner magischer Formeln, Köche und Bäcker, Pfleger und Ärzte, Gerber und Krämer, (570) Maler und Wechsler, Getreue und Falsche, Wohltäter und Geizige. Ihr Herr und Herrscher (575) ist gewaltig in seiner Weisheit, einzig in seiner Klugheit. Es ruht auf ihm ein Schein von Glorie, von Glanz und von Pracht. Er ist stolz auf sein Wissen (580) und schmückt und rühmt sich mit seinem Verstand. (8. Die Fixsternsphäre) Im achten Reiche (wohnen) Völker und Nationen, groß und gewaltig an Zahl. Niemand vermag sie zu zählen und zu berechnen, es sei denn ihr Schöpfer und Bildner. (585) Im Bereich dieser Heere stehen zwölf Türme. Sie wohnen darinnen und weilen (als Gast) in ihren Gemächern. In eine Richtung verläuft ihr Wandel, (590) nach einer Seite geht ihr Zug. Nie holen die Späteren die Früheren ein, sondern diese ziehen (voran), und jene bleiben in ihrem Gefolge. Ihre Gesichter blinken wie funkelndes Erz. (595) Sie erscheinen bewegt und wie flammende Schwerter. (9. Die Umgebungssphäre) Auf diese Reiche folgt ein Raum, der auf Tohu und Bohu gründet. Sein Bereich ist endlos und weit

('Iggärät) Haj ben Meqis

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(600) wie Wüste und Wildnis . Es gibt dort weder Bewohner noch Siedler, weder Ansässige nodi Gäste. Drum ist sein Umkreis unmeßbar und unerfaßbar das Ausmaß seiner Gestalt. (605) Doch alles, was er umschließt, ist wohl geordnet und gut gerichtet. Er zwingt es mit der Fülle seiner Kraft, bewegt es mit der Größe seiner Macht. So entstehen die Feste, Fristen und Zeiten, (610) Minuten und Stunden, Tage und Jahre. (III. Die Welt der Intelligenzen und menschlichen Geistseelen) Als wir an seine Grenze gelangten und ihn fast schon durchschritten hatten, da schaute ich erhabene Formen, Gestalten, die Furcht erregen: (615) Engel - gewaltige Heere, Cherubim - machtvolle Scharen, Seraphim - (zum Dienste) dastehend, lobpreisend und seine Einheit verkündend, Schinanim und Ophannim, (620) singend und spielend, „heilig" jubelnde Seelen und triumphierende Geister. Erschauernd sprach ich: Wie furchtbar ist dieser Ort, den ich schaue! (625) Er entgegnete mir: Streife die Schuhe von deinen Füßen, mach dich mit deiner „Einzigen" frei vom Stoff deines Leibes, gib auf deine Grübeleien, (630) laß deine Augenlider! Dann schau mit den Augen des Innern, mit den Augensternen des Herzens! Ich erwiderte ihm: Bleibt meinem Herrn noch etwas, das meine Augen nicht sehen, die Sterne meiner Augen nicht erblicken? (IV. Gott) (635) Er gab mir zur Antwort: Einer ist ohne zweiten, selbst ohne Sohn oder Bruder. Unendlich ist all sein Wirken. Die Räume vermögen Ihn nicht zu fassen, die Zeiten nicht zu ereilen. (640) Die Herzen sind zu schwach, seine Größe zu künden, die Zungen zu begrenzt,

Religionsphilosophische Schriften seinen Lobpreis zu sprechen. Denn Ihm ist der Glanz und die Pracht, (645) der Triumph und die Glorie, die Macht und die Schönheit, die Herrschaft und Größe. Sein Königtum geht nie und nimmer zu Ende, denn Er hat dies alles gemacht. (650) Es gibt keinen Gott neben Ihm, es ist kein „Fels" außer Ihm. Unendlich ist seine Erkenntnis, grenzenlos seine Einsicht. Niemand berechnet seinen Besitz, (655) keiner erfaßt sein Wesen.

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Ob des Ubermaßes der Größe bleibt dem Menschen seine Erkenntnis versagt, ob des hohen Grades von Glanz bleibt (ihm) sein Anblick entzogen. Auch die Sonne verbirgt sich in ihrem Licht und wird nicht erkannt, in ihrem Strahlen und wird nicht geschaut. So sind die Seelen zu schwach, Ihn zu erkennen, die Herzen, Ihn zu erblicken. Kein Abbild ist Ihm zu vergleichen, kein Bild Ihm ähnlich zu nennen. Er ist der Bronnen und Quellgrund des Lebens, die Wohnstatt und Wurzel der Weisheit. Er, der Verborgenes kennt, wie wenn es offenbar wäre, Verhülltes, wie wenn es zutage läge, die Herzen p r ü f t und die Nieren durchforscht. Seine Dekrete sind Recht und Gesetz, seine Waltensweisen Gnade und Wahrheit. Gerade sind seine Wege, alles Sein ist sein Werk. Es gibt keine Vollkommenheit außer seiner Vollkommenheit, keine Hoheit ohne seine Hoheit, keinen Frieden, es sei denn sein Friede. Ich sprach zu ihm: Bitte, ο Herr, höre den Ruf meines Flehens, denn zu dir hab' ich meine Augen erhoben, auf dich meine Last geworfen, deiner H a n d meinen Geist empfohlen. Sag mir: Auf welchem Weg begegne ich Ihm, wie kann ich Ihn erkennen? Denn ich verlange sehr, Ihn zu erkennen, sehne mich tief, Ihn zu schauen. Da sprach er zu mir: Wenn du meinen Worten folgst, an meinen Weisungen festhältst, auf meinen Wegen wandelnd von meinen Spuren nicht weidist

('Iggärät) Haj ben Meqis

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(690) und deinen (eigenen) Geist erkennst nach Kraft und Vermögen, dann wirst du imstande sein, Ihn zu erkennen und Ihn zu schauen. (C. Schluß) Ich sprach zu ihm: Sei gesegnet (695) und finde ewiges Leben. Denn du hast mich bis hierher geführt, daß ich unversehrt ein- und ausging. Glückselig bist du, und glückselig sind deine Gefährten, (700) die deine Weisung bewahren und deine Weisheit beachten. Hochgepriesen sei Gott, der dich zum Herrscher der Welt gemacht, als Aufseher eingesetzt über sein Volk, der midi dir zugeführt hat (705) und deine Worte vernehmen ließ. Hoch erhoben sei Er über alle Glorie und Größe, erhöht über jegliches Lob und jeglichen Preis! Großtaten tut Er allein, denn ewig währet seine Huld.

Z e i l e n k o m m e n t a r Die Ubersetzung folgt, soweit nicht anders vermerkt, dem von David Rosin hergestellten Text (s. Anm. 1 des Kapitels „Sinn und Gestaltung der Dichtung"). Textergänzungen, die Rosin zur Rekonstruktion fehlender Reimworte oder Reimzeilen angebracht hat, bleiben unberücksichtigt. Dadurch sowie aufgrund einiger zusätzlicher Änderungen der Verseinteilung weidit die Verszählung der vorliegenden Ubersetzung von der des rosinschen Textes - wenngleich nur geringfügig - ab. Rosin hat dem Text der Dichtung eine Fülle instruktiver Erläuterungen hinzugefügt, die in diesem Kommentar benutzt werden, ohne daß dies in jedem einzelnen Falle angegeben wird. Die Dichtung enthält, wie bereits im ersten Kapitel erwähnt, zahlreiche Bibelzitate und Anspielungen auf Bibelstellen. Sie werden im Text der Ubersetzung nicht kenntlich gemacht, sondern lediglich im Kommentar angezeigt. ( 1 - 2 ) Job 34,2. (5) Spr 8,7.6. (6-11) Jr 12,7; Hl 1,6. Das Ich der Erzählung ist die rationale oder geistige Seele des Menschen, genauer die Seele als Subjekt und Herr der bewußt vollzogenen menschlichen Akte, vor allem der (rationalen) Erkenntnis. (Vgl. Goichon, Le Recit, 21 ff.)

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(27) (28) (29) (30) (31) (33) (34) (38)

(39) (40) (41-42) (43) (50) (51) (52)

Die Verse 6-11 sind ein Hinweis auf die himmlische Herkunft der Geistseele und ihren Abstieg in die irdische Welt, besonders ihre Verbindung mit dem Leibe. Ruhe, Entspannung und Einsamkeit sind Grundvoraussetzungen für das Beschreiten jenes Erkenntnisweges, der zur Schau der Intelligenzen und letztlich Gottes führen soll. Das Wort j e hidäh (Einheit, Einzige) wird bereits Ps 22,21 u. 35,17 im Sinne von Seele - und zwar parallel zu näfäs - gebraucht. Entgegen der Auffassung Ibn Zaylas, der in seinem Kommentar zum Hayy Avicennas an dieser Stelle auf die Phantasie, die Denkkraft und die sinnliche Wahrnehmung verweist (vgl. 'Iggärät Haj ben Meqis, Ed. Kaufmann, 2), dürften hier dieselben Gefährten gemeint sein, von denen später ausführlicher die Rede ist und unter denen derselbe Kommentator dort die Phantasie (Imagination), den Zornmut und das sinnliche Begehren versteht (s. Kom. zu V. 68). Der Greis, der im folgenden genauer beschrieben wird und sidi als H a j ben Meqis vorstellt (V. 43), ist - nicht anders als bei Avicenna der aktive Intellekt. H l 5,12. H l 4,3 u. 6,7. Der Ausdruck pälah hä-rimmonim wird entgegen dem üblichen Verständnis, nach weldiem er etwa mit Riß der Granatfrüchte wiederzugeben wäre, mit Granatapfelblüte übersetzt, da er nach Auffassung des Dichters so zu verstehen ist (vgl. Kom. zu Hl 4,3, Ed. Mathews, 6f.). Dt 34,7. H l 1,3. H l 5,16. Nach Dn 3,31 u. 6,26. Ps 37,30. Im Texte Egers' (Diwan, 139) fehlt dieser Vers. Es handelt sich wahrscheinlich um eine Glosse. 1 Sm 17,58; Gn 32,28. Jon 1,8. Die Urim und Tummim sind eine in der Bibel mehrfach genannte Insignie. Nach Ex 28,30 und Lv 8,8 trug der Hohepriester sie in der Brusttasche bzw. dem Brustschild. An der diskutierten Stelle der Dichtung dürfte auf die Ausstattung dieser Tasche oder dieses Schildes mit vier Reihen von je drei Edelsteinen angespielt sein (vgl. Ex 28,17-21). 1 Kg 1,47. Js 48,18. Spr 3,26. Lebendiger, Sohn des Wachen. Spr 1,4. Spr 8,30. H l 8,11. Nach Vers 44 scheint Baal Hamon mit Jerusalem identisch zu sein.

(53-54) H l 2,3. (56) Spr 8,9.

('Iggärät) H a j ben Meqis

167

(57) Der Js 3,9 verwendete Terminus hakkärat pänim wurde bereits im dritten Jahrhundert physiognomisch ausgelegt (vgl. j J'bämöt XV u. b J'bämöt 120a). Die Physiognomik nahm im zweiten nachchristlichen Jahrhundert im hellenistisdien Bereich einen bedeutsamen Aufschwung und fand auch in jüdisch-esoterische Kreise Eingang. „Die HedialothMystik", schreibt G. Sdiolem, „kennt Physiognomik und Chiromantik in doppelter Weise: als Gegenstand eines geheimen Wissens unter den Adepten selber sowie als Kriterium für die Zulassung der Novizen". (Die jüdische Mystik, 51 f.; vgl. auch von dems.: Hakkärat pänim w'sidre sirtütin, in: Sefär Assaf, Hrsg. M. D. Cassuto, J. Klausner, Y. Gutman, Jerusalem 1953, 459-495). Für die obige Stelle der Dichtung des Ibn Ezra interessiert besonders das letztgenannte Moment. Der Gesichtsausdruck, d. h. die Physiognomie, weist das Ich der Erzählung als würdig aus, „Weisheit und Einsicht zu erwerben" (V. 62). Zur Physiognomik in der Kabbala s. ferner Scholem, Die jüdische Mystik, 176. (68) Phantasie (Imagination), Zornmut und sinnliches Begehren (vgl. Goichon, Le Recit, Abschn. II mit Erläuterungen, 48-59; und 'Iggärät Haj her Meqis, Ed. Kaufmann, 6f.). (76 u. 81) Qoh 7,26. (86) N m 16,26. (89) Spr 1,16. (90) Die Phantasie (s. Kom. zu V. 68). (91) Der Hayy ibn Yaqtän Avicennas ist an dieser Stelle ausführlicher. Dort heißt es u. a.: „Celui qui va devant toi, c'est un menteur, un rodateur, qui enjolive le faux et forge les mensonges. II t'apporte des nouvelles £t ne pas prendre comme provisions de route. Ce qu'elles ont de vrai est souilli par ce qui est faux, et la viraciti se mele au mensonge . . (Goichon, Le Recit, Abschn. VII, 48). (92) Der Zornmut (s. Kom. zu V. 68). (98) Ps 83,15. (102-103) Ps 17,12. Goichon weist in ihrer Erläuterung der Parallelstelle des Hayy Avicennas darauf hin, daß schon Galenus mit Berufung auf Piaton das Iraszible dem Löwen vergleicht: εικάζει δ'όύτω τό μέν έπιθυμητικόν θηρίφ ποικίλφ τε και πολυκεφάλφ, τό δε θυμοειδές λέοντι, τό δε λογιστικόν άνθρώπφ. (De Hippocratis et Piatonis placitis, VI,2, in: Opera omnia, Ed. cur. C. G. Kühn, Hildesheim 1964/65 [Nachdruck der Ausg. Leipzig 1821], V, 515) Galenus spielt auf Piatons Staat, IX,12, 589b, an. (Goichon, Le Recit, 54 mit Anm. 7 u. 61, Anm. 1) (104) Das sinnliche Begehren (s. Kom. zu V. 68). (108-109) Spr 27,22. (113) Zu dem Ausdruck „hab hab" (übers.: „Gib-Gib!") vgl. Spr 30,15. (118) Spr 6,14. (119) Ps 36,5. (120-121) Qoh 1,8. (126-127) Spr 6,27.28. 12

G r e i v e : Neuplatonismus

168

Religionsphilosophische Schriften

(130-131) Spr 1,15. (132-134) Spr 7,26.27 (mit Ergänzungen). (138) Rosin schlägt für s/sth die Lesung sotäh vor. Vom Budistabenbestand wie auch vom Sinnzusammenhang her ist ebensowohl Sotäh möglich. In den Versen 100 und 101 wird der Zornmut sowohl sotäh wie sotäh genannt. Liest man sotäh, so ist das Wort an dieser Stelle etwa im Sinne von Rebell zu verstehen (entsprechend dem mehappek in der von Kaufmann edierten hebräischen Ubersetzung des Hayy Avicennas - s. S. 5 - ) . In jedem Fall muß in der Obersetzung deutlich werden, daß es um den Zornmut geht. Rosins Entscheidung für „Lügenknecht" ist wenig glücklich. Vgl. zu dem in diesem Vers ausgesprochenen moralischen Ratschlag neben der Parallelstelle im Hayy Avicennas (Goichon, Le Recit, 60, und 'Iggärät Haj ben Meqis, Ed. Kaufmann, 8) desselben Kitäb al'Isärät wa'l-tanblhät: Livre des directives et remarques, Traduction franjaise avec introduction et notes par A.-M. Goichon, Beirut - Paris 1951, 509: „Quand la colere est excitee, eile detourne l'ame de la concupiscence, et inversement"; ferner desselben Fusus al-hikma [Ringsteine der Weisheit], § 41 (F. Dieterici, AlfäräbVs philosophische Abhandlungen, Leiden 1890, 75); sowie Galenus, De Hippocratis et Piatonis placitis, VI, 2, in: Opera omnia, Ed. Kühn, V, 518; und die bereits im Kom. zu V. 102-103 angezeigte Stelle aus Piatons Staat. (140f.) (141-143) (144) (145) (149) (150-151) (152-153) (154-155) (158-165)

(165) (166) (170-173)

(174-175) (176) (178) (179) (182f.)

Dt 13,9. Spr 26,25. Spr 6,3. Hl 2,17 u. 4,6. Spr 3,3. Spr 5,17. Spr 1,9. Job 36,11. Die Verse deuten darauf hin, daß in der Sicht Ibn Ezras das aufgrund der Verbindung mit dem aktiven Intellekt bzw. durch seine Vermittlung gewonnene Wissen Grundlage der Unsterblichkeit ist (s. hierzu das Kapitel der vorliegenden Untersuchungen: „Das Wozu des Aufenthaltes der menschlichen Seele in der irdischen Welt"). Spr 4,22. Hl 1,4. Die menschliche Seele ist ihrer Verbindung mit dem Leibe zufolge außerstande, sich aus eigener Kraft zu dem heilbringenden Wissen des Allgemeinen und Notwendigen bzw. zur Schau der Intelligenzen zu erheben. Ps 55,7. Gn 43,20 (u. a.). Jr 11,20 u. 20,12. Ps 55,23. Die Welt.

('Iggärät) H a j ben Meqis

169

(184-193) Der erste Teil ist die Welt des (sinnlich wahrnehmbaren) Zusammengesetzten, die beiden anderen Teile sind Materie und Form. Anders lassen sich die Hinweise auf den Osten und Westen kaum verständlich machen (s. hierzu das Kapitel dieser Arbeit: „Der Haj ben Meqis im Verhältnis zum Hayy ibn Yaqzän des Avicenna"). Demgemäß wird im folgenden - nach der Quelltrunkepisode - nacheinander die materielle (V. 224-260) und die formale Seite (V. 261-336) der (irdischen) Welt beschrieben. (194) N m 26,53. (198) Mit der Quelle ist kaum, wie Rosin vermutet, die Metaphysik (oder •θεολογία) gemeint, sondern wie im Hayy Avicennas nach übereinstimmender Aussage beider Kommentatoren die Logik (vgl. Goichon, Le Recit, 74f., und 'Iggärät Haj ben Meqis, Ed. Kaufmann, 11). Aus den Versen 208-213 geht eindeutig hervor, daß es um eine Voraussetzung des Aufstiegs bzw. der Erlangung höheren (das Partikuläre und Zufällige übersteigenden) Wissens geht. Die Quelle kann somit nicht die Metaphysik oder Theologie darstellen. (217) Dt 28,59. (220) Mit diesem Vers beginnt die Beschreibung der irdischen Welt unter dem Gesichtspunkt der Materialität. (225) Die Bezeichnung der irdischen Welt im Hinblick auf ihr materielles Substrat als urzeitlich und alt - q e dümäh wisänäh deutet auf die Lehre von der Ewigkeit der Materie hin. Das Wort qädüm sowie die von derselben Wurzel abgeleiteten Termini qadmon und qadmüt werden in der mittelalterlichen jüdischen Religionsphilosophie in vergleichbarem Zusammenhang häufig mit dieser Bedeutung gebraucht (s. J. Klatzkin M. Zobel, Thesaurus philosophicus, 4 Bde., Leipzig 1928-1933, unter den angegebenen Stidi Worten). (227) N m 13,32. (232-235) Die irdische Materie erfährt, indem sie die gestaltende Kraft der Sonne in sich aufnimmt, stetig wechselnde Formung. Wahrscheinlich steht hier die Sonne nicht nur für sich selbst, sondern für die Gesamtheit aller Wesen und Kräfte, die auf die Formung der irdischen Materie Einfluß nehmen. (235) Job 38,14. (236) Gemeint sind die irdisdien Menschen, sofern sie der korruptiblen Materie der sublunarischen Welt überantwortet sind. (238) Gn 47,9. (245) Ez 34,6. Es dürfte hier gegen den Text D. Rosins der Schriftstelle entsprechend w«'en zu lesen sein. Diese Lesart findet sich sowohl in dem von Egers herausgegebenen Diwan des Abraham ihn Ezra wie auch im Anhang der 1736 zu Konstantinopel erschienenen Ausgabe der Re'sit hokmäh des Elija de Vidas, wo der Haj ben Meqis fol. 303a-305a abgedruckt ist. (247) Job 41,9. (248-249) Im stetigen Wechsel der Formen, die mit der irdischen Materie verbunden werden, sind die einen der anderen, die sie ablösen, Feinde. (Vgl. Goichon, Le Recit, 91-102.)

170

Religionsphilosophische Schriften

(260) Q o h 9 . l l . (261) Der Zornmut und das sinnliche Begehren einerseits und die äußeren und inneren Sinne andererseits, worum es hier (wie im folgenden deutlich wird) geht, werden „Hörner des Satans" genannt, weil durch diese der körperlich-sinnlichen Sphäre verhafteten Kräfte der Mensch immer wieder versucht wird, sein himmlisches Ziel zu vergessen. (262) Dt 33,17. (263) Nach den Versen 267 und 275ff. der Zornmut und das sinnliche Begehren. (264) Nach den Versen 268ff. die fünf äußeren und die fünf inneren Sinne. (265f.) Ps 139,12. Die Sonne, die zwischen ihnen erstrahlt, ist der menschliche Intellekt. (267) Zornmut und sinnliches Begehren (s. V. 275-280). (268-274) Zu den Sinnen vgl.: D. Kaufmann, Die Sinne, Beiträge zur Geschichte der Psychologie im Mittelalter, Budapest 1884; speziell zu den inneren Sinnen: Wolfson, The Internal Senses. (275) Zornmut und sinnliches Begehren, wie aus den folgenden Versen hervorgeht. (279) Qoh 7,9. (281) Qoh 9,15. Der menschliche (potentielle) Intellekt wird arm genannt, weil er zu Anfang eine „tabula rasa" ist, und weise, weil auf den Erwerb von Weisheit hin angelegt. (Vgl. Jes6d mora', X, Ed. Stern, 34b, wo die Seele - n e 2ämäh mit einer Tafel verglichen wird, die dazu bestimmt ist, göttliche Schrift aufzunehmen. Hier scheint der Tabula-rasa-Gedanke vorausgesetzt zu sein.) (293) Ps 8,8. (296) 1 Kg 5,3. (298) Gn 12,16. (303) H l 6,11. Der Nußbaumgarten wurde in der Kabbala zu einem wichtigen mystischen Topos. Josef Gikatilla verfaßte 1274 eine Schrift des Titels Ginnat 'äg0z (gedruckt in Hanau 1615). In den Tiqqüne haz-Zohar, die zwischen 1295 und 1305 entstanden sind, heißt es: „Die Schechina im Exil heißt Pardes, aber sie selbst ist der innerste Kern. Daher nennen wir sie audi Nuß, und König Salomo sagte, als er dies Paradies [gemeint ist die mystische Spekulation] betrat: in den Nußgarten bin ich hinabgestiegen [Hl 6,11]." (Sefär tiqqüne haz-Zohar, Warschau 1866, 67b [Tiqqün 24]; deutsch nach G. Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Zürich 1960, 82; ebd. 77ff. Näheres zur Nußsymbolik.) Vgl. auch Ibn Ezras Kom. zu Hl 6,11, Ed. Mathews, 21. (305-306) Ps 104,12. (307) Spr 5,16. (311) Jr 17,8. (313) N m 13,23. (316) Ps 65,11. (319) H l 7,13. (321) H l 7,14.

('Iggärät) H a j ben Meqis

171

(323) (325) (327) (328-329) (330) (331) (332) (333) (335) (336) (337)

H l 2,13. H l 7,14. Ps 68,17. Job 28,16. Dt 33,25. Ex 28,17. Ez 27,12. Est 1,6. Dt 29,22. Gn 41,45. Der mit diesem Vers beginnende Abschnitt (bis Vers 350) behandelt nidit, wie Rosin anzeigt: „Das Wasser als zweite Elementarsphäre", sondern die Elemente Erde und Wasser zusammen. Gleich zu Anfang ist von Land bzw. Erde und Wasser die Rede. Ebenso in den Versen 340 und 341. Vgl. dazu J'sod morä', XI, Ed. Stern, 39a: „w'wd jdw' k j glgl hrwh wh'2 1}d gm kn glgl hmjm wh'rs"; und Kom. zu Ps 148,2: „kj h'rs whmjm hm kdwr 'hd". Daß Erde und Wasser gemeinsam einen Bereich bilden, ist also eine Ibn Ezra durchaus vertraute Vorstellung.

(338) (347-348) (355) (363) (379) (381) (383) (384) (385) (386) (387) (397)

Js 22,18. Ps 46,4. 1 Kg 19,11. Job 38,23. Gn 4,5 u. 6. Ps 6,4. Ez 2,2; 3,24. Js 7,4. Js 43,2. Ex 34,6. Gn 24,31. Die acht Königtümer sind die Gestirnsphären, ihre Herrscher die Gestirne. Ibn Ezra ordnet jedem dieser Herrschaftsbereiche eine bestimmte Gruppe von Menschen zu (s. das Kapitel dieser Arbeit: „Der Haj ben Meqis im Verhältnis zum Katar Malkut des Salomo ibn Gabirol"). Job 37,18. Job 41,8.9. Diese Verse spielen auf die Sphärenharmonie an. Ps 91,10. Die Lehre von der bewegenden K r a f t der Liebe klingt auch bei Aristoteles an. Vgl. Metaph. XII,7, 1072a 2 4 - 1 0 7 2 b 4. Dort heißt es u . a . : „'εστί γάρτινί τό ου ενεκα (και) τινός, ών τό μέν εστι τό δ'ούκ ϊστι. κινεί δέ ώς έρώμενον, κινουμένφ δέ τδλλα κινεί." (Ed. Jaeger, Oxford 1963, 252). Nach neuplatonischer Auffassung strebt alles nach dem Einen und Guten. Dieses Streben ist um so machtvoller, je näher das Strebende dem Erstrebten steht (vgl. hierzu Ibn Gabirol, Fons vitae, Ed. Baeumker, bes. V 32; 316,21-317,3), in den Sphären also stärker als in der sublunarischen Welt. Deshalb der Hinweis Ibn Ezras auf den „Eifer" der sphärischen Formen.

(400-401) (402-405) (408-409) (414-415) (416-417)

172

Religionsphilosophische Sdiriften

(422-423) H l 4,15. Die lebendigen Wasser sind das formative Element der Schöpfung. In ähnlichem Sinne taucht der Begriff in der naassenischen Gnosis auf. Dort stehen den lebendigen Wassern die Wasser des Chaos gegenüber. (Vgl. A. Altmann, Gnostic Themes in Rabbinic Cosmology, in: Essays, in honour of . . . J. Η. Hertz, Edited by I. Epstein, E. Levine and C. Roth, London 1942, 23 u. 26f.; ebd. Näheres zu dem größeren Zusammenhang, in dem diese Konzeption zu sehen ist, und Hinweise auf Spuren dieser Vorstellung in der rabbinisdien Überlieferung.) (424) S. hierzu Kom. zu V. 397. (428) Js 40,31. (430) Der Mond gilt als Wesir der Sonne. (434-441) Schilderung der Mondphasen. (422) S. hierzu Kom. zu 397. (443) Dt 1,13. Siehe zu diesem Vers der Dichtung den Kom. zu V. 460. (446) S. Kom. zu V. 460. (447) Ex 35,35. (457) Besalel und Oholiab werden in der Bibel wiederholt als Entwerfer und Hersteller von Kultgegenständen des heiligen Zeltes genannt (vgl. Ex 31,1-11; 35,30-35). (459) Entsprechend dem griechischen Gott Hermes ( = Merkur), der als Eilbote der Götter galt. (460) Der König ist hier - wie schon vorher in Vers 430 - die Sonne. Ibn Ezra versteht im gäng. Kom. z« Ex 20,14 den hebräisdien Namen Merkurs, nämlich kokäb, als Abkürzung von kokab hammäh - Sonnenstern. Merkur trägt diesen Namen, weil er in der Nähe der Sonne erscheint. Vgl. ferner b Sabbat 156a, wo es heißt: „Wer unter Merkur (geboren wurde), wird ein erleuchteter und weiser Mann, denn er [Merkur] ist Schreiber der Sonne". (465) S. hierzu Kom. zu V. 379. (471) 2 Sm 6,16. (478-481) H l 4,2.3. In seinem Kom. zu Hl 4,2, Ed. Mathews, 6, erklärt Ibn Ezra den Ausdrude q e sübot: „Denen eine einheitliche Gestalt [Größe und Form] zukommt". Wir folgen in der Ubersetzung dieser Auffassung des Dichters. (482) H l 5,11. (483-484) H l 4,3. Zu der Übersetzung von pälah hä-rimmon mit Granatapfelblüte vgl. Kom. zu V. 25; zu dem Verständnis von jammäh als flutendes H a a r siehe Ibn Ezras Kom. zu Hl 4,3, Ed. Mathews, 7. (485) H l 7,3. (489) S. hierzu Kom. zu V. 397. (495-496) Ps 19,6. (498) Ps 19,7. (500) Es dürfte misho statt nishö zu lesen sein. Vgl. Rosins Anm. zur Stelle (Reime und Gedichte, 190, Anm. 12) und Egers, Diwan, 143. (501) Js 40,11. (504) Ps 23,2. (505) S. hierzu Kom. zu V. 397.

('Iggärät) H a j ben Meqis

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(506) In bSabbät 156a heißt es: „Wer unter Mars (geboren wurde), wird ein Mann, der Blut vergießt". (509f.) Ares bzw. Mars war der Kriegsgott der Antike. (515) Ps 36,4. (518) N a h 1,2. (520) Ps 37,12. (522-524) Js 5,28. (531) S. hierzu Kom. zu V. 397. Der hebräische Name Jupiters ist sädäq - Gerechtigkeit. Vgl. auch b Sabbät 156a: „Wer unter Jupiter (geboren wurde), wird ein gerechter Mann". (535-536) Js 33,15. (541) D t 16,18. (548) Lv 19,15. (550) Ps 45,7. In der griechischen und römisdien Antike galt der Gott Zeus bzw. Jupiter u. a. als Hüter von Recht und Gesetz. Vgl. auch die Auffassung der IJjwän al-Safä' in: F. Dieterici, DieAnthropologie der Araber, Leipzig 1871, 80. (551) S. hierzu Kom. zu V. 397. (554) Entsprechend der Bewegung des Saturn. (555) Ich lese mit Egers (Diwan, 143) l e häsäd statt w e sohad wie Rosin. (557-558) Js 44,8. (563-564) Js 3,3. (566) Js 3,3. (575) Der Ausdruck w e häkäm dürfte ein späterer Einschub sein (vgl. V. 576). (577f.) Eine Anspielung auf die Saturnringe. (580) Bei den Griechen galt der Gott Kronos ( = Saturn) als verschlagen ('αγκυλομήτης). Vgl. audi V. 571. (585f.) Die Sternbilder. (587-588) Subjekt sind die durch die Sternbilder wandelnden Planeten. Vgl. hierzu F. Dieterici, Die Propädeutik der Araber, Berlin 1865, 63ff. (589) Von hier an sind wieder die Sternbilder bzw. die Gestirne der Fixsternsphäre Subjekt. (594) Ez 1,27. (597) Die äußere Sphäre wird nicht Königtum (bzw. Reidi), sondern schlicht Bereich oder Raum - z e bül genannt, da sie anderer Art ist als die niederen Sphären. (598) Die Ausdrücke tohü und bohü könnten als ein Hinweis auf Materie und Form verstanden werden. In annähernd diesem Sinne werden die Begriffe bereits in einer anonymen Baraita (b IjD»gigäh 12a) gebraucht. A. Altmann hat den Text in seiner Arbeit Gnostic Themes in Rabbinic Cosmology, 19-31, näher untersucht und schreibt zusammenfassend: „We may now consider the definitions of Tohu and Bohu in our Baraita as a whole. Though different in their cosmographical conception and not quite consistent with each other, they convey a fairly clear idea of the relation between Tohu and Bohu in that Tohu denotes the diaotic, hylic element, Bohu the formative, pneumatic. This distinction had a

174

Religionsphilosophische Schriften considerable influence on Jewish mystical speculation." (27; ebd. u. f. Ausführungen zu der Weiterentwicklung dieser Verwendung des Wortpaares im Buche Sahir, § 2, und bei Nachmanides, Korn, zu Gn 1,2.) Sehr klar spricht sich Abraham bar I^ijja für die Auffassung des tohü als Materie und des bohü als Form aus (vgl. Hägjön han-näfas, Ed. Freimann, 2 b - 3 a ) . Abraham ibn Ezra tritt indessen in seinem gäng. Kom. zu Gn 1,2 für ein gleichsinniges Verständnis der Ausdrücke ein. Daß er sie an dieser Stelle in demselben Sinne aufgefaßt wissen will, zeigen die folgenden Verse. Vers 600 - „wie Wüste und Wildnis" scheint eine beabsichtigte Parallele zu Vers 598 zu bilden. (611) An den beiden wichtigsten Stellen, die über die Dreiteilung der Welt handeln, nämlich der Exkurs des Kom. zu Dn 10,21 und der einschlägige Abschnitt des Exkurses des gäng. Kom. zu Ex 3,15, trägt Ibn Ezra unterschiedliche Auffassungen über die Zuordnung der Intelligenzen vor. Nach dem Exkurs des Kom. zu Dn 10,21 gehören sie zur mittleren Welt, über der sich als obere die Welt Gottes erhebt, nach dem Exkurs des gäng. Kom. zu Ex 3,15 bilden sie die obere Welt. Gott wird an dieser Stelle in die Welteinteilung nicht einbezogen. (Vgl. Rosin, Religionsphilosophie, MGWJ 42, 204f.) Die Formulierung des Verses 611 ist unklar. Doch die folgenden Ausführungen legen nahe, daß Ibn Ezra im Haj ben Meqis der letzteren Auffassung folgt.

(617) Js 6,2. (619) Die aufgeführten Engelnamen finden sich alle in der Bibel. Vgl. zu Cherubim Gn 3,24; Ps 18,11; Ez 1 0 , 2 - 2 2 ; zu Seraphim Js 6,2.6; zu Sthinanim Ps 68,18 mit Ibn Ezras Kom. zu dieser Stelle; zu Ophannim Ez l,15ff. u. 10,9ff. Im 7. Kapitel des hebräischen Henochbuches tauchen sie zusammen auf: „Gott trug midi auf den Windesflügeln der Schechina zum obersten Himmel . . . , wo der Thron der Schechina und die Märkabah sind, die Scharen des Zorns und die Heere des Grimms, die Schinanim des Feuers, die Cherubim der Flammenfackel, die Ophannim der feurigen Kohle, die Diener der Flamme, die Haschmalim des Blitzes und die Seraphim des Blitzes ..." (3 Enoch, or The Hebrew Book of Enoch, Edited by Hugo Odeberg, Cambridge 1928, 13 [hebr.]; s. audi Scholem, Die jüdische Mystik, 72f.). (62If.) Der Ort der Intelligenzen (Engel im engeren Sinne) ist auch der Ort der menschlichen (Geist-) Seelen. (623) Gn 28,17. (625-626) Ex 3,5. (635-636) Vgl. Koran 17,111. (637) Q o h 4,8. (644-647) 1 Chr 29,llf. Die Attributenliste ist in der Dichtung jedoch umgestellt und ergänzt. (649) Js 45,7. (650-651) Ps 18,32. (653) Js 40,28. (660f.) Das Sonnengleichnis findet sich bereits in Piatons Staat, VII, Anfang. Vgl. auch ](im) 40 48—51 56 77 po'al, pe'älim 74 qädos, qedoSim 101 qadm6n(im) 169 179f. 187 qädüm 169 qodää 93 125 qäsäh, q e säwöt 106 126 ra' 60 rä'sim 126 r e 'äjot g e mür6t (sä'en bähäm säfeq) 75 ruah / rühäni 22 61ff. 67 71 82 89 108 — 'äljönäh 85f. 95 rüah hokmäh 127 säbä' 22 54 58 90ff. sädäq 173 säläm 63 sämäiS 37 94

III.

säfeq 191 sämajim 56 92 sar hap-pänim / sar gädöl 95 97 s e firäh/0t 22 sekäl, säkäl 61 125 sem (han-nikbäd) 39 49 56 68 73ff. 78 80 83 95 179 s e najim 100 s e räfim 70 sibbat ha-hajjim bä-'ärä? 92 iSin'ämm 71 sod 22 30 39 73 76 191 Soräsim ('arbä'äh) 68 sulläm la'alöt 68 81 83 süräh 13 22 54 56 68 70 74 81 83 lOlff. sürot 'ämät 4 54 65 71 f. 85 89f. 92 94 96 100—103 taw (kol däbär) 178 t e hijjat ham-metim 73 t e kunäh s. hokmat hat-t e künäh t'nüdäh 61 t e subäh/ot 52 tiqqun 56 to'ar 22 tob 60 tob küllö 78 tohü wäbohu 13 56 173f. töräh 39f. 48f. 55 191 torat 'älohim 66 z'bül 125 173

SCHRIFTSTELLEN

Gn 1,1: 30 55—58 84 90 92f. 95 97 100; 1,2: 174; 1,14: 120; 1,21: 56; 1,26: 63 69f. 80; 1,27: 56; 2,1: 92; 3,6: 63 67 91; 3,12: 63; 3,21:120; 3,24:120 174; 4,1:60 71f.; 4,5:171; 4,6:171; 7,3:60 62; 8,22:46; 12,16:170; 18,7:56; 24,31:171; 26,5:191; 28,12:105 111 123; 28,17:174; 32,28:166; 33,10:46; 41,45:171; 43,20:168; 47,9:169 Ex 3,2:59; 3,5:174; 3,13:54; 3,15:28 54 58 63 68 87f. 90 93 97 99f. 120 125 174; 14,19:95 97; 19,20:28; 20,2:36 75; 20,14: 172; 23,20:64 84 90—93;

23,25:60 62; 25,40:59 101 107 120; 25 (Ende):24; 28,17:171; 28,17—21: 166; 28,30:166; 31,1—11:172; 31,18: 74 107; 33,11:77f.; 33,13:74f.; 33,17 bis 23:78; 33,18:77; 33,19:78f.; 33,21: 77—80 82f. 95 97f. 110; 33,22:79 83; 33,23:78—81 83 102 105; 34,6: 171; 35,30—35:172 Lv 8,8:166; 18,5:69; 19,15:173; 19,20: 190f. N m 12,8:77; 13,23:170; 13,32:169; 16,26: 167; 16,30:56; 26,53:169

Schriftstellen Dt 1,13:172; 6,7:74; 10,17:93; 13,9:168; 16,18:173; 28,29:169; 29,22:171; 33,4: 189; 33,17:170; 33,25:171; 34,7:166 Jos 1,18:187 1 Sm 17,58:166 2 Sm 6,16:172 1 Kg 1,47:166; 5,3:170; 19,11:171 Js 3,3:173; 3,9:167; 5,28:173; 6,2.6:174; 7,4:171; 22,18:171; 30,26:56; 33,15: 173; 38,18:73; 40,11:172; 40,28:174; 40,31:172; 43,2:171; 43,7:56f.; 44,8: 173; 45,7:174; 45,18:55; 48,18:166; 65,18:57 Jr 4,23:56; 11,20:168; 12,7:165; 17,8:170; 20,12:168 Ez 1,15:174; 1,27:173; 2,2:171; 3,24:171; 10,2—22:174; 10,9:174; 23,47:56; 27,12:171; 34,6:169 Hos 6,3:20 73 105 Jon 1,8:166 Nah 1,2:173 Ps l , l f f . : 6 6 ; 1,3:66 72; l,6:95f.; 6,4: 171; 8,8:170; 16,8:83; 17,12:167; 17,15:179; 18,11:174; 18,32:174; 19,6: 172; 19,7:172; 19,8:191; 22,21:65 88 94 166; 23,2:172; 35,17:166; 36,4: 173; 36,5:167; 37,12:173; 37,30:166; 45,7:173; 46,4:171; 49,16:86f. 94 96f.; 55,7:168; 55,23:168; 65,11:170; 68,17: 171; 68,18:174; 73,24:87 92 97; 82,1:

225

93; 82,6:93; 83,15:167; 86,6:175; 91,10:171; 95,4:27; 103,21:90; 104,12: 170; 104,34:71; 123,1:175; 130,2:175; 136,2:93; 136,4:175; 139,12:170; 139,18:83 86; 143,10:85 95; 148,Iff.: 58; 148,2:90 171; 148,5:91; 148,6:54; 150,6:86 94 Spr 1,4:166; 1,9:168; 1,15:168; 1,16:167; 3,3:168; 3,26:166; 4,22:168; 5,16:170; 5,17:168; 6,3:168; 6,14:167; 6,27f.: 167; 7,26f.:168; 8,9:166; 8,7.6:165; 8,22:55; 8,30:166; 26,25:168; 27,5:51; 27,22:167; 30,15:167 Job 25,2:59f.; 28,16:171; 34,2:165; 36,11: 168; 37,18:171; 38,7:90; 38,14:169; 38,23:171; 41,8f.:171; 41,9:169 Hl 1,3:166; 1,4:168; 1,6:165; 2,3:166; 2,13:171; 2,17:168; 4,2f.:172; 4,3:166; 4,6:168; 4,15:172; 5,11:172; 5,12:166; 5,16:166; 6,7:166; 6,11:170; 7,3:172; 7,13:170; 7,14:170f.; 8,11:166 Qoh 1,8:167; 3,7:60f.; 3,12:91; 4,8:174; 7,3:62 85; 7,9:170; 7,12:68; 7,13:108; 7,24:189; 7,26:167; 9,11:170; 9,15: 170; 12,10:87 Est 1,6:171; 4,11:188 Dn 2,11:65 82 94 100; 3,31:166; 6,26:166; 9,2:36; 10,21:58 67 88—91 93 100 120 174f.; 11,2:28; 12,1:95 97 175 1 Chr 28,9:73 75; 29,11:174

w DE

G

Walter de Gruyter Berlin-Newark Studia Judaica Forschungen zur Wissenschaft des Judentums Herausgegeben von Ernst Ludwig Ehrlich

Paul Winter

On the Trial of Jesus 2., überarbeitete Auflage. Herausgegeben von Τ. Α. Burkiii und G. Vermes Groß-Oktav. Etwa 256 Seiten. 1973. Ganzleinen etwa DM 48,— ISBN 3 11 002283 4 (Band 1)

Midiael Avi-Yonah

Gershom Scholem

Geschichte der Juden im Zeitalter des Talmud In den Tagen von Rom und Byzanz Groß-Oktav. XVI, 290 Seiten. 1962. Ganzleinen DM 38,— ISBN 3 11 001344 4 (Band 2)

Ursprung und Anfänge der Kabbala Groß-Oktav. X I , 434 Seiten. 1962. Ganzleinen DM 48,— ISBN 3 11 001345 2 (Band 3)

Abraham Schallt

König Herodes

Arnold M. Goldberg

Untersuchungen über die Vorstellung von der Schekhinah in der frühen rabbinischen Literatur

Der Mann und sein Werk Groß-Oktav. XVI, 890 Seiten. Mit 1 Frontispiz, 8 Bildtafeln, 4 Karten und 1 Stammtafel in Tasche. 1969. Ganzleinen DM 148,— ISBN 3 11 001346 0 (Band 4) Die Übersetzung der hebräischen Originalfassung des Werkes wurde von Jehoschua Amir besorgt.

Talmud und Midrasch Groß-Oktav. XII, 564 Seiten. 1969. Ganzleinen DM 72,— ISBN 3 11 001347 9 (Band 5)

Chanoch Albedk

Einführung in die Mischna Aus dem Hebräisdien übersetzt von T. und P. Galewski Groß-Oktav. VIII, 493 Seiten. 1971. Ganzleinen DM 68,ISBN 3 11 006429 4 (Band 6)