Studien zu alttestamentlichen Texten und Themen (1966-1972) [Reprint 2018 ed.] 3110084996, 9783110084993

The series Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft (BZAW) covers all areas of research into the

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Studien zu alttestamentlichen Texten und Themen (1966-1972) [Reprint 2018 ed.]
 3110084996, 9783110084993

Table of contents :
Vorbemerkung
Inhaltsverzeichnis
I. Texte
Die Ladeerzählung
Wandlungen Jesajas
Stellvertretung Und Schuldopfer In Jes 52 13–53 12
Vollmacht Über Völker Und Königreiche (Jer 46–51)
Micha 1
Die Sprüche Obadjas
Kritik An Tempel, Kultus Und Kultusausübung In Nachexilischer Zeit
Die Israelitischen Propheten In Der Samaritanischen Chronik II
II. Themen
Israels Haltung Gegenüber Den Kanaanäern Und Anderen Völkern
Zur Einwirkung Der Gesellschaftlichen Struktur Israels Auf Seine Religion
Weltbewältigung Und Weltgestaltung
Priester Und Prophet – Amt Und Charisma?
Die Familiengemeinschaft
Krankheit Im Lichte Des Alten Testaments
Das Geschick Des Menschen Nach Dem Tode Im Alten Testament
Zweifache Aspekte Hebräischer Wörter
Quellenverzeichnis
Register Der Bibelstellen

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Georg Fohrer Studien zu alttestamentlichen Texten und Themen

Georg Fohrer

Studien zu alttestamentlichen Texten und Themen (1966-1972)

w DE

G

Walter de Gruyter • Berlin New York 1981

Beiheft zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft Herausgegeben von Georg Fohrer 155

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Fohrer, Georg:

Studien zu alttestamentlichen Texten und Themen : (1966—1972) / Georg Fohrer. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1981. (Beiheft zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft ; 155) ISBN 3-11-008499-6 N E : Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft / Beiheft ; Fohrer, Georg : [Sammlung]

© 1981 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung - J.Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Übersetzung, der Herstellung von Mikrofilmen und Photokopien, auch auszugsweise, vorbehalten. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

Der Society of Biblical Literature für die Verleihung der Honorary Membership im Jahre 1972 mit Dank zugeeignet

Vorbemerkung Die in diesem Sammelband vereinigten Studien sind, sofern sie bereits veröffentlicht worden waren, in gewissem Maße überarbeitet, manchmal gekürzt oder erweitert und, soweit erforderlich, geändert worden. Die seit der Erstveröffentlichung erschienene Literatur wurde weitgehend berücksichtigt. Nach der Bearbeitung ist die jetzige Fassung der Studien und nicht mehr diejenige der Erstveröffentlichung maßgeblich. Zwei weitere Studien, die bisher unveröffentlicht waren, wurden ebenfalls aufgenommen. Für die Hilfe bei der Herstellung des Manuskripts schulde ich Frau Isolde Weinicke in Erlangen meinen Dank, der auch an dieser Stelle ausgesprochen sei. Jerusalem, im Mai 1980

Georg Fohrer

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung

VII I. TEXTE

Die Ladeerzählung 3 Wandlungen Jesajas 11 Stellvertretung und Schuldopfer in Jes 52 13—53 12 24 Vollmacht über Völker und Königreiche (Jer 46—51) 44 Micha 1 53 Die Sprüche Obadjas 69 Kritik an Tempel, Kultus und Kultusausübung in nachexilischer Zeit. . 81 Die israelitischen Propheten in der samaritanischen Chronik II . . . 96 II. THEMEN

Israels Haltung gegenüber den Kanaanäern und anderen Völkern . . Zur Einwirkung der gesellschaftlichen Struktur Israels auf seine Religion Weltbewältigung und Weltgestaltung Priester und Prophet — Amt und Charisma? Die Familiengemeinschaft Krankheit im Lichte des Alten Testaments Das Geschick des Menschen nach dem Tode im Alten Testament . . . Zweifache Aspekte hebräischer Wörter

107 117 132 149 161 172 188 203

Quellenverzeichnis Register der Bibelstellen

210 211

I. Texte

Die Ladeerzählung I. Die Lade hat in der vorstaatlichen Zeit Israels und in der frühen Königszeit Judas eine wichtige Rolle gespielt. Obwohl man annehmen müßte, daß genauere Angaben über die Lade möglich sind, ist die Überlieferung über sie so spärlich, daß die Ansichten über ihre Herkunft und ihre Bedeutung weit auseinandergehen1. Dies hängt vor allem damit zusammen, daß nur wenige Erwähnungen der Lade geschichtlich gesichert sind. Nur viermal tritt sie eindeutig ins Licht der Geschichte. Einmal wurde sie beim Durchzug der Israeliten durch den Jordan mitgeführt und wirkte nach späteren Darstellungen ein ähnliches Wunder wie Jhwh bei der Rettung aus Ägypten am Meer (Jos 3f.). Später wurde sie aus dem Tempel von Silo in das israelitische Heerlager geholt, fiel aber bei der Niederlage der Israeliten in die Hände der Philister und geriet bei diesen allmählich in Vergessenheit (I Sam 4 1 — 7 l). Sodann holte David die Lade nach Jerusalem, nachdem er die Philister besiegt und Jerusalem erobert hatte (II Sam 6). Schließlich überführte Salomo sie in den von ihm errichteten Tempel (I Reg 8). Darüber hinaus läßt sich der Uberlieferung nicht viel entnehmen. Denn die Tradition, daß die Lade zur Zeit Moses am Sinai hergestellt worden sei (Ex 37 l ff. Dtn 10 l f f . ) , ist jungen Datums und den alten Quellenschichten des Pentateuchs unbekannt. Auch aus der Wanderungszeit der Moseschar stammt die Lade nicht. Denn einerseits war das mit ihr in keinerlei Zusammenhang stehende Offenbarungszelt das mosaische Wanderheiligtum2, andererseits sind Num 10 33 b und die angeblichen Ladesprüche Num 10 35 f. spätere Einschübe in den Text und Num 14 44b ein Zusatz zum Text3. Sogar das Vorkommen der Lade in der Erzählung vom Durchzug durch den Jordan ist umstritten; doch ist die Lade in dieser Erzählung fest verankert, so daß ihre Erwähnung nicht eliminiert werden kann. Ferner finden sich im Alten Testament verschiedene Bezeichnungen für die Lade, die geeignet sind, Verwirrung zu stiften. Die wichtigsten Bezeichnungen, deren folgende Aufzählung keineswegs vollständig ist, lauten: '"ron (ha-)'alohim »Elohimlade, Gotteslade«; '"ron '"lohe jisfael »Lade des Gottes Israels«; 'arön jhwh oder mit Zusätzen zum Namen Jhwh »Jhwh-

1

Vgl. im einzelnen G . Fohrer, Geschichte der israelitischen Religion, 1969, 9 9 f .

2

Vgl. auch R. Schmitt, Zelt und Lade als Thema alttestamentlicher Wissenschaft, 1972.

3

Vgl. J. Maier, Das altisraelitische Ladeheiligtum, 1965.

4

I. Texte

Lade«; ,arön berit jhwh o . ä . »Lade des Gesetzes Jhwhs« o.a. (da berit in diesem Zusammenhang auf solche Weise wiedergegeben werden muß); ,a ron ha-edüt »Gesetzeslade«. Doch lassen sich diese Bezeichnungen wenigstens teilweise geschichtlich einordnen und damit zeitlich bestimmen. So ist die Bezeichnung "VOM berit jhwh »Lade des Gesetzes Jhwhs« für die deuteronomische und deuteronomistische Literatur, die Bezeichnung 'arön ha-edüt »Gesetzeslade« für die priesterschriftliche Literatur charakteristisch. Dennoch hat man das Vorkommen der Bezeichnungen verschieden gedeutet. Am wichtigsten scheinen folgende Auffassungen zu sein: 1. Die Lade hat zwar mehrere Bezeichnungen, doch ist dies ohne besondere Bedeutung. Gegen diese Auffassung spricht: a) Das Vorkommen verschiedener Bezeichnungen für denselben Gegenstand oder dieselbe Erscheinung hat stets eine Bedeutung, wie das Vorkommen unterschiedlicher Bezeichnungen in den Quellenschichten des Pentateuchs zeigt, b) II Sam 6 2 berichtet über eine Umbenennung der Lade, die in der Zeit Davids erfolgt ist, und zeigt damit, daß verschiedene, sich ablösende Bezeichnungen bestanden haben, c) Innerhalb der Ladeerzählung weisen einzelne Abschnitte, wie die Analyse in II. zeigen wird, nicht nur verschiedene Ladebezeichnungen, sondern auch einen unterschiedlichen Erzählstil und sachliche Unterschiede auf. Dies weist darauf hin, daß die Ladebezeichnungen verschiedenen Uberlieferungsschichten angehören. 2. Man kann ferner annehmen, daß die verschiedenen Bezeichnungen der Lade innerhalb der Ladeerzählung damit zusammenhängen, daß die Quellenschichten J und E über den Pentateuch bzw. Hexateuch hinaus in den Samuelbüchern fortgeführt werden. Dagegen spricht: a) In der Ladeerzählung finden sich mehr als nur zwei Bezeichnungen für die Lade, so daß man mit der Aufteilung auf zwei Quellenschichten nicht auskäme, b) In den Samuelbüchern werden die Quellenschichten, die sich im Pentateuch bzw. Hexateuch voneinander abheben lassen, überhaupt nicht fortgesetzt; es fehlen alle charakteristischen Kennzeichen für sie 4 . 3. Man kann außerdem annehmen, daß die verschiedenen Bezeichnungen der Lade auf das Vorhandensein mehrerer Laden nacheinander hinweisen, die in der älteren Zeit, in der Zeit Josias und in der nachexilischen Zeit bestanden hätten 5 ; in der älteren Zeit habe es die Elohimlade gegeben. Dagegen spricht: a) Schon in der Ladeerzählung finden sich mehrere Bezeichnungen, so daß man diese entweder anders bewerten oder schon für die Frühzeit das Vorhandensein von mehreren Laden annehmen müßte, b) Jedoch ist von anderen Laden, die zur Zeit Josias oder in der nachexilischen Zeit angefertigt worden wären, im Alten Testament keine Rede. A m ehesten wird den verschiedenen Bezeichnungen die Annahme gerecht, daß in der Ladeerzählung mehrere Erzählungsschichten vorliegen, 4

Vgl. ferner G . Fohrer, Einleitung in das Alte Testament, 1 9 7 9 1 2 , 2 1 0 f .

5

J . Gutmann, The History of the A r k , Z A W 83 (1971), 2 2 - 3 0 .

Die Ladeerzählung

5

die verschiedene Bezeichnungen verwendet haben und verschiedenen geschichtlichen Situationen entstammen. Andere Bezeichnungen lassen sich der deuteronomisch-deuteronomistischen oder der priesterschriftlichen Literatur zuweisen. Für die Herleitung von mehreren Erzählungsschichten aus verschiedenen geschichtlichen Situationen spricht vor allem der ausdrückliche Hinweis auf die Umbenennung der Lade in II Sam 6 2: »David machte sich mit all den Leuten, die bei ihm waren, auf nach 'Baala' in Juda, um von dort die Elohimlade hinaufzubringen, die c dort' benannt wurde nach dem Namen des Jhwh Zebaot, der auf den Keruben sitzt«. Diese Notiz zeigt, daß die Lade zunächst als Elohimlade bzw. als Gotteslade bezeichnet worden ist und daß David sie vor der Uberführung nach Jerusalem nach Jhwh benannt hat, so daß sie von da an in verkürzter Redeweise als Jhwh-Lade bezeichnet werden konnte. Schon daran zeigt sich, daß die Ladeerzählung vielleicht geeignet ist, einiges Licht auf die Fragen um die Lade zu werfen. II. Zur Ladeerzählung gehören nach einer weithin geteilten Auffassung I Sam 4 1 — 7 l und II Sam 6. O b auch II Sam 7 oder ein Teil davon zur Ladeerzählung zu rechnen ist, muß vorerst offen bleiben 6 . In den genannten Abschnitten weist die Lade verschiedene Bezeichnungen auf, die eine unschätzbare Hilfe für die Analyse der Erzählung bieten. A m wichtigsten sind die Bezeichnungen »Elohimlade (Gotteslade)«, »Lade des Gottes Israels«

6

Die Ansichten über die Ladeerzählung sind keineswegs einhellig. Nach F. Schickiberger, Die Ladeerzählungen des ersten Samuel-Buches, 1973, liegt I Sam 4 eine Katastrophenerzählung zugrunde, die nicht als wirkliche Ladeerzählung verstanden werden kann; erst der Grundbestand von I Sam 5 gehört zu einer solchen, während II Sam 6 keine ursprüngliche Beziehung zu I Sam 4—6 hat. Nach H . J . Stoebe, Das erste Buch Samuelis, 1973, ist I Sam 4 ein Stück der Siloüberlieferung, die die Grundlage von I Sam 1 — 3 bildet; I Sam 5—6, die inhaltlich nicht völlig einheitlich sind, verstehen sich am besten als Erweiterungen aus einem reichlich vorhandenen Material von Einzelüberlieferungen. Nach P. R . Davies, The History of the Ark in the Books of Samuel, J N S L 5 (1977), 9 - 1 8 , war das ursprüngliche Thema der Überlieferung die Verwirklichung der Unheilsankündigung gegen Eli in I Sam 3; das Thema des Verlustes der Lade ist durch redaktionelle Erweiterung eingefügt worden. Nach A . F. Campbell, The Ark Narrative (I Sam 4 - 6 ; II Sam 6), 1975, hat es ursprünglich zwar eine Ladeerzählung als unabhängige literarische Einheit gegeben; die Interpretation aber hat sie aus dieser Begrenzung herausgenommen und in den weiteren Kontext des Mißerfolgs und der Verwerfung des Alten und der Wahl und des Erfolgs des Neuen eingerückt. Und P. D. Miller, J r . , and J . J . Roberts, The Hand of the Lord: A Reassessment of the » A r k Narrative« of 1 Samuel, 1977, wollen gar zeigen, daß nicht die Lade, sondern J h w h den zentralen Platz in der Erzählung einnimmt und daß deren Thema die göttliche Kontrolle der Geschichte ist, da J h w h (und nicht die Philister oder ihre Götter) das Geschick Israels bestimmt.

6

I. Texte

und »Jhwh-Lade«. Versucht man aufgrund dieser Bezeichnungen die Ladeerzählung auf verschiedene Überlieferungsschichten aufzuteilen, so ergibt sich ein verhältnismäßig klares Bild. Nur die Ladebezeichnungen in I Sam 4 3-5 verwirren das Bild. Denn in diesen Versen wird die Lade mehrfach nach der berit Jhwhs benannt. Doch liegt in diesen Fällen eine spätere Überarbeitung des Textes anhand der deuteronomisch-deuteronomistischen Ladebezeichnung vor. Dies zeigt schon ein Blick auf die Septuaginta, die davon abweichende Bezeichnungen hat. Daß die Septuaginta darin einer besseren Tradition als der masoretische Text folgt, ergibt sich aus einem Vergleich der beiden Versionen in I Sam 4 l - 4 . In diesem Teil des Textes ist die Septuaginta dem masoretischen Text eindeutig überlegen und ihm vorzuziehen. Die Überprüfung von I Sam 4—5 läßt erkennen, daß teilweise die Rede von der Elohimlade (Gotteslade) ist. Läßt man zunächst den Abschnitt beiseite, der sich auf die Eliden bezieht, weil die Ladeerzählung außerhalb dieses Abschnittes keinerlei Verbindung zu I Sam 1—3 aufweist 7 , so bleiben für einen alten Ladebericht die Sätze in I Sam 4 i b - 4 a . 10—11 a 5 1 - 2 und der Anfang von 5 10 übrig. Diese Verse haben kurz, nüchtern und sachlich über die Lade berichtet. Ein eigenes Stück bildet I Sam 4 5-9, das über das Eintreffen der Lade im israelitischen Heerlager berichtet. In ihm heißt die Lade »Jhwh-Lade«, die Israeliten werden jedoch anders als im übrigen Text »Hebräer« genannt. Ebenfalls einen eigenen Abschnitt bildet die Eliden-Erzählung in I Sam 4 4b. Ii b—22. In diesem Abschnitt heißt die Lade »Elohimlade (Gotteslade)« wie im Ladebericht. Der Text erweist sich aber deutlich als eine spätere Erweiterung in Anschluß an I Sam 2 34. Die Anekdote über die Lade im Dagontempel in I Sam 5 3-5 weist die Bezeichnung »Jhwh-Lade« auf. Der Text stellt im wesentlichen eine ätiologische Erzählung dar, die das Nichtbetreten der Tempelschwellen beim Dagontempel in Asdod erklären soll. Der nächste Abschnitt handelt vom Aufenthalt der Lade in den Städten Asdod, Gat und Ekron. Er liegt in I Sam 5 6-9. 10*. 11-12 vor. Die Erzählung, die man vom Inhalt her als »Geschwürlegende« bezeichnen kann, nennt die Lade »Lade des Gottes Israels« und verwendet damit eine sonst in der Ladeerzählung nicht mehr vorkommende Bezeichnung. In I Sam 6 l —7 l wird die Lade wieder als »Jhwh-Lade« bezeichnet. Die Erzählung setzt zudem eine andere Plage voraus als der vorhergehende Abschnitt, die sich ferner nicht auf die Hauptstädte der Philister beschränkt, sondern ihr ganzes Gebiet befallen hat. Sie will außerdem vom Abschieben der Lade durch die Philister auf judäisches Gebiet erzählen, ohne jedoch zu berücksichtigen, daß die angeblich judäischen Städte Bet Schemesch und

7

H . W. Hertzberg, Die Samuelbücher, 1956, 32f.

Die Ladeerzählung

7

Kirjat Jearim erst in der Zeit Davids durch dessen Eroberungen zu Juda gekommen sind 8 . In ähnlicher Weise folgen in II Sam 6 verschiedene Ladebezeichnungen in den einzelnen Abschnitten nacheinander: v. v. v. v. v.

1-8 9-11 12 13-19 20ff.

»Elohimlade (Gotteslade)«, »Jhwh-Lade«, »Elohimlade (Gotteslade)«, »Jhwh-Lade«, keine Ladebezeichnung.

Doch wird dieses anscheinend klare Bild dadurch getrübt, daß die Uberlieferung mancherlei Verwirrungen aufweist: a) II Sam 6 3ff. geht vom Aufenthalt der Lade im Hause Abinadabs aus wie I Sam 7 1. In I Sam 7 1 ist aber von der »Jhwh-Lade« die Rede, in II Sam 6 3 ff. dagegen von der »Elohimlade (Gotteslade)«, b) 6 4-8 enthält im Zusammenhang mit Abinadabs Sohn Uzza eine Ätiologie, wie sie dem ursprünglichen Ladebericht fremd ist; jedenfalls scheint der Ladebericht derartige Ätiologien nicht enthalten zu haben. Zudem ist der Text dieser Ätiologie besonders schlecht überliefert, und er setzt nicht wie 6 l f. nur eine Gruppe von »Auserwählten« zur Einholung der Lade voraus, sondern erwähnt das ganze Haus Israel (v. 5). c) 6 9ff. (»Jhwh-Lade«) und 6 12 (»Elohimlade bzw. Gotteslade«) sprechen beide vom Aufenthalt der Lade im Hause des Obed Edom. d) 6 16. 20ff. bilden eine Michal-Ätiologie, die die Kinderlosigkeit der Michal erklären soll, e) 6 12 und 6 19 bilden jeweils einen eigenen Erzählungsabschluß und können nicht nebeneinander bestanden haben. Eine Lösung der sich daraus ergebenden Schwierigkeiten kann in folgender Richtung gesucht werden: a) Der Ladebericht hat eine Notiz über den Aufenthalt der Lade in Baala enthalten, die weggefallen ist, jedoch in II Sam 6 1-2 vorausgesetzt wird, b) Der Ladebericht hat ferner eine Notiz darüber enthalten, warum die Lade von dort in das Haus des Obed Edom gebracht worden ist, die ebenfalls nicht erhalten ist. c) Der Ladebericht hat sodann nach II Sam 6 12 die Uberführung der Lade nach Jerusalem berichtet und scheint damit geendet zu haben, d) Im Anschluß an II Sam 6 1-2 hat ein anderer Erzähler, der ebenfalls die Bezeichnung »Elohimlade (Gotteslade)« verwendet, die »Uzza-Ätiologie« erzählt, e) Ein »Jhwh-Lade«Erzähler hat die Notiz über den Aufenthalt der Lade im Hause des Obed Edom gestaltet, ebenso den Bericht über den Einzug der Lade in Jerusalem in II Sam 6 13 ff. f) Die Michal-Ätiologie stellt eine eigene kleine Erzählung dar. Dagegen erweist sich II Sam 7 bei näherer Untersuchung nicht als ursprünglicher Bestandteil der Ladeerzählung oder des alten Ladeberichts. Ja, der Abschnitt ist nicht einmal in sich einheitlich, sondern im Laufe der Zeit 8

Vgl. mit archäologischem Nachweis K.-D. Schunck, Benjamin, 1963, 99f.

8

I. Texte

aus mehreren Teilen zusammengewachsen und mehrfach bearbeitet worden. Zwar findet sich in 7 2 die Bezeichnung »Elohimlade (Gotteslade)«, aber in 7 l - 3 ist nicht von »David«, sondern von dem »König« und in 7 5 von »meinem Knecht David« die Rede. Außerdem findet sich in 7 6 eine Bezugnahme auf den Exodus wie in der »Jhwh-Lade«-Schicht der Ladeerzählung (I Sam 4 8 6 6). Daher kann II Sam 7 1-7. 17, das von der Verhinderung des geplanten Tempelbaus durch David erzählt, höchstens in einer späteren Bearbeitung einen sekundären Abschluß der Ladeerzählung gebildet haben. Im weiteren Verlauf der Uberlieferung ist dieser kurze Abschnitt jedoch wieder von der Ladeerzählung gelöst und zunächst mit II Sam 7 IIb-16, der Verheißung ewiger Dauer für die davidische Dynastie, verbunden worden. In weiteren Stadien der Bearbeitung sind 7 8 - l l a und der in sich wieder zusammengesetzte Abschnitt 7 1 8 - 2 9 hinzugefügt worden. Für den ursprünglichen Ladebericht und für die Ladeerzählung kann II Sam 7 deshalb außer Betracht bleiben. III. Zum ursprünglichen Ladebericht gehören: I Sam 4 l b - 4 a . 10—11a 5 1-2. 10* II Sam 6 1-2. 12: I Sam 4 l \ . ,' a 'Es geschah in jenen Tagen, daß sich die Philister gegen Israel zum Kampf sammelten' b , und Israel zog 'ihnen entgegen'0 in den Kampf und lagerte sich bei 'Eben' d ha-Ezer, während die Philister sich bei Aphek gelagert hatten. 2 Die Philister stellten sich gegenüber Israel auf; der Kampf 'breitete sich aus' e , und Israel unterlag den Philistern, die in der Schlachtreihe auf dem Feld etwa 4000 Mann erschlugen. 3 Als das Volk ins Lager gekommen war, sprachen die Ältesten Israels: Warum hat uns Jhwh heute den Philistern unterliegen lassen? Wir wollen die Lade 'unseres Gottes'* aus Silo zu uns holen, damit er in unsere Mitte kommt und uns aus der Gewalt unserer Feinde rettet. 4a So schickte das Volk nach Silo, und man trug von dort die 'Gottes'lade 6 herbei. 10 Da kämpften die Philister, Israel aber unterlag und floh, ein jeder in sein Zelt. Der Schlag war sehr groß; von Israel fielen 30 000 Mann Fußvolk, 11 a und die Gotteslade "wurde genommen. 5 1 Die Philister nahmen die Gotteslade und brachten sie von Eben ha-Ezer nach Asdod. 2 Dann nahmen die Philister die Gotteslade, brachten sie in den Dagontempel und stellten sie neben Dagon hin. 10* Dann schickten sie die Gotteslade nach Ekron. Und als die Gotteslade in Ekron ankam . . ,h II 6 l Da versammelte David" alle Auserwählten in Israel, 30000, 2 und David machte sich mit all den Leuten, die bei ihm waren, auf nach 'Baala' k in Juda, um von dort die Gotteslade hinaufzubringen, die 'dort' 1 benannt wurde nach dem Namen des Jhwh Zebaot, der auf den Keruben sitzt . . . m 12 Als man dem König David meldete: Jhwh hat das Haus des Obed Edom und seinen ganzen Besitz um der Gotteslade willen gesegnet, da zog

Die Ladeerzählung

9

David hin und holte die Gotteslade aus dem Haus des Obed Edom mit Freude in die Davidstadt. ' » U n d das W o r t Samuels erging an ganz Israel« ist mit L X X wegzulassen. — b So ist mit L X X der A n f a n g des Ladeberichts zu ergänzen, der im M T wegen des Satzes a weggelassen w o r d e n ist. — c D e r A r t i k e l v o r dem ersten Teil des Namens ist falsch. — e Es ist wättinnafes an Stelle v o n »sich selbst überlassen, aufgeben« zu lesen. — ' So mit L X X an Stelle v o n »Lade des Gesetzes J h w h s « in M T . — 6 Entsprechend dem sonstigen G e b r a u c h im Ladebericht ist so an Stelle v o n M T »Lade des Gesetzes des J h w h Zebaot, der auf den K e r u b e n sitzt« und L X X »Lade J h w h s , der auf den K e r u b e n sitzt« zu lesen. — h D e r Rest des Satzes ist zugunsten der Darstellung der »Geschwürlegende« weggefallen. — ' 'od ist z u r V e r k n ü p f u n g mit dem K o n text eingefügt w o r d e n . — k So ist an Stelle v o n »von Baale« zu lesen. — 1 So ist an Stelle des ersten sem zu lesen, das L X X weggelassen hat. — m Ein Teil des Berichts ist zugunsten der folgenden U z z a - Ä t i o l o g i e weggelassen w o r d e n .

Aus diesem Bericht ergibt sich zunächst, daß er keine Verbindung zu I Sam 1—3 aufweist und daher ursprünglich unabhängig von ihm gewesen ist. Sogar die Verbindung zu früheren Ereignissen bleibt außer acht; man hat entgegen den Erzählungen des Richterbuches den Eindruck, als komme es jetzt zum ersten Mal zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Israeliten und Philistern. Dies alles zeigt, daß der Bericht ursprünglich nicht in den Zusammenhang einer größeren geschichtlichen Darstellung gehört hat, sondern über ein Einzelgeschehen, das mit der Lade zusammenhängt, berichten wollte. Ferner zeigt sich, daß die Lade ihren Standort in Silo am dortigen Jhwh-Heiligtum hat. Sie heißt zwar »Elohimlade (Gotteslade)«, ist aber mit Jhwh verbunden. Doch legt die Bezeichnung »Elohimlade (Gotteslade)« die Annahme nahe, daß sie nicht von vornherein zu Jhwh in Beziehung gestanden hat. Erst recht hat sie nicht den Kultgegenstand einer israelitischen Amphiktyonie gebildet, da die Annahme höchst unwahrscheinlich ist, daß es jemals eine derartige Institution in Israel mit Silo als zentralem Heiligtum gegeben hat 9 . Vielmehr stellt die Lade einen israelitischen Kultgegenstand aus vormosaischer Zeit dar, der nach Jos 3 f. und 6 von den einwandernden mittelpalästinischen Stämmen (Ephraim, vielleicht Benjamin und Manasse) nach Palästina mitgebracht und dort zu einem späteren Zeitpunkt zu einem Jhwh geheiligten Gegenstand gemacht worden ist. In der Zeit des Ladeberichts ist die Lade mit Jhwh verbunden; denn mit ihr erwartet man Jhwh als Helfer im Kampf. Sie ist keine Repräsentation Jhwhs und kein Kriegspalladium, wohl aber ein Unterpfand der göttlichen Hilfe. Als solches Unterpfand wird sie als ultima ratio ins Heerlager geholt. Nach der Niederlage wird die Lade von den Philistern erbeutet und wandert sodann als Beutestück durch die philistäischen Hauptstädte. Genannt werden im Ladebericht noch Asdod und Ekron. Als Endstation setzt 9

Vgl. G . F o h r e r , A l t e s Testament — » A m p h i k t y o n i e « und » B u n d « ? , in: Studien z u r alttestamentlichen Theologie und Geschichte ( 1 9 4 9 - 1 9 6 6 ) , 1 9 6 9 , 8 4 - 1 1 9 .

10

I. Texte

II Sam 6 2 die Ortschaft Baala voraus. In alledem wird schonungslos und nüchtern dargestellt, wie die Lade entgegen den hochgespannten Erwartungen der Israeliten an die Philister verlorengeht. Auch ihr unrühmliches Geschick bei den Philistern wird nicht übergangen. Eine Wendung und damit eine Aufwertung der Lade erfolgt erst im Zusammenhang mit ihrer Umbenennung und ihrer Uberführung nach Jerusalem unter David. IV. Außer dem ursprünglichen Ladebericht lassen sich folgende späteren Schichten und Zusätze erkennen: 1. Zwei ältere Ergänzungen liegen in I Sam 5 6-9. 10*. 11-12 und in II Sam 6 3-8 vor. Die erste Ergänzung mit der Ladebezeichnung »Lade des Gottes Israels« enthält die »Geschwürlegende« über den Aufenthalt der Lade in den Philisterstädten Asdod, Gat und Ekron. Sie macht bereits aus dem Herumreichen des Beutestücks durch die Philister einen Triumphzug der unheilbringenden Lade durch die feindlichen Städte. Die zweite Ergänzung mit der Ladebezeichnung »Elohimlade (Gotteslade)« enthält die Uzza-Ätiologie. Sie zeigt, daß die Lade sogar einem Israeliten gefährlich werden kann, wenn er sich ihr gegenüber nicht recht verhält. - 2. Die wichtigste spätere Schicht ist diejenige, die die Bezeichnung »Jhwh-Lade« verwendet, obwohl sie in sich nicht einheitlich zu sein scheint. Zu ihr gehören: I Sam 4 5-9, das für die Israeliten im Unterschied von anderen Stücken dieser Schicht die Bezeichnung »Hebräer« verwendet und über das Eintreffen der Lade im Heerlager und die kämpferische Reaktion der Philister berichtet; I Sam 5 3-5 mit der Schwellenätiologie über die Lade im Dagontempel; I Sam 6 1-7 1 über die mit Mäusen zusammenhängende Plage, die im Unterschied von 5 6 ff. nicht nur die Hauptstädte der Philister, sondern das ganze Land betroffen hat; II Sam 6 9-11 über den Aufenthalt der Lade im Hause des Obed Edom und 6 13-15. 17-19 über ihren Einzug in Jerusalem. Diese Erzählungsschicht dürfte in der Zeit Davids oder Salomos, jedenfalls nach der Umbenennung der Lade durch David und vor der späteren Königszeit, in der die Lade bedeutungslos geworden ist, entstanden sein. In diesen Ergänzungen und Erweiterungen werden Bedeutung und Wirkung der Lade in einem überaus starken Maße, ja bis an die Grenze magischer Vorstellungen gesteigert. 3. Weitere Ergänzungen sind die Eliden-Erzählung in I Sam 4 4b. 11 b—22 und die Michal-Ätiologie in II Sam 6 16. 20-23. Diese auf einzelne Menschen bezogenen Ergänzungen zeigen die Auswirkungen der Ereignisse um die Lade in ihrem persönlichen Leben. Ihr jeweiliges Geschick wird durch das Geschick der Lade oder durch ihr eigenes Verhalten gegenüber der Lade bestimmt. Der große Unterschied gegenüber dem ursprünglichen Ladebericht ist nicht zu übersehen.

Wandlungen Jesajas I.

Im allgemeinen nimmt man nicht an, daß sich im Glauben und in der Verkündigung Jesajas tiefgreifende Wandlungen ereignet haben. Man gibt zu, daß er im Laufe seiner "Wirksamkeit zu einzelnen Größen in verschiedener Weise Stellung genommen, daß er zunächst vor einem Bündnis mit Assyrien und später vor der Untreue gegen es gewarnt habe 1 oder daß seine Verkündigung bei der Anpassung an jede Veränderung der politischen Situation sehr biegsam gewesen sei und daß er sie in den langen Jahren seines Wirkens je nach der Stunde und dem Personenkreis, dem er sich zu stellen hatte, verschieden gestaltet habe 2 . Aber er soll doch von einem gleichbleibenden Plan Jhwhs geredet haben, der in dem planvollen und zielsicheren Durchsetzen des unbedingten Herrschaftsanspruches seines Gottes bestanden habe und dessen zwei Seiten Gericht und Heil seien 3 . Seine Verkündigung, so ist behauptet worden, läßt sich auf zwei Themen zurückführen, die in Erwählungstraditionen gründen: einmal die Bedrohung und der Schutz des Zion, da Jhwhs Werk in einem richtet und rettet, und ferner die messianische Ankündigung des neuen David 4 . Doch diese statische Sicht des Propheten, die jede Wandlung seines Glaubens und seiner Verkündigung ausschließt, trifft nicht zu 5 . Sie geht von einer Auffassung aus, die die Möglichkeit, das prophetische Wort von einem persönlichen Erleben her zu verstehen, zugunsten einer scheinbaren Objektivierung des Prophetenspruches als Gotteswort aufgibt. Und sie versteht den Propheten nicht als selbständig denkende und redende Person, sondern als Sprecher und aktuellen Interpreten von sakralen Traditionen. Aber die persönlichen Momente, die einen Spruch Jesajas von einem Spruch Hoseas oder Jeremias deutlich unterscheiden, lassen sich schwerlich aus-

1

J . Fichtner, Jahwes Plan in der Botschaft des Jesaja, Z A W 63 (1951), 2 7 ( = Gottes Weisheit, 1965, 37).

2

G. von Rad, Theologie des Alten Testaments, II 1960 (1965 4 ), 158, 167.

3

J . Fichtner a . a . O . 32 (42).

4

G . von Rad a . a . O . 175. 179. 1 8 4 f .

5

Vgl. dazu auch die einander entgegengesetzten Darlegungen einerseits von J . Vollmer, Geschichtliche Rückblicke und Motive in der Prophetie des Arnos, Hosea und Jesaja, 1 9 7 1 ; H. W . Hoffmann, Die Intention der Verkündigung Jesajas, 1974; F. Huber, Jahwe, Juda und die anderen Völker beim Propheten Jesaja, 1976, und andererseits von W . H. Schmidt, Die Einheit der Verkündigung Jesajas, EvTh 3 7 (1977), 2 6 0 - 2 7 2 .

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I. Texte

schalten, wenn man nicht zu einer umfassenden Inspirationstheorie zurückkehren und außerdem übersehen will, daß der Prophet als Mensch an der formalen und inhaltlichen Formulierung seiner Worte beteiligt war. Die bloße Handhabung von Traditionen ist ebensowenig ein kennzeichnendes Merkmal für ihn gewesen. Weder ist es wahrscheinlich, daß die genannten sakralen Traditionen zur Zeit Jesajas vorhanden und lebendig waren, noch lassen sich in diesen Rahmen mehr als einige wenige Worte des Jesajabuches einfügen, von denen zudem ein Teil nicht von Jesaja herrührt oder zumindest umstritten ist. Nicht einmal von einem festen Plan Jhwhs sollte man sprechen. Das paßt schlecht zu der Spannweite der Ankündigungen von einem Läuterungsgericht bis zur völligen Vernichtung der Jerusalemer (1 21-26 und 22 1-14) und von der Auffassung der Assyrer als Jhwhs Werkzeug bis zu ihrer Verwerfung und Vernichtung (5 2 5 - 2 9 und 14 2 4 - 2 7 ) . Daher ist 'esä besser nicht als »Plan«, sondern als jeweils gefaßter und veränderlicher »Willensbeschluß« zu verstehen. Daß sich in der Verkündigung Jesajas Wandlungen ereignet haben, lag für seine Zeitgenossen so offen zutage, daß sie deswegen einen Einwand oder Vorwurf erhoben haben. Gegen ihn mußte der Prophet sich in dem in 28 2 3 - 2 9 überlieferten Wort verteidigen: Horcht auf und hört meine Stimme, merkt auf und hört mein W o r t ! Pflügt der Bauer 6 etwa allezeit 7 , bricht auf 8 und eggt 9 seinen Ackerboden? Nicht wahr, wenn er seine Fläche geebnet hat, streut er Schwarzkümmel und sät Pfefferkümmel?! Er legt Weizen, Hirse (?) und Gerste, . . . und Emmer an seinen Rand 1 0 . So leitet ihn zum rechten Brauch an und belehrt ihn sein Gott. Auch wird Schwarzkümmel nicht mit dem Dreschwagen gedroschen, noch das Rad des Wagens über Pfefferkümmel gedreht.

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Wörtlich: der Pflüger.

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Wörtlich: den ganzen Tag, jedoch in der Bedeutung der Ubersetzung verwendet wie Jes 51 13 52 5. Dazu ist später eine in der Übersetzung ausgelassene Glosse getreten: f ü r das Säen.

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Das Verb bedeutet eigentlich: lösen (loslassen, -binden).

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Das Verb wird von anderen gedeutet als: Grenzfurchen ziehen. A b e r die Fortsetzung in

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Der überlieferte Text ist gestört. Das mit Hirse übersetzte W o r t ist unsicher und vielleicht

v. 25 setzt das Eggen voraus; vgl. auch Hos 10 11 Hi 39 10. Doppelschreibung des folgenden Wortes f ü r Gerste. Das erste W o r t der zweiten Zeile ist ungeklärt; der Talmud deutete es: in Linien markieren (in geraden Reihen setzen), doch ist dies nicht wahrscheinlich; eher handelt es sich um Doppelschreibung des folgenden Wortes.

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Vielmehr wird Schwarzkümmel mit dem Stock ausgeklopft und Pfefferkümmel mit dem Stab. Brotkorn muß (fein) gemahlen werden, denn nicht immer darf man's (bloß) dreschen. Man setzt das Rad des Wagens in Gang und breitet es aus, aber zermalmt es nicht. Auch das ist von J h w h ausgegangen; er weiß ja wunderbaren Rat, macht den Erfolg groß.

Das Wort, das aus dem letzten Zeitraum der Wirksamkeit Jesajas stammen dürfte (705—701 v. Chr.), klingt wie ein Weisheitsgedicht; die Einleitung ist der Formel des Weisheitslehrers nachgebildet, einzelne Ausdrücke in v. 26 und 29 rühren aus dem Sprachgut der Weisheit her. Das ist wahrscheinlich dadurch bedingt, daß Jesaja sich an die von ihm so oft gescholtenen »weisen« Politiker wendet (vgl. 5 20. 21 29 14 31 1-3) und in ihrer Art zu ihnen spricht. Er will ihnen etwas erklären, was ihnen nicht einleuchtet, und geht damit auf einen Einwand ein, den sie ihm gemacht haben. So ist das Gedicht seiner Funktion nach ein prophetisches Diskussionswort. Der Inhalt des Gedichts ist leicht verständlich. Es handelt von den Arbeiten des Bauern, wie der altpalästinische Bauernkalender von Gezer einige aufzählt und Vergil sie in Georgica 1 35 ff. beschreibt — einschließlich der Hinweise auf den Väterbrauch und die Belehrung durch die Gottheit. In einer ersten Bildreihe (v. 2 4 - 2 5 ) spricht Jesaja von der Reihenfolge der Arbeiten auf dem Acker, von denen eine sich sinnvoll an die andere anschließt und jede zu ihrer bestimmten Zeit geschieht. In einer zweiten Bildreihe (v. 2 7 - 2 8 ) spricht er von den verschiedenen Arten, in denen der Bauer die eingebrachten Früchte behandelt, wobei seine Methoden wechseln. Alles, was geschildert wird, weiß und tut der Bauer, weil Gott ihn darüber belehrt hat 11 . Worauf will Jesaja hinaus? Die Möglichkeit, daß er ohne Absicht lediglich die Tätigkeit des Bauern habe schildern wollen, kann bei einem Propheten von vornherein ausscheiden. Meist versteht man den Bauern als Bild für den weisen Jhwh und das Gedicht als Gleichnis für das göttliche Handeln, das Jesaja rechtfertigen müsse. Da jedoch der belehrende Gott ausdrücklich neben dem Bauern genannt wird, ist dieser Bauer ein Bild für den von Jhwh belehrten Menschen: für Jesaja. Wie der Bauer ist Jesaja von Jhwh darin unterwiesen worden, was er zu verschiedenen Zeiten und in verschiedener Art zu verkündigen hatte. Wenn er nicht immer das gleiche, sondern einmal dies und einmal jenes gesagt hat, beruht das — so verteidigt 11

Von der Weisheit als Besitz Gottes ist im A T ausdrücklich erst bei Jesaja die Rede (vgl. auch 31 2), vielleicht weil sich dies im Alten Orient gewöhnlich auf das Geschick und die Fertigkeit in Kultus und Magie bezogen hat; vgl. G . Fohrer in T h W N T VII, 1964, 4 7 6 f f .

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I. T e x t e

sich Jesaja — auf der Belehrung durch Jhwh, der seine Absichten geändert und seinem Propheten neue Weisungen erteilt hat. Vermutlich bezieht sich dies auf die nachher an dritter Stelle zu erwähnenden Wandlungen Jesajas in der Einschätzung der Assyrer. Ungeachtet dieser konkreten Beziehung zeigt das Gedicht, daß seine Gegner Anlaß hatten, ihm eine Wandlung seiner Verkündigung vorzuhalten, und daß Jesaja sich dieser Wandlung bewußt war und sie zu erklären vermochte. Angesichts dessen ist zu fragen, ob sich nicht weitere Wandlungen in Glauben und Verkündigung des Propheten erkennen lassen. Tatsächlich sind drei Wandlungen zu erfassen. II. Die erste Wandlung hat sich im Berufungserlebnis ereignet. Freilich ist die Möglichkeit, ihrer innezuwerden, dadurch erschwert, daß der Bericht in 6 1 - 1 1 1 2 erst nach den niederschmetternden Erfahrungen im syrischephraimitischen Krieg endgültig formuliert worden ist. Denn zusammen mit 8 16-18, in dem Jesaja seinen Entschluß äußert, sich bis zur Verwirklichung seiner Ankündigungen zurückzuziehen und seinen prophetischen Auftrag niederzulegen, bildet der Berufungsbericht den Rahmen um die aus jener Zeit stammenden Worte. Er soll von vornherein die Erfolglosigkeit des Propheten als beabsichtigt und in seinem Auftrag liegend und nicht als unerwarteten und bestürzenden Fehlschlag verstehen lehren. Daraus erklärt sich die nachdrückliche Anweisung Jhwhs (6 9-10): G e h u n d sprich zu diesem V o l k d a : H ö r : i m m e r z u her, aber v e r s t e h t ' s nicht, seht i m m e r z u , aber e r k e n n t ' s n i c h t ! V e r h ä r t e das H e r z dieses V o l k e s , m a c h seine O h r e n taub u n d seine A u g e n b l i n d 1 3 , damit es m i t seinen A u g e n n i c h t sieht, m i t seinen O h r e n n i c h t h ö r t u n d mit seinem H e r z e n n i c h t v e r s t e h t 1 4 !

Dennoch läßt der Berufungsbericht das einstige umstürzende Erleben Jesajas erkennen. Es besteht in der Schau des in seinem Palast thronenden Gottes und der ihn umschwebenden Sarafen, deren donnerartig erschallender Lobgesang sich an dem das Haus füllenden Rauch als das dem T h r o nenden dargebrachte Opfer erweist; in dem bei Jesaja sich einstellenden Bewußtsein, daß er verloren und todgeweiht ist, weil er ein sündiger Mensch und Glied eines sündigen Volkes ist, und in dem in seinem Ausruf 12

6 1 2 - 1 3 bleibt als Z u s a t z a u ß e r B e t r a c h t .

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W ö r t l i c h : V e r f e t t e . . ., m a c h e s c h w e r . . . u n d v e r k l e b e .

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D e r R e s t des V e r s e s ( u n d sich b e k e h r t u n d genest) ist ein späterer Z u s a t z , d e r die d r e i gliedrigen V e r s e mit der chiastischen Stellung v o n H e r z — O h r e n — A u g e n überfüllt.

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sich ausdrückenden Entschluß, sich der Verurteilung durch die vernichtende Wirkung der Heiligkeit Jhwhs preiszugeben; in der durch einen Sarafen vorgenommenen Entsündigung, die eine völlige Wandlung des Menschen herbeiführt, so daß eine persönliche Beziehung zwischen Jhwh und ihm ermöglicht wird; und in der daraufhin erfolgenden Beauftragung mit dem prophetischen Dienst. Innerhalb dieser Beauftragungsszene wird nun die Wandlung des zum Propheten Berufenen ersichtlich — in seiner Frage »wie lange?« und in der göttlichen Antwort: bis zur völligen Vernichtung. Obwohl sich dies auf den erwähnten Auftrag zur Verhärtung des Volkes durch die prophetische Verkündigung bezieht und die Ankündigung der Vernichtung des ganzen Volkes sicherlich eine spätere Formulierung Jesajas darstellt, hat die Gerichtsbotschaft zweifellos von Anfang an den Inhalt seiner Verkündigung bestimmt. Das geht aus den Worten des ersten Zeitraums seiner Wirksamkeit, die in einem Teil von Kap 1, in 2 6—4 l 5 8-24 10 1-4 vorliegen, eindeutig hervor. Eben dieser Schritt von seinem bisherigen Glauben und Denken zur Erkenntnis und Ankündigung des drohenden Gerichts über Jerusalem macht die Wandlung Jesajas infolge seiner Berufung aus. Verständlicherweise ist Jesaja bemüht, das neue Erleben in sein bisheriges Glauben und Denken einzuordnen. Dieses aber ist für ihn wie für jeden Israeliten durch die unbedingte Erwartung bestimmt, daß Jhwh letztlich immer das Heil Israels will. Israel glaubt, in einer vorgegebenen grundsätzlichen Heilsituation zu leben, die durch Verfehlungen nur gestört, jedoch nicht aufgehoben, vielmehr durch Sühnemaßnahmen wiederhergestellt werden kann. Es sieht sich in der Lage des Beters von Ps 30 gegenüber einem Gott: Denn eine kleine Weile ist man in seinem Zorn, ein Leben lang in seinem Wohlgefallen. A m Abend bleibt Weinen über Nacht, am Morgen aber ist Jubelruf.

Genauso ist es für Jesaja unvorstellbar, daß die Gerichtsankündigung den Inhalt seines Auftrags bilden und daß dadurch sein bisheriges Glaubensgut in Frage gestellt werden könnte. Daher seine Frage »wie lange?«, die eine zeitweilige Störung des Verhältnisses zwischen Jhwh und Israel, eine daraufhin folgende Züchtigung und Plage vorübergehender Art und eine baldige Versöhnung voraussetzt. Doch die göttliche Antwort enthält ein klares Nein zur Erwartung des neuen Propheten, indem sie auf dem Strafgericht beharrt. Das künftige Handeln Jhwhs soll die Sünder — in der ersten Wirkungszeit Jesajas: die jerusalemische Oberschicht — nicht mehr bloß mahnen, warnen oder züchtigen, sondern vernichten. Man kann sich die darin ausgedrückte Erkenntnis nicht tiefgreifend genug vorstellen. Sie stürzt die herkömmlichen Glaubenserwartungen Jesajas um. Man kann auch sagen: Sie verkehrt sie in ihr Gegenteil. Nicht in

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einer grundsätzlichen Heils-, sondern in einer grundsätzlichen Unheilssituation lebt Israel, ja der Mensch überhaupt. Mit dieser Wandlung tritt Jesaja in ein neues Dasein, das sich von seinem früheren radikal unterscheidet. Er muß die traditionellen Vorstellungen aufgeben und Neuland betreten. Erst von da aus wird seine beginnende Verkündigung verständlich. III. Im ganzen ersten Zeitraum der Wirksamkeit Jesajas, der von seiner Berufung bis zum syrisch-ephraimitischen Krieg reicht, erscheint die jerusalemische Oberschicht als der wahrhaft und hauptsächlich Schuldige an den Verhältnissen, die das göttliche Gericht herbeiführen werden. Sie ist diejenige, die die treue Stadt zur Dirne gemacht hat (1 21-26), die voller Hochmut und Stolz ist (2 6-22 3 16-24), die ihre Sünde öffentlich kundtut und nicht verbirgt (3 1-9), die im eigenen Lande wie der Feind haust (3 12-15), die immer mehr Grund und Boden in ihre Hand bringt (5 8-10), die trinkt und praßt (5 11-13. 22), die sich in der Politik weise dünkt (5 20-21), die sich als Richter bestechen läßt (5 23), die Gesetze zu ihren eigenen Gunsten erläßt (10 1-3) und die natürlich über die Gerichtsankündigung des Propheten lediglich spottet (5 18-19). Daher soll in erster Linie sie zur Rechenschaft gezogen werden. Das Geschick der abhängigen Schicht beurteilt Jesaja verschieden. Manchmal nimmt er an, daß es in den Untergang der Oberschicht verstrickt wird: Nach der Deportation der Oberschicht wird das Staatswesen zur Anarchie entarten (3 1-9), wegen der zahlreichen Gefallenen werden die Frauen sich dem ersten besten Mann an den Hals werfen und in das chaotische Leben hineingerissen werden (3 25—4 l) — ein Leben, in dem sich alle Ordnungen auflösen, Sitte und Herkommen zerbrechen und das deswegen eine Vorform des Todes ist, in den es allmählich mündet. Manchmal erwartet Jesaja, daß die sündige Oberschicht wie Schlacke in einem Schmelzofen ausgeschieden wird, ehrliche Richter und Ratgeber wie in der Zeit Davids auftreten und Jerusalem wieder zur gerechten und treuen Stadt umgewandelt wird (1 21-26). Jedenfalls droht er das Strafgericht nicht dem ganzen Volk an. Selbst wenn die abhängige Schicht betroffen wird, geschieht es nicht um ihrer Sünde willen, sondern als unvermeidliche Folge der Ausschaltung der Oberschicht. Bei alledem erblickt Jesaja sogar für die Oberschicht eine Möglichkeit der Rettung, die sich mit dem üblichen Stichwort »Umkehr« umschreiben läßt. Die vom Sodom-und-Gomorra-Geschick Bedrohten müssen nur aufhören, ihr Heil im Kultus zu suchen und Gutes statt Böses tun (1 10-17). Sie brauchen nur willig zu sein und Jhwh zu gehorchen, dann dürfen sie weiterhin das Gut ihres Landes essen (1 18-20). Der König soll in der Anfangssituation des syrisch-ephraimitischen Krieges nur darauf verzichten, die Assyrer zu Hilfe zu rufen, und vielmehr auf den Gott vertrauen, der die

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Geschicke der Völker und Menschen lenkt — dann kann ganz Juda »der Rest der umkehrt« sein, wenn das Gericht die Angreifer Damaskus und Samaria als die Schuldigen ereilt (7 1-9). In dieser Situation jedoch ereignet sich die zweite einschneidende Wandlung Jesajas. Sie erfolgt bei der zweiten Begegnung mit dem König Ahas, über die 7 10-17 berichtet. Dabei bietet der Prophet dem König ein beliebiges Zeichen an — sei es ein Beben in der Tiefe oder ein Blitz aus heiterem Himmel —, damit er sich von der Macht Jhwhs überzeugt und auf ihn vertraut. Als er ablehnt, bricht Jesaja empört und mit erregten Worten los. Nachdem er selbst vom Davidshaus, dem König und der Regierung, längst ermüdet ist, weil man auf ihn nicht gehört hat, ist Jhwh des allen gleichfalls müde. Weil Ahas kein Zeichen erbeten hat, wird er von sich aus eins geben. Was Jesaja darüber im einzelnen sagt, hat er sich offensichtlich nicht vorher überlegt. Es beruht nicht auf einem bereits empfangenen JhwhWort, das er mitgebracht hat, sondern auf einer plötzlichen Eingebung. Man spürt förmlich, wie sie über ihn hereinbricht: Siehe 1 5 , eine junge Frau 1 6 ist schwanger, wird einen Sohn gebären und ihm den N a m e n geben 1 7 : » G o t t mit uns!« Butter und H o n i g wird er essen (müssen) (zur Zeit), da er versteht, Böses zu verwerfen und Gutes zu wählen. Denn bevor der Knabe versteht, Böses zu verwerfen und Gutes zu wählen, ist der Ackerboden verödet 1 8 ! Jhwh wird Tage bringen 1 9 , die nicht gekommen sind seit dem Tage, da Ephraim sich von Juda getrennt hat 2 0 .

Worin besteht das Zeichen, welchen Sinn hat es? Vor allem die falsche Ubersetzung des Wortes 'älmä durch »Jungfrau« in der Septuaginta hat den 15

Das Wort ermahnt zum Aufmerken. Während es für diese Stelle ursprünglich die Bedeutung der Einleitung eines Geburtsorakels hat, erhält es durch die inhaltliche Abwandlung dessen in den weiteren Sätzen den Sinn, den es bei Vordersätzen hat: wenn, gesetzt den Fall (vgl. Ex 3 13 J d c 7 17 I Sam 9 7 II Sam 18 n II Reg 7 2).

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Das Wort 'almd bezeichnet nicht die Jungfrau, sondern wie im Phönizischen die junge Frau von der Heiratsreife bis zur Geburt des ersten Kindes.

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qarat ist eine altertümliche F o r m der 3. Person fem., so daß nicht zu übersetzen ist: du

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Späterer Zusatz: vor dessen zwei Königen dir graut.

gibst. Unnötig ist eine Änderung in: man gibt. 19

Späterer Zusatz: über dich und dein Volk und über das H a u s deines Vaters.

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Späterer Zusatz: den König von Assur.

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Bericht zu einem Zankapfel der Exegeten werden lassen. Doch sollte es grundsätzlich klar sein, daß das Zeichen nicht den gleichen Sinn wie das dem Ahas angebotene haben kann, daß vielmehr auf das Versagen des Königs eine Unheilsankündigung folgen muß, die denn auch mit dem »darum« einer solchen Ankündigung eingeleitet wird (v. 14). Es sollte ferner deutlich sein, daß die Geburt und die Namengebung des »Immanuel« nicht das Zeichen selbst, sondern erst die Voraussetzung für es bilden. Das Zeichen wird geschehen, wenn eine oder mehrere schwangere Frauen geboren und ihren Söhnen unter der von Jesaja aufgegebenen traditionellen Annahme einer grundsätzlichen Heilssituation für Israel den Namen Immanuel — »Gott (ist oder sei) mit uns!« — gegeben haben. Danach muß man in Juda in wenigen Jahren Butter und Honig, die Kost der Nomaden, essen, weil das Land verwüstet ist. Ein Unheil, das nur mit der Reichsteilung nach dem Tode Salomos vergleichbar ist, wird es treffen! Damit beginnt der zweite Wandel in der Verkündigung Jesajas. Gleich die kurzen, das Zeichen erläuternden Worte 7 . 1 8 - 1 9 . 20. 2 1 - 2 2 machen dies deutlich: Zusammenstoß der Assyrer und Ägypter, Verwüstung Judas durch die Assyrer, Rückkehr der Überlebenden zum primitiven Dasein der N o maden, zur »Ziegenkultur«. Von schlimmstem Unheil künden 8 5-8 und 8 1 1 - 1 5 , die weiteren Worte aus diesem Zeitraum. Daran ändert sich nichts Wesentliches bis zu den letzten Worten Jesajas in 22 1-14 und 32 9-14. In den mehr als drei Jahrzehnten nach der zweiten Begegnung mit Ahas, in denen er lange Jahre auf die Verwirklichung seiner Drohungen gewartet hat (vgl. 8 16-18), ist lediglich dreimal eine Mahnung zur Umkehr in seinen Worten zu finden (14 2 8 - 3 2 29 1 - 8 31 4 - 9 ) , sonst nur Anklage und Unheilsankündigung. Und auch die Mahnung der Umkehr steht unter der in 30 15-17 ausgesprochenen bitteren Einsicht: Gesprochen hatte der H e r r J h w h , der Heilige Israels: »Bei A b k e h r (vom Kriege) und Vertragstreue 2 1 kann euch geholfen werden 2 2 , im Stillehalten und Vertrauen liegt eure Kraft.« D o c h ihr habt nicht gewollt, habt »Nein!« gesagt.

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D a nähät nicht bedeutet: R u h e , Einkehr, U m k e h r , das z u g r u n d e liegende V e r b nü"h vielm e h r den Sinn haben k a n n ; verträglich sein, ein U b e r e i n k o m m e n treffen (vgl. O . Eissfeldt, nüah »sich vertragen«, Schweizerische Theologische U m s c h a u 20, 1950, 23—26), liegt es am nächsten, das vorhergehende sübä nicht als politisches Stillsitzen, sondern als A b k e h r oder A b w e n d u n g v o m Kriege gegen Assyrien zu verstehen; vgl. Mi 2 8: abgew a n d t v o m Kriege.

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Wörtlich: werdet ihr Hilfe erfahren.

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Von da aus wird der Umschwung verständlich, der durch die zweite Begegnung mit Ahas ausgelöst worden ist. Vor ihr hat Jesaja in erster Linie die Oberschicht von Jerusalem angegriffen und bedroht, das Volk dagegen höchstens durch das von jener verursachte Unheil in Anarchie und Tod hineingerissen gesehen. Nach ihr droht er das Vernichtungsgericht »diesem Volk da« an — dem ganzen Volk ohne Ausnahme. Vor jener Begegnung hat er in der Erwartung einer möglichen Rettung eindringlich zur Umkehr gemahnt oder in Verbindung von Gericht und Umkehr ein die Oberschicht treffendes Läuterungsgericht für ausreichend gehalten. Nach ihr hat er durchgängig die völlige Vernichtung angekündigt und ungeachtet einiger weniger Mahnungen die versäumte Möglichkeit der Umkehr beklagt. Die weitere Verkündigung Jesajas wird nur dann verständlich, wenn man diesen tiefgreifenden Wandel, der sich auch in der Formulierung seines Berufungsberichtes ausdrückt, berücksichtigt. IV. Die Verwirklichung des angedrohten göttlichen Strafgerichts über die jerusalemische Oberschicht, über »dieses Volk da« und über die Angreiferstaaten Damaskus und Nordisrael hat Jesaja überwiegend durch das Mittel des Krieges mit seinen Schrecken und Scheußlichkeiten erwartet. Und das Reich, dessen Heere das Gericht vollstrecken werden, ist die Großmacht Assyrien. Ihre Truppen pfeift Jhwh aus der Ferne herbei (5 25-29), sie besiegen Damaskus und Samaria (8 1-4), überschwemmen Juda (8 5-8) und verwüsten es völlig (7 20). In einer kühnen Schau sieht Jesaja seinen Gott als den Herrn und Gebieter selbst der damaligen Weltmacht. Jhwh pfeift sie herbei, sie ist seine Waffe und sein Schlagstock (10 5). Nichts geschieht ohne seine Anordnung. Das Vordringen der Assyrer nach Syrien und Palästina erfolgt aufgrund seiner Gerichtsbeschlüsse gegen andere Völker. Die Hilfe, die sie Juda anscheinend bringen, bemäntelt in Wirklichkeit die Verschwörung Jhwhs gegen Juda; denn wenn sie dessen Angreifer vernichtet haben, werden sie auch über es herfallen, so daß das Rettungsschwert von Jhwh zugleich als Richtschwert gezückt wird (8 11-15). Im zweiten und dritten Zeitraum seiner Wirksamkeit — im syrischephraimitischen Krieg und in den ersten Regierungsjahren Hiskias (716— 711) — hat Jesaja diese Betrachtungsweise durchgehalten: die Assyrer als das Werkzeug Jhwhs, das auf seinen Wink herbeieilt, seine Befehle ausführt und in seinem Auftrag das Gericht an den Völkern vollstreckt. Diese Beurteilung ändert sich im letzten Zeitraum der Wirksamkeit des Propheten (705—701); das ist der dritte Wandel, der sich feststellen läßt. Er ist vor allem dadurch verursacht, daß Jesaja das Vorgehen der Assyrer längere Zeit und teilweise aus größerer Nähe beobachtet und dabei allmählich erkannt hatte, wes Geistes Kind die Großmacht war. Denn 10 5-15 gibt den Grund für die veränderte Beurteilung an. Das Wort richtet sich gegen Assyrien,

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das — anstatt gehorsames Werkzeug zu sein — die Völker im Interesse seiner Weltmachtpläne unterwirft. Daß es aus eigener Vollmacht handeln und mit Völkern und Ländern schrankenlos nach eigenem Gutdünken verfahren will, läßt Jesaja den Assyrerkönig in v. 8-14 mit eigenen Worten wie in einer Regierungserklärung oder in einem Feldzugs- und Siegesbericht sagen: »Sind meine Vasallen nicht allesamt Könige? Ist Kalno nicht wie Karkemisch geworden, Hamat wie Arpad, Samaria wie Damaskus 2 3 ? Kann ich nicht, wie ich mit Samaria und seinen Göttern verfuhr, auch mit Jerusalem und seinen Gottesbildern verfahren?« 2 4 »Ich habe es mit meiner eigenen Kraft 2 5 getan und mit meiner Klugheit, weil ich (dessen) kundig bin. Ich verrücke die Grenzen der Völker und plündere ihre Vorräte 2 6 . Meine Hand griff wie in ein Nest nach der Habe der Völker. Wie man verlassene Eier sammelt, habe ich die ganze Erde gesammelt. Da ist keiner, der noch mit dem Flügel schlägt 2 7 , den Schnabel aufsperrt und piepst.«

Spricht schon aus den herausfordernden Fragen des ersten Teils der Rede jene Überheblichkeit, die gerade für Jesaja die Sünde des Menschen schlechthin ist, so soll der zweite Teil durch das Prahlen mit der eigenen Kraft und Klugheit diesen Eindruck noch verstärken. Auch der fragmentarische Text 10 27b—32 scheint sich auf den Assyrerkönig zu beziehen, der nicht offen als Vollstrecker des göttlichen Gerichts, sondern heimtückisch zu Überfall und Überrumpelung gegen Jerusalem zieht. Die Folgerung ist klar: Da er nicht ein Werkzeug Jhwhs sein, sondern in eigener Machtvollkommenheit erobern will, wird Jhwh das unbrauchbare Werkzeug zerbrechen und fortwerfen.

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Späterer Zusatz: Gleichwie meine Hand (diese) Götterkönigreiche gefunden hat und ihre Gottesbilder mehr waren als Jerusalem oder Samaria. Späterer Zusatz: Aber wenn der Herr sein ganzes W e r k auf dem Berge Zion und in Jerusalem beendet hat, werde ich die Frucht des Hochmuts im Herzen des Königs von Assur und das stolze Heben seiner Augen ahnden. Wörtlich: mit der Kraft meiner Hand. Späterer Zusatz: Ich stoße wie ein Tyrann die Thronenden herab. Wörtlich: flieht. Gemeint ist: mit dem Flügel schlagen, um zu fliehen.

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Noch ein anderer Anlaß scheint die Änderung im Urteil über die Assyrer beeinflußt zu haben: das Bemühen des Königs Hiskia, sich während des zweiten Aufstandes gegen sie der Hilfe Ägyptens zu vergewissern, als die Assyrer offenbar schon bedrohlich nahe waren. Dieses Bemühen, das Jesaja genauso ablehnt wie seinerzeit das Bemühen des Ahas um die Hilfe der Assyrer, spiegelt sich in mehreren seiner Worte wider: in 29 15-16 30 1-5. 6-7 und 31 1-3. Darin wendet er sich einerseits gegen die jerusalemische Geheimdiplomatie,' die die Bündnispläne im Stillen betreibt, und warnt andererseits vor dem Vertrauen auf das unzuverlässige Ägypten. Juda braucht ihm gar nicht nachzulaufen oder auf andere Unterstützung zu warten, weil es in Jhwh einen viel mächtigeren Helfer haben kann. Er vermag vor den Assyrern zu retten, die dann durch ein »NichtmenschenSchwert« — nämlich durch das göttliche Schwert — fallen werden. So fördert die Ablehnung des Bündnisses mit Ägypten die Wendung in der Beurteilung der Assyrer. Sie zieht schließlich die ausdrückliche Gerichtsankündigung gegen das unbrauchbare Werkzeug nach sich, so in dem Schwur Jhwhs mit der hinzugefügten Erläuterung des Propheten in 14 24-27: J h w h Zebaot hat geschworen: »Wie ich mir's ausgedacht habe, so geschieht's; wie ich's beschlossen habe, so kommt's zustande. Ich werde Assur in meinem Land zerschlagen und auf meinen Bergen zertreten!« 2 8 Das ist der Beschluß, der über die ganze Erde gefaßt, die Hand, die über alle Völker ausgereckt ist. Wenn J h w h Zebaot beschlossen hat — wer will's vereiteln? Wenn seine Hand ausgereckt ist — wer will sie zurückbiegen?

Das Richtschwert also, das der Verschwörer Jhwh gegen Juda zücken wollte (8 11-15), wird zerbrochen! Es ist verständlich, daß die von Jesaja angegriffenen Jerusalemer Politiker die Gelegenheit benutzten, ihm seine unfolgerichtige und unlogische Verkündigung vorzuwerfen und sich ihr mit gutem Grund zu entziehen. Eben dem hat Jesaja entgegengehalten, daß Jhwh seine Beschlüsse geändert und daß sein Prophet daher zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Art zu reden hat (28 23-29). Das bedeutet freilich nicht, daß die Gerichtsdrohung gegen Jerusalem dadurch berührt würde. Wenn das eine Werkzeug sich nicht eignet, wird der Gerichtsherr ein anderes wählen.

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Späterer Zusatz: Dann weicht sein Joch von ihnen, und seine Last wird von seiner Schulter weichen.

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V. Tatsächlich hat Jesaja seine Drohung gegen Jerusalem aufrechterhalten. Eine Wandlung zum Erlösungsglauben, wie Hosea, Jeremia und Ezechiel sie in einem späteren Zeitpunkt ihrer Wirksamkeit vollzogen haben, findet sich bei ihm ebensowenig wie bei Arnos und Micha — keine Verheißung eines heiligen Restes, einer Bewahrung des Zion oder eines messianischen Friedensherrschers. Die beiden zeitlich letzten Worte Jesajas sind nach wie vor drohend. Nach dem Abzug der Assyrer von Jerusalem im Jahre 701 kündigt er wegen des an Stelle eines Bußtages gefeierten Freudenfestes an (22 1 - 1 4 ) : Jhwh Zebaot hat sich in meinen Ohren offenbart: »Ihr werdet diese Sünde mit dem Tode büßen müssen!« 2 9

In dem damit sprachlich und inhaltlich verwandten Wort 32 9-14 fordert er Frauen und Mädchen in Vorahnung und Vorwegnahme dessen, was eintreten wird, und darum in schärfster Drohung zur Leichenklage auf: Denn die Wohntürme werden verlassen sein, das Getümmel der Stadt verödet, Burghügel und W a r t t u r m 3 0 kahle Felder für immer, eine Freude der Wildesel, eine Weide der Herden.

So hat Jesaja sich in seinem Glauben und Denken bei seiner Berufung und sodann im Verlauf seiner Wirksamkeit noch zweimal in seiner Verkündigung gewandelt. Doch in seinem letzten Spruch wiederholt er das Wort, das ihm in seinem Berufungserlebnis als schreckliches Nein Jhwhs zu dem Gedanken an eine begrenzte Züchtigung in die Ohren klang: Bis daß die Städte wüst liegen ohne Einwohner und die Häuser ohne Menschen und das Ackerland als Ö d e übrigbleibt.

Denn ungeachtet der Wandlungen ist der Grundzug der Verkündigung Jesajas stets der gleiche geblieben: Es gibt kein Heil ohne oder gar gegen Gott und keine Verheißung für die Sünder. Es gibt nur das unerbittliche Entweder-Oder: entweder radikale Umkehr des sündigen Menschen 29

Wörtlich: Diese Sünde wird euch nicht gesühnt, bis ihr tot seid. Späterer Zusatz: hat der

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Späterer Zusatz: sind auf immer.

Herr Jhwh gesprochen.

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zu seinem Gott, von dem er abgefallen ist, und danach Rettung vor dem wegen der Sünde drohenden Verderben — oder bei Unbußfertigkeit und Verweigerung der Umkehr das Strafgericht bis zur Vernichtung derer, die sich dem Herrschaftsanspruch des heiligen Gottes widersetzen. Dieser Grundzug tritt gerade bei einer Beachtung der Wandlungen Jesajas um so deutlicher hervor. Er umschließt die Botschaft des Propheten für seine Zeit und für uns.

Stellvertretung und Schuldopfer in Jes 52 13—53 12 I. 1. Wenn wir von Stellvertretung und Schuldopfer eines Menschen im Alten Testament sprechen, dann denken wir an den in Jes 52 13—53 12 überlieferten Spruch über den »Knecht J h w h s « oder den Gottesknecht. Wir könnten auch E x 32 32 heranziehen, wonach M o s e sich zwecks Abwendung der göttlichen Strafe von Israel nach der Anfertigung des goldenen Stierbildes gegenüber G o t t bereit erklärt, die Strafe auf sich zu nehmen: »Wenn du nun ihre Sünde vergibst, (dann ist es gut,) wenn nicht, dann lösche mich doch aus deinem Buch, das du geschrieben hast!« D o c h das ist nur eine einmalige kurze Bemerkung in einem Abschnitt, der in verhältnismäßig junger Zeit an Ex 32 angefügt worden ist. D e r Haupttext ist Jes 52 13—53 121. Dieser Spruch ist in der Schrift des Zweiten Jesaja (Deuterojesaja) in Jes 40—55 enthalten. Er war gegen Ende des babylonischen Exils um 540 bei der von Nebukadnezar nach Babylonien deportierten judäischen Oberschicht als Prophet tätig. Unter den Sprüchen des Propheten finden sich einige, die sich in besonderer Weise auf einen »Knecht J h w h s « beziehen und die nicht organisch mit ihrer U m g e b u n g verknüpft sind, sondern eine eigene G r u p p e bilden, die thematisch zusammengehört. Die beiden Sprüche in Jes 42 1-4 und 42 5 - 7 legen in der F o r m eines Gotteswortes den Auftrag und das Wirken des Knechtes fest. In den im Ich-Stil des menschlichen Sprechers gehaltenen Sprüchen in 49 1-6 und 50 4-9 spricht der Knecht von seinen inneren Zweifeln und Kämpfen, wie es auch in den Konfessionen Jeremias geschieht 2 . D e n Anlaß dafür haben die Erfolglosigkeit und Anfeindung, ja die Bedrohung und Verfolgung des Knechtes geliefert. D i e beiden letzten Sprüche in 50 10—11 und 52 13—53 12 blicken auf das bereits abgeschlossene Leben und Wirken des Knechtes zurück und setzen seine Hinrichtung nach einem Gerichtsverfahren voraus; sie unterscheiden sich von den anderen Sprüchen, die sprachlich, stilistisch und inhaltlich ganz der Art des Zweiten 1

Es gibt keine anderen sicheren Belege. Das Opfertier ist Ersatz für den Menschen und nicht dessen Stellvertreter, vgl. Gen 22 1-14. Ex 28 38 meint den Schutz der kultischen Gemeinschaft durch ihren höchsten Repräsentanten, Est 4 16 die Unterstützung des eigenen Fastens durch das Fasten anderer. Sach 12 9-14 spielt offenbar auf einen Justizmord an und spricht vom U m s c h w u n g der Gesinnung der Jerusalemer gegenüber dem Hingerichteten und von einer Sündenreinigung im Zusammenhang damit.

2

Zu den Konfessionen Jeremias zählt man Jer 11 18-23 12 1 - 6 15 10. 15-20 17 14-18 18 18-23 2 0 7-13. 14-18.

Stellvertretung und Schuldopfer in J e s 52 13—53 12

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Jesaja entsprechen. Daher stammen die beiden letzten Sprüche wohl von anderen Verfassern, die in ihnen zu einer neuen Deutung des Lebens, Leidens und schmachvollen Sterbens des Knechtes gelangt sind. Wer aber ist dieser »Knecht Jhwhs« ? Die Frage hat die unterschiedlichsten Antworten gefunden, seitdem der Kämmerer den Philippus fragte: »Von wem redet der Prophet solches, von sich selber oder von jemand anders?« (Apg 8 34). Ja, die Frage ist wohl noch älter: Während einerseits in Jes 49 3 nachträglich das Wort »Israel« eingefügt worden ist, so daß man den Knecht mit Israel gleichsetzen wollte, schildert andererseits der Prophet von Jes 61 seine Tätigkeit mit Ausdrücken der Knecht-Jhwh-Sprüche (v. lf.) und setzt Sir 48 10 den Knecht mit Elia gleich, so daß er als Prophet verstanden wird. Diese letztere Auffassung scheint mir richtig zu sein. Genauer möchte ich sagen: Wenn der »Knecht Jhwhs« ein Prophet ist, dann natürlich der Zweite Jesaja selbst, der in den beiden ersten Sprüchen sein prophetisches Selbstverständnis entwickelt und in den beiden folgenden Sprüchen wie in einer Art prophetischen Testaments den Sinn seiner Aufgabe und seines Lebens festzuhalten sucht. Die beiden letzten Sprüche — also auch 52 13—53 12 — stammen aus dem kleinen Kreise seiner Anhänger, der sein anscheinendes Scheitern neu durchdacht hat und zu einer überraschenden Deutung seines Leidens und Sterbens gelangt ist. Für die Deutung auf den Zweiten Jesaja spricht unter anderem die sich aus Jes 49 5-6 ergebende Beziehung auf einen einzelnen Menschen: Jetzt aber spricht J h w h , der mich v o m Mutterleib an zu seinem Knecht gebildet, u m J a k o b zu ihm heimzubringen, daß Israel sich zu 'ihm' sammle [und sprach]: » Z u wenig ist's für dich, mein Knecht zu sein, (nur) u m die Stämme Israels aufzurichten und die 'Bewahrten' Israels zurückzubringen. Ich mache dich (vielmehr) z u m Licht der Völker, damit mein Heil bis an das E n d e der E r d e reiche!«

Ferner legt sich die Deutung auf einen Propheten aufgrund von 50 4-5 nahe, die die Ausrüstung des Knechtes schildern: J h w h hat mir gegeben, wie seine J ü n g e r zu reden, damit ich ' R e d e stehen' kann dem M ü d e n mit 'liebem' Wort. A n jedem Morgen weckt er mir das O h r , damit ich wie ein J ü n g e r höre. [Jhwh hat mir das O h r geöffnet.] Ich aber war nicht widerspenstig, bin nicht zurückgewichen.

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I. Texte

Außerdem weisen die Knecht-Jhwh-Sprüche enge Berührungen mit den Berufungsberichten Jeremias und Ezechiels sowie mit den Konfessionen Jeremias auf. Von da aus wird auch der Ich-Stil der beiden mittleren Sprüche verständlich. Schließlich deutet der Ausdruck »Knecht« in diese Richtung. Im religiösen Sprachgebrauch begegnet er als demütige Selbstbezeichnung des Frommen vor Gott, als Bezeichnung für die Frommen überhaupt, für Israel und für einzelne Gestalten: die Patriarchen, Mose, den König, Hiob und den Propheten. Abgesehen von der angeblichen Selbstbezeichnung Elias als »Knecht« Jhwhs in I Reg 18 36, die dort aufgrund des späteren Gebrauchs eingetragen worden ist, findet sich die erste Verwendung für einen Propheten bei Jesaja in Jes 20 33, danach häufig im Jeremiabuch. Jeremia hat den Ausdruck offenbar gern gebraucht und ist der eigentliche Urheber der Anwendung auf einen Propheten. Nachdem die Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier den Judäern erwiesen hatte, daß Jeremia entgegen ihrer Ansicht ein wahrer Jhwh-Prophet gewesen war, wurde der Ausdruck zu einer Ehrenbezeichnung für Propheten, in diesem Sinne von den Verfassern oder Bearbeitern der Königsbücher verwendet und vom Zweiten Jesaja für sich selbst in Anspruch genommen, um sich als einen wahren Jhwh-Propheten zu kennzeichnen. Ist der »Knecht Jhwhs« der Zweite Jesaja selbst, so scheidet die Deutung von Jes 52 13—53 12 als Ankündigung oder Verheißung eines Messias sogleich aus. Der Spruch kündigt also nicht einen Messias an, der durch sein stellvertretendes Leiden und durch seinen Sühnetod gekennzeichnet wäre 4 . 2. Um die Aussagen von Jes 52 13—53 12 recht zu verstehen, gehen wir von einer Ubersetzung aus, die so wörtlich wie möglich ist. Vor der Erklärung der Teilabschnitte des Gesamtspruchs wird an ihre Stelle eine freiere Ubersetzung treten, in der schon die Ergebnisse der Einzelexegese verarbeitet sind. Der Text ist freilich, wie so häufig im Alten Testament, nicht einwandfrei überliefert worden. An mehreren Stellen sind einzelne Wörter verderbt und zu korrigieren, an einigen Stellen sind von Lesern oder Schreibern Zusätze hinzugefügt worden. Dies alles ist in den Anmerkungen angegeben und soweit wie möglich erläutert worden. »52 13 Seht, mein Knecht wird Erfolg haben [erhaben sein] 5 , und er wird hoch ragen und erhaben sein. 14 Wie sich entsetzten viele 'über ihn' 6 , 3 4

5 6

A m 3 7 ist ein junger Zusatz. Zu den messianischen Verheißungen vgl. G . Fohrer, Geschichte der israelitischen Religion, 1969. Wiederholender Zusatz. A n Stelle von: über dich (vom Knecht wird in der 3. p. geredet).

Stellvertretung und Schuldopfer in Jes 52 13—53 12

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'weil' 7 Entstellung weg vom Menschen sein Aussehen war und seine Erscheinung weg von Menschenkindern, 15 so 'werden sich ereifern' 8 viele Völker über ihn, Köriige (staunend) ihren Mund schließen. Denn was ihnen nicht erzählt wurde, sehen sie, und was sie nicht gehört haben, gewahren sie.« 53 1 Wer hat unserer Kunde 9 geglaubt, und der Arm Jhwhs — wem wurde er enthüllt? 2 Er wuchs wie ein Schößling Vor uns' 1 3 auf und wie eine Wurzel aus dürrem Lande. E r war ohne Erscheinung und Schönheit [daß wir ihn ansehen wollten] 1 1 und ohne Aussehen 'und Lieblichkeit' 1 2 . 3 Er war verachtet und von Menschen gemieden, ein Mann der Schmerzen und vertraut mit Krankheit und wie einer, vor dem man das Antlitz verhüllt; er war verachtet, und wir schätzten ihn nicht. 4 Wahrlich, unsere Krankheiten trug er, und unsere Schmerzen — 'er' 1 3 lud sie auf. Und wir hielten ihn für einen Getroffenen, geschlagen von Gott und erniedrigt. 5 Aber er war durchbohrt wegen unserer Auflehnung, zerschlagen wegen unserer Vergehen. Züchtigung zu unserem Heil war auf ihm, und durch seine Wunde wurde uns Heilung. 6 Wir alle irrten wie das Kleinvieh umher, wir wandten uns ein jeder auf seinen Weg. Aber Jhwh hat ihn treffen lassen unser aller Schuld. 7 Er war bedrängt und gebeugt, aber er öffnete seinen Mund nicht — wie ein Schaf, (das) zur Schlachtung gebracht (wird), und wie ein Mutterschaf vor seinen Scherern. [Er verstummte und öffnete seinen Mund nicht.] 1 4 8 Aus Bedrückung und Urteil wurde er weggenommen, aber bei seiner Generation — wer bedenkt es?

7

An Stelle von: so (folgt in v. 15, hier Begründung nötig).

8

An Stelle von: er wird besprengen (dazu paßt die Fortsetzung nicht: viele Völker über ihn).

9

Im Sinne von: Kunde für uns; Kunde, die uns zuteil wurde.

10

An Stelle von: vor ihm (paßt nicht im Zusammenhang des Textes).

11

Ergänzender Zusatz.

12

An Stelle von: daß wir an ihm Gefallen gefunden hätten (im Hebräischen nur zwei Buchstaben mehr; Änderung mit der griechischen Ubersetzung).

13

Mit Handschriften und Versionen als eigenes Wort eingefügt.

14

Wiederholender und variierender Zusatz.

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I. Texte D e n n er ist abgeschieden aus dem Land der Lebenden, wegen 'unserer' A u f l e h n u n g e n ' 1 5 'zu T o d e getroffen' 1 6 . 9 U n d man gab (ihm) bei Frevlern sein G r a b und bei ' Ü b e l t ä t e r n ' 1 7 seine G r a b s t ä t t e 1 6 , o b w o h l er kein Unrecht getan hatte und kein Trug in seinem Munde war. 10 A b e r J h w h gefiel es, ihn zu schlagen [er machte k r a n k ] 1 9 , als 2 0 ' e r ' 2 1 sein Leben als Schuldopfer setzte. E r sieht N a c h k o m m e n , die die Tage verlängern ( = lange leben), und der W u n s c h J h w h s gelingt durch seine H a n d .

» n Wegen der Mühsal seines Lebens 22

D u r c h 'sein L e i d e n ' 2 3 schafft er R e c h t ( = bringt er Heil) den Vielen [der G e r e c h t e , mein Knecht]24 und ihre Vergehen — er lädt sie auf. 12 D a r u m teile ich ihm die Vielen zu und die Zahlreichen [verteilt e r ] 2 5 als Beute, dafür daß er preisgegeben hat [dem T o d e ] 2 6 sein Leben und sich zu den E m p ö r e r n zählen ließ. A b e r (gerade) er trug die Sünde der Vielen und trat für die E m p ö r e r ein.«

3. Der Spruch ist in poetischer Form gehalten. Er gliedert sich in sechs Strophen, von denen jede fünf Verse mit jeweils zwei Verszeilen enthält. Die erste und die letzte Strophe sind als Gottesworte formuliert, die von ihnen umrahmten Strophen dagegen einer Mehrzahl von Israeliten in den

15

A n Stelle v o n : wegen der Auflehnung meines Volkes (da immer eine Mehrzahl von sich redet).

16

A n Stelle v o n : ein Schlag für ihn (im Anschluß an die griechische Ubersetzung; im H e b r ä ischen nur geringe Änderung der K o n s o n a n t e n ) .

17

An Stelle v o n : einem Reichen (im Hebräischen ist ein K o n s o n a n t ausgefallen).

18

D a s hebräische W o r t vermittelt zwischen den Ausdrücken für Grabstätte und T o d .

19

Erklärender Zusatz.

20

D i e Partikel steht im zeitlichen Sinn auch J e s 4 4 2 4 13 A m 7 2.

21

A n Stelle der 3 . p. fem. oder der 2 . p. mask.

22

D e r jetzige T e x t lautet: sieht er, wird satt. Dieser T e x t ist verderbt und kann nicht wiederhergestellt werden.

23

A n Stelle v o n : durch seine Erkenntnis (Änderung eines hebräischen K o n s o n a n t e n ; das

24

Zwei Zusätze (dittographisch und näherbestimmend).

25

Ändernder Zusatz; der K n e c h t verteilt nicht, sondern erhält.

26

Erklärender Zusatz.

jetzige W o r t ist im Zusammenhang falsch).

Stellvertretung und Schuldopfer in Jes 52 13—53 12

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Mund gelegt und in der Art eines Dankliedes (wie es aus dem Psalter bekannt ist) gehalten. Inhaltlich ist der Spruch folgendermaßen aufgebaut: 1. Strophe: einleitendes Gottes wort über den Erfolg des Knechtes. 2 . - 3 . Strophe: Leben und Leiden des Knechtes, 4 . - 5 . Strophe: Leiden und Sterben des Knechtes, 6. Strophe: zusammenfasssendes Gotteswort. »Seht, mein Knecht w i r d Erfolg haben und aufs höchste erhaben sein. W i e sich entsetzten viele 'über ihn', 'weil 1 sein Aussehen nicht mehr menschlich w a r und seine Erscheinung nicht mehr menschenähnlich, so werden seinetwegen viele V ö l k e r 'sich' ereifern, Könige (staunend) ihren Mund schließen. Sie schauen Nieerzähltes, erfahren Niegehörtes.«

Das einleitende Gotteswort spricht sogleich vom zukünftigen Erfolg, den das Leiden des Knechtes Jhwhs haben wird. Dies steht in lehrhafter Rede am Anfang, bevor die Tiefen seines Geschicks dargelegt werden, damit von vornherein das rechte Urteil über den Knecht gesichert ist. Außerdem läßt sich dabei bereits erkennen, daß der Verfasser stilistisch das Mittel der Kontrastwirkung bevorzugt; dies macht auch die Eigenart und Eindrücklichkeit der folgenden Strophen aus. Abgesehen vom künstlerischen Eindruck sucht er auf diese Weise an den großen Gegensätzen die grundlegende Bedeutung des Lebens und Sterbens des Knechtes zu verdeutlichen. Der Knecht, auf den Gott hinweist, steht als der Eine den Vielen gegenüber, als der wahrhaft Gerechte denjenigen, die die Gerechtigkeit benötigen, weil sie irr^Unrecht leben. Er hat ein schweres Geschick erdulden und den Tod auf sich nehmen müssen. Während die anderen sich darüber zunächst entsetzten, werden sie künftig voller Staunen sein. Genauer gesagt, staunen sie nicht den Knecht selbst an, sondern ereifern sich und geraten in Aufregung über das, was sich durch ihn und durch das Los, das er getragen hat, ereignet. Sucht man nun näher zu bestimmen, wer die »Vielen« sind, von denen dies gilt, so bemerkt man eine gewisse Unschärfe der Ausdrucks weise. Der Ausdruck »viele Völker«, der die nichtisraelitischen Heidenvölker bezeichnet, muß dazu führen, die »Vielen« mit ihnen gleichzusetzen. Aber sollten gerade sie und lediglich sie, jedoch keine Israeliten, sich über den Knecht entsetzt haben? Sollte er nur sie als »Beute« erhalten (53 12)? Es stehen doch in 53 12 b die »Vielen« neben den «Empörern«, und dieser letzte Ausdruck weist in eine andere Richtung. Er bezeichnet nach dem sonstigen Sprachgebrauch die sich gegen Gott auflehnenden Israeliten, die demnach zweifellos in den »Erfolg« des Knechtes

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I. Texte

einbezogen werden sollen. Angesichts dessen muß man die nicht völlig eindeutige Ausdrucksweise in Kauf nehmen und manchmal in das von einer Gruppe Gesagte die andere Gruppe einschließen. Was sich ereignet hat, ist nach dem Gotteswort also so weltbewegend, daß es die ganze Menschheit, Israel und die Völker, bis zu ihren höchsten Repräsentanten, den Königen, berühren wird. Es verhält sich demnach nicht so, daß über dem Lebenswerk des Knechtes, des Zweiten Jesaja, ein Umsonst stünde, wie er nach 49 1-6 befürchtete, oder daß die Schande, wie 50 4-9 sie beschrieb, das letzte wäre. Vielmehr wird er am Ende aufs höchste erhaben sein. Aus dem Geschändeten wird der Geehrte, aus dem Erniedrigten der Erhöhte. Gewiß ist er durch äußerste Tiefen gegangen. Seine Leidensgestalt war nicht mehr menschenähnlich, für den Zuschauer ein Gegenstand des Grauens und Entsetzens. Doch gerade damit hängt es zusammen, daß Gott sein Ansehen nach seinem schon erfolgten Tode erhöhen will, ja daß mit seinem Leiden und Sterben der Weg zu dieser Höhe beginnt. Die Mächtigsten der Erde sollen davor still werden. Denn in diesem Schicksal ist etwas Unvergleichliches geschehen, von dem man bisher niemals erzählt und gehört hat. Indem sich das Rätsel um das Geschick des Knechtes löst, wird ein Neues offenbar, für das es kein Vorbild gibt. Die folgenden vier Strophen sollen das Nieerzählte und Niegehörte schildern, wie die Gruppe der sprechenden »Wir« in Israel es zuerst erkannt hat — allerdings auch nicht zu Lebzeiten des Knechtes, sondern erst nach seinem Tode — und wie sie es nunmehr der ganzen Menschheit darlegen will, zu der der Zweite Jesaja sich als der »Knecht Jhwhs« ja gesandt wußte. Die Betrachtung des Leidens im Leben des Knechtes und seiner Bedeutung beginnt in der 2. Strophe mit einem staunenden Ausruf und hebt als solches Leiden im Leben des Knechtes seine Unansehnlichkeit, seine Krankheit, sein Verachtetsein und seine Vereinsamung hervor. Vielfach ist dies mit den Aussagen des Klageliedes oder mit der Erzählung der N o t im Danklied verwandt; nur spricht nicht der Klagende oder Dankende selbst, sondern reden andere von ihm. Wer hat der Kunde, die uns ward, geglaubt, wem ward der Arm des Herrn enthüllt? Er wuchs 'vor uns' ja wie ein Schößling auf, wie eine Wurzel aus trockenem Erdreich — keine schöne Erscheinung, ohne 'liebliches' Aussehen. Er war verachtet, von Menschen gemieden, ein Mann der Schmerzen und vertraut mit Krankheit — wie einer, vor dem man das Antlitz verhüllt —, verachtet, so daß wir ihn nicht schätzten.

Nach dieser Schilderung müssen offenbar die Abkunft und Jugend des Knechtes als einfach oder armselig gelten; das Bild von der Wurzel aus

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trockenem Erdreich verdeutlicht dies. Stärker als das Geringwertige aber werden das Schmachvolle, Schreckliche und Grauenerregende gekennzeichnet. Krankheit und Schmerzen waren sein Schicksal. Nach der damaligen Auffassung, die man als Vergeltungsglauben bezeichnet, bedeutete dies, daß Gott ihn wegen einer offenen oder verborgenen Sünde geschlagen und gezeichnet hatte, daß seine Krankheit und seine Schmerzen also die Straffolge für seine Vergehen und ein gerechtes Schicksal waren. Die Folge war, daß alle anderen, die dies glaubten, sich von ihm abwandten, um nicht in sein Unglück hineingezogen zu werden. Darum wurde er verachtet und gemieden. Auch die sprechenden »Wir« bekennen sich solcher Verfemung schuldig. Wegen dieser Sachlage hat Israel das nicht getan, was der staunende Ausruf am Anfang der Strophe ausdrückt: Niemand hat der Kunde geglaubt, die der Zweite Jesaja als neue, ihm geoffenbarte Botschaft verkündete: der Kunde von der bevorstehenden Erlösung Israels. Niemand hat erkannt, daß sich im Auftreten des Propheten der Arm Gottes, sein geheimnisvolles und mächtiges Walten im Völkergeschick, ankündigte. Dies alles war so, weil man das Leiden in seinem Leben mißdeutete. Denn die 3. Strophe gesteht nun, daß man das Leiden des Knechtes früher falsch verstanden hat und erst jetzt recht versteht: D o c h unsere Krankheiten trug er, unsere Schmerzen lud 'er' sich auf, während w i r ihn f ü r gezeichnet hielten, v o n G o t t geschlagen und erniedrigt. Er w a r durchbohrt ob unserer A u f l e h n u n g , zerschlagen wegen unserer Vergehen. Er w a r zu unserem Heil gezüchtigt, durch seine W u n d e wurden w i r geheilt. W i r alle aber gingen wie die Schafe in die Irre, jeder v o n uns auf seinen W e g bedacht.

Damit sprechen die «Wir« das neue Urteil über den Knecht aus, zuerst das rechte Verständnis, zu dem sie geführt worden sind, danach die falsche Deutung, der sie ursprünglich verfallen waren. Da haben sie in Krankheit und Leid ihres Knechtes nach der herkömmlichen Auffassung eine Strafe für seine eigenen Sünden erblickt. Später haben sie jedoch erkannt, daß er sündlos war und daß er daher nicht für seine eigene Sünde gelitten haben kann. Da er aber gelitten hat und da solches Leiden die Strafe für Sünde darstellt, hat sich für die »Wir« der Schluß ergeben, daß der Knecht für die Sünde anderer Menschen gelitten hat. Er tat es stellvertretend für sie. In der 4. Strophe wendet sich die Betrachtung dem Leiden im Sterben des Knechtes und seiner Bedeutung zu: Jedoch der Herr hat ihn unser aller Verschuldung treffen lassen.

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Er ward bedrängt und war gebeugt, doch tat er seinen Mund nicht auf — wie ein Lamm, das man zur Schlachtbank bringt, und wie ein Schaf v o r denen, die es scheren. A u s Haft und Urteil ward er abgeführt, doch wer aus seiner Generation bedenkt es? Er ist ja abgeschieden aus dem Land der Lebenden, 'ob unserer Auflehnung' 'zu Tod getroffen'.

Gott hat also nicht die »Wir« bestraft, sondern ihre Verschuldung und die daraus folgende Strafe dem Knecht aufgeladen. Da er die Übertragung wollte und vollzog, hat er dem Knecht den Tausch auferlegt. So wurde dieser mißhandelt und zu Tode gequält, jedoch' geduldig und nicht protestierend wie der sich gleichfalls schuldlos wissende Hiob. Das ist das Ungewöhnliche daran. Gerade weil das Leiden als Strafe für Sünde verstanden wurde, wehrte man sich nicht selten leidenschaftlich dagegen, wenn man es als unverdient empfand. Um so auffälliger war die stille, geduldige und ergebene Art des Knechtes, die der Vergleich mit dem zu schlachtenden Lamm und zu scherenden Schaf beschreiben soll. Doch nicht nur von der Geduld des Leidenden wird gesprochen. Das Leid war ja nicht eine vorübergehende Prüfung, sondern forderte die Hinnahme bis zum Tode. Und dieser Tod war ein gewaltsamer Tod, der offenbar nach einem Gerichtsverfahren erfolgte. Darauf scheinen die mit »Haft«, »Urteil« und »abgeführt« übersetzten Ausdrücke hinzuweisen (vgl. Prov 24 11: »abgeführt werden« zur Hinrichtung). Nun durften die Deportierten wahrscheinlich keine Blutgerichtsbarkeit ausüben und kein Todesurteil fällen oder vollstrecken. Dann bleibt nur die Annahme übrig, daß ein babylonisches Gericht den Zweiten Jesaja — vielleicht aufgrund einer Anzeige seiner israelitischen Gegner, wie 50 10-11 nahelegt — wegen staatsgefährlicher Umtriebe verurteilt hat; als Beweis konnten seine Sprüche über den baldigen Sieg des Perserkönigs Kyros und den Untergang des babylonischen Reiches dienen. Jedenfalls war das »Land der Lebenden« für ihn dahin und der Tod, nach babylonischer Redeweise das »Land ohne Rückkehr«, sein Teil. Bei Frevlern gab man ihm sein Grab, bei 'Übeltätern' seine Grabstätte, obwohl er kein Unrecht sretan, kein Trug in seinem Munde war. A b e r dem Herrn gefiel es, ihn zu schlagen, als 'er' sein Leben als Schuldopfer hingab. So sieht er Nachkommen, die lange leben; was der Herr wünscht, gelingt durch ihn.

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Verurteilt, hingerichtet und verscharrt — so endete nach der 5. Strophe der Lebensweg des Knechtes, des Zweiten Jesaja. Der Einsamkeit seines Lebens und Sterbens entspricht sein Grab in der Armsünderecke, wie man sagen kann. Denn als hingerichteter Verbrecher erhielt er keine ehrenvolle Bestattung, sondern wurde schmählich verscharrt. Das ist die tiefste Erniedrigung: er, der schuldlos gestorben war, bei den Frevlern vergraben ! Mußte dies alles geschehen? Eindeutig will der Verfasser rückblickend ausdrücken, daß Gott der Urheber war — des Leidens, des Todes und der Übertragung auf andere. Was geschehen ist, war weder Zufall oder Irrtum noch brutaler Ubergriff oder heroischer Entschluß, sondern Gottes Absicht und Wille. Ihm gefiel es, er wollte, daß der Knecht in solcher Weise litt, damit sein Leiden den anderen zugute käme, und daß der Knecht in solcher Weise starb, damit sein Tod als Schuldopfer diene. Und weil der Prophet als Gottesknecht dies alles freiwillig und geduldig auf sich genommen hat, gelingt der Wille Gottes durch ihn, wird erfüllt und gelangt zu seinem Ziel. Die Erlösung der Schuldbeladenen von der Sünde und ihre Bewahrung vor der deswegen drohenden Strafe ist vollzogen, sie müssen sie sich nur mehr aneignen. Daß solche Aneignung geschehen wird, dessen ist der Verfasser gewiß: Der Knecht wird Nachkommen sehen. Die letzten Zeilen der 6. Strophe drücken den gleichen Gedanken im Blick auf die Völker dahin aus, daß die Vielen ihm zuteil werden. Aus der Einsamkeit des Opfers des Knechtes erwächst bei den Israeliten wie bei den Völkern die Fülle derer, die daraus leben und die darum seine Nachkommen heißen. Sie eignen sich die stellvertretend vollzogene Erlösung an, so daß aus seinem Geiste eine Gemeinde ersteht, die lange lebt und Bestand hat. »Wegen der Mühsal seines Lebens Durch sein 'Leiden' schafft er vielen Heil und lädt ihre Vergehen auf sich. D a r u m teile ich ihm die Vielen zu und die Zahlreichen als Beute, weil er sich preisgegeben hat und sich zu den Empörern rechnen ließ. D o c h er gerade trug die Sünde der Vielen und trat f ü r die Empörer ein.«

Die Strophe beschreibt das stellvertretende Leiden in immer neuen Sätzen. Durch es ist die Sünde behoben, die Schuld gesühnt und der Weg zum Heil offen. Nun können sich die »Vielen«, die Heidenvölker, und die »Empörer«, die Israeliten, in einer Gemeinschaft vereinigen. Sie sind als umfassende Gottesgemeinde dann der Lohn, der »Anteil« und die »Beute« des Knechtes, der damit den Willen Gottes vollendet. Die Freiwilligkeit

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seines Leidens, die Verbundenheit mit den Empörern, zu denen er sich rechnen ließ, und sein Eintreten für die Sünde aller Menschen machen den prophetischen Knecht zum Heiland. Sie zeigen eine Liebe, die sich der anderen nicht schämt, sondern für sie eintritt und ihr Los an ihrer Statt trägt. 4. Stellen wir nunmehr die Aussagen über das Leiden und Sterben, die Stellvertretung und den Sühnetod des »Knechtes Jhwhs« zusammen, um einen Uberblick zu gewinnen. a) Allgemeine Aussagen über das Leiden (1. und 6. Strophe): Aussehen nicht mehr menschlich und Erscheinung nicht mehr menschenähnlich. Mühsal seines Lebens. Sein Leiden. b) Aussagen über das Leiden im Leben und seine Bedeutung (2.— 4. Strophe): Wie eine Wurzel aus trockenem Erdreich. Keine schöne Erscheinung, ohne liebliches Aussehen. Verachtet, von Menschen gemieden, ein Mann der Schmerzen, vertraut mit Krankheit. Wie einer, vor dem man das Antlitz verhüllt. Verachtet, so daß nicht geschätzt. Wir hielten ihn für gezeichnet, von Gott geschlagen und erniedrigt. Er ward bedrängt und war gebeugt. Doch: Er trug unsere Krankheiten und lud sich unsere Schmerzen auf. Er war durchbohrt ob unserer Auflehnung, zerschlagen wegen unserer Vergehen. Er ward zu unserem Heil gezüchtigt, durch seine Wunde wurden wir geheilt. Und: Der Herr hat ihn unser aller Verschuldung treffen lassen. c) Aussagen über das Leiden im Sterben ( 4 . - 5 . Strophe): Aus Haft und Urteil abgeführt. Abgeschieden aus dem Land der Lebenden. Zu Tod getroffen. Sein Grab bei Frevlern, seine Grabstätte bei Übeltätern. d) Aussagen über den Hintergrund des Todes (5. Strophe): Dem Herrn gefiel es, ihn zu schlagen, als er sein Leben als Schuldopfer hingab.

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e) Zusammenfassende Aussagen über die Stellvertretung, ohne daß zwischen Leben und Tod unterschieden wird (6. Strophe): Er schafft durch sein Leiden vielen Heil und lädt ihr Vergehen auf sich. Er hat sich preisgegeben und ließ sich zu den Empörern rechnen. Er trug die Sünde der Vielen und trat für die Empörer ein. An diesem Uberblick fallen vor allem drei Besonderheiten auf: 1. Die Aussagen über die Stellvertretung begegnen zunächst nur in Verbindung mit dem Leiden im Leben des Knechtes, dagegen nicht in Verbindung mit dem Leiden im Sterben. So verhält es sich jedenfalls in den Worten des »Wir«. Erst das abschließende Gotteswort spricht allgemein von Stellvertretung, ohne zwischen Leben und Sterben zu unterscheiden, so daß es möglich wäre, die Stellvertretung auch auf das Sterben zu beziehen. Doch ist diese Möglichkeit eher zu verneinen, da die abschließende Strophe keine neuen Verbindungen schaffen, sondern die vorher genannten bekräftigen will. Daher ist wohl zu sagen: Es ist die Rede vom stellvertretenden Leiden im Leben des Knechtes, dagegen nicht von einem stellvertretenden Leiden im Sterben. Die Vorstellung von der Stellvertretung wird allein mit dem Leiden im Leben in Verbindung gebracht. 2. Das Leiden im Sterben verbinden die »Wir« nicht mit der Vorstellung von der Stellvertretung, sondern bezeichnen die Hingabe des Lebens als Schuldopfer. Neben die Vorstellung von der Stellvertretung (in Verbindung mit dem Leiden im Leben) tritt also die Vorstellung vom Opfer (in Verbindung mit dem Tode). 3. Stellvertretung und Opfer des Lebens werden teils als ein freiwilliges Tun des Knechts, teils als ein Handeln Gottes bezeichnet. Das widerspricht sich allerdings nicht, da im Alten Testament öfters ein Geschehen in dieser zweifachen Weise charakterisiert werden kann. Es sind verschiedene Aspekte gemeint: Das menschliche Tun geschieht sowohl freiwillig als auch als von Gott gewollt.

II. Um die Vorstellung von der Stellvertretung zu erklären, hat man auf mehrere Riten und Vorstellungen in altorientalischen Religionen, aber auch in Israel selbst hingewiesen und die Gedanken in Jes 52 13 — 53 12 mehr oder weniger ausdrücklich von ihnen abgeleitet. Von diesen Riten und Vorstellungen müssen wir vor allem die drei folgenden betrachten: 1. das Auftreten des babylonischen Königs beim Neujahrsfest; 2. die Einsetzung von Schein- oder Ersatzkönigen für eine begrenzte Zeit, wenn dem regierenden Herrscher ein Unheil zu drohen schien; 3. die Übertragung der Unreinheit Israels auf den sog. Sündenbock und dessen Ubergabe an den Dämon der Wüste am Versöhnungstag (Lev 16).

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I. Texte

1. Man sagt, daß sich beim babylonischen Neujahrsfest der König als Träger der Sünden des Volkes vor dem Oberpriester erniedrigt und daß er von diesem stellvertretend die Absolution empfangen habe 27 . Jedoch spricht kein babylonischer Text von der Übertragung der Sünden des Volkes auf den König und von ihrer Sühnung durch ihn. Auch das Bekenntnis, das der König am Neujahrsfest bei seiner Erniedrigung ablegte, betraf ausschließlich seine persönlichen Vergehen — und von diesen versicherte er gerade an Hand eines Beichtspiegels, daß er solche nicht begangen habe. Von Stellvertretung kann keine Rede sein. 2. Ausführlicher müssen wir uns mit der Institution des Schein- oder Ersatzkönigs befassen, der bisher besonders aus mesopotamischen Quellen bekannt war und manchmal als ein Vorbild für den »Knecht Jhwhs« betrachtet wird 28 . Aus assyrischen Briefen aus der Zeit um 670 v. Chr. geht hervor, daß die Furcht vor unheilvollen Omina (Vorzeichendeutungen), die vor allem für Mond- und Sonnenfinsternisse den Tod des Königs vorhersagten, mehrfach zur Einsetzung eines Ersatzkönigs kurz vor dem Himmelsereignis geführt hat. Ein einfacher Mann wurde inthronisiert und residierte solange, bis einige Zeit nach dem Vorzeichentermin verstrichen war, um die befürchteten Folgen auf sich zu nehmen, während der wirkliche König sich während dieser Zeit unter dem Decknamen »Bauer« in ein Inkognito zurückzog und strengen rituellen Vorschriften unterwarf. Trat die Finsternis wirklich ein, so starb der Ersatzkönig bald darauf eines wohl gewaltsamen Todes, damit das Omen erfüllt war. Trat die Finsternis nicht ein, so blieb er bis zu 100 Tagen im Amt, damit man ganz sicher sein konnte, daß die Gefahr vorüber war; über sein weiteres Schicksal in diesem Falle ist nichts bekannt. Es gibt noch ältere Hinweise auf die Einsetzung solcher Ersatzkönige. Die älteste Nachricht stammt aus dem 19. Jh.; nach ihr hat ein Ersatzkönig in Isin den plötzlichen Tod des wirklichen Königs dazu benutzt, sich des Thrones zu bemächtigen, den er 24 Jahre lang behaupten konnte. Die jüngste Anwendung des Ritus läßt sich aus Plutarch, Arrian und Diodor für die Zeit Alexanders d. Gr. erschließen: Alexander hatte die Stadt Babylon betreten, obwohl die Astrologen ihn davor gewarnt und ihm Unheil vorausgesagt hatten. Wenn die von den Griechen unverstandenen und mißachteten »Chaldäer« dennoch in gewohnter Loyalität den neuen Herrscher retten wollten, blieb ihnen nur der Ausweg, nach dem alten Ritus einen 27

Vgl. G . Lanczkowski in R G G 3 VI, 357.

28

Vgl. R . Labat, L e sort des substituts royaux en Assyrie au temps des Sargonides, Revue d'Assyriologie et d'Archéologie Orientale 40 (1945/46), 1 2 3 - 1 4 2 ; F . M . T h . de Liagre Böhl, Prophetentum und stellvertretendes Leiden in Assyrien und Israel, in: O p e r a Minora, 1953, 63—80. Das Folgende im wesentlichen nach H . M. Kümmel, Ersatzkönig und Sündenbock, Z A W 80 (1968), 2 8 9 - 3 1 8 .

Stellvertretung und Schuldopfer in Jes 52 13—53 12

37

Ersatzkönig einzusetzen — freilich hinter Alexanders Rücken, der sich dem Ritus sicher nicht unterworfen hätte. Da vermochte es ein wohl geistig beschränkter Strafgefangener — ob in einem günstigen Augenblick oder dank geschickter Regie, muß offen bleiben — sich im Auftrag der Astrologen der gerade abgelegten königlichen Insignien zu bemächtigen und ungehindert auf dem Throne Platz zu nehmen. Damit war er Ersatzkönig geworden. Daß dann die Griechen, die erst in dieser frevelhaften Handlung das böse Vorzeichen erblickten, daraufhin entsprechend dem — in einem anderen Sinn gegebenen — Rat der Babylonier den Mann töteten, ließ nach babylonischer Vorstellung den Ersatzkönigritus voll wirksam werden. Der Ersatzkönig ist ein Sonderfall der schon im ältesten Mesopotamien verbreiteten Ersatzriten. Sie finden sich vor allem in den Krankheitsbeschwörungen, in denen ein Tier als Substitut für das gefährdete Leben des Kranken getötet wird. Dabei identifiziert man das Tier mit dem Menschen, wie auch der Ersatzkönig mit dem wirklichen König identifiziert wird, ja dieser König ist. Ein Beispiel soll diese Vorstellungsweise verdeutlichen 29 : Gib das Ferkel als seinen Ersatz! Gib das Fleisch an Stelle seines Fleisches, das Blut an Stelle seines Blutes! Mögen sie (die Dämonen) es nehmen! Gib das Herz, das du ihm oben auf sein Herz gelegt hast, an Stelle seines Herzens, mögen sie es nehmen! [Das Ferkel] sei ein Ers[satz!] [Das Ferkel] sei ein S u b s t i t u t ! ]

In allen Fällen handelt es sich also nicht um Opfer; vielmehr werden der Mensch bzw. der König mit einem Ersatz identifiziert, der sein Schicksal erleiden soll. Wegen der Identifizierung beider kann man ebensowenig von einer Stellvertretung sprechen; denn die erstere ist mehr als die letztere. Wir befinden uns im Bereich der Ähnlichkeitsmagie mit der Vorstellung von der Identität von Urbild und Substitut, Ersatz oder Abbild. Dabei kann das Abbild die Stelle des Urbildes einnehmen und dessen Schicksal erleiden, während jenes selbst verschont bleibt. Es ist ferner selbstverständlich, daß der Ersatzkönig nicht um sein Einverständnis gefragt wurde und daß man ihn über sein künftiges Schicksal im unklaren ließ. Von Freiwilligkeit kann daher keine Rede sein. Außerdem sind die Ersatzkönigriten völlig unabhängig von Sünde oder Frömmigkeit des Königs und des Ersatzkönigs, denn der Ritus wirkt ohne Rücksicht auf die religiös-ethische Qualität der beteiligten Menschen als magische Handlung durch die ihr innewohnende Macht. Das Problem des schuldlos leidenden »Knechtes Jhwhs« bleibt gänzlich außer acht. Schließlich zielt der Ersatzkönigritus auf den Tod des Ersatzkönigs zum Schutz des wirklichen Königs ab, so daß eine oberflächliche Gleich29

Zitiert nach H. M . Kümmel a . a . O . 294.

38

I. Texte

Stellung mit dem »Schuldopfer« des Knechtes Jhwhs möglich wäre. Wie aber das Sterben des Ersatzkönigs kein Opfer, sondern eine Schutzmaßnahme ist, so wird die Vorstellung von der Stellvertretung durch den Knecht Jhwhs gerade nicht mit dessen Tod, sondern mit dessen Leiden im Leben in Verbindung gebracht, wovon wiederum bei dem in Pracht und Herrlichkeit residierenden Ersatzkönig keine Rede sein kann. Wir treffen demnach immer wieder auf Unterschiede zwischen Ersatzkönig und Knecht Jhwhs anstatt auf Ähnlichkeiten. Das gilt erst recht für das Ersatzkönigritual der kleinasiatischen Hetiter, das diese von Mesopotamien übernommen, jedoch in einem wesentlichen Punkt geändert und um einen anderen Ritus erweitert haben 3 0 . Der Ersatzkönig wird nach einem hetitischen Ritual gerade nicht getötet, sondern — mit dem bösen Omen beladen — ins feindliche Ausland geschickt. Die Bedeutung dessen drückt ein zweites Ritual aus: Auf diese Weise soll das Böse weggeschafft werden, damit der König und das Land davon frei werden. Darin ist nach einem dritten Ritual das Entscheidende zu erblicken: Ein Gefangener wird als »Ersatz« bezeichnet und übernimmt die Kleidung des Königs, nicht dessen Amt. Er vertritt nicht eigentlich den König, sondern soll zugunsten des ganzen Landes das Übel, in diesem Fall eine Krankheit, auf sich nehmen und ins Ausland forttragen. Dieses Aufsichnehmen und Forttragen ist magische Beseitigung, die Übertragung von böser Macht durch Berührung und ihr Entfernen durch das Fortschicken desjenigen, an dem sie haftet. 3. Der neue hetitische Ritus gehört schon zum dritten Punkt: dem Fortschicken des Bocks in die Wüste (ursprünglich nur Lev 16 5 - 1 0 . 2 0 - 2 2 ) , worin man ebenfalls die Stellvertretungsvorstellung hat erblicken wollen 3 1 . Dem liegt in der ältesten Zeit jedoch der Beseitigungsritus zugrunde. Wenn der Bock zu dem Dämon der Wüste geschickt werden soll, ist sicher nicht an ein Opfer gedacht, weil das Tier durch die ihm aufgeladene Unreinheit dafür untauglich war. Daß der den Ritus Ausführende seine beiden Hände auf den Kopf des Bocks stemmen soll, ist auch nicht als Stellvertretungssymbolik zu verstehen. Vielmehr ist dies eine Berührung, mittels derer die Unreinheit im Sinne der Berührungsmagie auf das Tier übertragen wird. Höchstens für eine sehr junge Umdeutung des alten Ritus, die jünger als der Zweite Jesaja ist, könnte man in dem Tier einen Ersatz oder vielmehr auch einen Stellvertreter für Israel erblicken. In diesem Falle aber läge darin eine Einwirkung der Gedanken von Jes 52 13—53 12 auf Lev 16 vor und nicht umgekehrt. Die westkleinasiatischen Griechen kannten ebenfalls einen derartigen Ritus, bei dem am Fest der Thargelia ein Mensch unter der Bezeichnung

30

H . M. Kümmel, Ersatzrituale für den hethitischen König, 1967.

31

Vgl. G . Lanczkowski in R G G 3 VI, 357.

Stellvertretung und Schuldopfer in Jes 52 13—53 12

39

»Gegen-, Heil-, Zaubermittel« aus der Stadt hinausgeführt und unter Steinwürfen verjagt wurde. Der Beseitigungsritus findet sich also im großen kleinasiatisch-palästinischen Bereich bei Griechen, Hetitern und Israeliten. Dies läßt zwar auf eine alte kleinasiatisch-syrisch-palästinische Tradition schließen, zu der ferner das Brandopfer gehörte, aber eine Vorform für das stellvertretende Leiden im Leben des »Knechtes Jhwhs« liegt darin nicht vor. III. Erbringen die altorientalischen Religionen für die Stellvertretungsvorstellung so gut wie nichts, so müssen wir in Israel Umschau halten, obwohl dort der Ritus des Versöhnungstages auch schon ausfällt. Doch vielleicht gibt es wenigstens israelitische Anregungen oder Vorformen für das stellvertretende Leiden im Leben des »Knechtes Jhwhs«. Um es gleich zu sagen: Es findet sich nicht viel. Es gibt die Vorstellung, daß ein Einzelmensch eine Gemeinschaft verkörpern und für sie handeln oder leiden kann; dies trifft in erster Linie für den König als den Repräsentanten seines Volkes zu 3 2 . Ferner kann man auf die Darstellung Moses in der Einleitung des Buches Deuteronomium hinweisen; danach zürnt Jhwh dem Mose um der Israeliten willen, die lange vorher nach der Erkundung Palästinas vor der Eroberung des Landes zurückschreckten, und verwehrt ihm den Einzug in das Land (Dtn 3 2 6 f . ) 3 3 . Schließlich sind die symbolischen Handlungen der Propheten zu nennen, durch deren Ausführung die Propheten etwas Bevorstehendes wirksam ankündigen und dabei manchmal stellvertretend Jhwh, Israel oder Jerusalem verkörpern und schwere Lasten auf sich nehmen: Hosea heiratet eine ehebrecherische Frau, um am beiderseitigen Verhalten und Ergehen das künftige Verhältnis zwischen Jhwh und Israel darzustellen (Hos 3); Jeremia verzichtet auf Ehe und Kinder, auf die Ausübung von Trauerbräuchen und auf die Teilnahme an Festen, um das künftige traurige Los der Judäer zu symbolisieren (Jer 16 1-9); Ezechiel liegt viele Tage lang auf der linken und der rechten Seite still da, um die Dauer des Exils anzukündigen (Ez 4 4-8). Solche Handlungen haben in beträchtlichem Maße in das Leben der Propheten eingegriffen. Nur verhält es sich umgekehrt wie beim »Knecht Jhwhs«: Sie haben im Rahmen ihrer Verkündigung gehandelt und dadurch Leiden in ihr Leben gebracht, während das Leiden im Leben des Knechts schon vor und unabhängig von seiner Verkündigung vorhanden war und später in deren Dienst gesehen wurde. 32

So greift Jes 10 5-15 den assyrischen König als Repräsentanten des assyrischen Heeres an. Ebenso repräsentieren Einzelkämpfer wie in I Sam 1 7 und II Sam 2 12 ff. das ganze Heer bzw. Volk.

33

Dagegen wird das V e r w e h r e n des Einzugs nach Palästina in N u m 20 12 D t n 32 51 mit der eigenen Schuld Moses begründet.

40

I. Texte

Letztlich müssen wir wohl sagen, daß Jes 52 15 die Lage richtig gesehen hat: Was in dem Knecht-Jhwh-Spruch gesagt wird, ist Nieerzähltes und Niegehörtes! Es besteht keine wirkliche Parallele und kein Vorbild für diese Vorstellung von der Stellvertretung durch das Leiden im Leben des Knechts. D e r Gedanke ist von dem Verfasser des Spruchs offenbar erstmalig und — wenn man von der Anspielung in E x 32 32 absieht — einmalig geäußert worden. U m so wichtiger wird dadurch die Frage nach den Vorstellungen, die damit verbunden sind. D a muß zunächst erwähnt werden, daß sowohl die falsche Deutung des Leidens im Leben des Knechts (Strafe für seine Sünde) als auch die neue Deutung (Tragen der von den anderen Menschen verwirkten Strafe) von der Voraussetzung des Vergeltungsglaubens ausgehen, daß alles Leiden als eine von G o t t verhängte Strafe für menschliche Sünde gelten müsse. Dieser Glaube, der später zu einer religiösen Lehre ausgebaut wurde, die teilweise sogar mit Sünden der werdenden Kinder im Mutterleib rechnet, um angeborene Mißbildungen zu erklären, wird im Alten Testament ebenso lebhaft vertreten wie leidenschaftlich bekämpft. D e n wohl kräftigsten Protest erhebt das Buch H i o b in den Reden H i o b s . D i e Stellvertretungsvorstellung geht dagegen unbefangen vom Vergeltungsglauben aus und wendet ihn in eigener Weise an: D a der Knecht sündlos war und daher nicht für seine Sünde leiden konnte, jedoch wirklich gelitten hat, ergibt sich der Schluß, daß er dann eben für fremde Sünde gelitten hat. U n d da er sich nicht gegen dieses Leiden gewehrt und nicht protestiert hat, ist ferner zu schließen, daß er es freiwillig auf sich genommen hat, um den anderen zu helfen. Vielleicht läßt sich dies noch dadurch verdeutlichen, daß man es als einen Ausgleich zwischen zwei anderen Auffassungen beschreibt, in denen um die Anwendung des Vergeltungsglaubens gerungen wird 3 4 . Nach der einen Auffassung, die in Gen 18 23ff. in den Bitten Abrahams um die B e wahrung von Sodom zu W o r t kommt, bewirkt eine bestimmte Zahl von Gerechten, in diesem Falle von zehn, daß die Frevler verschont werden. Nach der anderen Auffassung von E z 14 I2ff. werden nur die Gerechten selbst gerettet, die Frevler dagegen müssen untergehen. Beides wird in Jes 52 13—53 12 in der Weise miteinander ausgeglichen, daß die Frevler durch den Knecht gerettet werden, daß aber auch die ihnen gebührende Strafe vollstreckt wird, jedoch nicht an ihnen, sondern an dem einen G e rechten, dem Knecht. Außer dem Vergeltungsglauben ist ein weiterer Gedanke mit der Stellvertretungsvorstellung verbunden: die Vorstellung von Tausch und U b e r tragung. D e r Knecht hat mit den anderen getauscht. E r hat ihre Strafleiden übernommen, so daß sie abgebüßt sind und die Sünde damit geahndet und erloschen ist. Die anderen übernehmen seine Sünd- und Straflosigkeit. Das 34

Vgl. E . Kutsch, Sein Leiden und Tod - unser Heil, 1967, 41.

Stellvertretung u n d S c h u l d o p f e r in Jes 52 13—53 12

41

ist möglich, weil der Knecht sündlos und daher nicht strafverfallen war, weil er das Strafleiden der anderen freiwillig und bewußt in Stellvertretung für sie auf sich genommen hat und weil er das Leiden geduldig und ergebungsvoll getragen hat, ohne sich dagegen aufzulehnen. Alle diese Zusammenhänge müssen wir sehen und beachten, wenn wir die Frage stellen, was der Gedanke vom stellvertretenden Leiden im Leben des Knechts bedeutet. IV. Ein weiterer wichtiger Punkt in Jes 52 13—53 12 ist die Vorstellung von der Hingabe des Lebens als Schuldopfer. Allerdings ist das an dieser Stelle gebrauchte hebräische Wort 'asam mehrdeutig, weil es in einzelnen Fällen »Verschuldung« (Gen 26 10), »Schuldbetrag« (Num 5 7f.) oder »Entschädigung« (I Sam 6 3 f.) bedeutet. Doch in den weitaus meisten Fällen bezeichnet es das »Schuldopfer«, und diese Bedeutung scheint in Jes 53 10 am besten dem Zusammenhang zu entsprechen; auch der dem Opferkultus entstammende Ausdruck »es gefiel« weist darauf hin. Das Schuldopfer wird neben den mannigfachen anderen Opferarten Israels erwähnt 3 5 — dem Schlacht-, Brand-, Dank-, Speise- und Tranksowie Räucheropfer, um die wichtigsten zu nennen. Es dient weder als Gabe oder Dank, noch zur Herstellung der Gemeinschaft oder zur Unterstützung einer Bitte noch zur Beschwichtigung des göttlichen Zorns wie andere Opferarten, sondern bewirkt Sühne. Wenigstens seit der ausgehenden vorexilischen Zeit ist das Schuldopfer dargebracht, in der späteren nachexilischen Zeit aber durch das Sündopfer verdrängt worden. Zur Zeit des Zweiten Jesaja war es demnach bekannt. Seiner Bestimmung nach handelt es sich um das Opfer eines Einzelmenschen, der es durch den Priester darbringen ließ, wenn er sich unwissentlich gegen eines der göttlichen Gebote vergangen hatte. Dabei war der Blutritus, nach dem das Blut des Opfertiers ringsherum an den Altar gesprengt wurde, wohl der wichtigste Akt der Opferhandlung. Auch das Blut des »Knechtes Jhwhs« war bei seiner Hinrichtung vergossen worden, und diese Hinrichtung wird in Jes 53 10 mit der Opferhandlung gleichgesetzt. Der Knecht war das Opfertier, das Gott als der amtierende Priester »schlug«, d. h. schlachtete, da ihm dies »gefiel«, d. h. da er den Knecht als opferwürdig annahm. Für wen aber wurde das Opfer dargebracht? Was mußte gesühnt werden? Gewöhnlich sagt man: Das Opfer geschah für die anderen Menschen zur Sühnung ihrer Sünden. Aber dies trifft nicht zu, 1. weil durch das stellvertretende Leiden im Leben des Knechts die Strafe schon abgebüßt und damit die Sünde beseitigt ist und 2. weil es sich um ein Opfer zugunsten 35

Vgl. z u l e t z t R . R e n d t o r f f , Studien z u r G e s c h i c h t e des O p f e r s im alten Israel, 1967.

42

I. Texte

eines Einzelmenschen und nicht einer Mehrzahl von Menschen handelt. Vielleicht ist die herkömmliche Deutung lediglich aufgrund der Auffassung des Todes Jesu als Opfertod in Jes 53 10 hineingelesen worden, nachdem das Urchristentum diese Auffassung wie so viele andere aus dem Alten Testament herausgelesen hatte. Statt dessen ist anzunehmen, daß das Opfer für den »Knecht Jhwhs« selbst dargebracht wurde und dargebracht werden mußte zur Sühnung seiner möglicherweise unwissentlich begangenen Vergehen gegen göttliche Gebote. Der Knecht wurde nicht nur als Opfer dargebracht, sondern das Opfer erfolgte auch zu seinen Gunsten. Die Wirkung des stellvertretenden Leidens in seinem Leben setzte ja voraus, daß er sündlos war. War das nicht der Fall, so wäre sein Leiden vergeblich gewesen und hätte nichts bewirkt. Nun aber konnte er unwissentlich gegen ein göttliches Gebot gesündigt haben; deswegen mußte vorsorglich ein Schuldopfer dargebracht werden — in diesem Falle er selbst, wie es der umfassenden Stellvertretung entsprach. Sein Tod als Schuldopfer diente der unverbrüchlichen Sicherung dessen, was das stellvertretende Leiden im Leben bewirkte. Der Tod des Zweiten Jesaja, so meinte der Verfasser von Jes 52 13—53 12, war also gewiß ein Opfer- und Sühnetod, jedoch nicht zugunsten anderer Menschen, sondern zugunsten des Propheten selbst, der dadurch die Wirkung seines stellvertretenden Leidens im Leben gegen Nichtigkeit schützte. Bei dieser Auffassung erklären sich sowohl der auffällige Umstand, daß — im Gegensatz zu den Aussagen über das Leiden im Leben — der Tod des Knechts nicht mit Heilswirkungen in Verbindung gebracht wird, als auch der abschließende Satz von Jes 53 10: So sieht er Nachkommen, die lange leben; was der Herr wünscht, gelingt durch ihn.

Es gelingt nämlich, weil die mögliche Nichtigkeit des stellvertretenden Leidens im Leben wegen unwissentlich begangener Sünden ausgeschaltet worden ist 36 . V. Was bleibt von den Gedanken und Vorstellungen in Jes 52 13—53 12, das wir übernehmen und nachvollziehen können? Wenn der Gedanke vom Opfertode des Knechts für die anderen ausscheidet, betrifft diese Frage in erster Linie die Vorstellung von der Stellvertretung durch das Leiden im Leben des Knechts. Sie ist mit dem Vergeltungsglauben und mit der Vor36

Anders neuerdings wieder E. Haag, Das O p f e r des Gottesknechtes (Jes 53 10), Trierer ThZ 86 (1977), 81—98: Es handelt sich um die stellvertretende Sühne f ü r eine schuldig gewordene Vielheit von Menschen durch einen endzeitlichen Retter.

Stellvertretung und Schuldopfer in Jes 52 13—53 12

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Stellung von Tausch und Übertragung verknüpft. Können wir dies alles, das zusammengehört, übernehmen? Oder ist die bleibende Bedeutung von Jes 52 13—53 12 in anderer Richtung zu suchen? Wird uns vielleicht in den sprechenden »Wir« ein Spiegelbild unser selbst vorgehalten? Die Menschen, die den Zweiten Jesaja zu Tode brachten, sind ihrem Wesen nach gleich, und wir heute sind nicht anders. Darum kann an dem schuldlosen Leiden des »Knechtes Jhwhs« dem Betrachter der Blick für die eigene Schuld aufgehen und vielleicht auch die Einsicht in die Möglichkeit der Sühnung und Erlösung, die in der vom »Knecht Jhwhs« erwiesenen Liebe liegt. Diese Liebe, die der vom Zweiten Jesaja so oft genannten göttlichen Liebe entspricht, vermag alles zu überwinden.

Vollmacht über Völker und Königreiche (Jer 46—51) I. In Jer 46 1 — 51 58 findet sich ein umfangreicher Block von Fremdvölkersprüchen über oder gegen verschiedene Völker mit einem in 51 59-64 angehängten Bericht über eine auf Babylon bezügliche symbolische Handlung. Ihm entsprechen die zwei allgemeinen Sprüche über die Völker in Jer 25 15-38, deren erster in 25 15-16. 27-29 vom Taumelbecher Jhwhs für die Völker redet und deren zweiter in 25 30-31. 34-38 diesen das Gericht Jhwhs androht. Wenigstens Jer 46—51 bilden eine größere Sammlung, die als solche für den Aufbau des Buches Jeremia verwendet worden ist. Sie weist eine entsprechende Uberschrift auf, wie sie sich mehrfach vor Einzelsammlungen des Buches findet (vgl. Jer 21 Ii 23 9 30 1-3. 4): »Was als Wort Jhwhs an den Propheten Jeremia über die Völker erging« (46 l), während sich eine Uberschrift zu Jer 25 15-38 bestenfalls aus 25 13 entnehmen läßt: »Was Jeremia über alle Völker prophetisch verkündigt hat«. Doch sind beide Uberschriften ebenso wie die Teilüberschriften innerhalb von Jer 46—51 als redaktionelle Zutaten zu beurteilen, die in der Septuaginta fehlen. Darüber hinaus stellt sich aufgrund eines Vergleichs des masoretischen Textes mit der Septuaginta die Frage nach der ursprünglichen An- und Einordnung der Fremdvölkersprüche in das Buch Jeremia. Bekanntlich ist der ganze Block einschließlich der zwei allgemeinen Sprüche in der Septuaginta anders eingeordnet als im masoretischen Text. Im letzteren folgen die zwei allgemeinen Sprüche auf die Unheilsankündigungen gegen Juda und Jerusalem in Jer 1—25 14, während der Block der Sprüche sich am Schluß des Buches vor dem geschichtlichen Anhang (Jer 52) findet. Dagegen hat die Einordnung in der Septuaginta bzw. in ihrer Vorlage anscheinend das auch bei anderen Prophetenbüchern erzielte oder angestrebte dreigliedrige eschatologische Schema befolgt: »Unheil für das eigene Volk — Unheil für andere Völker — Heil für das eigene Volk« (1.—3.). Dies zeigt die Nebeneinanderstellung des Aufbaus beider Versionen (wobei 4 . - 5 . durch die besondere Uberlieferungslage des Buches Jeremia bedingt sind):

1.

Drohungen gegen das eigene Volk

2a. 3.

Drohungen gegen andere Völker Verheißungen für Israel und Juda

MT

LXX

1-25

1 - 2 5 13

( m i t 2 5 15ff.)

(46-51) 26-35

25 14-32 38 33-42

Vollmacht über Völker und Königreiche (Jer

4. (2b. 5.

Erzählungen über Jeremía Drohungen gegen andere Völker Anhang

46-51)

36—45 46—61) 52

45

43 — 51 52

Im Vergleich mit anderen Prophetenbüchern, die ebenfalls nach dem dreigliedrigen eschatologischen Schema aufgebaut sind (Jesaja, Ezechiel, Zephanja) oder ein nur zweigliedriges Schema aufweisen (Arnos, zweimal in Micha), liegt die Annahme am nächsten, daß die Septuaginta des Buches Jeremia die ursprüngliche Anordnung bewahrt hat und daß diese Gliederung durch die Umstellung des Blocks der Fremdvölkersprüche im masoretischen Text geändert worden ist. Doch dies ist noch nicht alles; die redaktionellen Eingriffe reichen weiter, da auch die Anordnung der Fremdvölkersprüche unterschiedlich ist. Dabei ergibt sich folgendes Bild: MT 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Ägypten Philister Moab Ammon Edom Damaskus Arabische Stämme Elam Babylon

LXX 46 47 48 49 49 49 49 49 50

2-28 1-7 1-47 1-6 7-22 23 - 2 7 28-33 34-39 1 - 5 1 58

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Elam Ägypten Babylon Philister Edom Ammon Arabische Stämme Damaskus Moab

25 26 26 29 30 30 30 30 31

14-20 1-12 1 3 - 2 8 64 1-7 1-16 17-22 23-28 29-33

Außerdem scheinen vor der Umstellung die zwei allgemeinen Sprüche im masoretischen Text vor dem Block der Einzelsprüche gestanden zu haben, während sie in der Septuaginta auf diesen in Kap. 32 folgen. Fragt man nach den Grundsätzen, die für die unterschiedliche Anordnung maßgeblich gewesen sind, so kann man wohl nur auf geographische Gesichtspunkte hinweisen. Im masoretischen Text sind die Spruchgruppen 1.—6. in einer lockeren geographischen Ordnung in der Reihenfolge Süden (Ägypten) — Westen (Philister) — Osten (Moab, Ammon, Edom) — N o r den (Damaskus) mit Jerusalem als gedachtem Mittelpunkt angeordnet. Die beiden folgenden Spruchgruppen gegen arabische Stämme und gegen Elam sind daran einfach angehängt worden; die Spruchgruppe gegen Babylon bildet wegen der Wichtigkeit des Themas den Abschluß. In der Septuaginta dagegen stehen bei den vier ersten Spruchgruppen zweimal Osten und Westen einander gegenüber (Elam-Ägypten, Babylon-Philister), bei den weiteren fünf Spruchgruppen Süden und Norden (Edom-Ammon, arabische Stämme-Damaskus, Moab), wobei nur die Lage der Länder zueinander ohne einen gedachten Mittelpunkt eine Rolle spielt. In diesem Fall scheint nach den Parallelen in anderen Prophetenbüchern, deren erstes Beispiel in der Reihung der ursprünglichen Sprüche in Am 1 3—2 16 vorliegt, die An-

46

I. Texte

Ordnung des masoretischen Textes nach geographischen Gesichtspunkten mit einem — manchmal nur gedachten — Mittelpunkt die ältere zu sein. So scheint hinsichtlich der Einordnung der Fremdvölkersprüche in das Prophetenbuch die Septuaginta der älteren und besseren Tradition zu folgen, hinsichtlich der Anordnung innerhalb des Spruchblocks dagegen der masoretische Text. II. Bislang sind die Fremdvölkersprüche des Buches Jeremia vornehmlich unter dem Gesichtspunkt betrachtet worden, ob sie ganz, teilweise oder gar nicht von Jeremia stammen können. Die Ansichten darüber gehen freilich weit auseinander. Nach F. Schwally und B. Stade hat vor allem P. Volz sie Jeremia abgesprochen und in dem Spruchblock — darin einen Schritt auf die Frage nach einem Kompositionsschema hin weitergehend — eine einheitliche Sammlung von 10 Völkergedichten aus der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. erblickt 1 . Aus stilistischen Gründen haben R. H. Pfeiffer und E. Sellin — L. Rost in den Sprüchen nichtjeremianische Worte gesehen 2 . Wenigstens die Sprüche gegen Babylon werden auch sonst öfters aus der späten Exilszeit hergeleitet, so von B. N. Wambacq 3 . Dagegen nehmen O. Eißfeldt und A. Weiser einen kleineren, W. Rudolph einen größeren Kern von Jeremiaworten an 4 , Eißfeldt zuletzt außer in Jer 46 auch in 50-515. Die letztere Auffassung kann an jeremianische Aussagen anknüpfen. Nach dem Berufungsbericht erhält Jeremia die Vollmacht über die Völker und über die Königreiche auszureißen und einzureißen, aufzubauen und einzupflanzen.

(Jer 1 lo)

Auch der an die Beobachtung in der Töpferwerkstatt anknüpfende Spruch in Jer 18 1-11 spricht von den Drohungen oder Verheißungen Jhwhs an ein Volk oder Königreich. Ebenso bezieht sich Jeremias Antwort an Chananja auf die prophetische Verkündigung an die Völker: Die Propheten, die gewesen sind seit alters vor mir und vor dir, 1

F. Schwally, Die Reden des Buches Jeremia gegen die Heiden. X X V . X L V I - I I , Z A W 8 (1888), 1 7 7 - 2 1 7 ; B. Stade, Bemerkungen zum Buche Jeremia, Z A W 12 (1892), 2 7 6 - 3 0 8 ; P. Volz, Der Prophet Jeremia, 1928 2 .

2

R. H. Pfeiffer, Introduction to the Old Testament (1941) 1957; E. S e l l i n - L . Rost, Einleitung in das A l t e Testament, 1959 9 .

3 4

B. N . Wambacq, Jeremias, 1957. O . Eißfeldt, Einleitung in das Alte Testament, 1 9 6 4 3 ; A . Weiser, Einleitung in das A l t e Testament, 1963 5 ; W . Rudolph, Jeremia 1968 3 .

5

O . Eißfeldt, Jeremias Drohorakel gegen Ägypten und gegen Babel, in: Festschrift W . Rudolph, 1961, 3 1 - 3 7 .

Vollmacht über Völker und Königreiche (Jer 46—51)

47

die haben prophetisch über viele Länder und über große Königreiche Krieg, 'Hunger' und Seuche verkündigt.

(Jer 28 s)

Die Buchrolle, die Jeremia dem Baruch diktiert hat, sollte alle Worte enthalten, die Jhwh zu Jeremia gegen Jerusalem 6 , Juda und alle Völker geredet hatte (Jer 36 2). Die symbolische Handlung, die Jeremia durch Seraja in Babylon hat ausführen lassen, richtete sich gegen diese Stadt (Jer 51 59-64). Schließlich hat Jeremia auch das Geschick Judas im Rahmen der Völkergeschichte gesehen; als Vollstrecker des göttlichen Gerichts erwartete er den zunächst unbekannten »Feind aus dem Norden«, den er später mit den Babyloniern gleichsetzte. Dieser Anknüpfung stehen jedoch stilistische und inhaltliche Abweichungen der Fremdvölkersprüche von den eindeutigen Jeremiaworten gegenüber. Diese Unterschiede sind so groß, daß man zumindest den größten Teil der Fremdvölkersprüche von anderen, durchweg späteren Verfassern als Jeremia herleiten muß — vielleicht mitsamt den Sprüchen gegen Ägypten in Jer 46 1 - 1 2 und den zwei allgemeinen Sprüchen in 25 1 5 - 3 8 , die ich früher Jeremia selbst zuschreiben zu dürfen meinte 7 . Zudem sind Teile von Jer 48 aus Jes 15 — 16, von Jer 49 aus O b l - i o und von Jer 50—51 aus anderen Teilen des Buches Jeremia entlehnt worden, so daß Jeremia als Verfasser dieser Abschnitte ohnehin ausscheidet. Die Schwierigkeiten hat H . Bardtke dadurch beheben wollen, daß er die Verfasserschaft Jeremias für einen Kern der später überarbeiteten und erweiterten Fremdvölkersprüche und ein ursprüngliches Buch von Fremdvölkersprüchen annahm (Jer 1 2. 4 - 1 0 25 1 5 - 1 7 , Kern von 46 —49 25 2 7 - 2 9 ) , das er aus der Frühzeit Jeremias herleitete, in der dieser zunächst einem Nabiorden angehört habe und als Prophet gegen die Völker aufgetreten sei 8 . Obschon die Verbindung der Fremdvölkersprüche mit den Nebiim keineswegs von der Hand zu weisen ist, reicht Jer 1 10 als Grundlage für die weitgehende These der Zuweisung des jungen Jeremia an sie keineswegs aus, zumal von einem späteren Umschwung in der Verkündigung Jeremias nichts zu bemerken ist. Vielleicht läßt sich weitere Klarheit aus einer Analyse der Struktur der Fremdvölkersprüche und ihrer Teilsammlungen gewinnen. III. 1. Jer 46 wird durch die redaktionellen Uberschriften in v. 2 und 13 in zwei Teile gegliedert, wobei das am Anfang von v. 2 stehende »Uber 6

So ist (vor allem mit L X X ) an Stelle von »Israel« zu lesen.

7

( E . Sellin-) G . Fohrer, Einleitung in das Alte Testament, 1 9 6 9 1 1 , 435.

8

H . Bardtke, Jeremia der Fremdvölkerprophet, Z A W 53 (1935), 2 0 9 - 2 3 9 .

48

I. Texte

Ägypten« eine zusammenfassende Gesamtüberschrift darstellt und damit einen mehrstufigen Redaktionsvorgang erkennen läßt. In 46 3-12 bilden v. 3-6 eine erste Sprucheinheit mit militärischen Befehlen an ein Heer (v. 3-4), einem Visionsbericht über dessen Niederlage (v. 5) und einer deutenden Unheilsankündigung (v. 6). Erst aus der letzteren kann man — abgesehen von der Uberschrift der Sammlung — mit einiger Sicherheit erraten, daß der Spruch sich auf ein ägyptisches Heer bezieht. V. 7-10 bilden eine zweite Sprucheinheit, in der der Vergleich mit dem Nil und die Erwähnung von Kusch, Put und den Ludiern auf Ägypten hinweisen. Der Text übermittelt den ägyptischen Entschluß zum Krieg (v. 7. 8b), militärische Kommandos (v. 9) und eine Reflexion über den Tag Jhwhs, der seiner Rache geweiht ist (v. 10a). Wahrscheinlich sind v. 11-12 mit der direkten Anrede an Ägypten, das keine Heilung finden wird, eine zusammenfassende Betrachtung. Sicherlich gehören die drei Sprüche der gleichen Situation an; die beiden ersten kündigen die Niederlage eines ägyptischen Heers am Euphrat an, während der dritte sie zusammenfassend miteinander verbindet. 46 14-28 enthält zunächst drei Sprüche, die von Flucht oder Deportation handeln und durch diese Beziehung zusammengehalten werden: V. 14-16 meint die Heimkehr der ägyptischen Söldner und v. 20-21 ihre Flucht nach der Niederlage, v. 19 die Deportation der Ägypter. Eine Art Erklärung oder Begründung liefert der vierte Spruch v. 2 2 - 2 4 , der das Unheil von dem wild dreinhauenden Nordvolk erwartet. Spätere redaktionelle Zutaten sind die bildhaften Erläuterungen in v. 17 und 18, der Kommentar in v. 2 5 - 2 6 und die abschließende Verheißung für Israel in v. 2 7 - 2 8 , die fast wörtlich aus Jer 30 10-11 übernommen ist. In beiden Teilen des Abschnitts finden sich also zunächst jeweils zwei bzw. drei thematisch ähnliche Sprüche, auf die eine zusammenfassende Betrachtung bzw. Begründung folgt. Die abschließende Verheißung dürfte sich auf das Ganze beziehen. 2. Jer 47, der kurze Abschnitt gegen die Philister, läßt keine besonderen strukturellen Merkmale erkennen. Die beiden Sprüche, die er enthält, handeln vom Tag Jhwhs (v. 2-5, außer 3 a) und vom Schwert Jhwhs (v. 6-7), die über die Philister kommen sollen. 3. Die Sprüche über Moab in Jer 48 beginnen im ersten Teil (48 1-28) mit einem prophetischen Weheruf und einer Unheilsankündigung in v. 1-2 sowie einem Auditionsbericht in v. 3-4. 6 (v. 5 ist später aus Jes 15 5b eingetragen). Im weiteren Text weisen v. 7-9 (begründete Unheilsankündigung und spöttische Aufforderung zum Trauerbrauch), v. 14-17 (Diskussionswort mit der Funktion der Unheilsankündigung und Aufforderung zur Klage) und v. 18-20 (begründete Aufforderung zum Selbstminderungsritus, zum Befragen von Flüchtlingen und deren Aufforderung zur Klage) ein ähnliches Strukturschema auf: Verbindung von Unheilsankündigung und

Vollmacht über Völker und Königreiche (Jer 46—51)

49

Aufforderung zu Trauerbrauch oder Klage. Dazu treten einige kurze Sprüche: in v. 11 eine Geschichtsbetrachtung mit Bildern aus dem Winzerleben, die im jetzigen Zusammenhang als Begründung für die Unheilsankündigung in v. 12 dient, obwohl beide Verse schlecht zueinander passen; in v. 25 ein Bericht über das Unheil Moabs, der vielleicht zu v. 18-20 gehört haben könnte; in v. 28 eine Aufforderung zur Flucht. Zusätze sind 48 10. 13. 21-24. 26-27. Dabei ist auffällig, daß eine religiöse oder theologische Begründung des Unheils über Moab gerade in den Zusätzen zu finden ist (v. 10. 13. 26-27), während sie sonst gewöhnlich fehlt. Eben darin lag der Anlaß für die Zufügung im Verlauf des redaktionellen Vorgangs. Der zweite Teil des Spruchblocks über Moab in 48 29-47 stellt ein midraschartig erweitertes Gerichtswort über Moab dar, in dem der Verfasser ihm schon vorliegende Texte, insbesondere andere Moabsprüche Qes 15—16), mit eigenen Worten verbunden hat. Letztere finden sich bemerkenswerterweise immer in Schuldfeststellung und Unheilsankündigung (v. 30. 35. 38b. 39b. 42). So liefert der Abschnitt ein gutes Beispiel für eine inneralttestamentliche Exegese. Außerdem läßt sich ein klares Kompositionsschema erkennen, nach dem jeweils Schuldfeststellung bzw. Unheilsankündigung und Klage bzw. Verheißung aufeinander folgen: 48 29-30

Schuldfeststellung

48 48 48 48 48

Klage Unheilsankündigung Klage Unheilsankündigung Klage

31-34 35 36—38a

38b 39a

48 39b. 43-46

Unheilsankündigung

48 47a

Verheißung (wahrscheinlich später hinzugefügt).

N u r 48 4 0 - 4 2 , das eine besondere Einleitung aufweist, wird ursprünglich einen selbständigen Spruch gebildet haben. 4. Zu Jer 49 ist nicht viel zu bemerken. Gegen Ammon richten sich die zwei Sprüche in v. 1 - 2 und 3-5, auf die eine schematische Verheißung folgt. Drei Sprüche gegen Edom, das im Unterschied von Obadja, dessen Gedanken aufgenommen werden, nicht sehr konkret angeklagt wird, liegen in v. 7-11. 14-16 und 19-22 vor und werden jeweils durch ein Prosawort (v. 12-13. 17-18) voneinander getrennt. Der Spruch gegen Damaskus in v. 23—24a. 25 ist durch drei Zusätze erweitert worden (v. 24b. 26. 27). Die drei Sprüche gegen arabische Stämme in v. 2 8 - 2 9 . 30 und 31-33a haben den aus v. 18b entnommenen abschließenden Zusatz v. 33b erhalten. In v. 35-38 scheint ein in sich einheitlicher Spruch gegen Elam vorzuliegen, der von der Uberschrift v. 34 und dem verheißenden Zusatz v. 39 umrahmt ist.

50

I. Texte

5. Jer 50 enthält sechs Babylonsprüche: Auf den einleitenden Spruch in v. 2-3 folgt in v. 8-12. 14-15 ein dreigliedriger Spruch, der sich an die Deportierten, an Babylon und an dessen Feinde wendet (erweitert um v. 13 und 16). Sodann liegen in v. 2 1 - 2 4 . 2 5 - 3 0 und 3 1 - 3 2 drei weitere Sprüche vor. Dazu tritt in v. 3 5 - 3 8 a (erweitert um v. 38b) ein Schwertspruch. Dazwischen sind dreimal Sprüche über Israel eingeschoben und von v. 39 an spätere Zufügungen erfolgt, so daß sich dieser Aufbau ergibt: 50 2-3 50 4-7 50 8-15 50 17-19 (20)

Babylon Israel Babylon Israel

50 21-24. 25-30. 31-32

Babylon

50

Israel

33-34

50 35—38a

Babylon

50 39 -46

Zufügungen.

6. Jer 51 1-58 enthält eine Reihe von weiteren Sprüchen gegen Babylon. Bemerkenswerter als diese, die in der folgenden Ubersicht in Spalte 1 angeführt werden, ist die in diesem Komplex besonders deutlich erkennbare redaktionelle Tätigkeit. Sie läßt sich in wenigstens drei Schichten auseinanderlegen, die wahrscheinlich von verschiedenen Bearbeitern mit unterschiedlichen Interessen herrühren. Eine erste redaktionelle Schicht ist an Israel, dem Zion, dem Tempel und dem Kult interessiert (Spalte 2), eine zweite an den Absichten Jhwhs und einer geschichtlichen Deutung (Spalte 3) eine dritte an eschatologisch-apokalyptischen Gesichtspunkten (Spalte 4). Dazu treten weitere Zusätze, die keiner der genannten Redaktionen zuzuordnen sind (Spalte 5). Auffällig ist, daß — wie in den vorhergehenden Spruchsammlungen — diejenigen Aussagen, die eine Begründung für das kommende Unheil Babylons bieten, überwiegend zu den redaktionellen Schichten gehören (Spalte 6).

IV. Die große Zahl von Fremdvölkersprüchen in Jer 46—51 läßt zumindest auf ein reges Interesse an dem künftigen Geschick — meist dem Unheil — anderer Völker schließen. Nähme man die Fremdvölkersprüche aus anderen Prophetenbüchern hinzu, sowohl diejenigen der großen Einzelpropheten als auch diejenigen von unbekannten, meist jüngeren kultprophetischen oder eschatologischen Verfassern, so kann sich dieser Eindruck nur verstärken. Im Vergleich zu den Unheils- und Heilsworten für Israel und Juda machen die Fremdvölkersprüche einen viel größeren Anteil an der gesamten prophetischen Verkündigung aus, als man gewöhnlich annimmt.

51

Vollmacht über Völker und Königreiche (Jer 46—51)

51 1 - 4

51 5

51 5 51 6

51 7 - 9 51 IIa. 12a

51 10 (5111b)

51 13. 14b

51 IIa

51 IIa. b 12b

b. 12b

51 15-19 (=1012-16)

51 2 0 - 2 3

51 24

51 25-26

51 27. 29b.

51 28.29a. b

5133

30-32 51 3 4 - 3 9

51 3 4 - 3 9

51 40 51 4 1 - 4 3 5 1 45b 46 51 4 7 - 4 8

5 1 44—45a 51 4 9 - 5 0 51 51

51 5 2 - 5 3 51 5 4 - 5 6

51 57

51 58 Dies schließt ein, daß das Bild der israelitischen Prophetie weithin verzeichnet wird. Man sieht ihre Verkündigung zu einseitig und zu ausschließlich auf ihr Volk bezogen und berücksichtigt die Einbeziehung der Völkerwelt zu wenig. Doch schon die Prophetengestalten in Mari haben in der Art der Fremdvölkersprüche unbedingte Verheißungen des Sieges ihres Herrschers über andere Völker gegeben; und in Israel dürfte die Unheilsankündigung gegen andere Völker zunächst in der Verkündigung des Kultpropheten beheimatet gewesen sein, die dem Feinde Unheil und dadurch dem eigenen Volke Heil ankündigten. Von da aus gehört der Fremdvölkerspruch von den Anfängen an zur prophetischen Verkündigung und ist die Einbeziehung anderer Völker in sie ein strukturelles Element der Prophetie. Während es in der Kultprophetie durch das national-religiöse Interesse bedingt und daher von fragwürdiger theologischer Bedeutung ist, verhält es sich bei den großen Einzelpropheten anders. Bei ihnen bezeugt die Einbeziehung der anderen Völker in ihre Verkündigung die Majestät Gottes, der neben Israel auch jedes andere Volk vor sein Gericht fordert. So sieht schon Arnos ihn im Geschick aller Völker wirken (Am 9 7) und die Moabiter zur Rechenschaft ziehen, weil sie sich an den Edomitern — nicht an Israel! — vergangen haben (Am 2 1-3).

52

I. Texte

Nur auf dieser Grundlage, daß die Einbeziehung anderer Völker ein strukturelles Element der prophetischen Verkündigung ist, lassen sich die Vielzahl der prophetischen Verfasser in Jer 46—51, die erstaunlich große Menge von Fremdvölkersprüchen, die Heranziehung und Neubearbeitung schon vorhandener Sprüche, die vielleicht für die kultische Verwendung mehrfach geschaffene Komposition und die mehrfache Redaktion verstehen. Doch schon der umfangreiche, zusammengehörige Spruchkomplex in Am 1 3—2 16 setzt die Bekanntschaft mit ähnlichen kultprophetischen Spruchgefügen und deren längst geübte Verwendung voraus. Entweder ist in diesen nach den äußeren Feinden an letzter Stelle der Jhwh-Feind im Inneren verurteilt worden; dann ist Arnos in analoger Weise vorgegangen. Oder — und dies ist wahrscheinlicher — die Reihenfolge lautete wie in der Komposition des Buches Obadja: Unheil für andere Völker — Heil für Israel (Obd 1-18. 19-21); dann hat Arnos dies wie die Vorstellung vom Tage Jhwhs neu interpretiert und im Gegensatz zu den Kultpropheten Unheil auch für Israel angedroht. Daneben ist die kultprophetische Verwendung weitergegangen und hat in nachexilischer Zeit eine Fortführung in der eschatologischen Prophetie gefunden, nach deren dreigliedrigem Schema sogar mehrere Prophetenbücher angeordnet worden sind. Dies macht nochmals deutlich, welche weitreichende Folgerungen aus der Uberlieferung der zahlreichen und mannigfachen Fremdvölkersprüche zu ziehen sind.

Micha 1 Die Frage, ob Mi 1 eine Einheit bildet, die vielleicht aus zwei zusammengehörigen Teilen bestehen mag, oder ob in diesem Kapitel mehrere selbständige Einheiten zusammengefaßt sind, ist erst in neuerer Zeit regelmäßig gestellt und dann auch oft im ersteren Sinn beantwortet worden. In seiner literarischen Untersuchung des Buches Micha konnte J . Lindblom im Jahre 1929 noch feststellen: »Die Auffassung des ersten Kapitels als einer wesentlich einheitlichen Rede scheint die herrschende zu sein. Auch scheint man mehr und mehr geneigt zu sein, die ganze Drohrede vor 722 anzusetzen« 1 . Er selbst nahm demgegenüber zwei selbständige Einheiten 1 2-7 und 1 8-16 an und leitete die erste aus der Zeit vor 722, die zweite aus der Zeit vor 711 v. Chr. her. Damit sind zwei für das Verständnis von Mi 1 grundlegende Fragen berührt: diejenigen nach der Aufteilung in selbständige Einheiten und nach deren Datierung. Dazu tritt die dritte Frage, die von J . Lindblom, der 1 2-7 als Predigtrevelation und 1 8-16 als Klagelied bezeichnete, nur am Rande behandelt wurde, diejenige nach der Redegattung der in Mi 1 erkennbaren Einheiten. Angesichts der sehr unterschiedlichen Antworten auf die genannten Fragen, die die folgende Ubersicht verdeutlichen soll, ist es geraten, ihnen von neuem nachzugehen. 1. Hinsichtlich der Einteilung und Gliederung von Mi 1 liegt nach der Seite der Einheitlichkeit das Extrem in der Ansicht vor, daß 1 2-16 einen in sich geschlossenen und zusammenhängenden Spruch darstellen, in dem — wie F. Hitzig es formuliert hat — ein Strafgericht über Samaria angedroht wird, bei welchem auch Juda zu Schaden komme 2 . Diese Ansicht hat K . Budde eingehend zu begründen versucht 3 , und neben anderen hat H . Schmidt sich ihm angeschlossen 4 ; auch E . Sellin erblickte einen engen Zusammenhang zwischen den Abschnitten 1 2-8 und 1 9-16 5 . Während B. Stade darüber hinaus sogar Mi 1 — 3 als eine einzige »Weissagung« betrachtete 6 , dann allerdings 1 2-4 als nachexilischen Zusatz und 1 5b als redaktionelle Naht abtrennte 7 , haben K . Marti und H . Guthe nur den 1

J . Lindblom, Micha literarisch untersucht, 1929, 17.

2

F. Hitzig, Die zwölf kleinen Propheten, 1881", 191.

3

K . Budde, Das Rätsel von Micha 1, Z A W 37 (1917/18), 7 7 - 1 0 8 .

4

H . Schmidt, Die großen Propheten, 1923 2 , 1 3 0 - 1 3 4 .

5

E . Sellin, Das Zwölfprophetenbuch, 1929 2 3 , 3 0 9 - 3 1 7 .

6

B. Stade, Bemerkungen über das Buch Micha, Z A W 1 (1881), 1 6 1 - 1 7 2 .

7

B. Stade, Streiflichter auf die Entstehung der jetzigen Gestalt der alttestamentlichen Prophetenschriften, ebd. 23 (1903), 163.

54

I. Texte

letzteren Vorschlag aufgegriffen, sich sonst aber auf Mi 1 beschränkt und darin einen einzigen Michaspruch erblickt, der bei K. Marti 1 5b. 6. 8. 9. 16 und bei H . Guthe 1 6-16 umfaßt, während W . Rudolph drei Abschnitte annimmt, die unter sich zusammenhängen (1 2 - 7 . 8 - 9 . 10-16) 8 . Nach der Seite der Aufsplitterung liegt das Extrem in der Auffassung vor, daß Mi 1 nicht weniger als vier oder fünf Sprüche oder Fragmente enthält. So gliedern W . O . E . Oesterley — Th. H . Robinson das Kapitel in 12—5a. 5b—6. 7 - 9 . 1 0 - 1 6 , T h . H . R o b i n s o n in 1 2. 3 - 6 . 7 - 9 . 1 0 - 1 6 u n d

D.

Deden, bei dem allerdings nicht immer deutlich ist, ob er verschiedene Einheiten meint, in 1 2 - 4 . 5. 6 - 7 . 8 - 9 . 10-16 9 . W . Nowack zerlegt das Kapitel in die drei Sprüche 1 2 - 4 . 5 - 7 . 8 - 1 6 und J . A . Bewer in 1 2 - 5 . 6 - 7 . 8 - 1 6 1 0 .

Ähnlich wie B. Stade nehmen R. H . Pfeiffer und R. E . Wolfe einen nicht von Micha herrührenden ersten Abschnitt und sodann zwei Michasprüche an; R . H . Pfeiffer: 1 2-5a. 5b-9. 10-16; R . E . Wolfe: 1 2 - 4 . 5 - 9 . 10-16, wäh-

rend V. Fritz in 1 2 - 7 eine Komposition aus einer Gerichtsankündigung und Schilderung der Theophanie (1 2 - 4 ) und einer Unheilsankündigung gegen Samaria (1 6 - 7 ) — beide durch 1 5a miteinander verklammert — erblickt, die von einem Jerusalemer Kultpropheten der nachexilischen Zeit stammt 1 1 . Doch zumeist hat man erkannt, daß auch die einleitenden Verse dem Micha zuzuschreiben sind und gliedert Mi 1 in zwei selbständige, voneinander unabhängige Sprüche. Dabei wird überwiegend — so von B. Duhm, S. Mowinckel - N . Messel, B. M. Vellas, A. George, R. Augé, A. Gelin, A. Deißler, O . Eißfeldt und A. Weiser — die Ansicht vertreten, daß diese Sprüche in 1 2 - 7 und 1 8-16 vorliegen 12 . Dem steht, abgesehen von der

8

9

10

11

12

K. Marti, Das Dodekapropheton, 1904, 2 6 5 - 2 7 2 ; H. Guthe, Der Prophet Micha, in: E. Kautzsch - A. Bertholet, Die Heilige Schrift des Alten Testaments, II 1923 4 , 54f.; W. Rudolph, Micha - Nahum - Habakuk - Zephanja, 1975, 37. W. O. E. Oesterley - Th. H. Robinson, An Introduction to the Books of the Old Testament, 1935 2 , 382; Th. H. Robinson ( - F. Horst), Die Zwölf Kleinen Propheten, 1954 2 , 130-133; D. Deden, De kleine profeten, I 1953, 202-207. W. Nowack, Die kleinen Propheten, 1922 3 , 200; J . A. Bewer, The Prophets, 1949/55, 519 f. R. H. Pfeiffer, Introduction to the Old Testament, 1941, 5 9 0 - 5 9 2 ; R. E. Wolfe, The Book of Micah, in: The Interpreter's Bible, VI 1956, 9 0 2 - 9 1 0 ; V. Fritz, Das Wort gegen Samaria Mi 1 2-7, ZAW 86 (1974), 316-331. B. Duhm, Anmerkungen zu den Zwölf Propheten, III. Buch Micha, ZAW 31 (1911), 8 1 - 9 3 ; S. Mowinckel - N. Messel, Det Garnie Testamente, III 1944, 674f.; B. M. Vellas, Mixaiaç, Tiof)X, 'Oßöioü, 1948, 16—24; A. George, Michée, Sophonie, Nahum, 1952, 19—24; R. Augé, Profetes menors, 1957, 293; A. Gelin, Die späteren prophetischen Bücher, in: A. Robert - A. Feuillet, Einleitung in die Heilige Schrift, I 1963, 492; A. Deißler ( - M. Delcor), Les petits prophètes, II 1964, 297. 302-309; O. Eißfeldt, Einleitung in das Alte Testament, 1964 3 , 549f. ; A. Weiser, Einleitung in das Alte Testament, 1966 6 , 228 (vgl. Das Buch der zwölf Kleinen Propheten, I 1956 2 , 231-243). Etwas anders

Micha 1

55

Gliederung in 1 2-8 und 1 9-16 durch Sellin, die andere Ansicht gegenüber, daß die beiden Sprüche Michas in 1 2-9 und 1 10—16 zu erblicken sind. So urteilen Th. Laetsch, E. Balla und D. Winton Thomas 13 ; auch W. O. E. Oesterley — Th. H. Robinson, R. H. Pfeiffer, Th. H. Robinson, D. Deden und R. E. Wolfe betrachten, wie bereits erwähnt, wenigstens 1 10-16 als eine Einheit. Es handelt sich also vor allem um die Frage, ob 1 8-9 den Anfang des zweiten oder den Schluß des ersten Spruches bilden. Die Verse nehmen eine Schlüsselstellung ein; es fragt sich, ob ihre Zugehörigkeit mit den Mitteln der Gattungsbestimmung der Michasprüche und der Poetik geklärt werden kann. Weitere Differenzierungen ergeben sich durch die Frage nach dem Adressaten der Drohung von 1 2-7 bzw. 1 2-9: Richtet die Drohung sich gegen Samaria, wie R. H. Pfeiffer, S. Mowinckel — N. Messel, B. M. Vellas, J. A. Bewer, A. George, D. Deden, A. Weiser und A. Gelin behaupten? Oder gegen Juda und Jerusalem, wie R. E. Wolfe annimmt? Oder - nach B. Duhm, W. O. E. Oesterley - Th. H. Robinson, R. Auge, E. Balla, D. Winton Thomas und O. Eißfeldt — gegen Samaria und Jerusalem? Unter der Voraussetzung stärkerer Aufsplitterung ist auch erwogen worden, ob dieser oder jener Kleinabschnitt sich gegen die Heidenvölker richtet- (W. Nowack) oder die Zerstörung eines israelitischen Heiligtums androht — eine Drohung, die in einem weiteren Abschnitt auf Juda bezogen worden wäre (Th. H. Robinson). 2. Nicht weniger verwirrend sind auf den ersten Blick die unterschiedlichen Datierungen, wie die folgende grobe Ubersicht zeigt, die keineswegs vollständig sein, sondern nur einige Beispiele anführen soll: vor 721:

12-16 1 2-7

721: 714: vor 711:

13

14

15

12-16

1

5-9

18.10-16

K. Budde, H. Guthe (1 6-16), E. Sellin; J. Lindblom, R. Auge, A. Gelin, A. Deißler. H. Schmidt 14 . R. E. Wolfe. S. Mowinckel - N. Messel, A. Bentzen F. Nötscher 15 .

A . Jepsen, Kleine Beiträge zum Zwölfprophetenbuch, 2. Micha, Z A W 56 (1938), 9 6 - 1 0 0 : 1 2-7, jedoch 2b Zusatz, 5b redaktionell, 6-7 aus dem Hoseabuch, daher von Micha nur 1 2a. 3—5a. Th. Laetsch, The Minor Prophets, 1956, 246—252; E. Balla, Die Botschaft der Propheten, 1958, 1 5 7 f . ; D. Winton Thomas, Micah, in: Peake's Commentary on the Bible, 1962 (neubearb.), 630f. Vgl. ferner G . Fohrer, Einleitung in das Alte Testament, 1979 1 2 , 4 8 8 f . Auf die recht summarische Auslegung von Schmidt a. a. O . sei wegen seiner Nachbildung der Wortspiele von 1 loff. unter Verwendung deutscher Ortsnamen hingewiesen. A . Bentzen, Introduction to the Old Testament, II 1949, 148; F. Nötscher, Zwölfprophetenbuch oder Kleine Propheten, in: Die Heilige Schrift in deutscher Ubersetzung (EchterBibel), 1958, 755.

56

I. Texte

711: vor 701: 701:

1 10-16 1 8-16 1 2-16 1 2-16 1 5b—9

1 8-16

R. E. Wolfe, D. W. Thomas, Th. H. Robinson (?). J. Lindblom. O. Procksch 16 . W. Nowack, ähnlich K. Marti. R. H. Pfeiffer. K. Elliger 17 , A. George, R. Augé, A. Deißler, A. Weiser, Th. H. Robinson (?).

Immerhin zeichnet sich eine gewisse Tendenz ab, die noch deutlicher werden würde, wenn man die gesamte Literatur zusammentrüge: Der erste Michaspruch wird wegen seiner Beziehung auf Samaria überwiegend aus der Zeit vor der assyrischen Eroberung der Stadt im Jahre 721 v. Chr. hergeleitet, der zweite Spruch, der sich mit Juda befaßt, überwiegend aus der Zeit um 711 oder 701, d. h. aus den Jahren, in denen die palästinischen Aufstände gegen die Assyrer von diesen niedergeschlagen wurden. Daß dabei neuerdings das Jahr 701 bevorzugt wird, ist zweifellos den gewichtigen Ausführungen K. Elligers zuzuschreiben. 3. Wenigstens teilweise hat die Datierung der Sprüche in Mi 1 die bisherigen Ansätze zur Bestimmung der Redegattung beeinflußt. Denn wenn der erste der beiden Sprüche, die zumeist, wenn auch unterschiedlich, angenommen werden, gewöhnlich als Unheilsankündigung gegen Samaria allein oder gegen Samaria und Jerusalem bezeichnet wird, setzt er die Existenz Samarias voraus und müßte demnach vor dessen Eroberung und Zerstörung im Jahre 721 verkündigt worden sein 18 . Und wenn man den zweiten Spruch als Klage über eine schon eingetroffene Katastrophe in der Landschaft Juda versteht, legt sich sogleich eine Datierung in die Zeit nach dem unglücklichen Ausgang der beiden Aufstandsversuche Hiskias gegen die Assyrer nahe, also in die Jahre 711 oder 701 bzw. jeweils bald danach. Damit sind bereits die häufigsten Gattungsbestimmungen genannt. Tatsächlich werden 1 2-7 bzw. 1 2-9 nahezu einhellig als ein das göttliche Strafgericht über Samaria oder über Samaria und Jerusalem ankündigendes Wort bestimmt; nur A. Weiser nimmt ein Scheit- und Drohwort an. Abgesehen von Th. H. Robinson, der in 1 7-9 die Zerstörung eines Heiligtums angekündigt sieht, und von R. E. Wolfe, der 1 5-9 als Klage des Propheten über Juda und Jerusalem deutet, weicht W. Nowack von jener 16

O . Procksch, Die kleinen prophetischen Schriften vor dem Exil, 1 9 1 0 , 100: Eine Ankündigung des Untergangs Samarias hat Micha vor 701 zur Folie einer Drohung gegen Jerusalem gemacht und mit ihr verwoben.

17

K . Elliger, Die Heimat des Propheten Micha, Z D P V 57 (1934), 8 1 - 1 5 2 ( = Kleine Schriften

18

Die andere Auffassung, daß Samaria nicht nach der Eroberung, sondern erst 711 oder

zum Alten Testament, 1966, 9 - 7 1 ) . später zerstört worden sei, kommt ernstlich nicht in Betracht.

Micha 1

57

gängigen Auffassung ab, indem er 1 2-4 als Gerichtswort gegen die Heiden und 1 5-7 als Gerichtswort gegen Samaria bezeichnet. Obwohl er mit dieser Deutung kaum Nachfolger gefunden hat, wirkt sie insofern nach, als man des öfteren die anderen Völker in das bevorstehende Gerichtshandeln Jhwhs einbezogen glaubt. So sehen noch O . Eißfeldt und A. Weiser den gegen Samaria oder gegen Samaria und Jerusalem gerichteten Spruch als Schilderung des Erscheinens Jhwhs zum Weltgericht beginnend oder in weltgerichtlicher Umrahmung. N u r ganz selten ist auf die Redegattung hingewiesen worden, die im ersten Michaspruch in Wirklichkeit vorliegt: den mannigfaltigen Komplex der sog. prophetischen Gerichtsreden,-der wieder zahlreiche Einzelgattungen umschließt 19 . Während K. Elliger in 1 2-5a ein Drohwort mit Motiven der Gerichtsrede erblickt, ist nach A. Deißler die Drohung gegen Samaria in 1 2-7 nach Art der Gerichtsverhandlung gestaltet. Damit ist das Richtige angedeutet; doch bedarf es näherer Bestimmung. Beim zweiten Michaspruch 1 8-16 bzw. 1 10-16 geht es in der Bestimmung der Redegattung — abgesehen von der Deutung als Alarmruf des Propheten durch R. E. Wolfe — um ein Entweder-Oder: Ankündigung von bestehendem Unheil, sei es als Unheilsankündigung (W. Nowack) oder in der Form der Klage (B. Duhm, J. A. Bewer, D . Deden) oder Bezugnahme auf eine schon eingetretene Katastrophe, sei es als Beschreibung (R. H . Pfeiffer, D. W. Thomas) oder als Klage (K. Elliger, A. Deißler, A. Weiser, W. O . E. Oesterley — Th. H . Robinson, Th. H . Robinson, A. George, R. Auge, A. Gelin). In diesem Falle fragt es sich, ob der Abschnitt tatsächlich die poetischen Merkmale des Klage- oder Leichenliedes aufweist und ob die territorialgeschichtlichen Gegebenheiten auf eine bestimmte geschichtliche Katastrophensituation hinweisen oder ob die von W. Nowack vertretene Klassifizierung näher liegt. II. Nach Abwägen des Für und Wider scheint alles für die Annahme zu sprechen, daß die erste Sprucheinheit in 1 2-9 vorliegt: 2 Hört, ihr Völker alle, merke auf, Erde und was sie füllt: Bei euch tritt ' ' Jhwh als Zeuge auf, der Herr von seinem heiligen Palast her. 3 Denn seht, ' ' er geht von seiner Stätte aus und steigt herab ' ' auf die Höhen der Erde. 4 Da zerfließen die Berge unter ihm, und die Täler spalten sich — wie Wachs vor dem Feuer, wie Wasser, (das) am Abhang ausgegossen (ist).

19

Vgl. bes. H . J. Boecker, Redeformen des Rechtslebens im Alten Testament, 1964.

3 + 3 3 + 3 3 + 3 3 + 3 3 + 3

58

I. Texte

5 Wegen der Sünde J a k o b s geschieht dies alles

3 + 3

und wegen der 'Sünde' des Hauses 'Juda'. »Was ist der Frevel J a k o b s ?

3 + 2

Ist es nicht Samaria? U n d was ist 'die Sünde des Hauses' J u d a ?

3 + 2

Ist es nicht Jerusalem? 6 So werde ich Samaria zum Trümmerhaufen auf dem Felde machen,

3 + 2

zu Weinbergpflanzungen. Ich werde seine Steine ins Tal stürzen

3 + 2

und seine Fundamente bloßlegen. 7 All seine Gottesbilder werden zerschlagen ' ',

3 + 2

und all seinen Götterbildern werde ich den Garaus machen. Denn von Dirnenlohn 'sind sie gesammelt',

3 + 2

zu Dirnenlohn sollen sie wieder werden!« 8 Darüber will ich klagen und heulen,

3 + 3

barfuß und nackt gehen. Ich will Klage halten wie die Schakale

3 + 3

und Trauer wie die Strauße. 9 Denn unheilbar ist sein 'Schlag';

3 + 3

ja, er kommt bis nach J u d a , reicht bis an das T o r meines Volkes,

3 + 2

bis Jerusalem. 2 dl »der Herr« als redaktionell-vervollständigende Glosse nach dem folgenden Halbverse. — 3 dl »Jhwh« als näherbestimmende Glosse, »und geht« als ergänzende Glosse. — 5 1 sing. n i W n S Í pr plur. — 1 ÍTTIÍT pr »Israel« wegen 5 b. — 1 I V 3 DNtpn pr »die H ö h e n « in Angleichung an 5a . — 7 dl »und all seine Dirnenlöhne werden mit Feuer verbrannt« als variierende Glosse nach 7b. — 1

pr »es hat gesammelt«. — 9

1 sing. PlfOfi pr plur.;

möglich wäre auch " ¡ T 11310 »der Schlag J h w h s « , doch ist es ratsamer, die Korrektur der Versionen vorzunehmen, da das 1 im jetzigen i l T T D Ö darauf hinweist, daß das Wort als plur. c. suff. gemeint war und i"P keine Abkürzung des J h w h - N a m e n s darstellt.

1. Dieser Spruch gliedert sich in drei Strophen, deren erste beide je sechs Langverse umfassen, während die dritte die geringere, aber ebenfalls gerade Zahl von vier Langversen aufweist. Das ist insofern beachtenswert, als die Strophen der längeren Prophetensprüche gewöhnlich entweder eine gerade oder eine ungerade Zahl von Versen umfassen und nur sehr selten Strophen mit geraden und ungeraden Verszahlen in ein und demselben Spruch begegnen. Bereits die geraden Verszahlen sprechen für die Zusammengehörigkeit von v. 2-7 und 8-9. Das gleiche folgt aus der metrischen Gliederung. Denn die drei Strophen heben sich durch ein wechselndes Metrum voneinander ab; sie erweisen sich dadurch ebenso als wirkliche, absichtlich geplante Strophen, wie der regelmäßige Wechsel auf ihre Zusammengehörigkeit schließen läßt:

Micha 1

59

1. Strophe (v. 2 - 5 a ) : 6 Langverse mit dem Metrum 3 + 3, 2. Strophe (v. 5 b - 7 ) : 6 Langverse mit dem Metrum 3 + 2 , 3. Strophe (v. 8-9): 4 Langverse mit dem Metrum 3 + 3, von denen nur der letzte das Metrum 3 + 2 aufweist. Diese Verkürzung, die sogar eine Reduzierung bis zu einem Halbvers einschließen kann 2 0 , ist in Sprüchen mit gleichmäßig aufgebauten Strophen ein klares Merkmal des Schlußverses des ganzen Spruches. Das abweichende, verkürzte Metrum 3 + 2 des zweiten Langverses von v. 9 kündigt eindeutig an, daß der vorhergehende Spruch mit dieser Zeile schließt. Das Metrum spricht daher gegen die Verbindung von v. 8-9 mit dem folgenden Abschnitt. Bezeichnet man 1 10-16 als Klagelied, wie es so häufig geschieht, so müßte auch die Gattungsbestimmung eigentlich ausschließen, daß man v. 8-9 zu diesem Lied rechnet. Denn die drei ersten Langverse von v. 8-9 weisen gerade nicht das dann zu erwartende Qinametrum 3 + 2 auf. Doch wirft dies lediglich ein Licht auf die Fragwürdigkeit des methodischen Vorgehens, weil die Bezeichnung von 1 10-16 als Klagelied selber fragwürdig ist. 2. Stilistisch besteht eine enge Beziehung zwischen v. 5 und 9.V. 5 erwähnt Jakob/Samaria und Juda/Jerusalem; es besteht keinerlei Anlaß, den Vers ganz oder teilweise zu streichen oder die Erwähnung von Juda/Jerusalem zu eliminieren, wie der strophische Aufbau zeigt. Dem entspricht die erneute Erwähnung von Juda/Jerusalem in v. 9, in dem gleichfalls auf Samaria angespielt wird (»sein Schlag«). Diese Verbindung zwischen v. 5 und 9 ist völlig klar und logisch. Denn v. 5 bezeichnet Samaria und Jerusalem, die beiden Hauptstädte, als die Sünden von Jakob und Juda. Doch wird im Anschluß daran zunächst nur das Strafgericht über Samaria angekündigt und in v. 9 als »unheilbar« betrachtet. Da die Ahndung der Sünde Judas an Jerusalem also noch aussteht, weist der Schluß des Spruches darauf hin, daß das Strafgericht mit der Zerstörung Samarias nicht beendet sein, sondern weiter wirken und auch Jerusalem ereilen wird. Dieser Zusammenhang würde durch die Abtrennung von v. 8-9 gröblich gestört werden. Man hat freilich gemeint, das v. 8 einleitende nttt- 1 ?» müsse sich nicht auf das Vorhergehende, sondern könne sich ebensogut auf das Folgende beziehen 21 , Das ist gewiß möglich; aber das Folgende ist eben nicht v. 8-16, sondern v. 8-9, nach denen ein tiefer Einschnitt im Text vorliegt.

20

G . F o h r e r , U b e r den Kurzvers, in: Studien zur alttestamentlichen Prophetie (1949—1965),

21

J . L i n d b l o m a . a . O . 38 f ü h r t d a f ü r Jos 14 14 II Sam 7 22 Jes 9 16 16 9 22 4 25 3 Jer 2 12 4 8. 28

1967, 69. 5 6 48 36 an.

60

I. Texte

3. Der Gattung nach ist 1 2 - 9 den »prophetischen Gerichtsreden« zuzurechnen. Allerdings bezeichnet dieser Sammelbegriff einen großen Komplex mannigfacher Redeformen, über deren Ursprung und Sitz im Leben neuerdings viel diskutiert worden ist, ohne daß sich ein auch nur annäherungsweise allgemein anerkanntes Ergebnis herausgestellt hat 2 2 . Das wird bei der unterschiedlichen Bewertung der »Bundes«-Vorstellung 23 und des Einflusses des Schemas internationaler Verträge auf die Formen des Jhwh-Glaubens 2 4 auch künftig kaum zu erhoffen sein. Eine Beziehung zu Kultus, »Bund« und internationalen Verträgen scheint mir jedenfalls nicht vorzuliegen. Vielmehr erklärt sich die Mannigfaltigkeit der prophetischen Redeform, die unter dem Sammelbegriff »prophetische Gerichtsreden« zusammengefaßt sind, am besten und einleuchtendsten vom profanen Rechtsleben her: a) Aufforderung zum Prozeß mit Angabe des anzustrebenden Urteils Ankündigung eines Prozesses mit Begründung ( = Anklageschrift)

Hos 2 4-5 Hos 4 1-2

b) Appellationsrede im Feststellungsverfahren

Jes 41 1-6. 21-29

c) Aufruf der Zuhörer und Anklagerede

Jes 1 2-3

Klage zur Einleitung des Prozesses, Auftreten Jhwhs, Anklagerede

Jes 3 12-15

Anklagerede

Jer2i-3.7-11

Anklagerede, Anrufung der Rechtsgemeinde zum Urteil, Urteil des Klägers mit Begründung

Jes 5 1-7

Anklagerede und Urteil

Ez 34 17-22

Einzelmotive: Jhwh als Kläger

Jes 44 6-8

anklagende Frage

Jer 2 5-6

Aufforderung der Zuhörer zum Entsetzen

Jer 2 11-12

Aufruf der Zeugen

Jes 43 8-13

d) Verteidigungsrede

Jes 50 1-3 Mi 6 1-5

e) Gerichtliche Behandlung von Einspruch und Beschwerde gegen Verfügung oder Urteil

Jes 1 18-20

Der Michaspruch 1 2 - 9 gehört offensichtlich in die umfangreichste Gruppe c. Er enthält folgende Elemente: 1. Aufruf der Zuhörer v. 2 — wie Jes 1 2 2. Erscheinen Jhwhs mit Angabe des Grundes v. 3 - 5 a — wie Jes 3 13-I4a

22

Vgl. J . Begrich, Studien zu Deuterojesaja, 1938 (1963); E. Würthwein, Der Ursprung der prophetischen Gerichtsrede, Z T h K 49 (1952), 1—6; F. Hesse, Wurzelt die prophetische Gerichtsrede im israelitischen Kultus?, Z A W 65 (1953), 4 5 - 5 3 ; H . B . Huffmon, The Covenant Lawsuit in the Prophets, J B L 78 (1959) 2 8 5 - 2 9 5 ; J . Harvey, Le »Rib-Pattern«, réquisitoire prophétique sur la rupture de l'alliance, Bibl 43 (1962), 172 — 196; E . von Waldow, Der traditionsgeschichtliche Hintergrund der prophetischen

Gerichtsreden,

1963; H . J . Bocker a . a . O . 23

Vgl. dazu G . Fohrer, Altes Testament — »Amphiktyonie« und »Bund«?, in: Studien zur

24

Vgl. dazu G . Fohrer a . a . O . (Anm. 13) 79f.

alttestamentlichen Theologie und Geschichte ( 1 9 4 9 - 1 9 6 6 ) , 1969, 8 4 - 1 1 9 .

61

Micha 1

3. Anklagerede v.

- wie Jes 1 3 3 I 4 b - 1 5 Jer 2 1 - 3 . Jes 5 1 - 2 Ez 34 1 7 - 1 9 - wie Ez 34 2 0 - 2 2 5b

7-11

4. Urteil v. 6 - 7 5. Klage v. 8-9. Davon entspricht der Aufruf der Völker, der sich bei Deuterojesaja des öfteren findet, dem Aufruf von Himmel und Erde, d. h. des Weltganzen, in Jes 1 2. Das Erscheinen Jhwhs als Zeuge und Richter vollzieht sich in einer Theophanie 25 mit den Erscheinungen eines Erdbebens; die Angabe des Prozeßgrundes entspricht in etwa den einer Anklageschrift ähnlichen Beschuldigungen in Hos 4 l b—2. Anklagerede und Urteil, die sich sehr selten gemeinsam in einer prophetischen Gerichtsrede finden, weil die Propheten nach der als bewiesen anzunehmenden Anklage den Ausspruch eines auf Todesstrafe lautenden Urteils offenbar für überflüssig hielten, entsprechen einem herkömmlichen Schuldaufweis mit Unheilsankündigung, die im Ich Jhwhs formuliert sind. Eine wirkliche Besonderheit ist die Klage des Propheten nach dem Urteil; sie ist um so erstaunlicher, als Micha schwerlich Anlaß gesehen hätte, über die Zerstörung Samarias und seiner Gottesbilder zu klagen — selbst wenn er erkennen mußte, daß dies zugleich den Anfang vom Ende Jerusalems bedeutete. Denn dessen Untergang hat er ja mit der gleichen Radikalität angekündigt. Aber woraus geht denn hervor, daß es sich um eine echte Klage Michas handelt? Er kann das herkömmliche Klagen und Jammern der Totenklage, das sich vielleicht seitens der Verwandten und Bekannten eines zum Tode Verurteilten nach dem Urteilsspruch erhob, nachgeahmt haben. Es ist ferner möglich, darin einfach das Stilmittel der »Reaktion auf schlimme Neuigkeiten« zu erblicken, das unabhängig von der eigenen Empfindung des Sprechers oder Dichters verwendet wird 2 6 . Am ehesten wird es sich um die durch andere Beispiele belegte 27 übertragene Anwendung von Trauerriten auf ein allgemeines, öffentliches Unglück — ein tatsächliches oder erst angedrohtes — handeln; das legt der auf einen Todesfall infolge von Krankheit hinweisende Ausdruck »ünheilbar« nahe. In solcher Weise haben ja die Propheten mehrfach die Gattung des Leichenliedes übernommen und sie in neuer Funktion als Drohung schärfster oder spöttischer Art gebraucht 28 . Genauso gibt Micha nicht seinen persönlichen Empfindungen Ausdruck, wenn er klagen und Trauerbräuche ausüben will, sondern bekräftigt auf diese Weise aufs entschiedenste die in v. 6-7 ausgesprochene Drohung. Er verfährt ähnlich wie Jesaja, der die Jerusalemerinnen im vorhinein zu Trauerbräuchen auffordert (Jes 32 9 - 1 4 ) , und wie 25

Vgl. dazu Jörg Jeremias, Theophanie, 1965.

26

D . R. Hillers, A Convention in Hebrew Literature: The Reaction to Bad News, Z A W 77

27

Vgl. H. Jahnow, Das hebräische Leichenlied im Rahmen der Völkerdichtung, 1923, 164.

28

Vgl. G . Fohrer a . a . O . (Anm. 13) 2 9 7 - 2 9 9 .

(1965), 8 6 - 9 0 , der Mi 1 8f. allerdings nicht erwähnt.

62

I. Texte

Jeremia, der die Klagefrauen ein neues Klagelied lehrt (Jer 9 1 9 - 2 1 ) . Die Ankündigung der Trauerriten ist der unüberbietbare Höhepunkt des ganzen Spruches. In manchem steht Micha in enger Beziehung zu Jesaja. Wie jener droht er — obwohl gleichfalls Judäer — Samaria den Untergang an, verwendet er die Redeform der prophetischen Gerichtsrede in der Form der Gruppe c und schildert er das Erscheinen Jhwhs zum Gericht als Theophanie. Diese letztere Parallelität dürfte für das Verständnis von Mi 1 2-9 wichtig sein. Denn Jes 2 12-17 beschreibt das Erscheinen Jhwhs zum Gericht am »Tage Jhwhs« mit den Begleiterscheinungen der Theophanie — Erdbeben und Sturm, die von Norden nach Süden die palästinische Landschaft durchziehen und alles Hohe und Erhabene in Natur und Menschenwerk zerschmettern, so daß schon das Erscheinen Jhwhs zum Gericht sich katastrophal auswirkt 29 . Genauso ist die Wirkung des Erscheinens Jhwhs bei Micha: Berge zerfließen, Täler spalten sich. Dem wird das Gericht selber folgen: zuerst über Samaria in Nordisrael, danach über Jerusalem im Süden. Das bedeutet, daß das prophetische Gerichtswort Mi 1 2-9 — ohne den herkömmlichen Ausdruck zu gebrauchen — wie Jes 2 12-17 den »Tag Jhwhs« als den Gerichtstag meint, an dem Jhwh, von Norden nach Süden durch Palästina schreitend, sein Urteil sprechen und vollstrecken wird. III. Es ist ein aussichtsloses Unterfangen, die ursprüngliche Textgestalt von 1 10-15 (16) wiederherstellen zu wollen. Der Text ist so stark beschädigt, daß jeder Versuch der Korrektur und Ergänzung notwendigerweise unbefriedigend bleiben muß; so vermag keiner der bisherigen Vorschläge völlig zu überzeugen 30 . Demgemäß geht es im folgenden weniger um einen neuen Versuch der Wiederherstellung des Michatextes; vielmehr sollen auf der Grundlage dessen, was mit einiger Sicherheit als ursprünglicher oder vielleicht rekonstruierbarer Text bezeichnet werden kann, die gleichen Fragen erörtert werden, für die oben im Blick auf 1 2-9 eine Antwort zu geben unternommen wurde. Für die Behandlung dieser allgemeinen Fragen dürfte die zu erreichende Textform ausreichend sein. Zwar hat Elliger der Textherstellung eine allgemeine und drei stilistische Beobachtungen zugrunde gelegt, die einen sicheren Weg zu öffnen scheinen 31 . Aber das trifft doch nicht in dem Ausmaße zu, das er für möglich hält. 29 30

31

Vgl. im einzelnen G . Fohrer, Das Buch Jesaja, I 1966 2 , 55—57. Dabei sehe ich ganz ab von der kultischen D e u t u n g durch W . C . Graham, Some Suggestions towards the Interpretation of Micah 1 10-16, AJSL 47 (1930/31), 2 3 7 - 2 5 8 , der v. 10b. iiaV. bßy. I2bß. 14b. 1 5 b also etwa ein Drittel des Textes, streicht. K. Elliger a . a . O . 84.

Micha 1

63

a) Daß die Hauptverderbnis durch eine mechanische Beschädigung des rechten Blattrandes oder der Handschriftkolumne entstanden ist, wird sicher zutreffen; fragwürdig ist die Folgerung, daß also an Mitte und Ende der einzelnen Zeilen im allgemeinen nichts geändert werden darf. Warum sollten nicht auch dort eine ganze Reihe von Textverderbnissen entstanden sein? Zumindest in fünf der erhaltenen 11 vollen Verse, d. h. fast in der Hälfte dieser Verse, weist der zweite Halbvers solche Verderbnisse auf (v. 10a. 10b. 12b. 14a. 14b), vielleicht sogar in sechs Versen, da der Schluß von v. 15b nicht ohne Bedenken ist. Dadurch wird die Rekonstruktion erschwert. b) Die erste stilistische Beobachtung, daß das Metrum der Fünfer (3 + 2) sei, trifft nicht zu, wie noch zu zeigen sein wird, obschon in der Tat keiner der intakten Verse mehr als sechs Hebungen hat. c) Die zweite stilistische Beobachtung, daß die Aussagen über die einzelnen Orte als Wortspiele mit ihren Namen gestaltet sind, ist der einzige völlig eindeutige Grundsatz. d) Die dritte stilistische Beobachtung, daß immer zwei Verse zu einer Strophe zusammengebunden sind, läßt sich für v. 10 (Ortsname mit »in« am Anfang, Prädikat im Imp.), l i a - b (Ortsname mit der Apposition »Einwohner« am Ende) und 12 (inhaltliche Gegenüberstellung »Gutes« — »Unglück«) wahrscheinlich machen, jedoch nicht für v. 14 und 15. Außerdem nötigt dies zu der Annahme, daß in v. IIb zweimal ein erster Halbvers und in v. 13 ein ganzer Vers im Verlauf der Textüberlieferung verlorengegangen ist. Als ganz gesichert kann demnach lediglich die alte Beobachtung gelten, daß die Aussagen über die einzelnen Orte als Wortspiele mit ihren Namen gestaltet sind. Dennoch wird im folgenden auch die Annahme von zweiversigen Strophen beibehalten, obwohl die Voraussetzung eines Textverlustes nötig ist (v. 1 0 - 1 1 b. 11 b—13a. 1 4 - 1 5 ) . 10 In Gat 'jauchzt nicht' (In Gat 'tut nicht groß'),

2 + 2

'ihr müßt bestimmt weinen'! In Bet-Afra 'wälzt euch' im Staub! 11 'Stoßt ins H o r n ' ,

2 + 2 2 + 2 2 + 2

Einwohner von Schafir! 'Aus ihrer Stadt' ' ' gehen nicht heraus

2 + 2

die Einwohner von Zaanan.

(2)+ 2 die Klage von Bet-Haezel. (2) + 2 er nimmt euch seine Stütze.

64

I. Texte

12 'Wie könnten hoffen' auf Gutes die Einwohner von Marot? Ja, Unglück kommt herab von Jhwh auf 'Schaarajim' '

2 + 2 2 + 2

13 'Schirrt an' ' ' das Gespann, Einwohner von Lachis!

2 + 2

(2 + 2) 'Man gibt' das Entlassungsgeschenk 'an' Moreschet-Gat. 'Bet'-Aksib ist nur ein Trugbach für 'den König' Israels.

2 +2

15 Nochmals 'kommt' der Eroberer zu dir, Einwohnerschaft von Marescha. 'In' Adullam 'geht zugrunde' der Ruhm Israels.

2 + 2

14

2+2

2 +2

10 1 i V W vel iV"!!?) (c G) pr »verkündet«. Eine Änderung des Ortsnamens Gat ist nicht erforderlich; daß der O r t spätestens 711 nicht mehr zu Juda gehört hat, ist kein Grund, einen anderen Ortsnamen einzusetzen; es ließe höchstens darauf schließen, daß der ganze Spruch aus einer früheren Zeit stammt; 1 1 3 3 n I 7 , D 3 3 c S . J . Schwantes in VT 14(1964), 455; l l ^ V p r i n c G pr »ich habe mich gewälzt«. — n 1 "lDltf 'SJ'Tri pr »Geht euch hinüber«; 1 ¡TVSÖ pr »Nacktheit«; dl »Schande« als deutende Glosse. Im folgenden fehlen bei der Annahme zweiversiger Strophen zwei Halbverse, die im Verlauf der Textüberlieferung ausgefallen sind. — 12I i V r r TJ'K pr »Denn es ist krank«; 1 D^WEf1? pr »zu den Toren«; dl »Jerusalem« als näherbestimmende Glosse nach Verderbnis von Schaarajim. — 13 1 FH?iJ pr hap leg

Dm

c Schwantes a . a . O . 458; dl »den Wagen« als näherbestimmende Glosse; dl »der Anfang der Sünde ist dies für die Tochter Zion; denn in dir sind die Frevel Israels zu finden« als erklärende Glosse nach Hos 10 I3b-15 u. a.; diese Glosse hat unter der Voraussetzung zweiversiger Strophen zwei ursprüngliche Halbverse verdrängt. — 14 dl »Darum« als redaktionellverknüpfende Glosse nach dem Einschub in 13; 1 Hfl? pr »du wirst geben«; 1 - 1 ? » vel pr »auf«; 1 2V3 pr »die Häuser von«; 1 TjVö1? pr plur. — 15 1 1 "V3

pr »bis«; eine Änderung von

der Ortsname fehlte; 1

b

(cf G) pr »mein Vater«;

in nVil? ist ausgeschlossen, da dem Verse dann

pr »kommt«. — dl 16 als späteren Zusatz.

1. 1 10-15 weist nicht das Metrum des Klage- oder Leichenliedes (3 + 2) auf, sondern das Metrum 2 + 2 . Das ist keineswegs belanglos, wie es dem an metrischen Fragen wenig oder gar nicht Interessierten erscheinen könnte, weil es Auswirkungen auf die Bestimmung der Redegattung hat. Freilich sind gerade die strittigen ersten Halbverse am stärksten von der Textverderbnis betroffen, doch erlauben wenigstens einige von ihnen, die

65

Micha 1

entweder unversehrt sind oder deren Wortzahl erhalten geblieben ist, einen Rückschluß auf den gesamten Spruch. Mit Sicherheit lassen sich im ersten Halbvers zwei Hebungen erkennen: v. 10a In Gat 'jauchzt nicht' [oder ähnlich] v. lob In Bet-Afra v. 12 a 'Wie könnten hoffen' auf Gutes v. 12b Ja, Unglück kommt herab v. 14b 'Bet'-Aksib ein Trugbach v. 15b 'In' Adullam 'geht zugrunde'. Das gleiche legt sich, wie die obige Textherstellung zeigt, für die übrigen Verse nahe. 2. In seiner die philologisch-historische Kritik von der archäologischen Seite her durch die historisch-geographische Untersuchung ergänzenden, ausführlichen Abhandlung über 1 8-16 ist K . Elliger zu drei wichtigen Ergebnissen gelangt; auf sie ist zunächst einzugehen. a) Die genau oder annähernd zu lokalisierenden Ortschaften des Spruches liegen innerhalb eines Kreises von 14 km Halbmesser um Moreschet-Gat, der Heimatstadt Michas, so daß er sich auf seine engere Heimat bezieht. Das trifft ohne Zweifel in vollem Umfang zu. b) Die Ortschaften lassen sich nicht in der Weise miteinander verbinden, daß man eine oder gar zwei durchlaufende Linien erhielte, die den oder die Anmarschwege eines feindlichen Heeres darstellten. Diese früher oft vertretene Auffassung ist in der Tat ausgeschlossen. Vielmehr schweifen Michas Gedanken — so K . Elliger — von dem einen Rand seiner engeren Heimat zum anderen, dann den gleichen Weg vom O s t - zum Westrand noch einmal, bis sie in der Umgebung seines Heimatortes zur Ruhe kommen. Im wesentlichen kann man dem auch bei der obigen Reihenfolge zustimmen:

Gat {teil es-safi?)



Bet-Afra (et-taijibet) Schafir Zaanan (im Gau Lachis) Bet-Haezel Marot (im Gau Bet-Zur) Schaarajim (im Gau Abdullam) Lachis {teil ed-duwer) Moreschet-Gal {teil ed-dschudede) Bet-Aksib {teil el-beda) Marescha {teil sandahenne) Adullam {chirbet esch-schech madkür)

— — — — — — — —

Hügelland Gebirge p

Hügelland ? Gebirge, Hügelland, >> >5 >>

>5

Eine kleine Unsicherheit bleibt, weil die Lage von Schafir und Bet-Haezel sich nicht einmal annähernd bestimmen läßt.

66

I. Texte

c) Während keine der Ortschaften jenseits der Hauptwasserscheide des Gebirges Juda liegt, über die Michas Blick natürlich nicht hinausreichte, erklärt sich — wieder nach K . Elliger — die Nordgrenze der Ortschaften, die dicht nördlich Moreschet-Gat quer durch das Land hinauf zur Hauptwasserscheide auf dem Gebirge verläuft, nicht aus der geographischen Situation, da der Prophet über jene Grenze hinaus noch ein beträchtliches Stück weiter nach Norden schauen konnte. Dem muß man jedoch sogleich hinzufügen, daß die Südgrenze der von Micha genannten Ortschaften nicht weniger merkwürdig und willkürlich als die Nordgrenze ist. Das ist für das Weitere zu beachten. Ungeachtet der Einschränkung, die sich für den dritten Punkt ergibt, wertet K . Elliger seine Beobachtungen dahin aus, daß in 1 8-16 keine echte Prophetie, kein Orakel vorliege, das Juda den Untergang androhe, sondern daß die Beschränkung in der Nennung der Ortschaften aus einer bereits vorliegenden geschichtlichen Situation herrühre und daß der Spruch ein Leichenlied darstelle, das bestimmte, schon eingetretene politische Ereignisse beklage: die Abtrennung des durch die Ortsnamen umrissenen Landes durch die Assyrer im Jahre 701 v. Chr. im Verlauf der Niederwerfung des zweiten Aufstandes Hiskias 3 2 . Obwohl diese Deutung großen Widerhall gefunden hat, sprechen mehrere Gründe gegen sie: a) Der Abschnitt Mi 1 8-16 — oder richtiger 1 10-15 — wäre das einzige Beispiel der Klage über ein schon eingetretenes Ereignis in der prophetischen Uberlieferung. Ihm steht ferner das ebenfalls mit Wortspielen aufgrund von Ortsnamen versehene Parallelstück Jes 10 2 7 b - 3 2 gegenüber, das sich zweifellos auf künftige Ereignisse bezieht 3 3 . Beides, besonders die abermalige enge Beziehung zwischen Micha und Jesaja, macht es von vornherein unwahrscheinlich, daß Mi 1 10-15 eine geschichtliche Situation der angegebenen Art meint und eine bloße Klage über abgeschlossene Ereignisse darstellt. b) Es wurde bereits festgestellt, daß 1 10-15 nicht das Metrum des Klageliedes aufweist. c) Die Südgrenze des durch die Ortsnamen angegebenen Gebiets ist ebenso merkwürdig und willkürlich wie die Nordgrenze. Wenn man die letztere ernst nehmen will, dann müßte man auch mit der ersteren so verfahren. Demnach hätten die Assyrer einen schmalen Landstreifen aus Juda herausgeschnitten, der sich nicht einmal an die Gaugrenzen hielt, da Micha zwar Adullam, aber nicht die zum gleichen Gau gehörigen wichtigen Festungen Aseka und Socho aufzählt. Was sollte dieser Landstreifen, der irgendwo auf dem Gebirge wie eine Sackgasse enden mußte? 32

Daß diese Möglichkeit schon oft erwogen worden ist, zeigen die Hinweise bei K . Budde a . a . O . 92 und E . Sellin a . a . O . 306.

33

Vgl. im einzelnen G . Fohrer, Das Buch Jesaja, I 1 9 6 6 2 , 1 6 2 - 1 6 4 .

Micha 1

67

d) Tatsächlich hat in geschichtlicher Hinsicht A. Alt gezeigt, daß die Assyrer im Jahre 701 nicht nur den von den Ortsnamen in 1 10-15 angegebenen Landstreifen vom Reiche Juda abgetrennt, sondern alles, was außerhalb des Territoriums des früheren Stadtstaates Jerusalem, des damaligen Eigenbesitzes der davidischen Dynastie, gelegen war 3 4 . Nicht nur die »engere Heimat Michas« also ging verloren, so daß die Beschränkung in der Nennung der Ortsnamen gar nicht durch die Situation des Jahres 701 bedingt ist. So liegt die Annahme nahe, daß Micha einfach einen Teil der O r t schaften im weiteren Umkreis von Moreschet-Gat für seinen Spruch ausgewählt hat. E r war ja nicht verpflichtet, alle zu nennen, sondern konnte sich auf diejenigen beschränken, zu denen ihm ein Wortspiel einfiel. 3. Was ergibt sich daraus für das Verständnis des Spruches 1 1 0 - 1 5 ? a) Die Wahl der Ortschaften ist, darin muß man K . Elliger zustimmen, vom Standort Moreschet-Gat aus getroffen: Michas Augen schweifen mehrfach von dem einen Rand seiner engeren Heimat zum anderen, bis sie in der Umgebung seiner Heimatstadt zur Ruhe kommen. N u r zwei Einschränkungen sind zu machen: Einmal gehen Michas Blicke hauptsächlich in der ost-westlichen Richtung hin und her, während die nord-südliche Richtung keine besondere Rolle spielt, so daß dort die Grenzen willkürlich und nicht natürlich oder geschichtlich bedingt sind. Ferner kann Micha sich auf solche Ortsnamen beschränkt haben, für die sich ihm auf ungezwungene Weise ein Wortspiel ergab. b) Micha ist in diesem Spruch am Geschick Jerusalems nicht interessiert. E r befaßt sich mit dem Ergehen seiner engeren Heimat als eines Teils des Reiches Juda; praktisch handelt es sich um die Schefela, das dem Gebirge Juda vorgelagerte Hügelland. c) In 1 10-15 liegt nicht die Beschreibung eines schon bestehenden Zustandes oder die Klage über ein eingetretenes Ereignis — die Abtrennung eines Teils der Landschaft Juda — vor. Vielmehr ist der Spruch ein Orakel, das sich auf die Zukunft bezieht. Er kündigt etwas an, was das Hügelland betreffen wird und was mittels des Wortspiels — das ja nicht ein Spiel, sondern ein Enthüllen künftiger Wirklichkeit ist — den Ortsnamen entnommen wird: Unheil! Der Spruch ist daher der Gattung nach eine Unheilsankündigung gegen das Hügelland als einem Teil Judas. Er befaßt sich nicht mit Jerusalem und beschreibt nicht den Anmarschweg eines feindlichen Heeres gegen die Hauptstadt, sondern droht die Verwüstung der Landschaft an. d) Mit einer bestimmten geschichtlichen Situation ist 1 10-15 nicht verknüpft, wenn man von der Erwähnung Gats absieht, die auf jeden Fall in die Zeit vor 711 verweist. Die obere Grenze bildet wohl die Eroberung

34

A . Alt, Die territorialgeschichtliche Bedeutung von Sanheribs Eingriff in Palästina, P J B 25 (1930), 8 0 - 8 8 ( = Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel, II 1953, 2 4 2 - 2 4 9 ) .

68

I. Texte

Samarias im Jahre 721, da Micha im Gegensatz zu 1 2-9, wo er von Jakob und Juda spricht, die Bezeichnung Israel für das Südreich gebraucht. Nun setzen andere Sprüche in Mi 2—3 die geistig-religiöse Lage voraus, die nach der sog. Kultusreform Hiskias zu erwarten ist. Aus diesen Jahren einer anscheinend stärkeren Aktivität Michas könnte auch 1 10-15 stammen, so daß der Spruch eher der Zeit vor 711 als derjenigen bald nach 721 anzunähern ist.

Die Sprüche Obadjas I. Th. C . Vriezen hat über das kleine Buch Obadja geäußert: »Zo klein als het boekje is, zo groot zijn de litterair-kritische vragen; zij zijn niet met zekerheid op te lossen.« 1 In der Tat sind viele Fragen offen oder werden sehr unterschiedlich beantwortet. Es ist bereits unsicher, ob der Name des Propheten zutrifft oder die kurze Bemerkung der Uberschrift hazön 'obadja »Schauung Obadjas« nicht einer ursprünglich anonymen Schrift nachträglich aufgrund von I Reg 18 3ff. beigegeben worden ist. Die Ansichten über die Entstehungszeit der Schrift gehen weit auseinander und bewegen sich in der großen Zeitspanne vom 9. Jh. bis zur Mitte des 4. Jh., wenn man auch überwiegend annimmt, daß der Prophet in der Zeit nach der babylonischen Eroberung Jerusalems aufgetreten ist. Die Erwägungen komplizieren sich durch die Ähnlichkeiten, die zwischen Obadja und Jeremia 49 7ff. bestehen und die auf eine Verwendung entweder der Schrift Obadjas in Jer 49 7ff. oder von Jer 49 7ff. durch Obadja hinweisen; zudem ist es strittig, ob die in Jer 49 7-22 überlieferten Sprüche gegen Edom ganz oder teilweise von Jeremia herrühren oder nicht. Ebenso zweifelhaft ist, ob die Verkündigung Obadjas dazu berechtigt, ihn den großen Jhwh-Propheten von Arnos und Hosea über Jesaja und Micha bis Jeremia und Ezechiel an die Seite zu stellen, oder ob sie ihn als einen Vertreter der von Jeremia bekämpften Heilsprophetie ausweist. Ja, nicht einmal darin besteht eine auch nur annähernde Einmütigkeit, ob die Schrift Obadjas eine Einheit bildet oder aus mehreren Sprüchen zusammengesetzt ist. Im folgenden soll versucht werden, zu dieser primären und grundlegenden Frage der möglichen Aufteilung in Sprucheinheiten, deren Abgrenzung und Form beizutragen, obschon die darzulegende Annahme mehrerer Sprüche von der von Th. C. Vriezen geteilten Auffassung abweicht, »dat de profetie veel meer als een moet worden beschouwd« 2 . Fünf Grundauffassungen hinsichtlich der Einteilung der Schrift Obadjas lassen sich unterscheiden: 1. Seit jeher wird die Ansicht vertreten, daß die Schrift eine Einheit darstellt und einen einzigen Prophetenspruch enthält, so unter anderen von A. Condamin, C . von Orelli, S. O. Isopescul, J . Theis, A. H. Edelkoort, G. Ch. Aalders und M. Bic, wobei letzterer sie gar als ein liturgisch 1

T h . C . Vriezen, Oud-israelietische geschriften, 1948, 182.

2

A . a . O . 183.

70

I. Texte

erweitertes Orakel für das Thronbesteigungsfest deklariert 3 . Manchmal finden sich leichte Einschränkungen oder Modifizierungen. So betrachtet J . A . Thompson die Schrift als eine Einheit, die sich in die beiden Hauptteile v. 1-14 und 15-21 gliedert und in v. 1 - 9 ein älteres, vorexilisches Orakel verarbeitet 4 . M. Haller nimmt an, daß der Prophetenspruch Obadjas in späterer Zeit etwas erweitert worden ist, und E . Olävarri, daß zu der fortlaufenden Einheit v. 1-9. 15-21 eine von Ezechiel 35 abhängige Glosse v. 10-14 getreten ist 5 . 2. Häufig unterteilt man die Schrift Obadjas in zwei Sprucheinheiten. So nahm G. Wildeboer einen vorexilischen Prophetenspruch v. 1 - 9 und eine nachexilische Auffüllung v. 10-21 an, wovon die Abtrennung und Beurteilung von v. 1 - 9 mehrfach nachgewirkt hat 6 . Den stärksten Einfluß übte die Auffassung J. Wellhausens aus, der v. l —14 als Wort Obadjas und v. 15-21 als Nachtrag betrachtet 7 . Dem sind, teilweise mit gewissen Modifizierungen (vor allem durch Ausschaltung von v. 8 - 9 ) , viele andere gefolgt 8 . Auch die neuere Zweiteilung in v. 1-14. 15b und v. 15. 16-21 ist nur eine Verfeinerung der Gliederung Wellhausens 9 . 3. Daneben findet sich eine Dreiteilung der Schrift Obadjas. C . Steuernagel freilich hatte nur drei Stadien des Werdens der Schrift voneinander unterschieden 10 : eine Beschreibung des Gerichts über Edom wegen seines 3

A. Condamin, L'unité d'Abdias, R B 9 (1900), 2 6 1 - 2 6 8 ; C . von Orelli, Die zwölf kleinen Propheten, 1908 3 ; S. O . Isopescul, Historisch-kritische Einleitung zur Weissagung des Abdias, W Z K M 27 (1913), 1 4 1 - 1 6 2 ; J . Theis, Die Weissagung des Abdias, 1917; J . L i p p l J . Theis, Die zwölf kleinen Propheten, I 1937; A. H . Edelkoort, De profetie van Obadja, N T h T 1 (1946/47), 2 7 6 - 2 9 3 ; G . Ch. Aalders, Obadja en Jona, 1958, 1 2 - 1 5 ; M. Bic, Zur Problematik des Buches Obadjah, VTSuppl 1 (1953), 1 1 - 2 5 .

4

J . A. Thompson, The Book of Obadiah, in: The Interpreter's Bible, VI 1956; zur Auffassung von v. 1-9 vgl. G . Wildeboer in Anm. 6.

5

M. Haller, Das Judentum, 1925 2 , 257; E. Olävarri, Cronolögia y estructura literaria del oräcula escatolögico de Abdias, Est Bibl 22 (1963), 303—313.

6

G . Wildeboer, De letterkunde des Ouden Verbonds, 1903 3 , 286f.

7

J . Wellhausen, Die kleinen Propheten, 1963 4 .

8

So W . Nowack, Die kleinen Propheten, 1903 2 ; K. Marti, Das Dodekapropheton, 1904; J . E. McFadyen, Introduction to the Old Testament, 1906, 194f.; S. R. Driver, Introduction to the Literature of the Old Testament, 1913 9 (1961), 321; C . H . Cornill, Einleitung in das Alte Testament, 1913 7 , 195; B. Duhm, Israels Propheten, 1916, 330.

9

So J . A. Bewer, The Book of the Twelve Prophets, II 1949; R. Augé, Profetes Menors, 1957 (v. 8-9 Zusatz); A. R o b e r t - A . Feuillet, Einleitung in die Heilige Schrift, I 1963, 573; A. Weiser, Einleitung in das Alte Testament, 1963 s , 219f. Ahnlich R. H . Pfeiffer, Introduction to the Old Testament, 1941, 584—586, der nochmals in v.

1-9

und

1 0 - 1 4 . 15b

und in

v. (15a) 16-18 und 19-21 unterteilt. Vgl. auch H . W . Wolff, Dodekapropheton 3; Obadja und Joel, 1977; ders., Obadja -

ein Kultprophet als Interpret, EvTh 37 (1977), 2 7 3 - 2 8 4 :

v. 1-14. 15b als eine stilistisch-thematische Einheit und v. 15a. 16-21 als rhetorische Einheit, allerdings jeweils aus mehreren Sprüchen gebildet. 10

C . Steuernagel, Lehrbuch der Einleitung in das Alte Testament, 1912, 622f.

Die Sprüche Obadjas

71

Verhaltens beim Untergang Judas und Jerusalems in v. 2-3. 7. 10-14, eine Umarbeitung in die Ankündigung des kommenden Gerichts in v. 4-5. 7b. 15b. 17—2la (460 — 312 v. Chr.) und eine eschatologische Überarbeitung in v. lb. 15. 16. 2lb (3. Jh.). Sonst aber teilt man drei Texteinheiten ab, deren letzte manchmal als Zusatz zu den Sprüchen Obadjas gilt: a) V. 1-14. 15b; v. 15a. 16-18; v. 19-21 nach W. Rudolph, B. M. Vellas und O . Eißfeldt 1 1 , b) V. 1-14. 15b; v. 16-18; v. 19-21 nach A. Weiser 1 2 , c) v . 1 - 9 ; v . 10-14. 15b; v . 15a. 16-21 n a c h D . D e d e n 1 3 .

4. Eine weitere Auffassung ist die von E. Sellin vorgenommene Vierteilung 1 4 . Dabei gelten v. 1-10 als ein alter Prophetenspruch aus der Zeit um 850 v. Chr. und v. 11-14 als eine Schilderung von Edoms Verhalten nach dem Jahre 587. Den Rest der Schrift verstand E. Sellin zunächst als einen Anhang, der vielleicht in die beiden Teile v. 15a. 16-18 zu gliedern sei, während bei E . Sellin — L. Rost von zwei Ergänzungen die Rede ist: v. 15b. 16. 17. 21 aus der Zeit um 400 v. Chr. und v. 17b. 19-20 aus etwas späterer Zeit 1 5 . 5. Schließlich ist die Aufgliederung der Schrift Obadjas in eine größere Anzahl von Sprüchen anzuführen, so von W. O . E. Oesterley — Th. H . Robinson in 7 Sprüche: v. 1 - 4 . 5 (Fragment). 6 - 7 . 8 - 9 . 1 0 - 1 1 . 1 2 - 1 7 . 1 8 - 2 1 1 6 . Davon hat Th. H . Robinson nochmals v. 6 und 7 getrennt und auf diese Weise 8 Sprüche oder Spruchfragmente erhalten 17 . Dieser Uberblick ist keineswegs vollständig. Doch reicht er aus, um die große Verschiedenheit und Spannweite der Auffassungen zu illustrieren, die von der Annahme der Einheit der Schrift Obadjas bis zu ihrer Aufteilung in eine Vielzahl von Sprüchen oder Fragmenten reicht. Angesichts dessen mag ein erneutes Bemühen um die Frage einer sachgerechten Gliederung der Prophetie Obadjas gerechtfertigt sein, selbst auf die Gefahr hin, den bisherigen Lösungsversuchen lediglich einen weiteren an die Seite zu stellen. II. Die Abgrenzung der Prophetensprüche stößt auf Schwierigkeiten, die bei den erzählenden Büchern oder den Psalmen gar nicht oder doch sehr selten auftreten. N u r wenige Sprüche sind durch gleichlautende Anfänge wie 11

W. Rudolph, O b a d j a , Z A W 49 (1931), 2 2 2 - 2 3 1 ; ders., Joel - Arnos - O b a d j a - J o n a , 1971, 296; B. M. Vellas, M r / a i a g , ToafjX, *Oß8iov, 1948; O . Eißfeldt, Einleitung in das Alte Testament, 1964 3 , 543 f.

12

A . Weiser, Das Buch der zwölf Kleinen Propheten, I 1963".

13

D . Deden, D e kleine Profeten, I - V I 1953.

14

E . Sellin, Das Zwölfprophetenbuch, 1922.

15

E . Sellin - L . Rost, Einleitung in das Alte Testament, 1959 9 , 126f.

16

W. O . E . Oesterley - T h . H . Robinson, An Introduction to the B o o k s of the O l d Testa-

17

T h . H . Robinson - F. H o r s t , Die Zwölf Kleinen Propheten, 1954 2 .

ment, 1935 2 , 370.

72

I. T e x t e

A m 1 3 ff. oder regelmäßig wiederkehrende Kehrverse von Strophen wie Jes 9 7ff. 5 25 ff. A m 4 6ff. gekennzeichnet und heben sich dadurch sichtbar von ihrer Umgebung ab. Andere Merkmale, die sich anführen lassen, können nicht als völlig sicher gelten. Sie gewinnen erst dann an Gewicht, wenn mehrere gleichzeitig auftreten. Es handelt sich um die Einleitungs- und Schlußformeln, die gattungsmäßige Bestimmtheit, die inhaltliche Geschlossenheit, die stilistische Gleichförmigkeit und den metrischen A u f b a u ; zum letzteren ist auch die Beobachtung zu rechnen, daß eine Reihe von Prophetensprüchen mit einem alleinstehenden Halbvers und nicht mit einem zwei- oder dreigliedrigen Vollvers schließen 18 . Mustern wir daraufhin die Schrift Obadjas, so legt sich die Einteilung in sechs Sprüche nahe: 1. V .

lbß-419

2. v. 5-7 3. V. 8 - 1 1 4.

V. 1 2 - 1 4 . 1 5 b 2 0

5.

V. 15a. 1 6 - 1 8 2 1

6.

V. 1 9 - 2 1 2 2 .

Davon dürfte der erste bis fünfte Spruch von dem Obadja genannten Propheten herrühren, während der sechste Spruch wohl als ein Zusatz zu gelten hat, wie ja derartige Worte vor allem eschatologischer Prägung oft an Sammlungen von Prophetensprüchen angefügt worden sind 2 3 . Im folgenden soll die vorgeschlagene Einteilung begründet werden. Außer Betracht bleibt die Gesamtüberschrift des kleinen Buches, die in v. la.bavorliegtundinderdas WortAitzo« wie Jes 1 l u n d N a h l l d e n g a n z e n Offenbarungsempfang des Propheten bezeichnet: D i e Schauung O b a d j a s . S o hat der H e r r J h w h in b e z u g auf E d o m gesprochen.

1. Der erste Prophetenspruch liegt in v. l b ß - 4 vor. Er beginnt mit einer Verkündigungsformel, die das den Völkern zu übermittelnde Wort des Jhwh-Boten — die Aufforderung zum Feldzug — einleitet. Dies dient wiederum als Einleitung für das Jhwh-Wort, das den Hauptteil des Spruches 18

Vgl. die Beispiele bei G . F o h r e r , U b e r den K u r z v e r s , in: Studien zur alttestamentlichen

19

S o auch W. O . E . Oesterley — T h . H . R o b i n s o n , und T h . H . R o b i n s o n in: T h . H . R o b i n -

20

T h . H . R o b i n s o n : v. 12-15.

21

S o auch W. R u d o l p h , B . M . Vellas, O . Eißfeldt, A . Weiser ( D a s Buch der z w ö l f Kleinen

22

S o auch W. R u d o l p h , B . M . Vellas, T h . H . R o b i n s o n , O . Eißfeldt; vgl. A . Weiser (z. T .

23

Vgl. G . F o h r e r , Entstehung, K o m p o s i t i o n und Uberlieferung von J e s a j a 1—39, in: Studien

Prophetie ( 1 9 4 9 - 1 9 6 5 ) , 1967, 5 9 - 9 1 . son — F. Horst.

Propheten); vgl. R . H . Pfeiffer. Z u s a t z ) , R . H . Pfeiffer. zur alttestamentlichen Prophetie ( 1 9 4 9 - 1 9 6 5 ) , 1967, 1 1 3 - 1 4 7 .

Die Sprüche Obadjas

73

a u s m a c h t , u n d die m i t d e m F e l d z u g verfolgte A b s i c h t b e s c h r e i b t . E s b e ginnt m i t einer D r o h u n g , auf die m i t d e m B l i c k auf das v e r m e s s e n e Sicherheitsgefühl des B e d r o h t e n eine mittelbare B e g r ü n d u n g f o l g t ; ihr w i r d die abschließende D r o h u n g angefügt. lbß Eine Kunde hören wir 24 hiermit von Jhwh ein Bote ist zu den Völkern gesandt: »Auf, laßt uns aufstehen25, 'laßt uns hinaufziehen'26 zum Krieg!« 2 Sieh, ich mache dich klein unter den Völkern, ganz verachtet sollst du sein 27 . 3 Die Vermessenheit deines Herzens hat dich betrogen 28 , der du in Schlupfwinkeln der Felsen 29 wohnst 30 , (du,) der seinen Sitz 'hoch macht' 31 , der in seinem Herzen spricht: »Wer kann mich zur Erde hinunterstürzen?« 4 Wenn du auch hoch wie der Adler 'dein Nest' 32 baust, ja, wenn es zwischen die Sterne gesetzt wäre 33 , ich hole dich von dort herab, spricht Jhwh.

4 + 3 2 + 2 4 + 3 3 + 3 2 + 2 + 2

3 + 3 3

D e r G a t t u n g n a c h handelt es sich u m eine U n h e i l s a n k ü n d i g u n g , die inhaltlich in sich geschlossen ist u n d deren einzelne G l i e d e r m i t e i n a n d e r zusammenhängen:

Aufruf zum Feldzug

— die dabei verfolgte

Absicht

J h w h s — die u n z u r e i c h e n d e Stellung des A n g e g r i f f e n e n — das endliche Ziel J h w h s . D a b e i u m s c h l i e ß e n die a u s d r ü c k l i c h e n D r o h u n g e n a m A n f a n g u n d Schluß des J h w h - W o r t e s — »ich m a c h e dich klein«, »ich h o l e dich h e r a b « — eine m i t t e l b a r e B e g r ü n d u n g m i t d e m v e r m e s s e n e n Sicherheitsgefühl des B e d r o h t e n . D a s G a n z e ist f o r m a l a b g e r u n d e t . Inhaltlich u n d stilistisch kreist der S p r u c h u m d e n K o n t r a s t » h o c h — h e r u n t e r « , der v o n v . 5 an nicht m e h r b e g e g n e t . E r findet sich z u m e r s t e n 24

25 26 27

28

29 30 31 32

33

Jer 49 14: »habe ich gehört«. Eine Textänderung in das Ich des Offenbarungsempfängers ist unnötig, weil es sich entsprechend dem zweiten Halbvers bei richtigem Verständnis des sog. hebr. Perfekts um eine Verkündigungsformel handelt. Eine Änderung des ganzen Verses nach Jer 49 14 ist schwerlich angebracht. na"lä an Stelle von »gegen es« (fem.), zumal Edom in Obadja sonst mask. ist. Jer 49 15: »unter den Menschen«. Doch läßt sich eher eine dortige Angleichung des 'ättä m"od an die »Völker« v. 2a verstehen als eine umgekehrte Umwandlung in Obadja. Jer 49 16: »Dein Hochmut(?) hat dich betrogen, die Vermessenheit deines Herzens«; vielleicht Erweiterung, um einen vermißten parallelen Halbvers zu erzielen. Vielleicht eine Anspielung auf den alten Namen der Hauptstadt Edoms. Zur Form vgl. W. Gesenius — E. Kautzsch, Hebräische Grammatik, 1902 27 , § 90 I. merim mit GV an Stelle von »die Höhe«. Jer 49 16: »die Höhe des Hügels packst«. Die Umstellung von »dein Nest« ist der ebenso möglichen, jedoch wegen der Satzkonstruktion schwierigen Gliederung des Textes in drei Versglieder ohne Umstellung vorzuziehen. Partizip pass.

I. Texte

74

mal in v. lbß-2 in Verbindung mit den »Völkern«: Die Völker sollen »aufstehen« und »hinaufziehen«, um mittels dieses Feldzuges den Angegriffenen unter eben den Völkern »klein« zu machen. Zum zweitenmal liegt er v. 3 zugrunde: Da ist die »Vermessenheit«, deren Bedeutung auch der Zusammenhang der Wurzel zid mit dem arab. t'd, »steigern, übertreiben« enthüllt, das »Hochmachen« des Sitzes mit der Uberzeugung, daß niemand »hinabstürzen« kann. Zum drittenmal beobachten wir den Kontrast in v. 4: Wenn auch »hoch«, Jhwh holt ihn »herab«. Außerdem ist auf das unregelmäßige, stark wechselnde Metrum hinzuweisen, das sich von der ruhigeren Form der folgenden Verse unterscheidet. Nicht zuletzt wird der Schluß des Spruches durch einen alleinstehenden Halbvers und durch die Formel / u m jhwh gekennzeichnet. Das Zusammentreffen so vieler Eigenarten nötigt doch wohl dazu, die Verse als eine Sprucheinheit zu betrachten. 2. Den zweiten Prophetenspruch müssen v. 5 - 7 bilden, da in v. 8 ein neuer Spruch beginnt, wie noch zu zeigen ist. Freilich bestehen zwei textliche Schwierigkeiten. Einmal kann v. 6 nicht an der richtigen Stelle stehen; er macht den Eindruck einer abschließenden Bemerkung und trennt die Bildrede in v. 5 von ihrer Deutung auf das tatsächlich Gemeinte in v. 7. Darum ist v. 6 an den Schluß zu rücken. Ferner ist v. 7 in Unordnung geraten; denn v. 7aa weist kein substantivisches Subjekt auf, weil »alle deine Bundesgenossen« zu v. 7aß gehört, und ist mit nur zwei Hebungen als ein zweiter Halbvers zu betrachten. U m eine verständliche Reihenfolge zu erhalten, braucht man lediglich v. 7ay an den Anfang zu rücken: 5 Wenn Diebe über dich kommen ' ' 3 4 ,

3 + 3

werden sie nicht stehlen, soviel sie wollen? 35 Wenn Traubenleser über dich kommen,

3 + 3

lassen sie nicht nur eine Nachlese übrig? 7ay Deine guten Freunde ' ' 3 6 überwältigen dich, aa

aß Alle deine Bundesgenossen betrügen dich, b 34

3 + 2

führen dich an die Grenze ab 3 7 , 3 + 3

legen einen Fallstrick 38 unter dir. ' ' 3 9

Gestrichen ist »wenn nächtliche Verwüster, wie wirst du zum Schweigen gebracht!« als Erweiterung, die teilweise v. 6 vorwegnimmt.

35

Nicht nur »was für sie erforderlich ist«, sondern: bis es ihnen genug dünkt, nach ihrer eigenen Maßgabe.

36

Zu streichen ist das unverständliche »dein Brot«, das vielleicht fehlerhafte Dittographie des vorangehenden Wortes ist.

37

Treffend Th. H. Robinson: Das Piel bezeichnet die endgültige Abführung; die Gefangenen werden niemals zurückkehren.

38

Bedeutung und Etymologie nicht geklärt; die meisten Versionen haben »Falle, Hinterhalt«, was sinngemäß richtig ist. Vgl. akk.

39

mazüru.

»Es gibt keine Einsicht in ihm« ist ein späterer Zusatz, der die Geschehnisse von v. 7 begründen oder zu v. 8 gehören sollte.

Die Sprüche Obadjas 6 Wie wird da Esau durchsucht, werden seine Verstecke durchstöbert!

75 3 + 2

Auch diese Verse, die ein gleichmäßigeres Metrum als v. lb-4 aufweisen, bilden eine in sich geschlossene Einheit — der Gattung nach eine Unheilsankündigung. Dafür sprechen die inhaltlichen und stilistischen Merkmale. Zunächst kündigt v. 5 das Unheil mittels Bildern an: Diebe und Traubenleser. Sie werden eingeführt, weil sie beim Stehlen oder Pflücken wenig oder nichts übrig lassen, jedenfalls nichts Wertvolles und keinen ins Gewicht fallenden Rest. Auf die Bildrede folgt in v. 7 die Erläuterung und die Deutung auf das tatsächlfch Gemeinte: die vermeintlichen Freunde und Bundesgenossen der Überfallenen, die diese völlig zugrunde richten — bis hin zur Gefangennahme und endgültigen Deportation. Und nach Bildrede und Erläuterung stellt v. 6 das zu erwartende Ergebnis fest: das Durchsuchen der Verstecke Edoms, damit den Feinden kein Mensch und kein Wertstück entgeht. Daneben fällt als Zweites die Beziehung zwischen v. 5 und 6 auf: »Diebe« und »Traubenleser« — »durchsuchen« und »durchstöbern«. In solcher Weise pflegen ja die Genannten zu verfahren. Der Dieb durchsucht und durchstöbert das Haus nach Beute, der Traubenleser die Weinstöcke nach den unter Blättern verborgenen Trauben. Indem der Schluß des Spruches auf den Anfang zurückweist, ist ein deutlicher Rahmen um das Ganze gelegt, der es zusammenschließt. 3. Als dritten Prophetenspruch betrachten wir v. 8-11. Er beginnt mit der Ankündigung der Vernichtung der »Weisen« Edoms, d. h. der gebildeten, das Staatswesen führenden Schicht, und seiner »Helden«, d. h. der führenden Schicht des Heeres, insgesamt also der politisch-militärischen Oberschicht. Diesen drei Versen entsprechen drei weitere am Schluß, die dies mit dem Verhalten Edoms nach der Eroberung Jerusalems, seiner Plünderung und der Deportation seiner Oberschicht begründen. Zwischen diesen beiden Teilen bildet ein einzelner Vers den Ubergang vom einen zum anderen, indem er Begründung und Bedrohung in einem Satz zusammenfaßt. 8

Nicht wahr, an jenem Tage, spricht Jhwh, vertilge ich die Weisen aus Edom und die Einsicht vom Gebirge Esaus. 9 Deine Helden, Teman, werden zerbrechen 40 , damit jedermann vom Gebirge Esaus ausgerottet wird.

40

3 + 2 3 + 3 3 + 3

Oder: »von Schrecken erfüllt sein«: doch ist dies angesichts des zweiten Halbverses zu schwach.

76

I. Texte Wegen des M o r d e s , 10 wegen der Gewalttat an deinem Bruder J a k o b

4 + 4

soll dich Schande bedecken u n d sollst du ausgerottet werden f ü r i m m e r . 11 A m Tage 4 1 , an d e m d u beiseite standest,

3 + 3

am Tage, als F r e m d e sein H e e r fortschleppten, als Ausländer in seine T o r e kamen

3 + 3

u n d über Jerusalem das Los w a r f e n , warst auch du wie einer von ihnen!

3

Der Gattung nach stellt der Text mit Unheilsankündigung — Begründung mit Unheilsankündigung — Begründung eine in sich geschlossene Einheit dar, zumal Begründung und Unheilsankündigung aneinander weitgehend entsprechen: Wie das judäische Heer deportiert worden ist, so soll auch das edomitische Heer ausgelöscht werden. Die Parallelität geht infolge der Verwendung des Wortes jöm noch weiter: Weil die Edömiter sich am »Tage« des Untergangs Judas so verhalten haben, daß sie zu dessen Feinden zu rechnen sind, wird diese ihre Versündigung das Gericht über sie »an jenem Tage« verursachen. Denn der Ausdruck »an jenem Tage« bedeutet in v. 8 offenbar weder die Gleichzeitigkeit zweier wichtiger Begebenheiten noch den Anbruch der Endzeit, sondern den Gerichts- und Unheilstag. So sind Drohung und Begründung zweifach miteinander verzahnt. Hinzu treten zwei formale Kriterien. Einmal findet sich im ersten Vers die Formel ne'um jhwh, also eindeutig in einem gerade begonnenen Satz, dessen Hauptteil erst folgt. Sie bildet keinesfalls eine Schlußformel und gehört daher auch nicht zu den vorhergehenden Versen 5-7. Die Stellung der Formel erklärt sich vielmehr aus ihrer ursprünglichen Verwendung im Seherspruch, in dem es die Wiedergabe des Jhwh-Wortes durch den Seher einleitet, wie es N u m 24 3 geschieht 42 . Der Obadjaspruch knüpft an diese Art der Verwendung an, so daß die Formel den vorliegenden Text deutlich als eine eigene Einheit kennzeichnet. Die zweite formale Eigenart ist wie in v. 4 der abschließende Halbvers, in dem die Begründung der Drohung gipfelt: »Du warst wie einer der Feinde!« Diese Eigenart bekräftigen das schon aus der Verzahnung von Drohung und Begründung folgende Ergebnis, daß v. 8-11 einen eigenen Prophetenspruch darstellen. 4. Den vierten Prophetenspruch müssen wir in v. 1 2 - 1 4 . 15b erblicken. An den vorhergehenden ist er wohl wegen des Stichwortes »Tag« angeschlossen worden. Er besteht hauptsächlich aus Mahnungen, die sich wie die anderen Prophetensprüche auf Edom beziehen und sich so geben, als rührten sie aus der Zeit vor dessen Vergehen an Juda und Jerusalem im Zusammenhang mit der babylonischen Eroberung her, während v. 15b diese Fiktion aufgibt, die Taten, vor denen zuvor gewarnt wird, als geschehen voraussetzt und ihretwegen die gerechte Vergeltung ankündigt. 41

Mit der Bedeutung »damals«.

42

F. Baumgärtel, Die Formel n"um jahwe,

Z A W 73 (1961), 2 7 7 - 2 9 0 .

Die Sprüche Obadjas 12 Weide dich nicht an ' ' 4 3 deinem Bruder

77 3 + 2

am Tag seines Mißgeschicks, Freue dich nicht über die Judäer

3 + 2

am Tag ihres Untergangs! Reiße deinen Mund nicht auf

3 + 2

am Tag ihrer N o t ! 13 K o m m nicht in das Tor meines Volkes

3 + 2

am Tag ihres Unglücks! Weide nicht auch du dich an seinem Unheil

3 + 2

am Tag seines Unglücks! 'Lege nicht Hand' 4 4 an seine Habe am Tag seines Unglücks! 14 Stehe nicht am Ausschlupf,

3 + 2 3+2

um seine Flüchtlinge auszurotten! Liefere seine Entronnenen nicht aus

3 + 2

am Tag der N o t ! 15b Wie du getan, wird dir getan,

4 + 3

deine Tat fällt auf deinen Kopf zurück.

Gattungsmäßig ist der Text wieder eine in sich geschlossene Einheit. Den Hauptteil bilden die acht Mahnungen, die — weil sie nicht beachtet und überhaupt nachträglich formuliert worden sind — die Funktion einer Schuldfeststellung oder einer Begründung haben. Auf ihnen liegt innerhalb des Spruches sogar der Nachdruck; sie sollen klarmachen, wie schwer die Schuld Edoms wiegt und wie vernichtend infolgedessen das Gericht sein wird, das v. 15b androht. Dieser Vers bildet einen deutlichen Abschluß, wie denn auch dem folgenden Prophetenspruch ein anderer Gedankenkreis zugrunde liegt. Der Gattung nach läßt der vorliegende Spruch sich als eine Verbindung von Schuldfeststellung oder Begründung in Form fiktiver Mahnungen einer- und Unheilsankündigung andererseits bezeichnen. Schon damit ist er als eine Texteinheit erwiesen. Dazu tritt die besonders auffällige stilistische Gleichförmigkeit von v. 1 2 - 1 4 : die ständigen verneinten Imperative im jeweils ersten Halbvers und das siebenmalige, nur in v. 14a fehlende »am Tag« im zweiten Halbvers. Der Eindruck verstärkt sich durch das dreimalige 'ed. »Unglück« in v. 13 und das vorher in v. 12b und in kurzem Abstand nachher in v. 14b verwendete sarä »Not«. Dieser offenkundigen stilistischen entspricht die metrische Gleichförmigkeit, von der lediglich die Unheilsankündigung v. 15b um der Nachdrücklichkeit willen ausgenommen ist. Daß diese Ankündigung mit v. 12-14 zu verbinden ist, ergibt sich aus der allen Versen gemeinsamen Anrede Edoms in der 2. Person. Dagegen gehört v. 15a mit der Erwähnung »aller Völker« zu v. 1 6 - 1 8 , in denen zunächst ebenfalls von »allen Völkern« und sodann von Edom in der 3. Person die Rede ist. 43

be'ahtka

44

tislah jad

(Nowack) an Stelle von »am Tage deines Bruders«. (Ewald) an Stelle von »legt«.

78

I. Texte

5. Den fünften Prophetenspruch bilden v. 15a. 16-18. Er beginnt mit der drohenden Ankündigung des Tages Jhwhs, des eschatologischen Gerichtstages über alle Völker, der mit dem von Jeremia und anderen benutzten Bild des Trinkens aus dem Taumel- oder Giftbecher beschrieben wird. Dem entspricht die Verheißung der Rettung und der Inbesitznahme früheren Eigentums für »das Haus Jakob«. Sie dient als Ubergang zu der besonderen Unheilsankündigung gegen Edom, dessen Bestrafung am Tage Jhwhs unter dem bekannten,Bild von Feuer und Stroh als Sonderfall dem »Hause Jakob« übertragen wird. 15a Ja, nahe ist der Tag Jhwhs über alle Völker. 16 Denn wie ihr auf meinem heiligen Berg trinken mußtet, werden alle Völker ständig trinken. Sie werden trinken und schlürfen und sein, als ob sie nie gewesen. 17 Aber auf dem Berg Zion wird Rettung sein ' ' 4 5 , und das Haus Jakob wird in Besitz nehmen, 'die ihren Besitz genommen hatten' 4 6 . 18 Das Haus Jakob wird ein Feuer sein und das Haus Josef eine Flamme, das Haus Esau aber Stroh, so daß sie es in Brand setzen und verzehren. Keiner vom Hause Esau wird entrinnen, denn Jhwh hat es geredet.

3 + 3 4 + 3 3 + 2 4 + 4

3 + 3 3 + 3 4 + 3

Der gesamte Text steht unter dem Stichwort »Tag Jhwhs«. Ohne der Herkunft und der Bedeutungswandlung der Vorstellung nachzugehen, wird doch soviel klar, daß die dreifache Aufeinanderfolge von Unheilsankündigung — Verheißung — Unheilsankündigung mit ihr zusammenhängt. Nach den bisherigen Beobachtungen ergibt sich somit ein in sich geschlossener Spruch mit einem einheitlichen Gedankenkreis. Die eindeutige Schlußformel in v. I8bß grenzt den Text von den folgenden Versen ab. 6. Der abschließende Spruch v. 19-21 wird öfters wohl mit Recht als ein späterer Zusatz zu den Sprüchen Obadjas betrachtet. Meist gilt er sogar als in Prosa gehalten; doch trifft dies schwerlich zu. Vielmehr sind die recht hölzernen Sätze in eine entsprechend wenig anziehende poetische Form gebracht worden. 19 Sie werden das Südland ' ' 4 7 und die Niederung ' ' 4 S in Besitz nehmen, sie werden das Gefilde von Ephraim in Besitz nehmen. ' ' 4 9 45 46 47 48 49

Der Zusatz »er wird heilig sein« bezieht sich auf den Zionsberg. Es ist zweifellos mörisehäm zu lesen. Zusatz ist »(nämlich) das Gebirge Esaus«. Zusatz ist »(nämlich) die Philister«. Zusätze sind »und das Gefilde von Samaria und Benjamin, Gilead«.

3 + 3

Die Sprüche Obadjas 20 Die Deportierten '

' 5 0 der Israeliten

79 3 + 3

werden die Kanaanäer bis Zarpat 'in Besitz nehmen', 5 1 und die Deportierten von Jerusalem, die in Sefarad sind,

4 + 3

werden die Städte des Südlands in Besitz nehmen. 21 Die 'Geretteten' 5 2 auf dem Zionsberg werden hinaufziehen,

4 + 3

um das Gebirge Esaus zu beherrschen 5 3 . U n d Jhwhs wird die Königsherrschaft sein.

3

Der Spruch wird in erster Linie von dem Gedanken und dem Ausdruck beherrscht, daß die Israeliten einschließlich der aus dem einstigen Nordreich und aus Jerusalem Deportierten sowohl ihr früheres Wohngebiet als auch die angrenzenden Landschaften im Norden, Süden und Osten »in Besitz nehmen« werden — natürlich im Zusammenhang mit der erhofften eschatologischen Wende. Damit verbindet sich der weitere Gedanke des »Herrschens«: Wenn die Israeliten jene Gebiete, insbesondere das von Edom, beherrschen werden, dann unter der allumfassenden endzeitlichen Herrschaft Jhwhs. Dies alles erweist die Verse als einen eigenen, wenn auch schwerlich von Obadja herrührenden Spruch. III. Wenn die vorgelegte Aufgliederung der Schrift Obadjas zutrifft, dann weist diese Schrift die gleiche Uberlieferungsform wie die meisten anderen Prophetenbücher auf: die einfache Aneinanderreihung einer gewissen Zahl von Sprüchen zu einer kleinen Sammlung, die mit einer nachträglich angefügten Verheißung abgeschlossen worden ist. Genauer ist die Schrift Obadjas als eine Sammlung von Fremdvölkersprüchen gegen Edom mit einer abschließenden Verheißung für Israel zu bezeichnen. D a alle Sprüche in sich geschlossene Einheiten darstellen, miteinander nicht verbunden sind (nur mehrfach wegen des gleichen Stichwortes »Tag« aneinandergereiht), keine Hinweise auf eine liturgische Verwendung tragen und — mit Ausnahme der nachträglich zugefügten Verheißung — sämtlich vom gleichen Sprecher vorgetragen zu denken sind, scheidet wie die Annahme eines einzigen umfassenden Spruches auch die Annahme einer aus mehreren Einzelgliedern bestehenden einheitlichen Liturgie aus. So muß jeder Spruch einzeln für sich betrachtet und gewertet werden: die Androhung des Völkerfeldzugs zum Sturz des Vermessenen, der sich sicher fühlt (v. l b ß - 4 ) , der Ausraubung und Deportation Edoms (v. 5 - 7 ) , 50

Der auf viele Arten gedeutete Zusatz ist wohl einfach ein auf die Deportierten bezüglicher

51

An Stelle der Relativpartikel ist tiras zu lesen.

Ausruf: »dieses Heer!« 52

nösaim

53

Der Stamm spt wird analog zu dem vorangehenden »in Besitz nehmen« wahrscheinlich in

(G) an Stelle von »Rettende«.

der alten Bedeutung »herrschen« verwendet.

80

I. Texte

der Ausrottung seiner Oberschicht wegen des feindseligen Verhaltens gegen Juda und Jerusalem (v. 8—11), der Vergeltung für seine damaligen Taten (v. 12-14. 15b) und der Vernichtung durch das so übel behandelte Haus Jakob (v. 15a. 16-18). Dann wird zugleich der Grundzug der Theologie Obadjas ersichtlich: einerseits die immer wiederkehrende scharfe Drohung gegen den Feind seines Volkes, andererseits als Beweggrund dafür nicht nationale Gründe, sondern der ethische Ernst des Jhwh-Glaubens, die Hoffnung auf die ausgleichende Gerechtigkeit seines Gottes und die Erwartung gerechter Vergeltung, die am Gerichtstag Jhwhs über die Völker in besonderem Maße Edom treffen wird.

Kritik an Tempel, Kultus und Kultusausübung in nachexilischer Zeit K. Galling hat sich in seiner Studie »Serubbabel und der Hohepriester beim Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem« 1 , die seine Untersuchung »Serubbabel und der Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem« 2 wiederaufnimmt, eingehend zu dem Fragenkreis um die Errichtung des zweiten Tempels in Jerusalem nach dem Ende des babylonischen Exils in der persischen Zeit geäußert. In lockerer Anknüpfung an seinen Beitrag zur Aufhellung der schwer erfaßbaren und datierbaren Geschehnisse um diesen Tempelbau soll im folgenden einigen Äußerungen und Urteilen über den Jerusalemer Tempel, den dort ausgeübten Jhwh-Kultus und die Ausübung fremder Kulte in Jerusalem nachgegangen werden. Sie werfen einige Schlaglichter auf die religiösen Verhältnisse und lassen etwas von den Spannungen und Auseinandersetzungen erkennen, die für die Lage im nachexilischen Jerusalem kennzeichnend gewesen sind. Dabei handelt es sich um kritische Äußerungen und Urteile — kritisch sowohl in dem Sinne der Polemik gegen Tempel und Kulte als auch in dem Sinne der Rüge und Ermahnung derjenigen, die entweder zuviel oder zuwenig Eifer für den Tempel und seinen Kultus aufbringen. Um das sich ergebende bunte Bild übersichtlich zu gestalten, wird zunächst die Kritik an der Ausübung fremder Kulte an charakteristischen Äußerungen behandelt. Sodann wird die Kritik an den Jerusalemern zugunsten des Jhwh-Tempels und zwecks Verbesserung des Jhwh-Kultus dargelegt. Schließlich ist die Kritik an und die Infragestellung von Jhwh-Tempel und -Kultus ins Auge zu fassen.

I. Die Anklage wegen der Ausübung fremder Kulte ist in Israel wohl niemals völlig verstummt; an die Vorwürfe der älteren Prophetie schließen sich diejenigen der ausgehenden Königszeit (vgl. Jes 17 9-11 Jer 7 16-20 Ez 8) und an diese die Angriffe von nachexilischen Propheten an.

1

K . Galling, Studien zur Geschichte Israels im persischen Zeitalter, 1964, 127—148.

2

Verbannung und Heimkehr, Beiträge zur Geschichte und Theologie Israels im 6. und 5. Jahrhundert v. C h r . , Wilhelm Rudolph zum 70. Geburtstag, 1 9 6 1 , 6 7 - 9 6 .

82

I. Texte

1. In Jes 56 9—5713, das wohl aus dem Beginn des 5. Jh. stammt, liegt eine prophetische Liturgie vor, die nach einer Unheilsankündigung und einem Schuldaufweis sowie einer kurzen Klage im Hauptteil eine ausführliche prophetische Gerichtsrede umfaßt (57 3 - 1 3 ) . Letztere enthält außer der Vorladung vor Gericht durch den Propheten als Gerichtsdiener (57 3f.) und dem Urteil (57 I2f.) als Hauptteil die Anklagerede (57 5 - n ) . Diese richtet sich zunächst gegen die in 56 10-12 gescholtene Oberschicht; doch geht die Anrede an die Mehrzahl der Führer in 57 5 von 57 6 an in den Singular über, so daß eine größere Gemeinschaft gemeint ist, die sich dem Verhalten der Oberschicht angeschlossen hat. Der erste Abschnitt der Anklagerede befaßt sich mit zwei fremden Kultbräuchen: Ihr seid brünstig bei den großen Bäumen, unter jedem grünen Baum. Ihr schlachtet Kinder in den Klüften, (die) unter Felsvorsprüngen (sind). Zwischen den glatten (Wänden) der Klüfte erfüllt sich dein Schicksal, jene 3 werden dein Verhängnis. Ihnen hast du ja auch Trankopfer ausgegossen und Speiseopfer dargebracht.

Die Anklage 4 wendet sich zunächst gegen die Ortskulte, die an den dafür bestimmten»heiligen Stätten mit den »großen Bäumen« stattfinden (vgl. Jer 2 20 3 2 Ez 6 13 Hos 4 I2ff.) und die wegen der mittels ihrer verehrten Fruchtbarkeits- und Vegetationsgötter in starkem Maße sexuell bestimmt sind. Andere Kulte, deren Erwähnung anscheinend durch Ez 16 20f. bedingt ist, finden in »Klüften« statt, wo Kinderopfer dargebracht werden (vgl. II Reg 16 3 21 6 Jer 7 31 Ez 23 39), so daß die auf diese Weise verehrten Götter den Opfernden zu ihrem Verhängnis werden. Der folgende Abschnitt nennt zwei weitere Kultbräuche: Auf hochragendem Berge hast du dein Lager aufgeschlagen. Dorthin bist du hinaufgestiegen, um zu schlachten5; sollte es mir deswegen (um dich) leid tun? Hinter Tür und Pfosten stelltest du dein »Denkzeichen« 6 . Dein Lager decktest du auf, schichtetest du auf und machtest du breit ohne mich.

3 4

5 6

Gemeint sind die unter den Bäumen verehrten Götter. Zur Interpretation vgl. auch M. Weise, Jesaja 57 5f. Z A W 72 (1960), 2 5 - 3 2 ; J. C. Greenfield, The Prepositions B . . . Tahat . . . in Jes 57 5, Z A W 73 (1961) 2 2 6 - 2 2 8 . Als Zusatz ist »ein Schlachtopfer« zu betrachten. Gemeint ist wohl ein sexuelles Symbol.

Kritik an Tempel, Kultus und Kultusausübung in nachexilischer Zeit

83

Gemeint ist einerseits der Kultus an den Höhenheiligtümern, die auf Hügeln und Bergen angelegt sein konnten und deren Besucher wie schon in der vorexilischen Zeit wegen der sexuellen Kultbräuche mit einer Dirne verglichen werden, die dort ihr Lager aufgeschlagen hat, andererseits der Phalluskult, auf den der Ausdruck »Denkzeichen« für das entsprechende Symbol anzuspielen scheint. Der letztere Kultus kann, da »Tor« und »Pfosten« sowohl auf Wohnhäuser als auch auf öffentliche Heiligtümer hinweisen können, als privater oder an den Höhenheiligtümern betriebener Kultus gemeint sein. Der folgende Abschnitt faßt die bisherigen Anklagen zusammen und fügt neue hinzu: D u ließest dich von ihnen 'durchbohren', liebtest ihr Lager 7 , stiegst hinab zum » K ö n i g « mit ö l und salbtest dich reichlich. D u sandtest deine Boten weit in die Ferne und tief hinab bis zur Unterwelt. Zwar warst du durch dein vieles Laufen müde, doch sagtest du nicht: »Aussichtslos!«

Die Dirne hat sich dem sexuellen Kultus willig hingegeben, sich im eigenen Land für die mit dem Titel »König« bezeichnete Gottheit durch Einsalben mit ö l verschönt, Boten in die Ferne zu anderen Göttern geschickt und sich darum bemüht, immer neue Kulte bis zu denjenigen der Gottheiten der Unterwelt zu entdecken und zu übernehmen, um immer mehr Fruchtbarkeit und Segen zu erlangen — freilich letzten Endes vergeblich. Angesichts solchen Abfalls von Jahwe droht das göttliche Gericht. 2. Gegen andere Kulte richtet sich Jes 65, das wegen der in 65 11 erwähnten Gottheiten am ehesten dem 4. J h . zuzuschreiben ist. Die Kulte werden zunächst innerhalb des Schuldaufweises und der Unheilsankündigung 65 1-7 geschildert: Die Leute, die mich beleidigen ständig ins Gesicht hinein, schlachten Opfer in den Gärten und räuchern auf Ziegelsteinen, sitzen in den Grabhöhlen und übernachten 'inmitten von Felsen', essen Schweinefleisch und haben unreine 'Brühe' 'in' ihren Gefäßen, sagen: »Bleib weg, k o m m mir nicht nahe, denn ich weihe dich!«

7

Die Wörter »schautest das Glied« sind ein Zusatz.

84

I. Texte

Man bringt demnach die Opfer nicht im Jerusalemer Tempel dar, sondern in den »Gärten«, d . h . den garten- oder hainartigen heiligen Bezirken, so daß sie fremden Göttern gelten oder zumindest Jhwh unter heidnischen Formen gewidmet sind. Räucheraltäre aus Ziegeln verwendet man für entsprechende Räucheropfer 8 . Man hält sich in Grabhöhlen auf, um die Totengeister zu befragen oder um dort während des Schlafes im Traum ihre Weisungen zu erhalten. Bei den sakralen Mahlzeiten fremder Kulte ißt man Schweinefleisch und Brühe aus dem Fleisch derartiger unreiner Tiere. Und obwohl all dieses Tun unrein ist und macht, betrachten die Teilnehmer daran sich als geweiht oder heilig. Ergänzend fügt Jes 65 11 einem weiteren Zug hinzu: Diese Leute haben Jhwh und seinen Tempel verlassen und vergessen und sich anderen Göttern zugewendet: die ihr dem Glück(sgott) den Tisch bereitet und der Schicksal(sgottheit) den Würzwein einfüllt.

Das die Glücksgottheit bezeichnende Wort gad ist meist nicht ein Eigenname, sondern ein Beiname verschiedener männlicher und weiblicher Gottheiten in Syrien-Palästina, so in Phönizien und Palmyra sowie im Hauran und in alten Ortsnamen wie Baal-Gad (Jos 11 17) und Migdal-Gad (Jos 15 37). Erst bei den Nabatäern scheint Gad eine bestimmte Gottheit gewesen zu sein, wie vor allem Personennamen erschließen lassen. Das gleiche scheint in Jes 65 11 der Fall zu sein, wie das für die an zweiter Stelle genannte Schicksalsgottheit höchstwahrscheinlich zutrifft (auch Manat, Manawat, Manot genannt), die als eine das Schicksal oder gar das Todesgeschick verkörpernde Göttin vom arabischen Bereich bis nach Palmyra bekannt war. Insgesamt scheint es sich um solche Götter und ihre Kulte zu handeln, mit denen die Israeliten beim Vordringen der Nabatäer ins Kulturland bekannt geworden sein dürften. Auf ähnliche Kulte mit sakralen Mahlzeiten scheint Jes 66 17 anzuspielen: Jene, die sich heiligen und reinigen für die Gärten hinter einem in der Mitte(?), die Schweinefleisch essen, Abscheuliches 9 und Mäuse — 'ihre Taten und Gedanken' 10 finden zusammen ein Ende, ist der Ausspruch Jhwhs. 8

Zum Verständnis vgl. auch D. Conrad, Zu Jes 65 3b, Z A W 80 (1968), 2 3 2 - 2 3 4 : Der Text wendet sich gegen die aus Mesopotamien stammende Verehrung von Himmelsgöttern auf dem Hausdach, bei der Räucheropfer auf Ziegelsteinen oder in tönernen Gefäßen dargebracht werden.

9

Vielleicht ist das ähnlich geschriebene Wort säräs »Gewürm« zu lesen. Diese Wörter sind aus 66 18a heranzuziehen.

10

Kritik an Tempel, Kultus und Kultusausübung in nachexilischer Zeit

85

Wieder werden die Kulte'in den »Gärten« erwähnt, bei denen — falls der Text zuverlässig ist — die Reinigungsriten in der Weise erfolgen, daß man den Mystagogen oder Hierophanten nachahmt, der in der Mitte der sich Weihenden steht (vgl. Ez 8 l l ) und die Riten vorführt. Bei den sakralen Mahlzeiten ißt man das Fleisch von Tieren, deren Genuß dem Israeliten als verunreinigend durch die Tora untersagt ist. Insgesamt wenden sich die nachexilischen Propheten gegen die Anhänger einheimischer und eingeführter ausländischer Kulte — seien es wiederaufgelebte kanaanäische Fruchtbarkeitsriten oder durch das Vordringen anderer Völker in Palästina erst bekannt gewordene Praktiken. Wie für die vorexilische Zeit zeigt dies die Anfälligkeit israelitischer Kreise für derartige Kulte. II. Der Anfälligkeit für fremde Kulte korrespondiert das nachlässige Verhalten gegenüber dem zu errichtenden Tempel in Jerusalem und dessen Kultus. Es hat entsprechende Rügen und Ermahnungen durch einige Propheten nach sich gezogen, die sich dadurch von der kritischen oder ablehnenden Haltung der großen Einzelpropheten der vor- und frühexilischen Zeit erheblich unterscheiden. 1. Im Jahre 520 fordert Haggai energisch dazu auf, mit dem Neubau des zerstörten Jerusalemer Tempels zu beginnen und sich nicht länger damit zu entschuldigen, daß die Zeit dafür noch nicht gekommen sei, während man selbst in getäfelten Häusern wohnt. Die Sorge um das eigene Wohl steht den Jerusalemern offensichtlich höher als das Bemühen um den Tempel. Verschärft wird dies durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die zu einer Konzentration auf das eigene Ergehen und einem immer neuen Hinausschieben des Tempelbaus geführt haben. Doch Haggai kehrt die Betrachtungsweise um: Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten begründen die Vernachlässigung des Tempelbaus nicht, sondern sind gerade deren Folge und werden nach dem Baubeginn aufhören. So erklärt er in Hag 1 5-6. 9-11: So hat J h w h Zebaot gesprochen: Achtet darauf, wie es euch geht! Ihr habt viel gesät, doch wenig eingebracht; ihr eßt, doch werdet nicht satt; ihr trinkt, doch bekommt nicht genug; ihr kleidet euch, doch werdet nicht w a r m ; und wer sich verdingt, verdient in einen löcherigen Beutel. W a r u m ? 1 1 , spricht J h w h Zebaot. Wegen meines Hauses, das zerstört ist, während jeder von euch f ü r sein Haus läuft. 11

Der Anfang von 1 9 ist eine spätere Erweiterung.

86

I. Texte

Deswegen hielt über euch der Himmel. 'seinen Tau' zurück und die Erde ihren Ertrag. Ich rief Dürre herbei über das Land und die Berge, über K o r n , Most und ö l und das, was der Boden hervorbringt, über Menschen und Vieh und alle Arbeit eurer Hände.

Die in Zusammenhang damit ergehende Aufforderung, den Neubau des Tempels zu beginnen (Hag 1 7f.), hat gewirkt: Man gehorcht dem durch die Worte Haggais ergehenden Ruf Jhwhs und beginnt mit den Bauarbeiten (1 12. 14), so daß Haggai bald darauf den Segen Jhwhs verheißen (1 15a und 2 1 5 - 1 9 ) und sogar den baldigen Anbruch der eschatologischen Heilszeit mit ihren politisch-militärischen und wirtschaftlichen Folgen ankündigen kann (1 1 5 b und 2 1 - 9 2 2 0 - 2 3 ) . In diesem Fall hat die prophetische Mahnung — verknüpft mit einer Deutung der gegenwärtigen Not und einer Verheißung des künftigen Heils — vollen Erfolg gehabt, wenn auch bis zur Vollendung und Weihe des Tempels noch einige Jahre verstreichen sollten. Auch die fast gleichzeitige Mahnung Sacharjas zur Umkehr (Sach 1 3) kann sich in der damaligen Situation nur auf die Betätigung beim Tempelbau beziehen. Umkehr bedeutet für den Propheten die Abkehr von Zweifel und Lässigkeit am Werk und die Hinwendung zu eifriger Arbeit am Bau. Dem entspricht die Zusage Jhwhs in 1 16: Darum hat J h w h so gesprochen: Ich wende mich Jerusalem mit Erbarmen zu. Mein Haus soll in ihm gebaut werden, spricht J h w h Zebaot, und die Meßschnur soll über Jerusalem ausgespannt werden.

Auch das stark glossierte Wort, das in 4 6 a ß - l 0 a eingeschoben ist, befaßt sich mit dem Tempelbau und verheißt dem Serubbabel, daß er das Werk vollenden wird. Freilich bleibt — abgesehen von den durch die Glossierung und die inhaltliche Unklarheit des Spruchs entstehenden Schwierigkeiten — die Frage bestehen, ob das Wort wirklich von Sacharja herzuleiten ist oder von anderer Hand stammt. Der große Erfolg der beiden Propheten hinsichtlich des Tempelbaus in Jerusalem hat erheblich nicht nur zur Bedeutung des nachexilischen Tempels, sondern auch zur Steigerung des Ansehens und der Geltung Jerusalems beigetragen, die in der nachexilischen Zeit dem Höhepunkt zusteuerten 12 . Die hohe Schätzung Jerusalems und seines Tempels wird beispielsweise in Jes 60 13f. deutlich: 12

Vgl. G . Fohrer, Zion-Jerusalem im Alten Testament, T h W N T VII, 2 9 1 - 3 1 8 , in: Studien zur alttestamentlichen Theologie und Geschichte ( 1 9 4 9 - 1 9 6 6 ) , 1969, 1 9 5 - 2 4 1 .

Kritik an Tempel, Kultus und Kultusausübung in nachexilischer Zeit

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Die Pracht des Libanon kommt zu dir — Wacholder, Esche und Zypresse miteinander —, um meine heilige Stätte zu verherrlichen; die Stätte meiner Füße will ich ehren. Gebückt gehen zu dir die Söhne deiner Bedrücker 'und' Verächter 13 und nennen dich »Stadt Jhwhs«, »Zion des Heiligen Israels«.

2. Wie gegen die Vernachlässigung des Tempelbaus wenden sich einige der nachexilischen Propheten gegen die Vernachlässigung des Kultus. Ihre Kritik betrifft also nicht den Jhwh-Kultus, sondern solche Leute, die ihn ausüben — oder besser: die ihn vernachlässigen. Anders als die vorexilischen großen Einzelpropheten bestreiten sie nicht die Bedeutung des Kultus und suchen diejenigen, die ihn ausüben, nicht auf andere Bahnen zu lenken. Vielmehr gilt ihr Interesse gerade dem in rechter Weise ausgeübten Kultus. Ihr Bestreben geht daher dahin, die Kultusausübung in die richtigen Bahnen zu lenken und zu verbessern. Damit setzen sie das Bemühen der vorexilischen Kultpropheten fort. Für die durch das Exil herbeigeführte Änderung der Situation ist es immerhin bezeichnend, daß ein Spruch der Heiligung des Sabbats, der vom Exil an eine wichtige Rolle zugefallen ist, gewidmet ist. Hat schon Jes 56 1-8 zu Beginn des 5. Jh. das Halten des Sabbats als grundlegende Forderung betrachtet und das Üben von Recht und Gerechtigkeit als Halten des Sabbats und Nichttun des Bösen interpretiert, so befaßt Jes 58 13-14, das ebenfalls der nachexilischen Zeit entstammt, sich ausschließlich mit der Sabbatheiligung: Wenn du am Sabbat deinen Fuß verhältst, deine Geschäfte nicht am heiligen Tage abzuschließen; wenn du den Sabbat »Wonne« nennst und den heiligen (Tag) Jhwhs »hochgeehrt«; wenn du ihn ehrst, indem du keinen Weg tust, kein Geschäft treibst und keine Verhandlung führst, dann wirst du deine Wonne an Jhwh haben. 'Er' läßt dich über die Höhen der Erde einherfahren und dich das Erbe deines Vaters Jakob genießen, denn der Mund Jhwhs hat es gesagt.

Entgegen der kritischen Haltung von Jes 58 1-12 hält der Verfasser an der kultischen Einrichtung, die dort als Äußerlichkeit abgelehnt wird, fest und will sie nur von Mißbräuchen reinigen. Denn der Sabbat gilt ihm nicht mehr als bloßer Ruhetag, sondern als Weihetag, der heilig ist und an dem der Mensch in der Sphäre der Heiligkeit leben soll. Er ist nicht ein Tag des Menschen, sondern ein Tag Jhwhs, an dem der Mensch seinem Gott ge13

Der Satz ist durch einen Einschub erweitert worden.

88

I. Texte

hören soll. Darum soll einerseits an diesem Tag jedes alltägliche Geschäft unterbleiben und andererseits der Sabbat als ein kostbares Geschenk betrachtet werden. Gerade an diesen Aussagen wird der Unterschied von den vorexilischen großen Einzelpropheten deutlich. Nach ihrer Ansicht soll der Mensch seinem Gott nicht an einem Tag der Woche, sondern alle Tage gänzlich angehören. Er soll nicht an einem bestimmten Tage seine Geschäfte unterlassen, sondern sich in allen Geschäften dessen bewußt sein, daß er seinem Gott ganz gehört, und sich danach verhalten. Für ihn soll jeder Tag »hochgeehrt« sein, an dem er in solcher Weise nach dem Willen Gottes lebt. Noch entschiedener, aber mit anderer Argumentation wendet sich Maleachi um die Mitte des 5. Jh. gegen die Vernachlässigung des Kultus, die zu seiner Zeit in Jerusalem eingerissen ist und die den Ausgangspunkt für die Reform Esras bildet. So greift er unter Verwendung von universalen Vorstellungen der vorexilischen Einzelpropheten die Priester wegen ihrer Machenschaften bei der Auswahl der Opfertiere an (Mal 1 6 b ß - i 4 ) 1 4 : Ihr sagt: Wieso achten wir dich nicht? Indem ihr mir auf meinem Altar minderwertige Opfer darbringt. Ihr sagt: Wieso bringen wir denn minderwertige Opfer dar? Indem ihr meinen Tisch gering einschätzt. Wenn ihr ein blindes Tier als Opfer darbringt, sei das nicht schlimm; wenn ihr ein lahmes oder krankes darbringt, sei das nicht schlimm. Bringt so etwas doch einmal dem Landpfleger mit, ob er daran Gefallen hat und euch freundlich anhört. Und wenn ihr mir damit vor Augen tretet, dann meint ihr, daß ich euch gewogen wäre? Schließt doch lieber gleich die Tempeltore zu und zündet das Feuer des Altars gar nicht mehr an. Ich habe an euch kein Gefallen, sagt Jhwh Zebaot, und brauche eure Opfer überhaupt nicht. Denn von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang ist mein Name bei den Völkern hochgeehrt. Und an allen Orten wird mir reine Gabe dargebracht. Denn mein Name ist bei allen Völkern hochgeehrt, sagt Jhwh Zebaot. Doch ihr entweiht ihn, indem ihr denkt, der Tisch des Herrn sei gering zu schätzen und sein Opfer wertlos. 14

Übersetzung nach E. Balla, Die Botschaft der Propheten, 1958, 462.

Kritik an Tempel, Kultus und Kultusausübung in nachexilischer Zeit

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Ihr sagt: Was ist das für ein Umstand!, und verachtet mich, sagt J h w h Zebaot, indem ihr blinde, lahme oder kranke Tiere darbringt. Meint ihr, daß mir das gefällt?, sagt J h w h Zebaot. Denn ich bin ein großer König, dessen Namen alle Völker fürchten.

Ebenso richtet Maleachi Vorwürfe an das Volk, weil es den Zehnten und die Hebe nicht abliefert. Ähnlich wie Haggai die Not seiner Zeit vom Unterlassen des Tempelbaus herleitet, erklärt Maelachi eine Dürre und Heuschreckenplage als Folge der Nichtablieferung und stellt ihre Beendigung für den Fall der Besserung in Aussicht. Nach seiner Forderung der Umkehr und der daraufhin gestellten Frage nach dem Grund für diese Forderung erklärt er (Mal 3 8 - l l ) l s : Weil ihr mich betrügt! Ihr fragt: Womit betrügen wir dich denn? Mit dem Zehnten und dem Hebeopfer! Obwohl ihr schon mit einem Fluch beladen seid, betrügt ihr mich. Bringt den ganzen Zehnten in das Vorratshaus des Tempels. damit die Priester und Leviten was zu essen haben. Versucht's einmal damit bei mir! Dann will ich auch die Himmelsfenster wieder öffnen und euch mit einem Strom des Segens überschütten. Dann will ich auch die Heuschrecken verjagen, damit sie die Frucht des Landes nicht länger verderben und der Weinstock auf den Feldern wieder etwas trägt, sagt J h w h Zebaot.

Angesichts solcher Hochschätzung des Kultus ist die Erwartung nicht verwunderlich, daß in der eschatologischen Heilszeit die anderen Völker die tägliche Arbeit als Hirten, Bauern und Winzer verrichten werden (vgl. auch Jes 14 2) und daß die Israeliten dadurch für den Kultus frei werden, dem sie sich als ein priesterliches Volk völlig widmen können (Jes 61 5f.): Fremde stehen da und weiden euer Vieh, Ausländer sind eure Bauern und Winzer. Ihr aber heißt »Priester J h w h s « , man nennt euch »Diener eures Gottes«. 15

Ubersetzung nach E. Balla a . a . O . 464.

90

I. Texte

III. Doch in der nachexilischen Zeit werden nicht nur die Anhänger fremder Kulte verurteilt, nicht nur die Forderungen nach dem Bau eines neuen Tempels und nach Verbesserung des verderbten oder vernachlässigten Kultus erhoben und zumindest teilweise durchgesetzt. Vielmehr werden Jhwh-Tempel und -Kultus auch von verschiedenen Seiten her kritisiert und in Frage gestellt. Das Monopol des Jerusalemer Tempels wurde zeitweilig durch andere Heiligtümer wenigstens grundsätzlich in Frage gestellt, wenn auch nicht ernstlich gefährdet. Schon vor 525 ist in der israelitischen Militärkolonie auf der Nilinsel Elephantine ein Tempel errichtet worden, in dem außer Jhwh der Gott Betel in dreifacher Form verehrt wurde. Der Tempel wurde um 410 auf Betreiben ägyptischer Priester zerstört, vermutlich vor 402 nochmals errichtet und wohl wenige Jahre später endgültig vernichtet 16 . Von geringerer Bedeutung war der um 160 in Leontopolis, nördlich von Memphis, erbaute Tempel, den Onias, ein Sohn des von Antiochus IV. Epiphanes abgesetzten Jerusalemer Hohenpriesters Onias, gegründet hat. Obwohl der Opferkultus bis 73 n. Chr. ausgeübt werden konnte, spielte der Tempel keine wesentliche Rolle, da das ägyptische Judentum am Jerusalemer Tempel festhielt 17 . Schließlich hat die samaritanische Gemeinde nach ihrer Lostrennung von Jerusalem um 350 auf dem Berge Garizim einen eigenen Tempel errichtet; die Erlaubnis dazu hat sie vielleicht erst erhalten, als nach dem Siegeszug Alexanders des Großen und dem Zusammenbruch des persischen Reiches die Privilegien Jerusalems zeitweilig hinfällig wurden oder bestritten werden konnten. Der Tempel wurde durch Johannes Hyrkan im Jahre 128 zerstört und ist demnach offensichtlich als eine Bedrohung für die Geltung des Jerusalemer Tempels empfunden worden 18 . Eine grundsätzliche Infragestellung des Tempels findet sich innerhalb des sicher nachexilischen Wortes Jes 66 1 - 4 1 9 . Ein Prophet befaßt sich in 66 1-2 mit dem Bau eines nicht näher bestimmten Tempels und lehnt ihn ab:

16

Vgl. G . Fohrer, Geschichte der israelitischen Religion, 1969, 129. 168. 341.

17

Vgl. G . Fohrer a . a . O . 3 7 8 f .

18

E s ist möglich, daß die Reste des Tempels bei den kürzlichen Ausgrabungen zutage gekommen sind. Vgl. R . J . Bull, The Excavations of Tell er-Ras on Mt. Gerizim, B A 31 (1968), 5 8 - 7 2 ;

R. J . Bull -

E . F . Campbell, J r . , The Sixth Campaign at Balâtah

(Shechem), B A S O R 190 (1968), 4 - 1 9 . 19

Die Annahme von T . E . Fretheim, The Priestly D o c u m e n t : antitemple?, V T 18 (1968), 313—329, daß sich auch die priesterliche Quellenschicht des Hexateuchs gegen den Bau eines Tempels wende und das bewegliche Heiligtum der vorköniglichen Zeit wiederhergestellt haben wolle, hat wenig für sich. Bereits das Problem der Entstehungszeit von P schafft Schwierigkeiten.

Kritik an Tempel, Kultus und Kultusausübung in nachexilischer Zeit

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So hat Jhwh gesprochen: Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel meiner Füße. W o ist ein Haus, das ihr mir bauen könntet, wo eine Stätte als mein Rastplatz? All dies hat meine Hand ja erschaffen, 'und mir gehört' dies alles 2 0 . D o c h auf den blicke ich hin: auf den Elenden und Zerschlagenen und der ob meines Wortes zittert.

Die zeitgeschichtliche Lage und Beziehung des Spruchs sind unbekannt. Daher sind mancherlei Erwägungen angestellt worden. Von ihnen scheidet die Beziehung auf den Wunsch der Deportierten in Babylonien nach einem eigenen Tempel oder auf den Tempelbau der samaritanischen Gemeinde aus, weil nichts auf eine derart besondere Situation hinweist. Ebensowenig ist der Ausschluß eines Teils der palästinischen Bevölkerung vom Bau des nachexilischen Jerusalemer Tempels gemeint (vgl. Hag 2 10-14), weil vom Tempel selbst und nicht von seinen Erbauern die Rede ist. Völlig ausgeschlossen ist die Auffassung, daß nicht der Tempel an sich, sondern der mit ihm verbundene heidnische Mißbrauch gemeint sei. Vielmehr legt die Einreihung des Spruchs in die Schrift des sog. Tritojesaja, deren Texte überwiegend aus der nachexilischen Zeit stammen, für ihn die Annahme einer ähnlichen Entstehungszeit nahe. Trifft dies zu, so setzt der Spruch sich wahrscheinlich mit dem Bemühen um den Neubau des Jerusalemer Tempels auseinander und steht in einem absoluten Gegensatz zu Haggai und Sacharja. U b e r diese mögliche konkrete Beziehung hinaus ist er so grundsätzlich gehalten, daß er eine völlige Verwerfung des Tempels an sich darstellt. Die Argumentation des Propheten ist hinsichtlich der ablehnenden Stellungnahme von eigentümlich rationalistischer Art und entspricht eher der Weisheitslehre als der Prophetie: Jhwhs Palast mit seinem T h r o n befindet sich im Himmel, die Erde ist sein Schemel, so daß ein irdisches Haus ihn überhaupt nicht zu fassen vermag. U n d errichtete man einen Tempel von überirdischen Ausmaßen, so gäbe man J h w h damit nichts, was ihm nicht schon gehörte oder was er sich nicht selbst schaffen könnte, wenn er es begehrte! Hinsichtlich der Frage, was J h w h vom Menschen wünsche, wenn nicht ein Haus für sich, folgt der Spruch der eigentümlich prophetischen Auffassung (vgl. Jes 57 15 61 l): Jhwh will die demütige Frömmigkeit der Elenden und Zerschlagenen und das Zittern seiner Verehrer vor der O f f e n barung seines Willens und seiner Macht. 20

Die folgende Formel ist ein Zusatz.

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I. Texte

2. Die Kritik am Jhwh-Kultus weist verschiedene Ausgangspunkte und Aspekte auf. Teilweise erfolgt sie in der Nachfolge der vorexilischen großen Einzelpropheten. So wendet sich in einer nicht genau bestimmbaren nachexilischen Zeit Jes 58 1-12 gegen das Fasten, wie es seit dem Exil an den regelmäßigen Fasttagen zur Erinnerung an die Katastrophen in der Geschichte Judas geübt wurde (vgl. Sach 7 3 8 19): Es ist eine bloß äußerliche Übung, die keinen Einfluß auf das Verhalten im Leben hat, während echtes »Fasten« überhaupt keine kultische Handlung ist, sondern in der lebendigen Liebestat am Mitmenschen besteht (58 3b-7): Jedoch am Fastentag erledigt ihr Geschäfte und drängt 'eure Schuldner'. Ihr fastet nur mit Rechtsgezänk und Streit und indem ihr 'den Armen' mit der Hacke erschlagt. So, wie ihr heute fastet, ist eure Stimme in der Höhe nicht zu hören. Ist das etwa ein Fasten, wie ich's wünsche, ein Tag, an dem der Mensch sich kasteit? Soll er den Kopf wie einen Schilfhalm beugen und sich in Staub und Asche betten? Nennst du so etwas »Fasten« und »einen Tag, der J h w h gefällt«? Ist nicht solcherart ein Fasten, wie ich's wünsche, 'sagt J h w h ' : frevlerische Fesseln offen, die Bande des Jochs lösen, Mißhandelte frei gehen lassen und jedes Joch lösen? Nicht solcherart, daß du den Hungrigen dein Brot brichst, die armen Heimatlosen in (dein) Haus führst, daß, wenn du einen nackt siehst, du ihn kleidest und dich deinem Bruder nicht entziehst?

Auf den Opferkultus bezieht sich Mi 6 6 - 8 , das in der nachexilischen Zeit verfaßt worden ist, jedoch der vorexilischen Prophetie folgt, wenn an Stelle der Opfer die Forderung nach Recht, Verbundenheit und Demut tritt: Womit soll ich vor J h w h treten, mich vor dem Gott in der Höhe beugen? Soll ich mit Brandopfern vor ihn treten, mit einjährigen Jungstieren? Gefallen ihm Tausende von Widdern, unzählige Bäche von ö l ?

Kritik an Tempel, Kultus und Kultusausübung in nachexilischer Zeit

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Soll ich meinen Erstgeborenen als Sühne für mich geben, meine Leibesfrucht als Sühne für mein Leben? »'Es ist' dir gesagt, Mensch, was gut ist! Und was fordert J h w h von dir? Nichts als Recht tun, Verbundenheit lieben und demütig wandeln v o r deinem Gott!«

Ähnlich drückt es das Klagelied des einzelnen Ps 51 aus, das der exilisch-nachexilischen Zeit entstammt und wegen des Zusatzes 51 20 f. vor der Weihe des zweiten Jerusalemer Tempels im Jahre 515 entstanden ist (51 18 f.): A n Schlachtopfern hast du kein Gefallen, gäbe ich Brandopfer, du möchtest sie nicht. 'Mein Opfer, Gott, ist ein demütiger Geist, ein zerschlagenes Herz verschmähst du nicht.

Ein anderer Gesichtspunkt, der sich von der eigentlichen prophetischen Kritik unterscheidet, wird in Ps 40 laut, dessen erster Teil — ein kultisches Danklied des einzelnen — aus theologiegeschichtlichen Gründen aus der nachexilischen Zeit herzuleiten ist. Der Dichter erklärt in 40 7: Schlachtopfer und Gaben gefallen dir nicht, Brand- und Sündopfer begehrst du nicht.

Statt dessen will der Dichter die göttliche Tora beachten und Jhwh in der synagogalen Versammlung preisen. Damit wird diese Form des Gottesdienstes dem Tempelkultus vorgezogen und sogar entgegengestellt. Auch Ps 69 31 f. und 141 2 — beide Psalmen sind Klagelieder des einzelnen aus der nachexilischen Zeit — ziehen dem Opfer im Tempel andere Formen des Dankes vor: Ich will den Namen Gottes im Liede rühmen und ihn im Dank erheben. Das ist J h w h lieber als ein Rind und ein Stier mit Hörnern und Klauen. Mein Gebet stehe als Weihrauchopfer vor dir, das Erheben meiner Hände als Abendopfer.

Daß man freilich den synagogalen Gottesdienst und das Halten des Sabbats durchaus mit der Hochschätzung des Tempels und des Opferkultus verbinden konnte, zeigt Jes 56 1-8. Die Weisheitslehre der nachexilischen Zeit, in diesem Fall vertreten durch Kohelet, nimmt hinsichtlich des Kultus — wie auch sonst häufig — eine eigene Haltung ein. Sie ist in diesem Falle vorwiegend negativ gegenüber dem Kultus, vor dem Kohelet in spätnachexilischer Zeit eher warnt, als daß er dazu ermuntert, ohne dem allerdings den Hinweis auf das rechte ethische

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Verhalten hinzuzufügen (Prov 213). Seine Haltung ist vielmehr durch die Mahnung zu Vorsicht und Zurückhaltung bestimmt (Koh 4 17—5 6) 21 : Achte auf deinen Fuß, wenn du gehst zum Hause Gottes, und sei nahe dem Gehorsam, denn das ist besser, als wenn die Toren Schlachtopfer bringen. Uberstürze dich aber nicht und dränge dich nicht dazu, W o r t e auszusprechen vor Gott, denn Gott ist im Himmel, du aber auf Erden, darum seien deiner W o r t e wenige, denn »Unverstand ist bei viel Geschäftigkeit und Torengeschwätz bei vielem Reden«. Wenn du ein Gelübde für Gott gelobt hast, zögere nicht, es einzulösen. Besser ist, du gelobst nicht, als daß du gelobst und nicht einlösest. Gib nicht zu, daß dein Mund dich in Sünde bringe, und sage nicht: Es war übereilt! Warum soll G o t t über deine Rede zürnen und verderben das W e r k deiner Hände? Denn »Bei vielem Träumen ist Nichtiges, und Nichtigkeiten bei vielen Reden!«

Es ist also besser, gegenüber der Gottheit Gehorsam zu üben, als den Tempel zu besuchen und zu opfern; denn da auch Toren dies tun können, ist dem Opfer als solchem kein Wert zuzuerkennen. Kohelet warnt ferner vor vielen Worten, wohl beim Gebet, weil Gott und Mensch durch einen solch großen Abstand voneinander getrennt sind, daß das Schweigen angemessen ist. Desgleichen warnt Kohelet vor übereilten Gelübden, da man sich später nicht wegen Übereilung entschuldigen kann und bei Nichterfüllen des Gelübdes eine Strafe zu gewärtigen hat. Es kann sein, daß die letzten Zeilen der Sentenz sich ebenfalls darauf beziehen; andernfalls ist an leichtfertiges Reden überhaupt gedacht. In jedem Falle gilt es, vorsichtig und zurückhaltend zu sein. Wesentlich rationalistischer argumentieren Ps 50 und Jes 66 1-4. Der Psalm, eine kultprophetische Gerichtsliturgie, die aus theologiegeschichtlichen Gründen der nachexilischen Zeit zuzuweisen ist, läßt Jhwh das Opfer ablehnen und an seiner Stelle Lobpreis und Ehrung fordern (Ps 50 9-15):

21

Ubersetzung nach K . Galling, Der Prediger, in: M. Haller — K . Galling, Die Fünf Megilloth, 1940, 66. 68.

Kritik an Tempel, Kultus und Kultusausübung in nachexilischer Zeit

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Ich brauche den Jungstier aus deinem Stall und die Böcke aus deinen Hürden nicht. Denn mir gehört alles Wild des Waldes, die Tiere der Berge zu Tausenden. Ich kenne alle Vögel 'des Himmels', was sich im Felde regt, ist mein. Hätte ich Hunger, so sagte ich es dir nicht, denn mein ist der Erdkreis und was ihn füllt. Esse ich denn das Fleisch von Stieren und trinke das Blut von Böcken? Opfere Gott Lob und bezahle so dem Höchsten dein Gelübde! Rufe mich an am Tage der N o t : Ich will dich retten, und du sollst mich ehren!

Jes

6 6 3—4a

enthält zusätzlich einen polemischen Akzent:

W e r einen Stier schlachtet, ist (wie) einer, der einen Menschen totschlägt; wer ein Schaf opfert, ist (wie) einer, der einem Hund (das Genick) bricht. W e r Speiseopfer darbringt, 'ist lüstern' nach dem Schwein; wer Weihrauch spendet, wünscht unheilvollen (Worten) K r a f t an. W i e solche ihre (eigenen) Wege wählen und an ihren Scheusalen Gefallen haben, so wähle ich ihre Mißhandlungen aus und bringe das Grauen über sie.

Der gesamte Opferkultus wird als Götzendienst abgelehnt. Wenn man Jhwh die herkömmlichen Opfer darbringt, ist es genauso, wie wenn man einen Menschen, einen Hund oder ein Schwein als Opfer tötet. Ein Lebewesen ist in diesem Fall so gut wie das andere. Man bringt ein Leben dar; und da die Menschen gegenüber anderen Göttern ebenso verfahren, unterscheidet sich das für Jhwh geschlachtete Opfer in keiner Weise von den Götzenopfern. Außerdem schreibt man dem Jhwh-Opfer wie die Verehrer anderer Götter eine wirkende Macht zu, da es Jhwh versöhnen oder ehren und die menschliche Schuld sühnen soll, und handelt wie die Magier, die ihre Beschwörungen mit dämonischer Kraft erfüllen wollen.

Insgesamt zeigt sich, daß die religiösen Verhältnisse im nachexilischen Jerusalem bewegter waren, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, und daß der Jhwh-Glaube sich mannigfaltiger und lebendiger darstellt, als man angesichts der vorherrschenden Torafrömmigkeit annehmen konnte. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei anderen Themastellungen. Daraus folgt, daß die nachexilische Zeit keineswegs einer gleichförmigen Landschaft gleicht, sondern ebenso vielgestaltig und spannungsgeladen wie die vorangehenden und folgenden Epochen war.

Die israelitischen Propheten in der samaritanischen Chronik II I.

Im Jahre 1969 hat J . Macdonald das von ihm als »Chronik II« klassifizierte samaritanische Werk 1 ediert und übersetzt, eine Version des unter dem Titel D , a , n 100 bekannten Werkes, von dem bisher nur die als Grundlage dienende Version der Josuageschichte bekannt war 2 . J . Macdonald charakterisiert das Werk folgendermaßen (unter Auflösung der Abkürzungen): »Sepher ha-Yamin as a title refers to a work which exists in more than one version, e. g. Chronicle II or the Joshua part of Chronicle II. Chronicle II may have existed originally as a Book of Joshua, which is in no way connected with Sepher Yehoshua (Chronicle VI), but may have contained large tracts of the Biblical Text. Chronicle II, as represented by MS H 1, is basically a very old chronicle of unknown date, possibly derived from a pre-Masoretic Text version of the Biblical Text possessed by one or more north Palestinian (Samarian) families. There are several clear indications that it is fundamentally a substantial excerpt from the Biblical Text which could have been held by northern as well as southern Israelites . . . T o the original text underlying Chronicle II as we now know it was later added, perhaps after the 4th century A. D . reorganization of life and worship, some of the material in non-biblical classical Hebrew«. Einige einführende Bemerkungen über die Eigenarten des Werkes scheinen geboten zu sein: 1. Die Chronik II umspannt die Zeit der alttestamentlichen Bücher Josua bis Könige. Für deren Darstellung hat der »Chronist« auszugsweise den Text jener Bücher unter gelegentlicher Heranziehung von Abschnitten aus den Chronikbüchern verwendet. Während dabei Josua von samaritanischen Familien anscheinend als ein in gewissem Maße heiliges Buch betrachtet wurde, unterscheidet sich der Richterteil der Chronik II so stark 1

J . Macdonald, The Theology of the Samaritans, 1964, 44—49, der insgesamt sieben samaritanische Chroniken anführt, darunter die von ihm herausgegebene Chronik: J . Macdonald, The Samaritan Chronicle N o . II (or: Sepher Ha-Yamim). From J o s h u a to N e b u chadnezzar, 1969.

2

Vgl. vor allem D . Yellin, Das Buch Josua der Samaritaner (hebr.), Jerusalem 6 (1902), 138— 155; M . Gaster, Das Buch J o s u a in hebräisch-samaritanischer Version, Z D M G 62 (1908), 2 0 9 - 2 7 9 . 4 9 4 - 5 4 9 ; ders., O n the Newly Discovered Samaritan B o o k of Joshua, J R A S 1908, 795—809; ders., The Samaritan Hebrew Sources of the Arabic B o o k of Joshua, ebd. 1930, 567—599; A . D . C r o w n , The Date and Authenticity of the Samaritan B o o k of Joshua as seen in its Territorial Allottments, PEQ 96 (1964), 7 9 - 1 0 0 .

Die israelitischen Propheten in der samaritanischen Chronik II

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vom kanonischen Richterbuch, daß er anscheinend alte Traditionen aus einer nördlichen Quelle verarbeitet hat. Den Samuel-, Königs- und Chronikbüchern sind vor allem solche Auszüge entnommen, die das persönliche Leben der Könige betreffen oder die von besonderem Interesse für den Norden waren; dagegen sind politisch-militärische und jerusalemische priesterlich-kultische Mitteilungen ausgelassen oder zusammengefaßt worden. Auf die Behandlung der Prophetenerzählungen wird später einzugehen sein. 2. Das allmählich hinzugefügte Material läßt sich, wie J. Macdonald zeigt, auf zwei Quellengruppen zurückführen: a) eine in sich wieder geschichtete profane, pro-davidische Quelle und b) eine oder mehrere priesterliche, anti-davidische Quellen. 3. Der Chronik II lassen sich mancherlei interessante geschichtliche und religionsgeschichtliche Anschauungen entnehmen. So wird durch die — in einigen Fällen gar nicht abwegige — Gleichsetzung von ÖDW und -J1?» ein Königtum für die einheitliche israelitische Gemeinschaft seit der Zeit Josuas mit einer Sukzession der »Richter«-Könige bis Simson angenommen. Der Bruch — das samaritanische Schisma bzw. der »Abfall« der anderen Israeliten — ereignete sich, als Eli den Kultus von Sichern nach Silo verlegte. Damit fand eine Spaltung in zunächst zwei, nach der Übernahme des Kultus von Silo in Jerusalem, der Spaltung des Königtums und der Bildung von götzendienerischen Gruppen in immer mehr Teile statt. Die Samaritaner wollen dabei sogleich eine eigene, von den Nordisraeliten unterschiedene Gruppe gewesen sein, die stets am wahren Glauben und Kultus festgehalten hat. Da übrigens nach ihrer Ansicht das wahre Betel, wo Jakob sein Traumerlebnis hatte (Gen 28 lOff.), auf dem Garizim lag, werden die beiden Staatsheiligtümer. Jerobeams I. in Dan und Samaria lokalisiert. Beachtenswert ist, daß die synchronistischen Angaben für die judäisch-israelitischen Könige durch synchronistische Angaben über die samaritanischen Hohenpriester ergänzt werden. 4. Kennzeichnend für die Art und Weise, in der geschichtliche Gestaltung und Ereignisse beurteilt werden können, ist die Erklärung für den Widerstand Samuels gegen die Errichtung — im Sinne der Chronik II genauer: die Wiedererrichtung — des Königtums. Auch nach der Chronik II forderten die Ältesten wegen des üblen Verhaltens seiner Söhne von ihm: »Gib uns einen König, daß er uns regiere!« (I Sam 8 l f f . ) . Dann aber fährt sie fort: »Da erkannte Samuel, daß seine Söhne nicht Herrscher in seinem Volke an seiner Stelle werden könnten; denn sie forderten einen König anstelle seiner Söhne, der über sie herrsche. Da war Samuel sehr besorgt und bedrückt« (I Sam § G :K;:'—L*). Er suchte die Vertreter des Volkes von ihrem Verlangen abzubringen, indem er ihnen die einschneidenden Rechte vortrug, die ein König geltend machen würde (I Sam 8 lOff.) — natürlich zu dem eigennützigen Zweck, das Volk dadurch so zu erschrecken, daß es doch mit seinen Söhnen vorlieb nähme. Als ihm dies mißlang, hatte er nach

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der Erhebung Sauls immerhin die Genugtuung, daß dieser »nichts tat außer auf Anordnung Samuels; alles, was der ihm befahl, tat er« (I Sam I: § A*). Eine derartige Darstellung läßt erwarten, daß auch die Propheten nicht ungeschoren bleiben. II. 1. In der Tat sucht man in der Chronik II nach den im alttestamentlichen Text erwähnten Propheten oft vergeblich. Die Erwähnungen sind ausgelassen und nicht in die Chronik übernommen worden. So fehlen: die von der Debora handelnden Verse Jdc 4 4-9, der Name der Debora in 4 10 ff. und das Deboralied 5; die Erwähnung des prophetischen Mannes Jdc 6 8 in der allerdings ohnedies stark zusammengestrichenen Gideonüberlieferung; die Samuel als Propheten verstehenden Abschnitte I Sam 9 — 10; ein großer Teil der Saul-David-Uberlieferung mit der Erzählung von Sauls »prophetischer Rolle« in I Sam 19, der Erwähnung des Propheten Gad in 22 5 und von Propheten überhaupt in 28; die erneute Erwähnung des Propheten Gad in II Sam 24 11 mit der ganzen Uberlieferung über die militärischen und religiösen Maßnahmen und Handlungen Davids in II Sam 19—24; die ganze Erzählung von der symbolischen Handlung des Ahia von Silo in I Reg 11 29ff.; die Erwähnung des »Gottesmannes« Semaja in I Reg 12 22 (mit dem ganzen Abschnitt 12 21-24); die Prophetengeschichten in I Reg 13 — 14 und die Erwähnung des angeblichen Propheten Jehu in 16 7. 12; die Erwähnung von Propheten in II Reg 17 13, wobei allein dieser Vers aus dem fortlaufenden, interpretierten Zitat von 17 7-16 ausgelassen worden ist; die gesamten Jesajalegenden in II Reg 18—20, wobei zudem für die Darstellung des Feldzuges Sanheribs gegen Juda der Text von II Chr 32 herangezogen wird — unter anderem vermutlich deswegen, weil dort Jesaja nur einmal genannt wird und sein Name leicht zu tilgen war. Zumindest ein Teil der angeführten Verse oder Abschnitte ist offensichtlich zu dem Zweck ausgelassen worden, die Erwähnungen oder Erzählungen von Propheten zu beseitigen. Das gilt auch für den größten Teil der Uberlieferung von Elia und Elisa, auf die unter 3. einzugehen ist. 2. Der Prophet Natan durfte in der Chronik ebenfalls nicht erscheinen und mit David in Verbindung gebracht werden, zumal die ursprüngliche Chronik und die Erweiterungen aus profanen Quellen den König keineswegs negativ beurteilen, wie dies in den priesterlichen Erweiterungen geschieht. Daher ist es nicht Natan, der ihm nach anfänglicher Zustimmung den Bau eines Tempels mit einem Jhwh-Wort untersagt (II Sam 7). An seine

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Stelle tritt vielmehr der samaritanische Hohepriester, der den David durch einen Brief, in dem er auf die alleinigen Rechte des von Gott erwählten Berges Garizim pocht, so erschreckt, daß der König den schon begonnenen Bau einstellen läßt und die ihn fragenden Vertreter des Volkes unter Hinweis auf das von ihm vergossene Blut auf seinen Sohn Salomo vertröstet (II Sam § B: A * - N * ) . Die Erzählung vom Vorgehen Natans gegen David nach dessen Verfehlung mit der Batseba in II Sam 12 lff. ist ausgelassen worden. An ihrer Stelle finden sich Überlegungen über die Schuld Davids, Mitteilungen über seine Opfer und die Genealogie Davids (II Sam § D : A*—P*). 3. Ist also ein sehr großer Teil der Prophetenüberlieferungen von der Chronik II ausgelassen worden, so werden im Gegensatz zu dieser Methode zwei Propheten mehrfach angeführt: Elia und Elisa. Freilich geschieht dies nicht so, daß die von ihnen handelnden Erzählungen ganz oder großenteils aus den Königsbüchern übernommen worden wären. Vielmehr werden sie wie in den vorher genannten Fällen zum überwiegenden Teil ausgelassen. Wo dies nicht oder nicht ganz geschieht oder wo Elia oder Elisa sonst erwähnt werden, sind sie in einer Weise dargestellt und beurteilt worden, daß die überhaupt nicht erwähnten Propheten von sich sagen könnten, sie seien wesentlich besser davongekommen als jene beiden. Soweit wie möglich soll dies im folgenden an der Ubersetzung der in Frage kommenden Abschnitte oder Sätze gezeigt werden. Dabei werden die aus dem Alten Testament stammenden Textteile durch kursiven, die samaritanischen Erweiterungen oder Bemerkungen durch gewöhnlichen Druck gekennzeichnet. a) »Und der Tisbiter Elia aus Tisbe in Gilead nannte sich in jenen Tagen selbst einen Propheten und (behauptete), daß der Herr mit ihm spräche. Und Elia kam nach Zarpat, das zu Sidon gehört, zum Hause einer Witwe. Da sagte er zu ihr: 'Bringe mir doch in einem Gefäß ein wenig Wasser, daß ich trinke'. Als sie dann hinging, um für ihn Wasser zu holen, rief er ihr zu: 'Bringe mir doch einen Bissen Brot mit'. Da antwortete sie ihm: 'Bei dem Herrn, deinem Gott, ich habe nicht einen Bissen, sondern nur eine Handvoll Mehl und ein wenig ö l , und ich will es verwenden für mich und meinen Sohn, daß wir es essen und sterben . Aber er sagte zu ihr: 'Fürchte dich nicht, geh und tue, wie du gesagt hast; dann werde ich selber essen und auch ihr. Wenn du mir davon zu essen gibst, wird das Mehl nicht zu Ende gehen und das öl nicht abnehmen . Da ging die Witwe und tat nach seinen Worten. Elia aber riß das Ganze an sich und aß es, dann ging er von der Witwe fort. Und nach dem Weggang Elias hungerte der vaterlose Sohn der Frau zu Tode. — Dieser Elia hatte einen anderen Namen, der war Chananja. Alle Tage seines Lebens war er heimatlos und flüchtig vor dem König Ahab, dem Sohn Omris, und seinem ganzen Volk. Chananja ging und floh vor Ahab, dem Sohn Omris, und seinem ganzen Volk über den

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Jordan, um sich jenseits des Jordans auf seiner Ostseite versteckt zu halten. Doch er versank im Wasser des Jordans und starb« (I Reg 12 22: § J ) . Eindeutig soll der Schluß der I Reg 17 7 ff. nacherzählten Anekdote den Elia als einen üblen Schurken hinstellen, der eine schutzlose Witwe mit einer wertlosen Verheißung betrügt und dadurch den Tod ihres Sohnes verursacht. Die zweite Notiz geht nicht auf eine alttestamentliche Uberlieferung zurück. Die Gleichsetzung Elias mit Chananja kann auf einer Verwechslung mit dem Chananja von Jer 28 oder dem Chanani von I Reg 16 7 beruhen 3 . b) Die weitere Eliaüberlieferung wird von der Chronik II nicht berücksichtigt. Die meisten Erzählungen und Anekdoten sind einfach ausgelassen worden. Auch die Erzählung von Nabots Weinberg ist gekürzt. Die Chronik II bringt lediglich I Reg 21 1-16, während der mit v. 17 beginnende Abschnitt über das Auftreten Elias fehlt. Das entspricht dem üblichen Verfahren des Chronisten, wie es sich oben aus 1. ergeben hat. Ungeachtet dessen wird bei der Schilderung der Revolution Jehus nach der Ermordung und Zerfleischung der Isebel die auf Elia zurückgeführte Ankündigung ihres Endes nach II Reg 9 36 zitiert, jedoch mit einer bezeichnenden Änderung der Einleitung: »So war es gemäß dem Wort Elias, des Zauberers. . .« (II Reg-II Chr. § B). c) Ebenso fehlt der größte Teil der Elisaüberlieferung in der Chronik II, oder die Erzählungen sind wie II Reg 3 4ff. in einer solchen Weise zusammengestrichen bzw. neu gefaßt worden, daß Elisa ausgeschieden wird. Nur mehr zwei Erzählungen erwähnen ihn. In der Erzählung von der Blendung der Aramäer II Reg 6 8 ff. erwidert einer der Diener des Königs von Aram auf dessen Verdacht des Verrats an den König von Israel mit dem erweiterten v. 12: »Nein, mein Herr König vielmehr sagt Elisa in Israel dem König von Israel alle Worte, die du in deiner Schlafkammer sprichst, denn er ist ein Wahrsager, Zauberer, Totengeistbefrager und Wahrsager« (II Reg — II Chr § A : II Reg 6 12 und B*). In der anschließenden Erzählung von der Hungersnot in Samaria II Reg 6 24 ff. hört der König von Israel sich die Klage und Beschwerde der Frau an, deren Sohn gekocht und gegessen worden ist, und zerreißt seine Kleider (v. 30). Die Chronik II fährt fort: »Dann sandte der König einen Boten zum Wahrsager Elisa, um ihn mit dem Schwert zu töten, weil er dieses Unheil hingewälzt hatte. Aber Elisa und all seine Schüler flohen vor dem König von Israel und wohnten in einem anderen Land« (II Reg — II Chr §A:E*_F*). d) Dem allen entspricht das Gesamturteil über Elia und Elisa: »In jenen Tagen fanden sich Elia und sein Diener Elisa ein. Sie nannten sich 3

F ü r die teilweise abweichende Darstellung in MS H 2 und in der samaritanischen Chronik VI kann auf die ausführliche Darstellung J . Macdonalds in der Chronik II verwiesen werden.

Die israelitischen Propheten in der samaritanischen Chronik II

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selbst Propheten und sprachen zu der ganzen Versammlung Israels Worte auf Befehl des Herrn, die der Herr nicht befohlen hatte; er hat nicht mit ihnen geredet« (I Reg 1 2 - 2 2 § M : P * - Q * ) . 4. Nach dem Vorbild des Urteils über Elia und Elisa hat ein späterer Schreiber ganz kurz drei weitere Propheten eingeführt: »In seinen Tagen 4 erschienen Hosea, Joel und Arnos. Man sagte über sie in ganz Israel, daß sie Zauberer seien« (II Reg — II Chr § F : B * ) . 5. N u r viermal werden Propheten weder unerwähnt gelassen noch abwertend beurteilt. Bei der Schilderung der Thronfolgestreitigkeiten in I Reg 1 nennt die Chronik II in v. 8 und 10 den Natan, allerdings ohne die Bezeichnung »Prophet« (I Reg 1 — 11: § A). Immerhin weist auch die Septuaginta die Bezeichnung in v. 10 nicht auf. Ferner wird für die Zeit des Joas, dargestellt nach II Chr 24, der dort in v. 20 eingeführte Sacharja beibehalten, wenn auch unter Änderung des Textes: »Aus dem Volke kam ein Mann mit Namen Sacharja; der wies sie zurecht, aber sie hörten nicht auf seine Stimme« (II Reg - II C h r § E : A : : ) . Weiter wird im Anschluß an II Reg 14 25 berichtet: »Jona, der Sohn Amittais, der aus Gat-Chepher war, lebte in jenen Tagen« (II Reg II Chr § F). Schließlich wird für die Zeit des Königs Josia noch Jeremia erwähnt: »In seinen Tagen erschien Jeremia. Er war der Sohn des Priesters Hilkia. Er wohnte in der Stadt Anatot im Lande Benjamin bei Jebis 5 ; es ist die Stadt, in die der König Salomo den Priester Abjatar vertrieben hatte, als er ihn als Priester absetzte. Im 13. Jahre der Regierung Josias begann er von sich zu behaupten, daß er ein Prophet des Herrn, des Gottes Israel, sei. Aber viele Männer von den Judäern verschworen sich gegen ihn und steinigten ihn zu Tode« (II Reg - II C h r § N : F * - I * ) . III. Es stellt sich somit heraus, daß die Chronik II mit den Prophetennotizen oder —erzählungen in drei verschiedenen Arten verfährt. Jede von ihnen läßt sich auf einen bestimmten Kreis zurückführen: a) Der ursprüngliche »Chronist«, der das alttestamentliche Material ausgewählt und zusammengestellt hat, ist über die Erwähnungen von Propheten einfach hinweggegangen. Er hat sie ausgelassen und dafür in Kauf genommen, daß er den Text verstümmeln oder umschreiben mußte.

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Gemeint ist Jerobeam II.

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Gemeint ist Jerusalem.

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I. Texte

b) Die profanen Erweiterungen nennen dagegen einige Propheten ohne positive Würdigung, aber auch ohne herabsetzende Bemerkungen. Ihre Verfasser haben sich damit begnügt, die Bezeichnung »Prophet« auszulassen oder — wie im Falle Jeremias — von der bloßen Behauptung, es habe sich um einen Propheten gehandelt, zu sprechen. Bei diesem Verfahren wird also ebenfalls kein Prophet als solcher anerkannt. c) Die priesterlichen Erweiterungen — und ihnen folgend der spätere Schreiberzusatz — erwähnen einige Propheten, jedoch unter starker Abwertung und Herabsetzung; danach hat es sich nicht um wirkliche Propheten, sondern um Wahrsager, Zauberer usw. gehandelt. Es ist interessant zu sehen, daß dem sowohl das Urteil des assyrischen Königs Sanherib über die judäischen Propheten entspricht: ». . . die Männer, die euch sagten: 'Wir sind Propheten vom Herrn für euch', haben euch durch dieses Wort verleitet, denn sie waren Wahrsager, Zeichendeuter, Zauberer und Orakelbefrager, sie waren keine Propheten« (II Reg — II Chr § L : FF*—GG : ; "), als auch die Aufzählung von Wahrsagerei, Zeichendeuterei, Zauberei und Befragen von Totengeistern unter den Sünden der Zeit des Königs Manasse nach II Chr 33 6 (II Reg — II Chr § N ) . So kann man geradezu fragen, ob das abwertende priesterliche Urteil über die Propheten nicht einer derartigen Aufzählung entnommen worden ist — was dann freilich um so grotesker wirkt, als Manasse die in solcher Weise charakterisierten Propheten, die eigentlich nach seinem Geschmack hätten sein müssen, in Wirklichkeit zusammen mit anderen religiösen und politischen Opponenten gegen seine Politik blutig verfolgt hat (vgl. II Reg 21 16). Wie läßt sich das verschiedenartige, im Grunde aber doch einheitliche Verfahren in den Schichten der Chronik II erklären? Einen Hinweis bietet die Fortsetzung der soeben zitierten Worte Sanheribs über die Propheten: »Haben sie euch heute aus meiner Gewalt und aus der Gewalt meines Volkes gerettet, wie es Mose, der Sohn Amrams, im Lande Ägypten in bezug auf den Pharao und all seine Diener getan hat, als er eure Väter mit starker Hand und ausgerecktem Arm aus dem Lande Ägypten führte?« (II Reg — II Chr § L : H H * - J J * ) . Diese Abwertung der Propheten im Vergleich mit Mose führt auf die richtige Spur. Wie J . Macdonald gezeigt hat, erkennen die Samaritaner lediglich Mose als Propheten an, außerdem sekundär und auf dem Wege über Mose noch Aron und Mirjam 6 , so daß sie selbstverständlich alle anderen Ansprüche ablehnen. Das Prophetentum Moses ist zudem gekennzeichnet durch die völlige Kenntnis des göttlichen Willens, den Besitz übernatürlicher Macht, die Einbeziehung des wahren Priestertums und das Verfügen über die Weisheit. Angesichts dieses Prophetenverständnisses, das sich von demjenigen des Alten Testaments tiefgreifend unterscheidet, ist es erklärlich, daß die Samaritaner und also die Chronik II den Anspruch der 6

J . Macdonald, The Theology of the Samaritans, 1964, 204—211.

Die israelitischen Propheten in der samaritanischen Chronik II

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alttestamentlichen Propheten grundsätzlich zurückweisen müssen — sei es, indem man sie gar nicht erwähnt, ihnen die Bezeichnung »Prophet« vorenthält oder ihnen verurteilenswürdige Betätigungen zuschreibt. Ebenso wird erklärlich, daß gerade Elia und der mit ihm verbundene Elisa in den priesterlichen Erweiterungen der Chronik II aufs Korn genommen und in geradezu ehrenrühriger Weise charakterisiert werden. Einmal sind sie die Propheten des israelitischen Nordens, über die eine umfangreiche Uberlieferung in den alttestamentlichen Geschichtsbüchern vorliegt und die für den Norden, an dem die Chronik ja in besonderem Maße interessiert ist, von großer Bedeutung waren. Ferner wird Elia in einem Teil der Uberlieferung als ein neuer, zweiter Mose, also in samaritanischer Sicht als eine Art Konkurrent oder Gegenspieler des allein als Prophet anerkannten Mannes hingestellt 7 ; daher ist ihm eine besonders schroffe Ablehnung zugedacht worden. Dies alles zeigt wiederum, daß die Chronik II nur im Gesamtzusammenhang der samaritanischen religiösen und theologischen Auffassungen gelesen und verstanden werden kann.

7

Vgl. G . Fohrer, Elia, 1968 2 .

II. Themen

Israels Haltung gegenüber den Kanaanäern und anderen Völkern I. Vor mehr als 80 Jahren erschien die umfangreiche Untersuchung von A. Bertholet über die Stellung der Israeliten und der Juden zu den Fremden 1 , d. h. über die soziale, ökonomische und religiöse Situation der durchreisenden Fremden und der ansässigen D"H1, die wachsende Reaktion gegen alles Fremdländische, die allmähliche Abkehr von den D'U und die zunehmende Annäherung der und in der nachexilischen Zeit das wechselhafte Ringen um den Anschluß von Fremden an die jüdische G e meinde. Später haben M. Peisker die Beziehungen der Nichtisraeliten zu Jahwe nach der Anschauung der alten israelitischen Quellenschichten und H . Schmökel das Verhältnis Jhwhs zu den fremden Völkern in der jüngeren Zeit, vor allem in der eschatologischen Prophetie behandelt 2 . Im folgenden werde ich anders vorgehen: einerseits die Grundlage verengen und die Haltung nicht gegenüber allen Fremden, sondern nur gegenüber fremden Völkern betrachten, andererseits den Blickwinkel erweitern und nicht nur die Auffassungen über das Verhältnis zwischen Jhwh und anderen Völkern, sondern die praktische und grundsätzliche Haltung Israels überhaupt heranziehen. Auf diese Weise ergibt sich ein Einblick in bestimmte Triebkräfte des alttestamentlichen Glaubens und in den Verlauf der religiösen Geschichte Israels. In J o s 11 9 erzählt die Quellenschicht J , daß die Dirne Rahab den israelitischen Kundschaftern erklärt: »Ich weiß, daß Jhwh euch das Land gegeben hat und daß der Schrecken vor euch uns befallen hat.« Auch die zweite judäische Quellenschicht, die ich die nomadische nenne 3 , läßt Rahab sagen: »daß alle Bewohner des Landes vor euch verzagen« (11 9bß). Die Erzähler setzen als selbstverständlich voraus, daß Rahab und die anderen Kanaanäer den Beschluß Jhwhs kennen. Erst der deuteronomische Bearbeiter begründet dies damit, daß ihnen die Taten Jhwhs bei der Rettung aus Ägypten und den Siegen über die Könige der Amoriter zu Ohren gekommen sind und daß sie sie davon überzeugt haben, daß er, der G o t t der Israeliten, Gott droben im Himmel und unten auf der Erde ist (11 ll). Da1

A . Bertholet, D i e Stellung der Israeliten und der Juden zu den Fremden, 1896.

2

M . Peisker, Die Beziehungen der Nichtisraeliten zu J h w h nach der Anschauung der altisraelitischen Quellenschriften, 1907; H . Schmökel, J a h w e und die Fremdvölker, 1934.

3

G . F o h r e r , Einleitung in das Alte Testament, 1 9 7 9 1 2 , § 24.

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II. Themen

gegen ist es für die alte Überlieferung selbstverständlich, daß alle Kanaanäer wissen: »Jhwh hat euch das Land gegeben.« Diese Zusage des Landes und umgekehrt der israelitische Anspruch auf das Land bilden den Ausgangspunkt für das Verhältnis Israels zu den Kanaanäern. Schon die in der Genesis verarbeiteten Uberlieferungen der Sippen Abrahams, Isaaks, Jakobs und des mit dem letzteren identifizierten Israel (Gen 32 29 35 10) legen die religiös-rechtlichen Ansprüche der Sippen auf das palästinische Kulturland dar. Das war ihre ursprüngliche Absicht. Ihren alten Kern bilden formal und inhaltlich die jeweils selbständigen Erzählungen von Landanspruch und Landnahme mehrerer israelitischer Gruppen mit Sippengründern oder -führern, die sich auf die Verheißungen der Sippengötter von Landbesitz und Nachkommenschaft gründen 4 . Auch die Landverheißung an die Moseschar in Ex 3 8 ist ein ursprüngliches überlieferungsgeschichtliches Element. Daß sie von den Verheißungen der Genesis zu unterscheiden ist, zeigt die erst von da an vorkommende Beschreibung des Landes als »ein Land, das von Milch und Honig fließt«. Es kann sich um einen Ausdruck der in Ägypten lebenden Israeliten handeln, die für sich ein Land erhofften, das so reich sein würde wie Ägypten — daher die Enttäuschung während des späteren Lebens in Wüste und Steppe 5 . Jedenfalls sind die Uberlieferungen der Moseschar ebenfalls eine Landanspruchs- und Landnahmeerzählung, die unter Berufung auf die ausdrückliche Zusage Jhwhs darlegen sollte, daß der von Mose aus Ägypten bis an die Grenze Palästinas geführten Schar genauso ein Anteil am palästinischen Kulturlande gebühre wie den Patriarchensippen 6 . An die Stelle der Erzählung vom Seßhaftwerden der Moseschar ist eine andere Uberlieferung gesetzt worden: die Landnahmeerzählung der von Josua geführten Gruppe. Denn die Erwähnungen Josuas im Pentateuch sind überlieferungsgeschichtlich und historisch sekundär. Er war ursprünglich nur in der Erzählung von der Landnahme im Westjordanland beheimatet, wie das Buch Josua sie unter Verwendung von mancherlei Sagen darstellt. Was also in Israel zuerst erzählt und überliefert worden ist und was den Kern der Hexateuchtradition bildet, das sind Landanspruchs- und Landnahmeerzählungen von verschiedenen israelitischen Sippen, Gruppen und Stämmen. Sie enthalten teilweise die ausdrückliche Feststellung: »Jhwh hat das ganze Land in unsere Hände gegeben.« Das ist der für Leben und Glauben des alten Israel grundlegende Satz; nach ihm bestimmt sich auch das Verhältnis zu den Kanaanäern. Denn wo sie den israelitischen Stämmen nicht im Wege standen, wie auf den schwach oder gar nicht besiedelten Gebirgen, verlief die Landnahme friedlich im Rahmen des Weidewechsels, 4 5 6

G. Fohrer a . a . O . § 19, 1. G. Fohrer, Uberlieferung und Geschichte des Exodus, 1964, 37. G. Fohrer a . a . O . (Anm. 3) § 19, 2.

Israels Haltung gegenüber den Kanaanäern und anderen Völkern

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und es entstand eine vorwiegend friedliche Koexistenz. An anderen Stellen hat es Kämpfe gegeben, weil israelitische Stämme ihre Ansprüche mit Gewalt durchsetzen wollten. Zwar erscheint es unwahrscheinlich, daß sie eine Stadt wie Hazor erobert haben, weil sie dazu zu schwach und zu gering an Zahl waren; auch Jericho und Ai sind nach dem archäologischen Befund nicht erobert worden 7 . Aber daß es schwere Kämpfe gegeben hat, zeigen der Untergang der Stämme Rüben und Simeon und die erzwungene Wanderung des Stammes Dan vom westjudäischen Hügelland in den Norden Palästinas. Schließlich stellt Jdc 1 sachlich und nüchtern die Erfolge oder Mißerfolge fest. Da ist kein Haß, nicht einmal Feindschaft. Die Kanaanäer spielen gar keine eigene Rolle. Vielmehr wird, abgesehen von einigen erzählenden Zügen, einfach registriert, wieweit die israelitischen Stämme ihren Anspruch auf das Land durchsetzen konnten und wieweit es ihnen nicht gelungen ist oder erst die Zeit Davids und Salomos eine Änderung brachte. Ein Beispiel: »Manasse vertrieb nicht (die Bewohner von) Bet Sean und den zugehörigen Ortschaften, Taanak und den zugehörigen Ortschaften, die Bewohner von Dor und den zugehörigen Ortschaften, die Bewohner von Jibleam und den zugehörigen Ortschaften und die Bewohner von Megiddo und den zugehörigen Ortschaften. So konnten die Kanaanäer in dieser Gegend wohnen bleiben. Als Israel erstarkt war, machte es die Kanaanäer fronpflichtig, vermochte sie aber nicht zu vertreiben« (Jdc 1 2 7 f f . ) . In der Zeit vor David bestand eine friedliche Koexistenz der Israeliten und der eingesessenen Bevölkerung, die nur zeitweilig von Perioden der Spannung und des Kampfes unterbrochen wurde. Die Folge war, daß während der Zeit der Ruhe und Koexistenz die Israeliten von der eingesessenen Bevölkerung in politischer, religiöser und kultureller Hinsicht beeinflußt wurden 8 . Von der Zeit Davids an ändert sich die Haltung der Israeliten gegenüber den Kanaanäern. II. 1. Es ist bekannt, daß Davids Sieg über die Philister, die die Nachfolger der ägyptischen Oberherrn Palästinas geworden waren, ihm diese Oberherrschaft eintrug und daß ihm dadurch die kanaanäischen Stadtstaaten anheimfielen9. So lebten nunmehr Israeliten und Kanaanäer in 7

8

Vgl. auch J . B. Pritchard, Arkeologiens plats i studiet av Gamla Testamentet, S E A 30 (1965), 5 - 2 0 . Vgl. A . H . van Zyl, The Relationship of the Israelite Tribes to the Indigenous Population of Canaan according to the B o o k of Judges, O u T W P , 1959, 51—60; Israel and the Indigenous Population of Canaan according to the B o o k s of Samuel, O u T W P , 1960, 67-80.

9

A . A l t , Das Großreich Davids, T h L Z 75 (1950), 2 1 3 - 2 2 0 ( = Kleine Schriften zur G e schichte des Volkes Israel, II 1953, 6 6 - 7 5 ) .

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II. T h e m e n

einem Staat unter einer gemeinsamen Regierung neben- und miteinander, und zwar mit gleichen Rechten und Pflichten. Mit Rücksicht darauf hat sich als erste Grundauffassung eine von politischen Interessen bestimmte Haltung gegenüber den Kanaanäern gebildet. Ihr entsprechend hat David die kanaanäischen Jebusiter in Jerusalem wohnen lassen und den wahrscheinlich kanaanäischen Priester Zadok mit Aufgaben des Jhwh-Kultes betraut 1 0 . In welchem Maße er das kanaanäische Element berücksichtigt, zeigt sich daran, daß im Gegensatz zu seinen in Hebron geborenen Söhnen die Namen der in Jerusalem geborenen in keinem Falle »Jhwh« als theophoren Teil aufweisen, wohl aber in mehreren Fällen »El« und daß sein Sohn Jedidja »Liebling Jhwhs« den Namen Salomo erhielt oder annahm, der ebenso wie der Name des Davidsohnes Absalom mit dem Gottesnamen Schalim zusammenhängt, der auch im Namen »Jerusalem« enthalten ist 1 1 . Salomo hat das Staatsgebiet von Nordisrael in zwölf Distrikte eingeteilt. Dabei hat er so weit wie möglich das Nebeneinander von israelitischen Stammesgebieten und kanaanäischen Stadtstaatengebieten berücksichtigt.' Doch war eine völlige Trennung nicht möglich, weil in manchen Gegenden Stammesbesitz und Stadtbesitz ineinander übergingen. Sie gehörten dann zum gleichen Distrikt, so daß Israeliten und Kanaanäer in einem Distrikt unter einem königlichen Beamten miteinander lebten. Es war aus politischen Gründen unerläßlich, daß sie einander rechtlich völlig gleichgestellt waren, ja daß die Regierung versuchen mußte, eine allen gemeinsame ideologische Grundlage zu schaffen, praktisch also eine Staatsreligion. Das wurde durch den von phönizischen Handwerkern und nach kanaanäischem Vorbild in Jerusalem errichteten Tempel eingeleitet. Damit begann in Juda ein staatlich geförderter Synkretismus 1 2 , der auf eine Verschmelzung von Jhwh-Religion und kanaanäischer Religion hinauslief — nur unterbrochen oder zurückgedrängt durch die sog. Reformen einiger Könige. Die politisch bedingte tolerante Haltung gegenüber den Kanaanäern hatte also religiöse Folgen, die vielen bedenklich erscheinen mußten. In Nordisrael blieben solche Versuche anscheinend auf die staatlichen Heiligtümer in Betel und Dan beschränkt, die ein Stierbild erhielten, wie Hosea es später auch für Samaria voraussetzt (Hos 8 5f. 10 5f.). Abgesehen davon wurde das kanaanäische Element zurückgedrängt. Eine Ausnahme bildet die Dynastie Omris, die die Spannungen zwischen beiden Teilen der Bevölkerung auszugleichen und Israeliten und Kanaanäer paritätisch zu behandeln suchte. Da dies praktisch einer Förderung der kanaanäischen 10

Vgl. vor allem H . H . R o w l e y , Zadok and Nehushtan, J B L 58 (1939), 1 1 3 - 1 4 1 ; Melchizedek and Zadok ( G e n 14 and Ps 110), in: Festschrift A . Bertholet, 1950, 4 6 1 - 4 7 2 .

11

Vgl. G . F o h r e r , Zion-Jerusalem im Alten Testament, T h W N T V I I , 3 0 1 , in: Studien zur

12

J . A . Soggin, D e r offiziell geförderte Synkretismus in Israel während des 10. Jahrhunderts,

alttestamentlichen Theologie und Geschichte ( 1 9 4 9 - 1 9 6 6 ) , 1969, 1 9 5 - 2 4 1 . Z A W 78 (1966), 1 7 9 - 2 0 4 .

Israels H a l t u n g gegenüber den Kanaanäern und anderen Völkern

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Minderheit gleichkam und da das Königtum zu einer vom Volke unabhängigen Institution mit dynastischen und absoluten Rechten umgebildet werden mußte 1 3 , wird der Rückschlag in der Ausrottung der Dynastie Omris verständlich. 2. Der politischen steht eine religiös bestimmte Haltung gegenüber, die als zweite Grundauffassung erkennbar ist und ihrerseits die politischen Verhältnisse zu beeinflussen suchte. Wir treffen sie sowohl in den Quellenschichten J und E als auch im Deuteronomium 1 4 . Dabei besteht zwischen beiden ein gewisser Unterschied. J und E sprechen überwiegend vom Vertreiben der Kanaanäer und nur gelegentlich vom Vernichten (Jos 9), das Deuteronomium spricht vor allem vom Erschlagen, Ausrotten und Vertilgen der Kanaanäer — insbesondere durch den Bann —, daneben auch vom Vertreiben. Es ist also kein grundsätzlicher, sondern ein gradweiser Unterschied. Die deuteronomische Forderung ist strenger und radikaler als die von J und E; doch war sie gegen Ende des 7. Jh. praktisch wohl von rein theoretischer Art. Zur Kennzeichnung dieser Haltung reicht es aus, J zu zitieren. Grundlegend für seine Ansicht ist Ex 34 11 f. (für E vgl. Ex 23 28. 3 2 f . ) . Jhwh spricht: »Siehe, ich will vor dir die Amoriter, die Kanaanäer, die Hetiter, die Peresiter, die Hiwwiter und die Jebusiter vertreiben. Hüte dich wohl davor, der Bevölkerung des Landes, in das du kommst, Zusicherungen zu geben. Sie könnte sonst, wenn sie unter dir wohnen bleibt, zu einem Fallstrick werden.« Es handelt sich darin um einen geschlossenen formgeschichtlichen und motivgeschichtlichen Zusammenhang von drei Gliedern: a) Vertreibung der Kanaanäer durch Jhwh, damit die Zusage des Landbesitzes verwirklicht wird; b) Warnung an die Israeliten, durch Zusicherungen (wie an Gibeon), vielleicht in Verträgen festgelegt, Ausnahmen von der Vertreibung zu machen; c) mit der Begründung, daß dies religiöse Gefahren nach sich ziehen werde, nämlich die Verführung zum Abfall von Jhwh. Die religiöse Haltung geht aus von der Verheißung des Landes, die den Kern der Uberlieferungen des Hexateuchs bildet, und von der inzwischen entstandenen Auffassung, daß Palästina das Land Jhwhs sei, aus dem er infolgedessen die eingeborene Bevölkerung vertreiben kann, um seine Zusage zu verwirklichen. Daß trotzdem Kanaanäer im Lande zurückgeblieben sind, muß eigens erklärt werden, so in Jos 9 und in Jdc 11 1-5. Formal ist daher das erste der drei genannten Glieder das primäre: das Motiv 13 14

Vgl. G . Fohrer, Elia, 1968 2 . Sie w a r nicht n u r in exklusiv-konservativen Kreisen vertreten, wie F . E. Eatkin, J r . , Yahwism and Baalism before the Exile, J B L 84 (1965), 4 0 7 - 4 1 4 , meint.

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II. Themen

der Vertreibung. Die Warnung yor Verträgen mit der Begründung — d . h . das zweite und dritte Glied — bilden eine Erweiterung. Sie soll den religiösen Einfluß der Kanaanäer auf Israel mit dem daraus folgenden Abfall von Jhwh als Wirkung dessen erklären, daß die Kanaanäer nicht vollständig vertrieben worden sind, weil die Israeliten sie aufgrund von Zusicherungen und Verträgen im Lande geduldet haben. Das zeigt, daß der wirkliche Ausgangspunkt der den Kanaanäern feindlichen religiösen Haltung jener Synkretismus war, der durch die tolerante politische Haltung gefördert wurde. Sachlich ist daher das dritte Motiv maßgeblich: die religiöse Gefährdung. Sie wäre vermieden worden, wenn man den Kanaanäern nicht Zusicherungen gegeben hätte, die sie zum Bleiben berechtigten, sondern wenn man sie bis zum letzten Mann vertrieben hätte. 3. Die beiden Haltungen — die politische und die religiöse — sind Gegensätze. Zum offenen Konflikt ist es freilich selten gekommen; es geschah vor allem in den Auseinandersetzungen zwischen Ahab und Elia und in der Ausrottung der Dynastie Omris durch die Revolution Jehus, an der so entschiedene Verfechter der Jhwh-Religion wie Elisa und Jonadab ben Rekab beteiligt waren. Doch die Nachwirkung ist noch in späteren Jahrhunderten zu beobachten.

III. Bei den großen Propheten der vorexilischen Zeit beobachten wir eine ganz andere Auffassung. Sie beginnt damit, daß das Land nicht als der ewige Besitz Israels gilt. Gewiß hat Jhwh das Volk von Ägypten aus dorthin geführt (Hos I i i ) — freilich auch die Philister aus Kaphtor und die Aramäer aus Kir (Am 9 7) — und sogar die Amoriter vor ihnen vernichtet (Am 2 9). Doch schon am Rande des Kulturlandes, in Baal-Peor, weihten sie sich dem Baal und wurden abscheulich wie ihr Liebhaber (Hos 9 10). Seitdem ist Israel sündig geworden und sündig geblieben. Deswegen wird Jhwh sie ins Exil jenseits von Damaskus bringen (Am 5 27); sie müssen nach Assyrien gehen, Ägypten wird sie einsammeln und Memphis sie begraben (Hos 9 6); oder sie sollen nach Ägypten zurückkehren und Assyrien soll ihr König sein, weil sie sich geweigert haben, zu Jhwh umzukehren (Hos 11 5). Dies ist die Situation Israels: Wenn ihr willig seid und gehorcht, dürft ihr das G u t des Landes essen. Wenn ihr euch aber weigert und widerspenstig seid, werdet ihr 'vom' Schwert gefressen.

(Jes 1 I9f.)

Dem veränderten Verhältnis zum Land entspricht es, daß die Propheten keine Vertreibung oder Ausrottung der Kanaanäer propagieren, wie es J nur kurze Zeit vor Arnos und Hosea um 850—800 und E gegen 750

Israels Haltung gegenüber den Kanaanäern und anderen Völkern

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und zur Zeit Jeremias das Deuteronomium getan haben. Die Propheten wenden sich nicht gegen die Kanaanäer, sondern gegen das auf dem religiösen Gebiet kanaanisierte Israel. Damit ist auch die den Synkretismus fördernde politische Haltung ausgeschlossen. Die Propheten vertreten also eine dritte eigene Haltung: Israel befand sich in Palästina, in der kanaanäischen Umgebung, in einer Situation, in der es sich bewähren und Jhwh treu bleiben sollte. Nicht einmal die Kanaanäer selbst, sondern ihre Religion war das Element der Versuchung. Damit kam weder eine Vermischung mit den Kanaanäern und ein Synkretismus in Frage, noch ihre Vertreibung und Ausrottung, um die Versuchung auszuschalten. Vielmehr sollte Israel in der bleibenden Versuchung sich bewähren und festbleiben. Doch darin hat es versagt. Die prophetische Auffasung bedeutet nicht, daß die Propheten sich ganz auf Israel zurückziehen und die anderen Völker überhaupt nicht in ihre Verkündigung einbeziehen. Im Gegenteil, sie sehen Jhwh als den Herrn der Welt, der die Schicksale anderer Völker und Menschen lenkt. Sein Handeln an Israel ist nur ein Sonderfall seines die ganze Welt umfassenden Wirkens. So verhält es sich schon bei Arnos, der dem Exodus aus Ägypten die Führung der Philister und Aramäer gleichstellt und der neben dem Strafgericht über Israel das Strafgericht über die Philister und Aramäer, über Ammon und Moab verkündigt — später erweitert um Tyrus, Edom und Juda. Die Auswahl der Völker ist nicht dadurch bestimmt, daß Arnos sich auf das Gebiet des Reiches David beschränkt hat, entweder weil sein Blick nicht weiter reichte oder weil er die abgefallenen Staaten aus nationalen Gründen verurteilte 15 . Moab wird ja nicht wegen eines Vergehens gegen Israel bedroht, sondern »weil es die Gebeine des Königs von Edom zu Kalk verbrannt hat« (Am 2 l). Außerdem befand sich Assyrien damals in einem Zustand des Niedergangs und der Schwäche, so daß es nicht gegen Syrien und Palästina vordringen konnte. Vielmehr hat Arnos die genannten Völker ausgewählt, weil er analog den ägyptischen Ächtungstexten einem geographischen Schema folgt: Syrien Norden, Philister Westen, Ammon und Moab Osten, Israel Mitte. Analog den Ächtungstexten will Arnos seine Worte auf diese Weise als wirksame Ankündigungen kennzeichnen 16 . Nachdem Tiglatpileser II., der 745 den Thron bestieg, die assyrische Weltmacht von neuem begründet hat, sprechen Hosea und Jesaja von den Assyrern und von ihrem Gegenspieler Ägypten. Vor allem Jesaja versteht 15

So L. Rost, Das Problem der Weltmacht in der Prophetie, ThLZ 90 (1965), 2 4 1 - 2 5 0 .

16

Vgl. im einzelnen G . Fohrer, Prophetie und Magie, in: Studien zur alttestamentlichen Prophetie ( 1 9 4 9 - 6 5 ) , 1967, 2 4 2 - 2 6 4 .

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II. Themen

Assyrien als das Werkzeug Jhwhs, das er für seine Pläne benutzt. Er pfeift das assyrische Heer herbei, damit es Damaskus und Samaria besiegt, Juda überschwemmt und es völlig verwüstet. In einer kühnen Schau sieht Jesaja Jhwh als den Gebieter der damaligen Weltmacht, die nach Syrien und Palästina vordringen kann, weil sie die Strafgerichte Jahwes gegen die Völker vollstrecken soll. Ja, als Jesaja erkennen muß, daß die Assyrer gar nicht daran denken, ein gehorsames Werkzeug Jhwhs zu sein, sondern daß sie im Interesse ihrer Weltmachtpläne handeln, verwirft er sie und droht ihnen sogar die Vernichtung an. Übrigens ist dieses Nacheinander — zuerst Werkzeug, dann Verwerfung — bei Ezechiel zur Gleichzeitigkeit unter verschiedenen Blickwinkeln geworden: Jhwh beauftragt G o g , den Großfürsten von Mesech und Tubal, der seinerseits einen bösen Plan ersinnt (Ez 38). Für Jeremia ist es schon selbstverständlich, daß Jhwh eine fremde Großmacht holt, um Juda zu bestrafen. D a aber in den ersten Jahren der Tätigkeit des Propheten im Vorderen Orient keine Großmacht existierte, weil Assyrien zerfiel und das neubabylonische Reich erst entstand, kündigte er einen unbekannten, sagenhaften Feind aus dem Norden an, bei dem es sich wahrscheinlich um eine Nachwirkung des verheerenden Hereinbrechens des Seevölker in den Vorderen Orient gegen Ende des 13. Jh. handelt. Später hat Jeremia ihn mit dem inzwischen mächtigen neubabylonischen Reich identifiziert. Sieht man diesen die ganze Welt umspannenden Rahmen der prophetischen Verkündigung, so wird auch dadurch verständlich, daß eine kleine Gruppe von Kanaanäern in Palästina darin keine wichtige Rolle spielen konnte. Grundlegend aber war ihre Beurteilung als Element der Versuchung für Israel, das ständig in einer Situation der Entscheidung und Bewährung lebt. An alledem erkennen wir die durchaus eigene Theologie der Propheten. IV. Wenigstens einen kurzen Blick müssen wir auf die nachexilische Zeit werfen. Kurz gesagt, wirken in ihr die frühere politische und religiöse Haltung sowie die prophetische Einbeziehung fremder Völker nach, die in verschiedener Weise miteinander kombiniert werden, vor allem in der eschatologischen Prophetie. Modifiziert wird das dadurch, daß das nachexilische Israel keine Verfügungsgewalt über sein Land hat, sondern in einer Provinz eines Großreiches lebt und den neuen und endgültigen Besitz des Landes erst von der eschatologischen Wende erwarten kann. 1. Wir bemerken in dieser Lage einmal eine offene Haltung gegenüber den anderen Völkern, wie es der früheren politischen Haltung gegenüber den Kanaanäern entsprach. Jedoch führt diese Auffassung nicht mehr zum

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Synkretismus, vielmehr erwartet man umgekehrt die Bekehrung der Völker zu Jhwh. Darin wirkt sich der Einfluß der vorexilischen Prophetie aus, und es ist auch ein Prophet gewesen, der diese Haltung erstmalig vertreten hat: Deuterojesaja. Er bezeichnet sogar den persischen König Kyros als den Gesalbten Jhwhs, d. h. als den von ihm berufenen Herrscher, und er erwartet, daß die Erfolge des Kyros ihn zu der Einsicht bringen werden, Jhwh sei der wahre und alleinige Herr, und daß er sich zu ihm bekehren wird (Jes 45 1-3). Die Völker aber werden friedlich zum Berge Zion wallfahren in der Absicht, Jhwh zu suchen und sich von ihm Weisung zu holen; so verheißt es der unbekannte Prophet von Jes 2 2 - 4 (par. Mi 4 1 - 3 ) in einer Umwandlung des noch zu nennenden Motivs vom Völkerkampf. In Jerusalem wird Jhwh den Völkern das Mahl bereiten, das seine eschatologische Herrschaft einleitet und das sie — wie das Mahl Moses und der Ältesten am Sinai (Ex 24 11) — in die Gemeinschaft mit Gott einbezieht (Jes 25 6 - 8 ) . In der Einbeziehung der Völker in das eschatologische Reich Jhwhs vollenden sich die Herrschaft Gottes und die Gemeinschaft mit ihm. Dazu tritt der Gedanke, daß Israel dies alles beschleunigen kann, indem es unter den Völkern Mission treibt und sie zu bekehren sucht. Auch dies findet sich erstmalig bei Deuterojesaja, wo vor allem der »Knecht Jhwhs« damit beauftragt ist. 2. Gegenüber dieser unrealistischen und utopischen Haltung, die bald gescheitert ist, steht wie in der vorexilischen Zeit eine ablehnende und feindliche. Wegen der Machtlosigkeit der Kultgemeinde von Jerusalem ist sie vielfach ebenfalls eschatologisch bestimmt und erwartet das Gericht über die Völker am künftigen Tage Jhwhs bei Jerusalem wie Joel 4, durch einen allgemeinen Feldzug gegen die gottfeindliche Weltmacht wie Jes 13 oder durch den Sturz des Weltherrschers in die Unterwelt wie Jes 14 1-23. Damit verbunden ist die Leibeigenschaft der Völker (Jes 14 2) wie der Frondienst der Kanaanäer im Reich Salomos. Man erwartet aber auch den Sturm und Kampf der Völker gegen Jerusalem, den Jhwh oder Israel blutig zurückschlägt und durch den das eschatologische Gericht vollstreckt wird (Jes 8 9f. 17 12-14 Mi 4 11-13 Sach 1 2 - 1 4 ) . In dieser Vorstellung sind mehrere Elemente zusammengeflossen: die Ankündigung des sagenhaften Feindes aus dem Norden bei Jeremia, die Auffassung Ezechiels, daß dieser Feind nicht mit den Babyloniern zu identifizieren, sondern in der Gestalt Gogs noch zu erwarten sei, und die durch die Jesajalegende verbreitete Gewißheit von der Niederlage der Feinde, damals der Assyrer, und der Rettung Jerusalems durch Jhwh. Doch auch diese Erwartung mußte notwendigerweise scheitern. Sie wurde unter Anknüpfung an das deuteronomische Verbot des Connubium (Dtn 7) durch eine Art Ersatz ausgeglichen, wie man vom babylonischen Exil an viele kultische Ersatzformen pflegte: durch die Absonderung von anderen Völkern. Der Gegensatz zwischen den beiden Haltungen wiederholt sich schließlich in der Spätzeit: einerseits die offene Haltung gegenüber der

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II. Themen

hellenistischen Kultur, die von Kreisen der Priester in Jerusalem gefördert wurde, andererseits die schroffe Ablehnung dessen — teils durch verschärfte Absonderung wie bei den Essenern, teils durch den Umschlag zu offenem Kampf wie in den Kriegen der Makkabäer. Nur die dritte, die prophetische Haltung scheint von der nachexilischen Zeit an zu fehlen. V. Blicken wir zum Abschluß auf die ganze Entwicklung zurück. Sie geht aus von dem Landanspruch der frühen vorexilischen Zeit, der zunächst teilweise durchgesetzt wird. Gegenüber den Kanaanäern nimmt die politische Haltung den religiösen Synkretismus in Kauf, um den Landbesitz zu sichern, während die religiöse Haltung gerade jenen Synkretismus zum Anlaß nimmt, um die Vertreibung oder Ausrottung der eingesessenen Bevölkerung zu fordern, weil der von der politischen Richtung geforderte Ausgleich mit ihr den Besitz des Landes gefährde. Dagegen sehen die Propheten diesen Besitz nicht durch die Einbeziehung der Kanaanäer gesichert oder durch ihr Dasein gefährdet. Vielmehr sehen sie das Land, ja die Existenz Israels durch sein eigenes Versagen an Stelle der geforderten Bewährung in der Versuchung bedroht. Die nachexilische und hellenistische Zeit, die die politische und die religiöse Haltung neu interpretieren, haben sich in unerfüllbaren Hoffnungen verloren oder in Kämpfen aufgerieben. So können wir eine Folgerung ziehen, die in ähnlicher Weise für andere Erscheinungen der religiösen Geschichte Israels gilt: Die politischen offenen und die religiösen ablehnenden Haltungen haben den Besitz des Landes, an dem ihnen gelegen war, durch ihre Bemühungen gerade verscherzt, weil sie darüber das Wesentliche des alttestamentlichen Glaubens aus den Augen verloren haben. Dagegen haben die Propheten erkannt, daß es besser sei, sich nicht um den Besitz des Landes zu sorgen, sondern sich in der rechten Grundhaltung gegenüber Gott zu bewähren, weil aus ihr alles andere, auch der Besitz des Landes, folgt — mit den Worten Jesajas: W e n n ihr willig seid und gehorcht, dürft ihr das G u t des Landes essen. Wenn ihr euch aber weigert und widerspenstig seid, werdet ihr 'vom' Schwert gefressen.

Zur Einwirkung der gesellschaftlichen Struktur Israels auf seine Religion I. Im Verlauf seiner Geschichte hat Israel tiefgreifende Wandlungen seiner gesellschaftlichen Struktur erfahren. Am Anfang dieser Geschichte standen weder ein Volk noch eine ethnisch einheitliche und in sich geschlossene Gruppe von Stämmen. Vielmehr handelte es sich um Sippen, Gruppen und Stämme von sehr unterschiedlicher Herkunft, deren gemeinsames Merkmal darin bestand, daß sie Nomaden oder Halbnomaden mit dem Bestreben nach Seßhaftwerden im Kulturlande waren. Ihre religiösen Vorstellungen waren weitgehend dadurch geprägt. Nach der Landnahme in Palästina bildete sich unter Einbeziehung weiterer Volkselemente, die nicht zuletzt kanaanäischen Ursprungs waren, allmählich das israelitische Volk. Der Übergang zur Seßhaftigkeit und zum Ackerbau, den der größere Teil der Israeliten vollzog, führte zu einer weitreichenden Umbildung der gesellschaftlichen Organisation, die die Religion und ihren Kultus einschloß. Aus der notvollen Lage der vorstaatlichen Zeit in Palästina — gekennzeichnet durch die kriegerische Auseinandersetzung mit den Kanaanäern, die Abwehr neuer Eindringlinge aus Steppe und Wüste und die Kämpfe mit den meist überlegenen Philistern — erwuchs nach zeitlich und örtlich beschränkten Anfängen das Königtum. Es zeitigte durch die Organisation des Staates weitere gesellschaftliche Wandlungen. Vor allem wirkten die politisch-gesellschaftlichen Erfordernisse, die sich insbesondere aus dem gleichberechtigten Zusammenleben von Israeliten und Kanaanäern im Staat ergaben, auf die religiösen Verhältnisse ein und hatten einen staatlich geförderten Synkretismus zur Folge, der schließlich das Wesen des JhwhGlaubens gefährdete. Auch in der Folgezeit ergaben sich soziale und wirtschaftliche Wandlungen infolge des Hineinwachsens in die Stadtkultur und des Ubergangs von der Natural- und Tauschwirtschaft zur Geld Wirtschaft. Sie riefen — wie schon das Problem einer dem Bauerndasein angemessenen Form des Jhwh-Glaubens und das Ringen mit der synkretistischen Tendenz des Königtums — neue religiöse Reaktionen hervor, die der Religion Israels wesentliche Züge verliehen haben. Zweifellos haben auch die religiösen Vorstellungen und Verhältnisse von Anfang an in geringerem oder größerem Maße die gesellschaftliche Struktur beeinflußt. Dies gilt in erster Linie vom Jhwh-Glauben, der beispielsweise auf das Rechtsleben und die Form des Königtums in Israel ein-

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gewirkt hat und der in der deuteronomischen Reform des Königs Josia für die Gestaltung des gesamten Volkslebens und Staatswesens richtungweisend sein sollte. Doch diese Fragen sind bereits des öfteren erörtert worden, während der umgekehrte Vorgang — die Einwirkung der gesellschaftlichen Situation und der gesellschaftlichen Kräfte auf die Religion — bisher wenig Beachtung gefunden hat. Daher sollen im folgenden unter Beschränkung auf die vorexilische Zeit einige Beobachtungen und Feststellungen zusammengetragen werden. II. Weithin nimmt man an, daß die Frühisraeliten Kleinvieh- bzw. Eselnomaden waren, die von der Steppe regelmäßig ins Kulturland wechselten und in reger Beziehung zu ihm standen, bis sie sich unter dem Einfluß des Kulturlandes zu Halbnomaden auf dem Wege zum Seßhaftwerden entwikkelten und schließlich den letzten Schritt zur festen Niederlassung taten. So werden auch die Patriarchen als hin- und herziehende Kleinviehbesitzer geschildert, die am Recht auf die für ihr Vieh lebenswichtigen Brunnen interessiert sind, sich gelegentlich schon Besitztum an Grund und Boden sichern und mit der Viehzucht eine gewisse Ackerkultur verbinden. Solches Nomadendasein führt zu bestimmten gesellschaftlichen Formen und weist charakteristische Verhaltensweisen und religiöse Eigenarten auf. Zwei grundlegende Lebensgesetze, die für lange Zeit die Wandlung der gesellschaftlichen Struktur nach der Seßhaftwerdung überdauert haben, waren die weitgehende Gastfreundschaft mit der Schutzpflicht des Gastgebers für den Gast und die Verfolgung des zustehenden Rechts auf dem Wege der privaten Vollstreckung, vor allem durch die Blutrache. Auch andere urtümliche Handlungen und Haltungen sind nach dem Ubergang zum seßhaften Leben erhalten geblieben, weil sie entweder in Glauben und Kultus der späteren Zeit integriert wurden oder neben der anerkannten Religion als von ihr bekämpfter Aberglaube fortbestanden. Dazu gehören die Beschneidung, ein Teil der Trauerbräuche und eine Reihe von Tabus 1 . Durch die gesellschaftliche Struktur bedingt und geformt sind die frühisraelitischen Sippenreligionen (bzw. Stammesreligionen). Da jede Sippe (und wohl auch jeder Stamm) einen jeweils eigenen Gott verehrt hat, gab es eine Vielzahl solcher Religionen 2 ; daher hat die alttestamentliche Uberlieferung mit der Feststellung recht, daß die Väter andere Götter verehrt haben (Gen 35 l - 7 j o s 24 2. I 4 f . ) . Solche Götter waren d e r p ä h ä d j i s h a q , der bir jaaqob, der ^äbärt jisrael und vielleicht der magen Abraham. Zumindest in diesen Fällen spielte die persönliche Beziehung zwischen der Gottheit und dem Sippengründer und Kultstifter eine wesentliche Rolle. 1

Vgl. G . Fohrer, Geschichte der israelitischen Religion, 1969, § 2, 3.

2

W . Eichrodt, Religionsgeschichte Israels, in: Historia Mundi, II 1953, 378.

Zur Einwirkung der gesellschaftlichen Struktur Israels auf seine Religion

119

Der Sippengott war weder ein Himmelsgott noch an ein lokales Heiligtum gebunden, sondern ein Wege- und Schutzgott der wandernden Nomaden. Das Gottesbild ist ganz und gar durch die Eigenart der nomadischen Gesellschaft geformt. W. Eichrodt hat es folgendermaßen beschrieben: Die Nomaden »wissen sich auf göttliche Leitung besonders angewiesen, da sie zwischen eifersüchtigen und oft feindlichen Mächten sich hin- und herbewegen und mit ihrem schwerfälligen Troß nur kleinere Märsche machen, ohne, wie der leicht bewegliche Beduine, jedem Schlag ausweichen zu können. Wo aber die Wüste bereits durch ihre Unwirtlichkeit schreckt und die Nähe des Kulturlandes mit seinen oft wenig günstigen Bewohnern Lebensbedürfnis ist, da flüchtet sich der Mensch in die Obhut des Gottes, der die Wege und ihre Gefahren kennt und sicher hindurchleitet, der aber auch die Herzen der Anwohner günstig stimmt und die Verträge mit ihnen unter seinen Schutz nimmt (Gen 21 22 ff. 23 3 ff. 26 26 ff. 31 4 4 f f . 33 1 9 f . 34 8 f f . 35 5 38 l ) . Von ihm kommt das Gedeihen der Herden, auf dem der Reichtum der Wandernden beruht, von ihm auch die schlaue List, die dem Schwachen gegen den Starken hilft und ihn in verzweifelten Lagen einen rettenden Ausweg finden läßt (Gen 20 2ff. 26 7ff. 30 31 ff. 31 7ff. 32 7ff.).« Die Redewendung, daß die Gottheit »mit« dem Menschen ist oder sein will, drückt dies alles am besten aus 3 . So tritt deutlich »die Besonderheit des soziologischen Verbandes zutage, der . . . das religiöse Verhältnis trägt.« 4 Ein weiterer Zug, der bei den schon nach Landbesitz strebenden Frühisraeliten hinzutritt, ist die göttliche Zusage solchen Besitzes, die neben der Verheißung zahlreicher Nachkommenschaft steht. So erzählt J in Gen 15 l b ß - 2 . 7 - 1 2 . 1 7 - 1 8 , wie Abraham nach seiner Klage über seine Kinderlosigkeit auf Geheiß Jhwhs aus getöteten und teilweise zerteilten Tieren eine Gasse bildet, durch die nach Einbruch der Dunkelheit ein rauchender Ofen und eine Feuerfackel hindurchfahren. A n jenem Tage gab J h w h dem Abram eine Zusicherung und sprach: »Deinen Nachkommen will ich dieses Land geben, vom Strom Ägyptens bis zum großen Strom dem Euphratstrom.«

Dem liegt, wenn es sich auch nicht um den ursprünglichen Wortlaut handelt, eine alte Uberlieferung zugrunde. Nach ihr hat die Gottheit eine Verheißung von Landbesitz und Nachkommenschaft gegeben und ist zwecks ihrer Verwirklichung eine dauernde Verpflichtung eingegangen. Derartige Uberlieferungen gehören zum Urgestein der Patriarchen- und Moseerzählungen 5 . In ihnen kehren die Darstellungen von Gotteserscheinungen mit Segen, Kulturlandbesitz- und Nachkommenverheißung häufig wieder. Formal und inhaltlich bilden sie als Landanspruchserzählungen oder sogar 3

Vgl. dazu H. D . Preuß, ». . . ich will mit dir sein!,« Z A W 80 (1968), 1 3 9 - 1 7 3 .

4

W . Eichrodt a . a . O . 378.

5

Vgl. G . Fohrer, Einleitung in das Alte Testament, 1 9 7 9 1 2 , § 19.

120

II. Themen

als Landnahmeerzählungen verschiedener israelitischer Gruppen, die sich auf die Verheißungen ihrer Sippengötter beriefen, den alten Kern der Pentateuchüberlieferung. Damit zeigt sich erneut, daß die Erfordernisse und Bedürfnisse der nomadischen Gesellschaft die frühisraelitischen Sippenreligionen, aber auch den mosaischen Jhwh-Glauben bestimmt haben. Dies gilt ebenso für den Kultus. So dürfte das Passa-Opfer ursprünglich zu Beginn der im Frühjahr erfolgenden Wanderung aus der Steppe in das Kulturland stattgefunden haben 6 . Das von der Moseschar mitgeführte Zelt kann als eine Art Wanderheiligtum gelten, wie es den Notwendigkeiten des nomadischen Lebens entspricht; nach arabischen Parallelen ist anzunehmen, daß es klein und leer war und in erster Linie als Offenbarungsstätte gedient hat, an der man das Losorakel oder den göttlichen Rechtsentscheid einholte. Ein anderes Wanderheiligtum der Nomaden war die tragbare Lade. Entgegen anderslautenden Ansichten war sie weder für das Zelt der Moseschar bestimmt, noch kann sie überhaupt als ein Palladium dieser Gruppe gelten, da erst die priesterschriftliche Darstellung Zelt und Lade zusammengefaßt hat und da die älteste Bezeichnung der Lade den Namen »Jhwh« nicht enthält, sondern »Elohimlade« lautete (I Sam 3 3 4 ll) 7 . Vielmehr war die Lade ein vorpalästinischer und vormosaischer Kultgegenstand einer israelitischen Gruppe und wurde von dieser bei ihrer Einwanderung nach Palästina mitgebracht. Am ehesten dürfte es sich um die mittelpalästinische Stämmegruppe handeln, die die Uberlieferung über die Einwanderung durch den Jordangraben bewahrt hat, in deren Zusammenhang die Lade erwähnt wird, und in deren Bereich die Lade ihren Standort zeitweilig in Gilgal und sodann in Silo erhalten hat. In allen genannten Fällen sind die kultischen Einrichtungen und Gegenstände durch die gesellschaftliche Struktur des Nomadentums bestimmt. Ähnliches zeigt sich schließlich für den ethischen Bereich. Der aus Lev 18 7-12. 14-16 zu erhebende ursprüngliche Dekalog (mit einem jetzt ausgefallenen Satz nach 18 9) weist mit dem Kreis der Personen, mit denen eine geschlechtliche Vereinigung nicht stattfinden soll, auf die Lebensverhältnisse der nomadischen Sippe hin. Diese sollte durch Lebens- und Verhaltensregeln über die sexuelle Betätigung geschützt und umhegt werden. So stellt die Urform von Lev 18 das Zeugnis für ein Sippenethos dar, das der Erhaltung der nomadischen Lebensform diente 8 . Mit alledem sollen die frühisraelitische Religion und der mosaische Jhwh-Glaube keineswegs aus der bestehenden gesellschaftlichen Struktur hergeleitet und aus ihr erklärt werden. Durch letztere wurden nur einzelne 6

Vgl. L. Rost, Weidewechsel und altisraelitischer Festkalender, Z D P V 66 (1943), 2 0 5 - 2 1 6

7

Vgl. J . Maier, Das altisraelitische Ladeheiligtum, 1965.

( = Das kleine Credo und andere Studien zum Alten Testament, 1965, 101 — 112). 8

K . Elliger, Das Gesetz Leviticus 18, Z A W 67 (1955), 1 - 2 5 ( = Kleine Schriften zum Alten Testament, 1966, 2 3 2 - 2 3 9 ) ; Leviticus, 1966, 2 2 9 f f .

Zur Einwirkung der gesellschaftlichen Struktur Israels auf seine Religion

121

Strukturelemente, Einrichtungen und Kultgegenstände bedingt. Unberührt davon sind die grundlegenden Züge des personalen Elements und der Wechselbeziehung zwischen Gottheit und Mensch. Sie stellen unmittelbare und unableitbare Wesensmerkmale des Glaubens dar. III. Nach dem Seßhaftwerden der Israeliten in Palästina war die nomadische Sippen- und Stammesorganisation überholt 9 . In den neuen Verhältnissen wandelten Sippe und Stamm sich in den Orts- und Gauverband um. Da nicht mehr die personelle Zugehörigkeit zu Sippe oder Stamm, sondern die Niederlassung in einer Ortschaft oder einem Territorium maßgeblich wurde, war die Aufnahme von Angehörigen anderer Stämme und von Kanaanäern möglich, wie umgekehrt Israeliten sich in kanaanäischen Städten niederließen. Ferner ergab sich eine neue wirtschaftlich bedingte Gliederung. Der Einfluß der Sippenältesten schwand und ging auf diejenigen über, die über den meisten Grundbesitz verfügten, die Ortsbewohner mit geringerem Besitz in Abhängigkeit von sich brachten, die Ämter bekleideten und oft zu einer Art Adel erwuchsen. Sind die meisten Israeliten zunächst Bauern geworden, die in geschlossenen Ortschaften wohnten, so führte schließlich für einen Teil von ihnen der Weg weiter zu einer Stadtwirtschaft im eigentlichen Sinn. Die daraus folgende Weiterbildung der gesellschaftlichen Struktur war ein Grund für die entstehende Entfremdung und den späteren Gegensatz zwischen Stadt und Land — sofern letzterer nicht wie die Abneigung der judäischen Landbevölkerung gegen Jerusalem darin wurzelte, daß die Stadt eine vorwiegend kanaanäische Einwohnerschaft besaß. Von der veränderten Situation waren die frühisraelitischen Sippenreligionen am stärksten betroffen. Bald wurden die Sippengötter mit lokalen Heiligtümern und nicht mehr mit den seßhaft gewordenen Sippen verbunden; aus Wegegottheiten wurden Ortsgottheiten. Da ferner nur dasjenige von Bestand war, was in dem veränderten Dasein in Palästina fortwirkte, blieben aus der nomadischen Zeit in erster Linie die Sippenkulte selbst und die Namen der Kultstifter lebendig, während die Kultsagen in Vergessenheit gerieten, weil sie keine Beziehung zum Lande hatten. Allmählich starb sogar ein Teil der Kulte ab, weil er dem Dasein im Kulturlande nicht gemäß war. Nur diejenigen, die mit wichtigen Heiligtümern verbunden waren, blieben in der israelitischen Gesamtüberlieferung erhalten. Doch an die Stelle ihrer Kultsagen traten die Heiligtums- und Kultlegenden der jeweiligen, bereits kanaanäisch gewesenen Heiligtümer. Außerdem wurden wenigstens dort, wo es sich um heilige Stätten Eis handelte, die Sippengötter mit diesem gleichgesetzt. 9

Vgl. G . Fohrer, Altes Testament — »Amphiktyonie« und »Bund«?, in: Studien zur alttestamentlichen Theologie und Geschichte ( 1 9 4 9 - 1 9 6 6 ) , 1969, 8 4 - 1 1 9 .

122

II. Themen

Auch der mosaische Jhwh-Glaube wurde nach seiner Einwurzelung in den israelitischen Stämmen von der geänderten gesellschaftlichen Struktur berührt. Zwar ist es aus vielen Gründen unwahrscheinlich, daß die Israeliten nach seiner Übernahme einen sakralen Stämmebund gebildet hätten, der hauptsächlich in der vorstaatlichen Zeit geblüht und mit seinen Institutionen noch lange nachgewirkt haben soll. Aber der Jhwh-Glaube wurde infolge der palästinischen Situation durch die Umweltbedingungen und die kanaanäische Religion betroffen. Denn da sich die Lebensweise der Israeliten im Ubergang zum Ackerbau und danach auch zum Stadtleben der Lebensweise der kanaanäischen Bevölkerung angenähert hatte, ergaben sich notwendig engere Beziehungen zu deren Welt, auch wenn sie ihrem Wesen nach als fremd empfunden wurde. Die Israeliten konnten die Errungenschaften des Kulturlandes nicht ohne die Gedanken und Erfahrungen erlangen, aus denen sie gespeist wurden. Mit der neuen Lebensweise und ihrer gesellschaftlichen Organisation waren die Vorstellungs- und Verhaltensweise aufs engste verquickt, die die Israeliten bei den Landesbewohnern vorgefunden hatten. Unausweichlich näherten sie sich mehr oder weniger stark der kanaanäischen Lebensweise, Kultpraxis und den religiösen Vorstellungen an oder sahen sich genötigt, sich damit kritisch auseinanderzusetzen. 1. Ein erstes Beispiel für die aus der palästinischen Situation sich ergebenden Folgen hängt mit der Ackerkultur zusammen. Nicht nur bei den Kanaanäern, sondern auch bei den Israeliten scheint die Anschauung geherrscht zu haben, daß über den Regen und damit über Fruchtbarkeit und Gedeihen der Vegetationsgott Baal verfüge, während Jhwh in den Geschicken der Völker und Menschen am Werke sei, seinem Volke Israel Hilfe und Schutz gegenüber anderen Völkern gewähre und in Kampf und Schlacht über ihm walte. Dies mußte den israelitischen Bauern dazu führen, den kanaanäischen Gott Baal als bedeutsame Macht anzuerkennen und zu verehren. So haben es wenigstens die Israeliten des Karmelgebietes gehalten, wie die Erzählung von Dürre und Regenspenden in der Eliaüberlieferung zeigt (I Reg 17 l 18 l a ß - 2 . 1 6 - 1 7 . 4 1 - 4 6 ) 1 0 , aber gewiß nicht sie allein. Die Stierbilder, die im israelitischen Reich aus dem Baalkultus übernommen worden waren und als Symbole Jhwhs dienten, besagen genug über die unter den Erfordernissen der gesellschaftlichen Struktur des israelitischen Bauerntums beginnende Umwandlung Jhwhs in eine Erscheinungsform Baals. Natürlich gab es Kräfte, die sich dagegen wandten und auf den herkömmlichen Elementen des alten Jhwh-Glaubens beharrten. Doch sie waren meist konservativer oder sogar restaurativer Art und verknüpften den Jhwh-Glauben mit einer andersartigen gesellschaftlichen Struktur, die im Kulturlande überlebt war. Besonders die Rechabiten, die einigermaßen deutlich in Erscheinung treten, lebten in Palästina wie Nomaden in der 10

Vgl. G . Fohrer, Elia, 1968 2 .

Zur Einwirkung der gesellschaftlichen Struktur Israels auf seine Religion

123

Steppe. Sie lehnten mit der kanaanäischen Religion zugleich die Kultur Palästinas und ihre Folgen für die gesellschaftliche Organisation ab, tranken keinen Wein, bauten kein Haus, bearbeiteten keine Äcker und Weingärten, sondern wohnten in Zelten. So legten sie selbst es dem Jeremia dar, der ihre Treue gegenüber den Anordnungen ihres Gründers mit der mangelnden Treue der Israeliten gegenüber dem göttlichen Willen verglich: Sie sagten: W i r trinken keinen W e i n , denn Jonadab b e n - R e c h a b , unser Ahnherr, hat uns geboten: »Weder ihr noch eure Söhne dürft jemals Wein trinken. Ihr dürft kein Haus bauen, keinen Samen aussäen und keinen Weingarten anpflanzen oder besitzen, sondern ihr sollt euer Leben lang in Zelten wohnen, damit ihr viele Tage auf dem Boden lebt, auf dem ihr hin und her wandert.«

(Jer 35 6 - 7 )

So waren die Rechabiten in Palästina wandernde Nomaden geblieben. In ihrer restaurativen Art verbanden sie den Jhwh-Glauben in seiner nomadischen Form mit der nomadischen Lebenshaltung und Gesellschaftsordnung zu einer unauflöslichen Einheit und hielten deren Annahme für vom göttlichen Willen gefordert und für die Existenz Israels unerläßlich. Doch hätte die allgemeine Befolgung dieser überholten Grundsätze ebenso zum Untergang Israels und des Jhwh-Glaubens geführt wie das schrankenlose Sicheinfügen in die kanaanäische Welt. Von der alten wie von der neuen gesellschaftlichen Struktur her war der Jhwh-Glaube gefährdet. Demgegenüber hat Elia die dem Jhwh-Glauben gemäßen Folgerungen aus der neuen Situation gezogen oder sie zumindest für berechtigt erklärt, falls er sie schon vorgefunden haben sollte: Angesichts einer übermäßig langen Dürre, die die kanaanäische Religion nicht erklären konnte, verkündete er, daß Jhwh diese Unterbrechung des jahreszeitlichen Zyklus bewirkt und daß er — nicht jedoch Baal — den Regen zurückgehalten habe und allein wiederbringen könne. Damit erschien Jhwh erstmalig als Spender des Regens. In der veränderten Situation des israelitischen Bauerntums hat Elia auf diese Weise das Gottesbild des Jhwh-Glaubens ausgeweitet und der gesellschaftlichen Struktur angepaßt: Israel verdankt die Kulturgüter des Landes allein seinem Gott, der nicht nur Hilfe und Schutz vor den Feinden gewähren, sondern zudem ständig seinen Segen walten lassen kann. Damit wurde die Verehrung Jhwhs zu einem dringlichen Anliegen des israelitischen Bauern erhoben; sie entsprach der gesellschaftlichen Struktur seines Lebens. 2. Ein zweites Beispiel ergibt sich aus der Struktur der gebildeten Schicht Israels, die vor allem im Zusammenhang mit dem Königtum und der Organisation des Staates entstanden ist. Seitdem Salomo sich bemüht hatte, sein Reich auch an der internationalen Kultur seiner Zeit und Umwelt teilhaben zu lassen, war mit der Weisheitslehre ein wichtiges Bildungs- und Erziehungsmittel in Israel eingeführt worden 1 1 . Gewiß war 11

Vgl. G . F o h r e r , Die Weisheit im Alten Testament, T h W N T V I I , 4 7 6 - 4 9 6 , in: Studien zur alttestamentlichen Theologie und Geschichte ( 1 9 4 9 - 1 9 6 6 ) , 1969, 2 4 2 - 2 7 4 .

124

II. Themen

sie zunächst auf den Königshof und die der Ausbildung der führenden Schicht dienenden Schulen beschränkt. Doch war gerade dadurch ihr Einfluß beachtlich und in steter Ausdehnung auf weitere Kreise des Volkes begriffen. Vor allem der Form der Lebensweisheit lag ein Ideal der Bildung und Formung des ganzen Menschen zugrunde, das die führende Schicht der Gesellschaft prägte und von dieser aus wieder das gesamte Leben einschließlich der Religion zu beeinflussen imstande war. Mittels der Weisheitslehre sollte der Mensch bewußt erzogen werden — als der »Kaltblütige« (Prov 17 27) im Gegensatz zum »Jähzornigen« (Prov 14 29), als der Mensch mit »gelassenem Sinn« (Prov 14 30), der seine Affekte und Triebe beherrscht. Die dadurch bestimmte Lebensauffassung der führenden Schicht wies zweifellos einen gewissen utilitaristischen und eudämonistischen Zug auf, der nicht ohne Einwirkung auf den Jhwh-Glauben geblieben ist. Jedes wie immer geartete Verhalten entspricht danach nicht nur einer bestimmten Grundhaltung, sondern erstrebt auch einen bestimmten Zweck und Erfolg. Ja, Verhalten und Ergehen des Menschen entsprechen einander. Eine gute Tat muß stets einen guten Erfolg nach sich ziehen, eine Missetat dagegen Unheil. Dieser Vergeltungsglaube ergriff auch den Jhwh-Glauben und führte zu heftigen Auseinandersetzungen, wie vor allem das Buch Hiob für die Spätzeit zeigt. So ergab sich einerseits die Notwendigkeit der Kritik und Abwehr gegenüber der Weisheitslehre, wie schon Jesaja sich gegen die sich klug dünkenden Politiker Jerusalems gewandt (Jes 5 21 29 14 31 1-3) und ihnen die überlegene Weisheit Jhwhs entgegengesetzt hat. Andererseits konnte die Weisheitslehre, die nun einmal der gesellschaftlichen Struktur der Oberschicht ebenso entsprach wie der Glaube an die Fruchtbarkeit gewährende Macht Baals der Struktur des frühen israelitischen Bauerntums, in ihren wesentlichen Zügen unter Abwandlungen und Änderungen ebenso in den Jhwh-Glauben eingefügt werden wie der Glaube an die Segensmacht Jhwhs in der Natur. Auf diesem Wege hat die gesellschaftliche Struktur durch die Aufnahme des Bildungsgutes auf den Glauben eingewirkt. Wie die interreligiöse Weisheitslehre wurden andere Überlieferungen und Vorstellungen, die primär der Struktur der führenden Schicht gemäß waren, dem Jhwh-Glauben angepaßt und zugeordnet, so die Vorstellung vom Schöpfergott und die im Atramchasis-Epos dargelegte Urgeschichte. Beide fanden im Werke von J , der sicherlich aus der gebildeten Schicht Judas stammte, ihren ersten Niederschlag. 3. Ein drittes Beispiel sind die Maßnahmen und Reaktionen, die sich aus dem Entstehen eines durchgebildeten israelitischen Staates ergeben haben. Seit den politischen und militärischen Erfolgen Davids, dem auch die kanaanäischen Stadtstaaten Palästinas zugefallen waren, lebten Israeliten und Kanaanäer in einem Staat unter einer gemeinsamen Regierung neben-

Zur Einwirkung der gesellschaftlichen Struktur Israels auf seine Religion

125

und miteinander und besaßen grundsätzlich gleiche Rechte und Pflichten. Auch die Einteilung des Staatsgebietes von Nordisrael in zwölf Distrikte durch Salomo, die sich möglichst eng an die Territorien der israelitischen Stammesgebiete und kanaanäischen Stadtstaatengebiete anschloß, konnte keine völlige Trennung herbeiführen, weil in manchen Gegenden Stammesbesitz und Stadtbesitz ineinander übergingen. In solchen Fällen lebten Israeliten und Kanaanäer in einem Distrikt unter einem königlichen Beamten miteinander. Aus politischen Gründen war es unerläßlich, daß sie einander rechtlich gleichgestellt waren und daß die Regierung darüber hinaus versuchen mußte, eine allen gemeinsame ideologische Grundlage zu schaffen. Letzteres konnte praktisch nur mittels einer allen gemeinsamen Staatsreligion geschehen; ihre Bildung wurde durch den in Jerusalem von phönizischen Handwerkern und nach kanaanäischem Vorbild errichteten Jhwh-Tempel eingeleitet. Damit begann — bedingt durch die gesellschaftliche Struktur der Bevölkerung des Staates — ein staatlich geförderter Synkretismus, der auf eine Verschmelzung von Jhwh-Glaube und kanaanäischer Religion hinauslief 12 . Dieser Prozeß ging von Jerusalem aus und wirkte sich in einem nicht näher bestimmbaren Maße im Staatsgebiet von Juda aus. Er wurde zwar durch die sog. Reformen einiger judäischer Könige unterbrochen oder zurückgedrängt, aber bis zu den umfassenden Maßnahmen Josias nicht zum Stillstand gebracht oder rückgängig gemacht. In Nordisrael blieb der Prozeß anscheinend auf die staatlichen Heiligtümer in Betel und Dan beschränkt, die ein Stierbild erhielten, wie Hosea es später auch für Samaria voraussetzt (Hos 8 5-6 10 5-6). Sonst wurde das kanaanäische Element zurückgedrängt. Nur die Dynastie Omris suchte Israeliten und Kanaanäer gleichmäßig zu behandeln, führte durch ihr Vorgehen jedoch ihre eigene Ausrottung durch Jehu herbei, nachdem sich die religiöse Opposition in Elia, Elisa und der Quellenschicht E zu Wort gemeldet hatte. Denn in weiten israelitischen Kreisen mußte die politisch bedingte tolerante Haltung gegenüber den Kanaanäern bedenklich erscheinen, weil sich aus der Rücksicht auf die gesellschaftliche Struktur des Staates gefährliche religiöse Folgen — eben die synkretistischen Bestrebungen — ergaben 13 . Aus deren Ablehnung folgte eine völlig andere Grundhaltung, die ihrerseits die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu beeinflussen suchte. Sie findet sich in den Quellenschichten J (Ex 34 1 1 - 1 2 ) und E (Ex 23 28. 3 2 - 3 3 ) : Siehe, ich will v o r dir die Amoriter, die Kanaanäer, die Hetiter, die Peresiter, die Hiwwiter und die Jebusiter vertreiben. Hüte dich wohl davor, der Bevölkerung des Landes, in das du kommst, Zusicherungen zu geben. Sie könnte sonst, wenn sie unter dir wohnen bleibt, zu

12

Vgl. J . A . Soggin, Der offiziell geförderte Synkretismus in Israel während des 10. Jahrhunderts, Z A W 78 (1966), 1 7 9 - 2 0 4 .

13

Vgl. G . Fohrer, Israels Haltung gegenüber den Kanaanäern und anderen Völkern (s. o. 107-116).

126

II. Themen

einem Fallstrick werden. Ich will Entmutigung vor dir hersenden, daß sie die Hiwwiter, die Kanaanäer und die Hetiter v o r dir vertreibt. Gib ihnen und ihren Göttern keine Zusicherungen! Sie sollen in deinem Land nicht wohnen bleiben, damit sie dich nicht zur Sünde gegen mich verleiten. Wenn du ihre Götter verehrtest, würde es dir zu einem Fallstrick werden.

Darin spricht sich eine echte religiöse Opposition gegen die politische und gesellschaftliche Struktur des israelitischen Staates gerade wegen ihrer religiösen Folgen aus. Noch schroffer ist sie im Deuteronomium formuliert, das weniger vom Vertreiben als vielmehr vom Erschlagen, Ausrotten und Vertilgen der Kanaanäer redet. Die Einwirkung der gesellschaftlichen Struktur auf die Religion Israels durch den staatlich geförderten Synkretismus und durch die auf diese Weise geweckte Opposition liegt auf der Hand. IV. Schon die wirtschaftlichen Unternehmungen Salomos hatten zur Folge, daß in Israel eine soziale Umschichtung begann. Auch wenn der Handel königliches Monopol war, gelangte doch ein für das arme Palästina verhältnismäßig großer Reichtum ins Land. Allmählich bildete sich eine Schicht von reichen Städtern, vor allem in Jerusalem. Neben dieser kleinen Schicht entstand eine Schicht von Besitzlosen, die in der Folgezeit immer mehr anwuchs. Diese Situation verschärfte sich durch den Ubergang von der Naturalund Tauschwirtschaft zur Geldwirtschaft, der sich im Verlauf der Königszeit vollzog. Zugleich stellte das in Israel weithin durchgesetzte absolute Königtum altorientalischer Prägung das eigene und staatliche Wohl über dasjenige der »Untertanen« und legte diesen Steuerlasten und Frondienste auf. Dagegen wurde jene Minderheit begünstigt, die zur Geldwirtschaft überging und sich am Handel beteiligte, so daß sie zu Reichtum und Macht gelangte. In Auswirkung dessen dehnte sie ihren Besitz auf Kosten der breiten Volksschichten in zunehmendem Maße aus. Die darauf bezüglichen Prophetensprüche lassen vermuten, daß dieser Prozeß im 8. J h . in großem Umfang im Gange war. Insbesondere der Ubergang von der Natural- zur Geldwirtschaft, den das Königtum eingeleitet und gefördert hat, zumal er nach der Eingliederung Israels in das altorientalische Staatensystem und infolge der Entfaltung seiner Kultur unvermeidlich war, hat zu einer tiefreichenden gesellschaftlichen Umschichtung geführt. Zwar wurde zugunsten der Mehrheit der Bevölkerung, die weiterhin Bauern oder Viehzüchter blieb oder bleiben wollte, die Bestimmung getroffen, daß bei Darlehen kein Zins verlangt werden dürfe (Ex 22 24 Lev 25 35-37 Dtn 23 20), tatsächlich aber setzte sich die allgemeine altorientalischc Entwicklung durch. Eine kleine Schicht bereicherte sich, während breite Volksschichten entrechtet und enteignet wurden. Immer mehr freie Bauern verloren ihren

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127

Besitz, der in den Händen verhältnismäßig weniger Großgrundbesitzer vereinigt wurde. Die von ihren Äckern Verdrängten zogen zum kleineren Teil in die Städte oder großen Ortschaften, in denen sie eine Art Proletariat bildeten. Zum größeren Teil wurden sie Pächter und Hörige der neuen Besitzer. In jedem Falle büßten sie mit dem Landbesitz ihre staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten ein, so daß die aus den freien Vollbürgern bestehende örtliche Rechtsgemeinde in Frage gestellt und das Staatsgefüge in Mitleidenschaft gezogen wurde. Als Hörige traten sie ferner aus ihrer bisherigen Sakral- und Kultgemeinschaft aus und in diejenige ihrer neuen Herren über. Sie wurden politisch, rechtlich und religiös entmündigt. Am Ende standen sich einerseits der König mit seinem H o f e und die Masse der Untertanen gegenüber, andererseits die reichen und machtbewußten Patrizier, Großgrundbesitzer, Großkaufleute oder sogar Handwerker und die durch die Leistungen an den Staat mitgenommenen, durch die Besitzer von Geld und Sachgütern übervorteilten breiten Volksschichten einschließlich der verarmten oder zu Hörigen herabgedrückten Bauern und Viehzüchter. Auf die Religion Israels wirkte diese Änderung der gesellschaftlichen Struktur Israels unmittelbar nur insofern ein, als die hörig gewordenen Bauern und Viehzüchter in eine andere als ihre angestammte Sakral- und Kultgemeinschaft überführt wurden und dort gegen ihren Willen zur Teilnahme an fremden Kulten genötigt werden konnten. Eine stärkere Einwirkung auf die Religion Israels war mittelbarer Art und ist vornehmlich an der Reaktion auf die veränderte gesellschaftliche Struktur und ihre Folgen erkennbar. 1. Die Reaktion zeigte sich einmal in den Forderungen, die an den König erhoben wurden 1 4 . Er sollte Sozialherrscher sein und die göttliche Gerechtigkeit verkörpern. So sagt Ps 45 7-8 von einem nordisraelitischen König: D u führst ein gerechtes Zepter, du liebst das Recht, hassest den Feind, darum hat dich 'Jhwh', dein Gott, gesalbt.

D e m judäischen König wird in Ps 101 bei der Thronbesteigung eine Proklamation in den Mund gelegt, in der es in v. 2a. 5a. 7 heißt: Ich will auf makellosen Wandel achten, 'die Treue hat bei mir ihr Heim'. Wer heimlich einen anderen verleumdet, den bringe ich zum Schweigen.

14

Vgl. A . Alt, Der Anteil des Königtums an der sozialen Entwicklung in den Reichen Israels und J u d a , in: Kleine Schriften zur Geschichte des Volkes Israel, III 1959, 348—372.

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Wer stolze Augen und ein hochmütiges H e r z hat, den kann ich nicht ertragen. In meinem H a u s e darf nicht weilen, wer Trug verübt.

Selbst wenn der Dichter wie in Ps 72 vom Weltherrscher redet, unterbricht er sich doch zweimal, um die königliche Hilfe für die Armen und Elenden zu erwähnen (v. 4. 12). Daher lautet die elementare Forderung an den König stets, daß er gerecht herrscht und Recht schafft. Neben der Warnung vor Ungerechtigkeit findet sich diejenige vor Anhäufung großen Reichtums aus den Abgaben der ausgeplünderten Untertanen (Prov 29 4). 2. Die Reaktion zeigte sich ferner und noch eindeutiger in den Worten des Propheten 1 5 . Sie wandten sich gegen diejenigen, die der Besitzgier und dem Machthunger die Zügel schießen ließen. So verurteilte Arnos den Kornwucher der Kaufleute: H ö r t dies, die ihr den Armen nachstellt, um die Elenden aus dem Weg zu schaffen, und sagt: »Wann geht der N e u m o n d vorüber, daß wir ' ' verkaufen können, und der Sabbat, daß wir Korn anbieten? Daß wir das Maß verkleinern und die Preise steigern, betrügerisch die Waage fälschen?« Jhwh hat beim Stolze J a k o b s geschworen: »Ich will eure Taten niemals vergessen!«

(Am 8 4-7)

Jesaja und Micha wandten sich gegen das »Bauernlegen« durch die Mächtigen im Lande: Wehe denen, die H a u s an H a u s reihen und Feld an Feld fügen, bis sonst kein R a u m mehr ist und ihr allein ansässig seid im Lande!

(Jes 5 8)

Wehe denen, die Böses planen ' auf ihrem Lager und es im Morgenlicht ausführen, weil sie die Macht dazu besitzen! Begehren sie Felder, so rauben sie sie, Häuser, so nehmen sie sie. Sie üben Gewalt gegen Herr und H a u s , gegen Mann und Eigentum.

(Mi 2 1-2)

Es sind die führenden Schichten, die das eigene Volk schlimmer als eine fremde Soldateska ausplündern. Daher läßt Jesaja Jhwh die Anklage erheben: 15

Vgl. auch H . Donner, Die soziale Botschaft der Propheten im Lichte der Gesellschaftsordnung in Israel, O r A n 2 (1963), 2 2 9 - 2 4 5 .

Zur Einwirkung der gesellschaftlichen Struktur Israels auf seine Religion

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U n d ihr, ihr habt den Weingarten abgebrannt; was ihr den Armen raubtet, ist in euren Häusern. Was fällt euch ein?! Ihr zerschlagt mein Volk und zermalmt das Antlitz der A r m e n !

(Jes 3 14b—15)

In noch krasseren Worten spricht Micha von den Führern Israels: Sie fressen das Fleisch meines Volkes und ziehen ihm das Fell über die Ohren ' zerstückeln es wie Fleisch im Topf, wie Fleisch im Kessel.

(Mi 3 3)

In alledem sind die Propheten für das Recht der wirtschaftlich Schwachen eingetreten und haben auf den besonderen Schutz hingewiesen, dessen die Witwen, Waisen und Fremden bedürfen. Sie haben die Lebensrechte derjenigen verteidigt, die bei einer Wandlung der gesellschaftlichen Struktur benachteiligt zu werden pflegen. Damit haben sie nicht die neue Wirtschaftsentwicklung als ganze abgelehnt, wohl aber den unerhörten Bruch des Rechts angeprangert, unter dem sie sich vollzog. Der Ubergang zur Geldwirtschaft rechtfertigte für sie nicht, daß man die Bauern durch Kornwucher und hohe Zinsen zu Schuldnern machte, ihnen dann das Land zu niedrigem Preise nahm und es sie als Pächter und Hörige bearbeiten ließ. Zweckmäßigkeit und Erfolg in wirtschaftlichen Fragen, auf denen sich letztlich die gesellschaftliche Ordnung aufbaut, erlauben für das prophetische Urteil keineswegs die Entrechtung und Enteignung breiter Volksschichten. Uber allen Wünschen und Notwendigkeiten des wirtschaftlichen Lebens und der damit zusammenhängenden Veränderungen stehen die bleibenden Rechte des Menschen. Seine Existenz gilt mehr als Sachwerte, ihre Gefährdung bedroht den Bestand der Gesellschaft. Insbesondere ging es den Propheten darum, daß nicht nur einige wenige den Grund und Boden allein besaßen. Denn sie verfügten damit nicht nur über das Grundelement des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, sondern auch über die Wohnmöglichkeiten des Menschen — ganz abgesehen von den politischen und religiösen Folgen. Freilich kannte die Prophetie kein absolutes menschliches Eigentum, für das sie eingetreten wäre, sondern nur menschlichen Pachtbesitz aus der Hand Jhwhs. Von da aus galt die Anhäufung solchen Besitzes in einer Hand als Versündigung gegen Jhwh, wie auch die Jagd nach Geld und die Gier nach Lebensgütern als gottwidrig verurteilt wurden. Der Versuch Nietzsches, die Stellungnahme der Propheten wie die gesamte Auffassung des Alten Testaments als Sklavenaufstand zu deuten, geht also fehl. Die Propheten waren keine Verteter der Sklaven, sondern vertraten das Recht der Schwachen von Gott aus und aufgrund des Glaubens. Sie behaupteten das unverlierbare göttliche Recht der Entrechteten. Daher bedurften sie keiner politisch oder gefühlsmäßig gefärbten Ableitung ihrer Kritik und ihrer Forderungen, sondern nur des Hinweises auf den göttlichen Willen.

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II. Themen

Ebensowenig lassen sie sich soziologisch in der Weise deuten, daß die Ursachen ihrer geschichtlichen Erscheinung in wirtschaftlichen und sozialen Zuständen, in der gesellschaftlichen Struktur oder sogar in einem damit verbundenen Klassenkampf beschlossen lägen. Die Propheten haben zwar zu den Zuständen ihrer Zeit Stellung genommen, aber nicht darin liegen der Grund und das Motiv ihre Auftretens. Sie sind nicht aus einem Proletariat hervorgegangen, sondern aus den Kreisen der Besitzenden oder aus der Oberschicht. Sie haben ebensowenig in einem Zwiespalt mit ihrer »Klasse« gelebt, der sie zum »Proletariat« getrieben hätte. Jesaja erwartete bezeichnenderweise nicht eine Diktatur des Proletariats, sondern eine Regeneration der im Staate führenden Schicht (Jes 1 21-26), durch deren einfache Beseitigung kein Idealstaat, sondern lediglich eine Anarchie als eine zum vollen Tode führende Form des göttlichen Gerichts entsteht (Jes 3 1-9). Die Äußerungen der Propheten folgten aus ihrem Glauben und waren religiös-ethisch bedingt: Soziales Handeln ist zugleich religiöses Tun und Heiligung Gottes; der glaubende Fromme ist zugleich ein sozial denkender und handelnder Mensch: Wenn nun jemand gerecht ist, Recht und Gerechtigkeit übt, 'auf' den Bergen nicht ißt und seine Augen nicht erhebt zu den Götzen des Hauses Israel; wenn er die Frau des Nächsten nicht verunreinigt und sich einer unreinen Frau nicht nähert, niemanden bedrückt, sein Pfand ' ' zurückgibt, keinen Raub verübt; wenn er sein B r o t dem Hungrigen gibt und den Nackten mit einem Kleid bedeckt, nicht auf Wucher leiht, keinen Zins nimmt und seine Hand vom Frevel zurückhält ' ' ; wenn er in meinen Satzungen 'wandelt' und meine Rechte beachtet, 'sie' zu tun — der ist gerecht; er soll bestimmt am Leben bleiben, spricht ' ' J h w h .

( E z 18 5 - 9 )

Die Grundlagen eines solchen Handelns sind Gerechtigkeit und Liebe, die für das gesamte Leben als grundlegend betrachtet werden. Die örtliche Rechtsgemeinde in Israel hatte eine Ordnung des menschlichen Zusammenlebens in dem Sinne versucht, daß jedem das Seine zuteil werde und also

Zur Einwirkung der gesellschaftlichen Struktur Israels auf seine Religion

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Gerechtigkeit herrsche. Als sie an dem Übergang zur Geldwirtschaft zerbrochen war, haben die Propheten das Ganze des Lebens durch das Mitund Ineinander von Gerechtigkeit und Liebe erneut unter den göttlichen Willen stellen wollen. Darin liegt ihre Antwort auf die Wandlung der gesellschaftlichen Struktur ihrer Zeit; es ging ihnen nicht nur um das Heil, sondern auch um das Wohl des Menschen. Daher zeigte sich ihnen die Entscheidung für Gott gerade am rechten Verhalten zum Mitmenschen. Nicht Gottesdienst rettet den schuldigen Menschen vor dem Gericht, sondern rechtes soziales Handeln im täglichen Leben (Jes 1 10-17). Insgesamt hat die durch die veränderte gesellschaftliche Struktur herausgeforderte prophetische Stellungnahme zu neuen und tiefen Einsichten geführt. V. In der exilischen und nachexilischen Zeit hat sich die Wandlung der gesellschaftlichen Struktur Israels fortgesetzt, vor allem durch die im Exil begonnene Umbildung der Deportierten in eine Schicht von Kaufleuten und Händlern. Man kann fragen, ob von da aus nicht die Ausbreitung der Vergeltungslehre damit zusammenhängt. Doch wird sich dies nur schwer beantworten lassen. Wohl aber läßt sich umgekehrt sagen, daß in der exilischen und nachexilischen Zeit der Jhwh-Glaube in wachsendem Maße die gesellschaftliche Struktur beeinflußt und sich damit endgültig als stärker denn diese erwiesen hat.

Weltbewältigung und Weltgestaltung Israel als Volk und die einzelnen Israeliten standen wie die anderen Völker und Menschen damals und heute vor der Aufgabe, die Welt, in der sie lebten, zu bewältigen und zu gestalten. Die Landnahme in Palästina führte die israelitischen Nomaden in das kanaanäische Kulturland, in dem sie zur Seßhaftigkeit und zum Ackerbau übergehen mußten. In der darauf folgenden vorstaatlichen Zeit begannen die kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Kanaanäern, die Abwehr neuer Eindringlinge aus Steppe und Wüste und das Ringen mit den Philistern, die die Oberherrschaft über Palästina beanspruchten. Aus der daraus sich ergebenden notvollen Lage erwuchs das Königtum, das unter David und Salomo zwar zu glänzenden Erfolgen führte, infolge seiner Eigengesetzlichkeit aber auch neue Probleme schuf, die bewältigt werden mußten. Neue gefährliche Situationen entstanden durch den Zerfall des Reiches nach dem Tode Salomos: die Rivalitätskämpfe zwischen den beiden israelitischen Teilstaaten, die sozialen und wirtschaftlichen Wandlungen infolge des Hineinwachsens in die Stadtkultur und des Ubergangs von der Natural- und Tauschwirtschaft zur Geldwirtschaft, durch die politisch-militärische Bedrängnis Israels seitens des Aramäerreiches von Damaskus, seitens der Assyrer, die den Untergang des israelitischen Nordreichs herbeiführten, und seitens der Babylonier, die das Südreich Juda unterwarfen, durch das babylonische Exil, in das die judäische Oberschicht deportiert wurde, und durch die spätere persische, seleukidische und römische Oberherrschaft. Immer wieder mußte Israel versuchen, die sich wandelnde Welt zu bewältigen und für sich zu gestalten. Der einzelne Israelit sah sich in seinem Leben vor der gleichen Aufgabe. Vor allem die Psalmen zeigen, wie er sich durch Krankheit und Leid geschlagen und durch persönliche Feinde bedroht und verfolgt fühlte. Die Wechselfälle und Nöte des Lebens trafen ihn genauso wie jeden anderen Menschen damals und heute. Und genauso mußte er versuchen, in der Umwelt und Gesellschaft, in der er lebte, sein jeweils eigenes Leben zu bewältigen und zu gestalten. I. Läßt sich nun eine anerkannte und gültige Art und Weise erkennen, in der solche Weltbewältigung und -gestaltung erfolgte? Das Alte Testament gibt darauf eine grundsätzliche klare Antwort, aus der im einzelnen freilich eine Reihe verschiedenartiger Lösungsversuche gefolgt sind: Welt-

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bewältigung und -gestaltung nicht mittels einer anthropozentrischen, völlig auf den Menschen bezogenen Haltung, nicht mittels radikalsozialistischer Aktionen, nicht mittels einer revolutionären Veränderung von Welt und Gesellschaft, um dadurch einen neuen Menschen zu schaffen. Vielmehr geht das Alte Testament den Weg der radikalen Gottbezogenheit und der damit verbundenen Verpflichtung des Menschen gegenüber Gott. 1. In dieser Weise betrachtet es den Exodus aus Ägypten: Nicht Rebellion und Flucht der zur Fronarbeit gezwungenen Israeliten haben die Situation gewandelt, sondern Gott hat durch die letzte Plage den Pharao überwunden und dann die Ausziehenden vor den Verfolgern gerettet, wie Mirjam es preist: Singt J h w h , denn hocherhaben ist er, Roß und Wagenkämpfer warf er ins Meer!

(Ex 15 21).

Darauf folgte die Verpflichtung der Geretteten am Sinai auf den göttlichen Willen. Weil aber Israel sich in Palästina dieser Verpflichtung immer wieder entzogen hat, hat Gott den Untergang der Reiche Israel und Juda herbeigeführt und das babylonische Exil verhängt — so wird das spätere Unheil verstanden, bewältigt und jahrzehntelang ertragen, bis der große Prophet des ausgehenden Exils Gott wieder am Werke sieht, indem er den persischen König Kyros als seinen Beauftragten die Fesseln zerbrechen und die Tore aufstoßen läßt, damit die Befreiten nach Jerusalem zurückkehren und ihrem Gott in neuer und unverbrüchlicher Treue dienen können. Die radikale Gottbezogenheit mit der Verpflichtung des Menschen findet ihren Ausdruck in den zentralen alttestamentlichen Vorstellungen von der Herrschaft Gottes über den Menschen und der Gemeinschaft des Menschen mit Gott 1 . Beide sind beispielsweise im Schluß von Ps 62 enthalten, in dem der Dichter aus dem vorher Gesagten eine allgemeingültige Lehre ziehen will und dazu in einem Zahlenspruch zweierlei aufzählt, das zusammengehört: Eins hat G o t t gesprochen, zwei waren es, die ich hörte: daß die Macht Gottes ist und dein, Herr, die Verbundenheit.

(Ps 62 12).

Demnach ist der Dichter zu der Einsicht gelangt, daß sowohl Gottes Macht als Grundlage seines Herrschens als auch seine Verbundenheit als Auswirkung seines Gemeinschaftswillens in seinem Handeln am Menschen wirksam sind. Der gesamte Inhalt des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch wird durch diese beiden zusammengehörigen Vorstellungen erfaßt. 1

Vgl. im einzelnen G . Fohrer, Theologische Grundstrukturen des Alten Testaments, 1972.

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II. Themen

Der Herrschaftsanspruch Gottes wird schon im ersten Verbot des Dekalogs ausgesprochen: »Du sollst keinen anderen Gott haben!«. Dieser Satz geht davon aus, daß die fremden Götter als wirkliche Mächte existieren und daß ihre Existenz eine ständige Versuchung dazu bildet, vom eigenen Gott abzufallen und ihnen zu dienen. Dem tritt in dem Verbot der ausschließliche Herrschaftsanspruch Gottes als der allein anzuerkennende Herrschaftsanspruch überhaupt entgegen. Auch die Redewendung vom »Eifern« Gottes bezeichnet das Behaupten seiner eigenen Herrschaftsrechte unter Ausschluß anderer Ansprüche oder angeblicher Rechte. Seine »Heiligkeit« ist eine andere Seite seines Rechtseifers, der sich auf die Durchsetzung seines Herrschaftswillens richtet und sich bei dem »Heiligen Israels« scharf auf Israel konzentriert. Die vom menschlichen Königtum übernommenen Titel »König« und »Hirt« drücken Gottes Macht und Verfügungsgewalt, Schutz und Fürsorge aus. Und den Ausdruck »Zebaot« benutzen die Propheten, wenn sie die ganze Machtfülle ihres Gottes betonen wollen. Dazu tritt die für das Alte Testament durchaus erlebbare und auch erlebte Wirklichkeit einer unmittelbaren Gemeinschaft zwischen Gott, dem Herrscher, und dem Menschen in dieser seiner Welt. So wird der Mensch als »imago Dei« charakterisiert, geschaffen als ein Bild und nach der Ähnlichkeit Gottes; dies soll einerseits eine unmittelbare positive Beziehung der Gemeinschaft umschreiben — analog derjenigen zwischen Vater und Sohn —, andererseits jede Gleichheit oder Vermischung von Gott und Mensch ausschließen. In dem meist als »Erkenntnis Gottes« übersetzten Ausdruck bedeutet »erkennen« das intime Vertrautsein mit dem Charakter, der Denkweise, der Seele eines anderen; »Gott erkennen« besagt daher: in einem persönlichen und gegenseitigen Verhältnis des Vertrautseins, in einem Gemeinschaftsverhältnis zu ihm stehen, das Richtung und Inhalt des menschlichen Lebens bestimmt, das Herz des Menschen und die Anerkennung Gottes im ganzen Leben fordert. 2. Was bedeutet nun »Glaube« als Prinzip der Weltbewältigung und Weltgestaltung unter den Gesichtspunkten der Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft? Das machen die beiden ältesten Vorkommen des Ausdrucks in Jes 7 1-9 und Gen 15 klar. Jes 7 führt in die Zeit der kriegerischen Bedrohung Judas durch die beiden Staaten Nordisrael und Damaskus, als der judäische König Ahas Verteidigungsmaßnahmen trifft und die Assyrer um Hilfe anrufen will. Jesaja ermahnt ihn, sich statt dessen still zu verhalten und sich nicht zu fürchten. Anstatt sich auf die Verteidigung vorzubereiten und doch zu zittern wie Espenlaub, anstatt die Assyrer um Hilfe zu bitten und dann doch als ihr Vasall die Freiheit zu verlieren, die Ahas retten möchte, soll er gar nichts tun und doch zuversichtlich sein. Denn der Plan der Feinde, so begründet Jesaja seinen Rat, wird sich nicht verwirklichen, weil nicht Gott ihn ausführt, sondern lediglich zwei Menschen, die sich anmaßen, die Geschicke

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der Welt wie Gott lenken zu wollen, und die darum scheitern müssen. Gott ist der Herrscher, deswegen gilt es zu glauben: »Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht!«. »Glauben« aber heißt »vertrauen«. Anstatt auf seine politischen und militärischen Maßnahmen soll Ahas auf den Gott vertrauen, der als Herrscher der Welt deren Geschehnisse lenkt. Anstatt sich auf menschliche Kraft als das Sichtbare und vermeintlich Sichere zu verlassen — und daran zu scheitern —, gilt es, auf Sicherung zu verzichten, in der Spannung und Ungewißheit im Vertrauen auf die größere Kraft Gottes auszuharren und aus der Gewißheit zu leben, daß er die Weltgeschichte bestimmt. Das ist Bewältigung der Lage aus dem vertrauenden Glauben an die Herrschaft Gottes. In Abrahams vertrauendem Glauben begegnet nach Gen 15 die Vorstellung von der Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch. Auch Abraham steht vor der Frage, wie er seine Welt und sein Leben bewältigen und gestalten soll. Sein Problem ist die Kinderlosigkeit seiner Frau, das Fehlen eines Erben, angesichts dessen Abraham meint, daß dann wohl sein Leibeigener ihn werde beerben müssen — offenbar damit dieser ihn im Alter pflegen und nach seinem Tode würdig bestatten kann. Als Gott ihm daraufhin seinen leiblichen Erben und zahlreiche Nachkommen verheißt, »glaubt« Abraham: »Er glaubte/vertraute auf Jhwh, und das rechnete der ihm als Gerechtigkeit zu.« Das heißt, Gott beurteilt Abraham als rechtschaffen, fromm und treu im Verhältnis zu ihm; denn Abraham wird den Anforderungen gerecht, die sich aus dem Verhältnis Gott-Mensch ergeben. Um dieses ganz persönliche Verhältnis zwischen Abraham und Gott geht es dem Erzähler in Gen 15. Er sagt, daß dieses Gemeinschaftsverhältnis so richtig war. Abraham hat Gott vertraut, sein Wort ernst genommen und sich ganz auf ihn verlassen. Daraufhin hat Gott anerkannt, daß Abraham im einzig richtigen Verhältnis zu ihm stehe, und Abraham die Pläne enthüllt, die er mit seinen Nachkommen hat, damit niemand deren Geschick als drückende Geschichtsrätsel empfinden soll. So folgen für Abraham und seine Nachkommen aus dem glaubenden Vertrauen in der Gottesgemeinschaft wieder die Bewältigung und Gestaltung ihres Geschicks. 3. Daneben steht die »Hoffnung« als Prinzip der Weltbewältigung und Weltgestaltung unter den Gesichtspunkten der Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft. Für die Frage nach Hoffnung und Zukunft lassen sich einige Psalmen heranziehen 2 . Ps 1 stellt zwei Menschentypen vor: auf der einen Seite denjenigen, »der nicht wandelt im Rate der Gottlosen noch tritt auf den Weg der Sünder, noch sitzt, wo die Spötter sitzen, sondern sein Wohlgefallen hat an der Tora (an der Weisung) Jhwhs und über seine Tora (seine Weisung) sinnt Tag und Nacht«, und auf der anderen Seite die »Gottlosen«. Der Fromme 2

Vgl. W . Zimmerli, Der Mensch und seine Hoffnung im Alten Testament, 1968, 33—48.

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II. Themen

unterstellt sich also der Tora, der Weisung des göttlichen Herrschers, und hat darum Hoffnung. Er wird mit dem Baum verglichen, der »an Wasserbächen gepflanzt ist, seine Frucht bringt zu seiner Zeit und dessen Blätter nicht welken«, während der Gottlose wie Spreu ist, die der Wind verweht. Wenn auch der Ausdruck Hoffnung nicht verwendet wird, ist der Sinn der verwendeten Bilder doch in dieser Richtung zu suchen: Der Gerechte, der unter der Gottesherrschaft lebt, hat Zukunft — nicht nur als ein zeitliches Phänomen, sondern inhaltlich gefüllt. Es ist die echte Zukunft des Fruchtbringens und dadurch Bewältigung und Gestaltung des gegenwärtigen Lebens. Genauso meint das Bild von der verwehenden Spreu nicht das bloße Fehlen von weiteren Lebensjahren des Gottlosen, sondern die innere Nichtigkeit und Fruchtlosigkeit seines Lebens, das keine erfüllte Zukunft hat. Und dabei ist zu bedenken, daß Zukunft, Gedeihen und Fruchtbringen nicht einfach eine dem Menschen verfügbare Möglichkeit darstellen, sondern aus den Händen des Gottes kommen, unter dessen Herrschaft der Fromme lebt. In Ps 71, dem Gebet eines Menschen, der durch die Not des Alters bedrängt ist, steht neben dem Bekenntnis: »Denn du bist meine Hoffnung, Herr Jhwh, mein Vertrauen von meiner Jugend auf« (v. 5) eine inhaltliche Aussage über das Hoffen: »Ich aber hoffe beständig und mehre all deinen Ruhm« (v. 14). Hoffnung gibt also Gott die Ehre. Indem sie ihm alles anbefiehlt und von ihm alles erwartet, rühmt sie ihn als den Herrn und Herrscher. So zeigt sich einmal die Verbindung der Hoffnung mit der Gottesherrschaft. Alles ernsthafte, für das Leben hilfreiche Hoffen ist auf den einen Gott konzentriert. Es gibt neben ihm im Unterschied von der Umwelt Israels keinen zweiten, nach dem man Ausschau halten könnte. Es gibt auch keine sonstigen Wege, auf denen der Mensch sich Hoffnung verschaffen könnte. Hoffnung ist gleicherweise mit der Gottesgemeinschaft gegeben. Es ist auffällig, daß die Stellen der Klagelieder, in denen ausdrücklich vom Hoffen und Harren geredet wird, ihren Ort meist in dem auf einem Gemeinschaftsverhältnis gründenden Bekenntnis des Vertrauens haben. Doch kann die Gottesgemeinschaft auch anders angesprochen werden. So beschreibt der Beter in Ps 130 sein Warten und Hoffen: »Ich harre, Jhwh, meine Seele harrt, und auf sein Wort warte ich — meine Seele (harrt) auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen (warten)« und ruft dann die Gemeinde auf: »Israel, harre auf Jhwh, denn bei Jhwh ist die Verbundenheit, und viel Erlösung ist bei ihm«. Weist der Ausdruck »Verbundenheit« wieder auf die Gemeinschaft mit Gott hin, so wird das Hoffen mit dieser Gemeinschaft begründet und für die inhaltliche Gestaltung des Lebens auf die Erlösung hingewiesen. Auch sonst fällt es auf, mit welch entschlossener Zuversicht die Psalmen von der Hilfe sprechen, die aus der Gemeinschaft mit Gott fließt. Sie sind von einer beeindruckenden Hoffnungsgewißheit durchzogen, die

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ihren Grund weithin in der Gewißheit der Gemeinschaft mit Gott hat und auf die man sich stützt, um die Welt bewältigen und gestalten zu können. Gerade dort, wo der Mensch an die Grenzen menschlicher Hoffnungslosigkeit geführt wird, wendet sich der Blick vom Menschen und seinen immanenten Möglichkeiten ab und wendet sich ganz dem Gott zu, unter dessen Herrschaft und in dessen Gemeinschaft man lebt. 4. In solcher Weise verweist das Alte Testament immer wieder auf Glaube und Hoffnung als Prinzipien der Weltbewältigung und Weltgestaltung unter den Gesichtspunkten der Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft. Das ist die grundsätzlich klare Antwort des Alten Testaments auf die Frage nach gültigen Maßstäben — eine Antwort radikaler Gottbezogenheit und der damit verbundenen Verpflichtung des Menschen. Allerdings sind aus dieser grundsätzlichen Antwort im einzelnen eine Reihe verschiedenartiger Lösungsversuche entwickelt worden, die wir nunmehr als mögliche Modelle ins Auge fassen müssen. II. Wie hat man im alten Israel auf der Grundlage von Glaube und Hoffnung die Welt zu bewältigen und zu gestalten gesucht? Gibt es im Alten Testament gültige Modelle oder Vorbilder? 1. Auf den ersten Blick scheint sich die mehr oder weniger utopische Lösung der eschatologischen Prophetie nahezulegen, die vom ausgehenden babylonischen Exil an begegnet. Nicht denkerischer Radikalismus hat sie geschaffen, vielmehr beginnt sie mit dem inbrünstigen religiösen Aufbruch eines Mannes, der — in der Notzeit des Exils lebend — seine Gegenwart durch den Blick auf die Zukunft bewältigte und der für diese Zukunft eine von Gott herbeigeführte endzeitlich-ewige Neugestaltung der Welt erhoffte. Die Worte des unbekannten Propheten sind in Jes 40—55 überliefert; daher nennt man ihn den Zweiten Jesaja oder Deuterojesaja. In kühnem Gedankenflug, der durch die geschichtliche Situation provoziert war, suchte er nach Jahrzehnten bitterer Not jene Zukunft zu umreißen, zu der er den persischen König Kyros schon das Tor öffnen sah und die die düstere Gegenwart erträglich machte: die Uberwindung der Macht des Unterdrückers Babylon, die Erlösung Israels aus dem Exil, seine Heimführung durch die Wüste nach Jerusalem, die Sammlung der in alle Welt Verstreuten, die Rückkehr Gottes nach Jerusalem, die Umwandlung der irdischen Verhältnisse durch Wiederaufbau, paradieshaften Segen und Vermehrung des Volkes, schließlich die Einsicht der Menschen in die Untauglichkeit ihrer Götter und ihre Bekehrung zu dem einen Gott. Nachdem Kyros tatsächlich das babylonische Reich erobert und den judäischen Deportierten die Heimkehr gestattet hatte, machte zweimal ein

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Teil von ihnen von dieser Erlaubnis Gebrauch. Aber in Palästina erstand kein Märchenreich..Vielmehr herrschten lange Jahre nahezu bürgerkriegsähnliche Zustände, erwachsen aus den Auseinandersetzungen zwischen den Rückkehrern einerseits und den im Lande verbliebenen Judäern und den inzwischen eingewanderten Fremden andererseits. Die Propheten Haggai und Sacharja allerdings erblickten die Ursache für die N o t darin, daß man den Neubau des Tempels in Jerusalem vernachlässigt habe. Abhilfe war also möglich, wenn man den Tempel errichtete. Wie sich auf diese Weise die Gegenwart bewältigen ließ, so würde daraus für die Zukunft eine Neugestaltung der Welt folgen: Gott wird die ganze Welt erschüttern, und die Völker werden daraufhin ihre Schätze zur Ausstattung des Tempels nach Jerusalem bringen. Ja, Gott wird alle politische und militärische Macht auf Erden vernichten, so daß ewiger Friede walten und ein davidischer Messias in dem göttlichen Friedensreich herrschen wird. In der Folgezeit haben noch weitere Propheten Erwartungen eschatologischer Art geäußert. Am eindrucksvollsten ist das Bild, das der nicht mit Namen genannte Prophet von Jes 60 im 5. Jh. zeichnet — zugleich wieder ein Versuch, die notvolle gegenwärtige Welt zu bewältigen, indem ihre künftige Neugestaltung geschildert wird. In 10 Strophen schildert Jes 60 nacheinander: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

den Anbruch der Heilszeit für Jerusalem (v. 1-3), das Kommen der Völker und der Diaspora (v. 4-5), das Mitbringen des Reichtums der Welt — von Osten (v. 6-7), das Mitbringen des Reichtums der Welt — von Westen (v. 8-9), die Lage Jerusalems (v. 10-11 3 ), den Tempel (v. 13-14), die Umwälzung der Endzeit (v. 15-16), die Auswirkung auf Leben und Staatsordnung (v. 17-18 4 ), die kosmische Auswirkung (v. 19-20 5 ), die Auswirkung auf Israel (v. 21-22).

Auch das apokalyptische Buch Daniel ist aus einer N o t - und Konfliktsituation erwachsen, die bald darauf in den Makkabäerkriegen zu Kampf und Sieg des Frühjudentums führte. Das Danielbuch allerdings hat den Sieg durch ein übernatürliches göttliches Eingreifen erwartet. Dieses Eingreifen wird ein politisches Reich schaffen, das in einem irdischen Staat verwirklicht und von den jüdischen »Heiligen« verwaltet werden soll. In ihm herrscht der göttliche Wille unbeschränkt und unangefochten, jede böse Macht wird vernichtet, so daß das Reich ewig dauern wird, weil es keine Saat der Uneinigkeit und Spaltung in sich trägt. Dazu tritt die Ankündigung der Auferstehung — der einen zum ewigen Leben, der anderen zur ewigen 3

D e r Zusatz v. 12 droht den Völkern, die nicht nach Jerusalem pilgern, den Untergang an.

* Der erste Teil von v. 18 ist ein Zusatz. 5 Der Schluß von v. 19 ist ein Zusatz.

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Schmach. Dabei sind mit den Frommen, die aus der Unterwelt der Toten zum ewigen Leben aufstehen, diejenigen gemeint, die die apokalyptischen Ideen des Danielbuches anerkennen. War schon die eschatologische Prophetie auf bestimmte Kreise beschränkt und keineswegs allgemein anerkannt, so steht hinter dem Verfasser des Danielbuches eine konventikelartige Gemeinschaft, die sich als das wahre Israel verstand und die Auferstehung erwartete, um dann das Gottesreich zu verwalten 6 . Die nachdanielischen Apokalypsen haben das schon bekannte Vorstellungsmaterial zu neuen Modellen zusammengestellt. Gewöhnlich handelt es sich in ihrer Weltbewältigung und künftigen Weltgestaltung um zwei Phasen: a) das End- oder Weltgericht, nunmehr nicht nur über die Menschen, sondern ausgedehnt auf das Böse: die gefallenen Engel, die Dämonen und Satan oder Belial als. die Verkörperung des Bösen; vorher oder nachher die Auferstehung — der Gerechten und der Frevler vor dem Endgericht zur Feststellung ihres ewigen Geschicks oder nur der Gerechten nach dem Endgericht zur Teilnahme am ewigen Heil; b) das neue goldene Zeitalter — entweder mit Jerusalem und seinem Tempel als Mittelpunkt und mit materiell-sinnlich geschildertem Segen (äthiop. Henochbuch: jeder Selige soll 1000 Kinder zeugen und mit grenzenlosem Reichtum gesegnet sein) oder mit einem irdischen, messianisch regierten Reich, das mit Hilfe nationaler Vorstellungen gezeichnet wird, oder mit einem zukünftigen Reich in einem neuen Himmel und auf einer neuen Erde oder mit der Schaffung eines neuen Himmels und dem Beginn einer ewigen sündelosen Freude. Doch läßt sich die Welt so bewältigen und so gestalten, wie die eschatologische Prophetie und die Apokalyptik es erwarten? Liegen in solcher Endzeiterwartung Maßstäbe oder Modelle vor, die für uns heute gültig sein können? Diese Fragen lassen sich schwerlich bejahen. Die eschatologische Prophetie knüpfte an die einlinige und unverbrüchliche Heilserwartung für Israel an, die vor dem Exil unter anderem von kultprophetischen Kreisen vertreten, von den großen Einzelpropheten (von Arnos und Hosea über Jesaja und Micha bis Jeremia und Ezechiel) aber längst in Frage gestellt worden war. Dennoch setzte die eschatologische Prophetie sie auf einer neuen Ebene fort. Diese Heilserwartung und -Verkündigung jedoch vereinfachte und vereinseitigte das Gottesbild durch die Vernachlässigung anderer Aspekte oder verfälschte es im nationalreligiösen Sinn durch die Zuweisung des Heils an Israel und des Unheils an die anderen Völker. Ferner erhoffte die eschatologische Prophetie gewöhnlich nicht eine wesenhafte Wandlung und neue Daseinshaltung des Menschen, die ihn zu echter Weltbewältigung und Weltgestaltung befähigen würde, sondern 6

Vgl. O . Plöger, Das Buch Daniel, 1965.

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erwartete ein neues Zeitalter und eine neue Gestalt der Umwelt. Gott wandelt nach ihr nicht den Menschen und durch ihn die Welt, sondern die Welt und erst auf dem Umweg über sie oder im Zusammenhang mit ihr den Menschen. Es war eine Umkehrung, die Gott nur noch mittelbar auf dem Wege über die äußeren Lebensverhältnisse auf den Menschen einwirken und überwiegend nicht mehr unmittelbar in sein Leben und Wesen eingreifen sah. Dem entsprach es, daß der Mensch in der erhofften Heilszeit einer immer neuen Entscheidung für Gott entnommen und in einen Ruhestand des Genießens versetzt sein würde. Der Blick auf die Endzeit war des weiteren darin begründet, daß die eschatologische Prophetie auf die unmittelbare Bewältigung und Gestaltung ihrer Gegenwart weitgehend verzichtete und für die Behebung ihrer Nöte beschwichtigend auf die bevorstehenden Änderungen in der Zukunft verwies. Sie resignierte vor der Aufgabe einer Gestaltung des Hier und Jetzt und vermochte ihrer Zeit keine richtungweisenden Impulse zu geben. Da sie schließlich die Zeitenwende, von der sie die Änderung der Welt erhoffte, als nahe bevorstehend betrachtete, war sie von Anfang an eine Prophetie der scheiternden Hoffnung und vergeblichen Erwartung. Denn bald ließ sich die Einsicht nicht umgehen, daß das verheißene Heil sich nicht verwirklichte. Die Enttäuschung über sein Ausbleiben und die neue Vertröstung auf die demnächstige Zukunft waren die Folgen. 2. Der eschatologischen Lösung stehen eine Reihe von anderen nichteschatologischen Typen der alttestamentlichen Weltbewältigung und Weltgestaltung gegenüber. Die wichtigsten von ihnen sollen im folgenden charakterisiert werden. a) Eine restaurative Haltung gegenüber ihrer Welt haben vor allem die Nasiräer und die Rechabiten vertreten. Das ursprüngliche Betätigungsfeld des Nasiräers, der sein ganzes Leben in den Dienst Gottes stellen wollte, war der Krieg, in dem er im Zustand einer kriegerischen Ekstase heldenhafte Taten vollbrachte. Den ständigen Kampf für Gott verband er mit der Ablehnung des Genusses von Wein oder des Haarschneidens. Er trat für die nomadische Lebensweise im Kulturlande ein, weil sie für seine Auffassung mit dem Gottesglauben unlöslich verknüpft war. Auch die Rechabiten suchten ihre Welt auf eine derartige Weise zu bewältigen und zu gestalten. Sie bildeten eine Genossenschaft, die auf den Besitz von Äckern und Weingärten verzichtete, kein Land bestellte und keinen Wein trank, keine Häuser baute, sondern in Zelten lebte (vgl. Jer 35). Sie wollte auch im Kulturlande an der Einfachheit des Nomadenlebens festhalten oder zu ihr zurückkehren, weil sie nur so ihrem Gott treu zu bleiben können glaubte. Die Rechabiten wollten also den Glauben mit einer bestimmten Kulturform verbinden, obwohl diese überholt war und sich nicht mehr herstellen ließ. Sie wehrten sich ferner gegen die Erfahrung, daß jeder Glaube sich weiterbildet und entfaltet und daß er nach neuen Antworten

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auf neue Fragen suchen muß, um lebendig zu bleiben und um eine sich wandelnde Welt bewältigen und gestalten zu können. Deswegen haben sie und die Nasiräer kein gültiges Modell hinterlassen. b) Doch läßt die Welt sich vielleicht mit den Mitteln des Kultus bewältigen und gestalten? Diese Auffassung hat im alten Israel wie im ganzen Alten Orient eine kaum zu überschätzende Rolle gespielt. Sie ging in Israel von einer Änderung des Gottesbildes unter kanaanäischem Einfluß aus. Der starke ethische Wille des früheren Gottesbildes trat zugunsten der geheimnisvollen Lebensmacht der Gottheit und ihres Wirkens im Bereich der Natur zurück. An Stelle der schrecklichen Erhabenheit Gottes wurde die Übermittlung heiliger Segensmacht betont: Er schützte sein Volk nicht mehr wie einst nur bei den besonderen Gelegenheiten kriegerischer Ereignisse, in die man ihn in Sturm und Wetter eingreifen glaubte, sondern schenkte dem Volke ständig seinen Segen, damit die Viehherden und die Ackerfrüchte gediehen. Dieser Gott mußte im Kultus an den Heiligtümern des Landes verehrt werden. Und durch die Teilnahme am Gottesdienst konnte der Mensch seine Welt bewältigen und gestalten. Gewährte Gott dem Bauern seinen Segen, so brachte dieser ihm dafür sein Opfer als Dank und Bitte dar. Er saß mit seinem Gott zu Tisch und war fröhlich in der Gewißheit, daß er auch im folgenden Jahre wieder reichen Segen erlangen könne, wenn er Gott gnädig stimmte. Darauf, von Gott etwas zu erlangen, war der Kultus in erster Linie abgestimmt. Läßt sich die Welt kultisch bewältigen und gestalten, so war es notwendig, daß der Mensch kultfähig blieb. Dem dienten Reinheits- und Enthaltungsregeln, die das ganze Leben durchzogen und die Grundlage für die immer umfassender dargelegte Tora der späteren Zeit bildeten. In der Tora konkretisierte sich der Herrscherwille Gottes und trat aus seiner Sphäre in die irdische Welt ein. Als Gesetzgeber regelte Gott die Ordnung des menschlichen Daseins, und die Befolgung seiner Anordnungen gewährleistete, daß der Mensch mit dieser Ordnung in Einklang blieb und sich in seiner Welt zurechtfand. c) Wie der Kultus und die Tora wollte auch die national-religiöse Richtung die bestehende Ordnung erhalten und mittels ihrer Erhaltung die Welt bewältigen und gestalten. Grundlegend für diese Auffassung war die Verbindung des religiösen Elements mit dem nationalen im Sinne der Volksbezogenheit und Volksgebundenheit des Glaubens und sogar Gottes selbst. Den Ausgangspunkt bildete der Glaube an die Erwählung Israels aus den Völkern oder der Menschheit durch Gott. Daher erblickte man Israel in einer besonderen und eigentümlichen Beziehung zu Gott, die es wiederum als ein besonderes und eigentümliches Volk erscheinen ließ. Zugleich verankerte man das nur im davidisch-salomonischen Reich verwirklichte Ideal eines alle Israeliten umfassenden Volkes und Staates in der Vorzeit, indem man das eine Volk auf eine in die Patriarchenzeit zurückführende Ahnen-

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reihe gründete. Darum fielen für diese Auffassung Volks- und Glaubensgrenzen zusammen; Gott überschreitet wohl die Grenzen Palästinas, nicht aber diejenigen des Volkes. Infolge seiner Bindung an Israel konnte man demgemäß von Gott die Lösung aller Probleme erwarten. Der Israelit glaubte sein Dasein nicht nur durch die Ausübung des Kultus gesichert, sondern auch durch seine Zugehörigkeit zum erwählten Volk. In gleicher Weise glaubte dieses Volk, die Welt dadurch bewältigen und gestalten zu können, daß es die göttliche Hilfe für die Durchsetzung seines eigenen Staates und seiner Souveränität erwartete, bis die Aufstände in der Zeit der römischen Oberherrschaft zur endgültigen Katastrophe führten. d) Die Weisheitslehre suchte zunächst die Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten in Welt und Leben festzustellen und sodann den Menschen auf dieser Grundlage zu erziehen. Insofern stellt sie geradezu einen bewußten und planmäßigen Versuch dar, ein Modell der Weltbewältigung und Weltgestaltung zu entwickeln. In der Form von Lebensregeln bot sie Wahrheiten dar, die für das Leben des Menschen in der Welt gelten und nach denen dieser sein Verhalten richten kann. In ihrer nüchternen, auf das Nützliche bedachten, ausgesprochen praktischen und manchmal hausbackenen Art ging es ihr darum, wie der Mensch am besten seines Lebens Herr wird und wie er seine Welt bewältigt und gestaltet. Und sie lehrte, daß es möglich sei, alle Anstöße zu vermeiden und allen Gefahren zu entgehen, wenn man die bewährten weisen Lebensregeln beachtet. Denn auch Gott hält sich an die Weltgesetze und garantiert ihre Geltung, so daß der Weise sich in das Wesen und Gefüge dieser Weltordnung einzugliedern vermag. Demgemäß ist der Vertreter dieser optimistischen Haltung klug, rechtschaffen, in frommer Scheu vor Gott und in guter Zuversicht, daß er das Leben meistern kann. So stark die soeben skizzierten Typen nichteschatologischer Weltbewältigung und Weltgestaltung sich voneinander unterscheiden, weisen sie doch zwei gemeinsame Züge auf: a) Grundlegend ist der Glaube oder die Gewißheit: Das Heil des Volkes und des einzelnen Menschen ist vorgegeben und nicht erst zu erringen oder erstmalig von Gott zu erhalten. Es ist vorgegeben im nomadischen Leben analog demjenigen der Mosezeit, im Kultus mit seinen Festen, in denen man an der göttlichen Sphäre Anteil erhält, in der Ackerbaukultur und im nationalen staatlichen Leben oder in den weisen Lebensregeln, nach denen sich das Leben erfolgreich gestalten läßt. b) Daraus folgt die Hoffnung oder Zuversicht: Dieses Heil kann durch konkrete Verfehlungen infolge bestimmter Taten oder Unterlassungen gestört werden. Jedoch wird das Heil dadurch nicht zunichte gemacht, sondern läßt sich wiedererlangen oder wiederherstellen, vor allem mittels entsprechender Sühnemaßnahmen.

Weltbewältigung und Weltgestaltung

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III. In diesen gemeinsamen Zügen liegt nun zugleich der Grund für die Ablehnung jener Typen als gültiger Modelle. Die Ablehnung ist schon von den großen Einzelpropheten ausgesprochen worden; sie haben der damals herrschenden Auffassung, daß Israel in einem vorgegebenen grundsätzlichen Heilszustand lebe, der zwar zeitweilig gestört, aber jederzeit wiederhergestellt werden könne, scharf widersprochen. Die Illusion einer heilen Welt, die die Voraussetzung der abgelehnten Typen bildet, haben sie nicht geteilt. Sie sahen ihr Volk vielmehr in einer Situation und in einer Welt, die ebensowenig heilvoll und heil war wie die unsere. Darum mußten sie die dies nicht berücksichtigenden Weisen der Weltbewältigung und Weltgestaltung zurückweisen und ihnen ein anderes Modell entgegenstellen. 1. Die Propheten wandten sich gegen die traditionellen Glaubensrichtungen, weil sie von dem Verlangen nach Sicherheit, Ruhe und Sattheit getragen waren und nicht von dem freudigen Vertrauen und der restlosen Hingabe, die Gott will. Vor einem solchen Dasein und seinen Folgen warnten sie und riefen zur Entscheidung für ein neues und anderes Dasein auf, in dem sie schon lebten. Die Propheten stellten sich gegen die traditionelle Frömmigkeit und Theologie, die sich des Heils sicher fühlten. Denn sie erkannten die tiefe Schuld des Menschen gegen Gott und mußten lernen, daß dieser nicht nur vorübergehend züchtigt, wie man behauptete, sondern daß er vernichtet. Daher erblickten sie Israel und den Menschen überhaupt in einer grundsätzlichen Unheilssituation. Aus ihr folgt das gewaltige Strafgericht, das die Propheten erwarteten und das sie in immer neuen Bildern und in immer neuen Arten verkündigten. Dieses Gericht betrachteten sie nicht einfach als die juristisch festgelegte Strafe für die Schuld, erst recht nicht als göttliche Willkür, Launenhaftigkeit und Brutalität. Denn die Schuld ist ja in dem falschen Streben des Menschen nach Sicherheit begründet und besteht darin, an Stelle von Glaube, Vertrauen und Hingabe an den göttlichen Willen ein gesichertes Dasein aus dem Geschaffenen, Irdisch-Natürlichen und Vergänglichen heraus zu leben und so die Welt zu bewältigen und zu gestalten. Darum führt die Schuld mit Notwendigkeit zu Untergang und Katastrophe, weil das Irdische als Geschaffenes vergänglich ist. D a s in falsche Bahnen gelenkte Dasein muß mit innerer Folgerichtigkeit zerbrechen. Gelegentlich sind Sünde und Gericht so eng miteinander verbunden, daß die Schuld eigentlich schon das Gericht ist — wie in Jesajas Bild vom Riß in der Mauer, die schließlich zusammenbricht (Jes 30 12-14). Von da aus erhebt sich die grundlegende Frage: Gibt es für den schuldigen und zum Tode verurteilten Menschen überhaupt noch Hoffnung? N u n sind die Propheten stets zu einer Stunde zu der Erkenntnis gelangt, daß das Gericht nicht das ist, was Gott eigentlich will. Ezechiel hat es in klassischer Weise in der Form eines Gotteswortes ausgedrückt:

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II. Themen

Habe ich denn Gefallen am Tode des Frevlers, nicht daran, daß er von seinem Wandel umkehrt und leben bleibt?

(Ez 18 23)

Daher kann das Gericht nicht unvermeidlich sein, sowenig die falsche Daseinshaltung unüberwindlich ist. Deswegen schauten die Propheten auch die Möglichkeit einer neuen Hoffnung und eines neuen Heils: die Möglichkeit des Menschen, der den Willen Gottes aufgrund eines neuen und radikalen Glaubens vollkommen erfüllt, so daß Gott tatsächlich in der Welt herrscht. Dabei griffen die großen Einzelpropheten niemals in die fernere Zukunft und schauten keine Endzeiterwartung. Was sie erwarteten, erwarteten sie in allerkürzester Zeit. Es war alles schon im Begriff, sich zu ereignen, und sie hatten gerade noch die Zeit, um darauf hinzuweisen und um dazu aufzufordern, die richtigen Folgerungen für die Gegenwart zu ziehen. Auch die Heilsworte der großen Einzelpropheten wiesen keineswegs in die fernere Zukunft, sondern bildeten das großartige Oder zum Entweder der Gerichtsdrohung. Die Propheten sprachen vom baldigen Geschehen und von den nächsten Dingen. Sie sprachen auch von der nächsten Zukunft lediglich, um die Gegenwart zu bestimmen und die Entscheidung des Menschen für Gott im Hier und Jetzt zu erreichen. Der erste entscheidende Satz lautet demnach: Die Propheten wollten nicht eine ferne Zukunft voraussagen und nicht auf eine Endzeit vertrösten, sondern ihre Gegenwart bestimmen und das Hier und Jetzt formen. Darum rügten sie die Schuld, warnten vor dem ihretwegen drohenden Untergang und riefen zu einem neuen Dasein des Glaubens auf. Daraus folgt der zweite entscheidende Satz: Das Thema der prophetischen Botschaft war die Ankündigung der Hoffnung, daß der schuldige und eigentlich dem Tode verfallene Mensch durch einen neuen Glauben gerettet werden kann. Die erste Art, wie es zu solcher Rettung kommen kann, ist die Umkehr, zu der alle großen Propheten aufgerufen haben. Kehrt um aufgrund eures Glaubens — das bedeutet: weg vom falschen, sündhaften Dasein, hin zu jenem besonderen Dasein des Vertrauens und der Hingabe unter der Gottesherrschaft in der Gottesgemeinschaft! Vollzieht der Mensch solche Umkehr, so wird Gott ihm gnädig sein. Daneben läuft eine zweite Linie, deren Stichwort nicht Umkehr, sondern Erlösung lautet. Alles wird zunächst von der erlösenden Tat Gottes erwartet, auf die das Handeln des Menschen als zweites zu folgen hätte. Es gilt, sich dafür zu entscheiden, das vergebende und erlösende Angebot Gottes anzunehmen und sich von ihm in ein neues Dasein hineinnehmen zu lassen. So verhieß Ezechiel ein neues fleischernes Herz an Stelle des steinernen, verbunden mit der Begabung des göttlichen Geistes, der das neue Leben des Menschen formt und bestimmt (Ez 36 26f.). Von da aus wird der innere Zusammenhang der prophetischen Botschaft und des von ihr dargelegten Modells deutlich. Sie geht a) von der

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notwendigen Wandlung des Menschen durch Umkehr oder Erlösung entgegen aller Erwartung oder Hoffnung aufgrund eines neuen, radikalen Glaubens aus. Die Wandlung bewirkt b) die Verwirklichung der Herrschaft Gottes im Leben des Umgekehrten oder Erlösten. Sie führt c) zur Herstellung einer wirklichen Gottesgemeinschaft in einem neuen Dasein. Sie gestaltet d) das ganze Leben des Menschen um, der nunmehr den göttlichen Willen erfüllt und seine Welt dadurch bewältigt und gestaltet. Es kommt e) dazu, daß die einzelnen Glaubenden sich zu einer Gemeinschaft zusammenfinden, die das wahre Gottesvolk ist. Die Aufgabe des einzelnen und der Gemeinschaft der Glaubenden ist es, die Gottesherfschaft und Gottesgemeinschaft auf dieser Erde hier und jetzt durch ihr Leben zu verwirklichen und dabei die Welt zu bewältigen und zu gestalten. 2. Wie dies im Leben des Einzelmenschen geschieht und zur persönlichen Lebensbewältigung führt, will der von der Prophetie beeinflußte Dichter des Buches Hiob mittels der letzten und endgültigen Stellungnahme Hiobs nach der Gottesrede verdeutlichen (Hi 40 3 - 5 42 2-3. 5-6). Diese Worte Hiobs umschreiben die grundlegende Wandlung Hiobs und den Weg, der zum eigentlichen Wesen des Menschen jenseits des bloßen Lebensvollzuges führt. Sie zeigen die Lösung der Lebensprobleme darin, daß der Mensch — im Falle Hiobs durch das Leid — sein Eigentliches erst gewinnen muß und in der Gottesgemeinschaft finden kann. Hiob sagt: Sieh, ich bin zu gering; was könnt' ich dir erwidern? Ich lege meine Hand auf meinen Mund. Einmal hab' ich geredet, doch nicht 'tu' ich's noch einmal', ein zweites Mal, doch tu's nicht mehr. Ich habe nun erfahren, daß du alles vermagst und kein Gedanke dir unmöglich ist. So hab' ich denn geredet ohne Einsicht von Dingen, die zu wunderbar und unbekannt für mich. V o m Hörensagen hatte ich von dir vernommen, nun aber hat mein Auge dich geschaut. D r u m widerrufe und bereue ich in Staub und Asche.

(Hi 40 4f. 42 2f. 5f.)

In tiefster Erschütterung seines Daseins wird Hiob der eigenen Nichtigkeit inne, während zugleich das bisherige Hindernis sowohl der traditionellen Frömmigkeit als auch ihrer Bestreitung schwindet, das ichhafte Bestreben und die Ansprüche an Gott weggeräumt werden und der Weg zwischen Gott und Mensch frei gemacht wird. Aus dem ohnmächtigzähneknirschenden Schweigen wird das demutsvolle Schweigen des Menschen, dessen Dasein in der persönlichen Begegnung mit Gott in Frage gestellt worden ist und für den solches Schweigen einen neuen Weg eröffnet. Gegenüber der eigenen Nichtigkeit hat Hiob die Allmacht Gottes erfahren. Ihm ist die früher bezweifelte Weisheit des göttlichen Handelns

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aufgegangen, dessen Paradoxie ihn verzweifeln ließ, während sie doch nur auf der Uneinsichtigkeit des göttlichen Wollens und Tuns beruhte. Nicht aus dem Hörensagen der Tradition, sondern erst in der lebendigen Begegnung kann der Mensch Gott erkennen und erfahren. Er muß ihn »schauen« im Sinne der Begegnung, so daß vertraute Gemeinschaft zustande kommt. In der vorbehaltlosen Hingabe an Gott und in der persönlichen Gemeinschaft mit ihm bewältigt Hiob sein Leben, trägt und erträgt er sein Geschick. Es bleibt notvoll und rätselhaft, aber es quält ihn nicht mehr, weil die Gemeinschaft mit Gott alles andere überwiegt. In seinem Buch will der Hiobdichter geradezu ein Lehrstück der persönlichen Lebensbewältigung und -gestaltung vorlegen. Er hat erfahren, daß das Leben nicht sanft und harmonisch verläuft, sofern man es mit offenen Augen betrachtet, sondern nach Unsinn, Verderben und Verzweiflung schmecken kann. Er hat auch die Auffassung der Freunde Hiobs durchschaut, die versuchen, mit dem Leben fertig zu werden, indem sie nach der herrschenden Vergeltungslehre Hell und Dunkel annehmbar und maßvoll verteilen, die Tagseite des Daseins verherrlichen und heiligsprechen, seine nächtliche Kehrseite dagegen totschweigen und die schrillen Disharmonien als rauschende Akkorde verstehen lehren. Gegenüber diesen Versuchen entscheidet sich der Dichter in der Gestalt Hiobs zur Absage an das bequeme Herkommen und sichere Rechnen und zum Aufbruch ins Neue und Unbekannte. Er ist bereit, alles fahren zu lassen und dem Ruf ins Ungewisse zu folgen. Und da er sich entschlossen hat und sich, des quälenden Fragens und trotzigen Aufbegehrens müde, in den Abgrund wirft, um zu erfahren, was seine Tiefe birgt, hebt sich diese ihm entgegen und ist nicht mehr dunkler und unheimlicher Abgrund, sondern Gottes Hand, die ihn hebt und trägt. An der äußeren Lage Hiobs ändert sich zunächst nichts. Er sitzt nach wie vor in der Asche auf dem Schutthaufen — kinderlos, arm und krank. Seine Freunde sitzen immer noch mit vorwurfsvollen und gekränkten Mienen bei ihm, in den Gesichtszügen den Abglanz des Vergeltungsglaubens. Nicht einmal eine Verheißung für die Zukunft, die ihm eine Änderung seiner Lage verspräche, erhält Hiob zu diesem Zeitpunkt. Aber dies alles bleibt weit hinter ihm. Er spürt sein Leid nicht mehr und empfindet sein Schicksal nicht mehr als die bösartige Verfolgung durch einen feindseligen Gott. Denn jetzt schaut er die Wirklichkeit dieses Gottes und erfährt seine Nähe. Äußerlich hat sich noch nichts, innerlich alles geändert. Das ist persönliche Lebensbewältigung nach dem prophetischen Modell. 3. Es wäre falsch, wenn man dies als ein Modell des Rückzugs in ein abgeschiedenes Leben stiller Einfalt und inniger Gottseligkeit verstünde. Das prophetische Modell der Weltbewältigung und Weltgestaltung ist vielmehr durch eine leidenschaftliche Hinwendung zur Welt gekennzeichnet — zu einer Welt, die nicht heil ist, sondern die der radikalen Kritik und

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der radikalen Veränderung im Sinne der Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft bedarf. Diese Veränderung soll sich freilich nicht durch revolutionäre Aktionen vollziehen — der von Elisa zeitweilig unterstützte Putsch Jehus gegen die Dynastie Omri wird später von Hosea eindeutig verurteilt! —, sondern durch ein gottbezogenes kritisches Denken und glaubendes Handeln. Fragt man also danach, wie man sich in Glaube und Hoffnung konkret zur Verwirklichung der Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft verhalten soll, so lautet die prophetische Antwort: keine revolutionäre Veränderung, in der sich doch nur wieder der Mensch zum Herrn aller Dinge macht, sondern mündiger Gehorsam des Menschen in Ausführung des göttlichen Willens, Lebensgestaltung gemäß diesem Willen je nach der Situation, Aushalten der Spannungen in einer nicht-heilen Welt, bis sie durch die Verwirklichung der Gottesherrschaft und -gemeinschaft geheilt wird. Wie dieser mündige Gehorsam gemeint ist, läßt sich aus Jes 1 I 6 b - 1 7 erschließen: Hört auf, Böses zu tun, lernt, Gutes zu tun! Trachtet nach Recht, leitet 'den Unterdrückten', schafft der Waise Recht, führt den Rechtsstreit der W i t w e !

Recht für Witwen, Waisen und Unterdrückte zu schaffen, findet sich als Pflicht des Königs schon im Epilog des babylonischen Kodex Hammurabi und in den kanaanäischen Texten von Ugarit. Das Neue bei Jesaja liegt zunächst in der Interpretation der altorientalischen sozialen Tradition. Sie ist nicht mehr auf den König, sondern auf jeden einzelnen Israeliten und sogar auf jeden Menschen bezogen. Und sie ist in den Mittelpunkt der prophetischen Forderung gestellt, um die liebende Grundhaltung des Menschen als gottgewollt zu beschreiben. Die Besonderheit der prophetischen Verkündigung kann ebenso in dem Verhältnis der Mahnung Jesajas zur israelitischen Tradition erfaßt werden, die ebenfalls Recht und Gerechtigkeit für die Schwachen forderte. Dafür ist zu beachten, daß die erste und grundlegende Forderung Jesajas lautet: Tut Gutes und nicht Böses! Die Einzelmahnungen, die darauf folgen, dienen dazu, die Grundforderung zu erläutern. Sie bilden nichts anderes als die beispielhafte und praktische Anwendung eines umfassenden Grundsatzes, der in noch anderen Situationen wieder anders anzuwenden wäre. Die Einzelanordnungen sind zu bloßen Beispielen geworden. An Stelle zahlreicher Gebote und Verbote und als ihre bisher unausgesprochene Grundlage erscheint in der prophetischen Interpretation der göttliche Wille in einer konzentrierten Grundform: Gutes tun. Die rechte

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Anwendung in der jeweiligen Situation ist Angelegenheit des mündigen Gehorsams des glaubenden Menschen. Ähnlich faßt Arnos die Grundforderung: »Sucht das Gute und nicht das Böse! — Haßt das Böse und liebt das Gute!« Öder ein anderer Prophet: 'Es ist' dir gesagt, Mensch, was gut ist. Und was fordert Jhwh von dir? Nichts als Recht tun, Verbundenheit lieben und demütig wandeln vor deinem Gott!

(Mi 6 8)

Das gültige Modell des Alten Testaments für Weltbewältigung und Weltgestaltung nach den Prinzipien von Glaube und Hoffnung im Rahmen der Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft scheint danach dasjenige der vorexilischen großen Einzelpropheten zu sein. Es geht von der notwendigen Wandlung des Menschen durch Umkehr oder Erlösung aus — einer Voraussetzung, die die utopischen oder revolutionären Programme gewöhnlich übersehen — und führt zur Umgestaltung des ganzen Lebens des Menschen, der dadurch den göttlichen Willen erfüllen und seine Welt dadurch bewältigen und gestalten kann. Dies schließt ein, daß der Mensch sich weder auf ein Dereinst oder Jenseits ausrichtet noch sich in stille Innerlichkeit zurückzieht, sondern sich zu seiner Welt hinwendet, um sie zu verändern — wieder nicht durch revolutionäre Aktionen oder gar Gewalt, sondern durch seinen mündigen Gehorsam gegenüber dem göttlichen Grundwillen.

Priester und Prophet — Amt und Charisma? Wenn wir zum Thema »Amt und Charisma« den Blick auf das Alte Testament richten, dann müssen wir dieses mit Vorsicht und Zurückhaltung befragen. Die von der unseren so stark unterschiedene geschichtliche und soziale, kulturelle und religiöse Situation Israels erlaubt kein biblizistisches Verfahren, bei dem wir uns nach mehr oder weniger passenden Belegstellen für vorher gefaßte Meinungen umsehen könnten. Es wäre aber auch unbefriedigend, nur die geschichtlichen Zusammenhänge und Hintergründe aufzudecken. Natürlich müssen die geschichtlichen Gegebenheiten gebührend berücksichtigt werden. Doch darüber hinaus müssen wir mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln nach allgemeinen und grundsätzlichen Einsichten und Erkenntnissen fragen — vor allem nach solchen, die die Strukturen von Priestertum und Prophetentum betreffen, um aus strukturellen Ähnlichkeiten, Unterschieden oder Gegensätzen einige Folgerungen für unser Thema zu gewinnen. I. Unsere Sicht von Priester und Prophet im Alten Testament als Frage nach Amt und Charisma ist stark durch die Verhältnisse der nachexilischen Zeit bestimmt. Die Prophetie stellte sich damals vornehmlich als eine Erscheinung der Vergangenheit dar, die im wesentlichen überschaut und beurteilt werden konnte. Aus den Schriften, die sie hinterlassen hatte und die allmählich kanonische Geltung erlangten, konnte die jeweils lebende Generation den Willen Gottes kennenlernen, um sich danach zu richten. So drückt es schon Sacharja, ein prophetischer Nachfahr, im Jahre 520 aus: So spricht Jhwh Zebaot: Kehrt euch zu mir, so werde ich mich zu euch kehren! Seid nicht wie eure Väter, denen die früheren Propheten zugerufen haben: So spricht Jhwh Zebaot: Kehrt um von euren bösen Wegen und euren bösen Taten! Aber sie hörten nicht und achteten nicht auf mich, ist der Spruch Jhwhs.

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Eure Väter — w o sind sie? U n d die Propheten — können sie ewig leben? Aber meine Worte und Beschlüsse, die ich meinen Knechten, den Propheten, aufgetragen habe, haben die nicht eure Väter getroffen? D a wandelten sie sich und sagten: Wie Jhwh Zebaot sich vorgenommen hatte, mit uns zu verfahren gemäß unseren Wegen und Taten, so ist er mit uns verfahren.

(Sach 1 3-6)

Das Widerfahrnis des Untergangs des Staates Juda und seiner Hauptstadt Jerusalem und das Insichgehen in der Zeit des babylonischen Exils, auf die Sacharja anspielt, hat die Geltung der vorexilischen Propheten für die Nachwelt begründet und verlieh ihnen den Anspruch, weiterhin gehört und beachtet zu werden. Aber die Stimme der »Charismatiker«, der vom göttlichen Geist Erfüllten und Begabten, als die man sie verstand, war nicht mehr unmittelbar gegenwärtig, sondern drang nur aus der Vergangenheit an das Ohr der Lebenden, wenn die Prophetenworte verlesen und für die Gegenwart ausgelegt wurden. Die Propheten der nachexilischen Zeit haben erst um ihre Anerkennung ringen müssen, obschon es genug von ihrer Art gegeben hat. Demgegenüber stand als eine gegenwärtige Größe das Priestertum. Das Verhältnis, in dem es sich zur Gemeinde sah, wird durch die Lagerordnung der wandernden Wüstengeneration Israels versinnbildlicht, die die priesterschriftliche Quellenschicht des Pentateuchs in N u m 2 beschreibt: Die Priester und Leviten lagern als Trenn- und Schutzwall zwischen dem Heiligtum, der sog. Stiftshütte, und dem Volk. Es gibt demnach für die Gemeinde keinen unmittelbaren Zugang zu ihrem Gott, der Weg führt vielmehr über den Priester als Mittler. Ebenso redet Gott nicht mehr unmittelbar zur Gemeinde, sondern durch Mose und Aron. Priesterschaft und Gemeinde sind voneinander geschiedene Größen, die Gemeinde ist für den Gottesdienst und für die Beziehung zu Gott überhaupt auf die Priesterschaft angewiesen und von ihr abhängig. So ist ein deutliches Gegenüber feststellbar, das ein Verhältnis des Angewiesenseins und der Abhängigkeit der Gemeinde und natürlich auch des einzelnen Glaubenden von der Tätigkeit des Priesters darstellt. Die Gesamtpriesterschaft war hierarchisch gegliedert. An ihrer Spitze stand seit Beginn der nachexilischen Zeit der Hohepriester, dessen Amt in der Königszeit noch nicht bestanden hatte. Nach dem Wegfall des jüdischen Königtums hat er in mancher Hinsicht ursprünglich königliche Rechte und Aufgaben übernommen; auch manche Teile seiner Kleidung mögen von der königlichen Gewandung stammen. Einen guten Eindruck von seinem Ansehen und einigen seiner Aufgaben vermittelt der Lobpreis des Hohenpriesters Simon II. im Buch Jesus Sirach 50 5-21:

Priester und Prophet — Amt und Charisma ? Wie herrlich war er, wenn er aus dem Zelte herausschaute und wenn er zwischen dem Vorhang hervortrat: wie ein leuchtender Stern zwischen den Wolken und wie der Vollmond in den Tagen des Festes, wie die strahlende Sonne über dem Palast des Königs und wie der Regenbogen, der im Gewölk erscheint, wie eine Blüte an den Zweigen in den Tagen des Festes und wie eine Lilie an Wasserbächen, wie das Grün des Libanon in den Tagen des Sommers und wie das Weihrauchfeuer auf dem Speiseopfer, wie ein mit Gold überzogenes Gefäß und ein*Becher, der besetzt ist mit Edelsteinen, wie ein grünender Olivenbaum voller Früchte und wie ein (wilder) Ölbaum mit üppigen Zweigen. (Wie herrlich war er), wenn er die Ehrengewänder angelegt, und sich mit der 'ganzen' Pracht bekleidet hatte, wenn er emporstieg zum erhabenen Altar und den Vorhof des Heiligtums mit Glanz erfüllte, wenn er die Stücke (des Opferfleisches) aus der Hand seiner Brüder nahm, während er selbst oben beim aufgeschichteten Opferholz stand, rings um ihn der Söhne Kranz wie Zedernsetzlinge auf dem Libanon; und wie Weiden am Bach umgaben ihn alle Söhne Arons in ihrem Schmuck. Die Feueropfer Jhwhs waren in ihrer Hand vor der ganzen Versammlung Israels, bis er den Altardienst vollendet hatte und die Ordnung der aufgeschichteten Brandopfer für den Allerhöchsten. Nun streckte er seine Hand nach dem Becher aus und opferte vom Traubenblute; er goß es am Fuß des Altars aus zum lieblichen Wohlgeruch für den Allerhöchsten, den König des Alls. Dann stießen die Söhne Arons in die getriebenen Trompeten; sie bliesen und ließen gewaltigen Schall erklingen zur Erinnerung vor dem Allerhöchsten. Alle Versammelten insgesamt beeilten sich und fielen auf ihr Angesicht zur Erde nieder, um anzubeten vor dem Allerhöchsten, vor dem Heiligen Israels. Da erklang der (Psalmen)gesang und 'ließ' über die Menge hin 'süßen Schall ertönen'. Das ganze Volk des Landes jubelte im Gebet vor dem Barmherzigen, bis er den 'Dienst J h w h s ' vollendet und ihm seine vorgeschriebenen Opfer dargebracht hatte. Dann stieg er herab und erhob seine Hände über die ganze Versammlung Israels.

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Der Segen Jhwhs war auf seinen Lippen, und (der Nennung) seines Namens durfte er sich rühmen. Da fielen sie zum zweiten Male nieder, um 'den Segen' von ihm zu 'empfangen'.

In der eigentlichen Priesterschaft gab es längere Zeit zwei rivalisierende Gruppen. Die eine Gruppe waren die zadokidischen Priester, die mit der ersten Heimkehrergruppe aus Babylonien zurückgekehrt waren; sie leiteten sich von dem Priester Zadok ab, den David in Jerusalem eingesetzt hatte. Die andere Gruppe war mehr als ein Jahrhundert später mit Esra nach Jerusalem zurückgekehrt; sie führte sich auf Itamar zurück (Esr 8 2) und stammte wohl von Abjatar ab, dem zweiten wichtigen Priester der Davidzeit. Ein Ausgleich zwischen beiden Gruppen wurde dadurch erreicht, daß Aron zum gemeinsamen letzten Stammvater erklärt wurde. Die Tempeldienste niederer Art — darunter das Schlachten der Opfertiere, die Beschaffung und Bereitung der Opfermaterien, die Reinigung und Reinhaltung des Tempels — oblagen den nichtaronidischen Levi-Nachkommen, den Leviten. Ursprünglich sind sie wohl die Priester der Landheiligtümer gewesen. Ihr tatsächliches geringeres Ansehen wurde während des Exils durch E z 44 4-31 in eine Degradierung umgewandelt und diese rechtlich untermauert. Die Unterordnung unter die aronidischen Priester als Clerus minor führte zu mannigfachen Konflikten, die sich teilweise in N u m 16 widerspiegeln (Erzählungen vom Aufruhr Korachs sowie Datans und Abirams gegen Mose). Doch wie die Leviten sich mit dem priesterlichen Establishment stritten und wachsenden Einfluß gewannen — ein Zeichen ihrer Aufwertung ist die Zurückführung der levitischen Dienstordnungen auf David in I Chr —, so war ihr Status wieder das erstrebenswerte Ziel anderer, unter ihnen stehender Gruppen. Und im Laufe der Zeit und nach anscheinend heftigen Auseinandersetzungen gelang es solchen Gruppen — so den Sängern, Musikern und Torhütern — unter die Leviten aufgenommen zu werden; d . h . auch Dienste, die früher von Sklaven ausgeübt worden waren, erhielten levitische Würdigung. Die hauptsächliche Aufgabe dieser hierarchisch gegliederten Priesterschaft war der Opferkultus, zu dem auch Musik und Gesang gehörten. Das Darbringen der Opfer war nicht nur die Pflicht, sondern sogar das ausschließliche Recht der Priester, so daß man von einem priesterlichen Opfermonopol sprechen kann. Die Darbringung war durch Opferanweisungen sorgsam und genau geregelt, um Versehen und Mißstände auszuschließen, die den Opfern ihre sühnende Kraft hätten nehmen können. Und da die Opfer vor allem der Sühnung von Vergehen und dem Erlangen göttlicher Barmherzigkeit dienten, übten die Priester sozusagen ein Amt der Sühnung und Versöhnung aus. Während die Priester gewöhnlich keine besondere Weihe oder Einführung erhalten zu haben scheinen, steht es im Frühjudentum in einem Falle anders: Der Hohepriester wurde gesalbt (Sir 45 15 II Makk 1 10; im Alten

Priester und Prophet — A m t und Charisma ?

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Testament in bezug auf Aron Ex 29 7 Lev 8 12; von »dem Priester« Lev 4 3ff. 6 15 16 32 21 10). Zwar ist auch davon die Rede, daß alle »Söhne Arons« gesalbt werden (Ex 28 41 30 30 40 15 Lev 7 36), und man hat dies manchmal so verstanden, daß alle Priester bei der Einsetzung in ihren Dienst gesalbt worden seien. Wahrscheinlich aber setzen alle Belege die Situation im Sinai voraus und beziehen sich konkret auf die vier Aronsöhne und nicht auf die von zweien von ihnen hergeleiteten Priester. So muß man wohl die Salbung des Hohenpriesters allein annehmen. Sie diente dazu, den Hohenpriester zu »heiligen«. Da dieser Ausdruck niemals für eine Salbung zum König gebraucht wird, ist die Salbung des Hohenpriesters nicht aus einer Übertragung der Königssalbung auf den Hohenpriester zu erklären und daher nicht als Weihe- oder Einsetzungsritus zu verstehen. Sie wird auch immer mit seiner Stellung im Kultus und nicht mit einer politischen Machtstellung in Verbindung gebracht. Ihre Wurzel liegt im kultischen Bereich. Wie Jakob einen Stein mit ö l übergoß und »salbte« (Gen 28 18 31 13 35 14) und wie Mose es mit dem Zelt der Begegnung und seinem Zubehör tat, so daß dies alles aus dem profanen Bereich ausgesondert und zu Kultgegenständen gemacht wurde, so nahm die Salbung den Hohepriester aus der Profanität seiner Umwelt heraus, damit er als oberster Priester in besonderer Weise »heilig« war und unter anderem das Allerheiligste des Tempels betreten durfte. Die Salbung des Hohenpriesters hat also mit einer Amtsweihe oder einer Ordination nichts zu tun, sondern erklärt sich aus den alttestamentlich-jüdischen Vorstellungen über kultische Reinheit und Unreinheit. Eine Ordination kennt erst das nachbiblische Frühjudentum bei den Schriftgelehrten. Als ihr Stand sich im 2./1. Jh. verfestigte und etablierte — es hat Schriftgelehrte schon früher gegeben! — wurde es üblich, die Bevollmächtigung zur Wahrnehmung der Rechte und Pflichten eines Rabbi durch eine öffentliche Handlung vorzunehmen. Dabei wurde der zu Ordinierende von seinem Meister unter Mitwirkung von zwei Assistenten durch Handauflegung ordiniert. Diese Handlung der Handauflegung war entscheidend. Sie knüpfte an die Übertragung der Vollmacht Moses an Josua an, wie die nachexilische Priesterschrift sie erzählt — Handauflegung als Ritus zur Übertragung des Charismas, so daß Josua den Geist zur Ausübung seiner Tätigkeit empfing —, und sollte die von Mose bis in die Gegenwart der Rabbinen reichende Traditionskette fortsetzen. Diese Ordination war zugleich ein Rechtsakt (Erteilung der legitimierenden Autorisation) und die Ubereignung der Gabe der Weisheit durch den Lehrer an den neuen Rabbi. Es ist für die heutige Diskussion vielleicht nützlich, zu sehen, 1. daß die Ordination ursprünglich beim Schriftgelehrten oder Rabbi stattgefunden hat, 2. daß sie zunächst die rechtliche Legitimierung oder Autorisierung zum Lehren bedeutete, 3. daß der Lehrer durch die Handauflegung die Gabe der Weisheit weitergab und 4. daß die Ordination die Fortsetzung der Traditionskette von Mose bis in die jeweilige Gegenwart bedeutete. Von

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ihrem Ursprung her ist die Ordination nicht an eine hierarchisch-klerikale Struktur gebunden. Blicken wir auf das Bild der nachexilischen Zeit zurück, so zeigen sich einerseits strukturelle Veränderungen in der Priesterschaft — rivalisierende Priestergruppen und Ausgleich zwischen ihnen, Aufstieg von niederen Gruppen in die Leviten —, andererseits strukturelle Verhärtungen — als die Hasmonäerkönige das Amt des Hohenpriesters an sich zogen, blieb den dagegen opponierenden zadokidischen Gruppen keine andere Möglichkeit, als sich vom Jerusalemer Tempel und Priestertum loszusagen und eine eigene Gemeinde, die Gemeinde von Qumran, zu gründen. Insgesamt ist die nachexilische Priesterschaft, die schließlich als eine in sich geschlossene Größe von achtungerweckendem Aufbau erscheint, das Ergebnis einer langen geschichtlichen und theologischen Entwicklung, die weit in die nachexilische Zeit hineinreicht und erst spät ihren Abschluß findet. Sowohl ihr hierarchischer Aufbau als auch ihre immer stärker werdende innere Verfestigung beruhen weder auf einer Offenbarung noch auf religiösen oder theologischen Traditionen, sondern sind das Ergebnis der geschichtlichen Situation. Nach dem Wegfall von Staat und Königtum übernahm der Hohepriester die leitenden Tempel- und Kultfunktionen des Königs. Die auf das eine Heiligtum in Jerusalem angewiesenen Priestergruppen suchten sich jeweils gegeneinander durchzusetzen und einen möglichst hohen Rang zu erreichen. Die geringere Bedeutung der nachexilischen Prophetie, deren hochgespannte eschatologische Hoffnungen bald gescheitert sind, begünstigte das Vordringen der priesterlich-klerikalen Richtung, die sich die Gemeinde unterwarf. Von da aus stellt sich die Frage, wie es um Priestertum und Prophetentum und um die Aufteilung von »Amt« und »Charisma« in der vorexilischen, insbesondere in der Königszeit, bestellt gewesen ist. II. Betrachten wir zunächst das Priestertum! In der Zeit nach der Seßhaftwerdung Israels in Palästina konnte jeder freie Israelit als Priester angestellt werden; so setzte nach Jdc 17 5 Micha einen Sohn als Priester für sein Heiligtum ein. Meist aber waren die Heiligtümer fest in der Hand von Priesterfamilien, in denen die Söhne den Beruf vom Vater übernahmen. So kennen wir die Eliden in Silo, die sich der Herkunft aus der Moseschar rühmten, die Aroniden im vorstaatlichen Betel, die sich vom Sohne Moses herleitende Priesterschaft in Dan und die Priesterschaft in Nob, die Saul mit Ausnahme Abjatars wegen Begünstigung Davids hinrichten ließ (I Sam 21 f.). An anderen Heiligtümern hat es weitere Priestergeschlechter gegeben. Der Priester wurde in seine Tätigkeit nicht wie ein Arnos oder Jesaja berufen, sondern übernahm sie als Angehöriger einer Priesterfamilie. Er wurde auch nicht mittels eines Ritus geweiht, sondern trat seinen Dienst

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ohne dergleichen an; seine Tätigkeit selbst heiligte ihn. Er wurde durch sie vom profanen Bereich und Leben ausgesondert, mußte davon getrennt bleiben und wurde darum mancherlei Verboten und Reinheitsvorschriften unterworfen, die sich im Laufe der Zeit verschärften (vgl. Ex 28 42f. 30 17. 21 40 3lf. Lev 8 6 10 8-11 21 1-7 Num 8 7). Durch seine Abstammung von einer bestimmten Priesterfamilie war er für den Dienst desjenigen Heiligtums eingesetzt, zu dem jene gehörte, und teilte mit seiner Familie dessen Schicksal. Wie also der Jerusalemer Tempel das wichtigste und dann das einzige Heiligtum wurde, so erlangte seine Priesterschaft den Vorrang vor den Priestern der Landschaft. Für die Einsetzung des Priesters wurde der alte Ausdruck »seine Hand füllen« verwendet (Jdc 17 12). Er umschreibt wahrscheinlich das Recht des Priesters auf einen Teil der Opfergaben und der Einkünfte des Heiligtums. Allgemein galt, daß der Priester vom Altar lebt: Er erhielt — mit Ausnahme der Brandopfer — einen Teil der Opfertiere, wahrscheinlich auch einen Teil der vegetabilischen Gaben und Erstlinge sowie des Zehnten. Daß Mißbräuche vorkamen, geht aus I Sam 2 17 und Hos 4 8 hervor. Wenigstens am königlichen Tempel in Jerusalem waren die Priester königliche Beamte. Ihre Oberen gehörten zu den hohen Beamten (I Reg 4 2), wurden vom König ein- und abgesetzt (I Reg 2 27. 35) und erhielten von ihm Anordnungen (II Reg 12 5 - 1 7 16 1 0 - 1 6 ) . Von da aus werden auch die Anfänge einer Rangordnung innerhalb der Priesterschaft erklärlich. In Jerusalem stand an ihrer Spitze »der Priester«, der »Ober«- oder »Hauptpriester« (I Reg 4 2 II Reg 25 18), der die anderen Priester beaufsichtigte und dem König verantwortlich war. Ihm folgte der »Zweitpriester«, nach Jer 29 24ff. der Tempelaufseher und Befehlshaber der Tempelpolizei. Diese Ämter zeigen ebenso wie die Stellung der »Ältesten der Priester«, der Häupter der Priesterfamilien (II Reg 19 2), daß die Anfänge einer hierarchischen Ordnung vorwiegend praktisch bedingt waren: durch ein System der Verantwortlichkeit und durch Ordnungs- und organisatorische Erfordernisse. Von der zweiten priesterlichen Gruppe, den Leviten, ist während der Königszeit kaum die Rede. Nur I Reg 12 21 13 33 werfen Jerobeam I. vor, daß er im Staatsheiligtum Betel nichtlevitische Priester eingesetzt habe. Doch wird man annehmen können, daß Leviten an den weniger wichtigen Landheiligtümern tätig waren, nicht dagegen an den Staats- und Stammesheiligtümern. Darin liegt der Ansatz für die Bildung eines Clerus minor. Für die ältere Zeit sind Leviten lediglich für Dan als ständige Priester eines bestimmten Heiligtums bezeugt. Ihre Herkunft und ihre Tätigkeit sind angesichts der dürftigen Belege umstritten. Jedenfalls hat ein Unterschied zwischen Priestern und Leviten bestanden, ohne daß sich erkennen läßt, worin man ihn erblickt hat. Wichtig ist, daß dennoch beide — Priester und Levit — die gleichen Aufgaben wahrgenommen haben. Vielleicht waren die Leviten gewöhnlich nicht an ein bestimmtes Heiligtum gebunden, sondern

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zogen im Lande umher und betätigten sich an den kleinen Kultstätten, die ohne eigene Priesterfamilien waren. Zu den Aufgaben des Priesters gehörten vor allem das Einholen von Orakel und Gottesurteil, das Erteilen von Weisungen bzw. Belehrungen und das Aussprechen von Segen oder Fluch. Dies sind Tätigkeiten, die man weitgehend als »charismatisch« bezeichnen kann. Dagegen war die Betätigung des Priesters beim Opfer zunächst gering; sie umfaßte nur die Begutachtung der Opfertiere, das Ausgießen des Blutes, das Niederlegen der für Jhwh bestimmten Tierteile auf dem Altar und das Räucheropfer. Erst später wurde die Opferhandlung mehr und mehr dem Priester allein vorbehalten und ein priesterliches Monopol. Lange Zeit jedoch durften nicht nur Priester und Leviten die Kulthandlungen vornehmen. Vielmehr war zumindest jeder Familienvater dazu berechtigt, Opfer darzubringen (Jdc 6 2 5 f f . 13 1 5 f f . ) oder sogar einen Kultus einzurichten (Jdc 8 27 17 15). Der Priester war freilich dadurch gekennzeichnet, daß er in seinen verschiedenen Aufgaben einerseits Gott vor den Menschen vertrat (Orakel, Gottesurteil, Weisung, Segen und Fluch), andererseits den Menschen vor Gott (Opfer). So wirkte er durch seine Tätigkeit als Mittler zwischen Gott und Mensch. Man kann nach alledem schwerlich sagen, daß der Priester ein »Amt« bekleidete und ausübte. Er übte einen Beruf aus, den er ererbt hatte und in den er ohne besondere Berufung oder Weihe eintrat. Dieser Beruf umfaßte bestimmte Aufgaben und Funktionen, deren wichtigste »charismatische« Begabung erforderten, während andere (Darbringung von Opfern) auch von Nichtpriestern wahrgenommen werden konnten. Erst die deuteronomische Reform des Königs Josia um 622, die die Landheiligtümer aufhob und die Landpriester nach Jerusalem versetzte, wo sie entgegen der Bestimmung des deuteronomischen Gesetzes nur untergeordnete Dienste verrichten durften, und die Katastrophe des staatlichen Untergangs Judas und des babylonischen Exils bilden den tiefen Einschnitt, jenseits dessen das nachexilische Priestertum erwuchs. III. Wenden wir uns nunmehr dem Prophetentum zu! W i r können dabei die Früh- und Übergangsformen übergehen und sogleich das Prophetentum vom 8. und 7. Jh. an ins Auge fassen. Wir müssen nur beachten, daß das Prophetentum eine wesentlich ältere Geschichte hat, als man früher vermutete und daß die sog. Schriftpropheten nicht am Anfang stehen, sondern erst verhältnismäßig spät ihren Ort in dieser Geschichte haben. Doch auch das alttestamentliche Prophetentum dieser Zeit, einschließlich der Schriftpropheten, ist eine umfassendere und verwickeitere Erscheinung, als man gewöhnlich meint. Wir haben vor allem eine große und umfassende Gruppe entdeckt, die den eigentlich tragenden Grund des Prophetenstandes gebildet hat. Als

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ganze bezeichnet man sie am besten als kultisch-populäre Berufsprophetie. Außer ungebundenen Propheten, die im Lande herumzogen, kann man zwei Gruppen unterscheiden, wenn sie auch praktisch weitgehend zusammenfallen. Es sind zunächst die Kultpropheten, die überall im Lande neben den Priestern oder Leviten an den Heiligtümern tätig waren. Worte solcher Kultpropheten finden sich in verschiedenen Psalmen oder Psalmenversen (Ps 2.21.36.60.81.85.110.132), in Einzelabschnitten von Prophetenbüchern (z. B. Jes 2 4 - 2 7 . 3 3 . 6 3 7 - 6 4 11 Mi 7 8 - 2 0 ) und sogar in ganzen Prophetenbüchern (Nahum, Habakuk, Joel). Es gab ferner die Hofpropheten, die am Königshofe (und wohl auch bei anderen Würdenträgern) als prophetische Berater tätig waren. Soweit sie mit einem königlichen Heiligtum verbunden waren, sind sie mit den Kultpropheten identisch. Sie verhießen dem König vor einem Feldzug den gewünschten Sieg (I Reg 22) oder vertraten wie Chananja die königliche Politik gegen Andersdenkende (Jer 27f.). Die Kultpropheten begegnen in der Geschichte Israels schon sehr früh. Bei der Salbung Salomos zum König waren Priester und Prophet beteiligt. Man erfährt von manchen Heiligtümern, daß sie mit Prophetengruppen ausgestattet waren, die an ihnen ihren Sitz hatten. Für die Zeit Jeremias ist es selbstverständlich, daß man Priester und Prophet in einem Atem nennt, ein Priester aber die Aufsicht über die Jerusalemer Kultpropheten führt. N o c h in der nachexilischen Zeit hat es solche Propheten gegeben, wie an Joel und an den kultprophetischen Abschnitten in den Büchern Jesaja und Micha zu sehen ist. Es handelt sich also um einen Berufsstand, der viele Jahrhunderte hindurch bestanden und in Israel eine sehr bedeutende Rolle gespielt hat. Wir sehen ihn an den Heiligtümern neben den Priestern oder Leviten als Teil des Tempelpersonals tätig, wenn auch vielleicht nicht so fest in es eingegliedert und nicht so eng mit einem bestimmten Heiligtum verbunden, wie es für den Priesterstand bezeichnend ist. Wir sehen ihn ferner berufsmäßig tätig, so daß eine Entlohnung gewährt wird und die Tätigkeit wahrscheinlich wie damals für alle Berufe erblich ist. Die Aufgabe der Kultpropheten bestand 1. darin, auf Anfragen hin oder ungefragt, wenn der »Geist« Jhwhs über sie kam, göttliche Orakel zu erteilen und darin den göttlichen Willen zu verkünden; 2. als Vertreter des Volkes oder eines Menschen vor Gott — aufgefordert oder nicht — Fürbitte zu üben. In diesem zweifachen Sinne waren die Kultpropheten — ähnlich wie die Priester — als Mittler zwischen Gott und Mensch tätig. Noch eine nicht unwichtige Feststellung ist hinzuzufügen: Es hat in Israel keine Priesterinnen an den Jhwh-Heiligtümern gegeben, obschon singende und tanzende Frauen bei religiösen Festen erwähnt werden (Ex 15 20 J d c 21 21 Ps 68 26). Wohl aber ist bei einzelnen Gelegenheiten die Rede von Prophetinnen. So hat Jesaja eine Prophetin zur Frau gehabt (Jes 8 3); die Prophetin Hulda wird nach der Auffindung des deuteronomischen Gesetzes vom König um ein Orakel gebeten (II Reg 22 14); Neh 6 14 nennt die

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gegen Nehemia feindlich gesinnte Prophetin Noadja. Das sind nur wenige Hinweise, bei denen es sich wahrscheinlich um Kultprophetinnen gehandelt hat; sicherlich hat es auch beträchtlich weniger Prophetinnen als Propheten gegeben. Doch hat es sich nicht nur um die genannten drei Prophetinnen gehandelt, die aus besonderen Gründen erwähnt werden; auch von den vielen tausend Berufspropheten werden nur wenige namentlich angeführt. Neben der kultisch-populären Berufsprophetie steht eine andere Gruppe, die zahlenmäßig nur klein, an Bedeutung aber im Alten Testament unübertroffen ist. Es sind die großen Einzelpropheten, zu denen Arnos und Hosea, Jesaja und Micha, Zephanja und Jeremia, Ezechiel und teilweise Deuterojesaja gehören. Sie üben ihre Tätigkeit nicht berufsmäßig aus, sondern aufgrund ihrer besonderen Berufung, die sie aus ihrem ursprünglichen Beruf herausgerissen hatte. In ihnen erreicht die alttestamentliche Prophetie ihren Gipfel; und obwohl sie mit den anderen unter dem einen Begriff »Prophet« zusammengefaßt sind, überwog bei ihnen doch das Trennende. Sie standen im Leben ihres Volkes nicht als Glieder einer Gilde oder eines Standes, nicht als Vertreter eines Stammes oder einer Sippe, nicht als Beamte eines Heiligtums oder Königs, sondern wußten sich ausschließlich als Vertreter, Botschafter und Herolde ihres Gottes. Sie standen jenseits aller sozialen und verwandtschaftlichen Bindungen, so daß von ihnen nach Dtn 33 9 gesagt werden könnte: Der von seinem Vater und seiner Mutter sagt: ich sehe ihn nicht!, der seine Brüder nicht anschaut, seinen Sohn nicht kennt.

Sie lehrten vielmehr, was Gott sie lehrte, und folgten allein ihm, auch wenn sie leiden mußten. Wenn überhaupt jemand, dann gaben sie theologische oder glaubenserfüllte Kommentare zu Ereignissen ihrer Zeit — jedoch nicht aufgrund von Angebot und Nachfrage, nicht in einem amtlichen oder kirchlichen Auftrag, sondern in unmittelbarer göttlicher Sendung. Daher treten sie mit den ihre Sprüche einleitenden Worten auf: »So spricht Jhwh«. Wenn wir demnach von den Propheten sprechen, müssen wir uns darüber klar sein, daß die Lage damals umgekehrt war wie heute. Wenn wir von ihnen sprechen, denken wie an die wenigen großen Einzelpropheten und sehen dahinter nur verschwommen — wenn überhaupt — die große und tragende Gruppe der Berufspropheten. Tatsächlich war es in Israel entgegengesetzt. Da dachte man in erster Linie an die Berufspropheten als den prophetischen Stand, neben dem die anderen nur vereinzelt aufgetreten sind. Die großen Einzelpropheten waren Sondererscheinungen, heute äußerlich gelegentlichen Wanderpredigern gegenüber dem umfassenden Stand der Pfarrer vergleichbar. Diese Auffassung hat sich erst unter dem Einfluß der vom deuteronomischen Gesetz bestimmten theologischen Schule im babylonischen Exil zu ändern begonnen, als man einsah, daß eben jene Wenigen

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recht gehabt hatten und alle Kultpropheten unrecht. Daher hat in nachexilischer Zeit die Kultprophetie zunehmend an Bedeutung verloren und ist endlich in den Tempelsängern aufgegangen, als sie keine Beachtung mehr fand. Dagegen hat man die Worte der großen Einzelpropheten in viel stärkerem Maße gesammelt und allmählich der entstehenden heiligen Schrift eingefügt. Aus der bisherigen Ubersicht und weiteren Beobachtungen ergeben sich einige Erkenntnisse: 1. Die Berufspropheten bekleideten kein Amt, sondern übten wie die Priester einen Beruf aus. Nur die wenigen großen Einzelpropheten fallen aus diesem Schema heraus; sie sind aus ihrem ererbten Beruf herausgerissen worden — so Arnos aus dem eines Vieh- und Maulbeerfeigenbaumzüchters, Jeremia und Ezechiel aus dem eines Priesters —, um das Jhwh-Wort zu verkündigen. Zumindest Arnos hat seinen Lebensunterhalt aus den Einkünften seines bisherigen Berufs bestritten. 2. Die Berufspropheten haben offensichtlich weder eine Weihe noch eine Ordination oder dergleichen erhalten. Auch von einem Berufungserlebnis ist bei ihnen nicht die Rede. Eine solche, mit Vision und Audition verbundene göttliche Berufung haben nur die oder einige der großen Einzelpropheten erlebt wie Jesaja, Jeremia und Ezechiel. Doch diese Propheten sind mit den Berufspropheten gerade nicht vergleichbar, sondern stellen Sondererscheinungen dar. 3. Wie die Priester übten die Propheten eine »charismatische« Tätigkeit aus, insbesondere wenn sie Orakel erteilten und darin den göttlichen Willen verkündeten. Der Unterschied zu den Priestern bestand vor allem darin, daß die Propheten in stärkerem Maße spontan und häufig in ekstatischem Zustand handelten, während die Priester sich in stärkerem Maße technischer Mittel bedienten (z. B. Losorakel). Doch wie mit dem Begriff »Amt« sollte man in bezug auf das Alte Testament mit dem Begriff »Charisma« vorsichtig und zurückhaltend sein. Man gebraucht ihn zu vielseitig und umfassend, so für die Stammeshelden der vorstaatlichen Zeit, für eine Reihe von Königen, für Seher und Propheten. Es ist besser, die mit dem Begriff bei den Propheten gemeinte unmittelbare göttliche Gnadengabe genauer zu beschreiben, als ein abgegriffenes Schlagwort zu verwenden. Bei den Propheten handelt es sich um einen Augenblick persönlicher Gottergriffenheit als letzte Quelle der prophetischen Tätigkeit. In ihm kommen der »Geist« oder das »Wort« Gottes über den Propheten. Dabei macht dieser eine »geheime Erfahrung«. Dazu gehören wenigstens vier verschiedene Erscheinungen: die Vision (innere Schau, z. B. Jes 6), die Audition (inneres Hören, z. B. Jer 4 5 - 2 2 ) , die plötzliche Eingebung (z. B. Jes 7 10-17) und das wunderbare Wissen (z. B. der »Feind aus dem Norden« in der Anfangszeit Jeremias). Diese Art »charismatischer« Begabung der Propheten unterscheidet sich deutlich von derjenigen der Priester, die sich äußerlicher Mittel bedienten.

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Wie war schließlich das Verhältnis zwischen Priestern und Propheten, die beide — wenn wir von den Propheten nur die Berufspropheten berücksichtigen — einen religiös-kultischen Beruf an den Heiligtümern ausübten, der in verschiedener Weise »charismatische« Fähigkeiten erforderte? Im allgemeinen wissen wir darüber sehr wenig. Doch war in Jerusalem ein Priester über die Verrückten und Verzückten im Tempel eingesetzt und hatte das Recht, sie zu züchtigen (Jer 29 26), so daß die Kultpropheten vermutlich geringeren Rang als die Priester hatten. Dem entspricht es, daß in der spätnachexilischen Zeit die Kultpropheten in den levitischen Tempelsängern, also im Clerus minor, aufgegangen sind. Abgesehen davon sind beide — Priester und Kultprophet — von den großen Einzelpropheten gemeinsam und getrennt angegriffen, verklagt und verurteilt worden. Hier spricht sich der persönlich berufene »Charismatiker« gegen die Vertreter religiöskultischer Berufe aus. IV. Abschließend lassen sich einige Erkenntnisse und Ergebnisse zusammenstellen: 1. Der Begriff »Amt« läßt sich für Priester und Prophet nur sehr eingeschränkt verwenden und ist besser zu vermeiden. Beide übten einen gewöhnlich ererbten und vererblichen Beruf aus. Auch der Begriff »Charisma«, der für beide zuträfe, ist zu unbestimmt und muß jeweils genauer beschrieben werden. 2. Es gibt keine Ordination und keine Weihe bei der Aufnahme der beruflichen Tätigkeit. Die Salbung des nachexilischen Hohenpriesters ist ein Sonderfall. 3. Während es keine Priesterinnen gegeben hat, ist das Auftreten und Wirken von Prophetinnen belegt. 4. Priester und Prophet stehen nicht in einem Gegenüber zur Gemeinde, sondern sind in ihr als Mittler zwischen Gott und Mensch tätig. 5. Ausgangspunkt für die hierarchische Gliederung der Priesterschaft sind vor allem der Ausbau der Organisation, die Behaftung einzelner Priester mit Verantwortlichkeit und die Ordnungsverhältnisse innerhalb der Priesterschaft. 6. Die Entwicklung des Priestertums von der Königs- bis in die nachexilische Zeit zeigt sowohl die Möglichkeit struktureller Veränderungen als auch die Gefahr struktureller Verhärtungen.

Die Familiengemeinschaft I. Bis weit in die Neuzeit hinein hat die Familie für den abendländischen Menschen grundlegende Bedeutung besessen. Die Ursachen dafür, daß es sich heute weithin nicht mehr so verhält, brauchen an dieser Stelle nicht verfolgt zu werden; sie kommen wenigstens teilweise noch zur Sprache. Wichtiger ist, daß die deutlich erkennbare Bedrohung der Familie von vielen Seiten gesehen wird und die Frage wachgerufen hat, wie die Schäden geheilt werden können und was zu tun ist, um wieder eine feste Grundlage für das Gedeihen der Familie zu bilden. Daß man sich mit diesen Problemen immer wieder befaßt, hat seine Berechtigung darin, daß die Familie tatsächlich die entscheidende Lebensgemeinschaft für den einzelnen bildet oder doch bilden sollte. In sie wird er geboren und in ihr muß er aufwachsen, um das Leben meistern zu lernen. Als Erwachsener muß er sie neu gründen, hegen und pflegen, um eine weitere Keimzelle neuen Lebens zu schaffen. Er wird aus ihr Kräfte schöpfen, die er für seinen Lebenskampf benötigt. Angesichts der grundlegenden Wichtigkeit der Familiengemeinschaft fragt es sich, was das Alte Testament über sie zu sagen weiß. Es könnte sein, daß es nicht nur die Erkenntnis über die Bedeutung der Familie vertieft, sondern auch Hinweise für die Bemühungen enthält, die Familie aus ihren heutigen Bedrohungen herauszuführen. Freilich ist in diesem Falle besonders zu beachten, daß die äußeren Verhältnisse in Israel von den unseren sehr verschieden und ihnen vielfach entgegengesetzt waren. In unserer Lage geht es weithin darum, daß der Einzelmensch — aber auch die Familie — von übergreifenden kollektiven Mächten bedroht sind und sich ihnen entgegenstemmen müssen, um nicht überwältigt zu werden. Damals dagegen ging es darum, daß der einzelne sich aus den kollektiven Verflechtungen, in denen er wie selbstverständlich gelebt hatte, erst zu lösen suchte, um wirklich Person zu werden. Daher müssen wir in der Frage der Familie den richtungsweisenden Motiven und Grundsätzen nachspüren. II. Als grundlegend für das gemeinsame Leben von Menschen erscheint im Alten Testament die Familiengemeinschaft. Königtum und Staat sind nicht selbstverständliche und primäre Gegebenheiten, sondern von zweitrangiger Bedeutung nach der Familie. Wie die Ehe der Familie und der Er-

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haltung der Menschheit dient, so ist die Familie diejenige Einheit von Menschen, in der und aus der der einzelne lebt. Wenigstens in der vorexilischen Zeit erhebt sich niemals die Frage, wie der Mensch ein lebendiges Glied der Gemeinschaft wird und wie es zu solcher Gemeinschaft kommt. Sie ist selbstverständlich gegeben, und jeder ist ihr ebenso selbstverständlich eingegliedert. Vielmehr geht es in zunehmendem Maße darum, wie der einzelne innerhalb der Gemeinschaft seiner persönlichen Verantwortung gerecht werden und seine eigenen Werte verwirklichen kann. Es fragt sich, ob und bis zu welchem Grade er sich aus der Gemeinschaft lösen darf. Es ist ebenso erstaunlich und ungewöhnlich, daß Abraham Heimat und Familie verlassen muß (Gen 12 1-9), wie selbstverständlich, daß Mose nach seiner Flucht aus Ägypten bei den Midianitern alsbald heiratet und eine Familie gründet (Ex 2 21 f.). Noch Jeremia empfindet seine durch den prophetischen Auftrag erzwungene Vereinzelung infolge der Ehe- und Kinderlosigkeit und des Fernbleibens von Trauer- und Hochzeitsfeiern als bitteres Schicksal Ger 16). Der Mensch gehört in den Kreis seiner Familie und ist eigentlich nur als Mensch zu bezeichnen, weil er ihm angehört. Dieser Kreis umfaßt außer den gleichzeitig Lebenden die längst verstorbenen Ahnen und die künftigen Nachkommen. Mit diesem umfassenden Verband ist der einzelne tief und allseitig verbunden, so sehr sich die praktischen Auswirkungen hauptsächlich nur auf die jeweils lebende Generation erstrecken, da der Schritt zum Ahnenkult niemals getan wurde und Fruchtbarkeitsriten stets verpönt blieben. Die Verbundenheit, die den einzelnen mit der Familie verknüpft, reicht weit über das gemeinsame äußere Ergehen und Handeln hinaus in den geistigen und seelischen Bereich. Die Bande leiblicher Verwandtschaft, die die Glieder der Familie vereinen, bestimmen zugleich die geistigseelische Haltung. Die Glieder einer Familie sind nicht nur ein Gebein und Fleisch, sondern auch eine Seele, weil ein Blut in ihren Adern fließt. Sie leben in einer Einheit von »Seele« und »Herz«, so daß sie die gleiche geistigseelische Welt mit ihren Kräften aufweisen. Die Familie ist also die natürliche Zelle, aus der sich die Gesellschaft aufbaut. Sie ist ein Verband, zu dem der Mensch von Natur gehört. Zugleich ist sie eine Gemeinschaft, in der ethische Motive wirken, ja die nur auf deren Grundlage bestehen kann. Wie angesichts der verschiedenen Kulturformen und des großen ZeitAbschnitts nicht anders zu erwarten, enthält das Alte Testament kein einheitliches äußeres Bild der Familie. Es zeigen sich recht unterschiedliche Kreise und Formen mit teilweise fließenden Übergängen. Gelegentliche Reste matriarchalischer Familienformen können dabei außer acht bleiben, weil sie in geschichtlicher Zeit keine grundsätzliche Bedeutung mehr hatten. Schon vor der Landnahme in Palästina herrscht die Form der patriarchalischen Kleinfamilie, die stets maßgeblich geblieben ist. Sie weitet sich zur

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fratriarchalischen Großfamilie, die die verschiedenen Generationen umfaßt, und zur Sippe, die alle Blutsverwandten umschließt und zum Stamm anwachsen kann. Allmählich wird, wie die spätere Weisheitsliteratur zeigt, das H a u s mit Eltern und Kindern, das der modernen Familie entspricht, allein wichtig. T r o t z aller Veränderungen, denen die Familie ausgesetzt war, ist sie die wichtigste Lebensform geblieben. Schon die Sätze des Dekalogs (Ex 20 1-17) und die Rechtssätze des Bundesbuchs (Ex 21 l - i l . 15. 17) beziehen sich auf sie und wollen sie schützen. Ebenso legen die Rechtssätze des deuteronomischen Gesetzes das Familienrecht dar: das Erbrecht des erstgeborenen Sohnes (Dtn 21 15-17), das Strafrecht gegenüber dem abtrünnigen Sohn (21 18-21), das Verfahren mit dem Gehenkten (21 22f.), das Eherecht mit Anspruch auf Reinheit der Frau (22 13-29), die Einrichtung des Scheidebriefs als Schutz vor willkürlicher Entlassung (24 1-4), die Entbindung v o m Kriegsdienst im ersten Ehejahr (24 5), die Vorschriften über die Schwagerehe (25 5—10). Mit der Familie als der engsten Lebensgemeinschaft erkrankt das ganze Volk in seinem Kern (Mi 7 1-7). Daher wendet sich in nachexilischer Zeit Mal 2 13-16 gegen die leichtfertige Ehescheidung und bekämpft die Weisheitslehre die geschlechtliche Lauheit und Ungebundenheit (Prov 2 16-19 5 6 23-35 7 6-27 23 27f. 29 3 30 20 31 3). Selbst von ehebrecherischen Gedanken, die die Familie zerstören, soll man sich frei wissen; H i o b beteuert, daß er nicht einmal lüstern einem Mädchen nachgeblickt, geschweige denn der Frau eines anderen aufgelauert habe (Hi 31 l. 9). Demgemäß wird die Familie gepflegt. Der ernsten und strengen geschlechtlichen Ethik entspricht die Verpflichtung zu G r ü n d u n g und Aufbau der Familie. Ungeachtet der patriarchalischen Lebenshaltung schätzt gerade die Weisheitslehre die Frau in der Familie in ihrem Eigenwert und ihrer Selbständigkeit hoch ein (Prov 18 22 19 14 31 10-31; vgl. auch 12 4 14 l). Die kluge, schweigsame und gesittete Frau in ihrer Sorge für ihre Familie ist weder Besitz noch bloße Gehilfin des Mannes, sondern eine eigenständige Persönlichkeit. Sie ist vor allem wegen ihrer Frömmigkeit geachtet, die ihr über Schönheit und Tüchtigkeit hinaus ihre eigentliche Würde verleiht. D a s sind die Leitsätze, die den N ö t e n und Konflikten des täglichen Lebens steuern sollten, an denen es naturgemäß nicht gefehlt hat. Sie lassen sich teilweise aus den Rechtssätzen erschließen, die ja konkrete Ärgernisse beheben sollen. Teilweise ergeben sie sich aus Erzählungen: Die Mutter achtet mit scharfem Blick darauf, daß ihr Sohn das Erbe nicht mit dem Sohn der Nebenfrau teilen muß (Gen 21 10 J d c 11 2f.); sie zieht den jüngeren Sohn dem älteren vor und hilft ihm bei der Uberlistung des Vaters (Gen 27 5ff.). Auch der Vater hat seinen Lieblingssohn, dem die anderen deswegen gram sind (Gen 37). Aus der natürlichen und ethischen Gemeinschaftsbindung und -haftung folgen die Grundbeziehungen der Familie innerhalb ihrer selbst und nach außen. Die Interessen des einzelnen müssen hinter dem zurückstehen,

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II. T h e m e n

was das Gedeihen der Famile fördert. Wie ihre Förderung zum Handeln antreibt, so hält die Rücksicht auf die gemeisame Verantwortung vor Vergehen zurück. Aber der einzelne findet auch einen kräftigeren Schutz, als gesetzliche Vorschriften ihn gewährleisten können. Die Gemeinschaftsbindung geht vielfach aus dem natürlichen Gemeinschafts- und Selbsterhaltungstrieb hervor und prägt die Verhaltensregeln. Die Ehegatten wissen sich zu einer großen Kinderzahl verpflichtet, ohne die die Familie nicht recht gedeiht; die antike Anschauung von der Schmach der Kinderlosigkeit spielt dabei ebenso mit wie die Gefahr der hohen Kindersterblichkeit und das Erfordernis zahlreicher Arbeitskräfte. Daher greift man im Notfalle sogar zu ungewöhnlichen und bedenklichen Mitteln, die man trotzdem als entschuldbar oder berechtigt ansieht (Gen 16 2 19 31 f. 30 3. 9 38 1 3 f f . ) . Die Frau weiß sich der Familie ihres Mannes selbst nach seinem Tode verpflichtet und gibt deswegen Ehre und Heimat preis (Gen 38 1 3 f f . Ruth 1 I 6 f . ) . Man sucht dem Verwandten zu helfen, wo es möglich ist, und nimmt umgekehrt seine Hilfe in Anspruch (Gen 29 10 24 49). Man vermeidet Streitigkeiten und nimmt lieber Nachteile in Kauf (Gen 13 8 ff. II Sam 13 2 0 f f . ) , tritt für Ehre und Leben der Familienmitglieder ein und verübt dann allerdings vielleicht Gewalttaten (Gen 14 14 37 2 2 . 2 9 34 2 5 f f . ) . Das Verhalten, das sich aus der Gemeinschaftsbindung innerhalb der Familie ergibt, ist im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern weithin ethisch begründet. Mag es sich manchmal nur um feinere Formen der Rücksichtnahme auf die Eltern gehandelt haben (Gen 9 22 ff. 27 41 44 30 ff. 50 15 I Reg 2 19) oder der Schutz von Leib und Leben der arbeitsunfähig gewordenen Alten beabsichtigt gewesen sein (Prov 19 26 20 21 30 17) — durchweg war die elterliche Autorität nicht nur eine grundlegende soziale Haltung, die im Ringen der Kulturen in Palästina erhalten blieb, sondern vor allem religiös-ethisch begründet. »Vater und Mutter ehren« (Ex 20 12) war eine Losung des alttestamentlichen Glaubens, die nirgendwo sonst so eindringlich und beharrlich erhoben worden ist. Es ist bezeichnend, daß das Alte Testament trotz der patriarchalischen Verhältnisse die beiden Elternteile für die Kinder völlig gleichstellt und beider Ehre und Würde gleichermaßen betont (vgl. auch Prov 10 l 15 20 19 26 23 22). Dieser festen Gründung des Verhältnisses der Kinder zu den Eltern auf ein ausdrückliches göttliches Gebot, dessen Strenge sich an der bei Verstößen angedrohten Todesstrafe zeigt (Ex 21 15 Lev 19 2 20 9), entspricht umgekehrt die Liebe der Mutter zu ihren Kindern, die besonders in einigen Erzählungen zutage tritt. Die Mutter kann den Tod des Kindes nicht ansehen (Gen 21 16), sucht es in Lebensgefahr zu retten (Ex 2 2 f f . ) , schützt in Selbstverleugnung seine Leiche vor den Tieren (II Sam 21 10); sie tröstet es (Jes 66 13) und kann es nicht vergessen (Jes 49 15). Ebenso sind die Kinder zueinander gewiesen und einander verpflichtet. Die Brüder als männliche Vertreter der Familie sollen füreinander einstehen und ihr Recht gegenseitig verteidigen. Der Bruder als Vormund der Schwester soll ihre Ehre wahren und vertreten.

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So bietet die Familie dem einzelnen den notwendigen Schutz und Rückhalt. Er kommt besonders der rechtlich vielfach schlechter gestellten Frau zugute; ihr in den patriarchalischen Verhältnissen minderes Recht wird durch den familiären Rückhalt weithin aufgewogen. Daher kann die Sunamitin dem Elisa auf seine fürsorgliche Frage, ob er ihr durch seine Fürsprache beim König helfen könne, antworten, daß sie inmitten ihrer Blutsverwandten wohne. Sie braucht keinen Beistand, weil sie durch die Familie hinreichend geschützt wird (II Reg 4 13). Die geheiligte Gemeinschaftsbindung hält an den überlieferten Sitten und Rechtsformen fest. Aus ihr erklärt sich zu einem großen Teil die Neigung zum Herkömmlichen, die für die Lebens- und Rechtsformen des alttestamentlichen Menschen so sehr bezeichnend ist. Daher konnte die Blutrache nur im Verlauf langer Bemühungen durch andere Rechtsmittel ersetzt werden (vgl. noch I Reg 2 5f.). Denn der Gemeinschaftsbindung innerhalb der Familie entspricht eine Gemeinschaftshaftung gegenüber der Umwelt. Besonders die ältere Zeit betrachtet es als selbstverständlich, daß für eine Verfehlung des einzelnen nicht nur dieser selbst, sondern auch seine Familie haften muß. Korach und seine Anhänger werden samt ihren Familien von der Erde verschlungen (Num 16 32). Mit Achan sterben seine Söhne und Töchter für seinen Diebstahl, ja sein ganzer Besitz verfällt nach göttlicher Anordnung der Vernichtung (Jos 7 15. 24ff.). Der Fluch über einen Übeltäter trifft zugleich seine Nachkommen (Gen 9 22 ff. I Sam 2 31 ff. II 3 28f.). So wird die Verantwortung des einzelnen durch das Bewußtsein geschärft, daß sein Handeln sich für seine Angehörigen folgenschwer auswirken kann, während die Familie stets darauf bedacht sein muß, auf ihre einzelnen Glieder zu achten, damit sie nicht in deren Verfehlungen verwickelt wird. Allmählich erst hat sich diese Haftung gelockert und aufgelöst. J geht in Gen 18 2 2 b - 3 3 zwar noch vom Schicksal der Gesamtheit der Sodomiter aus, hält aber ihre Rettung für möglich, wenn sich eine ausreichende gerechte Minderheit findet. Gott sucht nach Ex 20 5f. die Schuld der Väter nur bis in die dritte und vierte Generation der Kinder heim, übt aber Gnade bis in die tausendste Generation an den Kindern derer, die ihn lieben und seine Gebote halten. Das Bundesbuch kennt keine Haftung der Familie für die Vergehen des einzelnen mehr (Ex 21 12. 15. 17); das deuteronomische Gesetz folgt dem Grundsatz, daß jeder nur wegen seiner eigenen Verfehlung zur Rechenschaft gezogen werden darf (Dtn 24 16); Ezechiel lehnt die Gedanken von Familienschuld oder -verdienst rundweg ab und löst die Gemeinschaftshaftung vollends auf (Ez 18 l—20). Die Folgezeit lehrt, daß dies der Bedeutung der Familie keinen Abbruch getan hat, vielmehr nur die Uberwindung urtümlicher und zeitbedingter Vorstellungen bedeutet. Die Vorrangstellung der Familie wirkt sich auf allen Lebensgebieten aus. Es ist selbstverständlich, daß Vater oder Mutter dem neugeborenen Kind seinen Namen geben, daß die Mutter es bis zu drei oder vier Jahren

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säugt und daß es frühzeitig zu kleineren Arbeiten herangezogen wird. Wichtiger ist, daß die Erziehung ganz Sache der Familie ist und für den Knaben beim Vater liegt (Prov 13 1 15 5 19 13). Ist ans Heiraten zu denken, so wachen nicht nur strenge Sitten und religiöse Vorstellungen über das geschlechtliche Leben; vor allem ist die Heirat mehr eine Angelegenheit der Familie als des einzelnen. Die herkömmliche Form der Eheschließung ist daher mit allerlei Gaben und Geschenken verbunden, durch die die Familien der Brautleute sich gegenseitig verbürgen. Der Bräutigam zahlt dem Brautvater eine bestimmte Summe, die das rechtliche Band zwischen beiden Familien knüpft. Der Vater übergibt der Braut bei ihrem Scheiden eine Art Mitgift. Der neuvermählte Mann macht seiner Frau Geschenke, die sie für den Fall seines frühen Todes aufhebt. Daß Heirat und Ehe eine Sache der Familie sind, zeigt besonders die bereits in Gen 38 bezeugte Sitte der Schwagerehe (Leviratsehe). Nach Dtn 25 5ff. soll der Bruder eines kinderlos gestorbenen Ehemannes dessen Witwe heiraten und den ersten Sohn aus dieser Ehe auf den Namen des toten Bruders in die Geschlechtsregister eintragen lassen. Diese Bestimmung verfolgt einen zweifachen Zweck: Der Besitz des Verstorbenen soll der Familie erhalten bleiben und — als ursprüngliches Motiv — der Name des kinderlos Verstorbenen in Israel nicht aussterben. Wie sein Besitz soll auch seine im Namen verkörperte Lebenskraft innerhalb der Familie fortdauern und -wirken. Die Familie ist somit eine rechtliche, wirtschaftliche und soziale Gemeinschaft. Daraus erklärt sich die familienrechtliche Verpflichtung, den Bestand und das Eigentum der Familie durch Einlösung zu erhalten. Der »Löser« ist der haftpflichtige Angehörige, der ein der Familie gehöriges Leben oder Besitzstück einzulösen hat. Er tritt als Bluträcher auf, um Sühne für einen getöteten Verwandten zu suchen (vgl. Num 35 12. I 9 f f . Dtn 19 6. 12 Jos 20 2 f f . II Sam 14 ll). Er kauft aus der Schuldsklaverei los (Lev 25 4 7 f f . ) und erwirbt veräußerten Grundbesitz zurück (Lev 25 25 Jer 32). Die Familie ist ferner eine kultische Gemeinschaft. Als solche unternimmt sie gemeinsame Wallfahrten zu einem Heiligtum, um dort zu opfern (I Sam 1 3 ff. 2 19). Andere gemeinsame Feiern finden am Stammsitz der Familie statt. David kann daher sein Fernbleiben vom Königshof damit entschuldigen lassen, daß er zum jährlichen Opferfest seiner gesamten Familie nach Betlehem habe gehen müssen (I Sam 20 6. 29). Auch bei Geburt, Beschneidung, Entwöhnung, Hochzeit und Trauer als besonderen Anlässen tritt die Familie zusammen. Bestimmte Feste des Jhwh-Kultus werden in ihrem Kreis begangen. Außer dem Neumondfest (vgl. I Sam 20 5) ist besonders das Passafest zu nennen, für das bezeichnenderweise die Familie als Kultgemeinschaft ausdrücklich genannt wird (Ex 12 3f. 2i). Das deuteronomische Gesetz hat vergeblich versucht, ihm diese Eigenart zu nehmen und es in ein allgemeines Tempelfest umzuwandeln (Dtn 16 l ff.). Nur das Schlachten des Passalamms ist später offenbar in den Tempelbezirk verlegt

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worden, während die Familienfeier blieb. Auch in der Zeit des synagogalen Gottesdienstes besteht die Familie als Kultgemeinschaft weiter, wie u. a. die häusliche Sabbatfeier zeigt. Gewiß hat der Familienvater seine priesterlichen Aufgaben im Laufe der Zeit abgeben müssen: die Darbringung von Opfern, das Schlachten des Passalamms und das Recht zur Ernennung von »Eigenpriestern«. D a f ü r erfolgt die religiöse Erziehung und Belehrung durch ihn; er erhält das Recht zur Aufhebung jedes von den weiblichen Familiengliedern abgelegten Gelübdes ( N u m 30 4ff.). Die Frau ist dem Manne weithin gleichgestellt. Das ursprüngliche Familienopfer kann sie zwar wegen ihrer häufigen kultischen Unreinheit und der patriarchalischen Lebensverhältnisse nicht darbringen; aber sie ist wie der Mann zur Teilnahme am Kultus (Sabbat Ex 20 9f. II Reg 4 22f. Passa Ex 12 3f., sonst Dtn 14 16 15 20 16 ll) und zu seiner Reinhaltung verpflichtet (Dtn 17 2. 5 29 18 Lev 20 27 J o s 8 35). Sogar im T o d e blieb der Israelit gern mit der Familiengemeinschaft verbunden. Er legte oder versammelte sich zu seinen Vätern, wie der bald bildlich verstandene Ausdruck besagt (z. B . Gen 25 8). Er möchte bei seinen Familiengliedern begraben sein (z. B . Gen 47 30) — im Familiengrab, in dem der Tote zunächst auf eine Felsbank gelegt und seine Gebeine später in einer Sammelgrube mit denen der Ahnen vereint wurden.

III. Die grundlegende Bedeutung der Familiengemeinschaft ist für das nomadische Leben der Israeliten in ihrer vorpalästinischen Zeit offensichtlich. Die Israeliten gehörten vor der Landnahme als N o m a d e n (oder höchstens Halbnomaden) zu jenem Wanderhirten tum, dessen Lebensweise durch Steppe und Wüste geformt ist. Einerseits ist mangels fester Wohnsitze eine Staatsbildung nicht möglich, andererseits der Zusammenschluß zu größeren beweglichen Einheiten nötig, damit Leben und Eigentum ihren Schutz finden. Die sich bildende Einheit ist der Stamm. Er entsteht, wenn eine größere Zahl von ursprünglich Verwandten sich zusammenschließt und zusammenhält. Seine Urzelle ist also die Familie, meist in der zur Großfamilie oder Sippe ausgeweiteten F o r m . Dabei sind sogar die Grenzen zwischen Sippe und Stamm fließend; beide Ausdrücke können für dieselbe Gemeinschaft angewendet werden. D a sich der Stamm aus Familien aufbaut, sind sie die wichtigsten Gruppen. Die Familie wandert und lagert gemeinsam, hat ein eigenes Erkennungszeichen für die Herdentiere, gewährleistet die Sicherheit von Leib und Leben ihrer Angehörigen und sorgt für die Arbeitsunfähigen. Sie schützt den N o m a d e n vor Unrecht und muß ihrerseits für die Vergehen ihrer Glieder einstehen. Die Freiheit und Ungebundenheit des N o m a d e n , der jeden Zwang zum Gehorsam oder zur Arbeit verabscheut, folgt aus

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seiner Zugehörigkeit zu einer Familiengemeinschaft, die allein für ihn maßgeblich ist. Der Stamm als Zusammenfassung solcher Familien und Sippen ist eine Art Gemeinwesen ohne Regierung. Die Stellung des Scheichs, der den Stamm führt, gründet sich nicht auf Macht oder Gesetz. Er erhebt keine Abgaben, sondern erhält außer dem ihm zustehenden Beuteanteil nur den Tribut der Bauern, Er befiehlt nicht, sondern erteilt Ratschläge und sucht die anderen für seine Pläne durch Überredung und gute Worte zu gewinnen. Seine Stellung und sein Einfluß hängen davon ab, ob er sich wirklich als der Erste unter Gleichgestellten in Beutezügen, Gastlichkeit und Rache erweist. Dennoch ist das Stammesleben keineswegs rechtlos. Sind die Sitten und die ungeschriebenen Gesetze der Wüste verletzt worden, so wendet sich der Geschädigte an einen Richter. Dieser kann freilich nur Recht und Unrecht feststellen und dem Geschädigten einen Anspruch gegen den Angreifer zusprechen. Den Anspruch durchzusetzen, ist Aufgabe der Familie des Geschädigten, die sich damit wieder als die entscheidende Gruppe erweist. Die israelitische Landnahme geht teilweise im Zuge des Weidewechsels vor sich, bei dem die Nomaden zunächst im Sommer ihre Herden aus der Steppe ins Kulturland führen und sich dort im Laufe der Zeit in bisher unbesiedelten Gebieten festsetzen und seßhaft werden. Allmählich gehen sie vom Leben in ständigen Zeltlagern zum Bau von Häusern und kleinen Ortschaften über. Wie beim Weidewechsel und Seßhaftwerden naturgemäß Familie und Sippe die handelnden Einheiten gewesen sind, so auch beim Entstehen der ersten Ortschaften, die im allgemeinen unabhängig nebeneinander bestehen, in selbstgenügsamer Beschränkung auf ihren jeweiligen Bezirk. Wahrscheinlich ist die Ortsgemeinde die Form, in der eine Familie oder Sippe seßhaft geworden ist. Eine oder manchmal mehrere Sippen haben im ersten friedlichen Teil der Landnahme die Einwohnerschaft eines Ortes gebildet. Die erhaltenen Mitteilungen darüber sind nur gering, weil solch eindeutige Zuordnung nicht sehr lange bestanden hat. Nur wegen der besonderen Verhältnisse wissen wir von der Niederlassung der kenisitischen Sippen Kaleb in Hebron und Otniel in Kirjat-Sepher (Jos 15 14-19 Jdc 1 10-15). Aber ähnlich wird es sich auch sonst verhalten haben. Daran wird erneut die Bedeutung der Familiengemeinschaft sichtbar; die Ortsgemeinde ist ursprünglich eine seßhaft gewordene nomadische Familie oder Sippe. Die tiefgreifende Bedeutung der Familie für das Alte Testament wird schließlich daran erkennbar, daß sie sogar das Verständnis des Volkes bestimmt hat. Das gewöhnliche Wort »Volk« ('am) bezeichnet eigentlich die Gemeinschaft der Blutsverwandten und ist von der grundlegenden Familiengemeinschaft abgeleitet. Das Volk gilt als große Familie, die von einem Manne als Ahnherrn abstammt. Ja, alle Volksfamilien sind unterein-

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ander verwandt, weil ihre Ahnen verwandtschaftlich zusammengehören. Letztlich gehen sie in drei großen Gruppen auf N o a h und seine drei Söhne zurück (Gen 10). So sind sie eigentlich eine große Familie, aber auseinandergejagt, zerstreut und durch die verschiedenen Sprachen voneinander getrennt. Das ist die Folge ihrer Sünde und die von Gott auferlegte Strafe (Gen 11 1-9). Volkstum und Völker sind also teils das Ergebnis natürlicher Entwicklungen, teils die Folge göttlicher Strafe für die menschliche Hybris. Sie sind aber keine göttliche Ordnung. Eine Theologie, die vom Volk als Schöpfungs- oder Erhaltungsordnung Gottes redet, verläßt den Bereich biblischen Denkens. Das Alte Testament gibt ferner sein Urteil zu den Versuchen ab, die Zerstreuung der Menschheit wieder zu beheben und die verlorene Einheit wieder zu gewinnen. Von den Abraham-Erzählungen an stellt es dar, daß eine neue Einheit im Glauben, als Einheit der Glaubenden möglich ist. Die Einigung der Menschheit ist nicht politisch-kulturell, sondern auf der Grundlage eines gemeinsamen Glaubens denkbar. Israel selbst weiß von sich als Volk daher noch Besonderes zu sagen. Es verweist auf die Verheißung Gottes an Abraham, daß er ihn zu einem großen Volk machen wolle, auf die beginnende Verwirklichung dessen in den Geburten Isaaks und Jakobs, auf die Rettung aus Ägypten, die die Volkwerdung ermöglichte, und auf die Verbindung Gottes mit Israel, der ihm seine Eigenart gab. Israel hat steigenden Nachdruck darauf gelegt, daß es nicht nur als natürliche Blutsgemeinschaft, sondern auch als religiöser Verband von Glaubenden entstanden ist und besteht. Zwar trifft das geschichtlich in dieser Weise nicht zu, ist aber bezeichnend für die eigene theologische Anschauung. Aus ihr folgt im Deuteronomium, daß Israel ein Volk von Brüdern ist, in dem jeder seinem Nächsten als seinem Bruder, als dem Glied einer heiligen Familie verpflichtet ist. In der Prophetie erhält der Begriff »Israel« zunehmend rein religiöse Bedeutung und bezeichnet schließlich die Glaubensgemeinde. Dieses Israel konnte daher im Exil ohne Staatswesen bestehen bleiben. Die Beziehung zwischen Gott und Israel wird ebenfalls unter Verwendung von Familienbegriffen umschrieben. Es besteht ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen beiden. Anders als sonst im Alten Orient ist allerdings nicht an eine Blutsverwandtschaft gedacht. Vielmehr hat Gott als »Vater« einen rechtlich begründeten Eigentumsanspruch an das Volk, während dieses den Rechtsschutz des göttlichen Verwandten anrufen und einen erbrechtlichen Anspruch auf das Erbgut Palästina erheben kann. Ausdrücklich wird Gott erst »Vater« Israels genannt, als »Israel« zu einem religiösen Begriff geworden ist und nicht mehr das Volk, sondern die Glaubensgemeinde bezeichnet (Jer 3 19 31 9 Jes 63 16 64 8 Mal 16 2 10). N u n umschließt der Ausdruck nicht ein Rechtsverhältnis, sondern das liebende Verhalten des Vaters zum Sohn, das nicht aus einem rechtlichen Anspruch folgt, sondern aus freiem Entschluß gnädig gewährt wird.

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IV. Zweifellos ist das alttestamentliche Bild der Familie in mancherlei Zügen von den antiken Lebensverhältnissen geprägt. Ihnen tragen viele gesetzliche Bestimmungen Rechnung, auf ihnen beruht der patriarchalische Grundzug, sie bedingen auch die Existenz des einzelnen als Glied seiner Gruppe. Diese zeitbedingten Züge sind unwiederbringlich dahin. Sie sind zudem unverbindlich und daher nicht von neuem anzustreben. Wer an patriarchalischen Lebensformen festhalten will, kann sich nur auf die altorientalischen Zustände, nicht aber auf die biblische Theologie berufen. Fraglos hat umgekehrt die gegenwärtige Familie mancherlei Rechte und Aufgaben eingebüßt. Diese Verluste hängen weithin mit der fortschreitenden Industrialisierung zusammen. Die Familie ist keine soziale Gemeinschaft mehr: Die Erziehung der Kinder ist weitgehend auf den Staat übergegangen, die Versorgung der Alten ebenfalls von ihm oder von Versicherungen übernommen worden, die Freizeit von einer ausgedehnten Vergnügungsindustrie ausgefüllt, die Gemeinschaft zur Klein- oder Kleinstfamilie zusammengeschrumpft. Die Familie ist durchweg keine wirtschaftliche Gemeinschaft mehr: N u r in seltenen Fällen arbeitet sie gemeinsam, meist sind Arbeits- und Familiensphäre völlig getrennt, manchmal sogar die Mütter — wiederum vom Ehemann getrennt — berufstätig. Die Familie wird kaum noch als rechtliche Gemeinschaft gesehen: Das sogenannte Familienrecht umfaßt außer dem Eherecht, das der besonderen Gemeinschaft der von der Familie unterschiedenen Ehe gilt, nur das Kindschaftsund Vormundschaftsrecht, geht von der Einzelpersönlichkeit der Familienmitglieder aus und setzt sie zueinander in Beziehung. In Entlohnung, Besteuerung und Wohnbau wird der Familienstand völlig unzureichend berücksichtigt. Die Familie ist schließlich durchweg keine Hausgemeinde mehr: Abgesehen von der starken Säkularisierung und der großen Zahl der glaubensverschiedenen Ehen mit ihren Folgen, läßt die unterschiedliche Beschäftigungszeit die Familienglieder selbst zu den Mahlzeiten kaum zusammenkommen und verfälscht die Wirtschaftsreklame alle Ansätze zu gemeinsamen Feiern in Geschenkorgien und Vergnügungsbetrieb. So viele Verluste der Familiengemeinschaft festzustellen sind, so viele Aufgaben stellen sich. Gewiß wird der größte Teil des Verlorenen nicht in derselben Form wiederhergestellt werden können und dürfen, die in der vorindustriellen Welt bestanden hat. Aber es ist notwendig, nach neuen Formen zu suchen", anstatt die Dinge treiben und die Familie völlig dem Untergang anheimfallen zu lassen. Die alttestamentliche Auffassung von der Familie als Organismus kann dabei ein Lehrmeister sein. Die heutige Lage ist insbesondere durch Gefahren gekennzeichnet, die der Familie von drei Seiten her drohen. Zunächst ist die soziologische Beobachtung wichtig, daß die schweren Schicksalsschläge der vergangenen Jahrzehnte zwar die Familie nicht zerstört, wohl aber dazu geführt haben, daß die einzelne Kleinfamilie sich von

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der Gesamtheit abschließt, sich auf sich selbst beschränkt und innerlich verarmt. So wenig das Alte Testament jedoch die Völker als Gottes Schöpfungsoder Erhaltungsordnung betrachtet, so sehr verbindet es doch die Familien sowohl als Sippen und Stämme miteinander als auch mit der Gesamtheit des Volkes, das als eine große Familie erscheint, oder mit der Glaubensgemeinde, der alle als Kinder des göttlichen Vaters angehören. Ferner droht das Streben nach sozialem Aufstieg und verbessertem Lebensstandard die Familiengemeinschaft aufzulösen. Die Eltern gleiten aus den überhetzten Stunden der Arbeit in die abendliche Erschöpfung, über die sie sich mit dem Kulturersatz einer technisierten Zivilisation hinwegzuhelfen trachten. Die Kinder bleiben tagsüber auf sich allein angewiesen; vielfach gewährt die Kleinheit der Wohnung ihnen nicht den lebensnotwendigen Spielraum — ganz zu schweigen davon, daß keine älteren Glieder der Großfamilie mehr anwesend sind, die ihnen ihr Wissen, ihre Erfahrung und Gesinnung übermitteln könnten. So wird die Familie zur bloßen Schlafgemeinschaft. Das Alte Testament dagegen zeigt, wie sinnlos und schuldhaft der Verzicht auf die eigene Erziehung der Kinder zugunsten eines trügerischen äußeren Lebensstandards ist. Schließlich sucht der totale Staat die Familie zu entwerten. Sie gilt nicht mehr als ein Organismus eigener Prägung, sondern als eine Funktion der Gesellschaft. N u r soweit sie diese Aufgabe erfüllt und ihren Sinn für die Gesellschaft nachweist, genießt sie deren Schutz und Förderung. Selbstverständlich ist die Familie keine wirtschaftliche Einheit. Sie wird vielmehr absichtlich dadurch auseinandergerissen, daß infolge der Gleichberechtigung der Geschlechter die Frau auf allen Gebieten des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens vollberuflich mitarbeiten soll. Die Erziehung der Kinder wird grundsätzlich zur Aufgabe der Gesellschaft, die Schule und Jugendorganisation wahrnehmen sollen; die Eltern sind bestenfalls als Treuhänder der Gesellschaft beteiligt. So wird die Familie auf die Ehe und diese auf die Geschlechtsliebe zurückgedrängt. Das Alte Testament fordert demgegenüber dazu auf, sich gegen solche Perversion der Familie zur Wehr zu setzen. Aus allem ergibt sich, daß die Familienpolitik sich auf die Grundzüge des Alten Testaments als einer Quelle des Glaubens besinnen muß. Die Familie ist ein für die menschliche Existenz grundlegender Organismus, dem Staate vorgeordnet und daher vor staatlichen Eingriffen zu schützen. Ihre Voraussetzung ist das dauernde und ausschließliche Band der Ehegatten und ihre Bereitschaft zum Kind. Die Erziehung der Kinder gehört zu den elterlichen Rechten und Pflichten; das ist von Staat und Kirche, sofern sie Mitwirkung und Mitverantwortung beanspruchen, zu berücksichtigen. Die Beziehungen der Familienglieder zueinander schließen gegenseitige Dienste und Verantwortung in sich; dazu rechnet auch die geistliche Verantwortung in Pflege und Bewährung des Glaubens. Stets geht es darum, die Eigenverantwortung der Familie zu stärken und sie als eigenständigen und organischen Gemeinschafts- und Haftungsverband zu kräftigen.

Krankheit im Lichte des Alten Testaments I. Mit unserem gesamten Weltbild hat sich in den letzten Jahrzehnten zusätzlich das Verständnis von Wesen und Bedeutung der Krankheit geändert. Die frühere Auffassung ging von der Veränderung der Zellen oder des Organs aus. Man erfaßte die physikalischen und chemischen Reaktionen innerhalb der Zellen und Organe und erklärte die äußeren Anzeichen der Erkrankung. Inzwischen gelangte man zu einem tieferen Verstehen. Man betrachtete die Krankheit nicht mehr rein biologisch und mechanisch, sondern erkannte sie als ein vielfältiges und zusammenhangreiches Geschehen der leiblich-geistig-seelischen Einheit des Menschen. Man begann, sie nicht mehr ausschließlich anatomisch-pathologisch zu erklären, sondern bezeichnete sie als durch mehrere Ursachen hervorgerufen. Hierzu zählen vor allem die allgemeinere seelische Ursache, die sich aus dem persönlichen Entwicklungsgang des Kranken ergeben kann, und die auslösende Ursache, die sich aus der augenblicklichen Lage ergibt, in der der Mensch auf seine seelischen Nöte mit einer Krankheit reagiert hat. Auf diese Weise scheint die Erkrankung mit dem Schicksal des einzelnen Menschen unlösbar verknüpft. Sie ist nichts Zufälliges, sondern Materialisierung eines unlösbaren Konflikts. Blicken wir in die Vergangenheit zurück, so findet sich eine solche Doppelheit des Verständnisses ebenfalls in der Umwelt des Alten Testaments. Das rein biologisch-mechanistische Verständnis der Krankheit liegt teilweise der antiken Medizin zugrunde, besonders der griechischen, über die wir besser als über die ältere ägyptische und mesopotamische unterrichtet sind. Das gilt selbst dort, wo die Heilkunst mit der Religion ein zeitweiliges Bündnis eingeht. So hat es sich im Asklepios-Kult verhalten. Die Heiligtümer dieser vergeistigten, ethischen Religiosität sind Heilstätten sehr ähnlich. Im Asklepieion von Kos stand die Rücksicht auf Gesundheit und Kur an erster Stelle. Freie Lage, weite Räume und reichliches Wasser sind kennzeichnend. Das Ganze bildete eine terrassenförmige Anlage mit breiten Freitreppen. Säulenhallen, lange Wandelgänge und zahlreiche Nebengebäude dienten dem Aufenthalt der Kurgäste. Ärztliche Instrumente sind gefunden worden, wie auch die Tätigkeit von Ärzten gesichert ist. Doch ist sie nur auf äußere Wiederherstellung gerichtet, wie als Ziel der heilenden Kraft des Gottes Asklepios eine überwiegend naturhaft verstandene, menschliche Glückseligkeit geglaubt wurde.

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Von dieser Auffassung durch Abgründe getrennt, bemerken wir ein zweites Verständnis der Krankheit und ihrer Heilung, das seine Wurzel in Magie und Zauberei hat und im Volksaberglauben stets lebendig blieb. Man versteht die Krankheit als Anruf und Zeichen aus einer anderen Welt — doch aus welcher Welt! Dem urtümlichen Menschen ist fast nur die im Kampf erhaltene Verwundung als Ursache seines krankhaften Zustandes ohne weiteres einleuchtend. Darum führt er nach dem Grundsatz der Analogie auch diejenigen Krankheiten, deren Ursachen er nicht durchschaut, auf einen von außen kommenden Angriff auf sich und sein Leben zurück. Der abgeblaßte Ausdruck »sich angegriffen fühlen« läßt dies noch erkennen. Als Angreifer vermutet.der Mensch die mehr oder weniger persönlich gedachten bösen Mächte. Sie schlagen ihn, dann erliegt er dem Schlaganfall; sie treffen ihn mit tückischen Geschossen, dann bekommt er den Hexenschuß; sie gehen sogar in ihn ein, dann ist er von ihnen besessen. Im einzelnen kann die Krankheit mittels feindlichen Zaubers durch Steine, Dornen und ähnliches verursacht werden, die von einem Feind in den menschlichen Körper hineingezaubert werden und in ihn eindringen. Häufiger ist die Vorstellung, daß böse Geister oder Dämonen in den Menschen gefahren sind und an seiner Lebenskraft zehren oder daß sie willkürlich oder strafweise Krankheiten über ihn bringen. Meist wendet der Betroffene einen Gegenzauber gegen den Urheber seiner Krankheit oder eine zauberische Beschwörung gegen den Dämon an; in Babylonien hat man sie zu großen und umfangreichen Serien zusammengestellt. Ja, noch die babylonischen Bußpsalmen, die sich an die Götter wenden, die in ihrem Zorn die Krankheit als Strafmittel für begangene Frevel verhängt haben, lassen das magische Element erkennen. Sie sind zu kultischen Handlungen gesungen worden, die mit der Magie verwandt sind, und sogar zu bloßen Formeln geworden, deren Hersagen man wunderbare zauberhafte Kräfte zuschrieb.

II. Auch den Israeliten haben Krankheiten aller Art heimgesucht. Wir hören von Fährnissen bei der Geburt und von Gebrechen des Alters. W i r erfahren von allerlei körperlichen Behinderungen; es gab nicht nur stumme und taube Menschen, sondern auch sehr viele Augenleidende und Blinde sowie infolge eines Knochenbruchs Hinkende und Lahme. Rheumatische und fiebrige Erkrankungen scheinen häufig gewesen zu sein, und der allgemeine Gesundheitszustand war infolge der durch ständige Hungersnöte hervorgerufenen Unterernährung gewiß nicht befriedigend. Der Israelit begegnete der Krankheit auf Schritt und Tritt. Aber er hat ihr kein wissenschaftliches Interesse entgegengebracht. Sein allgemeiner Ausdruck für Krankheit bedeutet »Schwäche, Schlaffheit«; er ist vom täglichen Leben und seinen Erfahrungen bestimmt, konkret und nicht abstrakt, subjektiv empfunden und nicht objektiv ausgesagt.

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Außerdem besagt der Ausdruck, daß eine Erkrankung Lebensschwäche und eine gewisse Annäherung an den Tod bedeutet. „Leben" meint: in der Fülle des Daseins leben, das eine umfassende Einheit bildet. Wird diese Einheit gestört, so wird das Leben schwächer und nähert sich dem Tode als der allerschwächsten Form des Lebens an. Löst sich die Einheit der Persönlichkeit eines Menschen auf, so führt dies allmählich zur Vernichtung; eine erste Form dessen ist die Krankheit. Das kommt der modernen Auffassung nahe. Wenn im Menschen etwas nicht in Ordnung ist, löst sich seine Einheit auf, so daß er erkrankt. Wenn er innerlich eine Fehlhaltung einnimmt, wird seine Lebensenergie schwächer; die auseinander strebenden Kräfte seines Inneren zerstören seine Einheit, wie es sich danach äußerlich im Kranksein ausprägt. Daraus wird verständlich, daß der Israelit nicht nur beim Arzt Heilung sucht. Ärzte hat es natürlich gegeben. In der älteren Zeit sind es offenbar meist Wundärzte gewesen, die offene Verwundungen zu behandeln hatten. Erst aus späterer Zeit hören wir von einem Tempelarzt für Unterleibserkrankungen, denen die Priester ausgesetzt waren, weil sie beim Dienst barfuß gehen und kalte Waschungen vornehmen mußten. Außerdem kannte man sicherlich vielerlei Hausmittel, deren Kenntnis eine Generation der anderen weitergab. Eins davon ist wohl der gepreßte Feigenkuchen, der dem kranken König Hiskia verschrieben wird, wie ein Rezept des Veterinärbuches aus der kanaanäischen Stadt Ugarit vermuten läßt. Geht man aber davon aus, daß die Krankheit ihre Ursache in einer inneren Fehlhaltung des Menschen hat, so muß man zunächst dieser beikommen. Daher ging man zum nächsten Heiligtum und wandte sich an die dort amtierenden Priester oder Kultpropheten. Das Heiligtum war die Stätte, an der man nicht zuletzt die Heilung suchte. Vielfach glaubte man die Priester heilender Kräfte fähig. Oder man sprach Gebete um Genesung, wie sie in manchen Psalmen vorliegen; aus ihnen ersehen wir ferner, daß der Kultprophet daraufhin im Namen Gottes ein Orakel erteilte, durch das die Bitte angenommen oder abgelehnt wurde. Wie haben all diese Israeliten die Krankheit verstanden und gedeutet?

III. Zunächst gilt die Krankheit als Erfahrung schauriger, furchtbarer und zorniger Mächte. Man sieht sich vor jenem geheimnisvollen Willen, den man erschauernd als Urgrund allen Seins und Lebens spürt und den man sich im Volk oft als ein Reich von unsichtbaren Geistern und Dämonen vorstellt. Nach der alten Erzählung geht bei der Befreiung der Israeliten aus Ägypten der „Verderben Bringende" bei Nacht umher und fordert seine

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Opfer. Nur von den Häusern der Israeliten wird er durch Blut an den Türen ferngehalten (Ex 12). Andere Vorstellungen zeigt Ps 91 5f.: Fürchte dich nicht vor dem Schrecken der Nacht, vor dem Pfeil, der am Tage fliegt, vor der Pest, die im Finsteren umgeht, vor dem „Stachel", der am Mittag wütet.

Die gefährliche Glut der Mittagssonne erscheint als der Pfeilschuß eines Dämons, der Fieber und Unbehagen hervorruft. Auch die Seuche scheint danach von einem Dämon herzurühren, der nachts in der Finsternis von Haus zu Haus schleicht. Andere Dämonen ergreifen bei Geisteskrankheiten vom Menschen Besitz. Sie plagen den König Saul, der dadurch die unsinnigsten Handlungen begehen muß; sie treiben die „Verrückten" um. Noch zur Zeit Jesu sind für die volkstümliche Anschauung die Hysterischen, Epileptischen und Geisteskranken solche „dämonischen" Menschen. Bei anderen Krankheiten ist die ursprüngliche Zurückführung auf dämonische Mächte daran erkenntlich, daß sie als kultisch verunreinigend gelten. Denn das weist darauf hin, daß sie mit einer dem alttestamentlichen Glauben fremden Macht verbunden sind. Hierzu gehören vor allem die mit dem Geschlechtsleben zusammenhängenden krankhaften Zustände. Das sexuelle Moment steht ja in den kanaanäischen Kulten, mit denen sich Israel in einem langwierigen Ringen auseinandersetzen mußte, im Mittelpunkt. Grundlegend ist die Vorstellung der ewigen, in jedem Jahre aufs neue sich offenbarenden Zeugungskraft der Natur. Man glaubt weiter, daß es Menschen gibt, die Gewalt über jene geheimnisvollen Mächte besitzen. Sie können sie durch zauberische Worte oder Handlungen in ihren Dienst zwingen und dadurch anderen Menschen Krankheit und Tod anzaubern. Später hat man dies als mit dem Gottesglauben unverträglich empfunden und diejenigen, die zauberten und hexten, mit dem Tode bestraft. Freilich müssen die Propheten immer wieder klagen, daß das Volk Zauberei treibt; die Tora verbietet sie immer wieder in allen möglichen Formen. Das zeigt, daß das Bannen und Beschwören von Dämonen nicht so leicht auszurotten war. Auch andere Einzelheiten lassen erkennen, wie tief magisches Brauchtum verwurzelt sein kann. Erst Hiskia hat das alte Bild der ehernen Schlange, das einen Heildämon darstellt und so alt ist, daß man seinen Ursprung sogar in der Mosezeit vermutet (Num 21), aus dem Jerusalemer Tempel entfernt. Noch Josephus weiß im ersten nachchristlichen Jahrhundert davon zu erzählen, wie das Volk zu allerhand abergläubischen Mitteln, Amuletten, Beschwörungen und anderem mehr seine Zuflucht nimmt (Ant VIII 2 5). Aber Magie und Dämonenfurcht liegen doch tief unter dem alttestamentlichen Glauben. Die Magie wird heftig bekämpft und zum bloßen Aberglauben herabgedrückt, während sie gleichzeitig in den babylonischen Tempeln offiziell gepflegt wird. Die Dämonen werden von der Theologie

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dem himmlischen Hofstaat Gottes eingegliedert. Wenn sie handeln, hat er sie gesandt; sie sind seine Unglücksboten, wie Ps 78 49 sie nennt. Ja, Gott selbst tritt an ihre Stelle; in der jüngsten Quellenschicht, die von der Rettung aus Ägypten erzählt, tötet nicht der „Verderben Bringende", sondern Gott selbst die Erstgeburt der Ägypter. Wie auf allen Lebensgebieten bemerken wir auch auf diesem die volle Konzentration auf Gott. Denn für gewöhnlich schreibt das Alte Testament alles, was andere als Wirkung böser Geister betrachten, Gott selbst zu. Er kann unbegreiflich und unberechenbar handeln. Er verschont selbst die Seinen nicht, wenn es ihm beliebt. Sein Würgeengel ist es, der in der Pest auszieht, die Menschen zu schlagen. Sein Zorn tötet Ussa, als er die heilige Lade berührt. Sein Engel trägt die Seuche ins Lager der Assyrer, als sie Jerusalem bedrohen. Sein böser Geist ergreift Besitz von Saul und führt ihn ins Verderben. Gott selbst wirkt alle Krankheiten — nicht nur in dem Sinne, daß der Fromme sie als Strafe oder Heimsuchung versteht, sondern auch so, daß in Gott allein die wirkende Ursache zu erblicken ist, neben der man nicht nach weiteren natürlichen Ursachen suchen kann. Jeder echte Glaube kennt als ein Grundgefühl das Erschauern bis ins Mark hinein, das förmlich fühlbare Erschrecken vor dem heiligen Gott. Da wird alles auf Gott bezogen, alles kommt von ihm selbst und von ihm allein. Und so hat es in Israel immer Menschen gegeben, die Gott bedenkenlos mit dem Schrecklichsten in Verbindung brachten, ohne nach Warum und Wozu zu fragen. Der göttliche Zorn flammt auf wie der Ausbruch eines Vulkans. Daher sagt Hiob: Es ist mir einerlei, darum will ich es sagen: Er bringt den Frommen wie den Frevler u m ! W e n n seine Geißel jählings tötet, lacht er nur über die Verzweiflung Unschuldiger. Die Erde ist in Frevlerhand gegeben — (Hi 9 22-24)

Ist er es nicht, w e r ist es denn? Ruf ich ihn an, so gibt er keine A n t w o r t ,

ich glaube nicht einmal, daß er mich hört — er, der mich wie im Wirbelsturm zerbricht und ohne G r u n d mir W u n d e n schlägt, der nicht zum Aufatmen mich kommen läßt und mich mit bitterem Leide sättigt!

(Hi 9 16—18)

Der Mensch duckt sich unter Gottes Wüten und wartet zitternd auf den nächsten Schlag. Der Psalm klagt: Deines Zornes G l u t schlägt über mir zusammen, deine Schrecken vernichten mich, umgeben mich täglich wie Wasser, umringen mich allzumal.

(Ps 88 17-18)

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Als Baruch dem Jeremía klagt, daß er von Kummer und Schmerzen überhäuft und vom Weinen müde ist, ohne doch Ruhe zu finden, erhält er als Gotteswort zur Antwort: Sieh, was ich gebaut habe, reiße ich ein; und was ich gepflanzt habe, reiße ich aus. Da begehrst du Großes für dich? Begehre es nicht! Siehe, ich bringe Leid über alles Fleisch!

(Jer 45 4-5a)

Ist dieses Wissen um den grausigen, unheimlichen Gott, der mit Krankheiten aller Art plagt, überholt? Ist diese Furchtbarkeit nicht die Seite des Gottesbildes, die uns heute sofort vor Augen tritt, wenn wir angesichts der schaurigen Ereignisse unserer Zeit nach Gott fragen? Oder wer kann ohne Zögern erklären, daß Gott Liebe und nichts anderes ist? Auch heute werden wir unversehens mit Krankheiten geplagt, die seuchenartigen Charakter annehmen — trotz aller Fortschritte der medizinischen Wissenschaft. Und läßt das Leid seines Lebens den Menschen nicht allzu oft schmerzlich daran zweifeln, daß über ihm eine Macht der Liebe waltet? Bei dem einen ist es nur ein leiser Zweifel, der ihn am Glauben an einen himmlischen Vater irre werden läßt. Bei dem anderen ist es eine Verzweiflung, die mit plötzlicher Gewalt hervorbricht und jede Hoffnung hinwegfegt. Der Skeptiker des Alten Testaments zieht daraus die Folgerung: Da pries ich die Toten glücklich, die längst dahin sind, v o r den Lebenden, die doch noch weiter leben müssen; und höher als sie beide den, der noch nicht da war, der das üble Geschehen nicht zu sehen braucht, das unter der Sonne geschieht!

(Koh 4 2 - 3 )

In Zweifel und Verzweiflung vernimmt der Mensch demgegenüber aus dem Alten Testament etwas, das anstößig klingt, aber durchaus zu dem gehört, was über die Krankheit zu sagen ist: Sie ist die leidvolle Waffe des heiligen Gottes, der zornig und furchtbar handeln kann. IV. Man hat sich im alten Israel manchmal gefragt, ob die Krankheit wie alles andere Leid wirklich unablöslich zum menschlichen Leben gehört. Die Antwort lautet: Nein, es ist nicht immer so gewesen! Es gab eine Zeit, die weit zurückliegt, ohne Krankheit und ohne Tod. Selbst als sie schon ver-

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gangen war, haben die Menschen ein hohes Lebensalter erreicht und sind viele hundert Jahre alt geworden. Allmählich ist diese Lebenskraft schwächer geworden, so daß man 70 und — wenn's hoch kommt — 80 Jahre lebt. Wie ist das gekommen? Die Ursache liegt in der Sünde des Menschen. Sein Dichten und Trachten ist böse von Jugend an, immer wieder sündigt er. Darum straft Gott ihn immer wieder. Diese Uberzeugung hat sich gefestigt, je mehr man von Gottes Güte und Gerechtigkeit zu sagen wußte. Warum müssen wir unter Krankheiten leiden, wenn Gott nicht nur furchtbar, sondern auch gütig handelt? Warum schickt er uns Not und Tod, anstatt zu helfen? Und wenn er das Urbild gerechten Handelns ist, kann er doch nicht blindlings wüten und ohne Ursache plagen! Dann muß es doch einen Grund haben, daß wir dermaßen leiden müssen! Worin liegt dieser Grund? Er kann nur in einer Verfehlung des Menschen bestehen! Die Krankheit ist die Folge der menschlichen Sünde und Schuld; sie ist Strafe und Sühne. Sie gilt als Erfahrung des gerechten und strafenden Gottes, der eifersüchtig darüber wacht, daß sein Wille geachtet wird, und der einem jeden nach dem vergilt, was seine Taten wert sind. Wer die göttlichen Gebote hält, den belohnt Gott bereits in seinem Erdenleben mit allem Guten, was sich ein Mensch wünschen kann: mit Gesundheit, Reichtum, Wohlergehen und langem Leben. Aber den, der ihm nicht gehorcht, bestraft er mit allem Leid, das sich denken läßt. Dazu gehört die Krankheit, die eine solche Strafe ist. Im einzelnen gehen die Anschauungen verschiedener Männer und Zeiten auseinander, doch in einem sind alle einig: daß die Krankheit aus dem menschlichen Leben trotz aller Bemühungen nicht zu tilgen und dort, wo sie einem auferlegt wird, als Strafe für die Schuld gegen Gott zu verstehen und zu tragen ist. So sagt einer der Freunde Hiobs: Bedenke doch, wer kam je schuldlos um, und w o wurden Gerechte je vernichtet? Ich hab's gesehn: Die Trug gepflügt und Leid gesät, die haben's auch geerntet! Durch Gottes Odem sind sie umgekommen, durch seinen Zorneshauch vernichtet.

(Hi 4 7-9)

Dieses Verständnis der Krankheit als Strafe ist für weite Kreise der alttestamentlichen Gemeinde ein unumstößliches Dogma und tief in der Frömmigkeit des Volkes verankert gewesen. Wer leidet, hat es auch verdient, daß ihn die Krankheit trifft. Wer von ihr heimgesucht wird, tut gut daran, nach seinen offenen oder verborgenen Sünden zu forschen und sie zu bekennen. So geschieht es denn auch. Mancher betrachtet seine Krankheit als Folge und Sühne seiner Schuld: Deine Pfeile haben sich in mich gesenkt, deine Hand ist auf mich herabgefahren.

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Nichts ist mehr heil an meinem Leibe durch deinen Grimm, nichts mehr gesund an meinen Gliedern durch meine Schuld. Denn meine Sünden sind über mein Haupt gekommen, wie eine schwere Last mir zu schwer geworden.

(Ps 38 3-5)

In vielen Psalmen hören wir, wie der Beter seine Schuld bekennt. Er schwebt in lebensgefährlicher Krankheit und bittet: Vergib mir meine Sünde und heile mich! Einst sprach ich: Herr, erbarme dich, heile mich, denn gegen dich habe ich gesündigt!

(Ps 41 5)

Erbarme dich, Herr, denn ich verschmachte, heile mich, denn meine Gebeine sind verdorrt!

(Ps 6 3)

Er gelobt Opfer und Lieder für den Fall seiner Genesung: Ich will dir gerne O p f e r darbringen, will dich für deine Güte preisen!

(Ps 54 8)

Im Anschluß daran ist oft eine heilige Handlung an dem Kranken vorgenommen worden. Auf sein Gebet hin wird ihm die Vergebung seiner Sünden zugesprochen und vom Priester eine Handlung vollzogen, die aus Ps 51 9 zu ersehen ist, wo sie noch als Bild erscheint: Entsündige mich mit dem Ysop, daß ich rein werde! Wasche mich, daß ich weißer werde als Schnee!

Oft hat auch einer der am Heiligtum amtierenden Kultpropheten die Bitte des Kranken mit einem erhörenden Gotteswort beantwortet, das die Heilung zusagte. Dann konnte der Beter die Gewißheit ausdrücken, daß Gott sein Gebet erhört hat. Manchmal hat er sich aber auch selbst zu der Gewißheit aufgeschwungen, daß die Erhörung folgen wird: Drum freut sich mein Herz und jauchzt meine Seele, ruht mein Leib in Sicherheit. Du wirst mich nicht der Unterwelt überlassen, nicht zugeben, daß dein Frommer die Grube schaut.

(Ps 16 9—10)

Was freilich in den Psalmen lebendige Erfahrung ist, tritt uns in den Reden der drei Freunde Hiobs als starres Dogma, als Vergeltungslehre entgegen. Wer fromm und unschuldig ist, erklären sie dem von schwerer Krankheit und anderem Leid geschlagenen Hiob, gerät nicht in Not, wohl aber der Frevler und Gottlose. Was er gesät hat, muß er ernten. Je höher er sich erhebt, desto tiefer und schrecklicher ist sein Sturz. Auf der Höhe seines Lebens schlägt Gott zu: Mit dem Jubel der Gottlosen ist es nicht weit her, des Sünders Freude währt nur einen Augenblick. Wenngleich sein Hochmut sich zum Himmel hebt und sein Haupt an die Wolken rührt, vergeht er doch f ü r immer wie sein Kot, und die ihn gesehen, fragen: W o ist er denn?

(Hi 20 5-7)

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II. Themen

Gott segnet den Frommen und bestraft den Gottlosen. Er schlägt ihn mit Krankheit und läßt ihn nicht genesen. Darum kann man aus der Krankheit, die einen Menschen befällt, mit Recht folgern, daß er gesündigt hat und seine Krankheit nun die Strafe für diese seine Schuld ist. Wem es gut geht, der ist gut; und wem es schlecht geht, der muß schlecht sein. Wo bliebe sonst die Gerechtigkeit!? Hiobs Krankheit ist demnach für seine Freunde ein Beweis seiner außerordentlich schweren Schuld: Straft er dich etwa wegen deiner Frömmigkeit, zieht er dich deshalb vor Gericht? Geschieht es nicht, weil deine Bosheit groß ist und deine Sünde ohne Maß?

(Hi 22 4-5)

Daher können sie ihn nur auffordern, Buße zu tun und Gott in Demut die Ehre zu geben. Dann wird Gott sein Geschick wenden: Versöhne dich mit Gott, so hast du Frieden, folg ihm, so wirst du glücklich sein! Nahst du dich dem Allmächtigen voll Demut, entfernst aus deinem Zelte du die Bosheit, dann kannst du dich an dem Allmächtigen freuen, dein Antlitz frei zu Gott erheben. (Hi 22 21-23)

Einzelne Psalmenstellen zeigen die für den Kranken so schwerwiegenden Folgen dieser Anschauung. Erkrankt einer, so ist den anderen alles klar. Der, den man für einen Bruder gehalten hat, ist ein heimlicher Sünder, ein abscheulicher Heuchler. Gott selbst hat ihn ja gezeichnet! Sogar die Seinen beginnen an ihm irre zu werden. Vater und Mutter verlassen ihn, Brüder und Freunde ziehen sich von ihm zurück. Wer ihn auf der Straße trifft, macht schleunigst, daß er davonkommt. Niemand kümmert sich um ihn, schließlich ist er vergessen wie ein Toter. Neben den Frommen, die ihre Krankheit als Sühne für ihre Schuld verstehen und vor Gott tragen, stehen also diejenigen, die die Krankheit als Vergeltung betrachten. Es läßt sich nur entfernt ahnen, welche verwüstenden Folgen ihre starre, lieblose Lehre nach sich gezogen hat. Eines wird daran klar: Jeder kann nur seine eigene Krankheit als Folge seiner eigenen Schuld erkennen und bekennen, niemals aber über einen anderen urteilen und angesichts des Schlages, der ihn getroffen hat, nach seiner Schuld suchen und sie ihm als Ursache seines Leidens vorhalten. Gerade das ist der Fehler der Vergeltungslehre, der sie für uns als nicht annehmbar erscheinen läßt. So hebt sich auch die Art, in der die Propheten die Krankheit erwähnen, deutlich davon ab. Die großen Einzelpropheten leben in höchster Spannung. Sie spüren, daß etwas in der Luft liegt, das ihr Volk unmittelbar angeht und in schwerste Geahr bringt. Es ist eine Tat Gottes, der eingreifen muß, weil das Maß an Schuld voll ist. Denn das Volk, das dazu bestimmt ist, den Weg Gottes zu gehen, geht ihn nicht. Darum steht es nun vor der

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Entscheidung, ob es sich von seiner Schuld abkehren und aus ihr erlösen lassen oder sein schuldhaftes Dasein weiterleben will. Bleibt es das alte, so wird Gott es grausig strafen; das schuldige Dasein wird vernichtet. Nicht einer wird entrinnen, nicht einer sich retten, das ganze Land ist ein Leichenfeld, erstorben alles Leben. Auf mancherlei Weise sehen die Propheten das Gottesgericht nahen: durch Krieg, Mißernte, Trockenheit, Heuschrecken, Revolution und Anarchie. Auch die Krankheit ist ein Mittel dieses Gerichts. Neben Schwert und Hunger steht die Seuche, die alle und nicht nur einzelne bedroht und die viele dahinrafft, für die eine Heilung völlig ausgeschlossen ist: Aus der Gewalt der Unterwelt sollte ich sie erlösen, vom Tode sie erretten? N u r her mit deinen Seuchen, Tod, nur her mit deinem Stachel, Unterwelt! Ich kenne kein Mitleid mehr! (Hos 13 14)

Die prophetische Anschauung hat weithin gewirkt. Im deuteronomischen Gesetz werden für den Fall des Ungehorsams gegen den göttlichen Willen alle möglichen Krankheiten als göttliches Gericht angedroht (Dtn 28 21 f.). Einige Jahrzehnte später, während des babylonischen Exils, spricht Lev 26 angesichts der bitteren Erfahrung des Untergangs Jerusalems in der äußeren Form einer Ankündigung Gottes an Mose davon, daß der Bruch der von Gott auferlegten Verpflichtung unweigerlich das Gericht nach sich ziehen werde: »So will ich Schreckliches über euch verhängen: Schwindsucht und Fieber, die die Augen erlöschen und das Leben schwinden lassen« . Und wenn die Israeliten sich vor dem hereinbrechenden Feind in die sichere H u t der Stadtmauern zurückziehen, so »will ich die Pest unter euch senden«. Ist es also neben dem furchtbaren, unverständlichen Gott der gerechte, vergeltende Gott, der die Krankheit als Strafe und Sühne auferlegt? Wir stoßen manchmal auf Erscheinungen, die das zu bestätigen scheinen. Gibt es nicht krankhafte Zustände, deren Ursache offenkundig in einer Verfehlung der Betroffenen liegt — sei es in Unachtsamkeit, Ungehorsam oder ethischer Verfehlung? Sind nicht manche gehäuft auftretenden Krankheiten — wie Stoffwechselerkrankungen, Kreislaufstörungen, Veränderungen des vegetativen Systems — Ausdruck einer tiefgreifenden Unordnung unseres Lebens? Steht nicht wenigstens ein Teil der Neurosen und Psychosen mit der Ungelöstheit und verhängnisvollen Verstrickung in ausweglos erscheinende Komplikationen in Zusammenhang? Lassen sich hinter manchen Geisteskrankheiten nicht schuldhafte Verirrungen vermuten, wenn nicht beim Kranken selbst, so bei seinen Vorfahren? Manchmal scheint in der Tat eine Verbindung zwischen Schuld und Krankheit zu bestehen. In zwei Weisen dürfen wir davon reden. Wir können in allgemeinerer Form — wie die Propheten — die häufig auftretenden

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II. Themen

Krankheiten unserer Zeit auf die ihnen zugrunde liegende Unordnung unseres ganzen Lebens zurückführen, die ihre Ursache wiederum im Abfall von Gott hat. Wir können ferner, jeder für seine eigene Person, in unserem Leben diesem Zusammenhang nachspüren und uns fragen, ob wir nicht wie die Psalmenbeter in der Krankheit zuerst unsere Sünde bekennen müßten. Es ist uns jedoch nicht getattet, nach der Methode der Vergeltungslehre hinter jeder Krankheit eine Sünde zu suchen, den Kranken damit zu peinigen und womöglich zu diffamieren. Möglich wäre nur, den Kranken in seelsorgerlischer Weise auf diese Möglichkeit aufmerksam zu machen und ihn zur Erforschung seines Gewissens anzuhalten.

V. Das Alte Testament selbst ist sich darüber klar, daß die Auffassung der Krankheit als Strafe und Sühne nicht ausreicht. Kennt man nicht fromme und gerechte Leute, denen es sehr schlecht geht? U n d gibt es nicht Menschen, die als Gottlose und Frevler bekannt sind, denen aber alles gelingt, was sie beginnen? Es gibt Krankheit ohne Schuld und Schuld ohne nachfolgende Krankheit: Mancher Gerechte kommt in seiner Gerechtigkeit um, und mancher Ungerechte treibt es lange in seiner Bosheit.

(Koh 7 15)

Darum wird es Hiob zur quälenden Frage, wie er seine Krankheit verstehen soll: Ist sie entgegen seiner Erkenntnis und der Bezeugung seines Gewissens die Folge einer Schuld? Ist sie das grausame Handeln eines schrecklichen, heimtückischen Gottes oder, wenn er dessen Dasein leugnen wollte, das Wüten eines blinden, erbarmungslosen Schicksals? Wie reimt sich das mit dem Glauben an den Gott, der nicht nur zornig und gerecht, sondern auch gütig und liebevoll handelt? Dieser Glaube war oft mächtiger als jeder Zweifel. Daher finden wir auch Auffasungen, nach denen die Krankheit als Erfahrung des liebenden und gütigen Gottes zu verstehen ist. Eine Ahnung davon ist in der alten Rahmenerzählung des Buches Hiob spürbar. D a erscheint die Krankheit als eine Prüfung des Frommen, dessen Gehorsam, Treue und Ergebenheit Gott erproben will. Er plagt ihn darum mit Krankheit, damit er sich bewährt. Hiob aber ist und bleibt ein Mann, der ein gottergebenes Leben führt, stets dessen eingedenk, daß es in Gottes Hand liegt, und stets darauf bedacht, alle Gebote zu erfüllen. Diese Haltung bewahrt er auch in seiner Krankheit. Weil er stets bekannt hat: »Der Herr hat's gegeben, der N a m e des Herrn sei gelobt!«, vermag er auch auszurufen: »Der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt!«. Er besteht die Prüfung und bleibt in der Versuchung standhaft — im Vertrauen auf den, der schlägt, um zu helfen; der verwundet, um zu heilen; der in all dem den Menschen sich bewähren läßt, um ihn schließich in Ehren anzunehmen.

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Aber ist diese Begründung nicht zu fadenscheinig? Dem Dichter des Buches Hiob hat sie nicht genügt. Eine Weile mag man ja die Krankheit als Prüfung und Bewährung verstehen können. Einmal aber weiß man sich genug geprüft, einmal hat man genug gelauscht und gelernt, einmal ist man durch das Leid reif genug geworden! Was wird dann, wenn die Krankheit schwer oder unheilbar ist!? Als Prüfung und Bewährung ist ihr Sinn nicht voll erfaßt! Darum wird an anderer Stelle die Ansicht vertreten, daß sie zum Erziehungsplane Gottes mit den Menschen gehört. Sie ist eine Heimsuchung Gottes im eigentlichen Sinn des Wortes. Gott sucht heim, er will die von seinem Wege abgeirrten Menschen nicht verloren gehen lassen, sondern zu sich heimholen. Dazu dient ihm auch die Krankheit. Davon spricht schon Arnos in einer Geschichtsbetrachtung; er muß allerdings feststellen, daß Gottes Heimsuchung vergeblich gewesen ist: Ich habe euch die Pest auf den Hals geschickt und eure Jünglinge mit dem Schwert getötet. Ich ließ den Gestank eurer Heerlager in eure Nasen steigen, doch seid ihr nicht umgekehrt — spricht der Herr.

(Am 4 10)

Vor allem die Weisheitslehre redet von der Krankheit als einer Erziehungsmaßnahme Gottes. Sie ist mit den Schlägen zu vergleichen, ohne die es in der Erziehung damals nicht geht. Der Mensch erdulde sie, wie der Knabe auf die Rüge hören soll. Er bessere sich und wende sich zu Gott, dann bringt sein Leiden süße Frucht mit sich. Die Erziehung des Menschen durch diese Heimsuchung betonen auch die Reden Elihus, die später in das Buch Hiob eingefügt worden sind. Gott sucht den Menschen durch die Krankheit heim, um ihn so zu erziehen. Gelingt es ihm nicht, den Menschen im Traum, im Nachtgesicht, in Schrecken zu setzen, so daß er zu Gott umkehrt, so versucht er es mit der Krankheit: Er wird auch belehrt durch Schmerzen auf dem Lager, durch seiner Glieder wilden Kampf. Er mag von Brot nichts wissen, die Lieblingsspeise wird zum Ekel ihm. Es schwindet hin sein Fleisch und zehrt sich auf, und seine Knochen, die bisher nicht sichtbar, werden kahl. Die Seele nähert sich dem Grabe, das Leben eilt dem Tode zu.

(Hi 33 19-22)

So wird der Mensch bewegt, von seiner Sünde zu lassen und zu Gott umzukehren: Er fleht zu Gott, der schenkt ihm Gnade. Er schaut sein Antlitz mit Frohlocken.

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II. Themen

Es freut der Mensch sich seines Heils, er singt und sagt es laut v o r allen Leuten: »Gesündigt hatte ich, das Recht gebeugt, doch wurde meine Sünde nicht vergolten. Er hat mich nicht ins Grab gestoßen, und meine Seele schaut das Licht.«

(Hi 33 26-28)

Noch eine Auffassung gehört in diesen Zusammenhang. Am Ende des babylonischen Exils tritt unter den Deportierten ein uns unbekannter Prophet auf, dessen Worte in Jes 40—55 überliefert sind. Er bezeichnet sich in einigen Worten als »Knecht« Gottes, weiß sich zum Tröster seines geschlagenen Volkes berufen und hat unvergängliche Worte zu ihm gesprochen. Sein Lebensende jedoch scheint leid- und schmerzvoll gewesen zu sein. Seine Anhänger haben ihn deshalb im Bann der Vergeltungslehre zunächst verachtet und abgelehnt: Verachtet war er, von Menschen gemieden, ein Mann der Schmerzen und vertraut mit Krankheit; einer, v o r dem das Antlitz man verhüllt; verachtet, so daß wir ihn nicht beachteten.

(Jes 53 3)

Dann aber ist ihnen der Sinn seiner Krankheit klar geworden. Nicht für seine eigene Sünde ist er geschlagen worden, nein, er leidet als der Gerechte für die Ungerechten. Er nimmt das Sühnopfer ihrer Sünden auf sich, um sie zum Heil zu führen. So haben sie über sein schweres Geschick ein ergreifendes Wort gefunden: Doch unsre Krankheiten hat er getragen, lud unsre Schmerzen auf sich, während wir ihn nur für gezeichnet hielten, von G o t t geschlagen und erniedrigt. Er aber ward durchbohrt ob unserer Auflehnung, zerschlagen wegen unserer Vergehen. Er ward zu unserm Heil gezüchtigt, durch seine Wunde wurden wir geheilt.

(Jes 53 4-5)

Die Krankheit wird zum Abbild der Liebe und Barmherzigkeit Gottes, wenn einer stellvertretend für die anderen duldet und sühnend ihr Leid auf sich nimmt. VI. Das Alte Testament spricht in mannigfacher Weise von der Krankheit. Sie erscheint als zorniges und furchtbares, als gerechtes und strafendes, als liebendes und gütiges Handeln Gottes. Davor steht der geplagte Mensch und weiß solches geheimnisvolle Handeln nicht zu deuten. Trifft Gott ihn in seinem unberechenbaren Wüten oder in gerechter Strafe? Will er ihn mahnen und warnen und zu sich rufen? So gerät der Kranke in Zweifel und Verzweiflung.

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Auch der Dichter des Buches Hiob hat vor dieser Frage gestanden. Er hat in schwerem Ringen eine neue Einsicht gewonnen, die hinter wenigen Versen des Buches verborgen ist. Es ist eine Lösung, die den prophetischen Glauben in echter Weise auf den einzelnen anwendet. Hiob spricht zu Gott: Ach, ich bin zu gering, was könnte ich dir sagen? Ich lege meine Hand verstummend auf den Mund. Sprach ich einmal — ich will es nicht mehr wagen, zweimal — ich will es nicht mehr tun. Ich weiß nun, daß du allvermögend bist und kein Gedanke dir verwehrt. Ich hab im Unverstand gesprochen von Dingen, die zu hoch und wunderbar für mich. V o m Hörensagen warst du mir zuvor bekannt, nun aber hat mein Auge dich geschaut. Drum widerrufe ich, bereu in Staub und Asche.

(Hi 40 3-5) 42 2-6)

Hier und in Ps 73 haben wir die tiefste und letzte Einsicht des Alten Testaments in das Rätsel der Krankheit. Der Dichter des Buches Hiob fühlt sich durch sie aufgerufen, auf eine theoretische Lösung der Fragen um den kranken Menschen und Gott zu verzichten, da diese Versuche sich als fragwürdig erwiesen haben. Er weiß sich aufgerufen, eine wohlbegründete und ausgewogene Antwort abzulehnen, die Lösung aller Fragen vielmehr im Verhältnis des Menschen zu Gott zu suchen. So ersetzt er die Theorie durch die Praxis, die abwägende Vernunft durch den wagenden Glauben. Er hat die Sinnlosigkeit jeder anscheinend sinnvollen Antwort, die Unvernunft jeder rationalen Lösung, die Unzulänglichkeit jeder klugen Theorie angesichts des geheimnisvollen Gottes erkannt. Darum gibt er all jene Sicherungen vor der Erschütterung seines Daseins durch den Einbruch der Krankheit preis und wirft sich in die Arme jenes zugleich furchtbar, gerecht und liebend handelnden Gottes, um die Antwort auf die in seinem Herzen brennende Frage in der Hingabe an diesen Gott zu finden. Der Dichter hat erfahren, daß das Leben nicht sanft und harmonisch verläuft, sondern nach Unsinn, Verwirrung und Wahnsinn schmeckt. Er hat die Versuche seiner Freunde, die die wohlanständige Gesellschaft und die fromme Gemeinde vertreten, durchschaut. Sie versuchen, Hell und Dunkel angemessen zu verteilen, den dunklen und geheimnisvollen Urgrund des Lebens zu verdecken, die Tagseite dieses Daseins unermüdlich zu verherrlichen und heiligzusprechen, seine nächtliche Kehrseite dagegen totzuschweigen und die schrillen Disharmonien des Lebens als rauschende Akkorde zu feiern. Sie gliedern Gott fromm und unwiderstehlich in ihr Weltbild ein und glauben sich seiner sicher. Wie alles andere läßt sich auch Gottes Tun berechnen. Glück und Unglück, Gut und Böse, Licht und Schatten entsprechen sich jeweils. In diesem Weltbild hat auch die Krankheit ihren festen Platz. Bedauernd oder vorwurfsvoll blickt man auf den Unglück-

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II. Themen

seligen herab, den Gottes Hand getroffen, und preist mit mildem Lächeln die erhabene Gerechtigkeit des Allmächtigen, der alles so weise regiert. Dieser satten und sicheren Gesellschaft schlägt der Dichter des Buches Hiob ins Gesicht. Er enthüllt ihre Wohlanständigkeit als Lüge, mit der sie die Abgründe des Lebens zu verdecken suchen, und ihre Frömmigkeit als Heuchelei, mit der sie Gott selbstsüchtig bestechen wollen. Er entscheidet sich zur Absage an das bequeme Herkommen und sichere Rechnen und für den Aufbruch ins Neue und Unbekannte. Und da er sich entschlossen hat und sich, alles quälenden Fragens müde, in den Abgrund wirft, um zu erfahren, was seine Tiefe verbirgt, hebt sich ihm diese entgegen und ist nicht mehr dunkler und drohender Abgrund, sondern Gottes Hand, die ihn auffängt und trägt. Der Glaube stellt ihn vor den geheimnisvollen Gott, zu dessen unerforschlichen Gedanken und umfassenden Absichten, hohen Wegen und verborgenen Abgründen auch die Krankheit gehört. Dieser Gott neigt sich zu dem Glaubenden, der alles preisgibt und vertrauensvoll den Sprung ins Ungewisse wagt, und nimmt ihn an sich. In dieser Gemeinschaft mit Gott kann der Mensch nun das Leben ertragen, auch wenn es von Schmerz zerrissen und von unerklärlicher Krankheit erfüllt ist. So legt er alle Not und alles Leid in der Gewißheit hin, daß die Lösung aller Fragen in der vorbehaltlosen Hingabe an Gott und in der inneren Gemeinschaft mit ihm besteht. Der Dichter des Buches Hiob ist den Weg des Glaubens in ungewisses Neuland gegangen, da er der Nähe Gottes im Leide inne geworden ist und durch seine Gemeinschaft Heil und Freiheit erhalten hat. Er hat den gleichen kühnen Entschluß gefaßt, den der Dichter des 73. Psalms in die vollendeten Worte kleidet: Dennoch bleibe ich stets bei dir, du hältst mich an deiner Rechten. Nach deinem Ratschluß leitest du mich, führst an der Hand mich hinter dir her. Wenn ich nur dich habe, frage ich nicht nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachten, ist G o t t doch alle Zeit mein Teil. Sieh, die dich lassen, vergehen; du tilgest jeden, der dir treulos wird. Für mich aber ist Gott das Glück, beim Herrn hab Zuflucht ich gefunden.

(Ps 73 23-28)

VII. Die Krankheit gibt nicht nur Rätsel auf. Sie soll den Menschen veranlassen, sich auf sein Verhältnis zu Gott zu besinnen und sich mit Bitten und Flehen an ihn zu wenden. Ist sie aber geheilt, so erinnert das Alte

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Testament auch daran, daß Gott der Dank gebührt, wie ihn die Frommen in den Psalmen ausgesprochen haben. So stellt der König Hiskia in einem Psalm rückblickend die Klage dar, die er in schwerer Krankheit vor Gott gebracht, und die Bitte um Genesung, die er angeschlossen. Dann fügt er hinzu : Und was sag ich ihm heute? Es hat es getan! Ich will dir mein Leben lang danken für das Leid meines Lebens.

Du hast mich wieder gesund gemacht und genesen lassen, hast meine Seele vor der Gruft der Vernichtung bewahrt und meine Sünden hinter dich geworfen. Denn die Unterwelt dankt dir nicht, der Tod kann dich nicht preisen. Und wer in die Grube gefahren, hofft nicht mehr auf deine Gnade. Der Lebende, der Lebende, er dankt dir heute wie ich. Ein Vater verkündet seinen Söhnen, wie treu du bist. (Jes 38 15-19)

Das Geschick des Menschen nach dem Tode im Alten Testament I. Ein wesentliches Merkmal des alttestamentlichen Glaubens ist seine volle und uneingeschränkte Diesseitigkeit. Wie das Reden und Handeln Gottes sich im jeweiligen Hier und Jetzt ereignen, so ist das menschliche Dasein mit seinen Beziehungen zu Gott und zur Mitwelt ganz an das diesseitige Leben gebunden. N u r in ihm ist eine sinnerfüllte menschliche Existenz möglich. Daher muß der Mensch sein gegenwärtiges Leben so gestalten, daß es seinen vollen und tiefen Sinn hier und jetzt erreicht. N u r im Diesseits kann er erleben und erfahren, was es zu erleben und zu erfahren gibt. Das Leben dient nicht der Vorbereitung auf ein Jenseits, sondern erhält seinen eigentlichen Wert durch den gegenwärtigen, unwiederbringlichen Augenblick. Daher wünscht man sich, »in schönem Alter« und »alt und lebenssatt« zu sterben (Gen 15 15 25 8 35 29 Jdc 8 32 Hi 42 17 I Chr 23 1 29 28), d. h. nach einem ungestörten Durchmessen der dem Menschen möglichen Lebenszeit (Gen 6 3 Ps 90 10) und nach einem erfüllten, gesättigten Leben. Es ist schlimm, wenn einer den frühen T o d des Gottlosen sterben muß (II Sam 3 33) und »in der Mitte seines Lebens« dahingerafft wird (Ps 102 25), zumal der vorzeitige und plötzliche T o d als göttliche Strafe gilt (I Sam 25 38 26 10 J e r 17 11 Ps 26 9). Ebenso ist die Beziehung des Menschen zu Gott auf das Diesseits beschränkt. Denn er ist ein G o t t der Lebenden, nicht der Toten. Die Toten sind von ihm getrennt, darum hält er sich an die Lebenden. Sie will er für sich gewinnen, sie sollen ihm dienen, sie seine Herrschaft anerkennen, sie in der Gemeinschaft mit ihm leben. Umgekehrt halten die Lebenden sich an Gott: Denn die Unterwelt dankt dir nicht, der T o d kann dich nicht preisen. U n d wer in die Grube gefahren, hofft nicht mehr auf deine Gnade.

(Jes 38 18)

Daran denkt der Beter, der Gott sein Leid klagt und ihn um Hilfe bittet, damit er ihn nicht sterben lassen möge. Wenn er seiner Krankheit erliegt, hat er nichts mehr zu erwarten. Es bleibt nur ein schattenhaftes Dasein in Dunkel und Vergessen: Kannst du an Toten Wunder tun, stehen die Schatten auf, um dich zu preisen?

Das Geschick des Menschen nach dem Tode im Alten Testament Rühmt man im Grab deine Verbundenheit, im Totenreiche deine Treue? Wird deine Wundermacht im ew'gen Dunkel kund, im Lande des Vergessens dein gerechtes Walten?

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Ps 88 11-13)

Zudem wird Gott einen Verehrer verlieren, wenn der Beter stirbt: Denn im Tode denkt ja niemand mehr dein, wer preist dich noch in der Unterwelt?

(Ps 6 6)

Die Toten können Jah nicht mehr rühmen noch einer derer, die ins Schweigen eingegangen.

(Ps 115 17)

Jedoch sind Leben und Tod keine streng gegeneinander abgegrenzten Bereiche, sondern bewegliche und bewegte Kraftfelder, die auf- und ineinander wirken können. Die Macht des Todes vermag in das menschliche Lebensfeld einzudringen und um sich zu greifen. Dann wird die Lebenskraft schwächer, bis sie schließlich vielleicht erlischt oder aber in neuem Aufschwung die Kraft des Todes überwindet. So schildert Jes 3 1-9, wie nach der angedrohten Deportation der Jerusalemer Oberschicht als Folge des göttlichen Strafgerichts Chaos und Anarchie unter den Zurückgebliebenen einreißen werden. Dadurch wird das Leben, das sich sonst auf dem herkömmlichen Recht und der herkömmlichen Ordnung aufbaut, aufs schwerste bedroht. Indem alle Bande gebrochen und alle Ordnungen aufgelöst werden, gerät das Leben aus den Fugen. Es entartet zu einem wilden und anarchischen Leben, das nur mehr geringe Kraft besitzt und eine Vorform wirklichen Todes ist, in den es allmählich übergeht. Auch die Frauen, die nach dem Schlachtentod der meisten Männer alles Schamgefühl beiseite schieben, sich dem ersten besten Mann an den Hals werfen und sogar auf ihr Versorgungsrecht verzichten, werden nach Jes 3 25—4 l in diesen Untergang hineingerissen. Ebenso verhält es sich beim einzelnen Menschen, für den die Krankheit oder die Bedrängnis durch Feinde einen Einbruch des Todes in sein Dasein und eine Vorform des Todes darstellen, so daß er sich schon in der Unterwelt sieht: Nun bin ich zu den Toren der Unterwelt entboten für den Rest meiner Jahre. (Jes 38 10) Tödliche Wogen haben mich umringt, tückische Ströme mich erschreckt, Bande der Unterwelt umfingen mich, Schlingen des Todes begegneten mir.

(Ps 18 5-6)

Ich bin mit Leid gesättigt, mein Leben ist der Unterwelt schon nahe. Ich zähl' bereits zu denen, die zur Grube fahren, kraftlosem Manne gleiche ich. Ich bin daheim unter den Toten wie die Hingerichteten, die im Grabe liegen. (Ps 88 4-6)

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II. Themen

Das ist nicht dichterischer Überschwang, sondern drückt das alttestamentliche Verständnis der Wirklichkeit und des Verhältnisses von Leben und Tod aus. Du hast mich viele Nöte sehen lassen, gib mir das Leben wieder, und aus der Erde Tiefen führ' wieder mich empor! (Ps 71 20)

Demgemäß wird die Rettung aus Krankheit und Feindesnot als eine Rettung aus Grab und Unterwelt verstanden: Du, J h w h , hast mich aus der Unterwelt heraufgeführt, halfst mir zum Leben aus der Schar der Todgeweihten. Deine Verbundenheit mit mir war groß, du hast mich aus der tiefen Unterwelt errettet.

(Ps 30 4)

(Ps 86 13)

Damit stellt sich einerseits die Frage, wie das Alte Testament das Geschick des Menschen in jener Unterwelt zeichnet, das er so sehr fürchtet und vor dem ihm schaudert. Und andererseits wird angesichts des alttestamentlichen Verständnisses von Leben und Tod die Frage möglich, ob es nicht auch eine Bewahrung vor Tod und Unterwelt, eine Rückkehr zum vollen Leben oder eine neue Daseinsform nach dem Tode geben mag 1 . Dies um so mehr, als schon Arnos eine gewisse Macht Jhwhs über die Unterwelt voraussetzt, da er Flüchtlinge bis dorthin verfolgen könnte (Am 9 2), Jesaja

1

Als wichtigste Literatur ist zu nennen: F. Schwally, Das Leben nach dem Tode nach den Vorstellungen des alten Israel und des Judentums, 1892; J . Frey, Tod, Seelenglaube und Seelenkult im alten Israel, 1898; F. Roux, La vie après la mort chez les Israélites, 1904; A. Lods, La croyance à la vie future et le culte des morts dans l'antiquité israélite, 1906; A. Causse, Der Ursprung der jüdischen Lehre von der Auferstehung, 1908; P. Torge, Seelenglaube und Unsterblichkeitshoffnung im Alten Testament, 1909; E. Albert, Die israelitisch-jüdische Auferstehungshoffnung in ihrer Beziehung zum Parsismus, Diss. Königsberg 1910; R . H. Charles, A Critical History of the Doctrine of a Future Life, 1913; A . Bertholet, Die israelitischen Vorstellungen vom Zustand nach dem Tode, 1914 2 ; E. Sellin, Die alttestamentliche Hoffnung auf Auferstehung und ewiges Leben, N K Z 30 (1919), 2 3 2 - 2 8 0 ; G. Quell, Die Auffassung des Todes in Israel, 1925; F. Nötscher, Altorientalischer und alttestamentlicher Auferstehungsglaube, 1926; C . R y d e r Smith, The Bible Doctrine of Salvation, 1941 ; A . T. Nikolainen, Der Auferstehungsglaube in der Bibel und ihrer Umwelt, 1944; E. F. Sutcliffe, The Old Testament and the Future Life, 1946; O . Schilling, Der Jenseitsgedanke im Alten Testament, 1951; R . Martin-Achard, De la mort à la résurrection, 1954; F. König, Zarathustras Jenseitsvorstellungen und das Alte Testament, 1964; L. Wächter, Der Tod im Alten Testament, 1967; U . Kellermann, Uberwindung des Todesgeschicks in der alttestamentlichen Frömmigkeit vor und neben dem Auferstehungsglauben, ZThK 73 (1976), 2 5 9 - 2 8 2 .

Das Geschick des Menschen nach dem Tode im Alten Testament

191

dem Ahas ein »Zeichen« von dort anbieten kann (Jes 7 11 cj.) und Ps 22 gar in Abweichung von der herkömmlichen Vorstellung die Toten anbeten läßt: Ihn beten alle an, die in der Tiefe schlafen. V o r ihm knien alle nieder, die in den Staub gesunken.

(Ps 22 30)

II. Gewöhnlich nimmt das Alte Testament an, daß der Mensch nach dem Tode nicht völlig ausgelöscht ist, sondern in einer gewissen Weise weiterhin existiert. Natürlich ist es kein Leben im vollen Sinn des Wortes, sondern eher als Vegetieren zu bezeichnen. Wichtig aber ist, daß es sich um den ganzen Menschen und nicht um seine »Seele« oder einen anderen Teil handelt. Ist der Mensch dadurch Lebewesen geworden, daß er den göttlichen Lebenshauch erhalten hat, so tritt der Tod dadurch ein, daß Gott den Lebenshauch zurücknimmt. Infolgedessen verscheidet der Mensch und wird wieder zu dem, woraus er gemacht ist: zu »Staub«, d. h. zur unbelebten Materie (Gen 3 19 Hi 34 I4f. Koh 12 7). Ein Schattenbild seiner Person löst sich los und vegetiert in der Unterwelt weiter — ein Schattenbild des ganzen Menschen und nicht ein Teil des lebenden Menschen. Das weitere Existieren dieses Schattenbildes hängt offensichtlich vom Leichnam und nach der Verwesung von den Gebeinen ab. Daher war es ein schauerlicher Frevel, als die Moabiter die Gebeine des Königs von Edom zu Kalk verbrannt und seinem Schattenbild die Möglichkeit des Existierens geraubt haben (Am 2 l). Leichnam bzw. Gebeine bilden in gewissem Maße das irdische, reale Substrat für das Schattenbild. Infolgedessen gibt es keine Leichenverbrennung; vielmehr wird der Tote im Grabe, möglichst im Familiengrabe, beigesetzt. In den Grabkammern, die oft während vieler Generationen benutzt wurden, legt man die Gebeine nach dem Verwesungsvorgang in eine Sammelgrube; dort wird man buchstäblich »zu seinen Vätern versammelt« oder »legt sich zu seinen Vätern« (Gen 25 8 35 29 49 29. 33 Dtn 32 50 Jdc 2 10 I Reg 2 10). In späterer Zeit nehmen Ossuare die Gebeine auf. Für das Geschick des Menschen nach dem Tode ist also das Grab als Aufbewahrungsort von Leiche und Gebein als des Substrats des Schattenbildes von entscheidender Wichtigkeit. Daher wird man in den Erwähnungen von Grab und Unterwelt weder einen Entwicklungsvorgang noch einen Widerspruch erblicken dürfen. Für die Annahme einer Entwicklung, die den Weg Einzelgrab — viele Gräber — große Grabhöhle — Unterwelt gegangen wäre, finden sich keine Hinweise. Ebensowenig ist das Nebeneinander vom Grab als Ort der Aufbewahrung und der Vereinigung mit den Vätern und von der Unterwelt als »Sammelplatz alles Lebendigen« (Hi 30 23) ein nicht ausgeglichener Widerspruch. Vielmehr enthält das Grab das Substrat des Schattenbildes, das in der Unterwelt vegetiert.

192

II. Themen

Diese Unterwelt ist weder dem Hades der Griechen noch der Hölle und dem Fegefeuer vergleichbar. Der hebräische Ausdruck Scheol bedeutet wahrscheinlich das Nicht-Land, das Un-Land, den Bereich, in dem es nichts Wirkendes, Aktives, Dynamisches gibt und der daher im hebräischen Sinne nicht »ist«. Man denkt sie sich als einen in sich geschlossenen Raum innerhalb des unter der Erdscheibe befindlichen Ozeans oder sogar unter diesem Wasser (Hi 26 5). In diesen Bereich der völligen Kraftlosigkeit, der mit Tor und Riegel abgeschlossen ist (Jes 38 10 Ps 9 14 Hi 17 16 38 17), geht das Schattenbild ein, das sich vom Gestorbenen loslöst, um dort jenes gespensterhafte Dasein zu führen, das herkömmlich das Geschick des Menschen nach dem Tode kennzeichnet. Der Ausdruck repaim «Totengeister«, der an das Verb rph »schlaff werden, in sich zusammenfallen« anklingt, soll wohl die völlige Ohnmacht der Schattenbilder kennzeichnen. In Schweigen, Stille und Kraftlosigkeit spielt sich etwas dem einstigen Leben Ähnliches ab. Rang und Stand gelten weiter. Man befindet sich in dem Zustand, in dem einen der Tod ereilt hat oder in dem man begraben worden ist. Die Könige thronen mit den Zeichen ihrer Würde (Jes 14 9 f f . ) , die Krieger treten in voller Rüstung auf, der Prophet trägt seinen Mantel (I Sam 28 14). Nur wem ein ehrenvolles Grab versagt worden ist, muß sich auf Maden ausstrecken und mit Würmern zudecken (Jes 14 ll). Wie ferner Fehlgeburten und Unbeschnittene, Ermordete und Hingerichtete auf eine von den Grabanlagen gesonderte Stätte geworfen oder dort eingescharrt werden, so erhalten ihre Schattenbilder in der Unterwelt einen gesonderten unreinen, unrühmlichen und schmachbeladenen Aufenthaltsort zugewiesen 2 . Doch auch das normale Geschick ist hart und schwer. Die Kraftlosigkeit der Schattenbilder schließt jedes wirkliche und wirkende Leben aus. Daher können die Toten nur zirpen (Jes 8 19 29 4). Es gibt keine Gemeinschaft untereinander, so daß man nicht auf ein Wiedersehen mit anderen hoffen kann. Nicht einmal von den Ereignissen in der Welt der Lebenden weiß man: Zu Ehren kommen seine Söhne, doch er weiß es nicht; In Niedrigkeit versinken sie — er merkt es nicht.

(Hi 14 21).

Nicht zuletzt sind die Schattenbilder der Menschen — wie schon erwähnt — von Gott getrennt. Die Herrschaft Gottes über den Menschen und die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch finden mit dem Tode des Menschen ein Ende und setzen sich in bezug auf das Schattenbild in der Unterwelt nicht fort. Ungeachtet dessen, daß sich die göttliche Macht auch 2

A . Lods, La mort des incirconcis, 1943, 271—283; O . Eißfeldt, Schwerterschlagene bei Hesekiel, in: Studies in Old Testament Prophecy, Presented to Th. H. Robinson, 1950, 7 3 - 8 1 ( = Kleine Schriften, III 1966, 1 - 8 ) .

Das Geschick des Menschen nach dem Tode im Alten Testament

193

auf die Unterwelt erstrecken mag (außer Jes 7 11 Am 9 2 vgl. Ps 139 8 Hi 26 5-9), ist das Geschick des Menschen nach dem Tode ein gott-loses Geschick. Während die Gedanken der Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft gemeinsam das zentrale Thema der alttestamentlichen Theologie bilden 3 , bezieht diese Theologie sie länger als ein Jahrtausend ausschließlich auf die Lebenden und verneint jedes Verhältnis zwischen Gott und dem Geschick des Menschen nach dem Tode. Es ist ein Diesseitsglaube von eindrucksvoller Geschlossenheit und Folgerichtigkeit. Daß man sich dadurch das Geschick nach dem Tode noch trüber und aussichtsloser vorstellen mußte, als es ohnehin der Fall war, wurde in Kauf genommen. Es überwog das Bewußtsein, der Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft im Diesseits in solcher Fülle teilhaftig werden zu können, daß alle Einschränkungen für jenes Vegetieren in der Unterwelt nicht ins Gewicht fielen. So gibt es auch keine Wiederkehr aus der Unterwelt, es sei denn, ein Totengeist werde zitiert, um befragt zu werden (I Sam 28). Zwar waren diese Praktiken untersagt, aber sie fanden immer wieder Anhänger und Verteidiger (Jes 8 19). Obwohl also im »Lande ohne Rückkehr» 4 , ist doch ein gewisses Nachleben und Weiterwirken des Toten auf Erden denkbar. Er mag wie Gilgamesch, dem es nicht gelungen ist, das Lebenskraut für sich zu gewinnen, in einem großen, dauerhaften Werk — der Stadtmauer von Uruk — in dem Wissen fortleben, daß das Werk bleibt und mehr als der todgeweihte Mensch ist. Er mag in seinen Nachkommen fortleben — erst recht, wenn sie sog. Ersatznamen trägen, d. h. solche Personennamen, in denen sich die Anschauung ausdrückt, daß der Namensträger ein verstorbenes Familienmitglied neu verkörpert oder daß dieses in jenem wieder erschienen bzw. wieder lebendig geworden sei 5 . Darum ist es so schlimm, wenn die Söhne ausgerottet werden und der Name der Familie erlischt (Jes 14 20 f. Ps 109 13). Nur den frommen Eunuchen gibt der Prophet im Namen Jhwhs zum Trost einen vollgültigen Ersatz: Ich gebe ihnen in meinem Haus und in meinen Mauern Denkmal und Nachruhm — besser als Söhne und Töchter: bleibenden Nachruhm gebe ich ihnen.

(Jes 56 5)

Doch alles dies bleibt nur ein schwacher und unzulänglicher Trost angesichts des unausweichlichen trostlosen Geschicks der Schattenbilder in der Unterwelt, dem selbst ein Mann wie der völlig verzweifelte Hiob nur für kurze Zeit eine gute Seite abzugewinnen vermag (Hi 3).

4

Vgl. G . Fohrer, Theologische Grundstrukturen des Alten Testaments, 1972. So im Mythos v o m Hinabstieg der Ischtar in die Unterwelt, vgl. A N E T 107.

5

Vgl. dazu mit zahlreichen Beispielen J . J. Stamm, Hebräische Ersatznamen, in: Studies in

3

Honor of B. Landsberger on his Seventy-Fifth Birthday, 1965, 413—424.

194

II. Themen III.

Abweichungen von der herkömmlichen Vorstellung vom Geschick des Menschen nach dem Tode finden sich selten. Einige sind unter fremden Einflüssen aufgenommen oder diskutiert und abgelehnt worden. Andere sind Folgeerscheinungen bestimmter Auffassungen oder Entwicklungen der prophetischen Bewegung. Eine vorübergehende Wendung des Geschicks nach dem Tode geschieht nach dem Glauben der Legenden um die Propheten Elia und Elisa durch das Wiedererwecken eines Toten zum Leben. So erzählen I Reg 17 17-24 die Neubelebung des Sohnes der Witwe von Zarpat durch Elia und II Reg 4 18-37 diejenige des Sohnes der Frau von Sunem durch Elisa. Dabei weist die zweite Legende die altertümlichsten Züge auf: Der Prophet läßt zunächst seinen Stab dem Toten aufs Gesicht legen, um ihn durch dessen zauberhafte Kraft ins Leben zurückzurufen. Als dies nicht gelingt, streckt er sich selbst zweimal über ihn — Mund auf Mund, Augen auf Augen, Hände auf Hände —, um ihm die eigene Lebenskraft zu übermitteln. Beim erstenmal wird der Leib des Knaben warm, bei zweitenmal niest er, schlägt die Augen auf und ist voller Leben. In der Elialegende sind die krassen zauberhaften Züge gemildert: Elia streckt sich dreimal über das tote Kind und ruft Jhwh an, der daraufhin das Leben in den Toten zurückkehren läßt. Selbst die Gebeine eines solchen Propheten können noch auf wunderbare Weise lebendig machen (II Reg 13 20f.). Diese und zahlreiche andere merkwürdige Züge begegnen in der Schilderung von Propheten in den Königsbüchern, die den Propheten offensichtlich das gleiche zutrauen wie Mantikern und Magiern. Es mag sein, daß in dieser Vorstellung von der geradezu magisch-zauberischen Macht der »Gottesmänner« und prophetischen Meister die urtümliche, ungeteilte und nichtspezialisierte nomadische Kultur nachwirkt, in der der Stammesprophet, • -dichter und -priester gleichzeitig der Stammeszauberer war 6 . Jedenfalls weisen die ersten Erzählungen von Totenerweckungen eindeutig einen altertümlichen Hintergrund magischen Weltgefühls auf, wenn auch durch die Einbeziehung in den alttestamentlichen Glauben gemildert. Immerhin erklärt das Nachwirken des magischen Elements, warum die Hoffnung auf eine wenigstens zeitweilige Abwendung des Unterweltgeschicks bis zum erneuten und unabwendbaren Tode im Alten Testament außerhalb der genannten Prophetenlegenden keine Rolle spielt. Eine andere Möglichkeit bietet das Streben nach Unsterblichkeit, der nach dem mesopotamischen Epos schon Gilgamesch nachjagt. Doch wie er ist nach der Darstellung der nomadischen Quellenschicht des Hexateuchs auch die frühe Menschheit gescheitert. Bevor sie vom Lebensbaum zu essen 6

G . Fohrer, Prophetie und Magie, in: Studien zur alttestamentlichen Prophetie ( 1 9 4 9 1965), 1967, 2 4 2 - 2 6 4 .

Das Geschick des Menschen nach dem Tode im Alten Testament

195

und dadurch ewiges Leben zu erlangen vermochte, vertrieb Jhwh sie von ihm und läßt ihn seither streng bewachen (Gen 3 22b. 24). Als durch die Ehen der Gotteswesen mit menschlichen Frauen der volle göttliche Lebensgeist in die Menschheit einströmte, begrenzte Jhwh das menschliche Lebensalter auf 120 Jahre, damit seine Lebenskraft nicht ewig in den Menschen herrsche (Gen 6 1-4). Und als diese infolge ihres Turmbaus sich ewigen Ruhm zu erwerben und den Himmel zu stürmen drohten, verwirrte Jhwh ihre Sprache und zerstreute sie über die Erde (Gen 11 1-9). Wie die nomadische Quellenschicht den altorientalischen, so lehnt Kohelet den griechisch-hellenistischen Unsterblichkeitsgedanken ab, indem er Mensch und Tier miteinander vergleicht: Ich sagte bei mir selber in bezug auf die Menschen, sie zu prüfen und zu sehen, was sie eigentlich sind: Ja, das Geschick der Menschen (ist wie) das Geschick des Viehs. Ein und dasselbe Geschick haben sie, wie der Tod des einen ist der Tod des anderen. Beide haben einen Odem, und der Mensch hat keinen Vorzug vor dem Vieh. Beide sind nichtig, beide gehen zu einem Ort. Beide sind aus Staub geworden, beide kehren zum Staub zurück. W e r weiß denn vom Odem der Menschen, ob er nach droben aufsteigt, und vom Odem des Viehs, ob er hinabfährt nach drunten zur Unterwelt?

(Koh 3 18-21)

Auch die Vorstellung von der Entrückung des noch lebenden Menschen zu Gott, die nach der alttestamentlichen Uberlieferung nur Henoch und Elia zuteil geworden ist (Gen 5 24 II Reg 2 l l ) und ohnehin keine Erwartung gewöhnlicher Sterblicher sein konnte, scheint auf fremden Gedanken zu beruhen 7 . Die gesamte Lebensdauer Henochs beträgt 365 Jahre und entspricht der Zahl der Tage eines Sonnenjahrs. Er ist ferner dem siebten mesopotamischen König vor der Flut parallel: Enmeduranna, dessen Hauptstadt das alte Zentrum des Sonnengottes von Sippar war. Wie sich daraus die Sonnenjahr-Zahl der Lebensjahre Henochs erklärt, so vermutlich auch seine Entrückung. Jedenfalls ist der Feuerwagen mit Feuer7

E. A . Speiser, Genesis, 1964, 43.

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II. Themen

pferden, auf dem Elia im Sturm zum Himmel fährt, offensichtlich der Sonnenwagen mit Sonnenrossen, auf dem der Sonnengott am Himmel seine Bahn zieht. Dieser Wagen trägt Elia davon. Man könnte fragen: Ist es die Entrückung durch den Sonnengott, zum Sonnengott oder gar als Sonnengott? Im Alten Testament handelt es sich sicher nicht mehr darum, sondern um die Entrückung in die göttliche Sphäre. Doch der mythische Hintergrund ist unverkennbar. Vielleicht deutet Ps 49 eine weitere Hoffnung hinsichtlich des Geschicks des Menschen nach dem Tode an, obwohl der Text stellenweise stark gestört ist und man den entscheidenden v. 16 manchmal hat streichen wollen, manchmal auf Bewahrung vor einem vorzeitigen Tod, auf Rettung aus der die Gottlosen treffenden Katastrophe, auf Überwindung des Todes und Jenseitsglauben oder auf Unsterblichkeit des einzelnen gedeutet hat. Das Lied gliedert sich in fünf Strophen: Die 1. Strophe (v. 2-5) bringt als Einführung die Anrede an die Zuhörer und die Ankündigung der Lösung, die der Dichter für das ihn bedrängende Lebensrätsel gefunden hat. Die 2. Strophe (v. 6—10) behandelt 1. thematisch das Problem, ganz persönlich formuliert, wie der Dichter es erlebt hat: Warum soll ich mich vor den Reichen, die zugleich die Frevler sind, fürchten?; 2. den ersten Schritt zur Lösung des Problems von der negativen Seite aus: Mit Reichtum kann sich niemand vom Tode loskaufen, so daß die Reichen keinen Vorteil besitzen. Die 3. Strophe (v. 11-13) enthält einen zweiten Schritt zur Lösung, gleichfalls von der negativen Seite aus: Alle Unterschiede zwischen den Menschen werden durch den Tod ausgeglichen und aufgehoben, so daß Reichtum nichts mehr nützt. Die 4. Strophe (v. 14-16) tut einen dritten Schritt: Während die selbstsicheren Reichen ein trostloses Ende finden, gibt es für den armen Frommen (oder frommen Armen) eine Hoffnung über den Tod hinaus. Die 5. Strophe (v. 17-20) schließt mit einer Mahnung an den Zuhörer. Worin jene Hoffnung über den Tod hinaus bestehen soll, ist v. 16 schwer zu entnehmen: Jedoch Gott kauft mich los aus der Gewalt der Unterwelt, ja, nimmt mich fort.

Das steht im Gegensatz zum Geschick des Reichen, der sich nicht loskaufen kann. Dies vermag natürlich auch der Fromme nicht, aber Gott vermag es. Und er tut es — nicht beim Reichen, sondern beim armen Frommen. Ihn kann Gott von der Unterwelt loskaufen, d. h. vor ihr bewahren oder aus ihr befreien. So verheißt der Dichter dem Frommen die Bewahrung und Rettung vor dem Tode, so daß er die Grube nicht sieht und noch einmal oder sogar für immer lebt. Dann wird es sich umgekehrt wie in der Gegenwart verhalten: Der jetzt bedrängte Fromme wird ein besseres

Das Geschick des Menschen nach dem Tode im Alten Testament

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Geschick erfahren als der Reiche, der selbstsicher und satt gelebt hat. Freilich bleiben das Wie und Wo des Ausgleichs und der Vergeltung für den Frommen ungeklärt: An eine Entrückung oder Auferweckung ist sicherlich nicht gedacht, doch die Vorstellung von einer Vergeltung für den leidenden Frommen, die nach dem Tode in einem Jenseits des Todes auf ihn wartet, bleibt in der Schwebe, wie es bei diesem im Alten Testament einzigartigen Gedanken nicht anders zu erwarten ist. Vielleicht begegnet er im Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus in weitergebildeter Form. In Ps 49 überkam er erstmalig einen Menschen als Lösung seines Lebensrätsels und machte ihn zum Dichter. Als er ihn zur Zither vortrug, war er kein verbreiteter Glaube, sondern eine neue Botschaft. Trotz ihrer manchmal ausschweifenden Erwartungen ist demgegenüber die eschatologische Prophetie zurückhaltender geblieben. Sie begnügt sich mit einer gesteigerten Langlebigkeit der Israeliten, ohne daß sich dadurch am Geschick nach dem Tode etwas ändert. Nur das Sterben soll so lange wie möglich hinausgeschoben werden, so daß die Zahl der Greise und Greisinnen, die wegen der Altersbeschwerden einen Stab in der Hand brauchen, wachsen (Sach 8 4) und ein Hundertjähriger noch als junger Mann gelten wird: Es gibt dort keinen Säugling mehr, der (nur wenige) Tage (alt wird), keinen Greis, der nicht vollendet seine Lebenstage, sondern der junge Mann stirbt mit hundert (Jahren), und wer sie nicht erreicht, gilt als verflucht.

(Jes 65 20)

Nur der späte Zusatz in Jes 25 8, der die dort erwähnte Trauer und die Tränen der Menschen, die Gott beim Anbruch der seligen Endzeit beseitigen und abwischen wird, fälschlich auf den Tod gedeutet hat, kündigt an, daß Gott den Tod für immer vernichten wird. Dann würde sich die Frage nach einem Geschick des Menschen nach dem Tode überhaupt nicht mehr stellen können. Ob jedoch Totenerweckung, Unsterblichkeit, Entrückung, gerechter Ausgleich nach dem Tode, eschatologische Verlängerung des Lebens oder Vernichtung des Todes — stets sind es lediglich einige wenige, die über diese möglichen Hoffnungen nachgedacht haben oder von denen die Uberlieferung dergleichen erzählt hat. Am grundlegenden Bild vom Vegetieren des Schattenbildes in der Unterwelt hat sich dadurch nichts geändert. IV. Erst in der spätesten Zeit des Alten Testaments begegnet eine andere Erwartung, die sich als zukunftsträchtig und für die Folgezeit wirksam erwiesen hat: die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten. Sie hat die Vorstellungen vom Geschick nach dem Tode radikal geändert.

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II. Themen

Im Alten Testament selbst spielt sie freilich eine sehr geringe Rolle. Es enthält nur einen einzigen Beleg. Alle anderen Texte, in denen man die Auferstehungshoffnung zu entdecken geglaubt hat, besagen in Wirklichkeit etwas anderes. So drückt Hos 6 1-2 weder eine aus dem Kultus von dahinwelkenden und wiederauflebenden Vegetationsgöttern entlehnte Hoffnung auf eine Auferstehung am dritten Tage aus, noch schimmert das Bild einer Totenerweckung durch oder handelt es sich um vorbereitende Gedankengänge. Der Text bezieht sich vielmehr auf das Genesen und Aufstehen von Verwundeten, die von einem Raubtier angefallen sind; mit ihnen ist das Volk als Ganzes gemeint: Kommt, laßt uns zu Jhwh umkehren; denn er hat uns zerrissen und wird uns auch heilen! 'Er hat geschlagen' und wird uns verbinden, er wird uns nach zwei Tagen neu beleben! Am dritten Tage wird er uns aufhelfen, so daß wir vor ihm leben!

Israel wird mit einem Verwundeten verglichen, wie die Ausdrücke »heilen« und »verbinden« und die Verwendung der aus den Klagepsalmen bekannten »Krankheitsgeschichte« mit der Abfolge zerreißen — heilen, schlagen — verbinden, neue Lebenskräfte — aufstehen vom Krankenlager zeigen. Das Volk fühlt sich demnach wie ein Verwundeter und erhofft die Heilung — wie es zahlenspruchartig heißt — schon in zwei oder drei Tagen, d. h. in ganz kurzer Zeit 8 . Ez 37 1-14 berichtet über eine Vision und Audition, mit denen eine ekstatische Entraffung des Propheten verbunden ist: Ezechiel erlebt die Neubelebung der verdorrten Gebeine, die die Israeliten darstellen. Dieses Bild stammt aus der Klage der nach Babylonien Deportierten, die über ihre vernichteten Hoffnungen klagen und dabei sägen, daß ihre Gebeine verdorrt seien und daß sie zugrunde gehen (37 ll). Wie eine Krankheit ist das Exil eine schwächere Form des Lebens, das langsam dahinstirbt. Nach Ansicht der Deportierten ist dieser Vorgang so weit vorgeschritten, daß sie tatsächlich vom Leben abgeschnitten und Totengebeinen gleich sind. Wie also das Bild Ezechiels aus der Klage der Deportierten stammt, so rührt es bei ihnen aus der alten Vorstellung vom Verhältnis von Leben und Tod her, angewendet auf das Exil. In beiden Fällen wird von Tod und Wiederbeleben 8

Vgl- J- J- Stamm, Eine Erwägung zu Hos 6 1-2, ZAW 57 (1939), 266-268; ferner mit weiterer Lit. und in Auseinandersetzung damit G. Fohrer, Umkehr und Erlösung beim Propheten Hosea, in: Studien zur alttestamentlichen Prophetie (1949—1965), 1967, 226f.; H . W. Wolff, Dodekapropheton 1, Hosea, 1965 2 , 149-151; W. Rudolph, Hosea, 1966, 134—137. O b bereits Paulus in I Kor 15,4 den Text auf die Auferstehung Jesu am dritten Tage deutet, scheint unsicher; unter ausdrücklicher Nennung von Hos 6 geschieht dies erst seit Tertullian. Doch entbehrt dieses Verständnis als Weissagungsbeweis jeder exegetischen Grundlage.

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bildlich und symbolisch gesprochen. Es handelt sich nicht um die Auferweckung tatsächlich gestorbener Israeliten, sondern um den augenblicklichen Zustand der Deportierten, die ein totes Volk sind, und um ihren künftigen Zustand, in dem sie wieder ein lebendiges Volk sein werden. Ezechiel setzt also keinen Auferstehungsglauben voraus. Das ergibt sich auch aus seiner Antwort auf die Frage Jhwhs, ob die Gebeine wieder lebendig werden können: »Du weißt es«, d. h. ich weiß es nicht, man kann es überhaupt nicht wissen (37 3). Ebensowenig ist die Auferstehung des hingerichteten »Knechtes Jhwhs« gemeint, wenn Jes 53 10 davon spricht, daß er Nachkommen sehen wird, und 53 12 davon, daß Gott ihm »die Vielen« als Beute zuteilt. Damit ist einfach gemeint, daß die Menschen sich die durch sein stellvertretendes Leiden vollzogene Erlösung aneignen werden, so daß aus der Einsamkeit seines Leidens im Leben die Fülle derer erwächst, die daraus leben und darum seine Nachkommen heißen. Der Abschnitt Jes 26 7-21 enthält vorwiegend ein klageartiges Gebet über den ersehnten Anbruch der Endzeit (v. 7 - 1 8 a ) , das in die Gewißheit der göttlichen Hilfe (v. 18b—19) und eine daraus folgende Aufforderung an Israel (v. 20-21) mündet. Nachdem das Gebet das Scheitern aller menschlichen Bemühungen, die Endzeit herbeizuführen, festgestellt hat, wird dem die Gewißheit der göttlichen Hilfe gegenübergesetzt: Gott allein kann und wird unter Vernichtung der Frevler das Volk der Gerechten aus der N o t ins eschatologische Heil geleiten. Diese Einsicht führt v. 19 in der Anrede an Gott an: Deine Toten werden leben! Meine Leichen werden aufstehen! Aufwachen und jauchzen werden die Bewohner des Staubes! Denn Tau der Lichter ist dein Tau, und die Erde wird Totengeister gebären.

Ähnlich Ez 37 1-14 handelt es sich um ein Bild und Symbol für das in der Endzeit zu erwartende Heil neuen Lebens: Deine Toten, meine Leichen werden aufstehen und leben — wir, dein Volk, werden unter deiner Herrschaft die Hilfe erfahren, die wir selbst nicht schaffen können, und das Heil erleben, das du bringst! Ebenso legt sich angesichts der entschiedenen Behauptung von v. 14, daß die Toten nicht leben und auferstehen werden, auch wenn sie sich im dortigen Zusammenhang auf die Frevler bezieht, die Auffassung nahe, daß v. 19 als Gegensatz dazu gebildet ist und gegenüber dem Untergang der Frevler das Heil der Gerechten beschreiben soll. Das bedeutet, daß die Aussage rein bildlich gemeint ist und keinen Auferstehungsglauben voraussetzt. Dazu tritt das zweite Bild vom Himmelstau, der die »Mutter Erde« befähigt, die »Toten« wieder zu gebären. Jes 26 19 muß also als Belegstelle für eine Auferstehungshoffnung ausscheiden.

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II. Themen

Daß man Ps 16 und 73 jemals in diesem Zusammenhang angeführt hat, ist schwer verständlich. Denn ersterer bezieht sich eindeutig auf eine Rettung aus Todesgefahr (v. I0f.), letzterer preist das Leben in der Gemeinschaft mit Gott im Diesseits (v. 2 5 f f . ) . Nichts klingt auch nur entfernt an eine Auferstehungshoffnung an. Ebenso verhält es sich mit Hi 19 2 5 - 2 7 — nach der Herausforderung zum Rechtsstreit (13 I 3 f f . ) und der Anrufung als Bluträcher (16 I 8 f f . ) der dritte Versuch Hiobs, Gott zur Anerkennung seiner Unschuld zu bewegen: Er ersucht Gott als Schutzzeugen und Anwalt um Hilfe gegen die ihn verfolgenden Freunde und die Verurteilung durch eine unwissende Nachwelt. Gott soll gerade auf der Erde sein Zeugnis für Hiob ablegen (v. 25), und dieser möchte in seinem geschundenen, abgemagerten Körper, solange er lebt, Gott schauen, wie er in einer Theophanie auf Erden für ihn eintritt (v. 26). Der Gedanke an die Auferweckung eines toten Hiob wird dadurch gerade ausgeschlossen 9 . Somit bleibt nur ein einziger Beleg für eine alttestamentliche Auferstehungshoffnung: Dan 12 2. In jener Zeit wird auftreten Michael, der große Schutzengel, der für die Angehörigen deines Volkes eintreten wird. Es wird eine N o t z e i t sein, die seit Bestehen eines Volkes nicht gewesen ist bis zu jener Zeit. D o c h in jener Zeit wird dein V o l k gerettet, jeder, der sich in dem B u c h e aufgeschrieben findet. Viele von denen, die im Staubland schlafen, werden erwachen, die einen zum ewigen L e b e n , die anderen zur ewigen Schmach. D o c h die Weisen werden glänzen wie der G l a n z des Firmaments und die, die viele zur Gerechtigkeit geführt haben, wie die Sterne für immer und ewig.

( D a n 12 1 - 3 )

Mit dem wiederholten »in jener Zeit« verweist der Verfasser des Danielbuches auf die in Kap. 11 berührte Religionsverfolgung durch Antiochus IV. Epiphanes, die er zusammenfassend als die voreschatologische Notzeit kennzeichnet — schwerer als jede andere Epoche seit der Weltschöpfung —, wenn auch das Auftreten Michaels, des himmlischen Vertreters Israels, andeutet, daß dieser die himmlische Entscheidung zugunsten Israels erreicht hat. Dem entspricht es, daß in jener Notzeit die wirkliche Errettung Israels erfolgen, die N o t damit ein Ende finden und die Endzeit anbrechen wird. Dann ereignet sich die doppelte Auferstehung der Toten,

9

Vgl. im einzelnen mit einem U b e r b l i c k über die Auslegungsgeschichte G . Fohrer, Das B u c h H i o b , 1963, 3 1 7 - 3 2 2 .

Das Geschick des Menschen nach dem Tode im Alten Testament

201

deren Geschick nach dem Tode damit eine Wendung erfährt. Sie beschränkt sich auf Israel und ist ganz im Einklang mit den israelitischen Vorstellungen gedacht, so daß eine Entlehnung und Übernahme persischer Vorstellungen nicht anzunehmen ist: Wie die Toten bislang »im Staubland geschlafen« haben, so »erwachen« sie. Der ganze Mensch und nicht nur ein Teil von ihm tritt ins Leben zurück. Offensichtlich ist kein jenseitiges, sondern ein neues diesseitiges Leben gemeint; nur wird es »ewig« sein, d. h. von unendlicher Dauer. Freilich fehlt jede Ausmalung des neuen Geschicks nach dem Tode, so daß sich nicht sagen läßt, was mit der »ewigen Schmach« im Gegensatz zum »ewigen Leben« gemeint ist. Deutlich ist lediglich, daß angesichts der Ausnahmestellung der »Weisen« die zum ewigen Leben Erwachenden diejenigen sind, denen die Weisen eine Erkenntnis vermittelt haben, die von der in Form einer Auferstehung zum Leben führenden Rechtfertigung gekrönt wird: die Weisheit des eschatologisch-apokalyptischen Glaubens. Wer sich von ihr leiten läßt, gehört in Israel zu denjenigen, die der Auferstehung zum ewigen Leben teilhaftig werden 1 0 . Im Rahmen des ganzen Danielbuches bedeutet dies die Einbeziehung des im eschatologisch-apokalyptischen Glauben lebenden Teiles Israels in die ewige Gottesherrschaft. Entgegen der herkömmlichen Anschauung des Alten Testaments werden diese Toten nicht der Gottesherrschaft für immer entzogen, sondern durch die Auferstehung in sie eingegliedert; auch über die zur ewigen Schmach Verurteilten verfügt Gott. Damit schließt der Verfasser des Danielbuches die alte Lücke in der Reihe derer, die der Herrschaft Gottes unterstehen: Nicht nur die Lebenden, sondern auch die Gestorbenen nach ihrem Erwachen zu Beginn der Endzeit zählen dazu. V. So führt der Weg von der Vorstellung, nach dem Tode von Gott getrennt und von der Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft endgültig ausgeschlossen zu sein, zu der Erwartung, infolge der Auferstehung zu Beginn der Endzeit wieder in die Gottesherrschaft einbezogen zu werden. Das ist ein wesentlicher Schritt; und für die Frage nach dem Sinn der Auferstehungserwartung überhaupt sollte beachtet werden, daß für die einzige alttestamentliche Erwähnung der Erwartung dieser Sinn darin liegt, daß entgegen der herkömmlichen Erwartung die Toten der Gottesherrschaft nicht entzogen werden, sondern ihr weiterhin unterstellt bleiben. Freilich entspricht auch dieser Schritt noch nicht ganz dem, was die Dichter des Hiobbuches und des 73. Psalms für das Leben im Diesseits als entscheidend betrachten und was den Menschen so erfüllen kann, daß für ihn die Frage nach dem Dereinst nebensächlich wird: das volle Erleben der Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft in diesem Leben: 10

O . Plöger, Das Buch Daniel, 1965, 171 f.

202

II. Themen

Wen könnt' ich neben dir im Himmel suchen? Nichts außer dir begehr' ich sonst auf Erden! Wenn sich auch Leib und Seel' verzehren, bleibt Gott doch allezeit mein Teil! Ja, die dich lassen, kommen um, du tilgest jeden, der dir treulos wird. Für mich aber ist Gott das Glück, beim Herrn hab' ich Zuflucht gefunden.

(Ps 73 25-28)

Zweifache Aspekte hebräischer Wörter I.

1. An mehreren Beispielen ist gezeigt worden, daß das israelitische Denken eine Idee oder einen Vorgang unter zwei Aspekten darstellt oder sozusagen um zwei Brennpunkte kreisen läßt, um das Ganze der Idee oder des Vorgangs zu erfassen. So wird einmal der gleiche Vorgang einerseits als Eingreifen Jhwhs und andererseits als menschliches Handeln geschildert, viel öfter noch der göttliche und der menschliche Faktor nebeneinander und sogar ineinander verschlungen gesehen. Die verschiedenen Vorstellungen vom menschlichen Helden, der Hilfe und Sieg schafft, von der Hilfe Jhwhs, der sich menschlicher Helden bedient, und von Jhwh als dem alleinigen Helfer, der keine menschliche Betätigung neben sich duldet, bestehen nebeneinander und in Verbindung miteinander 1 . Ferner bilden den Mittelpunkt der Jhwh-Religion die zwei miteinander verknüpften Gedanken der Herrschaft Gottes, die unter anderem in dem Begriff »eifernder Gott«, den Aussagen über das Herrschen Jhwhs und den Titeln »König« und »Hirt« ausgedrückt ist, und der Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch, die unter anderem in der Auffassung des Menschen als imago Dei, der personalen Struktur des Glaubens und dem Schlacht- oder Gemeinschaftsopfer deutlich wird 2 . Schließlich besteht für die Jhwh-Religion eine Korrelation zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Handeln. Jhwh handelt nicht ohne Berücksichtigung des menschlichen Verhaltens oder gar im Gegensatz zu diesem Verhalten, obschon er nicht davon abhängig ist. Zwischen dem Tun beider Seiten herrscht vielmehr ein Einklang. So verhält es sich in der tödlichen Krise des Nichtglaubenden, wie die ägyptischen Plagen vor dem Exodus aus Ägypten zeigen: Die Unwilligkeit des Menschen und die von Jhwh bewirkte Verblendung und Verhärtung lassen den unbußfertigen Schuldigen sich immer tiefer ins Verderben verstricken. Ebenso gehören die Willigkeit des Menschen und die Vergebungsbereitschaft Jhwhs zusammen und bilden zwei Aspekte oder Teile eines Ganzen: der Rettung des sündigen und todverfallenen Daseins 3 .

1

I. L. Seeligmann, Menschliches Heldentum und göttliche Hilfe. Die doppelte Kausalität im alttestamentlichen Geschichtsdenken, ThZ 19 (1963), 3 8 5 - 4 1 1 .

2

G . Fohrer, Theologische Grundstrukturen des Alten Testaments, 1972.

3

G . Fohrer, Uberlieferung und Geschichte des Exodus, 1964, 6 0 f f . ; Jesaja 1 als Zusammenfassung der Verkündigung Jesajas, in: Studien zur alttestamentlichen Prophetie (1949— 1965), 1967, 1 5 9 - 1 6 3 .

204

II. Themen

2. Nicht anders ist die Sachlage bei der Bedeutung von hebräischen Wörtern. Bekanntlich ist zunächst die Grundbedeutung der jeweiligen Wurzel maßgeblich, die dann gleicherweise für die von der Wurzel abgeleiteten Wörter gilt. Ein solches Wort kann mehrere Vorgänge oder Dinge bezeichnen, die dem Grundsinn entsprechen. So bezeichnet das von HOD »bedecken« abgeleitete Wort mehrere Dinge, denen gemeinsam ist, daß sie etwas bedecken: die Decke für das Lager (Jes 14 l l ) oder die Kleidung (Jes 23 18), das Deck des Schiffes (Ez 27 7) und im anatomischen Sinn die Decke von Fett über den Eingeweiden (Lev 4 8). Das von *?B3 »fallen« abgeleitete Wort rVöö bezeichnet mehrere Dinge, denen gemeinsam ist, daß sie gefallen oder gefällt worden sind: den Kadaver als das gefallene Tier (Jdc 14 8) und den gefällten Baumstamm (Ez 31 13); oder das Wort bezeichnet den Fall und Sturz selber (Ez 26 15. 18). Die Verwendung von Wörtern unter zwei Aspekten beginnt dort erkennbar zu werden, wo sie im wörtlichen und im übertragenen Sinn gebraucht werden, Das geschieht im Hebräischen sehr häufig, so daß ein einziges Beispiel zur Verdeutlichung ausreichen dürfte, illj? bezeichnet im wörtlichen Sinn das Schilfrohr (I Reg 14 15), im übertragenen Sinn andere Dinge, die rohrförmig sind: den Halm des Getreides (Gen 41 5), die Röhre des Leuchters (Ex 25 3 l f f . ) , das zum Messen benutzte Rohr (Ez 40 5) oder den Oberarmknochen (Hi 31 22 für das Schultergelenk). Ferner kann ein Wort im räumlichen und im zeitlichen Sinn gebraucht werden. Das Wort D l j ? hat die Grundbedeutung »vorn« (Ps 139 5) und bezeichnet sodann im räumlichen Aspekt für den sich nach Osten orientierenden Israeliten eben diese Himmelsrichtung, die für ihn »vorn« liegt, im zeitlichen Aspekt die »vorn« liegende Zeit, die »Vorzeit« oder »Urzeit«. Ähnlich findet sich das Wort f p »Ende« in einem räumlichen Aspekt mit der Bedeutung »Grenze« (Ps 119 96) oder »Ziel« (Hi 6 l l ) und in einem zeitlichen Aspekt »Endzeit« (Dan 8 19). Schließlich kann ein Wort von seiner Grundbedeutung aus in einem positiven und einem negativen Aspekt verwendet werden. I 3p3 bedeutet zunächst «ein Loch bohren, durchbohren« und sodann — von «durchlochen, punktieren« aus — »bestimmen, festsetzen« sowie »auszeichnen«. Letzteres kann einerseits im positiven Sinn gemeint sein wie bei den »Vornehmen ( ' a p l ) des ersten der Völker« (Am 6 l), andererseits im negativen Sinn wie in der Redewendung »den Namen (Jhwhs) lästern (ungünstig auszeichnen)« (Lev 24 11. 16). II. Weitere Schritte in Richtung der Verwendung von Wörtern unter zwei Aspekten sind in den folgenden vier Wortgruppen erkennbar. 1. Mit anderen Sprachen teilt das Hebräische die semasiologische Entwicklung eines Sachwortes zum Personenwort: Ein Wort, das ursprünglich

Zweifache Aspekte hebräischer W ö r t e r

205

eine Sache bezeichnet, wird für eine Person gebraucht 4 . Die Entwicklung kann dabei sogar in einem zweifachen Vorgang verlaufen, indem ein Sachwort zuerst zu einem persönlichen Adjektiv und dieses dann zu einem Substantiv wird, z. B. akkadisch qurbum »Nähe, Verwandtschaft« zu »nahe, verwandt« und zu »Verwandter, Nächster«. Im Hebräischen ist diese Entwicklung manchmal schon frühzeitig abgeschlossen worden und in dem überlieferten Text nicht mehr zu erfassen. So sind »Sendung, Gang« zu »Bote«, »Sitzen, Wohnen (lassen)« zu »Beisasse« und »Lehre« zu »Schüler« geworden. In anderen Fällen sind noch beide Aspekte vertreten: rP3 bezeichnet das »Haus« und die in ihm lebende »Familie«, rD ,l ?n den »Weg« und die auf ihm ziehende »Karawane«, 33K) den »Standort« und den »Posten« oder die »Wache«, die dort aufgestellt sind. 2. Ein Wort kann sowohl eine Tätigkeit als auch denjenigen, der sie ausübt, bezeichnen. Das bekannteste Beispiel ist JlVflj?, ein feminines Partizip von Vnp, das zunächst für die Tätigkeit des Leitens der Gemeindeversammlung und des Redens in ihr und sodann für denjenigen, der diese Tätigkeit ausübt, verwendet wird: für den Leiter und Redner der Versammlung. Ebenso verhält es sich mit den Wörtern MDO und D^OSil m S B (Esr 2 55. 57). Ursprünglich bezeichnen sie das Hofamt des Schreibers und die Tätigkeit des Gazellenfängers, danach diejenigen, die das Amt und die Tätigkeit ausüben, und stellen schließlich Personennamen dar. Auch in diesen Fällen ist freilich nur noch die letzte Stufe der Entwicklung belegt. Dagegen sind beide Aspekte — allerdings wohl mit der Entwicklung in umgekehrter Richtung — beim Wort 1p1 deutlich erkennbar: ]j?T ist sowohl der «alte Mann« als auch im Plural die Schicht der »Ältesten« mit ihren besonderen Funktionen im Rahmen der israelitischen Gesellschaft. 3. Andere Wörter bezeichnen sowohl einen Teil als auch ein größeres Ganzes, so "in den »Berg« und das »Gebirge«, ITlBn den »Apfel« und den »Apfelbaum«. Ähnlich verhält es sich mit das die »Grenze« und das von der Grenze umschlossene »Gebiet« bedeuten kann. 4. Häufiger findet sich die Verwendung von Wörtern mit gleichzeitiger konkreter und abstrakter Bedeutung, wobei die erstere nicht immer die primäre sein dürfte 5 . So bezeichnet das von "VTN (mit dem doppelten Klang von herrlich und mächtig) abgeleitete IHIX zunächst die »Pracht« oder »Herrlichkeit« (Ez 17 8), sodann das «Prachtkleid« des Königs (Jon 3 6), 4

W . Eilers, Zur Funktion von Nominalformen. Ein Grenzgang zwischen Morphologie und

5

M . A . van der Weiden, »Abstractum pro concreto«, phaenomenon stilisticum, V e r b u m

Semasiologie, D i e Welt des Orients 3, 1/2 (1964), 8 0 - 1 4 5 . D o m i n i 44 (1966), 43 — 52, führte Beispiele aus ugaritischen und alttestamentlichen Texten an.

206

II. Themen

aber auch den »Mantel« des sich als mächtig erweisenden oder gar machtwirkenden Propheten (I Reg 19 19 II Reg 2 2. 8. 13f.). Die konkrete Bedeutung von »unheimliche Macht, Tabuzustand« klingt mehrfach an (Num 23 21 Dtn 26 14 I Sam 13 13 Jes 1 13 29 10), am deutlichsten wohl in dem Namen, den die sterbende Rahel ihrem Sohn gibt (Gen 35 18); es überwiegt jedoch die demgegenüber abstraktere Bedeutung »Böses, Schlechtigkeit«. Offen bleibt die Frage nach der primären Bedeutung von II das einerseits die »Nase«, andererseits den »Zorn« und im Dual das »Gesicht« bezeichnet, weil das Verb lediglich in der Bedeutung »zürnen« belegt ist; allerdings ist es möglich, daß dem eine nicht mehr faßbare Grundbedeutung »schnauben« vorausging, von der alles Weitere ableitbar wäre. Das Nebeneinander des konkreten und des abstrakten Aspekts begegnet ferner bei *?an, das den vergänglichen »Hauch« und die »Vergänglichkeit, Nichtigkeit« meint; bei S l H »Arm«, dessen Plural zur Bezeichnung der »Streitkräfte« dient; bei pVn, das außer den »glatten Stellen« eines Weges die »Glätte, Falschheit« des Verhaltens kennzeichnet; bei DSD, das außer dem »Geschmack« einer Speise oder eines Getränks auf dem Wege über die Empfindung solchen Geschmacks die »Unterscheidung«, den «Verstand« angibt; bei V3V, das zunächst »Widder« und sodann das durch das Blasen des Widderhorns einzuleitende »Erlaßjahr« bedeutet; bei III p , das sowohl das »Gestell« als auch die »Stelle«, an der sich jemand befindet, und die Stelle, die jemand einnimmt, das »Amt«, bezeichnet; bei 3J13, das die Bedeutungen »Schriftstück« und »Schreibweise« besitzt; bei pj?, das für das »Horn« (in mehrfacher konkreter Bedeutung) und für »Kraft, Macht«, deren Symbol das Horn darstellt, gebraucht wird. Alle diese Beispiele, die sich vermehren lassen, zeigen, daß ein und dasselbe Wort gleichzeitig in konkreter und abstrakter Bedeutung geläufig ist.

III. Das Hebräische weist nun auch nicht wenige Verben und Substantive auf, die einen Vorgang unter zwei Aspekten erfassen und auf diese Weise auf ein größeres Ganzes hinweisen. Sie bezeichnen in der Doppelheit von Vorher und Nachher, Ursache und Folge sowohl einen Vorgang als auch sein Ergebnis, sowohl ein Tun als auch die durch es erzielte Wirkung. 1. I yiN bezeichnet zunächst die »Zeugungskraft« des Mannes, so daß Jakob in dem Spruch über Rüben diesen als den »Erstling meiner Kraft« vor den anderen hervorhebt (Gen 49 3), wie auch die Anordnung über das Erbrecht des Erstgeborenen verfährt (Dtn 21 17). Außerdem hat das Wort die allgemeinere Bedeutung »Kraft«, so daß von Jakob gesagt werden kann, daß er in seiner Manneskraft mit Gott kämpfte (Hos 12 4). Dazu tritt der zweite Aspekt, der davon ausgeht, daß der Mensch mit solcher Kraft ein

Zweifache Aspekte hebräischer Wörter

207

ansehnliches »Vermögen« erwerben kann, das die Wirkung oder das Ergebnis des kraftvollen Handelns ist (Hos 12 9 Hi 20 10). •VK (q) bedeutet »sich verschulden«, wie die ganze Gemeinde Israel sich verschuldet oder in Schuld gerät, wenn sie sich unbewußt vergeht (Lev 4 13). Dem steht als zweiter Aspekt gegenüber, daß die Schuld zu »büßen« ist, die einer durch die Verleumdung eines anderen auf sich geladen hat (Prov 30 10); die gleiche Bedeutung liegt in Ps 34 22f. am nächsten. n m ist einereits die »Beschämung«, die wie das Entsetzen, das den Menschen erfüllen kann, am Ausdruck des Gesichtes wahrnehmbar wird (Ez 7 18). Die Folge solchen Beschämtwerdens, das ja wegen bestimmter Vergehen eintritt, ist dann andererseits die »Schande«, die einen Menschen oder ein Volk bedeckt oder ihnen anhaftet ( O b 10 Mi 7 10 Ps 89 46). T3 und n n bedeuten zwar vorwiegend das »Plündergut«, d . h . die bei einer Plünderung zusammengeraffte Beute. Aber außer diesem Ergebnis des Vorgangs der Plünderung gibt das Wort auch den Vorgang selbst an, so in Dan 11 33, wo die parallel gebrauchten Ausdrücke Schwert, Flamme und Gefängnis nur die Wiedergabe durch »Plünderung« zulassen. I Van bezeichnet das »Seil« oder den »Strick«, die man für mannigfache Zwecke verwendet. Das Seil dient auch zum Abmessen der Landanteile, die danach verteilt oder verlost werden. So droht Arnos dem O b e r priester von Betel an, daß sein Ackerboden mittels des Meßseils verteilt werden wird (Am 7 17), und erklärt der Psalmdichter, daß Jhwh für Israel die Völker Palästinas mit dem Meßseil verteilt hat (Ps 78 55). Das Ergebnis dieser Tätigkeit stellt das abgemessene »Feldstück« dar wie die Feldstücke Manasses (Jos 17 5) oder der »Bezirk« der Judäer (Jos 19 9). nttün weist eine ähnliche Doppelheit wie BWS auf: einerseits »Sünde«, andererseits »Entsündigung, Sündopfer«. Der zweite Aspekt wird besonders deutlich in Mi 6 7b, wo auch WO den neben seinem ersten Aspekt »Auflehnung, Empörung« gewöhnlich übersehenen zweiten Aspekt zeigt: »Soll ich meinen Erstgeborenen als Sühne (SJWD) für mich geben, meine Leibesfrucht als Sündopfer ( r s o n ) für mein Leben?« V*n zeigt eine ähnliche Doppelheit wie fW: »Kraft« als Fähigkeit, etwas zu leisten, hervorzubringen und zu erwerben, und »Vermögen, Habe«, die das Ergebnis solcher angewendeten Kraft sind. Wer Besitz hat und vermehrt, ist dann ein tüchtiger und vermögender Mann mit Grundbesitz, der für den Heerbann taugt (Vri CTN) oder gar zur Oberschicht zählt (Neh 3 34 von Samaria). 3X"in bezeichnet einerseits die »Fessel«, die man jemandem anlegt (Jes 58 6), andererseits die »Qual«, die die Wirkung des Gefesseltseins darstellt (Ps 73 4). W meint oft die »Mühe« und »Arbeit«, wie Hiob den Menschen aus der Arbeit der Hände Gottes entstanden sieht (Hi 10 3), daneben den Ertrag oder das Ergebnis der Arbeit: den »Erwerb« oder »Gewinn«, der freilich wieder gefährdet sein kann (Gen 31 42 Jer 3 24).

208

II. Themen

urr (pi) zeigt deutlich den zweifachen Aspekt. Das Verb bedeutet sowohl »in Brunst sein« (Gen 30 41) als auch — in bezug auf die Frau oder das weibliche T i e r — »empfangen« als Folge oder Auswirkung der Brunst (Ps 51 7). n»HT und VBT haben in der eschatologischen Prophetie über die vom Verb »BT »helfen«, »retten« abgeleitete Bedeutung »Hilfe, Rettung« hinaus die Bedeutung »Heil«, das durch die Rettung ermöglicht wird, erhalten, so daß sich erneut die Doppelheit von Ursache und Wirkung ergibt 6 . HDin ist zunächst die vor allem von der Weisheitslehre geforderte »Züchtigung« mit der Rute (Prov 13 24 23 13). Das Ergebnis der Züchtigung, die der Einprägung der weisen Lebensregeln dient, ist dann die durch die Befolgung der Regeln gewonnene »Zucht«, die Selbstdisziplin, die klug macht und das Leben garantiert (Prov 1 2f. 4 13). a r o n ist Ausdruck für die »Schrift« als Schriftzeichen oder Schriftart wie .für die Gottes- und die Siegelstecher-Schrift (Ex 32 16 3 9 30). Das gleiche W o r t meint auch das »Schriftstück«, das durch die Anwendung der Schrift zustande k o m m t (II C h r 21 12), oder eine schriftliche Anordnung (II C h r 35 4). K*?0 und seine Derivate weisen sehr deutlich die beiden Aspekte auf: »anfüllen« und (als Ergebnis) »voll sein«. ntWö zeigt das gleiche Bild. G e m ä ß der Ableitung von handelt es sich einmal um die »Tat« und »Arbeit«, sodann um das »Werk« als Ergebnis dessen, z . B . um Backwerk (Gen 40 17), Gitterwerk (Ex 2 7 4), Geschmeide ( N u m 31 51) oder G u ß w e r k (II C h r 3 10). I ilTIXD bedeutet bei Ezechiel sowohl das vom Jäger benutzte »Jagdnetz« ( E z 12 13 17 20 übertragen von J h w h ) als auch das Ergebnis seiner erfolgreichen Verwendung: die Jagdbeute ( E z 13 21). 901 (q) bezeichnet von der Grundbedeutung »herausreißen« her unter anderem das Herausziehen der Zeltpflöcke (Jes 33 20). Gewöhnlich zieht man die Zeltpflöcke aus dem B o d e n , wenn man das Lager abbricht, um weiterzuziehen. Daher besitzt das Verb oft die Bedeutung, die die Folge oder das Ergebnis des Herausziehens der Zeltpflöcke angibt: »aufbrechen, weiterziehen«. Vbö bedeutet vor allem »Tun, Arbeit, Wirken«, daneben aber auch — ähnlich wie £co und aü)tr|oia im Alten Testament, T h W N T VII, 9 7 0 - 9 8 1 .

Zweifache Aspekte hebräischer Wörter

209

2. Im Hinblick auf den zweiten Aspekt wird für die Art der Auswirkung in einigen Fällen nochmals zwischen positiver und negativer Folge unterschieden. S a S bezeichnet zunächst die »Mühe« und »Mühsal«. Dasjenige, wozu die Mühe führt, wird dann durch das gleiche Wort in zweifacher Weise ausgedrückt: Es ist einerseits das mittels der Mühe »Erworbene« (Ps 105 44), andererseits »Mißgeschick, Unheil« (Jes 10 1 Ps 7 15). flVSD »Arbeit, Tat« kann ebenfalls zweierlei nach sich ziehen: einerseits »Verdienst« durch Arbeit (Jes 40 10) und »Lohn« für Arbeit (Prov 11 18), andererseits »Strafe« als Lohn für die Schuld (Jes 65 7 Ps 109 20). 3. Bei einigen Wörtern geht das Hebräische über die Verwendung von zwei Aspekten hinaus und drückt den Gesamtvorgang mittels dreier Aspekte aus. So bezeichnet DÜS die »Verschuldung« (Gen 26 10), das zu ihrer Tilgung darzubringende »Schuldopfer« (Lev 5 6ff.) und die »Sühngabe« oder »Entschädigung« (I Sam 6 3f.). •BD ist der »Balsamstrauch« (Cant 5 l), das von ihm gewonnene »Balsamöl« (Ex 35 28) und der durch dieses erzielte »Wohlgeruch« (Ex 30 23). p7 ist der »Rechtsanspruch« (Jes 10 2), der seinetwegen geführte »Rechtsstreit« (Prov 22 10) und das den Streit beendende »Urteil« (Ps 76 9). m a bedeutet meist den »Tod«, manchmal auch das ihm vorangehende »Sterben« oder die dies verursachende »Seuche« (Jer 15 2) und das »Totenreich«, in das der Tote eingeht (Jes 38 18). 110 ist der »Kreis der Vertrauten« (Gen 49 6), der eine »vertrauliche Besprechung« abhält (Prov 15 20) und dabei einen »Plan« oder »Beschluß« faßt (Am 3 7). p s meint die »Sünde« (Ps 18 24), die dadurch entstehende »Schuld« 0 e r 50 20) und die deswegen eintretende »Strafe« (Gen 4 13). An diesen Wörtern wird deutlich, daß in dem dreifachen Aspekt der zweifache von Vorher-Nachher, Ursache-Wirkung sich zweimal wiederholt, weil das erste Ergebnis zugleich den Ausgangspunkt für ein zweites Ergebnis bildet. 4. Vielleicht weist das Wort r o a sogar einen vierfachen Aspekt auf. Es bedeutet zunächst den »Schlag« (Dtn 25 3) und die dadurch hervorgerufene »Wunde« (Jes 1 6), sodann die »Plage« infolge unaufhörlichen Schlagens (Jes 14 6) und die durch Schlagen und Verwunden herbeigeführte »Niederlage« (I Sam 14 30). Doch auch in diesem Fall handelt es sich um die mehrfache Anwendung des zweifachen Aspektes, der Vorher-Nachher, Tun-Folge und Ursache-Wirkung gleichzeitig ausdrückt.

Quellenverzeichnis D i e Beiträge des vorliegenden Bandes erschienen — mit A u s n a h m e von zwei bisher unveröffentlichten — erstmals in folgenden Zeitschriften und S a m m e l w e r k e n : D i e Ladeerzählung in: J o u r n a l o f N o r t h w e s t Semitic Languages 1,1 ( 1 9 7 1 ) , 23—31 Wandlungen Jesajas in: Festschrift für W i l h e l m Eilers, 1 9 6 7 , 5 8 - 7 1 Stellvertretung und Schuldopfer in J e s 52 13—53 12 in: Das K r e u z J e s u , 1969, 7 - 3 1 Vollmacht über V ö l k e r und Königreiche (Jer 46—51) in: W o r t , Lied und G o t t e s s p r u c h , Festschrift für J o s e p h Ziegler, 1972, I I 145—153 Micha 1 in: Das ferne und nahe W o r t , Festschrift Leonhard R o s t , 1 9 6 7 , 65 — 80 D i e Sprüche O b a d j a s in: Studia Biblica et Semitica, T h e o d o r a Christiano Vriezen dedicata, 1 9 6 6 , 81—93 Kritik an T e m p e l , Kultus und Kultusausübung in nachexilischer Zeit in: Archäologie und Altes T e s t a m e n t , Festschrift für Kurt Galling, 1 9 7 0 , 101 — 116 D i e israelitischen Propheten in der samaritanischen C h r o n i k II in: In M e m o r i a m Paul Kahle, 1968, 1 2 9 - 1 3 7 Israels Haltung gegenüber den Kanaanäern und anderen V ö l k e r n in: J o u r n a l o f Semitic Studies 123 ( 1 9 6 8 ) , 6 4 - 7 5 Z u r E i n w i r k u n g der gesellschaftlichen Struktur Israels auf seine Religion in: N e a r Eastern Studies in H o n o r o f William F o x w e l l Albright, 1 9 7 1 , 1 6 9 - 1 8 5 Weltbewältigung und Weltgestaltung in: T h e o l o g i s c h e Zeitschrift 2 6 ( 1 9 7 0 ) , 1 - 2 1 Priester und P r o p h e t — A m t und Charisma? in: K e r y g m a und D o g m a 17 ( 1 9 7 1 ) , 1 5 - 2 7 D a s G e s c h i c k des M e n s c h e n nach dem T o d e im Alten T e s t a m e n t in: K e r y g m a und D o g m a 14 ( 1 9 6 8 ) , 2 4 9 - 2 6 2 Zweifache Aspekte hebräischer W ö r t e r in: W o r d s and Meanings, Essays Presented t o D . W i n t o n T h o m a s , 1 9 6 8 , 9 5 — 1 0 3 ( T w o fold Aspects o f H e b r e w W o r d s )

Register der Bibelstellen in A u s w a h l

Genesis

58 195 f.

5 24 15

119. 135

14 f.

7 1-9

134

710-17

Exodus 3 8

108

3411-12

111

Leviticus

17f.

157

8 3 105-15

19 f.

1 0 27b—32

!

14 24- 27

16

38

18

120 Numeri

2

150

16

152 Josua

119. n

128

6 9-10

107 Richter

1

109

1712

155

22 1 - 1 4

22

25 8

197

26 7 - 2 1 28 23 - 29

199 12 ff.

2915-16

21

301-5

21

30 6 - 7

21

30 15-17 31 1 - 3

18 21

32 9 - 1 4

22

38io

189

38 1 5 - 1 9

187. 188

52 13 - 53 12

I.Samuel

20

21

24 ff.

4 i-7i

3ff.

53 3 - 5

6

3 ff.

53 10. 12

199

56 5

193

II. Samuel 7

7f. I. K ö n i g e

56 9 - 5 7 1 3

82 f.

58 1-12

92

58 13-14

17 7 - 1 6

99 f.

17 1 7 - 2 4

194

87

60

138

60 1 3 - 1 4

86f.

61 5 - 6

II. K ö n i g e 2 Ii

184

195f.

418-37

194

13 20- 21

194

22 14

157

89

65

83 f.

65 20

197

661-4 66 17

90 f. 95 . . .

Jesaja

84 f. Jeremia

1 I6b-17

147

2 9 24 - 27

3 1-9

189

35

155.160

123. 140

3 14-15

129

4 5 4—5a

177

325-41

189

46-51

44ff.

212

R e g i s t e r d e r Bibelstellen 41 5

179

130

45 7 - 8

127

Ezechiel 18 5 - 9

144

49

196 f.

37 1 - 1 4

18 23

198 f.

50

94 f.

44 4 - 3 1

152

519

179

51 1 8 - 1 9

Hosea 61-2

198

13 14

181 Arnos

93

54 8

179

62 12

133

69 3 1 - 3 2

93

71

136 190

4io

183

7120

84-7

128

72 4 . 1 2

128

73

200

Obadja l bß—4

72 f.

5-7

74 f.

8-ii

75 f.

1 2 - 1 4 . 15b

76f.

15a. 1 6 - 1 8

78 78 f.

19-21

186

78 49

176

86 13

190

88 4 - 6

189

8811-13

189

8817-18

177

915-6

175

101

Micha 1

73 23 - 28

53 ff.

189 136

2 1-2

128

130

3 3

129

1412

6 6-8

92 f. Haggai

1

85 f. Sacharja

13- 6

149 f.

1 3 . 16

86

4 6aß—10a

86

Maleachi 1 6bß— 14

3 8-11

93 Hiob

4 7-9

178

9 16-18

176

9 22 - 24

176

14 21

192

19 25 - 27

200

20 5 - 7

179

22 4 - 5

180

22 2 1 - 2 3

180

88 f.

33 19 - 22

183

89

33 26-28

183 f.

40 4-5 42 2-3.5-6

Psalmen 1

127f.

115 17

135 f.

145f.

185

Kohelet

6 3

179

3 18-21

195

66

189

4 2-3

177

16

200

4 17-5 6

16 9 - 1 0

179

715

18 5 - 6

189

22 30

191

30 4 38 3 - 5 40 7

. .

190

Daniel 12 2

179 93

94 182

200 f. Nehemia

614

157f.

Georg Fohrer

Studien zur alttestamentlichen Prophetie (1949-1965) Groß-Oktav. XII, 303 Seiten. 1967. Ganzleinen D M 6 3 , ISBN 3 11 005582 1 (Beiheft zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, Band 99)

Georg Fohrer

Studien zur alttestamentlichen Theologie und Geschichte (1949—1966) Groß-Oktav. X, 372 Seiten. 1969. Ganzleinen DM 7 8 , ISBN 3 11 002580 9 (Beiheft zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, Band 115)

Prophecy Essays presented to Georg Fohrer on his sixty-fifth birthday 6. September 1980 Largo-octavo. VIII, 202 pages and frontispiece. 1980. Cloth D M 92,— ISBN 3 11 007761 2 (Beiheft zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, volume 150) This volume in honour of Professor Georg Fohrer contains 15 contributions concerning Old Testament prophecy

Preisänderungen vorbehalten

Walter de Gruyter

W DE G

Berlin • New York

Hebräisches und aramäisches Wörterbuch zum Alten Testament Herausgegeben von Georg Fohrer in Gemeinschaft mit Hans Werner Hoffmann, Friedrich Huber, Jochen Vollmer und Gunther Wanke Oktav. X , 331 Seiten. 1971. Ganzleinen D M 2 8 , ISBN 3 11 001804 7

Hebrew and Aramaic Dictionary of the Old Testament Edited by Georg Fohrer in cooperation with Hans Werner Hoffmann, Friedrich Huber, Jochen Vollmer, and Gunther Wanke Octavo. X V I , 332 pages. 1973. Cloth D M 2 8 , ISBN 3 11 004572 9

Georg Fohrer

Geschichte der israelitischen Religion Oktav. X V I , 435 Seiten. 1969. Gebunden D M 4 2 , I S B N 3 11 002652 X de Gruyter Lehrbuch

Georg Fohrer

Theologische Grundstrukturen des Alten Testaments Oktav. X , 276 Seiten. 1972. Kartoniert D M 5 8 , I S B N 3 11 003874 9 (Theologische Bibliothek Töpelmann, Band 24)

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Walter de Gruyter

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