Studentica: Abhandlungen zur deutschen Studentengeschichte von der Frühen Neuzeit bis ins frühe 20. Jahrhundert [1 ed.] 9783412520489, 9783412520465

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Studentica: Abhandlungen zur deutschen Studentengeschichte von der Frühen Neuzeit bis ins frühe 20. Jahrhundert [1 ed.]
 9783412520489, 9783412520465

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ABHANDLUNGEN ZUM STUDENTEN- UND HOCHSCHULWESEN

HARM-HINRICH BRANDT

STUDENTICA

ABHANDLUNGEN ZUR DEUTSCHEN STUDENTENGESCHICHTE VON DER FRÜHEN NEUZEIT BIS INS FRÜHE 20. JAHRHUNDERT

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Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen

im Auftrag der Gemeinschaft für deutsche Studentengeschichte e. V. herausgegeben von Matthias Asche Stefan Gerber Dietmar Klenke Matthias Stickler Band 20

Harm-Hinrich Brandt

Studentica Abhandlungen zur deutschen Studentengeschichte von der Frühen Neuzeit bis ins frühe 20. Jahrhundert Hg. von Matthias Stickler

BÖHL­AU VER­L AG WIEN KÖLN WEI­M AR

Diese Publikation wurde gefördert von der Gemeinschaft für deutsche Studentengeschichte e. V.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D–50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Unbekannter Künstler, „Der Burschen Traum“, 1848, Lithographie, 26,5 × 22,7 cm; Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg, Slg. des Verbands Alter Corpsstudenten (VAC), Sign. 882/F 3.274; Konrad Nr. 609a Korrektorat: Volker Manz, Kenzingen Satz: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52048-9

Inhalt Vorwort des Herausgebers 

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Universität und Studenten in Deutschland zwischen alteuropäischer und moderner Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Studentische Korporationen und politisch-sozialer Wandel Modernisierung und Antimodernismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auseinandersetzungen in der Erlanger Studentenschaft während der Frühzeit der Burschenschaftsbewegung  . . . Vom Magisterschmaus anlässlich der Examina einer frühneuzeitlichen Universität  . . . . . . . . . . . Studenten in der Revolution von 1848  . .

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Studierende im Humboldt’schen Modell des 19. Jahrhunderts 

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Julius oder Maximilian? Von der katholischen Lehranstalt zur modernen Julius-Maximilians-Universität. Ein Beitrag zum 600. Jubiläum der ersten Gründung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  133 . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Promotionen und Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert  Erstveröffentlichung der Abhandlungen  . . Abbildungsverzeichnis 

Vorwort des Herausgebers Die Universitätsgeschichte gehört im Reigen der historischen Teildisziplinen in Deutschland eher zu den kleinen Fächern. Nur vergleichsweise selten gibt es genuin universitätsgeschichtlich ausgerichtete Professuren, die zudem oft auch noch spezialisiert sind im Hinblick auf wissenschafts- oder technikgeschichtliche Fragestellungen. Als eigenes Studienfach ist die Universitätsgeschichte trotz der Bologna-Reformen mit ihrem Trend hin zu immer spezialisierteren Studiengängen bisher ebenfalls nicht vorhanden – mutmaßlich deswegen, weil das dafür notwendige Lehrdeputat kaum zusammenzubringen wäre. Noch ausgeprägter ist dieser Befund bei der mit der Universitätsgeschichte eng verwandten Studentengeschichte. Diese wird traditionell mehrheitlich außeruniversitär von historisch interessierten Laien betrieben, die meistens Angehörige studentischer Verbindungen sind. Viele, vor allem ältere Arbeiten aus ­diesem Kontext haben als klassische Traditionsquellen durchaus ihren Wert, doch fehlt ihnen bzw. ihren Autoren häufig die Anbindung an die akademische Universitätsgeschichte. Nicht selten führt solcher Studentengeschichte auch der Gedanke der Traditionspflege als erkenntnisleitende Motivation die Feder, und es fehlt an kritischer Distanz zum Untersuchungsgegenstand. Die klassische Universitätsgeschichte hat zumeist wenig Berührungspunkte mit genuiner Studentengeschichte, wird jene doch vielfach als Institutionen-, Bildungs-, Kultur- und Sozialgeschichte betrieben, wobei der Fokus meistens auf der Professorenschaft bzw. der staatlichen Bildungspolitik liegt. Dieser Befund ist auch eine Folge der Tatsache, dass Studenten, sieht man einmal ab von den Einträgen in den Universitätsmatrikeln, die in der Regel Auskunft geben über Herkunft, Studienfächer und Religion, für Historiker individuell, und meist auch kollektiv, recht schwer greifbar sind. Das seit dem 19. Jahrhundert immer umfangreicher vorhandene Archivmaterial der studentischen Verbindungen bzw. deren Publizistik wird demgegenüber von der Mehrheit der Universitätshistoriker zumeist eher als „privat“ empfunden. Dieser Eindruck ist insofern nicht ganz falsch, als die Studenten seit dem 19. Jahrhundert kein integraler Bestandteil der Universität mehr waren, auch wenn die Korporationen diesen Anspruch nach wie vor erhoben und ihn in vielfältiger Weise symbolisch zum Ausdruck brachten, etwa durch die Teilnahme in Wichs und mit Fahne bzw. in Couleur an akademischen Feiern oder durch die Abhaltung öffentlichkeitswirksamer Kommerse. Hinzu kommt, dass Rolle und Bedeutung der studentischen Verbindungen für die Universitäten bzw. das System der „deutschen Gelehrtenrepublik“ sowie für die Sozialisation der Studenten in der klassischen und teilweise auch noch der nachklassischen Phase der sogenannten „Humboldt’schen“ Universität von vielen Forschern immer noch unterschätzt werden. Offenbar werden die Verhältnisse der modernen Massenuniversität, in denen Verbindungsstudenten tatsächlich nur noch eine verschwindende Minderheit von 1 bis 2 Prozent der Studierenden ausmachen, implizit

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auf die älteren Epochen der Universitätsgeschichte übertragen und eine Beschäftigung mit dieser Sozialisationsform deshalb als überflüssig betrachtet. Dabei wird ignoriert, dass im Deutschen Kaierreich, in den deutschsprachigen Teilen der Habsburgermonarchie und noch in der Weimarer Republik bzw. in der ersten Österreichischen Republik bis zu zwei Drittel der Studierenden einer Verbindung angehörten; Ähnliches gilt für die Schweiz. Hinzu kommt ferner, dass der pauschale Vorwurf der Rechtslastigkeit des studentischen Verbindungswesens bzw. dessen angeblich zentrale Rolle als Teil eines vermeintlichen deutschen Sonderwegs die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Verbindungswesen immer schon zu einer schwierigen Gratwanderung machte, müssen doch teilweise bis heute Forscher nur allzu leicht mit dem Vorwurf der interessengeleiteten Apologie rechnen, wenn sie versuchen, d ­ iesem Malen mit dem breiten Pinsel Diffe­renzierung entgegenzusetzen. Harm-Hinrich Brandt war immer bestrebt, sich solchen Schwarz-Weiß-Schemata zu entziehen und als Universitäts- und Studentenhistoriker gleichsam eine vermittelnde Rolle einzunehmen. Sein Erkenntnisinteresse war hierbei stets einem tatsächlich historisch-­ kritischen, letztlich in klassisch aufklärerischem Denken wurzelnden Wissenschaftsverständnis verpflichtet. Bemerkenswert ist in d ­ iesem Zusammenhang, dass er erst relativ spät die Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte als originäres Forschungsfeld entdeckte. Harm-Hinrich Brandt, der als Sohn bremischer Eltern 1935 in Stuttgart geboren wurde und seit 1945 in der Hansestadt aufwuchs, studierte von 1954 bis 1960 an der Universität Marburg die Fächer Geschichte, Politologie, Philosophie und Germanistik; zwei Semester verbrachte er an der Universität Freiburg. Sein wichtigster Lehrer in Marburg war Fritz Wagner (1908 – 2003)1, der vor allem zu Th ­ emen der europäischen Geschichte der Frühen Neuzeit, aber auch zur Geschichte Kanadas und der USA , zur ­Theorie und Methodik der Geschichtswissenschaft sowie zur Wissenschaftsgeschichte forschte. Die von Fritz Wagner empfangenen Prägungen erscheinen mir vor allem aus drei Gründen für den wissenschaftlichen Lebensweg Brandts von Bedeutung zu sein: Erstens ist dies seine Verwurzelung in der Geschichte des vor- und frühmodernen Europa und, damit eng verknüpft, ein Gespür für wesentliche Fundamente und Kontinuitäten der Geschichte Europas, zweitens sein weiter, vergleichender epochen- und auch fächerübergreifender Blick auf historische Phänomene und drittens seine Überzeugung, dass historisches Forschen immer theoriegeleitet sein muss, wie auch eine spürbare Affinität für einen verstehenden Zugang zur Geschichte. Ab 1961 war Brandt als Wagners Assistent zunächst in Marburg, dann, ab 1966, in München tätig; 1970 wurde er dort zum Akademischen Rat ernannt. Drei Prägungen erscheinen mir aus dieser Periode wichtig zu sein: Erstens Brandts Mitarbeit am Neuaufbau eines Seminars für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Marburg, woraus sich ein vertieftes Interesse an d ­ iesem historischen 1 Vgl. hierzu Harm-Hinrich Brandt: Fritz Wagner (1908 – 2003) – zu seiner Biographie und seinem wissenschaftlichen Werk, in: Archiv für Kulturgeschichte 100 (2018) 1, S. 11 – 64.

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Teilfach und dessen theoretischen Grundlagen entwickelte; zweitens die Redaktion des von Fritz Wagner herausgegebenen, 1968 erschienenen Bandes IV des Handbuchs der europäischen Geschichte „Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung“, woraus eine intensive Beschäftigung mit dem frühneuzeitlichen Europa resultierte; drittens seine selbstständige Lehrtätigkeit in München zur deutschen und europä­ischen Geschichte vor allem des 19. Jahrhunderts und damit eine Erweiterung des Blicks auf die Epoche, die heute gemeinhin das „lange 19. Jahrhundert“ genannt wird. Nachdem Brandt zunächst, ausgehend von seiner Dissertation über „Wirtschaftspolitik und gewerbliche Mitbeteiligung im nordhessischen Raum 1710 – 1960“ (1960), vor allem zur hessischen Wirtschaftsgeschichte geforscht hatte, wandte er sich seit 1964 der Geschichte der Habsburgermonarchie zu. Dies hing zusammen mit seiner Habilitationsschrift „Der Österreichische Neoabsolutismus: Staatsfinanzen und Politik 1848 – 1860“, die 1978 in der Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften erschien. Der multiperspektivische Ansatz seiner Habilitationsschrift sollte seither typisch für viele Veröffentlichungen Brandts wie auch überhaupt für sein Verständnis von Geschichtswissenschaft sein. Im Anschluss an seine Habilitation wurde Brandt 1975 die Lehrbefugnis für Mittlere und Neuere Geschichte verliehen und er zunächst zum Wissenschaftlichen Rat, im Oktober 1978 dann zum Universitätsprofessor (C3) ernannt. Zum 1. Oktober 1980 folgte er schließlich als Nachfolger von Eberhard Kolb einem Ruf auf den Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Würzburg. Mit dem 31. März 2000 wurde er als Ordinarius in den Ruhestand versetzt. In Würzburg lehrte Brandt deutsche und europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts unter Einschluss der Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Dass Harm-Hinrich Brandt die Universitäts- und Studentengeschichte als eines seiner Lebensthemen entdeckte, dürfte zum einen damit zusammenhängen, dass er als Student, Doktorand, Habilitand und habilitierter Hochschullehrer den Übergang von der immer noch bildungsbürgerlich geprägten nachklassischen Universität zur modernen nachbürger­lichen Massenuniversität mit all den daraus resultierenden Konflikten und Widersprüchen gewissermaßen als Zeitzeuge und Akteur miterlebte und teilweise auch erlitt. Hinzu kommt noch, dass Brandt aus einem klassischen bildungsbürger­lichen Elternhaus stammt und seine Bildungskarriere in manchem Mustern folgte, die gewissermaßen an die Blütezeit der klassischen „Humboldt’schen Universität“ erinnern. Sowohl Brandts Vater als auch sein jüngerer Bruder gehör(t)en der Akademischen Turnverbindung Hannover im Akademischen Turnbund (ATB) an. Er selbst schloss sich 1954 zwar nicht einem ATB-Bund an, wohl aber, seinen musischen Neigungen folgend, der Akademisch-Musikalischen Verbindung (AMV ) Fridericiana Marburg im S­ ondershäuser Verband (SV )2. Die „Friderizen“, wie sich ihre Mitglieder stets nannten bzw. genannt wurden, waren 1889 als Studentengesangverein gestiftet worden, der Vereinsname bezog 2 Vgl. Klaus Hartwig Stoll: 100 Jahre Fridericiana Marburg. 1889 – 1989, Marburg 1989.

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sich wohl auf den im Jahr zuvor im Alter von nur knapp 57 Jahren verstorbenen „99-Tage-­ Kaiser“ Friedrich III. Die Fridericiana korporisierte sich, wie viele akademische Turn- und Gesangvereine, im späten Kaiserreich und auch in der Weimarer Republik zusehends. Sie blieb zwar nichtfarbentragend und focht keine Bestimmungsmensuren, wandelte sich aber ansonsten zu einer klassischen Verbindung, in der man Chargenwichs trug und traditionelle verbindungsstudentische Geselligkeitsformen wie Kneipen und Kommerse pflegte und vor allem unbedingte Satisfaktion gewährte. Das heißt, der Sache nach entwickelte sich die Fridericiana zu einer unbedingt national gesinnten „schwarzen“ Verbindung, die sich, zumal in den 1920er Jahren, als „schwarzes Corps“ verstand und einen entsprechenden Eliteanspruch vor sich hertrug, der nur allzu gerne mit dem Säbel unter Beweis gestellt wurde. Seit 1911 verfügte die Fridericiana in der Lutherstraße 22 über ein eigenes für das Verbindungsleben errichtetes repräsentatives Heim, das mit seinen Jugendstil-Elementen moderner war als die älteren Verbindungshäuser der Luther­straße. Zeitweise war die Fridericiana von den Aktivenzahlen her die größte Verbindung Marburgs. Die Suspension der aktiven Verbindung 1936 und das Aufgehen des Altherren­verbands in der NS-Kameradschaft Wolfram von Eschenbach 1942 bedeutete eine Zäsur in der Geschichte der Fridericiana, die nach 1945 ein schlichtes Wiederanknüpfen an die Vorkriegstraditionen unmöglich machte. 1948 wurde der Altherrenverband wiedergegründet, seit 1949 gab es wieder eine Aktivitas, die das Bundesleben vor allem auf musische Betätigung ausrichtete und klassische korporative Formen ablehnte. Daraus resultierten immer wieder Konflikte mit den konservativeren Teilen der Altherrenschaft. In dieser durchaus spannungsreichen Atmosphäre wurde Harm-Hinrich Brandt verbindungsstudentisch sozialisiert, er lernte zudem in den 1950er Jahren unterhalb des Marburger Schlossberges auch noch die traditionelle bzw. nach 1945 restaurierte „AltMarburger Burschenherrlichkeit“ kennen, die, wie an vielen kleinen und mittleren Universitäten, im beschaulichen und damals gar nicht „roten“ Marburg noch einmal eine Nachblüte erlebte. Brandt nahm die Widersprüche dieser Zeit, das Changieren z­ wischen einer sich modernisierenden Gesellschaft und restaurativen Tendenzen ganz bewusst wahr, und daraus resultierte auch seine seither durchgehaltene kritische Haltung zur tradi­ tionellen Wertewelt und Formensprache des historischen Verbindungswesens. Verstärkt wurde diese noch durch die Verwerfungen der unruhigen 1960er Jahre, die wir gewöhnlich verbinden mit der Chiffre „1968“, und die langen Auseinandersetzungen um die Aufnahme von Frauen in den SV im Allgemeinen und in die Fridericiana im Besonderen. Dass die „Friderizen“ seit 1992 Frauen als gleichberechtigte Mitglieder aufnehmen, war das Ergebnis langwieriger und auch schmerzlicher Meinungsbildungs- bzw. Meinungsänderungsprozesse, bei denen sich Brandt, wie er selbst gerne berichtet, aus liberalem Geist für eine Abkehr vom Männerbundprinzip einsetzte. Er tat dies vor allem deshalb, weil er die musischen Ideale der Fridericiana in Gestalt eines gemischtgeschlechtlichen Lebensbunds für besser gewahrt hält. Er argumentierte bei diesen Auseinandersetzungen immer auch historisch-kritisch im Sinne einer reflektierten, zukunftsgerichteten

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und eben nicht kulturkritisch-rückwärtsgewandten Interpretation der Traditionen der Fridericiana bzw. des SV und des Verbindungswesens insgesamt. Auf einen weiteren Grund für die Hinwendung Harm-Hinrich Brandt zur Universitäts- und Studentengeschichte muss noch hingewiesen werden: Nach seiner Berufung an die Universität Würzburg wurde er 1982 zum Senatsbeauftragten für das Institut für Hochschulkunde (IfH) berufen. Das IfH existiert in seiner gegenwärtigen Form seit 1954.3 Die beiden Vorläufer des Instituts stammen aus der Zeit der Weimarer Republik: Zum einen handelt es sich um die Sammlungen des Göttinger Gymnasiallehrers und Studentenhisto­rikers Paul Ssymank (1874 – 1942), der 1925 erstmals ein Institut für Hochschulkunde gründete. Unter Hochschulkunde verstand Ssymank einen neuen Zweig der Historischen Hilfswissenschaften, der Universitäts-, Wissenschafts- und Studentengeschichte umfassen sollte. Die zweite Wurzel des IfH ist die „Hochschulkundliche Sammlung in Frankfurt a. M.“, die ursprünglich in der dortigen Stadtbibliothek angesiedelt war und 1931 vom Reichsarchiv übernommen wurde. Diese Bestände kamen in den 1930er Jahren nach Würzburg, weil es Pläne gab, in der Stadt ein „Institut für deutsche Studentengeschichte“ anzusiedeln, ein Vorhaben, das 1939 zwar realisiert wurde, dessen dauerhafte Verwirk­lichung aber wegen des Zweiten Weltkriegs scheiterte. Nach 1945 wurden die Bestände, die die Bombardierung Würzburgs am 16. März 1945 weitgehend unbeschadet überstanden hatten, zunächst von der Stadt Würzburg verwaltet und dann vom Freistaat Bayern der Universität Würzburg übergeben und in der Alten Universität in der Domerschulstraße untergebracht. 1954 nahm das nun so genannte „Institut für Hochschulkunde“ dort seinen Betrieb auf; es kooperierte von Anfang an eng mit der Universitätsbibliothek. 1981 erfolgte der Umzug des IfH in die neu errichtete Würzburger Universitätsbibliothek am Hubland am Stadtrand von Würzburg, 2014 konnte das IfH zusammen mit dem Universitätsarchiv und der Forschungsstelle Deutscher Orden neue Räumlichkeiten auf dem Campus Nord der Universität Würzburg beziehen. Die Verwaltung des Instituts erfolgte seit 1954 ehrenamtlich, wobei die 1955 in Würzburg gegründete „Hochschulkundliche Vereinigung e. V. / Gesellschaft zur Förderung der Deutschen Hochschulkunde“, seit 1970 „Deutsche Gesellschaft für Hochschulkunde“ (DGfH), die Rolle eines Trägervereins ausübt. Die Universität Würzburg bestellte jeweils einen fachkundigen Hochschullehrer als sogenannten Senatsbeauftragten für das IfH. Seit 2006 ist das IfH ein sogenanntes An-Institut; es ist damit einerseits Teil der Universität, andererseits wird es jedoch überwiegend nicht durch universitäre Mittel finanziert. Mit der DGfH hatte die Universität Würzburg im Jahr zuvor einen Kooperationsvertrag abgeschlossen. Seither steht an der Spitze des Instituts ein fachlich ausgewiesener Angehöriger der Universität Würzburg als Wissenschaftlicher Leiter. Das IfH verfügt heute über Bestände, die 3 Vgl. hierzu Matthias Stickler: Was ist eigentlich Hochschulkunde? Das Würzburger Institut für Hochschulkunde und seine Geschichte, in: Forschung & Lehre 5/2015, S. 386 f. und https:// www.phil.uni-wuerzburg.de/hochschulkunde (30. 5. 2020).

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aus verschiedenen Sammlungen, Archiven und Bibliotheken zusammengewachsen sind. Es handelt sich hierbei überwiegend um Leihgaben, nur ein kleiner Teil gehört dem IfH bzw. der DGfH selbst. Die wichtigsten Leihgeber sind: die Stadt Würzburg, der Kösener Senioren-Convents-Verband (KSCV ), der Verband Alter Corpsstudenten (VAC ), der Coburger ­Convent (CC), der Weinheimer Senioren-Convent (WSC), der Weinheimer Verband Alter Corpsstudenten (WVAC), der Bund Deutscher Ingenieur-Corporationen (BDIC ), der Convent deutscher Akademikerverbände (CDA ) und der Convent deutscher Korporationsverbände (CDK). Konkret handelt es sich hierbei um Archivbestände, Manuskripte, Textilien (z. B. Fahnen), Grafiken, Fotografien, Post- und Couleurkarten, ungebundene Druckwerke (darunter etwa Plakate, Flugblätter, Urkunden etc.), aber auch Porzellane, Krüge, Pfeifenköpfe und studentische Waffen. Darüber hinaus verfügt das IfH über eine umfangreiche Forschungsbibliothek, die ca. 42.000 Bände umfasst. Dazu gehört auch ein umfangreicher, in dieser Geschlossenheit einzigartiger Bestand an Zeitschriften (ca. 2000) aus dem Bereich der Hochschulkunde. Bücher und Zeitschriften sind über den Online-Katalog der Universitätsbibliothek erschlossen. Harm-Hinrich Brandt hat sich für die beschriebene Neuausrichtung des IfH, die einen Quantensprung in dessen Entwicklung bedeutete, seit Beginn seiner Tätigkeit als Senatsbeauftragter unermüdlich eingesetzt. Es kam ihm dabei vor allem auf die Profilierung des IfH als Sammlungs- und Forschungsinstitution an, weshalb er erstens das vom DGfHVorsitzenden Dr. Karsten Bahnson maßgeblich angeschobene und in Zusammenarbeit mit der Würzburger Universitätsbibliothek inzwischen weitgehend zum Abschluss gebrachte Projekt der Inventarisierung der IfH-Bibliothek unterstützte. Zweitens nutzte er die Bestände auch immer wieder, um universitäts- und studentengeschichtliche Beiträge zu veröffentlichen bzw. regte er entsprechende Forschungen an 4. Drittens veranstaltete er zusammen mit der DGfH, der Universitätsbibliothek und anderen Partnern Ausstellungen und Tagungen. Genannt werden soll hier vor allem die Ausstellung „Wider Zopf und Philisterey. Deutsche Studenten z­ wischen Reformzeit und Revolution 1800 – 1850“ im Jahr 1985, das Symposium „Student und Nation im 19. Jahrhundert“ in Jena 1998 und die internationale Tagung „Der Burschen Herrlichkeit“ 1997, aus der auch ein viel beachteter 4 Vgl. etwa Georg Polster: Politische Studentenbewegung und bürgerliche Gesellschaft. Die Würzburger Burschenschaft im Kräftefeld von Staat, Universität und Stadt 1814 – 1850 (Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung, 13), Heidelberg 1989; Bernhard Grün, Johannes Schellakowsky, Matthias Stickler und Peter Süß (Hg.): Zwischen Korporation und Konfrontation. Beiträge zur Würzburger Universitäts- und Studentengeschichte, Köln 1999; Silke Möller: Zwischen Wissenschaft und „Burschenherrlichkeit“. Studentische Sozialisation im Deutschen Kaiserreich, 1871 – 1914 (Pallas Athene, 4), Stuttgart 2001; Matthias Stickler: Neuerscheinungen zur Studentengeschichte seit 1994. Ein Forschungsbericht über ein bisweilen unterschätztes Arbeitsfeld der Universitätsgeschichte, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 4 (2001), S. 262 – 270; Matthias Stickler: Von der studentischen Allgemeinheit zum örtlichen DeputiertenConvent – Die Entwicklung der Würzburger Burschenschaft im 19. Jahrhundert, in: GDS-Archiv 6/2002, S. 98 – 120.

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Tagungsband hervorging 5. Im Zuge der Umwandlung des IfH in ein An-­Institut, die von Harm-Hinrich Brandt initiiert und maßgeblich vorangetrieben wurde, gab er schließlich 2006 den Stab weiter an den Würzburger Ordinarius für Kunstgeschichte Stefan Kummer, der erster Wissenschaftlicher Leiter wurde. Dessen Nachfolger wurde im Jahr 2011 der Autor d ­ ieses Vorworts. Harm-Hinrich Brandt wurde in Anerkennung seiner Verdienste um das Institut für Hochschulkunde am 10. Juli 2015 die Ehrenmitgliedschaft der DGfH verliehen. Der vorliegende Band versammelt acht z­ wischen 1985 und 2007 erschienene Abhandlungen Harm-Hinrich Brandts zu verschiedenen Aspekten der Universitäts- und Studentengeschichte. Die Aufsätze haben ihren Schwerpunkt im „langen 19. Jahrhundert“, greifen teilweise aber auch in die Frühe Neuzeit aus. Sie stellen in ihrer Gesamtheit einen repräsentativen Querschnitt des universitäts- und studentengeschichtlichen Forschens Harm-Hinrich Brandts dar. In dem Beitrag „Universität und Studenten in Deutschland ­zwischen alteuropäischer und moderner Welt“, der aus dem Eröffnungsvortrag der oben erwähnten Ausstellung „Wider Zopf und Philisterey“ entstand, widmete sich Brandt erstmals den Auswirkungen der mit dem Namen Humboldts verknüpften Universitätsreform im frühen 19. Jahrhundert bis 1848/49, die nicht nur die deutsche Bildungsgeschichte stark prägte, sondern auch erhebliche Auswirkungen auf die Sozialgeschichte und die politische Geschichte Deutschlands bzw. des deutschsprachigen Raums hatten. Er machte hierbei allerdings auch deutlich, dass die damaligen epochalen Entscheidungen keineswegs voraussetzungslos waren, sondern eine Vorgeschichte in der alteuropäischen Universität des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reichs besaßen. In d ­ iesem Sinne stellte „Humboldt“ für das preußische bzw. deutsche Universitätssystem weniger einen Bruch dar als etwa die zeitgleich durchgeführten französischen Hochschulreformen, die auf eine Abschaffung der überkommenen Universitäten hinausliefen. Für die preußisch-deutschen Verhältnisse kann man eher von einer Kette von Kontinuität und partiellem Wandel sprechen. Der Beitrag „Studentische Korporationen und politisch-sozialer Wandel. Modernisierung und Antimodernismus“ war eigentlich gedacht als Beitrag für eine Festschrift zum 65. Geburtstag des Münchener Historikers Thomas Nipperdey (1927 – 1992), die wegen dessen allzu frühem Tod dann zu einer Gedenkschrift wurde. Nipperdey hatte ebenfalls universitäts- und studentengeschichtlich gearbeitet 6 und die Essenz seiner diesbezüglichen Forschungen in seinem monumentalen dreibändigen Werk zur deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert zusammengefasst. Brandt entwickelte hier erstmals ausführlich seinen 5 Harm-Hinrich Brandt und Matthias Stickler (Hg.): „Der Burschen Herrlichkeit“. Geschichte und Gegenwart des studentischen Korporationswesens (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg, 8), Würzburg 1998. 6 Vgl. etwa Thomas Nipperdey: Die deutsche Studentenschaft in den ersten Jahren der Weimarer Republik, in: Adolf Grimme (Hg.): Kulturverwaltung der Zwanziger Jahre, Stuttgart 1961, S. 19 – 48.

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bereits erwähnten kritischen Blick auf die traditionelle Wertewelt und Formensprache des historischen Verbindungswesens, wie es im 19. Jahrhundert entstanden war und sich bis weit ins 20. Jahrhundert als nur selten hinterfragte Norm der meisten Korporationsverbände hielt. Er interpretierte das historische studentische Korporationswesen als Ausdruck eines gegen die Zumutungen der Moderne gerichteten rückwärtsgewandten emotionalen Kompensationsbedürfnisses. Brandt geht zwar nicht so weit, dem Verbindungswesen gleichsam eine determinierende Rolle im Hinblick auf einen (behaupteten) deutschen Sonderweg zu unterstellen. Er verweist aber nachdrücklich auf die Beharrungstendenzen der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstandenen verbindungsstudentischen Erziehungsideale, die als soziale Abwehrideologie mit dem Anspruch der Herausbildung nationaler Führungs- und Funktionseliten in die Gesellschaft hineingewirkt hätten. Dies hatte, so Brandt, auch Auswirkungen auf die damaligen Gegenwartsvorstellungen von Politik und nationalen Zielen in der Weise, dass die „historistische Scheinwelt“ auf die intentionale Ebene durchschlug. Der Beitrag „Auseinandersetzungen in der Erlanger Studentenschaft während der Frühzeit der Burschenschaftsbewegung“ entstand im Kontext der Feierlichkeiten zum 250. Stiftungsfest der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Diese war als protestantisch geprägte Hochschule im frühen 19. Jahrhundert eine Hochburg der frühen Burschenschaft im Königreich Bayern gewesen, von dort gelangte burschenschaftliches Gedankengut über studentische Bildungsmigration auch an die „katholische“ Universität Würzburg. Brandt arbeitete heraus, dass der nicht formell, aber faktisch konfessionelle Charakter der Erlanger Universität und der hohe Anteil an evangelischen Theologen an der Studentenschaft, wie auch das Fehlen eines nationalen und liberalen politischen Professorentums, dem burschenschaftlichen Leben dort, trotz dessen Einbindung in die entstehende nationale Burschenschaftsbewegung, einen spezifischen, vergleichsweise unpolitischen Charakter gab. So war die Spaltung in „Germanen“ und „Arminen“ in Erlangen auch weniger bedingt durch Meinungsverschiedenheit hinsichtlich politischer Fragen als vielmehr durch Streitigkeiten, die eher dem traditionellen jugendlichen verbindungsstudentischen Konfliktverhalten entsprachen. Gleichwohl wurde nach 1833 die gemäßigte Erlanger Burschenschaft ebenso aufgelöst wie die revolutionäre Würzburger Burschenschaft, die sich prominent am Frankfurter Wachensturm beteiligt hatte. Der Wiederaufbau burschenschaftlicher Strukturen mehr als zehn Jahre ­später vollzog sich an beiden Universitäten dann im Zeichen ­­ der Aufgabe des Allgemeinheitsanspruchs unter pluralistischen Vorzeichen. Bei dem bisher unveröffentlichten Beitrag „Vom Magisterschmaus anlässlich der Examina einer frühneuzeitlichen Universität“ – der Abdruck von 1996 erfolgte lediglich in einer Broschüre – handelt es sich um die schriftliche Fassung eines Festvortrags aus Anlass der Verleihung der Magister- und Doktorurkunden an der damaligen Philosophischen Fakultät II der Universität Würzburg. Brandt hatte sich mit anderen Kollegen sehr dafür eingesetzt, dass s­ olche Urkundenfeiern Anfang der 1990er Jahre wieder eingeführt wurden. Seinem Selbstverständnis entsprach es allerdings, derartige Feiern in würdiger,

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schlichter Form und nicht aus dem Geist eines historistisch motivierten ­„inventing of traditions“ heraus durchzuführen. Wohl auch deshalb beschäftigte er sich in seiner Festrede mit den historischen Hintergründen und damit zwangsläufig auch mit den Auswüchsen universitärer Fest- und Feierformen in der Frühen Neuzeit, deren Üppigkeit keineswegs in erster Linie Ausdruck eines spezifischen akademischen Standesethos waren. Sie waren vielmehr auch und vor allem die Konsequenz der nicht selten prekären Finanzierungsverhältnisse der damaligen Universitäten, die Einkünfte eben auch durch Prüfungsgebühren generieren mussten, aus denen dann nicht zuletzt wiederum ­solche Feierlichkeiten finanziert wurden. Brandts schonungsloser Blick auf diesen Aspekt frühneuzeitlicher Universitätsgeschichte hat damals nicht alle seiner Kollegen erfreut, allerdings einen sehr lesenswerten Essay hervorgebracht, der zeigt, dass recht verstandene Traditionspflege auch eines historisch-kritisch geschulten Blicks bedarf. Der Beitrag „Studenten in der Revolution von 1848“, der bisher überhaupt noch nicht veröffentlicht wurde, behandelt vor allem Vorgeschichte, Verlauf und Folgen des sogenannten Zweiten Wartburgfestes, das an Pfingsten 1848 stattfand und das Ziel verfolgte, im Rahmen einer umfassenden Reform der deutschen Universitäten auch eine nationale Repräsentation der deutschen Studentenschaft zu schaffen. Die Versammlung knüpfte, auch von ihrem Namen her, an das Wartburgfest von 1817 an. Es handelte sich um den letzten Versuch im langen 19. Jahrhundert, eine Art nationales Studentenparlament auf demokratischer Basis zu etablieren. Im Großen und Ganzen war tatsächlich die gesamte deutsche Studentenschaft unter Einschluss Österreichs repräsentiert. Indes misslang das Vorhaben letztlich doch wegen der Uneinigkeit der studentischen Parteiungen, die auch und vor allem entlang der unterschiedlichen Korporationstypen sichtbar wurde. Eine wichtige Rolle als fortschrittliche Kraft spielte der studentische Progress, der gleichwohl in dieser Zeit den Gipfel- und Wendepunkt seiner Entwicklung erlebte. Im Ergebnis führte das Scheitern des studentischen Aktivismus zur verstärkten Abgrenzung der studentischen Verbindungen gegeneinander und markiert den Beginn ihrer Formation in nationalen Verbänden, die teilweise bis heute existieren. Den Anfang machte der Kösener Verband der Corps an Universitäten. Auch die katholischen Studenten, die auf dem Zweiten Wartburgfest noch nicht als eigene Gruppe vertreten gewesen waren, bildeten seither eigene farbentragende und nichtfarbentragende Verbindungen und Verbände. Gleichzeitig war bei den Korporationen zunehmend ein „Rechtsruck“ im Sinne einer Abkehr von älteren revolutionären Traditionen festzustellen, vor allem bei den Burschenschaften, bei denen das Ideal der zunehmend kleindeutsch verstandenen nationalen Einheit ihre demokratischen Traditionen überlagerte. Insofern markierte das Jahr 1848 ein wichtiges studentengeschichtliches Epochenjahr, das eine 1815 begonnene „Periode gesteigerter studentischer Bewegung“ abschloss. Der Beitrag „Studierende im Humboldt’schen Modell des 19. Jahrhunderts“ vertieft gewissermaßen die Thematik des oben vorgestellten Aufsatzes von 1985 dahingehend, dass Brandt jetzt ausführlich das lange 19. Jahrhundert in den Blick nahm und hierbei

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auch die Folgen der damaligen Hochschulreformen für das studentische Verbindungswesen bzw. deren Erziehungsprinzipien thematisierte. Er verwies hierbei vor allem auf die Folgen der sogenannten „Humboldt’schen Lücke“ 7, also des Verzichts der Universität auf jeden Erziehungsauftrag gegenüber den Studenten, der Freiräume schuf für das „heimliche Curriculum“ (Konrad Jarausch) der Verbindungen. Diese wurden so seit der Jahrhundertmitte zu maßgeblichen Agenturen akademischer Sozialisation und Formation. Hierin unterscheidet sich das preußisch-deutsche Universitätsmodell, das vor allem nach Ost- und Südosteuropa hin ausstrahlte, in der Tat fundamental vor allem von den angelsächsischen und französischen Universitätsmodellen. Andererseits beeinflusste das Modell der „Humboldt’schen“ Forschungsuniversität erheblich die britischen und USamerikanischen Universitäten, die sich bei ihren Hochschulreformen seit dem späten 19. Jahrhundert an Preußen-Deutschland und nicht an Frankreich orientierten. Gleichwohl weist Brandt darauf hin, dass das sogenannte Humboldt’sche Modell sich im langen 19. Jahrhundert vielfältig veränderte und im Zuge der Herausforderung durch steigende Studentenzahlen und die Erfordernisse einer modernen Industriegesellschaft Anpassungen vornahm, die mit der ursprünglichen Konzeption Wilhelm von Humboldts nur noch wenig gemein hatten. Der Beitrag „Julius oder Maximilian? Von der katholischen Lehranstalt zur modernen Julius‐Maximilians‐Universität“ entstand aus einem Vortrag, den Brandt 2002 – als die Universität Würzburg in Gegenwart des damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau den 600. Jahrestag ihrer Erstgründung im Jahr 1402 feierte – im Würzburger Rudolf-­AlexanderSchröder-Haus, einer der Erwachsenen- und Familienbildung dienenden Einrichtung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Bayerns, hielt. Brandt widmete sich hier einem Thema der Würzburger Universitätsgeschichte, das wegen seines Episodencharakters meist nur geringe Beachtung findet, nämlich den Folgen des ersten Übergangs des vorherigen Hochstifts Würzburg an das Königreich Bayern (1802/03 bis 1805/06) für die Universität Würzburg. Die bayerische Kultusbürokratie unternahm damals, weil Erlangen noch nicht zu Bayern gehörte und die Universität Bamberg nicht als zukunftsfähig galt, den Versuch, aus der Alma Julia als Pendant zur bisher einzigen (süd-)bayerischen Landesuniversität Landshut eine nordbayerische Landesuniversität zu schaffen. Bisher eine dezidiert katholische Anstalt, sollte sie künftig demonstrativ konfessionsfrei sein, ein Anspruch, der sich auch und vor allem auf die Theologische Fakultät bezog, die dem Zugriff des letzten Würzburger 7 Der Begriff „Humboldt’sche Lücke“ wird zumeist auf Siegfried A. Kaehler zurückgeführt. Diese These beruht offensichtlich auf einem Zitierfehler in Konrad Jarauschs Klassiker „Deutsche Studenten 1800 – 1970“ (Frankfurt am Main 1984, S. 21 und S. 23, Anm. 10), der anscheinend von ­vielen nachfolgenden Autoren ungeprüft fortgeschrieben wurde, auch vom Autor d ­ ieses Vorworts. Tatsächlich findet sich das Zitat in der Humboldt-Biographie von Friedrich Schaffstein: Wilhelm von Humboldt. Ein Lebensbild, Frankfurt am Main 1952, S. 228 f. Der Autor ­dieses Vorworts dankt für diesen Hinweis Herrn Henning Wachter, der bei den Recherchen für sein Dissertationsprojekt auf diese Ungereimtheiten gestoßen ist.

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Fürstbischofs konsequent entzogen und zu einer gemischtkonfessionellen Einrichtung wurde. Es erfolgten deshalb auch demonstrative Berufungen von Protestanten, darunter so bedeutende Gelehrte wie der Philosoph Friedrich Schelling und der Theologe Heinrich Paulus. Der Widerstand gegen diese mit großer Hast von oben vollzogenen Maßnahmen war, vor allem im Kreise der vormals fürstbischöflichen Professoren, die mehrheitlich zwangsemeritiert wurden, groß, obgleich der – was Ansehen und studentische Frequenz anbelangt – Erfolg den Reformern recht zu geben schien. Das Experiment wurde als Folge des Übergangs des vormaligen Hochstifts an Großherzog Ferdinand III. von Toskana schließlich abgebrochen, was einen raschen Niedergang der Universität Würzburg nach sich zog. Nach 1815, als Würzburg erneut und dauerhaft bayerisch geworden war, verzichtete München auf ähnlich drakonische Maßnahmen wie nach 1802 und begnügte sich mit maßvolleren Reformen. Der Handlungsdruck war auch deshalb geringer geworden, weil Bayern nunmehr mit der Universität Erlangen über eine weitere Landesuniversität mit dezidiert protestantischer Tradition verfügte. Mit dem Beitrag „Promotionen und Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert“ griff Brandt ein Thema auf, das ebenfalls zu den weniger beachteten in der deutschen Universitäts­ geschichte im langen 19. Jahrhundert gehört. Er knüpfte hierbei an seine Forschungen zum „Humboldt’schen“ Universitätssystem an und interpretierte die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Bestrebungen, das Promotionsrecht im Sinne dessen, was wir heute als „Qualitätssicherung“ bezeichnen würden, staatlich zu reglementieren, als Ausdruck widerstreitender Interessen: Dem Staat, insbesondere der preußischen Kultusbürokratie, ging es hierbei vor allem darum, im Sinne einer generellen Professionalisierung des Universitätssystems vor dem Hintergrund der Anforderungen eines modernen Industriestaats älteren Wildwuchs im Bereich des Graduierungssystems einzudämmen und die Promotion gleichsam in ein staatlich reglementiertes und kontrolliertes Prüfungssystem einzubauen. Hierbei ging es auch darum, Promotionspraktiken abzuschaffen, die den Verdacht der Käuflichkeit von akademischen Graden nahelegten. Immerhin waren Einkünfte durch Prüfungsgebühren an manchen deutschen Universitäten noch bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts nicht unwesentliche Bestandteile der Professoren­besoldung, für die einzelne deutsche Bundesstaaten nur unvollkommen aufkamen. Demgegenüber wehrten sich die betroffenen Universitäten gegen den damit verbundenen Verlust an Autonomie und wussten sich hierbei in Übereinstimmung mit wesentlichen Teilen des deutschen Bildungsbürgertums, für die der Erwerb eines Doktorgrades statusaufwertend im Sinne der Zugehörigkeit zur akademischen Welt in Gestalt eines sichtbaren und im Namen (wie ein Adelstitel) zu führenden Zeichens war. Deshalb wurden auch neue Doktorgrade kreiert und die Technischen Hochschulen strebten im Zuge ihrer Aufwertung zu „echten“ universitären Einrichtungen nach dem Promotionsrecht, weil eben ­dieses als Ausdruck der vollwertigen Zugehörigkeit zur akademischen Welt galt. Im Ergebnis kam es zwar zu einem deutschlandweiten Prozess ­formaler Angleichungen im Promotionswesen, doch konnte nicht verhindert werden, dass faktisch unterschiedliche Promotionspraktiken

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(„schwerer“ bzw. „leichter“) erhalten blieben. Gelöst ist d ­ ieses Problem, trotz der Reformen in den 1960er und 1970er Jahren, letztlich ja bis heute nicht, was zeigt, dass einige Traditionen der historisch gewachsenen deutschen „Promotionskultur“, konkret statusfördernde Erwartungen einer immer noch kritischen Masse von Promotionsbewerbern und der Umstand, dass das deutsche bzw. deutschsprachige Universitätssystem dezentral, allenfalls kulturnational-föderativ aufgebaut ist, bis heute fortbestehen. Harm-Hinrich Brandt hat Universitäts- und Studentengeschichte stets betrieben mit dem klassischen, im Kern idealistischen Ziel, auf der Basis eines historisch-kritisch fundierten Blicks in die Vergangenheit für die Gegenwart zu lernen und nicht letztlich romantisch-historistischen Mythen aufzusitzen. Dabei war es ihm aber immer wichtig, historische Phänomene verstehend und analytisch zu interpretieren und nicht mit der Attitüde des Staatsanwalts über „die Vergangenheit“ bzw. historische Akteure gleichsam zu Gericht zu sitzen. Diese Art der Geschichtswissenschaft verbindet folglich die herme­ neutisch-historistische mit der analytischen Herangehensweise. Ähnlich wie Thomas Nipperdey, dem Brandt kollegial-freundschaftlich verbunden war, folgt er einem historisch-anthropologischen Ansatz, der Geschichte nicht als einen gleichsam vorbestimmten Prozess begreift, der erkannt werden kann bzw. muss, sondern die Offenheit historischen Geschehens betont. In ähnlicher Weise wie bei seinen Forschungen zur Geschichte der Habsburgermonarchie misst Harm-Hinrich Brandt seine ­Themen der Universitäts- und Studentengeschichte nicht an einem scheinbaren „Normalweg“, sondern respektiert deren Eigenwert. In einer Zeit, in der man in den Geisteswissenschaften bisweilen und leider in jüngster Zeit immer öfter die Gesprächsfähigkeit z­ wischen unterschiedlichen „Schulen“ oder „Lagern“ vermisst, vermag Brandts Hermeneutik dazu beizutragen, „Lagerdenken“ und Ab- bzw. Ausgrenzungen zu überwinden und damit einem wahrhaft „herrschaftsfreien“, dabei aber keineswegs opportunistischen oder apologetischen Diskurs sein Recht zu verschaffen, der sich einem undogmatischen Liberalismus verpflichtet weiß. Auch deswegen erscheint es sinnvoll, Harm-Hinrich Brandts zentrale universitäts- und studentengeschichtliche Aufsätze noch einmal gesammelt herauszugeben. Ihr wissen­ schaftlicher Wert und ihre Aktualität ist ungebrochen und sie zeigen eindrucksvoll, was die Universitäts- und Studentengeschichte ihm an innovativen Beiträgen verdankt. Der Druck der in d ­ iesem Band vorgelegten Aufsätze folgte grundsätzlich dem Erstdruck, wobei Druckfehler und Irrtümer korrigiert und die Texte auch sonst gründlich durchgesehen wurden. Neue Forschungsliteratur zu den einzelnen Beiträgen wurde nur in Ausnahmefällen nachgetragen. Die den Beiträgen beigefügten Abbildungen und das Cover-Bild entstammen den Beständen des Instituts für Hochschulkunde an der Universität Würzburg. Der Gemeinschaft für Deutsche Studentengeschichte e. V. (GDS) danke ich für die Aufnahme ­dieses Sammelbandes in die ASH-Reihe und dem Böhlau-Verlag für die gute Zusammenarbeit. Matthias Stickler 

Würzburg, an Pfingsten 2020

Abb. 1  Johann Christoph Hafner (1668 – 1754), „Studiosus dilligens“, um 1750.

Abb. 2  Nicolas-Marie-Joseph Chapuy (Entwerfer, 1790 – 1858) / Auguste Mathieu (Lithograph, Lebensdaten unbek.), „Vorhalle des Otto Heinrich im Heidelberger Schloss“, um 1840.

Universität und Studenten in Deutschland zwischen alteuropäischer und moderner Welt Am Anfang war Humboldt? Der Name des preußischen Universitätsreformers steht gleichsam als Chiffre für die genuin deutsche Universitätsidee; seine Beschwörung als geistige Stifterfigur genoss bis an die Schwelle unserer eigenen Gegenwart gleichbleibende Aktualität, sobald Angehörige dieser Institution sich auf deren innerstes Wesen und die eigentlichen Prinzipien ihrer Existenz besannen – in Festreden zumal. Geschichte als Erinnerung liebt, ja benötigt s­ olche Stilisierung ereignishafter und entscheidungsgeladener Höhe-­und Knotenpunkte der Vergangenheit; sie ist für die Strukturierung des kollektiven historischen Bewusstseins als eines Orientierungswissens aus psychologischen wie dramaturgischen Gründen unentbehrlich. Geschichte als Wissenschaft hingegen arbeitet an der Entzauberung der Ursprungssagen; sie ordnet die großen Ereignisse und die sie tragenden Personen ein in den gesamthistorischen Bedingungsrahmen, bezieht sie auf die langfristigen Prozesse, die Kontinuität und den Wandel von Strukturen, und relativiert so ihre Singularität. Die mit dem Namen Humboldts verknüpfte Universitätsreform zu Beginn des 19. Jahrhunderts erweist sich in historischer Perspektive als ein Komplex von richtungweisenden Entscheidungen, die die deutsche Bildungsgeschichte der Folgezeit stark geprägt und die Sozialgeschichte sowie auch die politische Geschichte wesentlich mitbestimmt hat, die aber auf einer durch viele Vorentscheidungen der Vergangenheit geprägten Struktur des Bildungswesens beruhte und diese im Übrigen keineswegs in einem bruchartigen Neuanfang beseitigt hat. Sie steht also in einer Kette von Kontinuität und partiellem Wandel. Zu solchen Einsichten möchte die folgende Skizze eine Hinführung sein.

Frühneuzeitliche Voraussetzungen Schenkt man den Merkmalen der Kontinuität und des Wandels gleichermaßen Aufmerksamkeit, so lassen sich wichtige Besonderheiten der deutschen Universitätsentwicklung bis in das 16. Jahrhundert zurückverfolgen. Während die Universitäten in Frankreich und England in den mittelalterlichen Formen autonomer Korporationen verharrten, nahm sich in Deutschland in den Auseinandersetzungen der Reformationszeit der werdende Territorialstaat in stärkerem Maße der akademischen Ausbildung an. Es entsprach der Konsolidierung des konfessionell bestimmten, zumeist kleinräumigen Fürstenstaates, wenn die landesherrliche Obrigkeit nunmehr gerade auch die Rekrutierung und Quali­ fizierung des Personals für K ­ irche und Verwaltung, die staatstragenden Institutionen, selbst in die Hand nahm. Die Gründung neuer oder die strikte Konfessionalisierung

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und Territorialisierung älterer Universitäten verhalfen dem neuen Typus der „Landesuniversität“ zum Durchbruch, und zwar zunächst im protestantischen, rasch jedoch auch im katholischen Bereich. Allerdings waren auch die neuen Landesuniversitäten – und das verbindet sie mit dem Korporationsprinzip des Mittelalters – Stiftungsuniversitäten mit selbstständiger Haushaltsführung auf der Basis einer landesfürstlichen Ausstattung; ebenso bewegten sich der Aufbau der Fakultäten, Lehr- und Lernformen, Graduierungen und korporative Selbstergänzung in den hergebrachten Bahnen, nur dass die Vorherrschaft der Theologie sich jetzt im Sinne konfessioneller Ausrichtung und Disziplinierung stärker mit behördlicher bzw. kirchenbehördlicher Aufsicht und Reglementierung verknüpfte. Dem entsprach etwa auch die rigorose Beschränkung der studentischen Freizügigkeit, die Bindung der Scholaren an die Landesuniversität als Voraussetzung für eine Anstellung im Lande. Die für das Deutschland des 19. und noch des 20. Jahrhunderts eigentümliche Mischung korporativer und anstaltlicher Elemente in der Universitätsverfassung haben also, wie vieles andere in der politischen Kultur Deutschlands, in den territorialstaatlichen Verhältnissen ihre wichtigsten Wurzeln. Zugleich wandelte sich im Zeitalter der Reformation die Lebenswelt der Studenten. Der Exodus aus den Kollegien und Bursen beendete das studentische Zusammenleben in quasi-klösterlichen Gemeinschaften und eröffnete für die materiell Ungebundeneren die Möglichkeit des freien Logierens am Universitätsort. Damit ging eine Zunahme sozialer Differenzierung der Studentenschaft einher. Das Erfordernis juristischer Studien für die Spitzenpositionen in der landesfürstlichen Verwaltung zog die Söhne des Adels stärker an die Universitäten und unterwarf sie – mehr oder minder intensiv – ‚bürgerlichem‘ Lern- und Leistungsverhalten; zusammen mit den Söhnen des vermögenden Bürgertums bildeten sie die studentische Oberschicht, deren Ausbildungsinteresse vorrangig in der Juristischen Fakultät lag. Von hier spannte sich der Bogen zu den ärmlichen Stipendiaten der Theologie, Geschöpfen der kirchlichen Nachwuchsförderung im katholischen wie evangelischen Bereich auf der Basis einer Vielzahl von Stiftungseinrichtungen nicht zuletzt der Landesfürsten selbst. Sie lebten nach wie vor in Konvikten und galten – Talent hin oder her – als Studenten zweiter Klasse. Über alle Universitätsangehörige wölbte sich der traditionelle korporative Sonderstatus, der sie von der gewöhnlichen Bürgerschaft abhob und der in der autonomen akademischen Gerichtsbarkeit seinen wichtigsten institutionellen Rückhalt hatte. In seinem Rahmen entfalteten sich mehr oder minder spannungsreich die Ansprüche einer spezifischen „Burschenfreiheit“ gegenüber den Aufsichtsrechten und -pflichten der akademischen Behörden oder auch – in ihrer Eigenschaft als Zimmer- und Tischwirte – einzelner Professoren. Bei der Betrachtung der eigentümlichen Formen studentischer Sozialisation und Mentalität in der Frühen Neuzeit ist das niedrige Eintrittsalter der Studenten zu bedenken. Bei unregulierten Eingangsvoraussetzungen erfüllte die Artistenfakultät als ‚Vorfakultät‘ in der Hauptsache Funktionen der heutigen gymnasialen Oberstufe, wobei neben der Vervollkommnung der Unterrichtssprache Latein der Erwerb eines Allgemeinwissens

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im Rahmen der ‚septem artes liberales‘ im Mittelpunkt stand. Mithin stand ein Großteil der Studenten noch in einem Alter unabgeschlossener Erziehung. Im Unterschied jedoch zu den Lebensformen etwa der beiden englischen Universitäten oder der ­später ihnen nachgebildeten amerikanischen Colleges, die ­diesem Erziehungsaspekt Rechnung trugen, blieb die erzieherische bzw. disziplinarische Aufsicht über die deutschen Studenten in dem Grade, wie die entsprechenden Einrichtungen der Auflösung verfallen bzw. nicht durch Konvikte ersetzt worden waren, unvollkommen und in ihrer Geltung prekär. Auf diese Weise entstanden Freiräume, die durch Formen jugendlicher ‚Selbsterziehung‘ gefüllt wurden. Sie folgte Mustern der Rottenbildung mit jugendspezifischen Gruppen­ riten und Ehrenkodizes, die durch ein hohes Maß an Aggressivität in der gruppeninternen Hierarchiebildung wie im solidarischen Auftreten nach außen gekennzeichnet waren. Ihre Träger waren die sogenannten Landsmannschaften, die in vager Nachahmung der älteren ‚nationes‘ die Studenten nach Herkunftsorten oder -regionen zu formieren suchten. Hier vor allem lebte der sogenannte Pennalismus sich aus, der an die Stelle sozialer Herkunftsunterschiede die Herrschaft der Älteren über die Jüngeren – in oft kruden Formen – setzte und in dessen Rahmen die kollektiven Raufereien der Studentengruppen untereinander oder der Studenten gegen die gewöhnlichen Bürger (Handwerksburschen etwa) organisiert wurden. Über das Ausmaß d ­ ieses Pennalismus, seine Gestaltungskraft im Universitätsleben überhaupt, seine Reichweite in der Studentenpopulation einerseits sowie über die Effektivität der akademischen Disziplinargewalt und die disziplinierende Kraft von Lehre und Lernen andererseits sind freilich kaum generalisierende Feststellungen möglich. Die Befunde mögen von Ort zu Ort und dann auch wieder von Fakultät zu Fakultät unter Beachtung des jeweils zugehörigen fakultätstypischen sozialen Umfeldes sehr verschieden ausfallen. Soviel lässt sich jedoch verallgemeinernd sagen: Im 17. Jahrhundert trat in Deutschland – ganz wesentlich als Wirkung des Dreißigjährigen Krieges – eine deutliche Verwilderung der akademischen S­ itten ein. Das Waffentragen wurde üblich, und mit ihm breitete sich das Duellwesen aus. Die damit einhergehende Ausprägung spezifisch studentischer – kollektiv-korporativer, dann aber auch individualitätsbezogener – Ehrbegriffe stellte eine Verschmelzung eines gewissermaßen naturwüch­sigen jugendlichen Raufbedürfnisses mit adeliger Fehdementalität dar, die als gesunkenes feudales Kulturgut der Studentenkultur dauerhafte Strukturelemente eingrub. Denn die weitere Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert, die im ­­Zeichen immerwährender Diszi­ plinierungsbemühungen der akademischen Behörden und der Bekämpfung von Auswüchsen stand, führte doch niemals zur Abschaffung ­dieses Duellwesens, sondern in der Hauptsache zu seiner Kanalisierung, Formalisierung und Ritualisierung im Rahmen eines von Ort zu Ort variierenden „Komments“, der die Gesamtheit der studentischen Umgangsformen zu regeln trachtete und am Ende der Periode auch schriftlich kodifiziert wurde. Ihn zu überwachen nahmen die Landsmannschaften in ihrer Gesamtheit, repräsentiert durch den örtlichen Konvent ihrer Senioren, als ihre Aufgabe in Anspruch: eine mehr oder minder fiktive ‚Repräsentation‘ der Gesamtstudentenschaft, die von den

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akademischen Behörden mehr oder minder bekämpft oder auch toleriert wurde. Wie weit dieser landsmannschaftliche Betrieb die Studentenschaft tatsächlich erfasste, bleibt selbstverständlich eine offene Frage. In den Verhaltensmustern war die Spannweite vom Typ des draufgängerischen „Renommisten“ bis zum armen und frommen „Mucker“ der Konvikte denkbar groß. In ihrer Masse dürften die Studenten weniger die Träger als die mehr oder minder drangsalierten Objekte der komment-bezogenen Aktivitäten gewesen sein, sofern sie sich dem nicht überhaupt entzogen. Letzteres scheint freilich durchweg nicht eben leicht gewesen zu sein. Gemäß der soziologischen Regel, wonach nur organisierte Potentiale wirkungsmächtig sind, ging die entscheidende stilbildende Kraft in der Gestaltung studentischer Sozialisation und Mentalität von den Gruppen aus, die die Szene beherrschten. Dies alles galt vorab für die kleinen, in Kleinstädten domizilierten Universitäten, die in Deutschland freilich den Regeltyp darstellten. Für die Geschichte der deutschen Studentenschaft des folgenden Jahrhunderts wurde es daher von wesentlicher Bedeutung, dass in den Freiräumen studentischer Selbsterziehung eine ritualisierte Form gewaltsamen Konfliktspiels und gewaltsamer Konfliktregulierung frühzeitig fest verankert worden ist. Dieser Prozess wurde nun freilich seit dem späten Jahrhundert von immer neuen Gegenströmungen begleitet, in denen Gegeneliten andere Formen einer von Reformvorstellungen getragenen Studentenkultur zu verwirklichen oder sogar allgemein durchzusetzen trachteten. Hiervon wird sogleich zu sprechen sein, wenn von der Universitätsreform im Allgemeinen die Rede ist.

Stagnation und Reform im 18. Jahrhundert Seit dem späten 17. Jahrhundert geriet die traditionelle Universität europaweit in eine zunehmende Krise. Sie betraf in gleicher Weise die Vorstellungen von Wissenschaft, den Inhalt wie die Vermittlungsformen der Lehre und die Frage ihrer praktischen Verwendbarkeit. Damit ging eine durch Niveauverlust und Funktionsverlust gekennzeichnete Stagnation der Institution Universität einher. Der aus dem konfessionellen Zeitalter überkommene spätscholastische Wissenschaftsbetrieb mit seiner Bindung an dogmatisierte Wissensbestände und deren kanonisch festgelegte Weitergabe in Diktat, Repetition und Disputation gewährte den neuen, aufklärerisch bestimmten Erfahrungswissenschaften mit ihrer Praxisorientierung kaum Entfaltungsmöglichkeiten innerhalb der Universitäten. Hierzu wäre auch die traditionelle Professorenschaft in aller Regel wenig disponiert gewesen, zumal der schon vom Wissenschafts- und Lehrverständnis her naheliegende traditionalistische Gesamthabitus nur allzu häufig in enge Zunftmentalität gemündet war, die dann nicht selten mit Lokalismus, Nepotismus, geistiger Stagnation einherging. Bei den weniger begüterten Lehranstalten traten Kargheit der materiellen Versorgung und in ihrem Gefolge kleinliches Besitzstandsdenken, mediokre Nebentätigkeiten, Pfennigfuchserei und bedenkliche Geschäfte mit den Studenten – nicht zuletzt bei Prüfungen – hinzu.

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Unter diesen Voraussetzungen vollzogen sich die neuen wissenschaftlichen Bewegungen außerhalb der Universitäten, blieben ihre Exponenten zu den traditionellen Anstalten auf Distanz, organisierten sich Forschung und geistiger Austausch in den modernen Akademien und gelehrten Gesellschaften. Auch der Universitätsbesuch (die Frequenz) erlitt Einbrüche. Dem neuen adeligen Bildungsideal des ‚gentilhomme‘ vermochte die herkömmliche Universität nicht mehr zu entsprechen. Die Kavalierstour ersetzte die älteren gravitätischen Formen gelehrter Bildung; Ritterakademien übten auf die Adelssöhne zunehmende Attraktivität aus. Das oft zweifelhafte universitäre Ausbildungsniveau, insbesondere die laxe Graduierungspraxis veranlassten die Staatsverwaltungen, das Jurastudium durch Intensivierung und Verlängerung der eigenen Ausbildungsgänge innerhalb der Administration zu ergänzen und mit einem System staatlicher Eingangs- und Abschlussprüfungen zu koppeln. Für die weitere deutsche Universitätsentwicklung war jedoch entscheidend, dass die in der Zeit von Reformation und Gegenreformation geschaffene engere Verbindung von Universität und Territorialstaat und die darin begründete staatliche Wertschätzung universitärer Ausbildung ein Reformpotential in sich bargen, das dann letztlich doch Überleben und Fortentwicklung der Institution ermöglichte. Während freilich eine Mehrzahl der kleineren Universitäten im 18. Jahrhundert ein Kümmerdasein fristete, setzte der dynamische preußische Staat mit der Gründung der Universität Halle 1694 einen ersten wichtigen Neuanfang. Mit der Einführung des Deutschen als Unterrichtssprache, der Modernisierung des rechtswissenschaftlichen Lehrangebotes, der Erneuerung und Praxis­ orientierung der Theologie aus dem Geiste des Pietismus, schließlich der Einbeziehung erzieherischer Aktivitäten erhielt das Studium in Halle wesentliche neue Impulse, die die Universität rasch beliebt machten und zur meistfrequentierten im Reich anwachsen ließen. Eine andersgeartete, im Hinblick auf die Universitätsreform des frühen 19. Jahrhunderts noch größere Bedeutung gewann die welfische Gründung der Universität Göttingen (1734), deren Elitekonzeption sich an die bildungs- und leistungsorientierten Schichten des Adels und des gehobenen Bürgertums richtete. Ihr Schwerpunkt lag in der hochkarä­ tig besetzten Juristischen Fakultät, deren Lehrangebot jetzt den modernen Bereich der Staats- und Kameralwissenschaften mit umfasste; daneben wurden in der Emanzipation der Philosophischen Fakultät von der alten Artistentradition neue Maßstäbe gesetzt. Die materiellen und geistigen Bedingungen, unter denen die Gründung Göttingens stand, erzeugten den neuen Typ des staatlich besoldeten Professors, dessen Einkommenslage ihn der Notwendigkeit eines mediokren Nebenerwerbs enthob und ihm Ansehen und Weltläufigkeit verschaffte. Seine wissenschaftliche Reputation gründete sich neben der Lehre, für die das neue Prinzip der Lehrfreiheit galt, nunmehr ganz wesentlich auf seine Publikationen, die freilich noch kaum forschungsorientiert waren. Das Göttinger Beispiel suchten die hohenzollernschen Markgrafen auf analoger sozialer Basis in Erlangen (1743) nachzuahmen, ohne es freilich zu erreichen. Im Übrigen entfaltete der aufgeklärte Absolutismus auch an den älteren Universitäten eine auf

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Einzelverbesserungen gerichtete pragmatische Reformtätigkeit. Sie ergriff nunmehr wesentlich auch den katholischen Bereich, wobei die Auflösung des Jesuitenordens ein wichtiges auslösendes Moment darstellte, und erstreckte sich insgesamt auf die Einbeziehung der Kameralwissenschaften, die Modernisierung der Artistenfakultät bzw. Philosophischen Fakultät und eine Auflockerung des Lehrkanons unter dem Eindruck aufklärerischer Tendenzen. Dieser Typus der pragmatischen, stark utilitaristisch orientierten Reform setzte sich im Spätabsolutismus der Rheinbundzeit fort und bestimmte namentlich die Universitätspolitik Badens (Heidelberg) und Neu-Bayerns (Ingolstadt/ Landshut, Würzburg während der ersten Besitzergreifung). Aufs Ganze des 18. Jahrhunderts gesehen, halten sich Stagnationserscheinungen und Reformimpulse die Waage. Wenn für diese Zeit gern von einer Krise der Universität gesprochen wird, so orientiert sich d ­ ieses Urteil – neben dem schon erörterten Problem des Auseinandertretens von Lehre und Forschung – vor allem an dem deutlichen Rückgang der Studentenzahlen. In der Gesamtsumme der deutschen Universitäten (ohne Österreich) bezeichnet die Bewegung der Studentenzahl von etwa 8800 um 1700 über etwa 8300 um 1750 bis zu ca. 7000 um 1790 in der Tat einen säkularen Abwärtstrend. (Die weit rapideren Rückgänge nach 1790 bis auf ca. 5000 Immatrikulierte gehen auf das Konto der Revolutionskriege und der mit dem Ende des Reiches einhergehenden Universitätsschließungen, sie stehen damit unter exzeptionellen Rahmenbedingungen.) Die Gründe für diesen Rückgang vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte sind noch nicht mit der gebotenen Differenzierung untersucht worden. Doch lassen sich einige Feststellungen treffen. Zu einem erheblichen Teil spiegelt sich in dem Sinken der Studentenzahlen das deutliche Schrumpfen der Artistenfakultäten (vor allem im protestantischen Bereich) als Resultat ihres Funktionsverlustes als Vorfakultäten. An ihrer Stelle trat eine erweiterte und verbesserte Gymnasialbildung; der direkte Übergang aus dem Gymnasium in die höheren Fakultäten wurde zulässig und üblich – in Preußen 1788 mit der Einführung des Abiturs erstmals auch formalisiert. Insoweit hat man es also lediglich mit einer Ausbildungsverlagerung zu tun. Aber auch in den beiden wichtigsten Fakultäten Theologie und Jurisprudenz – die Medizin fiel seinerzeit quantitativ nicht ins Gewicht – signalisieren die vorhandenen Zahlen ab etwa 1740 Stagnation oder sogar Rückgang der Studenten­ zahlen vor dem Hintergrund wachsender Bevölkerung. Möglicherweise findet eine von den Berufschancen her erzwungene Korrektur hierin ihren Niederschlag. Von den Zeitgenossen wurde die Drosselung namentlich des Theologiestudiums als eines „Hungerleider“-Studiums durchaus positiv bewertet. Die Theologie war der klassische Bereich sowohl des stipendiengestützten sozialen Aufstiegs wie – bezogen auf die Pfarrstellen – der Tendenz zur ‚Überproduktion‘. Ihre weniger glücklichen Absolventen ergänzten das Heer der Lehrer oder fristeten als Privaterzieher oder als Randexistenzen der verschiedensten Art ein kümmerliches Leben. Ein Schrumpfen des Theologiestudiums bedeutete also zweifellos zugleich eine Drosselung des Universitätszugangs aus dem minderbegüterten

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kleinen Mittelstand, wobei jedoch ­zwischen dem protestantischen und dem notwendigerweise förderungsfreudigeren katholischen Bereich zu differenzieren ist. In der Sphäre der Jurisprudenz regulierte sich die Erschwerung, speziell die Verteuerung, des Ausbildungsganges durch die Ausgestaltung des zweiten staatlichen Ausbildungsabschnittes, woran sich für den Staatsdienst oft weitere unbesoldete Anwartschaftsjahre schlossen. Insgesamt ergab sich diese Art der ‚Konsolidierung‘ aus der weiterhin dominierenden Fixierung der Universitätsausbildung auf den Staat, d. h. den staatlichen und kirchlichen Bedarf an wissenschaftlich gebildeten Führungskräften, ein Bedarf, der trotz der Ausweitung der Staatstätigkeit im aufgeklärten Absolutismus eher statisch bestimmt war oder doch nur langsam wuchs. Neue Felder der Wissenschaft mit einer außerstaatlichen Verwertungschance waren erst in bescheidenen Ansätzen entwickelt und wurden längst noch nicht in das akademische Studium einbezogen – eine Situation, an der sich auch in der ersten Hälfte des folgenden Jahrhunderts nicht viel änderte. Unter diesen Voraussetzungen konsolidierte sich die Schicht der akademisch Gebildeten auch sozial und gewann schärferes Profil als ein besonderer Stand. Quer zu den alten Geburtsständen vereinte er – theoretisch allen Talenten offen – im protestan­tischen Bereich den bildungsorientierten Teil des Adels, bürgerliche Honoratioren und evangelisches Pfarrhaus zu einer sehr stark sich selbst reproduzierenden und damit Abschließungstendenzen entwickelnden Gruppe, die von öffentlicher Besoldung lebte und deren Selbstverständnis von hohen Leistungskriterien, Staatsnähe und politisch-moralischer Dienst- und Führungskompetenz bestimmt war. Dieser „allgemeine Stand“ im Sinne Hegels bildete das soziale Korrelat des spezifisch deutschen Verfassungstyps des aufgeklärten Absolutismus und der seine Fortsetzung darstellenden konstitutionellen Monar­ chie, er war damit zugleich der wichtigste Träger des deutschen Staatsgedankens bis ins 20. Jahrhundert. Die Reformimpulse des 18. Jahrhunderts fanden ihren Niederschlag nicht zuletzt in manchen Veränderungen innerhalb der studentischen Kultur, freilich nur in lokal begrenzten Ansätzen. Trotz administrativer Bekämpfung hatten sich die Landsmannschaften nicht beseitigen lassen, und mit ihnen hielten sich Pennalismus und Renommistentum. Das Duellieren blieb trotz Verboten ein bestimmendes Element, vor allem an den mittleren Universitäten. Neben den Landsmannschaften bildeten sich im Zusammenhang mit dem verbreiteten Logenwesen und als deren Nachwuchsorganisationen im 18. Jahrhundert studentische Orden aus. Sie verbanden mit dem ritualisierenden und geheimbündlerischen Element ein neues Selbsterziehungsideal im Sinne einer stärkeren Individualisierung und Sublimierung des Ehrbegriffes und der Affektbewältigung sowie ein gewachsenes Interesse an Bildung und selbstverantwortlicher Gestaltung von Studium und Berufsvorbereitung. Den Orden zur Seite trat im Zuge des aufklärerischen Sozietätswesens eine Vielzahl studentischer Diskutierzirkel, gelehrter Sozietäten und Sodalitäten, Kränzchen, Bibelgesellschaften und poetischer Gesellschaften. Sie alle strebten bei unterschiedlicher Inhaltsbestimmung nach Verinnerlichung der Studentenrolle im Sinne

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der Erziehungsideale des Jahrhunderts. In der Frühphase der Französischen Revolution ist eine Politisierung mancher Zirkel unverkennbar. Opposition gegen den Rauf- und Saufkomment spielten in dieser Bewegung eine wesentliche Rolle. Unverkennbar kündigt sich in diesen Aktivitäten ein Reformwille an, der nach den Freiheitskriegen in inhaltlich neuer Wendung auch die Burschenschaftsbewegung tragen sollte.

Die Humboldt’sche Universitätsreform In Frankreich waren die Universitäten weit stärker als in Deutschland dem mittelalterlichen Korporatismus verhaftet und der kirchlichen Kontrolle unterworfen geblieben. Abgekoppelt von der modernen Wissenschaftsentwicklung, wurden sie ebenso wenig das Objekt staatlicher Reformbemühungen. Unter solchen Voraussetzungen boten sie der Kritik des revolutionären Frankreich breite Angriffsflächen und verfielen der Auflösung. An ihre Stelle trat dann – unter der Ägide Napoleons – ein System qualifizierter Fachhochschulen als reiner Staatsanstalten, die einer zentralen Gesamtleitung unterstellt wurden. Daneben wurden die Akademien als Forschungsinstitutionen weiter ausgebaut. Das französische Modell bot sich in den Erschütterungen des zusammenbrechenden Alten Reiches und der Neuformierung Deutschlands im ­­Zeichen des Rheinbundes durchaus als attraktive Alternative an. Eine große Zahl der kleinen deutschen Universitäten war durch den Rückgang der Studentenzahlen am Ende des Jahrhunderts zu einer Kümmer­ existenz herabgesunken. Sie verfielen ebenso der Auflösung wie fast alle Anstalten der nunmehr säkularisierten geistlichen Staaten. Der große Kahlschlag bot Raum für neue Gestaltungen. Wenn die deutschen Rheinbundstaaten gleichwohl an der Institution der Universität festhielten, so beweist das einmal mehr den hohen Stellenwert, den sie seit der Reformation als staatlich geförderte Landesuniversität im deutschen Bildungssystem bewahrt hatte. Baden und Bayern begannen mit der Reorganisation der neu erworbenen Hochschulen im Sinne des bereits erwähnten utilitaristischen Konzepts, wobei die korporativen Reste tunlichst beseitigt und das Modell reiner Staatsanstalten verwirklicht wurde. Das napoleonische Königreich Westfalen erbte die beiden modernsten Universitäten der Zeit, Halle und Göttingen, und machte den Lehrbetrieb in beiden Anstalten umgehend wieder flott. In Preußen zwang der Verlust der größten und wichtigsten Universität, eben Halles, zum Handeln. Auch hier stand die Frage, ob man überhaupt an der Form der Universität festhalten solle, in den Anfangsplanungen durchaus zur Disposition. Wenn dann doch die Entscheidung zugunsten der Neugründung einer großen und repräsentativen Staatsuniversität fiel, so auch hier unter dem prägenden Einfluss der überkommenen Universitätsidee, mit der sich am ehesten die Vorstellung der notwendigen geistig-moralischen Erneuerung verbinden konnte. Die Gruppe der Reformer stand dabei nicht zuletzt unter dem Eindruck eigener Universitätserfahrungen, vorab wieder des elitären Göttingen. Die

Die Humboldt’sche Universitätsreform

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Gründung der Universität Berlin (1810) setzte einen Markstein in der deutschen Universitätsgeschichte; die hier eingeführten Strukturprinzipien wurden in der Folge zum maßgeblichen Vorbild für die übrigen deutschen Hochschulen. Diese Strukturprinzipien waren wesentlich unter dem Einfluss der neuhumanistischen Bildungsbewegung entwickelt worden und sind ohne die von hier ausgehenden Impulse nicht denkbar, wenn selbstverständlich auch die Realisierung der neuen Universität in vielem auf den Boden eines normalen Pragmatismus zurücklenkte. Das neue Konzept von Erziehung und Bildung, wie es von Fichte und Humboldt, auf andere Weise auch von Pestalozzi entwickelt wurde, zielte auf die Entfaltung der Individualität durch die allseitige Entwicklung der individuellen Anlagen, Weckung der Kräfte, Aktivierung von Spontaneität und Kreativität. Insofern kam es nicht auf die Vermittlung äußerlicher Kenntnisse und Fertigkeiten, auf die Abrichtung auf ein Berufsleben, auch nicht auf die Einpassung in die gegebenen Strukturen der Gesellschaft an, sondern auf die Herausbildung formaler allgemeiner Kompetenz, die zur aktiven Daseinsbewältigung in allen Bereichen des Lebens befähigte. Dass diese Persönlichkeitsentfaltung zu einer harmonischen Gesamtverfassung der Gesellschaft und zur Selbstkultivierung im Zeichen ­­ der Humanität führen werde, war der feste Glaube dieser ‚Bildungsreligion‘. Sie sah ihr Ideal in der griechischen Welt der Antike bereits einmal verwirklicht; diese Kulturepoche rückte daher in den Rang eines Paradigmas, dessen Studium und Aneignung zum wichtigen Katalysator der Persön­ lichkeitsbildung wurde. Die neuhumanistische Humanitätsreligion vollzog eine deutliche Wende gegen die Nützlichkeits- und Praxisvorstellungen eines ‚flachen‘ aufklärerischen Rationalismus; ihre Konzepte hatten vor allem für die preußische Gymnasialreform weitreichende Konse­ quenzen. Der gymnasiale Bildungskanon rückte den altsprachlichen Unterricht in den Mittelpunkt und konzentrierte die Lehrpläne insgesamt auf wenige als fundamental angesehene Fächer unter Abstreifen des Kaleidoskops sogenannter „Realien“. Und da nunmehr der Gymnasialabschluss des Abiturs die alleinige Zugangsberechtigung für die Universitäten abgeben sollte – ein Monopol, das allerdings nur allmählich in Preußen durchgesetzt und vom übrigen Deutschland übernommen wurde –, erhielt gerade auch die akademische Welt dadurch mehr und mehr ihr spezifisches, von einem gesteigerten elitären Selbstverständnis geprägtes Profil. Das Konzept der tätigen, produktiven Selbstentfaltung des Menschen bestimmte auch den neuen, dynamisierten Wissenschaftsbegriff. Nicht die Pflege und Weitergabe bewährter und gefestigter Wissensbestände waren das Geschäft des Wissenschaftlers, sondern die Hingabe an den prinzipiell offenen Erkenntnisprozess, der sich den Geheimnissen der Welt nur im Unendlichen zu nähern vermag. Erkenntnis sollte um ihrer selbst willen vorangetrieben werden, geleitet von intellektueller Neugier und übergreifender philosophischer Reflexion auf das Ganze ohne Rücksicht auf die Niederungen ihrer praktischen Anwendbarkeit oder gar gewinnbringenden Verwertung. Wissenschaftliche Lehre hatte in der Weitergabe dieser Haltung und ihrer Einübung durch Teilhabe am Erkenntnisprozess

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zu bestehen; ihr Ziel war die Weckung und sachbezogene Festigung wissenschaftlicher Kompetenz und selbstständigen Urteilsvermögens, und dies gerade auch mit Blick auf die praktische Berufsausübung außerhalb der Hochschulen. Für die Universitätsreform ergaben sich aus ­diesem dynamischen Wissenschaftsverständnis wichtige Konsequenzen, die trotz aller Fortschreibung hergebrachter insti­ tutioneller Formen in der Folge – in Preußen wie im übrigen Deutschland – doch zu einem nachhaltigen Wandel führten. Vor allem wurden Lehre und Forschung zusammengebunden. Der Universitätsprofessor sollte anders als sein Vorgänger noch im 18. Jahrhundert auch Forscher sein, ja er bezog sein Prestige vorrangig aus seinen wissen­ schaftlichen Forschungsleistungen, ablesbar an seinen Publikationen. Da die Karrieren von diesen gewandelten Präferenzen wesentlich mitbestimmt wurden, und zwar sowohl bei den Berufungen wie bei der Selbstergänzung durch die Habilitation, löste ein verstärktes Leistungs- und Konkurrenzdenken die alte Zunftmentalität ab. Die Studenten wurden von Lehrplänen und Zwischenprüfungen entbunden; der Lehrfreiheit entsprach die Lernfreiheit. In mündiger Selbstbestimmung sollten sie sich bei der Wahl ihrer Gegenstände nur vom Erkenntnisdrang und vom Erkenntniswert der Sache leiten lassen und in partnerschaftlicher Gemeinschaft mit ihren Lehrern „forschend lernen“. Das „Brotstudium“ fiel der Verachtung anheim. Der Status des Studenten wurde von seinem individuellen Bezug zur Wissenschaft her definiert; nur der Imperativ zur geistigen Selbsterziehung und Selbstausbildung sollte gelten. Jeder sonstige, etwa auch auf die studentische Gemeinschaft gerichtete universitäre Erziehungsauftrag wurde rigoroser denn je zuvor ausgeschlossen. Der idealistische Wissenschaftsbegriff band, und dies abermals in Abwehr utilitaristischer Tendenzen, die Organisation der neuen Universität wieder strikt an das klassische Schema der vier Fakultäten. Kameralistik und Kommerzwesen, Forstwesen und Bergbau, der ganze Bereich der Technik – all das blieb bzw. wurde wieder ausgeschlossen. In den Mittelpunkt rückte nunmehr die Philosophische Fakultät (Geistes- und Naturwissenschaften umfassend) als das Herzstück des neuen Wissenschaftsbetriebes. Mit der wissenschaftlichen Ausbildung der Gymnasiallehrer erhielt sie zugleich eine neue und wichtige Funktion; deren eigenständige Professionalisierung unter Ablösung von der Theologie sollte zugleich das Niveau der gymnasialen Bildung gewährleisten und die Übertragung des neuen Wissenschaftsideals auf die vorbereitenden „Gelehrtenschulen“ sicherstellen. Schließlich war die neue Universität mehr denn je Staatsanstalt; sie wurde aus dem allgemeinen Staatshaushalt finanziert und von der Kultusbürokratie kontrolliert. Anders jedoch als in Frankreich wurde ein Kernbestand korporativer Rechte in die neue Form der Selbstverwaltung übergeleitet. Die Gestaltung von Forschung und Lehre, die Graduierungen und die Habilitation blieben – unter staatlicher Rechtsaufsicht – Gegenstände inneruniversitärer Selbstorganisation auf Fakultätsebene; bei der Ergänzung durch Berufungen wirkten die Fakultäten durch die Aufstellung von Listenvorschlägen wesentlich mit, wobei freilich der Staatsregierung die Entscheidung vorbehalten blieb. Humboldt selbst

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sah in den staatlichen Befugnissen die wichtigste Garantie von Freiheit und Wettbewerb gegen Rückfälle in Zunftgeist und Nepotismus. Es war der aufgeklärte Obrigkeitsstaat mit seinen von den gesellschaftlichen Gruppen und deren Zumutungen abgehobenen Institutionen, denen man in solcher Weise die Kompetenz zur Gewährleistung wissenschaftlicher Freiheit zusprach.

Universitätsausbildung und gebildete Stände in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Es bedarf keiner Diskussion, dass z­ wischen den hochfliegenden Konzepten der B ­ erliner Bildungsreformer und den tatsächlichen Funktionen auch der Reformuniversität ein erheblicher Abstand herrschte. Dies galt vorab für die der Philosophischen Fakultät zugedachte Rolle einer einheitsstiftenden, alle Einzelwissenschaften in einer philosophisch-theoretischen Begründung und Sinngebung überwölbenden Instanz. Diese Rolle hat sie auch in Hegels Berliner Zeit nie erfüllt. In der Praxis entwickelte die Philosophische Fakultät sich zu einer den anderen Fakultäten gleichgeordneten Ansammlung von Einzelwissenschaften, und deren positive Entfaltung in der Verknüpfung von Forschung und Lehre bezeichnet das eigentlich vorwärtstreibende Element im Ablauf des 19. Jahrhunderts. Die hierdurch ermöglichte forschungsbezogene Spezialisierung begründete – nach einer gewissen Inkubationszeit – die Weltgeltung der deutschen Wissenschaft in der zweiten Jahrhunderthälfte und gab den Anlass zu vielfachen Nachahmungen des deutschen Universitätstyps. In der Ausbildung der Studenten traten neben die Vorlesung das Seminar und das Labor als die eigentlichen Stätten forschenden und exemplarischen Lernens. Dass die hierin implizierte Spannung ­zwischen Spezialisierung einerseits und notwendiger Breite der Wissensaneignung andererseits in der Vorstellung des ‚Exemplarischen‘ immer weniger aufgehoben werden konnte, wurde freilich ebenfalls zu einem – problematischen – Signum d ­ ieses Wissenschafts- und Ausbildungsbetriebes, der statt zu einer noch von Humboldt erhofften Reflexion auf das Ganze leicht auch in eine Krise der Sinngebung führen konnte. Freilich traten diese Konsequenzen in der ersten Jahrhunderthälfte bei der vergleichsweise noch sehr bescheidenen personellen und sach­ lichen Ausstattung der Universitäten und dem noch wenig professionellen Fachbetrieb erst wenig hervor. Die deutschen Universitäten hatten sich – wir sagten es schon – seit der Reformationszeit stets einer wenigstens prinzipiellen Wertschätzung erfreut; seit der Reform­periode wuchs jedoch ihr Prestige und namentlich das Prestige der Hochschullehrer ganz erheblich. Selbstverständlich bestanden ­zwischen den einzelnen Anstalten weiterhin deutliche Niveauunterschiede, doch war durch den Fortfall der krassesten Kümmer­formen und die allgemeinen Sanierungsmaßnahmen ein Angleichungsprozess erfolgt. Zu dieser Angleichung trug nicht zuletzt auch die Berufungspraxis bei, die alle deutschen Universitäten

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(selbstverständlich unter Wahrung bestimmter, v. a. konfessionell motivierter Präferenzlinien) in einen Verbund des Gelehrtenaustausches einbezog. Die Wander­freudigkeit der Professorenschaft war im Ganzen groß; sie hatte wesentlichen Anteil daran, dass aus der Universität ungeachtet ihrer partikularstaatlichen Verwurzelung eine nationale Institution wurde. Dieser Sachverhalt, in dem sich neben anderen Tatbeständen das spezifisch deutsche Bewusstsein der Kulturnation manifestierte, wurde für die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts von allergrößter Bedeutung. Entsprechend ihrem gewachsenen Prestige stieg die Attraktivität der Universitäten nach dem Ende der Napoleonischen Kriege gewaltig an. Darin drückte sich zunächst ein erheblicher Nachholbedarf aus: Kriegsbedingt war die Zahl der Studenten aller deutschen Anstalten um 1810 auf einen Tiefstand von etwa 5000 gesunken; im Durchschnitt des Jahrfünfts 1816/20 stieg sie auf über 7000, um dann bis 1830 in spektakulärer Weise auf ca. 16.000 anzuwachsen. Danach erfolgte ein deutlicher Rückgang mit einer anschließenden langjährigen Stagnation: Von 1835 bis 1870 pendelte die Zahl um 11.500 bis 13.000, um von da an wieder langsam zu wachsen. Wachstum wie Stagnation sind vor dem Hintergrund der universitätsspezifischen Berufschancen sowie gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen zu interpretieren. An dem Frequenzzuwachs waren die preußischen Neugründungen Berlin und Bonn sowie nach ihrer Verlegung die Universität München führend beteiligt, Halle und Göttingen wahrten ihren alten Rang. Der Anstieg verteilte sich ferner vorrangig auf die theologischen, juristischen und philosophischen Fakultäten; die medizinische Fakultät wuchs in einigen Universitäten ebenfalls deutlich (darunter in Würzburg), blieb in den meisten Universitäten jedoch – bezogen auf die Studentenzahl – traditionell randständig. Dieser Befund verweist erneut auf die Dominanz des staatlichen und kirchlichen Personalbedarfs bei der Gestaltung des Studiums und die nachkriegsbedingt neu belebte Attraktivität der von hier ausgehenden Berufs- und Versorgungschancen. Während für die Juristen der Einstellungs- und Beförderungsschub der Nachkriegsjahre entsprechende Karriereerwartungen stimulierte, erlebte die Theologie durch die nachaufklärerische Regeneration der ­Kirchen, die sich in dem Ausbau kirchlicher Personalstellen ebenso wie in einer deutlichen Wendung der Jugend zu neuer Religiosität ausdrückte, einen – quanti­tativ letztmaligen – großen Aufschwung. Die Philosophische Fakultät gewann ihren Zulauf aus der neuen Professionalisierung des höheren Lehramts und den Chancen, die der Ausbau der Gymnasien bot. Zugleich ist die Frequenzbewegung vor dem Hintergrund ökonomischer Depression und materieller Enge bei wachsender Bevölkerung in der vorindustriellen Situation der Jahre von 1815 bis 1835 zu sehen. Diese Konstellation bot dem Talent im kommerziellen Bereich wenig Chancen, waren doch Teile des bürgerlichen alten gewerblichen Mittelstandes in ihrer Existenz geradezu bedroht. So gewann das Universitätsstudium mit seinen Aussichten auf krisenfeste Versorgung eine erhebliche Anziehungskraft auch für das mittlere und kleine Bürgertum wie seit dem frühen 18. Jahrhundert nicht mehr.

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Diese Tendenz wurde durch die immer noch relativ freizügige Immatrikulationspraxis der Universitäten zunächst begünstigt. Das Monopol des gymnasialen Abiturs war weder in Preußen noch in den anderen deutschen Staaten bereits voll durchgesetzt; die sogenannten Externen fanden bereitwillig Aufnahme und bildeten mancherorts ein Drittel der Studentenschaft. Beschäftigungspolitische wie allgemeinpolitische Erwägungen führten jedoch ab 1831/34 eine Wende herbei. Um etwa 1830 vermehrte sich die Zahl solcher Absolventen der Theologischen, Juristischen und Philosophischen Fakultät, die trotz erfolgreich abgelegter Examina keine Anstellung fanden. Die Behörden begannen, vor dem Studium zu warnen. Die preußische Kultusverwaltung verhalf nunmehr dem Gymnasialabitur als Eingangsvoraussetzung zu voller Anerkennung; die Immatrikulationsmöglichkeiten für Externe wurden drastisch eingeschränkt. Der Abbau des Studentenberges wurde staatlicherseits nicht zuletzt von den Erfahrungen der Julirevolution und der ihr folgenden Unruhejahre bis zum Frankfurter Wachensturm (1833) her motiviert. Die liberale Bewegung dieser Jahre war – wovon noch zu sprechen sein wird – in Deutschland von politisierten Studenten aktiv mitgetragen worden und hatte in den Sympathien im universitären Milieu einen wesentlichen Rückhalt gefunden; Anlass genug für die obrigkeitliche Reaktion, das Unruhepotential der Hochschulen auch durch restriktive Zugangsregelungen zu entschärfen. Doch war ­dieses Motiv nur ein Faktor des Gesamtprozesses: Zugleich wurde der etwa 1835 einsetzende wirtschaftliche Wandel für die weitere Entwicklung entscheidend. Mit dem Eisenbahnbau und der Zollvereinsgründung setzte die Industrialisierung Deutschlands voll ein; sie induzierte in der Folge einen nach und nach alle Sektoren der Wirtschaft ergreifenden Wachstumsprozess, der in den nächsten Jahrzehnten nicht nur den ländlichen Pauperismus zugunsten des städtischen Proletariats beseitigte und das freigesetzte Potential des alten Handwerks absorbierte, sondern ganz wesentlich der bürgerlichen Intelligenz neue Tätigkeitsfelder eröffnete. Die auf diese Wiese neu entstehende Schicht kommerzieller und technischer Führungskräfte entfaltete sich selbstverständlich auf der Basis des vorangegangenen enormen Ausbaus des gesamten Schulwesens; ihre eigentliche Fachausbildung lief jedoch an der Universität vorbei. Den hier sich entwickelnden Bedürfnissen berufsbezogener Qualifikation entsprachen die schon bestehenden oder jetzt in größerer Zahl neugegründeten Fachschulen und Fachhochschulen besser. Die Universitäten hatten – von Ausnahmen abgesehen – der industriellen Welt nichts zu bieten. Erst in der Phase der voll entfalteten Industrie, also etwa im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, fand die Universität Anschluss an die neuen Ausbildungsbedürfnisse, leistete nun aber auch hier wie in dem Ausbau der wissenschaftlichen Grundlagenforschung einen maßgeblichen Beitrag zur industriellen Expansion Deutschlands – in hervorragender Weise in den Naturwissenschaften, weniger eindrucksvoll in den Wirtschaftswissenschaften. Dieses Bild bedarf insofern der Korrektur, als der qualitative und quantitative Aufschwung der Medizin – als der einzigen nicht primär staatsbezogenen universitären Traditionsfakultät – bereits

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deutlich früher einsetzte: dies im Zusammenhang mit neu aufkommenden Wünschbarkeiten und Standards der allgemeinen Volksgesundheit und mit nicht geringer Bedeutung für die naturwissenschaftliche Forschung. Von etwa 1835 bis etwa 1872 blieb die Zahl der deutschen Universitätsstudenten im Trend konstant; erst dann erreichte sie wieder die Höhe von 1830, um sie danach zu überschreiten. In dieser Konstanz kommt die Konsolidierung des Akademikertums zu einem abgehobenen Stand sinnfällig zum Ausdruck. Was von uns für das endende 18. Jahrhundert als strukturbildender Ansatz beschrieben wurde, formte sich jetzt dank der nunmehr durchschlagenden Wirkung der neuhumanistischen Bildungsreform voll aus. Aus ­welchen Schichten rekrutierte sich diese Studentenschaft? Sichtet man das von der Universitätsgeschichtsforschung bisher aufgearbeitete Material (es erfasst bei weitem noch nicht alle Universitäten), so ergibt sich, dass bis weit nach der Jahrhundertmitte mehr als die Hälfte der Studenten aus Akademikerfamilien stammte, dabei fiel wiederum der Löwenanteil auf die Söhne von Staatsdienern und Geistlichen. Ein Viertel entstammte dem nichtakademischen adeligen, bürgerlichen und großbäuerlichen Besitz, das restliche Viertel kam aus den unteren Mittelschichten, also aus dem Bereich der kleinen Beamten und Volksschullehrer, Handwerker und Kleinhändler. In der Tendenz nahm der Anteil der nichtakademischen Besitzenden zu, die Quote der Akademikersöhne sank dementsprechend. Der Anteil der ‚Aufsteiger‘ war demnach recht hoch und dürfte westeuropäische Quoten eher übertroffen haben. Söhne der eigentlichen Unterschichten waren darunter allerdings kaum zu finden, was bei dem Zuschnitt des langen Bildungsweges nicht verwundern kann. (Im Übrigen gilt wie für alle Analysen der vertikalen Mobilität auch hier, dass sich das Bild erheblich verändert, sobald man nicht nur nach Beruf und Status der Väter, sondern auch der Großväter fragt.) Die Signifikanz der skizzierten Verteilung für das Profil des deutschen Akademikertums liegt in dem außerordentlich hohen Anteil der akademisch gebildeten Staatsdiener­ schaft (einschließlich der K ­ irche) an der jeweils nächsten Studentengeneration. Diese Staatsdienerschaft umfasst nach Einkommens- und Statuskriterien selbstverständlich ihrerseits eine große Spannweite vom leitenden Minister zum Oberlehrer und Land­ pfarrer. Wesentlich daran ist, dass sich hier eine Schicht staatsorientierter gehaltsabhängiger Gebildeter in einem hohen Maße aus sich selbst reproduzierte. Was diese Schicht zum Stand machte, waren die für alle verbindlichen Auslese- und Bildungskriterien; diese waren nicht klassenspezifisch, insofern sozial offen, aber sie waren streng und wurden in der ersten Jahrhunderthälfte in zunehmendem Maße zu einem differenzierten Berechtigungswesen formalisiert. Die entscheidende Durchgangsschleuse zum Eintritt in die akademische Welt war das neuhumanistische Gymnasium, ein Instrument mehr der Auslese als der Förderung, das an intellektuelle Begabung, Leistungswillen und Bereitschaft zu praxisfernem, ja eigentlich lebensfernem Tun sehr hohe Anforderungen stellte. Die individuelle Disposition zu deren Erfüllung erwuchs am ehesten aus einem entsprechend leistungs- und vor allem auch bildungsorientierten familiären Hintergrund. Reichtum

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allein genügte da keinesfalls. Noch größer war die Herausforderung ­dieses Systems freilich für die ‚Aufsteiger‘, wenn zu einem Defizit an familiärer geistiger Stütze noch materielle Kargheit trat. Schule, anschließendes Studium und darauf folgender zweiter Ausbildungsabschnitt waren kostspielig vor allem durch ihre lange Dauer; nur der mit dem Talent gepaarte Aufstiegswille und die – in der Regel elterliche – Bereitschaft zu vieljährigem finanziellem Opfer boten Aussicht auf Erfolg. Gymnasium und Universität waren somit auf Elitebildung und Elitereproduktion angelegt. Die Offenheit dieser Elite für die Ergänzung von außen und damit verbunden die Unterwerfung aller Söhne unter Leistungs- und Wettbewerbskriterien verhinderte ihre Verkrustung zur Kaste. Gleichzeitig jedoch erzwang der enge Durchmesser der Eingangsschleuse die Anpassung der neu hinzutretenden Elemente an die gegebenen Standards und gewährleistete die Identität des Standesprofils. Dieses Profil bezog seine standesbegründende Einheit aus einer sehr spezifischen Bildungsvorstellung, die wegen ihres – beachtliche Teile der Wirklichkeit ausblendenden – Gehalts durchaus als Bildungsideologie zu bezeichnen ist. Sie begründete zugleich den Anspruch auf staatstragende geistige und politische Verantwortung. So wie der Bildungsgedanke sich gegen alles bloß Nützliche und ‚Materielle‘ abgrenzte, so der Stand der Gebildeten gegen die Nichtgebildeten und hier namentlich gegen die aufkommende Welt der Kaufleute, der Technik, der Industrie; ihr entsprach die Abgrenzung der Sphäre der obrigkeitlichen Gesamtverantwortung von der Sphäre der bloßen Interessen. Auf diese Weise entwickelten sich in Deutschland zwei bürgerliche Kulturen.

Studentische Kultur und studentische Politik Die reformierte Universität hatte den Studenten zum mündigen Jünger der Wissenschaft erklärt und sich mehr denn je zuvor aus jeglicher Erziehung oder sozialen Formung ihrer Mitglieder zurückgezogen. Von den Anstalten der Aufklärungszeit war das studentische Vereinswesen nur widerwillig toleriert und insbesondere in den Auswüchsen des Pennalismus bekämpft worden. Gleichwohl hatten sich die alten Landsmannschaften erhalten; sie tradierten die von ihnen entwickelten Elemente studentischer Subkultur, den Komment und speziell das in ihm geregelte Konfliktspiel der Ehrenhändel sowie die Errungenschaften einer eher rabaukischen „Burschenfreiheit“ in das 19. Jahrhundert. Demgegenüber nahm auch die studentische Reformbewegung mit der Wiederbelebung und Expansion der Universitäten einen neuen Aufschwung; sie vollzog nunmehr unter dem Eindruck der „Freiheitskriege“ eine spezifische Wendung. Der patriotische Schwung, von dem seit Preußens Seitenwechsel der Krieg gegen das napoleonische Frankreich getragen wurde, der Appell mancher preußischer Politiker und Militärs an das Element des Volkskrieges, der wichtige Einfluss einer Gruppe politischer Professoren und ihrer patriotischen Reden, die quantitativ beachtliche Kriegsteilnahme studentischer Freiwilliger, der volkstümliche

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Franzosenhass, das Kriegs- und vor allem das Siegeserlebnis, all das hatte die Gemüter vornehmlich der norddeutschen Studenten in tiefgreifende Bewegung versetzt und das Binnenklima in den Universitäten stark erwärmt. Das neu erwachte deutsche Nationalgefühl bildete das Grundelement der Bewegung, mit ihm verband sich eine neubelebte Religiosität zu einer „christlich-deutschen“ Vorstellungswelt, in die aus der Turnbewegung Jahns auch egalitäre Tendenzen einströmten. Die heimkehrenden studentischen Kriegsfreiwilligen trugen diese Gedanken und Hoffnungen in die Universitäten: Herstellung der deutschen Einheit in verklärender Rückerinne­rung an die mittelalterliche Kaiserherrlichkeit und das „heilige“ Reich, zugleich mit „volkstümlicher“ Verfassung als Unterpfand der „Freiheit“. Die allgemeine Enttäuschung über die kläglichen Resultate, in die die Freiheitskriege auf dem Wiener Kongress mit der Gründung des Deutschen Bundes (das „Deutsche Bunt“) schließlich eingemündet waren, verwandelte diese Wünsche und Sehnsüchte rasch in Programm, Organisation und Aktion. Im Juni 1815 wurde in Jena die Urburschenschaft gegründet, die nun – und das ist wesentlich – mit den nationalen Zielen ein Programm zur Erneuerung des studentischen Lebens verband. Die „allgemeine“ Burschenschaft verstand sich als umfassende Gesamtorganisation für alle Studenten auf nationaler Grundlage; die Landsmannschaften als partikulare Organisationen auf der Basis der regionalen Herkunft der Studenten sollten sich auflösen und in der neuen Allgemeinheit aufgehen. Reform des Komments und Aufrichtung einer Ehrengerichtsbarkeit sollten das rohe und provokatorische Duellwesen beseitigen; mit dem Ziel einer Verinnerlichung des Ehrgefühls verband sich ein neues Ideal von Tugend, Freundschaft und Gemeinschaft. Die religiös-moralisierende neue Innerlichkeit wandte sich wie das neue idealistische Ethos gegen Sittenlosigkeit und unkultiviertes Renommistentum gleichermaßen. Mit der christlich-deutschen Tendenz ging von vornherein der Antisemitismus einher. Die von der Turnbewegung Jahns wesentlich mitstimulierte Deutsch­tümelei führte zu einer gelegentlich befremdlichen Wendung gegen kosmopolitische Werte und trieb in der Hervorhebung dessen, was man unter „altdeutscher Tracht“ verstand, seltsame Blüten der Verkleidungskunst hervor. Integrative Symbole waren selbstverständlich auch sonst unverzichtbar – so die Übernahme der vermeintlichen alten Reichsfarben Schwarz-Rot-Gold, die Annahme des Wahlspruchs „Ehre, Freiheit, Vaterland“. Die Burschenschaftsbewegung breitete sich rasch in Deutschland aus, blieb freilich vorrangig im protestantischen Milieu angesiedelt. Das so entstehende Kommunikationsnetz ließ die deutschen Universitäten gerade auch von studentischer Seite als nationale Institutionen erfahren; in ihren Lebensformen sollte die angestrebte deutsche Einheit bereits paradigmatisch verwirklicht werden. Ihren ersten Höhepunkt fand die burschenschaftliche Bewegung in dem nationalen Fest, das am 18. und 19. Oktober 1817 auf der Wartburg gefeiert und zu einer eindrucksvollen politischen Demonstration wurde. Der Anlass bringt in seiner Verknüpfung von Luther-Gedenkjahr und Jahrestag der Leipziger Schlacht sinnfällig das im protestantischen Milieu verwurzelte deutsch-christliche Profil zur Anschauung: nationale Befreiung von römischem Gewissenszwang und amtskirchlicher Entfremdung

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dort, von französischer Fremdherrschaft hier. Im gottesdienstlichen Programmablauf wie in den Reden der studentischen Führer und der anwesenden Jenaer Professoren wurden diese Th ­ emen variiert und mit den burschenschaftlichen Zielen und Forderungen der Gegenwart in den erwünschten Zusammenhang gebracht. Eine ambivalente und in ihren Wirkungen spektakuläre Wende nahm die bis dahin sehr würdige Feier mit einer Aktion einiger Berliner Anhänger Jahns, in der Luthers Verbrennung der päpstlichen Bannbulle imitiert werden sollte, die mit ­diesem Bezug aber eher die Qualität eines Satyrspiels hatte, das auf die Tragödie folgt. Die demonstrative und von entsprechenden kommentierenden Begründungen begleitete Verbrennung missliebiger, zumeist konservativer Schriften (übrigens auch des Code Napoléon) sowie einiger Symbole der Reaktion war, gerade weil sie von den Initiatoren sehr ernst gemeint war, ein Akt bedenklicher Geistesverachtung, der seinerzeit auch Wohlgesinnte empörte. Dem Wartburgfest folgte ein Jahr ­später die Gründung der „Allgemeinen Deutschen Burschenschaft“ als nationaler Verband mit einer akzentuierten politischen Zielsetzung: nationale Einheit und konstitutionelle Freiheit, Verfassung und nationale Repräsentation gegen Partikularismus und Polizeistaat. Wieweit die Bewegung die deutsche Studentenschaft tatsächlich erfasste, entzieht sich der Berechnung. Mancherorts, aber bei weitem nicht überall, gingen die Landsmannschaften vorübergehend in der „Allgemeinheit“ auf. Bei den diffusen Mitgliedschaftsverhältnissen wird man einen Kern von engagierten Aktivisten und einen mehr oder minder, an manchen Universitäten tatsächlich näherungsweise auf die Gesamtstudentenschaft sich erstreckenden Kreis von Sympathisanten zu unterscheiden haben. Ohnehin währte die Maienblüte der Gemütserhebung nur kurz. Entscheidend für das weitere Schicksal der Bewegung wurde die Herausbildung eines radikalen Flügels mit egalitär-demokratischen, an Rousseau orientierten Zielvorstellungen und einer voluntaristischen Bereitschaft zu Konspiration und Aktion, wofür sich in der Philosophie der „Überzeugungstat“ dann auch eine ­Theorie der sittlichen Rechtfertigung von Gewaltanwendung fand. Aus ­diesem Umkreis erwuchs der Schritt eines Einzelstudenten, des Theologen Karl Ludwig Sand, zu dem politischen Mord an einem als Reaktionär und Spitzel bekannten Schriftsteller (Kotzebue) als Akt des bewussten Terrors und der politischen Demonstration. Die aufsehenerregende und eine Flut von Diskussionen auslösende Tat vom März 1819 gab den Kräften der Reaktion nunmehr den Anlass zum politischen Durchgreifen. Die bekannten Karlsbader Beschlüsse gaben dem Deutschen Bund die Handhabe, die Einzelstaaten zu einer strengen Überwachung der Universitäten und der Presse zu zwingen. Das Maßnahmengesetz stellte unter anderem studentische Vereinigungen unter Verbot, führte zu einer (im Norden strenger als im Süden praktizierten) Kontrolle von Lehre, Studium und Universitätswechsel und leitete eine breit ausgreifende „Demagogen-Verfolgung“ ein. Das Vereinsverbot traf die Studentenverbindungen durchaus nicht gleichmäßig; die Landsmannschaften wurden von den Behörden als politisch geringeres Übel toleriert. Sie beherrschten infolgedessen wieder stärker die studentische Szene und begannen nunmehr,

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sich unter Lösung von dem hergebrachten landsmannschaftlichen Rekrutierungsprinzip in Corps zu verwandeln; sie begründeten damit recht eigentlich den modernen Typ der Korporation. Die Burschenschaft als ­solche wurde dagegen in den Untergrund gedrängt, wobei mancherorts unter den nachsichtigen Augen jugendfreundlicher und mild gesonnener Universitätskuratoren die Umwandlung in harmlose Geselligkeitsverbindungen möglich war. Die burschenschaftliche Idee jedoch lebte weiter und führte Ende der 1820er Jahre unter den Bedingungen einer laxer gewordenen Überwachung auch zu förmlichen Neugründungen. Der alte Allgemeinheitsanspruch war jedoch nicht mehr durchzusetzen, die Burschenschaften waren partikulare Verbindungen unter anderen. Unter dem Eindruck der Verfolgungen hatten sich zudem Richtungskämpfe ausgebreitet, die die Situation der schwierigen Selbstbehauptung der Bewegung in einem repressiven Klima signifikant widerspiegelten. Die Besonnenen und Vorsichtigen schieden sich von den Aktivisten in der Frage der richtigen Vorgehensweise bei der Verwirklichung der gesamtpolitischen Ziele. Nach dem Erlanger Vorgang ist dieser Richtungsstreit als „ArminenGermanen“-Streit in die Geschichte eingegangen; er breitete sich über eine Mehrzahl von Universitäten aus und führte zu entsprechenden organisatorischen Spaltungen. Die Arminen setzten auf den ‚Marsch durch die Institutionen‘ und betonten die Aufgabe studentischer Erziehung, Selbsterziehung und sittlicher Reifung, um sich für den Staatsdienst nicht nur fachlich zu qualifizieren, sondern moralisch zur Übernahme von Verantwortung tüchtig zu machen. Die Germanen betonten demgegenüber die Notwendigkeit einer genuin studentischen Politik und Aktion zur Verwirklichung der nationalen Ziele. Sie bildeten in ihren Organisationsformen dann auch bezeichnende Züge einer Kadertaktik aus: Die Mitgliedschaft wurde als engerer und weiterer Verein organisiert, wobei nur die Angehörigen des engeren Vereins über Programmfragen, Personalfragen und Regulatorien mitzuentscheiden hatten und nur sie in die konspirativen Arkana des überörtlichen Informationsnetzes eingeweiht waren. Die von der französischen Julirevolution auf Deutschland übergreifende politische Bewegung stimulierte erneut auch den studentischen Aktionismus. Insbesondere die Burschenschafter der Germanen-Richtung beteiligten sich intensiv an den vom entschiedenen bürgerlichen Liberalismus und Radikalismus getragenen Vereinsbildungen und Demonstrationen: Die verschiedenen Versammlungen, Feste und AbgeordnetenBanketts, die Abgeordnetenhuldigungen, die Polen-Komitees und ihre Aktivitäten, der Preß- und Vaterlandsverein, die Kollektiv-Petitionen – bei all dem waren Studenten in unübersehbarer Weise präsent, und die liberalen Honoratioren ließen sich ihre Aktivität gern gefallen, ja, ermunterten durchaus auch dazu, wie Untersuchungen für Würzburg, Tübingen und Göttingen zeigen. Die Bewegung der Jahre 1830 – 1832 führte die politisierten Studenten also (vorübergehend) aus ihrer gewöhnlichen Isolierung heraus und zeitigte – in Deutschland durchaus erstmalig – ein ständeübergreifendes Zusammenwirken der aktiven auf Veränderung gerichteten Kräfte im Zeichen ­­ einer Gesinnungsgemeinschaft oder „Partei“.

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Es bedurfte nicht erst des spektakulären Hambacher Festes, um die Abwehrreaktionen des Deutschen Bundes und der Einzelregierungen erneut hervorzurufen. Der polizeiliche Zugriff erfolgte rasch und gründlich, wodurch ein radikaler Kern der Studenten abermals in die politische Kriminalität abglitt. Der Frankfurter Wachensturm von 1833 trug aufs Neue alle Züge unverantwortlicher Gewaltaktion einer vollkommen isolierten Gruppe, die mit ihrem revolutionären Signal zudem nichts zu bewirken vermochte, weil eine Stimulierung revolutionärer Massenerhebung lediglich optimistisch unterstellt, aber keinesfalls die Voraussetzung dafür überprüft worden war. Die 1832/34 erneut einsetzende polizeiliche Verfolgung war wesentlich härter als die alte Demagogenverfolgung; sie brachte einer großen Zahl von Studenten schwere Haftstrafen und führte zur völligen Zerschlagung der radikalen Burschenschaft. In der weitgehend entpolitisierten Universitätsatmosphäre des nächsten Jahrzehnts verfestigten sich bei insgesamt verminderten Studentenzahlen wesentliche Elemente der spezifisch deutschen studentischen Kultur, die auch die zweite Jahrhunderthälfte bestimmen sollten. Obwohl kaum die Mehrheit der Studenten dort organisiert gewesen sein dürfte, bestimmte das sich weiter ausbildende Korporationswesen stark das Erscheinungsbild des studentischen Lebens. Zu den tonangebenden Korps und Landsmannschaften trat ein eher konservativer, unter dem Namen „Teutonia“ als Richtung auftretender Flügel der alten Burschenschaft, der sich dem Stil der Korps anpasste. In d ­ iesem Bereich wurden jene Einstellungen, Verhaltensweisen und Riten konsolidiert, die das deutsche „Waffenstudententum“ zu einer in der Kulturwelt eigentümlichen Erscheinung werden ließ. Eigentliches Duell und Mensur wurden allmählich voneinander geschieden, Letztere in rituellen Formen jedem Korporationsstudenten zur Pflicht gemacht. Insgesamt beherrschte das Konfliktspiel der „Forderungen“ die Szene, hinzu kam das Drangsalieren der „Finken“ oder „Wilden“, also der nicht organisierten Studenten. Die Laxheit der traditionellen akademischen Gerichtsbarkeit bot ­diesem Unwesen den entsprechenden Freiraum. Gelegentlich nötigten s­ olche Verhältnisse die Masse der Nichtorganisierten ihrerseits zur Organisation, um ihre Belange zu verteidigen. Regelmäßiger jedoch b­ egaben sich die Wilden in großer Zahl als „Renoncen“ in eine Art Klientel- oder Schutzverhältnis von Korporationen; funktional reproduzierte die Situation also Sozialisationsformen, die historisch aus vorstaatlichen Gewaltverhältnissen geläufig sind. Die von der Burschenschaft propagierten Ehrengerichte zur Unterbindung des Duellwesens setzten sich niemals durch. In der Binnenverfassung der Korporationen lebte der alte Pennalismus häufig im Fuxenwesen weiter. Das Geselligkeitsbedürfnis der stilleren, religiös gestimmten oder an einer ernsthaften Bildung und Selbstkultivierung orientierten Studenten, das sich etwa in der burschenschaftlichen Arminen-Richtung mit zur Geltung gebracht hatte, fand in privaten Zirkeln und im – aufs Ganze eher seltenen – Verkehr mit dem Bildungsbürgertum der Universitätsstädte seine Erfüllung. In den 1840er Jahren breitete sich mit dem Wingolf-Bund ein entsprechender Verbindungstyp aus, der die Studenten auf allgemein­religiöser Grundlage

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zusammenführen wollte, faktisch jedoch auf den protestantischen Bereich beschränkt blieb; politisch verhielt er sich deutlich konservativ. Konfessionell abgeschlossene katholische Verbände entstanden erst nach der Revolution von 1848. Ebenfalls in den 1840er Jahren wurde schließlich der studentische Radikalismus in einer neuen Wendung wiederbelebt. Die „Progreß“-Bewegung griff alte Reformforderungen wie Organisation der „Allgemeinheit“ sämtlicher Studenten sowie Abschaffung der Duelle wieder auf und ging mit der Propagierung einer Beseitigung aller studentischen Standesmerkmale (wie der akademischen Gerichtsbarkeit) noch darüber hinaus. Politisch hielten die Gruppen des „Progreß“ Verbindung mit den intellektuellen Emigranten und mit den radikalen Handwerksgesellen, bildeten also einen Teil jener Gruppierung, die in der Revolution die parlamentarische radikale Linke repräsentierte und dies mit außerparlamentarischen Aktionen verknüpfte. Die Revolution von 1848 sah die Studentenschaft noch einmal als tragendes Element spektakulärer Aktionen, doch zeigte sich im Einzelnen bereits deutlich die eingetretene Differenzierung der politischen Richtungen. Während vor allem in Wien der studentische Radikalismus gemeinsam mit den Unterschichten für die Eskalation der Revolution vom März bis zum Oktober verantwortlich war, sah man andernorts die bewaffneten Studentenschaften eingereiht in die Bürgergarden und als Sicherheitskräfte tätig für den Schutz des Eigentums und die Wahrung von Gesetzlichkeit und Ordnung. Noch klarer trat diese Differenzierung in dem zu Pfingsten abgehaltenen Studentenkongress auf der Wartburg hervor, bei dem ungeachtet der Huldigung an den ‚genius loci‘ nicht mehr die gesamtpolitische Deklamation im Vordergrund stand, sondern hochschulpolitische Interessen und Sachfragen den Gegenstand der Verhandlungen bildeten. In den Debatten um die besonders umstrittenen Fragen der Nationalisierung aller deutschen Universitäten, der Enteignung der Stiftungsvermögen sowie der akademischen Gerichtsbarkeit ergab sich eine Rechts­links-Verteilung, bei der die von den Corps, der burschenschaftlichen Teutonia und dem Wingolf gestellten Vertreter die ‚Rechte‘, der „Progreß“ und die zahlreichen nichtkorporierten Abgeordneten die ‚Linke‘ bildeten. Das auf dem Pfingsttreffen bestehende Übergewicht der Linken schlug sich in dem Forderungskatalog nieder, den die Versammlung der Frankfurter Nationalversammlung in einer Adresse übermittelte. Zum letzten Mal fand die Ideenwelt der deutschen studentischen Bewegung als Teil der liberalen Bewegung in ­diesem Katalog einen prägnanten Ausdruck, wobei die Erweite­rung des traditionellen Programms durch neue egalitäre Forderungen den Grad der inzwischen eingetretenen Radikalisierung kennzeichnete. Die Verlagerung der Trägerschaft aller Universitäten auf den neu zu gründenden Bundesstaat: Hier vor allem manifestierte sich das seit der Zeit der Urburschenschaft bewahrte Bewusstsein von der ­Einheit der Nation als Kulturnation sowie das Erlebnis der Universität als einer nationalen Institution. Zugleich wollte man mit der Selbstverwaltung, der Lehr- und Lernfreiheit entscheidende Strukturmerkmale der deutschen Universität der Reformzeit bewahrt wissen. Andere Strukturen hingegen sollten aufgebrochen werden: Die Forderung nach Ausweitung des

Verwendete Literatur

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Fächerspektrums auf die „ganze Wissenschaft“ (gedacht war an Wirtschaft und Technik) und nach Auflockerung der Fakultäten zielte kritisch auf die Exklusivität des neuhumanistischen Wissenschaftsverständnisses und die in seiner Tradition inzwischen eingetretenen Verkrustungen und Entfremdungen. Unübersehbar war in d ­ iesem Zusammenhang schließlich der studentische Anspruch auf Mitbestimmung bei Wahlen und Berufungen und damit auf Einflussnahme auf das Zentrum der hergebrachten Fakultätsrechte; doch war das geforderte Ausmaß der „Beteiligung“ durchaus auslegungsfähig. Die Forderung nach Aufhebung der akademischen Gerichtsbarkeit erwuchs aus den traditionellen Auseinandersetzungen ­zwischen Korporierten und Nichtkorporierten bzw. Reformisten und zielte auf eine effektivere Gewährleistung zivilisierter Verhältnisse in den Universitätsorten. Die Korporierten wandten sich dann auch dagegen. Hingegen wurde mit der angestrebten Liberalisierung des Zugangs zu den Staatsämtern und der Brechung des Universitätsmonopols abermals ein über den Gesichtskreis der Studentenpolitik hinausgehendes politisches Thema angesprochen. Hier sollte die Formierung des Standes der Gebildeten, wie sie durch die Rekrutierungspraxis über den neuhumanistischen Bildungsweg fixiert worden war, einer Korrektur unterworfen werden. Wir wiesen schon darauf hin, dass die Verabschiedung d ­ ieses Programms alles andere als einhellig war. Die in der Öffentlichkeit eingetretene Differenzierung der politischen Parteirichtungen verlängerte sich in die Studentenschaft hinein. Mit der Formierung des Gros der Korporationen als konservative Studentenpartei wurde auch die traditionell reformerische studentische Richtung von einer „Gesamt“-Bewegung zur bloßen Partei. Und die Chancen dieser Partei standen, trotz ihres Abstimmungssieges auf dem Pfingsttreffen, schlecht. Ihre Reformforderungen hätten bei einem Gesamterfolg der Revolution von 1848 durchaus Eingang in eine von breiteren politischen Kräften getragene Universitäts- und Bildungsreform finden können. Die Niederlage des deutschen Liberalismus aber führte in der weiteren Folge auch im Universitätsbereich zu einer bestätigenden Verfestigung der bis dahin entwickelten Strukturen und zu einer gründlicheren Entpolitisierung der Studentenschaft als je zuvor. Im Nachhinein lässt sich erkennen, dass die studentischen Aktivitäten des Revolutionsjahres tatsächlich den endgültigen Abschluss einer Epoche bezeichneten.

Verwendete Literatur Universität und Studium Erich Hassinger und Edwin Stark, Bibliographie zur Universitätsgeschichte. Verzeichnis der im Gebiete der Bundesrepublik Deutschland 1945 – 1971 veröffentlichten Literatur, Freiburg 1974. Rüdiger vom Bruch, Universität, Staat und Gesellschaft. Neuere sozial-, disziplin- und personen­ geschichtliche Beiträge zum deutschen Hochschulwesen vorwiegend im 19. und frühen

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20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 21 (1980), S. 526 – 544. [Auflistung und Kommen­ tierung neuer Literatur.] Friedrich Paulsen, Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium, Berlin 1902; Ndr. Hildesheim 1966. [Veraltet, namentlich auch in den zeitgebundenen Urteilen.] [Nachtrag:] Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 2: Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, hg. von Notker Hammerstein, München 2005, darin: Notker Hammerstein: Universitäten, S. 369 – 393; Bd. 3: Von 1800 bis 1870, hg. von Karl-Ernst Jeismann und Peter Ludgreen, München 1987, darin: Steven Turner, Universitäten, S. 221 – 249. Franz Eulenburg, Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart, Leipzig 1904. Charles E. McClelland, State, Society and University in Germany, 1700 – 1914, Cambridge 1980. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983. [Zur Berliner Universitätsgründung, dann zur Schul- und Universitätspolitik S. 57 – 65, 454 – 482.] Johannes Conrad, Das Universitätsstudium in Deutschland während der letzten 50 Jahre. Statistische Untersuchungen unter besonderer Berücksichtigung Preußens, Jena 1884.

Studentische Kultur und Korporationen Friedrich Schulze und Paul Ssymank, Das deutsche Studententum von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, München 1931 u. ö. Paul Wentzcke, Geschichte der Deutschen Burschenschaft, Bd. 1, Heidelberg 1919; fortgesetzt von Georg Heer, Geschichte der Deutschen Burschenschaft, Bde. 2 – 4, Heidelberg 1927 – 1939 (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung , Bde. 6, 10, 11, 16). Wolfgang Hardtwig, Krise der Universität, studentische Reformbewegung (1750 – 1819) und die Sozialisation der jugendlichen deutschen Bildungsschicht. Aufriss eines Forschungsproblems, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 155 – 176. Karl-Georg Faber, Student und Politik in der ersten deutschen Burschenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 21 (1970), S. 68 – 80. Konrad Jarausch, The Sources of German Student Unrest 1815 – 1848, in: Lawrence Stone (Hg.), The University in Society, Bd. 2, Princeton/NJ 1974. Konrad Jarausch, Deutsche Studenten 1800 – 1970, Frankfurt 1984. Reinhard Müth, Studentische Emanzipation und staatliche Repression. Die politische Bewegung der Tübinger Studenten im Vormärz, Tübingen 1977. Rolf-Joachim Baum (Hg.), Studentenschaft und Korporationswesen an der Universität ­Würzburg, Würzburg 1982. Peter Krause, „O alte Burschenherrlichkeit“. Die Studenten und ihr Brauchtum, Graz 1979.

Abb. 3  Friedrich Wilhelm Geiling (Entwerfer u. Lithograph, 1819 – 1860), „Duell auf Schläger“, Jena WS 1858/59.

Abb. 4  François Georgin (Holzschneider, 1801 – 1863), „Insurrection de Francfort“, um 1833.

Studentische Korporationen und politisch-sozialer Wandel Modernisierung und Antimodernismus

Studentische Verbindungen sind – in historischer Perspektive – eine eigentümliche Erscheinung der deutschen Kulturwelt. Ihre Entwicklung vollzog sich unter den Bedingungen der spezifisch deutschen Universitätsverfassung; ihre Geschichte ist eng verknüpft mit den ideologischen und politischen Bewegungen innerhalb der deutschen (mit Einschluss der österreichischen) Führungsschichten des 19. und 20. Jahrhunderts und gehört damit durchaus in den Bezugsrahmen dessen, was seit längerem als „deutscher Sonderweg“ in schmerzhafter Aufarbeitung kontrovers diskutiert wird. Korporationen waren – mehr oder weniger intensiv und mit vielen Schattierungen selbstverständlich – bei all ihren burlesken Zügen im Horizont studentischer Subkultur stets auch ein Teil der deutschen Nationalbewegung und teilten daher deren Höhen und Tiefen in besonderer Weise. Nicht zufällig gerieten sie dann auch mit dem Ende des deutschen Nationalstaates in eine nachhaltige Krise, die, zunächst scheinrestaurativ verdeckt, auf längere Sicht ihren Abstieg umso unerbittlicher herbeiführte, als zugleich ihre traditionellen Geselligkeits­formen und Riten den sozialen Bedingungen studentischer Existenz kaum mehr entsprachen. Thomas Nipperdey hat im Rahmen seiner sehr eingehenden und instruktiven Darstellung des Bildungswesens und der Bildungssozialgeschichte, die – wie die kulturgeschichtlichen Kapitel insgesamt – seiner Synthese der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts den Rang des Unverwechselbaren verleiht, auch dem studentischen Verbindungswesen eine notwendigerweise knappe Skizze gewidmet. Sie hebt, bei insgesamt kritischer Bewertung, vor allem auf die sozialen Funktionen und politisch-sozialen Orientierungen der Korporationen in der spätbürgerlichen Welt des Deutschen Kaiserreichs ab. Wie bereits Max Weber („Avancements-Versicherungsanstalten“) erblickt auch Nipperdey im Patro­nagewesen die Hauptfunktion der zu „Lebensbünden“ konsolidierten Verbände; die schon zeitgenössische Kritik aufgreifend, stellt er die sozialen Abgrenzungstendenzen und aggressiven Elemente der Gruppenriten, der Konfliktspiele um „Ehre“ und „Satisfaktion“, der postliberalen ‚feudalen‘ Mentalitäten und Prätentionen scharf heraus. Der nach der Reichsgründung sich ausbreitende „Normal-Nationalismus“ auf der Basis des konservativ-liberalen Konsenses wird als zunehmend illiberale und antisemitische ideologische Grundströmung von dürftiger geistiger Qualität den Reformimpulsen der vormärzlichen Studentenbewegung gegenübergestellt. Aber auch den reformerischen Aktivitäten der freien Studentenschaft seit der Jahrhundertwende und der auf die Universitäten durchschlagenden Aufbruchstimmung der Jugendbewegung attestiert der Autor das für die Kontinuitätslinie studentischer „Bewegung“ entscheidende Mehr an

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Spontaneität, Lebendigkeit und geistig-moralischer Substanz gegenüber dem konventionellen Korporationswesen. Letzteres erscheint – historisch mit dem Höhepunkt seiner Geltung z­ wischen Urburschenschaft und Jugendbewegung angesiedelt – als zugleich gesellschaftlich ambitionierte und prätentiöse, jedoch geistig steril gewordene und ideologisch in den Riten und ­Sitten vielfach von Rohheit bestimmte akademische Subkultur, der die neudeutschen Führungsschichten fast durchweg zugehören. Dieses historische Urteil, das durchaus ein Resümee moderner bildungs- und sozialgeschichtlicher Forschung bietet, dürfte Bestand haben. Doch lässt sich das Phänomen des Korporationswesens gerade im kritischen Zugriff erheblich weiter ausloten, wenn nicht nur seine sozialen Funktionen und seine Erscheinungsformen in der Gegenwart des Kaiserreichs in den Blick genommen, sondern auch seine konstitutiven ideologischen Vorstellungen einer Analyse unterworfen werden. Sie erschließen sich nur im historischen Rückbezug auf die alteuropäische Universität, vor allem aber auf die ‚deutsche Bewegung‘ der Reform- und Restaurationsepoche. Die Tatsache, dass dieser Traditionsbestand seit der Reichsgründungszeit nicht nur ideologisch verschoben wurde, sondern vor allem zu einer epigonalen und hohlen Phrasendrescherei auf niedrigem gedanklichen Niveau herunterkam, entbindet selbstverständlich nicht von seiner Beachtung als eines relevanten Faktors für die Sozialisation großer Teile der maßgebenden Funktionseliten in Verwaltung, Rechtsprechung, Erziehung und Kultur. Der eigentümliche Inhalt der in den Korporationen gepflegten Traditionen und Erziehungsideale, insbesondere aber deren historisierende Einkleidung provoziert, zumal es sich um ein genuin deutsches Phänomen handelt, notwendigerweise die Frage nach den spezifischen mentalen Dispositionen und Bedürfnissen, die ­diesem „heimlichen Curriculum“ (Jarausch) der akademischen Bildung in Deutschland zugrunde lag. Diese Frage führt in das ­Spannungsfeld von Modernisierung und Antimodernismus und damit auf einen Interpretationsrahmen zurück, der gerade auch Thomas Nipperdeys Sicht auf die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts entscheidend bestimmt.

I Eine historische Rückbesinnung auf die Entstehungsbedingungen der studentischen Korporationen lenkt den Blick auf Besonderheiten der deutschen Universitätsentwicklung, die bereits in der Reformationszeit einsetzten und sich ­später im ­­Zeichen der Humboldt’schen Reform verstärkten. Während die Universitäten in Frankreich und England in den mittelalterlichen Formen autonomer Korporationen verharrten, nahm sich in Deutschland in den Auseinandersetzungen der Reformationszeit der werdende Territorialstaat in stärkerem Maße der akademischen Ausbildung an. In ­diesem Prozess wandelte sich zugleich die Lebenswelt der Studenten. Der Exodus aus den Kollegien und Bursen beendete das Zusammenleben in quasi-klösterlichen

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Gemeinschaften und eröffnete für die materiell Ungebundeneren die Möglichkeit des freien Logierens. Damit ging eine Zunahme sozialer Differenzierung der Studentenschaft einher. Das Erfordernis juristischer Studien für die Spitzenpositionen in der landesfürstlichen Verwaltung zog die Söhne des Adels stärker an die Universitäten und unterwarf sie – mehr oder minder intensiv – ‚bürgerlichem‘ Lern- und Leistungsverhalten; zusammen mit den Söhnen des vermögenden Bürgertums bildeten sie die studentische Oberschicht, deren Ausbildungsinteresse vorrangig in der Juristischen Fakultät lag. Von hier spannte sich der Bogen zu den ärmlichen Stipendiaten der Theologie, Geschöpfen der kirchlichen Nachwuchsförderung im katholischen wie evangelischen Bereich auf der Basis einer Vielzahl von Stiftungseinrichtungen. Sie lebten nach wie vor in Konvikten und galten als Studenten zweiter Klasse. Über alle Universitätsangehörige wölbte sich der traditionelle korporative Sonderstatus, der sie von der gewöhnlichen Bürgerschaft abhob und der in der autonomen akademischen Gerichtsbarkeit seinen wichtigsten institutionellen Rückhalt hatte. In seinem Rahmen entfalteten sich die Ansprüche einer spezifischen „Burschenfreiheit“ gegenüber den Aufsichtsrechten der akademischen Behörden. Ein Großteil der Studenten stand noch in einem Alter unabgeschlossener Erziehung. Im Unterschied jedoch zu den Lebensformen etwa der beiden englischen Universitäten oder der ­später ihnen nachgebildeten amerikanischen Colleges, die ­diesem Erziehungsaspekt Rechnung trugen, blieb die erzieherische bzw. disziplinarische Aufsicht über die deutschen Studenten in dem Grade, wie die entsprechenden Einrichtungen der Auflösung verfallen bzw. nicht durch Konvikte ersetzt worden waren, unvollkommen und in ihrer Geltung prekär. Auf diese Weise entstanden Freiräume, die durch Formen jugendlicher ‚Selbsterziehung‘ gefüllt wurden. Sie folgte Mustern der Rottenbildung mit jugendspezifischen Gruppenriten und Ehrenkodizes, die durch ein hohes Maß an Aggressivität bei der gruppeninternen Hierarchiebildung wie im solidarischen Auftreten nach außen gekennzeichnet waren. Ihre Träger waren die sogenannten Landsmannschaften, die in vager Nachahmung der älteren ‚nationes‘ die Studenten nach Herkunftsregionen zu formieren suchten. Hier vor allem lebte der sogenannte Pennalismus sich aus, der an die Stelle sozialer Herkunftsunterschiede die Herrschaft der Älteren über die Jüngeren setzte und in dessen Rahmen die kollektiven Raufereien organisiert wurden. Im 17. Jahrhundert wurde in Deutschland als Wirkung des Dreißigjährigen Krieges das Waffentragen üblich, und mit ihm breitete sich das Duellwesen aus. Die damit einhergehende Ausprägung spezifisch studentischer – kollektivkorporativer und auch individualitätsbezogener – Ehrbegriffe verschmolz das jugendliche Raufbedürfnis mit der adelig-libertären Tradition autonomer Selbstjustiz, die als gesunkenes feudales Kulturgut der Studentenkultur dauerhafte Strukturelemente eingrub. Denn die Disziplinierungsbemühungen der akademischen Behörden führten niemals zur Abschaffung ­dieses Duellwesens, sondern in der Hauptsache zu seiner Kanalisierung, Formalisierung und Ritualisierung im Rahmen eines von Ort zu Ort variierenden „Komments“, der die Gesamtheit der studentischen Umgangsformen zu regeln trachtete.

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Ihn zu überwachen nahmen die Landsmannschaften in ihrer Gesamtheit, repräsentiert durch den örtlichen Konvent ihrer Senioren, als ihre Aufgabe in Anspruch: eine mehr oder minder fiktive ‚Repräsentation‘ der Gesamtstudentenschaft. In den Verhaltensmustern war die Spannweite vom Typ des draufgängerischen „Renommisten“ bis zum armen und frommen „Mucker“ der Konvikte denkbar groß. In ihrer Masse dürften die Studenten eher die drangsalierten Objekte des Komments gewesen sein. Für die Geschichte der deutschen Studentenschaft des folgenden Jahrhunderts wurde es aber von wesentlicher Bedeutung, dass in den Freiräumen studentischer Selbsterziehung eine ritualisierte Form gewaltsamen Konfliktspiels und gewaltsamer Konfliktregulierung frühzeitig fest verankert worden ist. Dieser Prozess wurde nun freilich seit dem späten 18. Jahrhundert von immer neuen Gegenströmungen begleitet, in denen Gegeneliten andere Formen einer von Reformvorstellungen getragenen Studentenkultur zu verwirklichen oder sogar allgemein durchzusetzen trachteten. Das 18. Jahrhundert sah im ­­Zeichen aufklärerischer Universitätsformen auch erste Impulse zur Reformierung der studentischen Kultur, freilich nur in lokal begrenzten Ansätzen. Neben den Landsmannschaften bildeten sich im Zusammenhang mit dem verbreiteten Logenwesen und als deren Nachwuchsorganisationen studentische Orden aus. Sie verbanden mit dem ritualistischen und geheimbündlerischen Element ein neues Selbsterziehungsideal im Sinne einer stärkeren Individualisierung und Sublimierung des Ehrbegriffes und der Affektbewältigung sowie ein gewachsenes Interesse an Bildung und selbstverantwortlicher Gestaltung von Studium und Berufsvorbereitung. Den Orden zur Seite trat im Zuge des aufklärerischen Sozietätswesens eine Vielzahl studentischer Diskutier­zirkel, gelehrter Sozietäten und Sodalitäten, Kränzchen, Bibelgesellschaften und poetischer Gesellschaften. Sie alle strebten bei unterschiedlicher Inhaltsbestimmung nach Verinnerlichung der Studentenrolle im Sinne der Erziehungsideale des Jahrhunderts. In der Frühphase der Französischen Revolution ist eine Politisierung mancher Zirkel unverkennbar. Opposition gegen den Rauf- und Saufkomment spielten in dieser Bewegung eine wesentliche Rolle. Unübersehbar kündigte sich in diesen Aktivitäten ein Reformwille an, der nach den Freiheitskriegen in inhaltlich neuer Wendung auch die Burschen­schaftsbewegung tragen sollte. Diese Wendung vollzog sich dann unter den neuen Rahmen­bedingungen, die durch die Humboldt’sche Universitätsreform gesetzt wurden. Das neue Konzept von Erziehung und Bildung sowie das darauf fußende Studienprogramm sind bekannt. Die Studenten wurden von Lehrplänen und Zwischenprüfungen entbunden: Der Lehrfreiheit entsprach die Lernfreiheit. In mündiger Selbstbestimmung sollten sie sich bei der Wahl ihrer Gegenstände nur vom Erkenntnisdrang und vom Erkenntniswert der Sache leiten lassen. Der Status der Studenten wurde ausschließlich von seinem individuellen Bezug zur Wissenschaft her definiert; nur der Imperativ zur geistigen Selbsterziehung und Selbstausbildung sollte gelten. Jeder sonstige, etwa auch auf die studentische Gemeinschaft gerichtete universitäre Erziehungsauftrag wurde rigoroser denn je zuvor ausgeschlossen. Dieser Ausschluss kennzeichnet die vielberufene ‚Lücke‘

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des Humboldt’schen Systems, das dann in der Folge von dem Erziehungsanspruch der studentischen Korporationen gefüllt wurde. Für die Studenten hieß Lernfreiheit die Lösung von Stundenplan und schulmäßiger Studiendisziplin, freie Wahl des Kollegs und in der Praxis vor allem auch Freiheit vom Lernen und Zeit für andere Aktivitäten, die dem freien „Burschenleben“ und der politischen Betätigung zugutekam. Die Bedeutung des Erlebnisses der „Freiheitskriege“ für die Politisierung der Studentenschaft ist bekannt. Zu beachten ist dabei, dass sich mit den nationalpolitischen Zielen der Urburschenschaft zugleich ein Programm zur Erneuerung des studentischen Lebens verband. Schon jetzt soll allerdings betont werden, dass die Burschenschaft insgesamt ihren Anspruch auf Allgemeinheit niemals durchsetzen konnte. Neben ihr und gegen sie formierten sich die Verbindungen älteren Typs zu modernen Corps, durch deren Existenz und Wirken der hergebrachte „Komment“ fortlebte und sich verfestigte. Die Burschenschaften wurden auf diese Weise auf längere Sichte zu einer Korporation unter anderen. Gegenüber der älteren historiographischen Tradition, die aus der Perspektive der politischen Nationalgeschichte gern das Neue, den Aufbruchcharakter dieser ersten großen Jugendbewegung betonte, hat Wolfgang Hardtwig in einer Reihe von Studien die Kontinuitätslinien der burschenschaftlichen Reformbewegung zu den oben skizzierten älteren Reformbestrebungen im Zeitalter der Aufklärung und Empfindsamkeit herausgestellt. Beachtet man die beiden Bewegungen gemeinsamen Elemente des Erziehungsprogramms, nämlich die Leitvorstellungen der Persönlichkeitsbildung durch Affektbeherrschung, Gesittung und Disziplinierung, die Betonung von Ehrbarkeit und Moralität, speziell einer neuen Sexualmoral, das Ernstnehmen von Bildung und Berufsvorbereitung im Studiengang, so lässt sich in der Tat die These begründen, dass die Burschenschaftsbewegung im entscheidenden Kern Teil der bürgerlichen Bewegung war, demgegenüber die fortwirkenden Beimengungen ‚feudaler‘ Mentalität in Waffenführung und korporatistischem Ehrenkodex nicht überbetont werden dürfen. Ein Blick auf die frühe Burschenschaftsgeschichte zeigt sogleich, dass s­ olche ‚bürgerlichen‘ Werthaltungen im Prozess der innerstudentischen Polarisierungen und Spaltungen vor allem in der „arminischen“ Richtung kultiviert wurden, auf deren programmatische Aussagen Hardtwig sich nicht zufällig wesentlich stützt. Hier wurde in Abgrenzung zum politischen Aktivismus und Draufgängertum der „Germanen“, aber auch zu deren konspirativem Gebaren in der Tat der Gedanke der Selbsterziehung, Reifung und Vorbereitung auf späteres berufliches Wirken für politische Ziele als wichtigste Aufgabe des burschenschaftlichen Lebens formuliert. Aber auch wenn der Blick den Komplex der innerstudentischen Lebensreform verlässt und auf das Feld der politischen Programme im herkömmlichen engeren Sinn übergeht, lassen sich Elemente eines Gleichklangs mit der liberal-konstitutionellen bürgerlichen Bewegung ausmachen. Die Programmentwürfe der Allgemeinen Deutschen Burschenschaft von 1818 enthielten einen geradezu klassischen Katalog nationaler Verfassungsforderungen, der zugleich die Rezeption der westeuropäischen Grundrechtstradition belegt: Politische, religiöse und wirtschaftliche Einheit Deutschlands, Entwicklung seiner

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Wehrkraft, konstitutionelle Nationalmonarchie und Erfüllung von Artikel 13 der Bundes­ akte in den Einzelstaaten, Ministerverantwortlichkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, öffentliches Gerichtsverfahren, Geschworenengerichte, kommunale Polizei, Sicherheit der Person und des Eigentums, keine Geburtsvorrechte, keine Leibeigenschaft, Rede- und Pressefreiheit. Auch der Radikalismus der Gießener und Heidelberger „Unbedingten“ oder „Schwarzen“ verband mit der etwas düsteren Religiosität und den Irrationalismen einer Philosophie der „Überzeugungstat“ jakobinisch-egalitäre und republikanische Anschauungen. Seine Vertreter suchten den Kontakt mit dem Volk, beteiligten sich an der bekannten südwestdeutschen Adressbewegung zur Einforderung der Verfassungsversprechen, betätigten sich als Advokaten in bäuerlichen Prozessen und agitierten im ländlichen Oberhessen mit einem sozialkritischen Frage- und Antwortbüchlein, das Büchners „Hessischen Landboten“ gewissermaßen vorwegnahm. Von den studentischen Aktivisten, die in den revolutionären Bewegungen nach 1830 mit den bürgerlichen Vertretern des entschiedenen Liberalismus gemeinsame Sache machten, führt die Kontinuitätslinie zur studentischen „Progreß“-Bewegung der 1840er Jahre und zur Märzrevolution. Während die Burschenschafter der ersten Generationen – von der Casino-Partei bis in den Donnersberg reichend – die Abgeordnetensitze der Paulskirche einnahmen, waren die Studenten teilweise (wie etwa in Wien) auf den Barrikaden und Arm in Arm mit den Arbeitern anzutreffen, während sie sich andernorts zur Sicherung von Eigentum, Ordnung und Gesetzlichkeit in die Bürgergarden einreihten. Die Nachfahren der entschieden liberalen Tradition präsentierten als Vertreter des „Progreß“ auf dem Pfingstkongress von 1848 auf der Wartburg – jetzt bereits in scharfer Auseinandersetzung mit den Repräsentanten der Corps und des rechten Flügels der Burschenschaft – ein Programm der Universitätsreform, das die seit ‚Humboldt‘ partiell reformierte Insti­ tution in eine ‚moderne‘, sowohl wissenschaftspolitisch als auch gesellschaftspolitisch weitaus offenere Ausbildungsstätte zu verwandeln trachtete: Als „Nationaleigentum“ bei unmittelbarer Unterstellung unter ein künftiges Reichs-Unterrichtsministerium sollten die Universitäten unter Wahrung des Grundsatzes korporativer Selbstverwaltung und unter Sicherung der unbedingten Lehr- und Hörfreiheit die hergebrachte Fakultätseinteilung auflösen und künftig die „ganze Wissenschaft“ vertreten, also die mit der neuhumanistischen Reform weitgehend ausgeschlossenen Realien (wieder) einbeziehen, die Studenten an Selbstverwaltung und Berufungsverfahren beteiligen, das Universitätsmonopol im staatlichen Laufbahnzugang beseitigen und übrigens auch die universitäre Gerichtsbarkeit als Immunitätsprivileg abschaffen. Diese Andeutungen und beispielhaften Hervorhebungen aus den drei Kumulations­ epochen der politischen Studentenbewegung mögen als Beleg dafür genügen, auch nach dieser Richtung hin studentisches Bewusstsein und Bestrebungen als Teil der Entfaltung bürgerlichen Bewusstseins und bürgerlicher politischer Bewegung auszuweisen. Sozial-partizipatorische Mobilisierung, Leistungsorientierung und Berufsorientierung, politisches Teilhabeverlangen im nationalstaatlichen Rahmen und auf

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individualrechtlich-konstitutioneller Basis bezeichnen den durchaus ‚modernen‘ allgemeinen Rahmen, innerhalb dessen sich dann im studentischen Milieu ganz analoge Differenzierungen z­ wischen gemäßigten und entschiedenen bis radikalen Richtungen herausbilden, wie sie für die bürgerlich-liberale Bewegung im Ganzen galten. Der „Germanen-Arminen“-Streit in der Frühgeschichte der Burschenschaft zeigt dies ebenso wie die Parteinahme und die Auseinandersetzungen im Revolutionsjahr 1848. Eine ähnliche Analogie gilt für den historischen Rhythmus dieser Bewegungen bis zu ihrer Vereinzelung und Marginalisierung in der Reaktionszeit der 1850er Jahre. Während aber der politische Liberalismus im Zeichen ­­ des ‚Realismus‘ auch in der nachfolgenden Reichsgründungszeit unter veränderten Bedingungen und verschobenen Zielsetzungen eine wirkungsmächtige Kraft blieb, wurde die Jahrhundertmitte für das politische Studententum tatsächlich zum Abschluss einer Epoche. Die nachfolgenden Studentengenerationen verstanden sich als ‚unpolitisch‘, und die Gesinnungsmanifestationen ihres korporativ organisierten Teils nahmen den Charakter systemaffirmativer ‚national‘ orientierter Traditionspflege an. Für die studentische Subkultur im Ganzen, ihr Assoziationswesen und ihre Geselligkeitsformen gilt dieser Befund eines reinen Verharrens jedoch keineswegs in gleichem Maße. Wie schon in der Zeit des aufgeklärten Sozietätswesens und dann der Urburschenschaft brachte das sich differenzierende Bedürfnis nach emotionalem und geistigem Austausch, nach Abgrenzung vom herrschenden „Komment“ neue Verbindungstypen mit alternativen Zielen und Aktivitäten hervor. Schon in den 1840er Jahren entstand im Zeichen ­­ der konfessionellen Erweckungsbewegungen der Wingolf­-Bund, der die Studenten auf allgemein-religiöser Grundlage zusammenführen wollte, faktisch jedoch auf den protestantischen Bereich beschränkt blieb; politisch verhielt er sich deutlich konservativ. In den 1850er Jahren begann die Formierung der katholischen Verbindungen; sie war Teil der neuen Politisierung des Katholizismus und der entsprechenden Nutzbarmachung des modernen Assoziationswesens im katholischen Milieu. Entsprechend deutlich waren die kirchlichen Lenkungsansprüche; mit dem strikten päpstlichen Duell- und Mensurverbot erhielten diese Verbände zudem ein Element deutlicher Abgrenzung vom traditionellen Korporatismus. Stärker an den korporativen Normen der Corps und der konservativ gewordenen Burschen­ schaften orientiert waren die Landsmannschaften, Turnerschaften und Sängerschaften. Von ihnen führt der Weg zu den Akademischen Turn- und Gesangvereinen, die den bürgerlichen Vereinstypus in die Universitätssphäre übertrugen; daneben entfaltete sich eine Vielzahl von wissenschaftlichen und speziellen Fachvereinigungen aller Art. Mit dem Verein deutscher Studenten, der im Gefolge der Stöcker-Bewegung entstand, ­bildete sich so etwas wie die erste politische Hochschulgruppe – mit prononciert nationalistischer und antisemitischer Orientierung. In der Spätphase des Wilhelminismus fand schließlich das Aufkommen der Jugendbewegung seine Verlängerung in der studen­ tischen Verbandsbildung.

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II Diese breitgefächerte Diversifikation folgt, so will es scheinen, genau dem ‚modernen‘ Prozess soziokultureller Differenzierung, der der Entfaltung breiter Bedürfnisspektren und ihrer spezialisierten und partikularisierten Befriedigungssuche entspricht. Anderer­ seits wurde dieser Pluralismus von wichtigen Gemeinsamkeiten der ideologischen Grundstimmung des ‚Nationalen‘ und vor allem der sozialen Verhaltensmuster überwölbt. Die Mannigfaltigkeit der Verbände unterlag informellen, aber sehr wirksamen Rangabstufungen, deren Spitze die Corps einnahmen, gefolgt von den nunmehr korporativ verfestigten Burschenschaften, den weiteren schlagenden, dann den ‚nur‘ farbentragenden Verbindungen bis hinunter zu jenen Verbindungstypen, in denen das Korporationsprinzip in das Vereinsprinzip überging. Tonangebend war das „Waffenstudententum“ der führenden Verbände: Von ihrem Verbindungsstil ging ganz offenbar eine unwiderstehliche Sogwirkung aus. Sie zeigt sich am deutlichsten in einer Tendenz der ‚Korporisierung‘ der freieren Vereinsbildungen, die für die Zeit des Kaiserreichs und auch noch der Weimarer Republik höchst bezeichnend ist: Sei es, dass man von vornherein Anlehnung an das korporative Vorbild suchte, sei es, dass man nach ursprünglich moderneren vereinsmäßigen Anfängen sich im Lauf der Zeit d ­ iesem Vorbild anpasste – als Faustregel gilt die Orientierung an den nächst ‚höheren‘ Stufen der informellen Korporationshierarchie. Farbentragende, aber ursprünglich nicht schlagende Verbindungen gingen demnach (mit Ausnahme der konfessionell gehinderten) zur Bestimmungsmensur und zur Gewährung „unbedingter Satisfaktion“ über, ursprünglich „schwarze“ Vereinigungen übernahmen korporative Attribute wie vor allem das Lebensbundprinzip, Wahlsprüche und Devisen, die Couleur oder wenigstens den Chargenwichs, Farben, Embleme usw. Alle aber hatten sich insbesondere mit dem Problem der Satisfaktion auseinanderzusetzen; in der Rezeption des spezifisch korporativen Ehrbegriffs und seiner waffenmäßigen Verteidigung, ohne die die Gruppenreputation nicht haltbar zu sein schien, zeigt sich die Dominanz korporativer Werthaltungen besonders zugespitzt. Die Respektierung der korporativen Attitüden und speziell des Ehrbegriffs galt als Normalverhalten; die Legitimationslast lag bei denen, die sich ­diesem Kodex verweigerten. Dieses erklärungsbedürftige Phänomen des studentischen Korporatismus im Kaiserreich verweist durchaus zurück auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts und die davorliegende Frühzeit deutscher Studentengeschichte. Gegenüber der (als Teilaspekt durchaus begründeten) Tendenz, das Auftreten und Verschwinden politisierter Studentengruppen zum maßgebenden Kriterium epochaler Abgrenzungen zu erheben und insbesondere die patriotisch-‚progressiven‘ studentischen Bestrebungen der Restaurations- und Vormärzzeit mit positiver Wertung dem ‚reaktionären‘ Korporationsstil des Kaiser­reiches entgegenzusetzen, sind die Kontinuitätslinien studentischer Subkultur nicht außer Acht zu lassen. Bereits in der Aufbruchszeit nach den Freiheitskriegen war nicht nur das

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Gesamtpanorama dieser Subkultur von heterogenen Tendenzen bestimmt, sondern stand auch die urburschenschaftliche Reformbewegung selbst deutlich in der Spannung ‚moderner‘ und ‚antimoderner‘ Tendenzen. Es wurde bereits betont, dass es der burschenschaftlichen Bewegung niemals gelang, ihren Anspruch auf „Allgemeinheit“ durchzusetzen. Die Landsmannschaften alten Stils behaupteten sich durchgehend und beherrschten dank der bald einsetzenden Verfolgung der Burschenschaften auch rasch wieder die Szene. Mit ihnen behauptete sich der tradi­ tionelle „Komment“ mit seinem zentralen Element der studentischen „Ehre“ und der darauf bezogenen spielerisch-ernsten Ehrenhändel. Der naturhafte jugendliche Überschuss an Aggressivität, durchaus gespeist aus Geltungstrieb und Verletzbarkeit, wie dies der Stufe noch ungefestigter Charakterbildung entspricht, fand damit seinen spezifischen Ausdruck in einem Konfliktspiel, das mit seinem ständisch­korporativen Bezugsrahmen traditionsverhaftet war und ein vormodernes Relikt darstellte. Noch deutlicher zeigt die ausschließliche Verwendung der historisch älteren Hieb- und Stichwaffen – nicht etwa der zeitgemäßen und gefährlicheren Schusswaffen –, dass das Konfliktspiel in einer historisierenden Verkleidung vor sich ging, die ihm zugleich die letzte und unbedingte Ernsthaftigkeit nahm. Tödlicher Ausgang war aber keineswegs ausgeschlossen und kam auch häufig vor; der Kitzel des Todes blieb in d ­ iesem ‚ritterlichen‘ Zweikampf sehr wohl bestehen. Eine Einschränkung der inflationistischen Duellwut war nun durchaus ein Anliegen der studentischen Reformbewegung seit dem späten 18. Jahrhundert. Nur wenige Stimmen stellten dabei jedoch die Figur des Ehrenhandels prinzipiell infrage; es ging weithin vor allem um die Eindämmung des Renommistentums, der ewigen Plage raufsüchtiger Provokationen, der tumultuarischen kollektiven Auseinandersetzungen ­zwischen Vereinigungen um die Korporationsehre mithilfe der Einrichtung von Ehrengerichten. Der Ehrbegriff sollte sublimiert und bedingt auch individualisiert, Ehrenhändel auf die wirklich ernsten Fälle der Ehrverletzung beschränkt werden. Das Prinzip der Integrität personaler Ehre und ihrer waffenmäßigen Verteidigung wurde damit aber durchaus bestätigt. In der Praxis entzogen sich auch die Burschenschafter, schon um ihres Ansehens willen, keineswegs den geltenden Normen des Ehrenkodex durch Duellverweigerung. Zur gleichen Zeit erfuhr die Faszination des atavistischen Waffenkultes von ganz anderer Seite neue Schubkraft: Das Erlebnis der siegreichen Freiheitskriege und die sie begleitende patriotische Gemütserhebung gerade auch an den Universitäten brachten eine vertiefte Wertschätzung nationaler Wehrhaftigkeit hervor, mit der nun auch die studentischen Waffenspiele in Verbindung gebracht wurden. „Wenn es gilt fürs Vaterland, schnell die Klingen dann zur Hand“ – s­ olche Bekundung patriotischer Kriegs­ bereitschaft bedient sich selbstverständlich einer metaphorischen Redeweise. Gleichwohl suggeriert diese Art studentischer Kampfeslyrik in ihrem massenhaften Auftreten eine Vorstellung vom Krieg, die schon damals dem Stand der Waffentechnik und dem Kriegsgeschehen insgesamt längst nicht mehr entsprach. Krieg – das war demnach agonales Zweikampfgeschehen, Ritterspiel im Großen, Ehrenhandel auf nationaler Ebene.

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Die Leier-und-Schwert-Metaphorik im Gefolge Theodor Körners umgibt den Gesamtkomplex zugleich mit der Aura des „schönen Todes“. Damit wäre die romantische Dimension jener Studentenbewegung näherhin als Teil des dem 19. Jahrhundert eigentümlichen Historismus (im Sinne einer gesamtkulturellen Erscheinung) zu kennzeichnen. Selbstvergewisserung in der Historie und durch die Historie als ästhetisierendes Verkleidungsspiel – dies manifestierte sich ja nicht nur in der Tradierung und neuartigen emotionalen Aufladung des Zweikampf- und Fehdewesens, sondern auch in der Übernahme ritterlicher Feldzeichen, „Paniere“, Devisen, Wahlsprüche. Neu hinzu kam die Identifikationssuche in der bekennerischen Hervorhebung dessen, was man für „altdeutsche Tracht“ hielt. Die Funktion des Nationalismus als Abwehrideologie zeigt sich an der Betonung des „Christlich-Deutschen“ oder „Christlich-Germanischen“ und seinen antijüdischen (auch antikatholischen) Implikaten; der landläufige Franzosenhass führte etwa dazu, dass unter den 1817 auf der Wartburg verbrannten Büchern sich auch ein Code Napoléon befand. Der Rückgriff auf die Historie als Rückbesinnung auf das ‚Eigene‘ enthielt in der studentischen Bewegung dieselben anti-‚westlichen‘, antiaufklärerischen Elemente, wie sie für die ‚deutsche Bewegung‘ der Epoche insgesamt charakteristisch sind. Sie gehen mit den weiter oben konstatierten Momenten der Rezeption westlichen Verfassungsdenkens eine eigenartige Verbindung ein, wobei der Rekurs auf das „Volkstümliche“ die ideologische Vermittlungsebene beider Bereiche darstellt. Hieran zeigt sich, dass die Suche nach den historischen ‚Wurzeln‘ des ständisch-homogen gedachten ‚Volkes‘ durchaus ein spezifisch ideologischer Ausdruck bürgerlichen Emanzipationsstrebens darstellte. Nicht auf diesen geläufigen Sachverhalt soll aber im Zusammenhang unserer Überlegung das Gewicht gelegt, sondern vor allem beachtet werden, dass der historistischen Selbstvergewisserung im Studentenmilieu immer auch das Moment des Spiels, der Kostümierung anhaftete. Sie war auf einer Ebene der Uneigentlichkeit angesiedelt. Besonders verräterisch ist in dieser Hinsicht die archaisierende Namengebung der Verbindungen: ein Eintauchen in die Traumwelt des „Germanischen“ der Völkerwande­ rungszeit, wobei auch hier wieder das Vorständische der ursprünglichen Volkseinheit mit der Suggestion von Tiefe und Ursprünglichkeit verknüpft erscheint. Für den modernen Betrachter tun sich hier durchaus Grenzen des historischen ‚Verstehens‘ im Sinne eines Nachvollzugs der Motivstruktur auf: Lässt sich für die Richtungskämpfe innerhalb der burschenschaftlichen Bewegung und die daraus hervorgehenden organisatorischen Spaltungen durchaus ein plausibler Interpretationsansatz gewinnen, so bleibt der emotionale Zugang zu der damit verbundenen Namenwahl – „Germania“, „Arminia“, „Teutonia“ – doch durch gewisse Hürden verstellt. Dasselbe gilt für die mit der Diversifikation des Korporationswesens aufkommende Vorliebe für die germanischen Stämme der Völkerwanderungszeit oder für untergegangene Dynastien: also etwa „Gotia“, „Vandalia“, „Cheruscia“, „Markomannia“, „Alemannia“, „Langobardia“, „Normannia“ oder „Nibelungia“, „Staufia“, „Salia“ etc. Aber auch die traditionellen heimatlichen

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Herkunftsnamen aus der frühneuzeitlichen Phase der alten Landsmannschaften nahmen mit dem Verschwinden einer tatsächlich landsmännischen Mitgliederrekrutierung den Charakter eines gemüthaft­historisierenden Zitates an, ­seien es nun die älteren deutschen Stammesnamen („Saxonia“, „Suebia“ etc.) oder jüngere Staaten- und Territorialbezeichnungen („Nassovia“, „Borussia“, „Silesia“ etc.). Ein Hauch von archaischen Heerzügen, urtümlicher Bluts- und Kampfgemeinschaft schwebte also über dieser studentischen Subkultur und verlieh der Kostümierung eine Dimension des Geheimnisvoll-Erhabenen. Eine Tendenz zur Arkanpolitik und zur Mystifikation des Gruppenlebens haftet Männerbünden durchaus ganz allgemein an und geht mit ihrem Auftreten überall in der zivilisierten Welt einher, wobei diese Erscheinungen sich mit der Bedeutsamkeit bzw. Gefährlichkeit einer politischen Rolle intensivieren, aber auch im alltäglicheren Vereins- und Clubleben nicht gänzlich fehlen, namentlich wenn gesellschaftliche Führungsrollen beansprucht und verdeckte Einflussnahme betrieben werden. In gleicher Weise gilt dies für den individuellen und kollektiven Geltungstrieb, der sich in Kostümierungen, Trachten, Uniformen und ­­Zeichen aller Art manifestiert. Das wäre also nicht weiter signifikant. Fragt man mit Blick auf die deutschen Studentenverbindungen nach den nationalen und epochalen Spezifika des männerbündischen Wesens, so wäre resümierend auf die historistische Emotionalisierung der Gruppen­ riten und der Gruppenideologie zu verweisen. Sie bezeichnet nach den Freiheitskriegen zugleich das Neue gegenüber der Studentenkultur der vorangegangenen Epoche von Aufklärung und Empfindsamkeit. Von Anfang an war also die deutsche Studentenbewegung in ihren grundlegenden Tendenzen mehrdeutig. Als Teil der bürgerlichen Bewegung übernahm sie politische Partizipationsziele im nationalen Rahmen wie auch Ziele integraler Persönlichkeitsbildung und einer modernen Sozialdisziplinierung; zugleich aber setzte sie die ältere Tradition des Korporatismus und einer universitätsspezifischen ständischen Libertät fort, überhöhte sie jedoch emotional und ideologisch durch ihren Rückbezug auf vermeintliche frühgeschichtliche Grundbestände des Nationalen. Ein solcher Rückbezug bedeutete aber auch zugleich eine Überführung politischer Vorstellungen wie auch der Ideale des studentischen Lebens in eine Traumwelt. Diese Archaisierung des Nationalen war zugleich egalisierender Abbau geburtsständischer Differenz und insofern wiederum (ideologischer) Ausdruck bürgerlichen Partizipationsstrebens. Bei aller internen relativen Egalisierung und Integration trugen die studentischen Gruppenriten, Spiele und Phantasmagorien jedoch andererseits wesentlich zur Affirmation eines spezifisch akademischen Standesdenkens bei, das sich nach außen scharf abgrenzte. Wichtigster Bezugspunkt ­dieses – durchaus im Statuserwerb begründeten – Standesdenkens blieb weiterhin der besondere korporative Ehrbegriff und die darauf ausgerichteten Konfliktspiele. In den Formen und Ritualen dieser Konfliktspiele waren ebenfalls altertümliche historische Muster wirksam, hier freilich in unbewusster Kontinuität und Adaption, nicht über den Umweg des historistischen Rückgriffs.

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Die besondere, durch Humboldt in dieser Hinsicht noch weiter profilierte deutsche Universitätsverfassung hielt d ­ iesem studentischen Leben den nötigen Freiraum bereit. Darüber hinaus wird man sagen können, dass das neuhumanistische Bildungskonzept mit seinen bildungsaristokratischen, an Persönlichkeitsformung und nicht an partikularfachlicher arbeitsteiliger Schulung orientierten Zielen auf seine Weise die neoständischen Aspekte der akademischen Welt ideologisch bestätigte und verstärkte.

III Als Gesamterscheinung entfaltete sich die Welt der studentischen Korporationen, wie eingangs betont, im ganzen 19. Jahrhundert kontinuierlich, wobei sich nun freilich die Rahmenbedingungen in der zweiten Jahrhunderthälfte wesentlich verbesserten. War ihr Bestand in Restaurations- und Vormärzzeit unter dem Vorzeichen der politischen Dema­ gogen- und Radikalenverfolgung und des dadurch genährten allgemeinen behördlichen Misstrauens noch prekär, so erfreuten sie sich – nach Überwindung gewisser reaktionärer Rückschläge der 1850er Jahre – im ­­Zeichen der deutschen Nationalstaatsgründung eines Zustandes gesellschaftlicher und politischer Etablierung sowie nicht zuletzt organisatorischer Konsolidierung. In alldem folgten sie den Grundtendenzen des ­bürgerlichen Aufstiegs und der bürgerlichen Einpassung in die spezifisch deutsche Lösung des nationalen und konstitutionellen Programms. Das bedeutsamste Formationselement für die organisatorische Verfestigung der Korporationen und ihre Zusammenfassung in nationsweit organisierten Richtungsverbänden bildete zweifellos die Durchsetzung des sogenannten Lebensbund-Prinzips. Die inter­generative Verklammerung gab den Verbindungen institutionellen Halt und Dauerhaftigkeit, machte die Altherrenschaften zum bestimmenden Faktor gegenüber den fluktuierenden Studentenpopulationen, sicherte diesen den nötigen materiellen Rückhalt und sorgte zugleich für ideologische und erzieherische Kontinuität. Dieses System gewährleistete auch die wichtigste gesellschaftliche Funktion der Verbindungen, die darin bestand, den akademischen Führungsnachwuchs zu rekrutieren und zu sozialisieren, Karrieren zu eröffnen und zu lenken, gesellschaftliche und familiäre Beziehungen zu knüpfen und mit alldem die Reproduktion der etablierten Schichten in ihren jeweiligen Ausrichtungen, durchaus in Pluralität und Wettbewerb, sicherzustellen. Die Bedeutsamkeit dieser Funktion nahm selbstverständlich nach oben hin zu, sie gipfelte in den exklusiven Corps und ihren Möglichkeiten der Chancenzuteilung im Bereich der politisch-administrativen Spitzenpositionen. Im Sinne solcher Rekrutierungserfordernisse verstanden sich die Korporationen, und hier natürlich wieder die exklusiveren mit der größten Relevanz, bewusst als Erziehungs- und Ausleseinstitute im Rahmen einer Elitebildung. Sie füllten damit objektiv wie nach ihrem Selbstverständnis jene ‚Humboldt’sche Lücke‘, die durch die Reduktion des

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deutschen Universitätskonzepts auf reine Wissenschaftlichkeit bedingt war. Institutionell beließ ihnen die laxe Studienpraxis, bei der unter der Flagge der „akademischen Freiheit“ – jedenfalls in der gesellschaftlich immer noch vorrangig relevanten Juristischen Fakultät – semesterlanges „Bummeln“ am Studienende durch Repetitorien und Examensbüffelei kompensiert wurde, hierfür auch die erforderlichen Freiräume in reichlichem Maße. Nicht so sehr in der Existenz derartiger Rekrutierungs- und Sozialisierungsinstitutionen als solcher liegt das Besondere der deutschen Situation – ­solche Funktionen werden in unterschiedlichen Formen stets und überall erfüllt. Vielmehr hat das Interesse auch hier wieder dem eigentümlichen Inhalt des korporativen Erziehungsideals zu gelten. Dabei muss man paradigmatisch vom Waffenstudententum als dem maßgeblichen Kern des Korporationswesens ausgehen. Die dort gepflegte und von der Altherrenschaft ferngesteuerte und überwachte Erziehung orientierte sich an einem Männlichkeitsideal, das in der traditionellen Auffassung von Ehre und ihrer waffenmäßigen Verteidigung nach wie vor sein Zentrum hatte, jedoch gegenüber der ersten Jahrhunderthälfte ein durchaus noch schärferes Profil gewann. Der Umgang mit Waffen wurde – unter Zurückdrängung der vordem üblichen tumultuarischen „Kontrahagen“ – durch die Trennung von Mensur und Duell systematisiert und bedingt auch domestiziert. Die als regelmäßige Pflichtübung organisierte, mit Hiebwaffen auszutragende Mensur grenzte die Lebensgefahr beim Zweikampf erheblich ein, setzte die Kontrahenten jedoch bewusst der Verletzungsgefahr aus und erhob die Verletzung zu einer entscheidenden Prüfung, an deren unbewegter Hinnahme der erreichte Grad der Persönlichkeitsbildung gemessen wurde. Dass die Gesichtsnarben („Schmisse“) sodann als sichtbares Initiationszeichen errungener Standeszugehörigkeit zur Schau getragen werden konnten, war ein weiterer integraler Zweck dieser Übungen. Mit riskantem Sport sollte d ­ ieses „Pauken“ nicht verwechselt werden, wenn sich in der Suche nach dem in der Gefahr liegenden ‚Nervenkitzel‘ auch Berührungspunkte ergeben. Eher ist die Verwandtschaft mit leichtfertig-gefährlichen Mutproben und Konfliktspielen zu greifen, wie sie in gewissen verstohlenen Nischen jugendlicher Subkultur auch anderer zivilisierter Nationen zu finden sind (von ‚primitiven‘ Kulturen sei hier abgesehen); sie verweisen auf das ‚anthropologische‘ Grundmuster überschießender Aggressivität wie auch der Rotten- und Bandenbildung als Ausdruck jugendlicher Männlichkeit. Was den deutschen Fall im europäisch-atlantischen Horizont jedoch auszeichnet, ist die breit etablierte (obrigkeitlich stillschweigend geduldete) gesellschaftliche Geltung des Zweikampfes als Mutprobe und seine Erhebung zu einem Erziehungselement, das das Persönlichkeitsprofil des Akademikers mit intergenerativer Verbindlichkeit bestimmen sollte. Ein vergleichender Blick auf den englischen Universitätssport mit seiner bezeichnenden Verknüpfung von Exklusivität und Härte zeigt, dass auch hier der jugendliche Aggressionstrieb nicht ausgeklammert, sondern im Gegenteil die Herausforderung körperlichen Einsatzes und agonaler Tugenden als wichtiger Bestandteil der Eliteerziehung gewertet wurde. Doch lassen sich gerade an d ­ iesem Beispiel die wesentlichen Unterschiede deutlich machen:

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auf englischer Seite die Integration in ein von den universitären Institutionen selbst im Sinne eines Erziehungsauftrages gestaltetes und hinsichtlich der Dimensionen der Kampfspiele verantwortbares Programm; auf deutscher Seite die subkulturelle Ausfüllung von Freiräumen durch die Übernahme ursprünglich adeligen Zweikampfverhaltens im Sinne eines gesunkenen feudalen Kulturguts, das dann sekundär vom Akademikerstand neben der offiziellen Universität zu einem Erziehungsinstrument formalisiert und zu gesellschaftlicher Anerkennung gebracht wurde. Es blieb aber nicht etwa nur graduell eine im Vergleich zum Kampfsport sehr viel größere Gefährlichkeit erhalten, sondern die atavistisch-kriegerische Verwundung war geradezu intendiert. Dabei muss, um die deutschen Besonderheiten ganz zu erfassen, bedacht werden, dass neben der Mensur das Satisfaktions- und Duellwesen weiterhin seine hervorragende Bedeutung behielt und dass andererseits die militärischen Umstände der preußisch-deutschen Reichsgründung dem im Waffenstudententum liegenden Gedanken der Wehrertüchtigung zusätzliche Schubkraft verlieh. Die aus den vorangehenden Epochen der deutschen Studentengeschichte geläufige Plage der Duellprovokationen als Ausdruck eines ungefestigten jugendlichen Geltungsund Raufbedürfnisses hörte auch im Kaiserreich keineswegs auf. Wohl aber verliehen die kanalisierende Systematisierung und Formalisierung dem Duellwesen größere Strenge und vermehrtes Gewicht. Dreh- und Angelpunkt des neoständisch-akademischen Ehrbegriffs war mehr denn je das Merkmal der Satisfaktionsfähigkeit. Mit seiner Hilfe wurde gegenüber Nichtakademikern, aber in willkürlicher Weise auch gegenüber den nichtkorporierten „wilden“ Studenten oder zunehmend missliebigen Gruppen wie vor allem den Juden eine diskreditierende Abgrenzung betrieben. Im Horizont dieser kastenmäßigen Verengung und Verhärtung brachte sich nun ein höchstgesteigerter Kult des persönlichen und korporativen Ehrgefühls zur Geltung, dessen Verletzung nach einer subtilen Skala von Schlüsselreizen jederzeit die Bereitschaft zu physischer Ahndung im Duell auslöste. Zweifellos erfuhr das traditionelle studentische Konfliktspiel durch die tendenzielle Militarisierung der Oberschichtsmentalität zusätzliche Schärfe und Strenge. Das Reserveoffizierswesen und das Schlüsselerlebnis der siegreichen Reichseinigungskriege wirkten hierbei in dieselbe Richtung eines Klimawandels, der gerade auch das Akademikertum erfasste. Korporationsideale und Offiziersideale verschmolzen in der akademischen Welt umso eher, als die altständischen Wurzeln des beiderseitigen Ehrbegriffs ja identisch waren. Beide Traditionen sorgten durch die intergenerativen Verknüpfungen für die vollendete Herausbildung einer „satisfaktionsfähigen Gesellschaft“ (Norbert Elias), deren Ehrenkodex in seinen ernsthaften Aspekten auch die Erwachsenenwelt einschloss. Zugleich erhielt das traditionelle Renommistentum im studentischen Milieu durch den Einschuss soldatischer Werte eine Wendung ins Schneidige. Die allgemeine Intensivierung des korporativen Erziehungsgedankens im Sinne schärferer „Zucht“, gruppenbezogener Disziplinierung, an der die Altherrenschaften Anteil nahmen, setzte den aufgeladenen Selbstbehauptungstrieb der studentischen Persönlichkeit zugleich starken Spannungen aus, und diese schärfer ausgeprägte Dialektik von militarisierter korporativer Disziplin

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und hochgestochener individueller Ehre dürfte für die aggressive Forschheit des korporativen Stils im Kaiserreich wesentlich verantwortlich sein, der sich klimatisch von der alten „Burschenfreiheit“ vorangegangener Epochen unterschied. Eine Subsumierung dieser Erscheinungen unter den Begriff der „Feudalisierung“ des Bürgertums griffe sicher zu kurz. Es handelt sich vielmehr um einen Traditionskomplex, in dem das ‚feudale‘ Element der alteuropäischen Korporation und des adelig-ständischen Ehrbegriffs und Ehrenhandels von vornherein gegeben war, in den dann im Übergang zur Statuserwerbsgesellschaft ‚bürgerliche‘ Muster der Persönlichkeitsformung und Disziplinierung teils korrigierend, teils potenzierend einflossen und der schließlich im Zuge des allgemeinen Eindringens militärischer Werte in die deutsche bürgerliche Gesellschaft als Männlichkeitskult weiter aufgeladen wurde. Im Ergebnis haben wir eine Sozialisationsform der neudeutschen akademischen Führungsschicht vor uns, die dem staats- und machtorientierten adelig-bürgerlichen ‚Kompromiss‘ des Kaiserreiches entsprach und in der das Relikt altadeliger libertärer Wehrhaftigkeit modern legitimiert wurde im Sinne von Persönlichkeitsbildung als Voraussetzung sozialer Führungskompetenz. Dieser harte Kern des Korporationslebens und des waffenstudentischen Selbstverständnisses war nun einerseits eingebettet in eine pralle Fülle und heitere Vielfalt des Verbindungsdaseins, andererseits war der ganze studentische Kosmos ideologisch überwölbt vom Pathos des nationalen Bekenntnisses. Die anakreontischen Aspekte des Verbindungslebens sind in unserer isolierenden Skizzierung wichtiger Kontinuitätslinien bislang ausgeblendet worden, doch muss auf sie mit Nachdruck verwiesen werden, wenn das Faszinosum der „alten Burschenherrlichkeit“ und seine breite populäre Verankerung erklärbar werden soll. Der Charme des im späten 19. Jahrhundert immer noch relativ ungebundenen Studentendaseins, der aus der Perspektive unserer Gegenwart durchaus wehmütige Verlustgefühle erzeugen kann, der Überschuss jugendlicher Kraft, der sich in den korporativen Szenarien in den Verbindungshäusern wie auf den Straßen zur Geltung brachte, der Studentenulk mit seiner zweckfrei verströmten Intelligenz, der ganze bunte Aufzug mit seinen Fahnen und Uniformen und dem übrigen schmückenden Beiwerk, die Kneipen mit ihrer köstlichen Mischung feierlicher und bukolischer Elemente, die Kommerslieder und ihre Trink-, Freundschafts-, Liebes- und Kampfeslyrik – all das bildete (auch wenn der durchgängig damit verbundene Lärm nicht jedermanns Sache war) eine kulturelle Erscheinung von großer Suggestivkraft. Sie bestimmte vor allem in den traditionsreichen Kleinstadtuniversitäten die Gesamtvorstellung von Studententum so sehr, dass auch Nichtkorporierte oder Mitglieder schlichterer Vereinigungen sich dem schwer entziehen konnten. Nichtzugehörigkeit zu einer der „Farben“ wurde als defizitär empfunden und bedurfte im korporativen Umfeld der Anstrengung einer willentlichen Behauptung des Andersseins. Niemals aber ging das Verbindungsleben nach dem Selbstverständnis der Beteiligten im ‚lustigen Studentenleben‘ auf; die Kostümierungen waren kein Mummenschanz. Zugleich waren die Korporationen Gesinnungsgemeinschaften, die im Bekenntnis zum

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Vaterland ihren verbindenden Wert besaßen und dieser Sphäre des Erhabenen in feier­ lichen Reden wie auch in quasi-sakralen Riten huldigten. Auch diejenigen jüngeren Verbände, die mit ihren wissenschaftsorientierten, sportlichen oder musischen Aktivitäten einen modern interpretierbaren speziellen ‚Vereinszweck‘ verfolgten, hatten durchweg an dieser Dimension, auch vaterländische Gesinnungsgemeinschaft zu sein, teil und brachten dies in entsprechender Weise zum Ausdruck. Diese vereinigende Überwölbung des bunten und in viele Richtungen differenzierten korporativen Verbandswesens durch das „Nationale“ war zweifellos ein Ergebnis der kleindeutschen Reichsgründung. Was in Restauration und Vormärz noch mit dem Ruch des Oppositionellen oder gar Konspirativen behaftet gewesen war, hatte sich mit dem, was seit 1871 als „Lösung“ der nationalen Frage angesehen wurde, zum weithin akzeptierten Bezugspunkt emotionaler Integration des deutschen Akademikertums etabliert. (Dies galt mit gewissen Abstrichen aufs Ganze gesehen auch für die katholischen Verbände. Nur in der Habsburgermonarchie blieb das deutsche Korporationswesen aus naheliegenden Gründen Parteisache.) Auch die Abgrenzung gegenüber dem Judentum gewann im ­­Zeichen des ‚Nationalen‘ an neuartiger Schärfe. Latente antijüdische Vorbehalte lagen bereits in der „christlichgermanischen“ Vorstellungswelt der Burschenschaftsbewegung der Restaurationsepoche. Doch war Judenfeindschaft kein durchgängiger Zug der vor- und nachmärzlichen Korporationsgeschichte. Seit der antisemitischen Welle in der deutschen Gesellschaft der späten 1870er Jahre jedoch fraß sich der Antisemitismus zunehmend in den Korporationsverbänden ein, wurden förmlich festgeschriebene oder informelle „Arierparagraphen“ zum wirksamen Instrument des Ausschlusses von Juden. Der Nationalismus erfuhr hier bereits früh eine Wende ins „Völkische“, wodurch der traditionelle Germanenmythos zusätzliche rassistische Schubkraft erhielt. Zugleich verliehen die Umstände der Reichsgründung ­diesem patriotischen, ‚über den Parteien‘ stehenden Firmament der Wertorientierung eine Wendung ins Militärische, Gefolgschaftheischende. Insbesondere das Waffenstudententum bezog das Mensur­wesen als Erziehung zu Mannesmut und kriegerischer Disziplin nunmehr pointiert auf einen militärisch verengten Begriff von Vaterland und Dienst am Vaterland. Gleichzeitig aber blieb diese Wehrertüchtigung, wie schon ein Blick auf die dabei verwandten ‚Waffen‘ zeigt, rückbezogen auf die entwickelte Tradition des studentischen Konfliktspiels und seiner historisierenden Verkleidung und setzte diese Tradition bruchlos fort. Die darin liegende Verknüpfung von ‚Geschichte‘ und ‚Gegenwart‘ ergab ein Paradigma, das auch über den Kreis der schlagenden Verbindungen hinaus ideologische Geltung besaß. Hierfür mag das Bundeslied eines nichtschlagenden (jedoch Satisfaktion gebenden) akademischen Gesangvereins aus den wilhelminischen Vorkriegsjahrzehnten als Beispiel dienen, in dem es heißt: „Deutsche Sänger aller Zeiten haben immer uns gelehrt, dass zum Schwert im Feld zu streiten auch die Leier eng gehört“. Die schlichte Musikausübung als s­ olche, so die Botschaft der Zeilen, würde zur Legitimation studentischer Vereinsbildung durchaus

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nicht hinreichen. Erst die in dem Zitat Karl Theodor Körners angebotene metaphorische Verknüpfung der Muse mit dem Krieg eröffnet die Teilhabe an der vaterländischen Gesinnungsgemeinschaft der Korporationen und legitimiert auch das Singen als zum Dienst am Vaterland gehörig. Zweifellos verraten s­ olche Verse, geistes­geschichtlich betrachtet und nach poetologischen Maßstäben bewertet, gedankenlos Epigonentum: Der Rekurs auf die Stimmung der Freiheitskriege und auf die romantische Verklärung des „schönen Todes“ konnte als bloßes Zitat fast hundert Jahre s­ päter nur noch zum hohlen Abklatsch geraten. Wichtiger ist die hier wie in der Gedankenwelt der männerbündischen Weihe­ stunden überhaupt zum Ausdruck kommende Kontinuität, ja strukturelle Identität kultureller Vorstellungen, die beide zeitlichen Pole umgreift. Am Anfang wie am Ende des ‚deutschen Jahrhunderts‘ brachte sich der Erziehungsanspruch wie der gesellschaftlichpolitische und kulturelle Anspruch der Korporationen in einer historistischen, ja teilweise archaisierenden Verkleidung zur Geltung. Und hierbei handelte es sich nicht um einen unverbindlichen Ästhetizismus, der sich auf Festreden, Gesänge und Riten beschränkte: In Mensur und Duell erhielt das Historienspiel von ‚Leier und Schwert‘ eine erhebliche Verbindlichkeit. Dies hieß mit anderen Worten, dass innerhalb der korporativ verankerten akademischen Führungsschicht zentrale Vorgänge der Wertorientierung und Identi­fikation auf eine fiktionale Spielebene projiziert wurden, die insbesondere in ihrem aggressiven Gehalt zum realen historischen Prozess des Jahrhunderts in ein schroffes Spannungsverhältnis trat.

IV In ihrer eindrucksvollen Studie über das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft hat Ute Frevert das von ihr untersuchte Phänomen aus dem das 19. Jahrhundert bestimmenden Spannungsverhältnis von Modernisierung und Antimodernismus erklärt. Legt man dabei, wie das hier unausgesprochen geschieht, die zuerst von Talcott Parsons in seinem Modernisierungsmodell entwickelte Dialektik von Differenzierung und Integration zugrunde, der auf der personalen Ebene die Spannung ­zwischen Gesamtpersönlichkeit und Rollendifferenzierung entspricht, so könnte man von einer spezifischen Differenzierungslast sprechen, die psychologisch nach Kompensation verlangt. Inmitten einer Welt zunehmender Funktionsteilung, sozialer Komplexität und Sachrationalität, die den Einzelmenschen zu einer sachgerechten Ausfüllung der darauf bezogenen unterschiedlichen Rollen zwingt und ihn als integrale Person gewissermaßen auflöst, beharrt der Duellant in existenziellen Krisensituationen auf eben dieser Integrität seiner Gesamtpersönlichkeit und bringt sie und ihre „Ehre“ mit dem Einsatz der Existenz und dem Rückgriff auf die archaische Figur der Selbstbehauptung im Zweikampf zur Geltung. Sozialgeschichtlich gesehen werden damit traditionell der adeligen Welt zugehörige Verhaltensmuster von den aufgestiegenen bürgerlichen Führungsschichten übernommen.

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Auch die wesentlichen Elemente des akademischen Verbindungswesens lassen sich als ein derart auf Modernisierungslasten bezogenes Kompensationsphänomen deuten. Dabei wird nicht so sehr auf die unspezifischen Erscheinungen – jugendliche Aggressivität und Neigung zum Exzess, Geselligkeitsbedürfnis, soziale Abgrenzungsspiele, Patro­nage – abgehoben als vielmehr auf die damit verbundenen Spezifika der deutschen Korporation, die in der Traumwelt von ‚Leier und Schwert‘ angesiedelt sind. Im Zentrum steht ein Erziehungsideal, das auch hier auf einer ‚vormodernen‘ Vorstellung von Persönlichkeit ruht und auf deren Selbstbehauptung in altertümlichen Kampfritualen insistiert. Harmloser zwar als im ernsthaften Pistolenduell unter Ehrenmännern, rekurrieren auch die Mensur und das Satisfaktionswesen auf den existenziellen Letzteinsatz als Kern des Persönlichkeitswertes, wobei nun deren Einübung im jugendlichen Alter zugleich die Internalisierung einer entsprechenden Haltung gewährleisten soll, die sich im realen Erwachsenenleben als Führungsqualität zur Geltung zu bringen hat. Die Erziehung zur gefestigten Persönlichkeit mit einer Tendenz zum Herrenmenschentum wurzelt also in einer archaischen Kampfmentalität, die als Fundament moderner Daseinsgestaltung gewertet wird. Zugleich ist diese Persönlichkeitserziehung Erziehung in der Gruppe und hier von starken Elementen der internen Hierarchisierung und Diszi­ plinierung bestimmt, die in der Kontinuität des frühneuzeitlichen Pennalismus der alten Landsmannschaften stehen und seit der Reichsgründung militarisiert werden. Die hierdurch erzeugten Spannungen finden sich – in einer jugendpsychologisch durchaus regelhaften Weise – aufgehoben in einem von Geschlossenheit und Aggressivität bestimmten Gruppenverhalten nach außen, aus dem das Einzelmitglied erhöhte Geltung bezieht. Was die deutschen Korporationen aber auszeichnet, ist die Projektion d ­ ieses Betriebes in eine Historienwelt des Stammeslebens und des urtümlichen, in Gefolgschaftstreue und Kriegertugend sich manifestierenden Männerbundes. Diese Vorstellungswelt beschränkt sich keineswegs auf die Aktivitäten der studierenden Jugend, sondern bestimmt auch weiterhin die Altherrenschaften, und zwar nicht nur im Sinne nostalgischen Wiedereintauchens in die Studentenzeit beim Stiftungsfest, sondern auch im Rahmen ideologischer Manifestationen und in der allgemeinen Verbandspolitik. Das Publikationswesen der Verbindungen gibt hiervon einen deutlichen Eindruck. Diese Historienwelt des Vaterländischen verbindet alle Korporationsgruppen, wobei die heroische Attitüde bei den nichtschlagenden Verbänden mehr als symbolische Teilhabe, ideologisch verdünnt und als ästhetisches Zitat zur Geltung kommt. Darin bestätigt sich aber implizit die ideologische Gültigkeit ­dieses Wertekosmos. Gerade auch für den Erwachsenenbereich ergibt sich daraus ein Profil des akademischen Korporationswesens, das sich etwa vom angelsächsischen Clubleben, aber in inhaltlicher Hinsicht auch vom Logenwesen und seinen Mystifikationen deutlich unterscheidet. Die Lebenswelt der deutschen Korporationen bildet – so will es scheinen – einen im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend schärfer ausgeprägten Kontrapunkt zur Herausbildung der modernen Gesellschaft. Gegenüber den Prozessen zunehmender

Verwendete Literatur

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Funktionsteilung und Zweckrationalität, der Entpersonalisierung der Berufswelt, der Fraktionierung und positivistischen Banalisierung der Wissenschaften, aber auch gegenüber der säkularen Tendenz der Egalisierung und des Partizipationsverlangens, der wachsenden Komplexität aller Entscheidungsvorgänge, der Auflösung des Akademikertums als Stand wird hier eine scheinheroische Gegenwelt behauptet, die auf klar konturierte vormoderne Grundmuster des Mannes und der Horde zurückgreift. Der Prozess der Modernisierung zeitigt mit seinen Aspekten der Entzauberung, Säkularisierung, Industrialisierung, Standardisierung von Tausch und Konsum, Bürokratisierung und verfahrensbezogener Herrschaftslegitimierung – wie allgemein bekannt ist – emotionale und werthafte Defizite, die nach Kompensation verlangen und Komple­ mentärprozesse in Gang setzen. Eine Fülle soziokultureller Erscheinungen schon des 19. Jahrhunderts lässt sich unter ­diesem Gesichtspunkt betrachten; ästhetischer Historismus und Folklorisierung sind hier ebenso zuzuordnen wie alle Formen des Traditionalismus, um nur weniges herauszugreifen. Auch das studentische Korporationswesen, wie es sich im Kaiserreich verfestigt hat, ist Ausdruck eines solchen rückwärtsgewandten emotionalen Kompensationsbedürfnisses. Zugleich aber enthält es mit den Beharrungstendenzen seines Erziehungsideals eine soziale Abwehrideologie und wirkt mit der entsprechenden Praxis maßgeblich in die Gesellschaft hinein. Weit entfernt, nur ein unverbindliches kompensatorisches Spiel zu sein, wird mit dem Rückgriff auf einen vormodernen, ja archaischen Kult des Kampfes zugleich der Anspruch erhoben, hiermit einen Schlüssel zur Elitebildung und Nationalerziehung zur Bewältigung der Gegenwart zu besitzen. Bei einer solchen Praxis der Reproduktion von Führungsschichten blieb es nicht aus, dass mit den Attitüden der persönlichen Haltung auch die gesamte archaische Vorstellungswelt von Kampf, Horde und Heereszug Eingang in die Gegenwartsvorstellungen von Politik und nationalen Zielen fand, die historistische Scheinwelt auf die intentionale Ebene durchschlug.

Verwendete Literatur Ältere, umfassende Gesamtdarstellung, die v. a. für die Frühzeit heranzuziehen ist: Friedrich Schulze und Paul Ssymank, Das deutsche Studententum von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, München 1931 u. ö. Die wichtigste und umfassendste Darstellung der Geschichte der Burschenschaftsbewegung: Paul Wentzcke Geschichte der Deutschen Burschenschaft Bd. 1, Heidelberg 1919; fortgesetzt von Georg Heer, Geschichte der Deutschen Burschenschaft, Bde. 2 – 4, Heidelberg 1927 – 1939. Als erschöpfendes Nachschlagewerk zu den Korporationen nützlich: Paulgerhard Gladen, Geschichte der studentischen Korporationsverbände, 2 Bde., Würzburg 1981, 1985. Moderne knappe, aber informative Überblicksdarstellung mit sozialgeschichtlichem und ideologiekritischem Zugriff: Konrad H. Jarausch, Deutsche Studenten 1800 – 1970, Frankfurt a. M. 1984.

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Studentische Korporationen und politisch-sozialer Wandel

Neue Impulse für die Reflexion des Zusammenhangs von aufklärerischer Reformbewegung, bürgerlicher Bewegung und studentischer Bewegung seit den Freiheitskriegen bieten die Aufsätze von Wolfgang Hardtwig: Studentische Mentalität – Politische Jugendbewegung – Nationalismus. Die Anfänge der deutschen Burschenschaft, in: Historische Zeitschrift 242 (1986), S. 581 – 628; Sozialverhalten und Wertewandel der jugendlichen Bildungsschicht im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft (17. – 19. Jahrhundert), in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 73 (1986), S. 305 – 335; Krise der Universität, studentische Reformbewegung (1750 – 1819) und die Sozialisation der jugendlichen deutschen Bildungsschicht, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 155 – 176; Studentenschaft und Aufklärung. Landsmannschaften und Studentenorden in Deutschland im 18. Jahrhundert, in: Étienne François (Hg.), Geselligkeit, Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, 1750 – 1850, Paris 1986, S. 239 – 259; Protestformen und Organisationsstrukturen der deutschen Burschenschaft 1815 – 1833, in: Helmut Reinalter (Hg.), Demokratische und soziale Protestbewegung in Mitteleuropa 1815 – 1848/49, Frankfurt a. M. 1986, S. 37 – 76. Zur vormärzlichen Politisierung auch Konrad H. Jarausch, The Sources of German Student Unrest 1815 – 1848, in: Lawrence Stone (Hg.), The University in Society, Bd. 2, Princeton 1974, S. 533 – 569. Zur generellen Problematik des Verhältnisses von ‚Modernisierung‘, ‚Deutscher Bewegung‘ und Konfessionalismus: Wolfgang Altgeld, Katholiken, Protestanten, Juden. Über religiös begründete Gegensätze und nationalreligiöse Ideen in der Geschichte des deutschen Nationalismus, Mainz 1992. Zum Kaiserreich v. a. Konrad H. Jarausch, Students, Society and Politics in Imperial Germany. The Rise of Academic Illiberalism, Princeton 1982; zentral auch Norbert Kampe, Studenten und „Judenfrage“ im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus, Göttingen 1988. Zum Fortwirken der Gesamtproblematik in der Weimarer Republik: Michael H. Kater, Studentenschaft und Rechtsradikalismus in Deutschland 1918 – 1933, Hamburg 1975 [in unserem Essay nicht behandelt]. Thomas Nipperdey behandelt die Studentenschaft im Kaiserreich in: Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 578 – 586; zu Restauration und Vormärz ders., Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 470 – 482. Enge thematische Berührungen ergeben sich zu dem Buch von Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991; Norbert Elias, Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Michael Schröter, Frankfurt a. M. 1989; hier v. a.: Die satisfaktionsfähige Gesellschaft, a. a. O., S. 61 – 158; Ein Exkurs über Nationalismus, a. a. O., S. 161 – 222; Zum Ethos des wilhelminischen Bürgertums, a. a. O., S. 271 – 273. [Die von Elias hervorgehobenen Momente der Feudalisierung und Militarisierung sind für die studentischen Korporationen m. E. um den Komplex des Historismus zu erweitern.]

Abb. 5  Unbekannter Künstler, „Die Burschenfahrt auf die Wartburg am 18ten Octobr. 1817“.

Abb. 6  Johann Adam Klein (Entwerfer, 1792 – 1875) / Conrad Wies[ß]ner (Lithograph, 1796 – 1865) „Rückkehr der Studierenden von Altdorf über Nürnberg nach Erlangen, den 5[.] März 1822.“, um 1822.

Auseinandersetzungen in der Erlanger Studentenschaft während der Frühzeit der Burschenschaftsbewegung I Die Burschenschaftsbewegung der Restaurationszeit hat in der Tradition der deutschen Nationalgeschichte ihren festen Platz, fand doch die nationale Aufbruchstimmung der ‚Freiheitskriege‘ in den patriotischen Manifestationen und Aktionen der studentischen Jugend in der Folgezeit einen besonders ergreifenden Ausdruck. So viel Anfang war nie: Diese Formel erweist auch hier ihre nie versagende Suggestivkraft, sie bestätigt ihre tradi­tionsstiftende Wirkung bis heute in der Art, wie der Studentenbewegung in den allgemeinen Darstellungen zur deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts in der Periode vom Wartburgfest bis zum Hambacher Fest und zum Frankfurter Wachensturm von 1833 gedacht wird. Das neu erwachte deutsche Nationalgefühl bildete in dieser Perspektive das Grundelement der studentischen Bewegung, deren protestantisch-nationalreligiöse Einfärbung unübersehbar war. Aber ebenso geläufig ist – zumindest im Rahmen der Studentengeschichtsschreibung –, dass die Burschenschaftsbewegung mit den nationalen Zielen ein Programm zur Erneuerung des studentischen Lebens verband. Die „allgemeine“ Burschenschaft verstand sich als umfassende Gesamtorganisation für alle Studenten auf nationaler Grundlage; die traditionellen Landsmannschaften, die die Studenten ursprünglich auf der Basis ihrer regionalen Herkunft rekrutiert hatten, sollten sich als partikulare Korporationen auflösen und in der neuen Allgemeinheit aufgehen. Damit sollte die hergebrachte Herrschaft des Seniorenkonvents über den Komment gebrochen und im Z ­­ eichen einer neuen Sittlichkeit und Innerlichkeit die Bahn freigemacht werden für eine Beseitigung des Renommistentums und des provokatorischen Duellwesens, für die Aufstellung eines Ehrengerichts und die Durchsetzung eines verinnerlichten Ehrbegriffs und einer neuen Tugendhaftigkeit.1 1 Als ältere umfassende und materialreiche Darstellung der deutschen Studentengeschichte immer noch heranzuziehen: Friedrich Schulze und Paul Ssymank, Das deutsche Studententum von den ältesten Anfängen bis zur Gegenwart, 4. Aufl., München 1932. Repräsentativ für die hauseigene Burschen­schaftsgeschichtsschreibung aus späterer kleindeutsch-nationaler und korporationsfreundlicher Perspektive: Paul Wentzcke, Geschichte der Deutschen Burschenschaft, Bd. 1, Heidel­berg 1919; fortgesetzt von Georg Heer, Geschichte der Deutschen Burschenschaft, Bde. 2 – 4, Heidelberg 1927 – 1939 (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung [QuD], Bde. 6, 10, 11, 16. Moderne knappe, aber sehr informative Darstellung mit sozialgeschichtlichem und ideologiekritischem Zugriff: Konrad H. Jarausch, Deutsche Studenten 1800 – 1970, Frankfurt 1984; ders., The Sources of German Student Unrest: 1815 – 1848, in: Lawrence Stone (Hg.), The University in Society, Bd. 2, Princeton 1974, S. 533 – 569.

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Die Anfangserfolge d ­ ieses Aufbruchs vermochten die durchaus heterogenen Elemente der studentischen Bewegung eine Weile zu überdecken. Mit dem Sand’schen Attentat, den nachfolgenden Karlsbader Beschlüssen und den einsetzenden Verboten und Verfolgungsmaßnahmen brach jedoch die Allgemeine Deutsche Burschenschaft rasch zusammen; im Klima der Demagogenverfolgung setzten sich die hergebrachten Differenzierungen des Studentenmilieus wieder durch, neue Gegensätzlichkeiten traten hinzu. Die Landsmannschaften bzw. Corps konnten sich erneut formieren, der von ihnen gestützte Rauf- und Saufkomment beherrschte infolgedessen wieder die Szene. Die Burschenschaft als s­ olche hingegen wurde als politisch verdächtig in den Untergrund gedrängt. Die politischen Aktivisten gingen mit der Gründung des Jünglingsbundes zu Geheimbündelei und konspirativer Tätigkeit über.2 Die große Masse der burschenschaftlich orientierten Studenten hingegen tat sich vielerorts zu harmlosen Geselligkeitsvereinigungen zusammen, die sich trotz punktueller Verfolgung von politisch Verdächtigen dann auch wieder stillschweigender Toleranz erfreuten. In ihrem Rahmen pflegte man gesamtdeutsch-patriotische Gesinnung und innerstudentische Reformideale weiter. Auf diese Weise fand das Programm einer genuin studentischen Selbsterziehung, das von den bekannten professoralen Vordenkern während der Reformzeit und in den Freiheitskriegen entwickelt worden war 3 und das die dem deutschen Universitätsbetrieb eigentümliche pädagogische Lücke füllen sollte, breiten Eingang in das studentische gesellige Leben außerhalb der Hörsäle. Die in d ­ iesem Erziehungskonzept begründete Ablehnung des studentischen Aktionismus zugunsten einer Auffassung des Studentseins als Vorbereitungszeit ließ sich als Programm eines Marsches durch die Institutionen, aber auch als Ideologisierung eines in der aktuellen Lage elementaren Gebotes der Enthaltsamkeit und Vorsicht interpretieren bzw. kritisieren.4 Gegenüber dem hergebrachten Komment entwickelten die Burschenschafter die Tendenz, entsprechend dem neuen sublimierten Ehrbegriff innerhalb ihrer Gruppe Ehrenhändel tunlichst zu unterbinden bzw. der Ehrengerichtsbarkeit zu unterwerfen, nach außen hin sich den Konfliktspielen der Landsmannschaften durch „Verrufs“Erklärung nach Möglichkeit zu entziehen. Gerade die traditionell hohe Bedeutung d ­ ieses studentischen Fehdewesens in Deutschland und die daraus sich ableitende Geltung des Komments ließ nun aber innerhalb der 2 Zum Jünglingsbund Heer, Geschichte [Anm. 1], Bd. 2, S. 101 – 131. 3 Repräsentativ für das politische Professorentum Friedrich Ludwig Jahn und Friedrich Friesen (Ordnung und Errichtung der Burschenschaften, 1811), Hendrik Steffens (Über die Idee der Universitäten, Vorlesungen Halle 1809), Heinrich Luden (Vorlesungen zu Jena seit 1810), Ernst Moritz Arndt (Bonn, Über den deutschen Studentenstaat, 1815), Jakob Friedrich Fries (Heidelberg, Jena), Lorenz Oken (Jena). 4 Georg Polster, Politische Studentenbewegung und bürgerliche Gesellschaft. Die Würzburger Burschen­schaft im Kräftefeld von Staat, Universität und Stadt 1814 – 1850, Heidelberg 1989 (= Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung, 13).

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Burschenschaft die Auseinandersetzung über die Duellfrage und im Zusammenhang damit über Probleme der Organisation niemals zur Ruhe kommen. Eine Minderheit wünschte, das „schlagfertige Verhältnis“ zu den Landsmannschaften wieder herzustellen und zugleich eine straffe „Elite“-Verbindung an die Stelle der lockeren „Allgemeinheit“ zu setzen.5 Insgesamt zeigte sich an diesen Auseinandersetzungen also die fortwirkende Prägung einer bestimmten studentischen Mentalität durch die ältere deutsche Verbindungstradition. Sehr bald aber sollte das oligarchische Organisationsprinzip auch seine Eignung für politische Aktivitäten unter konspirativen Bedingungen erweisen. In der zweiten Hälfte der 1820er Jahre wurde die behördliche Praxis der Tolerierung studentischer Verbindungen weiter liberalisiert. Bayern ging 1827 sogar dazu über, Verbindungen formell zuzulassen, wobei die einzureichenden Statuten den Nachweis politischer Unbedenklichkeit zu liefern hatten. Diesem Erfordernis konnte durch entsprechende Manipulation selbstverständlich verhältnismäßig leicht Genüge getan werden.6 Unter solchen Voraussetzungen führten die bisherigen Richtungsstreitigkeiten nunmehr zu förmlichen Sezessionen. Zuerst in Erlangen spaltete sich von der älteren, „Arminia“ genannten Allgemeinheit die „Germania“ ab, in der sich die Anhänger einer strafferen Verbindung ­zusammenschlossen. Nach d ­ iesem Vorgang ereigneten sich an den meisten deutschen Universitäten, in der Regel mit derselben Namensgebung, analoge Sezessionen. Beide Richtungen suchten sich auf nationaler Ebene in Kartellverbänden zusammenzuschließen und lieferten sich in der Folge an den Einzeluniversitäten erbitterte Konkurrenzkämpfe. Dem Prinzip folgend, dass an einer Universität nur eine Burschenschaft bestehen könne, steckten sich die Rivalen gegenseitig in „Verruf “ mit den oben skizzierten Konsequenzen. Es waren die Germanen, die dann unter dem Eindruck der Juli-Revolution und des entschiedenen Liberalismus in Deutschland zur politischen Aktion übergingen. Sie bildeten in ihren Organisationsformen dabei auch bezeichnende Züge einer Kadertaktik aus: Nur die Angehörigen des engeren Vereins waren in die konspirativen Arkana des überörtlichen Informationsnetzes eingeweiht.7 Burschenschafter der germanistischen Richtung beteiligten sich intensiv an den Aktionen des bürgerlichen Liberalismus und Radikalismus; sie waren in den ­verschiedenen Versammlungen, Festen und Abgeordnetenbanketts, den Abgeordnetenhuldigungen, in den Polen-Komitees, im Press­und Vaterlandsverein und bei den einschlägigen Kollektivpetitionen in unübersehbarer Weise präsent. Sie arbeiteten dabei mit den bürgerlichen Honoratioren und auch den radikalen Agitatoren eng zusammen, die sich ihre Aktivitäten gern gefallen ließen, ja, sie durchaus auch dazu ermunterten, wie Untersuchungen für Würzburg, Tübingen und Göttingen zeigen. 5 Zum Ganzen Heer, Geschichte [Anm. 1], Bd. 2, Buch 1 u. 2,1 passim. 6 Zu Bayern Polster, Politische Studentenbewegung [Anm. 4], Teil 3, S. 122 – 130. 7 Heer, Geschichte [Anm. 1], Bd. 2, Buch 2,2.

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Die Bewegung der Jahre 1830 bis 1832 führte die politisierten Studenten also aus ihrer gewöhnlichen Isolierung heraus und zeitigte ein ständeübergreifendes Zusammenwirken der „Partei der Bewegung“.8 Freilich erfolgte der vom Deutschen Bund gesteuerte polizeiliche Zugriff auch jetzt wieder rasch und gründlich; die Zerschlagung der Opposition trieb einen radikalisierten Kern der Studenten abermals in die isolierte und in ihren Wirkungen kaum durchdachte Einzelaktion. Das gescheiterte Unternehmen des Frankfurter Wachensturms, an dem übrigens auch einige Erlanger beteiligt waren, ermöglichte es der Polizei, ein breites Umfeld der Sympathisanten aufzudecken, und führte zu einer abermaligen und jetzt weit schärferen Demagogenverfolgung, die einer großen Zahl von Studenten schwere Haftstrafen bzw. in Haftstrafen verwandelte Todesstrafen einbrachte. Die Zerschlagung und Unterdrückung der Burschenschaften jeglicher Richtung markierte nunmehr deutlicher als die Verfolgungen von 1819/23 eine Epoche. Das spätere Wieder­aufleben der Burschenschaft geschah unter neuen Bedingungen; sie war nunmehr endgültig eine Verbindung unter einer Mehrzahl anderer und orientierte sich zunehmend an dem Stil der Corps. Diese spätere Entwicklung soll hier außerhalb der Betrachtung bleiben.

II Die Beurteilung des Arminen-Germanen-Streites, der von Erlangen seinen Ausgang nahm, wurde zunächst sehr stark von den schon zeitgenössisch veröffentlichten Untersuchungsergebnissen der Bundes-Zentralkommission bestimmt.9 Danach war die Spaltung der burschenschaftlichen Bewegung in der Hauptsache von den unterschiedlichen Auffassungen über Politik motiviert worden: auf der einen Seite standen die Germanen mit ihrer Doktrin des Aktionismus und ihrer Bereitschaft zu Konspiration und revolutionärer Tat, auf der anderen Seite die Arminen mit ihrem Programm der sittlichen Erziehung. Da die Aktionen der Germanen seinerzeit die Szene beherrschten, fand d ­ ieses so von ihnen entworfene Bild bis heute Eingang in die allgemeine politische Geschichtsschreibung und bestimmte auf diese Weise sehr stark die Vorstellung vom romantischrevolutionären Burschentum der frühen Nationalbewegung. 8 Außer Polster, Politische Studentenbewegung [Anm. 4] auch: Reinhard Muth, Studentische Emanzi­pation und staatliche Repression. Die politische Bewegung der Tübinger Studenten im Vormärz, insbesondere von 1825 bis 1837, Tübingen 1977; Eberhard Sieber, Stadt und Universität Tübingen in der Revolution von 1848/49, Tübingen 1975. Vgl. schon Heinrich Bunsow und Georg Heer, Die alte Göttinger Burschenschaft 1815 – 1834, in: QuD, Bd. 13, 1932, S. 207 – 339; auch: ­Cornelia Foerster, Der Preß- und Vaterlandsverein von 1832/33. Sozialstruktur und Organisationsformen der bürgerlichen Bewegung in der Zeit des Hambacher Festes, Trier 1982. 9 Heer, Geschichte [Anm. 1], Bd. 2, Buch 2,2.

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Demgegenüber hat die in der Zeit des Kaiserreichs einsetzende eigene Geschichtsschreibung der Burschenschaften, gipfelnd in der großen Darstellung von Paul Wentzcke und Georg Heer, die außerpolitischen Konflikts- und Spaltungsmomente betont.10 Hierbei lag die volle Sympathie vor allem Georg Heers bei der germanistischen Position: straffe Verbindungsform anstatt einer vagen Allgemeinheit, schlagfertiges Verhältnis gegenüber den übrigen waffentragenden Studenten, Charakterbildung und Männlichkeitserziehung durch Waffenübungen und Satisfaktionsgewährung, Letzteres bei entsprechender Pflege nationaler Gesinnung zugleich die angemessene Vorbereitung auf das politische Leben im Erwachsenenalter – in diesen Idealen wurde das Wesen der Burschenschaft schlechthin erblickt. Es muss nicht eigens betont werden, dass sich darin vor allem auch das burschen­schaftliche Selbstverständnis der Zeit des Kaiserreiches und noch der Weimarer Republik zum Ausdruck brachte. Wenn das historiographische Interesse an den revolutionären Taten der Burschenschafter der Restaurationszeit in den 1970er und 1980er Jahren wieder auflebte, so stand dabei – wiederum deutlich erkennbar – das Erlebnis der Studentenrevolte von 1968 Pate.11 Im Horizont einer allgemeinen Sympathie für die Kräfte der Bewegung und Veränderung lag das Forschungsinteresse hierbei insbesondere auf den modernen und fortschrittsorientierten Verhaltensweisen, wie sie insbesondere in der Zusammenarbeit der Studenten mit anderen oppositionellen Gruppen des Bürgertums und der freischwebenden Intelligenz zum Ausdruck kamen. Dass dieselben studentischen Aktivisten seinerzeit einen großen Teil ihrer Energien auch anderen Problemen zuwandten, nämlich den Ehrenhändeln, den Riten des Komments und den Organisationsfragen, wird bei dieser Forschungsrichtung eher vernachlässigt. Aus einer anderen Forschungsperspektive, nämlich im Rahmen des Interesses an der Formierung des Bürgertums und an Fragen der Modernisierung, hat in jüngerer Zeit Wolfgang Hardtwig das Thema der Studentengeschichte aufgegriffen.12 Den 10 QuD, Bde. 6 u. 10 [Anm. 1]; ferner Georg Heer, Die allgemeine deutsche Burschenschaft und ihre Burschentage 1827 – 1833, in: QuD, Bd. 4 (1913, Ndr. 1966), S. 246 – 353. Für Erlangen Wilhelm Kalb, Die alte Burschenschaft und ihre Entwickelung in Erlangen mit besonderer Berücksichtigung der Alten Germania, Erlangen 1892; Friedrich Reuter, Die Erlanger Burschenschaft 1816 – 1833. Ein Beitrag zur inneren Geschichte der Restaurationszeit, Erlangen 1896; Johann Mechs, Die Gründung und die erste Entfaltung der Burschenschaft Germania. Mit Vorgeschichte (1833 – 1849), Erlangen 1899. 11 Vgl. die in Anm. 1, 4 u. 8 genannten Arbeiten von Jarausch, Polster, Muth, Sieber; ferner Wolfgang Hardtwig, Protestformen und Organisationsstrukturen der deutschen Burschenschaft 1815 – 1833, in: Helmut Reinalter (Hg.), Demokratische und soziale Protestbewegungen in Mitteleuropa 1815 – 1848/49, Frankfurt 1986, S. 37 – 76. 12 Wolfgang Hardtwig, Studentische Mentalität – Politische Jugendbewegung – Nationalismus. Die Anfänge der deutschen Burschenschaft, in: Historische Zeitschrift 242 (1986), S. 581 – 628; ders., Sozialverhalten und Wertwandel der jugendlichen Bildungsschicht im Übergang zur bürger­ lichen Gesellschaft (17. bis 19. Jahrhundert), in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 73 (1986), S. 305 – 335; ders., Krise der Universität, studentische Reformbewegung und

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­ pochencharakter der Freiheitskriege mit ihrem nationalen Gehalt relativierend, bezieht E Hardtwig das Ordens- und Kränzchenwesen des 18. Jahrhunderts in seine Überlegungen ein und ordnet das Verbindungswesen dem modernen ständefreien Assoziationsprinzip zu, das den traditionalen Korporatismus überwindet und insofern Teil der gesamtbürgerlichen Moderne ist; inhaltlich sieht er sowohl die politischen Ziele als auch die innerstudentischen Reformziele in der Linie nachständischer Autonomisierung, Triebbeherrschung, innengeleiteter Zielbestimmungen und Emanzipation. Selbstverständlich wird dabei nicht verkannt, dass in den realen Studentenmilieus die so beschriebenen modernen Tendenzen mit traditionalen bzw. antimodernen Haltungen aufs engste verwoben waren. Nun zeigt die Burschenschaftsbewegung in der Tat, in welch unentwirrbarer und oft widersprüchlicher Weise die Bewegung der Restaurationsepoche durch ‚fortschrittliche‘ und ‚traditionale‘ Momente bestimmt war. So richtete sich, um nur einiges anzudeuten, das Reformstreben auf Disziplinierung und Versittlichung des Studentenlebens, dabei gerade auch auf eine Verinnerlichung des Ehrbegriffes, wobei jedoch gerade die politisch ‚modernen‘ Germanen daran festhalten, dass die Verletzung der Ehre jederzeit mit der Waffe zu sühnen sei. Die atavistischen Formen des Waffengebrauchs werden dabei durchaus weitertradiert. Das neue Keuschheits- und Tugendideal richtet sich gegen die diesbezügliche Sittenverwilderung in den alten Landsmannschaften. Ist d ­ ieses ‚bürgerliche‘ Phänomen nicht aber ebenso in der Tradition periodischer Rückkehr zu Zucht und Ordnung zu sehen, wie sie den Erziehungsprogrammen auch früherer Epochen eigen war und schon immer als dem Initiationscharakter der Jugendphase angemessen erachtet wurde? Und dann der Komplex des Nationalen: Vieles an den burschenschaftlichen politischen Programmen entsprach den zeitgemäßen bürgerlichen Forderungen nach Konstitutionalismus und nationaler Organisation. Zugleich aber vollzog sich die emotionale Aneignung des Nationalen im historisierenden, also ideologischen Rückgriff auf eine vorgeblich mittelalterliche Welt des „Christlich-­Deutschen“ und sogar auf vor- und frühgeschichtliche Elemente des „Germanischen“. In denselben Zusammenhängen ist auch die nationale Aufladung des Religiösen zu sehen, mit der nicht nur ein antisemitischer, sondern häufig auch ein antirömischer Affekt einherging. Die Religiosität der Studenten stand aber auch in anderen Bezügen: In ihr brachte sich der zeittypische Überdruss an der Aufklärung und an der rationalistischen Theologie zur Geltung. War diese Art der ‚Identitätssuche‘ nun modern oder antimodern? Zuletzt sind von Wolfgang Altgeld bedenkenswerte Vorbehalte gegen das „säkularistische Apriori“ der Modernisierungstheorien und die Sozialisation der jugendlichen deutschen Bildungsschicht, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 155 – 176; ders., Studentenschaft und Aufklärung. Landsmannschaften und Studentenorden in Deutschland im 18. Jahrhundert, in: Étienne François (Hg.), Geselligkeit, Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, 1750 – 1850, Paris 1986, S. 239 – 259.

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Fortschrittskonzepte formuliert worden.13 In der Tat dürften sich religiöse Phänomene der ‚Bewältigung‘ durch geschichtliche Stufenmodelle entziehen, und dies gilt letztlich für alle Fragen der Wertorientierung, Persönlichkeitsbildung und Identitätssuche. Hiervon ausgehend ließen sich auch für anthropologische Grundbefindlichkeiten wie die hier besonders interessierende Phase der Jugendlichkeit bestimmte Bedürfnisstrukturen und Verhaltensmuster von relativer historischer Konstanz ausmachen: Unfertigkeit der Persönlichkeit und Orientierungsbedürfnis mit den zugehörigen Komplementärphänomenen von Verletzlichkeit („Ehre“) und Aggressivität gehören hierher wie auch Sozialisierung und Solidarisierungsverlangen innerhalb der Peergroup. Der Phase der Initiation entsprechen bestimmte Verhaltensweisen der Jugendlichen selbst und bestimmte Erziehungsprogramme der Erwachsenen, die sich an der Maxime der Jugendverlängerung orientieren.14 Die akademische Jugendkultur der Restaurationszeit ist außerordentlich vielschichtig und mehrdeutig; sie kann nicht interpretatorisch auf eine Linie gebracht werden. Auch eine Erscheinung wie der Arminen-Germanen-Streit kann gleichermaßen als gegensätzliche Reaktion auf eine situative Herausforderung aufgefasst werden wie als paradigmatische Grundfiguration zweier unterschiedlicher Weisen studentischen Lebensgefühls und studentischer Sozialisation, die stets aktuell ist.

III Die Burschenschaftsbewegung in der Universitätsstadt Erlangen entsprach in der Restaurationszeit der allgemeinen Tendenz an den nord- und mitteldeutschen Universitäten. Jedoch sind für die Stadt und ihr fränkisch-protestantisches Umfeld einige Besonderheiten zu beachten, die sich aus der Intensität des religiösen Lebens und eines besonderen Interesses für konfessionelle und theologische Fragen ergaben.15 Dies blieb auch auf die innerstudentischen Auseinandersetzungen nicht ohne Einfluss. Die religiösen Impulse gingen zunächst nicht so sehr von der Theologischen Fakultät aus. Trotz ihrer mit der Universitätsgründung gegebenen programmatischen Verpflichtung auf das Luthertum hatte 13 Wolfgang Altgeld, Katholizismus, Protestantismus, Judentum. Über religiös begründete Gegensätze und nationalreligiöse Ideen in der Geschichte des deutschen Nationalismus, Mainz 1992 (= Veröffentlichungen d. Kommiss. f. Zeitgeschichte, Bd. 59), insbesondere S. 9 – 24, Zitat S. 20. 14 Vgl. John R. Gillis, Geschichte der Jugend. Tradition und Wandel im Verhältnis der Altersgruppen und Generationen in Europa von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Weinheim, Basel 1980, insbes. Kap. II, S. 6 – 11. 15 Prononciert herausgearbeitet durch den theologischen Bearbeiter der Jubiläumsschrift von 1910: Theodor Kolde, Die Universität Erlangen unter dem Hause Wittelsbach 1810 – 1910. Festschrift zur Jahrhundertfeier der Verbindung der Friderico-Alexandrina mit der Krone Bayern, Erlangen, Leipzig 1910. Hiernach das Folgende. Vgl. auch Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Protestantische Pfarrer in Politik und Gesellschaft der bayerischen Vormärzzeit, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 39 (1976), S. 171 – 200.

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Ende des 18. Jahrhunderts der theologische Rationalismus in der Fakultät Eingang gefunden, der auch noch in die bayerische Zeit hineinwirkte. Erst allmählich gewann die für das spätere 19. Jahrhundert so charakteristische Erlanger Theologie Profil. Ihr entsprach dann seit Ende der 1830er Jahre auf studentischer Ebene die Formierung der mitgliederstarken und theologisch dominierten Vereinigung Uttenruthia als einer besonderen Erscheinung im deutschen Verbindungswesen, von der Impulse auf die Wingolf-Bewegung ausgingen. Vieles von d ­ iesem Geist ist jedoch bereits in der Restaurations­epoche spürbar. Viele Studenten kamen aus einem von Pietismus und Erweckung geprägten Umfeld, darunter die durchgängig stark vertretenen Theologiestudenten, die ein Viertel bis ein Drittel der Immatrikulierten stellten. Ihre Rekrutierung aus den vormals markgräflichen Ländern und aus Nürnberg bedeutete eine traditionelle Verwurzelung im Luthertum. Als die einer unierten ­Kirche angehörigen Studenten aus der Rheinpfalz seit 1816 entsprechend den bayerischen Ausbildungsvorschriften ebenfalls auf die Universität Erlangen verwiesen wurden, wurden sie dort wie „halbe Heiden“ 16 empfunden. Innerhalb der Professorenschaft spielte der Orientalist Johann Arnold Kanne als Pietist eine bedeutende Rolle. Von großem Einfluss auf die Studenten war der reformierte Erlanger Prediger Johann Christian Gottlieb Ludwig Krafft. Eine nachhaltige geistige Wirkung gerade auch in religiöser Hinsicht wurde dem Erlanger Naturforscher und Naturphilosoph Gotthelf Heinrich Schubert zugesprochen. Schließlich gingen philosophisch-religiöse Impulse von der Anwesenheit Schellings aus, der in den Jahren 1821 – 1823 in Erlangen Vorlesungen hielt. Das Wirken dieser Gelehrten erreichte, wie sich an autobiographischen Zeugnissen ablesen lässt, durchaus auch die Studenten.17 In der Zeit des Übergangs an Bayern wurde die studentische Szene freilich noch vollkommen von den rüden ­Sitten der Erlanger Landsmannschaften beherrscht, die die Masse der nicht organisierten Studenten tyrannisierten. Hierzu existieren außerordentlich drastische Schilderungen.18 Nach vergeblichen Versuchen einiger der Drangsalierten, sich über die Behörden Genugtuung zu verschaffen, begann die burschenschaftliche Bewegung in Erlangen 1816 bezeichnenderweise als eine Art von Aufstand der „Obsku­ranten“ und „Renoncen“ gegen die Landsmannschaften. Um der eigenen Position Nachdruck zu verleihen, formierte sich diese Gruppe nach Jenaer Vorbild als „Teutonia“. Dieses Unternehmen erhielt eine besondere Färbung durch die führende Beteiligung des aus dem Frankreichfeldzug von 1815 zurückgekehrten und in Erlangen immatrikulierten Theologiestudenten Carl Ludwig Sand.19 In Sands exaltiertem Auftreten kommt 16 Reuter, Erlanger Burschenschaft [Anm. 10], S. 248. Hier insgesamt polemische Schilderungen der Erlanger Frömmelei. 17 [Gottlob Christoph Adolf Harleß], Bruchstücke aus dem Leben eines süddeutschen Theologen, Bielefeld, Leipzig 1872, S. 74 – 153 passim; Karl Hase, Ideale und Irrthümer. Jugend-Erinnerungen, Leipzig 1872, S. 103 ff. 18 Reuter, Erlanger Burschenschaft [Anm. 10], S. 18 ff., 24 ff. 19 Zu Sands Auftreten in Erlangen Kolde, Universität Erlangen [Anm. 15], S. 178 ff.; vgl. auch ­Kantzenbach, Protestantische Pfarrer [Anm. 15], S. 171 ff.

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die zeittypische Mischung von neuen Sittlichkeits- und Tugendidealen und allgemeiner Lebensreform sowie einer religiösen und nationalen Inbrunst besonders gesteigert zur Geltung. Sands Tagebücher mit ihren Schilderungen der von ihm gestalteten Lutherund Waterloo-Feiern sind hierzu eindrucksvolle Zeugnisse. Viele wurden von ­diesem Auftreten und seinen äußerlichen Begleiterscheinungen in Kleidung und Habitus auch abgestoßen. Doch sollten die psychopathischen Momente an Sands Erscheinung nicht für das Ganze genommen werden. Repräsentativ tritt uns das neue burschenschaftliche Denken in dem im Januar 1817 von der Teutonia angenommenen Erlanger Burschenbrauch entgegen.20 Unter dem Wahlspruch „Tugend, Wissenschaft, Vaterland“ wurden hier aus einer „christlich-germa­ nischen“ Geschichtsdeutung Maximen für ein Programm studentischer Selbsterziehung abgeleitet, die stark von Ernst Moritz Arndts „Studentenstaat“ beeinflusst waren. Der Erlanger Burschenbrauch sieht den Wesenskern der mittelalterlichen Universität im christlich-germanischen Prinzip: korporative Selbstständigkeit („Staat im Staate“), zünftige Selbstorganisation, interne Freiheit und Gleichheit im Erkenntnisstreben und in der Selbsterziehung der Burschen zu Männern, volkstümliches Jugendleben. Die protestantischen Universitäten hätten diesen Ansatz mit frischen Impulsen erst voll verwirklicht. Hernach sei freilich Überfremdung eingetreten, aus dem Burschenleben die rechte Tüchtigkeit geschwunden, die Kraft habe sich in Zierlichkeit verwandelt, aus einem lustigen und freudigen sei ein ängstlich fleißiges Leben geworden. Statt des kraftvollen Umgangs mit Jünglingen und Männern ein verweichlichendes Umherschwänzeln bei Weibern! Auf der anderen Seite sei die alte Freiheit und Gleichheit des Burschentums durch das verderbliche partikularistische Wirken der Landsmannschaften zerstört worden, das der deutschen Volkstümlichkeit verderblich und feindlich sei. Im Übrigen werden Streitsucht und interne Hackordnung der Landsmannschaften, Rauf- und Saufkomment und speziell das Pauken „pro patria“ sowie die Tyrannei über die Renoncen und Obskuranten scharf kritisiert. In gleicher Weise werden die älteren studentischen Orden als Zweig der Freimaurerei verurteilt; sie ­seien, da sie es mit der allgemeinen Menschenliebe zu tun hätten und Weltbürgerlichkeit bezweckten, ganz unvolkstümlich. Jetzt aber sei „der gewaltige Odem des Herrn“ über Deutschland gefahren und habe alles mächtig bewegt und mit Brausen erschüttert. Diese neue, in den Kriegen errungene Freiheit gelte es zu ­nutzen, um die Burschen dem vaterländischen Gedanken wieder zuzuführen. Höchste und heiligste Pflicht des Burschen sei es, während seiner Universitätsjahre ein deutscher Mann zu werden und sich für den späteren Dienst am Volk als Richter und Lehrer vorzubereiten. „Tugendsam und tüchtig, rein und ringfertig, keusch und kühn, wahrhaft und wehrhaft sei des Burschen Wandel; frisch, frei, fröhlich 20 Abdruck in Auszügen bei Reuter, Erlanger Burschenschaft [Anm. 10], S. 71 ff. Arndts Artikelserie lag mir vor in der Ausgabe: Ernst Moritz Arndt, Über den deutschen Studentenstaat, Wolfenbüttel 1905.

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und fromm ­seien des Burschen Reichtum! Er ist ein Christ und sonach ist sein Wandel fromm, keusch sein Sinn und Gott sein Anfang und sein Ende …“ Durch seine Liebe und Begeisterung für höhere Ausbildung solle er seine Wissenschaft in sich lebendig machen; als Turner solle er seinen Leib und darum auch seine Seele stählen. Im öffentlichen Leben einer großen freien Geselligkeit solle er in stolzer Gleichheit leben, und nur der natürliche Unterschied des Erfahrenen zum Unerfahrenen solle bleiben. Dieses freiheitliche Erziehungsprogramm der erneuerten deutschen Universität wird den „Abrichtinstituten unserer westlichen Nachbarn“ entgegengestellt: Nur in einem „erregten“ Leben könne der Jüngling auf der Universität zum Manne reifen. Wegen des Weggangs der führenden Köpfe von Erlangen konnte sich die Teutonia nicht lange halten. Unter dem Eindruck des Wartburgfestes, an dem auch Erlanger Studen­ten teilnahmen, wurde zum Jahresende 1817 erneut der Versuch gemacht, in Erlangen eine Burschenschaft als Organisation der Allgemeinheit aufzurichten und nach Jenenser Vorbild die Landsmannschaften zur Auflösung zu bewegen. Ein scheinbares Einlenken der Letzteren währte nur kurz; insgesamt blieb die Situation in Erlangen vom fortwährenden Weiterbestand der Landsmannschaften bzw. Corps gekennzeichnet.21 Während jede von ihnen stets nur wenige Dutzend Mitglieder zählte, formierte die Burschenschaft sich unter dem Namen „Arminia“ nunmehr als relativ lockere und mitgliederstarke Allgemeinheit, die mit rund 200 Angehörigen stets etwa die Hälfte der Erlanger Theologiestudenten umfasste. Ihre Verfassung 22 brachte nunmehr die neuen, der „Aristokratie“ der Corps entgegengesetzten Tendenzen zur Geltung. Die Allgemeinheit, von der Ausländer und Juden ausgeschlossen blieben, bestand aus gleichberechtigten Mitgliedern; die neu Eintretenden hatten für eine befristete Zeit einen Minderstatus. Renoncen gab es nicht. Die Leitung lag bei einem gewählten Vorstand, der die Regeln des Zusammenlebens, die Einhaltung des Sittlichkeitsprinzips und insbesondere die Erziehungsfunktion der sogenannten Riegen überwachte. Diese nach dem Turnplatz benannten Kleingruppen von zehn Studenten standen unter der Leitung von Riegenmeistern; in ihnen sollte eine allgemeine Bildungs- und Erziehungsarbeit geleistet werden. In ihrem Rahmen fanden wissenschaftliche und lebensorientierende Diskussionen sowie das für alle Burschen obligatorische Turnen und Fechten statt. Für alle Streitsachen nach innen und außen bestand ein Ehrengericht, das Ausgleichs- und Versöhnungsversuche zu machen und als letzte Option über einen Zweikampf zu entscheiden hatte. Sehr deutlich kommt in dieser Satzung zum Ausdruck, in welcher Weise die Burschenschaft ein auf die Gesamtheit der Studenten gerichtetes Erziehungsprogramm verwirklichen wollte. Die Statuten orientierten sich an einem ‚modernen‘ Assoziationsmodell 21 Zur Organisationsgeschichte Wentzcke, Geschichte der Burschenschaft [Anm. 1], Bd. 1, S. 179 ff.; Kalb, Alte Burschenschaft [Anm. 10], S. 9 ff. 22 Wiedergabe bei Kalb, Alte Burschenschaft [Anm. 10], S. 26 ff.

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und hielten für das Vereinsleben offene, auf Breitenwirkung abzielende Formen bereit. Die Riegen haben in der Folgezeit ihre Funktion als Rahmen für eine studentische Bildungsarbeit, wenn man den Zeugnissen folgt, tatsächlich erfüllt. Über die inhaltliche Ausrichtung dieser Arbeit wird noch kurz zu sprechen sein. In der Praxis des Erlanger Studentenlebens trafen jedoch ‚Altes‘ und ‚Neues‘ sehr spannungsreich aufeinander, und der burschenschaftliche Zusammenhalt war von Anfang an starken Zerreißproben unterworfen. Die stärkste Herausforderung hierfür ging von den Landsmannschaften aus, die, wenn auch zahlenmäßig klein, durch das herausfordernde Verhalten ihrer auf den traditionellen Raufkomment fixierten aktivistischen Mitglieder das Thema des Zweikampfes fortwährend wachhielten. Wegen der jugendpsychologisch unfehlbaren Wirkung von Schlüsselreizworten wie „Ehre“ und „Feigheit“ („Manschetten“) war es offenkundig schwer, sich der hierin liegenden Herausforderung zu entziehen. Über die Frage, ob mit den Landsmannschaften ein „schlagfertiges Verhältnis“ aufrechtzuerhalten sei, kam es schon um 1820 zu Kampfabstimmungen in der Burschenschaft. Hierbei trugen zwar – wobei man schon jetzt theologische Einflüsse vermuten kann – die friedfertigen Studenten relativ knappe Abstimmungssiege davon. Gerade dies aber führte zu Abspaltungen derjenigen, die auf das hergebrachte Satisfaktionswesen nicht verzichten mochten. Von der großen Mehrheit der Erlanger Burschenschafter wurde der „Verruf “ der Landsmannschaften (also eine Art Nichtverhältnis) durchgehalten. Da der burschenschaftliche Grundgedanke der Allgemeinheit sehr geltungsmächtig war und die Existenz mehrerer Burschenschaften an einer Universität sich hiermit nur schwer vertrug, unterlagen Abspaltungen einem fortwährenden Druck zur Reintegration. So konnte in Erlangen bis 1822 die Allgemeinheit wiederhergestellt werden. Der harte Kern der Abweichler gründete ein neues Corps.23 Die Konsolidierung von 1822 war auch von einer bemerkenswerten Entscheidung in der Duellfrage begleitet. Ehrenhändel waren bis dahin auch innerhalb der Burschenschaft gang und gäbe; die Funktion des Ehrengerichts bestand vor allem in der Begrenzung der Zweikämpfe auf ‚ernste‘, gegen Versöhnungsversuche resistente Fälle. Waren somit ältere Formen korporativer Gruppenehre, wie sie noch in den Pro-Patria-­Suiten der Landsmannschaften zutage traten, in den Burschenschaften obsolet geworden, so hielt sich doch auch in ihrem Rahmen noch ein gesteigertes und mit der Waffe zu verteidigendes individuelles Ehrgefühl, das übrigens auch durch die herkömmlichen rituali­sierten Reizworte provoziert werden konnte. In diese fortwirkenden Mentalitäten gewähren die biographischen Zeugnisse damaliger Erlanger Burschenschafter einen deutlichen Einblick.24

23 Zur Organisationsgeschichte Heer, Geschichte [Anm. 1], Bd. 2, S. 69 ff. 24 Vgl. v. a. Hase, Ideale und Irrthümer [Anm. 17], Kap. 4; [anonym], Züge und Zustände aus dem Erlanger Studentenleben, S. 60 ff., 94 ff.

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Im Sommer 1822 kam es nun aber doch zu einer ernsthaften und auch klärenden Auseinandersetzung über die Duellfrage innerhalb der Burschenschaft. Der Angriff auf die Institution als ­solche wurde von theologischer Seite vorgetragen; der Theologiestudent und spätere Pfarrer Valentin Strebel war der Wortführer im Kampf um die völlige Abschaffung des Duells. Im Rückblick schilderte er die Motive für seine Initiative wie folgt: „Für Ehrenhändel bestand ein Ehrengericht, vor dem jeder Duellstreit vorgebracht werden musste. Wer sich ohne Erlaubnisspruch des Ehrengerichts duellierte, würde unfehlbar ausgeschlossen worden sein. Ich war drei Semester hindurch Mitglied des Ehrengerichts und hatte hier reichlich Gelegenheit zu sehen, wie aus elenden Kleinigkeiten oft akademische Zweikämpfe entstehen, fand reichliche Gelegenheit, das selige Geschäft des Friedemachers zu üben, und öfters gelang es selbst in Fällen, wo der Skandal für legitim erklärt ward, die Parteien doch noch zu versöhnen. Dabei erkannte ich aber auch, wie verderblich das aus dem alten Landsmannschaftswesen vererbte Paukwesen für das akademische Leben sei.“ 25 Die Streitrede Strebels zu seinem Antrag auf gänzliche Abschaffung des Duells ist im Druck überliefert.26 Sie verrät, mit welch leidenschaftlichem Engagement seinerzeit um diese Frage gerungen wurde. Sie kann durchaus als Beleg für das Denken in Kategorien historischer Entwicklung und Modernisierung dienen, so etwa, wenn die waffenmäßige Verteidigung persönlicher Integrität allenfalls einer früheren Entwicklungsphase zugebilligt wurde, wo Tugend und Tapferkeit noch zusammenfielen, während bei der Verlegung der Ehre ins innere Heiligtum des Geistes äußere Gewaltanwendung jedoch abwegig sei; oder, wenn Ehrenhändel dem Vorhandensein von Kasten und eines auf sie bezogenen ständischen Denkens zugeordnet werden, weshalb sie unter den gesellschaftlichen Bedingungen eines „allgemeinen Bürgertums“ in einem konstitutionell geordneten Staat keinen Platz hätten; schließlich, wenn eine Orientierung des sittlichen persönlichen Einsatzes auf das Ganze des Vaterlandes gefordert wurde. Zugleich aber werden im fundamentalistischen Rückgriff die studentischen Orientierungsgrößen Wissenschaft, Sittlichkeit und Vaterlandsliebe auf das Christentum hin geordnet. Deutsches Volksleben ohne Christentum sei ein Unding; der Einzelne aber habe nur seinen Wert im Ganzen, und deshalb sei der aus der individuellen Gereiztheit hervorgehende Zweikampf eine Sünde gegen die höhere Bestimmung des Menschen, ein Verrat am Vaterland und ein Verbrechen gegen Gott und die Welt. 25 Befragung Pfarrer Strebels im fortgeschrittenen Alter [o. D.], wiedergegeben bei Reuter, Erlanger Burschenschaft [Anm. 10], S. 133 f. 26 Ferdinand Herbst, Ideale und Irrthümer des akademischen Lebens in unserer Zeit, oder: Der offene Bund für das Höchste im Menschenleben, zunächst für die teutsche studentische Jugend, Stuttgart 1823, S. 238 – 263. Nach dem Zeugnis von Harleß spielte die Rezeption des Buches von Herbst, das die sittlich hochstehenden Bestrebungen der Burschenschaftsbewegung im ‚arministischen‘ Sinne gegen die Demagogenverfolgungen verteidigte, in Erlangen eine erhebliche Rolle: [Harleß], Bruchstücke [Anm. 17], S. 94 f.

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Mit hochgesteigerter appellativer Emphase, die auch die Sprache des Reformators bewusst aufgriff („Gott helfe mir! Ich kann nicht anders!“ war die Schlusswendung der Rede), wurde hier ein Bild gesellschaftlich-moralischer Verhältnisse entworfen, das das sittlich handelnde Individuum seiner altständischen Bezüge entkleidete und zugleich einer neuen, stark integralistisch gedachten allgemeinen Staatsbürgergesellschaft zuordnete. Der Rekurs auf das zugleich deutsch-christliche und modern-konsti­tutionelle Vaterlandsverständnis verfehlte seine Wirkung nicht: Nach wiederholten Kampfabstimmungen verwarf eine Mehrheit der Erlanger Burschenschaft im Sommer 1822 den Zweikampf als eine Form der Konfliktaustragung wenigstens innerhalb der Burschenschaft vollständig. Die auf dieser Basis erreichte Konsolidierung konnte aber nicht verhindern, dass die unterschiedlichen Auffassungen über Duell und ‚Verbindung‘ unterschwellig fortbestanden und nach einem Jahrfünft erneut polarisierend aufbrachen. Trug die Auseinandersetzung um den Zweikampf partiell ‚moderne‘ Züge, so hatte sich nur wenige Monate zuvor, im Februar/März 1822, ein ganz anderer Konflikt zugetragen, in dem sich eine ‚altertümliche‘ studentische Gruppensolidarität noch einmal vehement zur Geltung brachte. Karl Hase nennt ­dieses Ereignis in seinen Erinnerungen von 1872 den „vielleicht letzten deutschen Studentenauszug“, der „in altakademischer Weise“ durchgeführt worden sei.27 Auslösend hierfür war das Treiben von nichtakademischen Erlanger Bürgersöhnen, vielleicht Handwerksburschen (den „Gnoten“), die in der Fastnachtszeit von 1822 studentische Kommersbräuche nachgeahmt und hierbei von Studenten kräftig verhöhnt und provoziert worden waren. Die Folge waren mehrtägige blutige Schlägereien gewesen, die die Behörden zur Herbeirufung von Militärassistenz aus Nürnberg veranlasst hatten. Aufgrund von Differenzen über die Bedingungen der Streitbeilegung beschlossen die Studenten einen Auszug nach Altdorf. Bei dieser Aktion kamen die Führungen der Burschenschaft und der Corps zu vollkommen einvernehmlichem Handeln zusammen, und der durch diese Geschlossenheit erzeugte Gruppendruck zwang auch die letzten nicht organisierten Mucker unter den Studenten zum solidarischen Mitmachen, so dass praktisch die gesamte Erlanger Studentenschaft auf einige Wochen die Stadt verließ. Der ganze Zuschnitt des Konflikts, das muntere Treiben in Altdorf, die ‚Verhandlungen‘ mit dem akademischen Senat, die abschließende triumphale Rückkehr in buntem Aufzug – all das trug selbstverständlich Züge einer Burleske und kann deswegen durchaus auch in nostalgisch verklärender Rückschau als Ausdruck alter Burschen­herrlichkeit und ihrer unernsten Jugendstreiche gewertet werden. Darüber darf jedoch nicht verkannt werden, dass sich in solchem Gruppenverhalten alte korporatistische Auffassungen vom Studententum als einem besonderen gegenüber den 27 Hase, Ideale und Irrthümer [Anm. 17], S. 145 ff., Zitat S. 153. Ausführliche Schilderung auch in: Züge und Zustände [Anm. 24], S. 88 ff.

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Nichtakademikern abzugrenzenden Stand zum Ausdruck brachten. Vom theoretischen Entwurf einer allgemeinen Staatsbürgerschaft war man also in der lebenswirklichen Praxis weit entfernt. Ist dies nun vormodern? Sozialständisches Denken hat gerade in Deutschland bekanntlich bis in das 20. Jahrhundert hinein überdauert, und gerade auch die Vorstellung vom Studentsein als einem besonderen Status hat sich erst in der Gegenwart unserer Massenuniversität verloren. Auf der anderen Seite ist deutlich, dass das moderne Konstrukt einer allgemeinen Staatsbürgergesellschaft stets aufs Neue von partikularem Gruppenhandeln unterlaufen wird, in dessen Rahmen sich kollektive Integrationsmuster mit den entsprechenden Solidarisierungsriten in neuen Formen herausbilden. Die Geschichte der Arbeiterbewegung zeugt davon ebenso wie moderne Jugend- und Studentenbewegungen. Für die nachfolgenden Jahre, die Zeit um 1823 – 1826, ist uns durch die Erinnerungen des Theologen Gottlob Christoph Adolf Harleß ein vollends gewandeltes Bild der Erlanger Burschenschaft überliefert.28 Seiner Schilderung zufolge hatte sich der Stil eines offenen, egalitären und friedfertigen Burschenschaftslebens inzwischen vollkommen durchgesetzt. Dank der staatlichen Verbote und Verfolgungen bestand die Burschenschaft zu dieser Zeit nur informell, blieb jedoch unter den wohlwollenden Augen der universitären und lokalen Behörden völlig unbehelligt. Und dies nach dem Urteil von Harleß sehr zu Recht: „Denn zu dieser Genossenschaft zählten die besten, sittlichsten und fleißigsten Jünglinge, deren Bestrebungen eher der Förderung als der Bestrafung würdig erschienen.“ Das gesellige Leben der burschenschaftlichen Gesamtheit, die Harleß zufolge mit knapp 200 Mitgliedern etwa die Hälfte der Erlanger Theologiestudenten umfasste, spielte sich in offenen und relativ formlos organisierten Abenden in einer gemeinsamen Gaststätte ab. Die Teilnahme war freiwillig, der Besuch anderer Lokale allerdings verboten, was mit der Kontrolle über die Sittlichkeit der Mitglieder begründet wurde. Im signifikanten Unterschied zur streng ritualisierten Form der Verbindungskneipe bestand die einzige Form gemeinschaftlichen Tuns, durch die das freie Privatgespräch unterbrochen wurde, im gemeinsamen Singen, das durch einen gewählten Sangwart zu organisieren war. Neben „guten Volksliedern“ wurden die vaterländischen Lieder der Befreiungskriege gesungen, deren „schlachtenfreudiger Klang“ dem jungen Harleß freilich schon damals mit den eigenen friedlichen Verhältnissen merkwürdig zu kontrastieren schien. Gemeine und unanständige Lieder waren verpönt. Überhaupt scheint bei den im Übrigen freien Verkehrsformen das 28 [Harleß], Bruchstücke [Anm. 17], S. 87 – 118. Der aus Nürnberg gebürtige Harleß war Spross einer verzweigten Gelehrtenfamilie, die auch enge Beziehungen mit Erlangen hatte. Damit standen dem vielversprechenden Jüngling die Erlanger Professorenhäuser und eine wissenschaftliche Karriere offen; aber auch in der Burschenschaft spielte er als Mitglied des Vorstandes und Riegenführer eine bedeutende Rolle. – Später bedeutender Vertreter der Erlanger lutherischen Theologie und bayerischer Kirchenpolitiker. Auch Mitbegründer der Uttenruthia. Biogr. Zugriff: Matthias Simon, Gottlieb C. A. Harleß (1806 – 1879), in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 7 (1966), S. 680 f.

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Hauptaugenmerk der Burschenschaft seinerzeit auf das sittliche Betragen der Mitglieder gerichtet gewesen zu sein. Es gab eigene Sittengerichte, die geringere Vergehen mit strengen Rügen und vorübergehendem Ausschluss, „grobe Unsittlichkeit“ mit sofortigem definitivem Ausschluss ahndeten. Dies galt auch für „Religionsspötter“, die es aber Harleß zufolge nicht gegeben habe. Der private Studienfleiß wurde nötigenfalls durch Kuratoren überwacht. Duelle von Burschenschaftsmitgliedern untereinander waren absolut verboten; das Ehrengericht hatte nicht nur zu schlichten, sondern auch Schuldfeststellungen zu treffen und zu rügen bzw. zu strafen. Renitenz gegen das Ehrengericht wurde mit Ausschluss geahndet. Fechtübungen wurden jedoch fleißig abgehalten, auf eine gewisse Wehrhaftigkeit mochte man nicht verzichten; Zweikämpfe im Verhältnis der Burschenschaft nach außen sollten nicht unter allen Umständen ausgeschlossen sein. Eine regelmäßige intensivere Bildungsarbeit fand in den Riegen oder Kränzchen statt, die, folgt man Harleß, ihre Funktion tatsächlich erfüllt zu haben scheinen. Dabei wurden lebensorientierende ­Themen allgemeinwissenschaftlicher, philosophischer und religiöser Art bevorzugt; ‚Politik‘ wurde geflissentlich ausgeschlossen. Dies scheint ein Resultat der Unterdrückungs- und Verfolgungssituation gewesen zu sein; Harleß jedenfalls kann sich nicht genug damit tun, die Politikferne der burschenschaftlichen Aktivitäten zu betonen. Hierbei scheint jedoch das pfälzische Element der Erlanger Burschenschaftsführung immer wieder Sorgen bereitet zu haben. Die „halben Heiden“ aus der Pfalz hatten eine Tendenz zum Politisieren, für deren Sedierung man innerhalb der Kränzchenarbeit Sorge trug. Zur Zeit der Veröffentlichung seiner Erinnerungen zählte Harleß 65 Jahre. Von dem Wunsch geleitet, das Bild eines gesitteten und christlich bestimmten Studenten­ lebens seiner Jugend zu zeichnen, hat der renommierte lutherische Theologe und baye­ rische Kirchen­politiker zweifellos die Erlanger Verhältnisse in der Rückerinnerung stark harmo­nisiert. Vielleicht wollte er auch aus Abneigung gegenüber dem s­ päter sich breitmachenden Korporatismus des Waffenstudententums ein Gegenbild präsentieren. In Wahrheit brachen in Erlangen noch während seines Studienaufenthaltes die alten Spannungen wieder auf. Seit 1825 gab es verschiedene Abspaltungsversuche von der Allgemeinheit, die sich im Februar 1827 unter dem Namen „Germania“ bleibend zu einer eigenständigen Verbindung konsolidierten.29 Wie schon früher, so waren auch jetzt wieder die unterschiedlichen Auffassungen über Duell und Gewährung unbedingter Satisfaktion sowie über Inhalt und Formen des Verbindungslebens die entscheidende Schwelle der Auseinandersetzungen; hinzu traten offenkundig auch unterschiedliche Auffassungen über die Schwerpunkte der Bildungsarbeit. Die Führung der Arminia hatte noch 1826 erneut die grundsätzliche Ablehnung des Duells betont und gefordert, 29 Zur Organisationsgeschichte Heer, Geschichte [Anm. 1], Bd. 2, S. 151 ff.; Kalb, Alte Burschenschaft [Anm. 10], S. 60 ff.

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auch die letzten Relikte (möglicher Zweikampf im Außenverhältnis mit Nichtburschenschaftern) auszumerzen. Dieser Komplex scheint für die einsetzende Polarisierung entscheidend gewesen zu sein.30 Das früheste Erinnerungsbuch von germanischer Seite datiert aus dem Jahr 1843; seine Darstellungen haben Eingang in die germanische Vereinsgeschichtsschreibung der Zeit des Kaiserreichs gefunden.31 Aus dieser Perspektive war für die Erlanger Entwicklung in erster Linie der sich ausbreitende „Pietismus und Mystizismus“ verantwortlich, und dies habe von dem Einfluss Schuberts, Kraffts und der Schelling’schen Philosophie auf die akademische Jugend hergerührt. Mit der hierdurch begünstigten Neigung zur „Gemütlichkeit“, also zur quietistischen Innerlichkeit und Friedfertigkeit, mochten sich die tatkräftigeren und draufgängerischen Studenten nicht abfinden, denen mehr an einem geregelten „Paukverhältnis“ zu den Corps und im Zusammenhang damit an einem forscheren Auftreten im Rahmen einer straff geführten Elite gelegen war. Bezeichnenderweise befanden sich unter den Abtrünnigen von 1827 viele Pfälzer Studenten. Die meisten Arminen hingegen „hatten ihre Wurzeln im geistigen Boden des gebildeten Mittelstandes der protestantischen Franken und Schwaben.“ 32 Mit unverhohlener Sympathie für den fröhlich-aggressiven Studententyp wurden die verschiedenen Richtungen 1843 rückschauend wie folgt geschildert:33 „Alle Abende fand sich auf dem Burschenhause eine formlose Masse ein, in der man indeß mit nur etwas geübtem Auge zwei Hauptrichtungen zu gewahren vermochte. Die eine hielt Alles auf praktisches Leben und sein Befördern, auf den Trotz der Jugend und auf frische gesunde Freuden, sang gern ein frohes Lied, liebte und lobte den vollen Becher, hielt viel auf gute Klingen und sah auch holden Jungfrauen gern in die Augen; die andere wiegte sich in der Gemüthlichkeit und in einer jungsamschwungsamen Deutschthümelei und wollte den Grund zu einer christlich­germanischen Burschenschaft legen. Die Leute, die sich zu dieser Richtung bekannten, sangen selten ein Lied, das mit dem Dreiviertelstakt Ähnlichkeit hatte, und nährten im Herzen eine spezielle Malice auf alle Klingen. Eine honigsüße Rede zerfloß ihnen fast immer auf der Zunge, wer für ihren Zirkel passend schien, der wurde sondirt, eingeladen und bald mit dem Mantel der Demuth bedeckt.“ 30 Kalb, Alte Burschenschaft [Anm. 10], S. 60 ff. 31 Züge und Zustände aus dem Erlanger Studentenleben, von einem ehemaligen Erlanger Studenten, Nürnberg 1843. Mit starker Polemik gegen die Erlanger Frömmelei: Reuter, Erlanger Burschenschaft [Anm. 10], S. 201 – 258 passim; Mechs, Gründung [Anm. 10], S. 28 ff.; auch Heer, Geschichte [Anm. 1], Bd. 1, S. 158 ff.. Für die arminische Seite: [Heinrich Wiegand], Geschichte der Erlanger Burschenschaft, Teil 1: Von der Gründung der Teutonia bis zur Auflösung der Arminia, Erlangen 1877, insbes. S. 48 ff.; Ernst Höhne, Die Bubenreuther. Geschichte einer deutschen Burschenschaft, Erlangen 1936, insbes. S. 9 – 39 (Abwehr der Angriffe auf die Frömmigkeit). Der Jubiläumsband von Julius Andreae und Fritz Griessbach, Die Burschenschaft der Bubenreuther 1817 – 1967, Erlangen 1967, streift die Anfangszeit nur knapp. 32 Reuter, Erlanger Burschenschaft [Anm. 10], S. 230. 33 Züge und Zustände [Anm. 31], S. 95 f.

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Der ernsthafte Kern der Auseinandersetzung lag in den unterschiedlichen Auffassungen über die Ziele der burschenschaftlichen Bewegung.34 Die Arminen, von ihren Gegnern „Philosophen“ oder „Mystizisten“ genannt, behielten die alte Verfassung bei, um in ihrem Rahmen möglichst viele Studenten mit ihrem Erziehungsprogramm zu erreichen. Dieses Programm legte den Schwerpunkt auf die sittliche und geistige Bildung als Dienst am Vaterland, wobei ­dieses Vaterland in idealistischer Weise mehr als geistig-kulturelle Einheit Deutschlands aufgefasst wurde. Die Germanen kehrten zu der aus den Landsmannschaften bekannten Unterscheidung ­zwischen eigentlicher engerer Verbindung und der Masse der Renoncen zurück. Die engere Verbindung war Träger des Prinzips der unbedingten Satisfaktion; das „Pauken“ spielte wieder eine zentrale Rolle. Das Bildungsprogramm war ebenfalls auf die Ertüchtigung für das spätere praktische Leben abgestellt, doch wurde der Vaterlandsbegriff wieder konkreter aufgefasst im Sinne einer künftig herzustellenden politischen Einheit ganz Deutschlands. Dementsprechend sollte in der Arbeit der Kränzchen nicht nur die Geschichte, sondern auch die Information über das aktuelle politische Tagesgeschehen eine größere Rolle spielen. Die stärker religiöse Grundierung der Arminia fand auch in der besonderen Formulierung der bekannten Verbindungsdevise einen sinnfälligen Ausdruck: Vor die Stichworte „Freiheit, Ehre, Vaterland“ wurde hier das Wort „Gott“ gesetzt. In der Praxis führte das burschenschaftliche Selbstverständnis, wonach es an einem Universitätsort nur eine allgemeine Burschenschaft geben konnte, nun freilich zu einer scharfen Rivalität z­ wischen den beiden Verbindungen. Nachdem 1828 die Allgemeine Deutsche Burschenschaft wieder entstanden war, sorgte die Erlanger Germania auf dieser Ebene dafür, dass die Arminia nach vergeblichen Wiedervereinigungsversuchen „in Verruf getan“ wurde.35 In Erlangen selbst waren wechselseitige Schmähungen und auch tätliche Auseinandersetzungen eine Zeit lang gang und gäbe; hierbei ging es nicht zuletzt auch um den Besitz des Traditionslokals in Bubenreuth.36 Die Verfolgungen und die förmliche Auflösung der Verbindungen 1833 setzten diesen Auseinandersetzungen ein Ende; die spätere Wiederbelebung der Korporationen vollzog sich hingegen unter neuen Vorzeichen: Der Allgemeinheitsanspruch war aufgegeben zugunsten eines plura­ listischen Nebeneinanders.

34 Charakterisierung der Erlanger Richtungen bei Reuter, Erlanger Burschenschaft [Anm. 10], S. 226 ff. Für Deutschland insgesamt Heer, Geschichte [Anm. 1], Bd. 2, S. 190 ff. In entgegengesetzter Richtung konstituierten besonders religiös bewegte Studenten außerhalb der Arminia 1828 vorübergehend eine Burschenschaft „Teutonia“, die sich nicht halten konnte. 35 Zur Organisationsgeschichte auch auf Verbandsebene Heer, Geschichte [Anm. 1], Bd. 2, S. 154 – 201. 36 Hierzu ausgiebige Schilderungen in: Züge und Zustände [Anm. 31] sowie in den Erlanger Burschen­ schafts-Geschichten von Reuter und Kalb [Anm. 10].

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IV Von Anfang an fehlte in der Erlanger Burschenschaftsbewegung die Dimension des ‚Politischen‘ nicht ganz, sofern darunter aktives Handeln für unmittelbare politische Ziele verstanden wird. Charakteristischerweise erwuchsen diese Aktivitäten jedoch nicht im Erlanger akademischen Milieu, das hierfür keinen Nährboden abgab, sondern bestanden in der Teilnahme einzelner Erlanger Burschen an gesamtnationalen Verbandsaktivitäten und ergaben sich nicht zuletzt aus dem studentischen Wanderverhalten. An der Erlanger Universität selbst fehlte vollkommen das politische Professorentum, das andernorts eine entscheidende Quelle für die Politisierung der Studenten darstellte. Selbstverständlich beteiligten sich führende Erlanger Burschenschaftsvertreter in den Anfangsjahren an den allgemeinen Burschentagen, was im Zeichen ­­ der Demagogenverfolgung schon in sich den Makel des Konspirativen trug. Nach der ersten Verfolgungswelle waren sechs Erlanger Burschenschafter aber auch in pointierterer Weise an der nun einsetzenden Geheimbündelei des Jünglingsbundes beteiligt, darunter auch profilierte Theologen wie Karl Hase und Valentin Strebel. Der polizeiliche Zugriff zog daraufhin sowohl 1819/20 als auch 1823 in seiner bekanntlich gewollten Überreaktion eine ganze Reihe Erlanger Burschenschafter in Mitleidenschaft, die sich Relegationen und Karzerstrafen zu unterwerfen hatten.37 Diese Erfahrung bestimmte, wie bereits erwähnt, die politische Enthaltsamkeit der burschenschaftlichen Allgemeinheit in den stillen Jahren von 1824 bis 1828. Mit der Wiederbegründung der Allgemeinen Deutschen Burschenschaft 1828 wurde die nationale Ebene der Burschenschaft organisatorisch wiederhergestellt und damit latent auch eine Plattform für politische Aktivitäten geschaffen. Nicht zufällig war dies eine Leistung der überall sich ausweitenden germanischen Richtung. In der Mentalität und in den Erziehungszielen der Germanen lag von vornherein eine stärkere Disposition zu konkretem politischen Handeln. Das Erlebnis der Julirevolution und ihrer Folgewirkungen in Deutschland überführte diese Disposition dann in die Aktion. Auch jetzt wieder bot die nationale Ebene eine entscheidende Plattform für die Aktivisten; eine breitere lokale Verankerung hatte dies nur in wenigen Universitätsorten.38 Erlangen gehörte auch jetzt nicht dazu; Erlanger Vertreter waren jedoch an den Verbandsaktivitäten beteiligt. Die Feststellung Georg Heers, dass die Spaltung der Burschenschaft in die arminische und die germanische Richtung nicht durch politische Fragen generiert worden sei, und dass insbesondere der Übergang zu politischer Aktion erst in einer späten Phase erfolgte 37 Vgl. neben den Verbandsgeschichten die „biographischen Charakteristiken“ im Anhang von ­Reuter, Erlanger Burschenschaft [Anm. 10], S. 263 ff. Zahlreiche Hinweise bei Kantzenbach, Protes­ tantische Pfarrer [Anm. 15]. 38 Hierzu außer Heer, Geschichte [Anm. 1], Bd. 2 u. 3, die in Anm. 4 u. 8 genannten Arbeiten.

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und nur von Einzelnen getragen wurde, ist gewiss von den Befunden an verschiedenen Einzeluniversitäten her zu revidieren und insofern zu differenzieren. Für Erlangen gilt sie jedoch uneingeschränkt. Für die so bemerkenswert anders gelagerten Verhältnisse in Würzburg 39 dürfte vor allem das Vorhandensein einer liberalen Professorengruppe mit gewissen Verbindungen zu den Honoratioren der Stadt verantwortlich sein, sodann der Umstand, dass katholische Theologie und Religiosität für das Verbindungswesen der Universität insgesamt keinen so ausschlaggebenden Faktor darstellten. Das Erlanger akademische Milieu in dieser und den folgenden Epochen ist jedoch in hohem Maße konfessionell geprägt. Dieses im historischen Längsschnitt sich durchhaltende Phänomen steht quer zu möglichen Fragen nach Modernität oder Antimodernismus. Davon zeugt nicht zuletzt die Erlanger Verbindungsgeschichte.

39 Hierzu Polster, Politische Studentenbewegung [Anm. 4].

Abb. 7  Johann Martin Trechsel (Entwerfer, 1661 – 1735) / Johann Georg Puschner (Stecher, 1680 – 1749), „Das Auditorium Welserianum im Collegio Altdorf mit einem Actu Doctorali, dergleichen am Petri und Paul Fest darinnen vorgenommen wird.“, vor 1711.

Vom Magisterschmaus anlässlich der Examina einer frühneuzeitlichen Universität Spectabilis, liebe Kollegen, liebe Doctores et Magistri! Die Fakultät ist heute wieder einmal zusammengekommen, um Ihnen im Rahmen einer kleinen und bescheidenen Feier, aber doch mit der gebührenden Würde Ihre Doktor­ und Magisterurkunden auszuhändigen. Mit diesen Urkunden wird Ihnen nicht nur bescheinigt, dass Sie Ihr Universitätsstudium erfolgreich hinter sich gebracht und mit den entsprechenden wissenschaftlichen Leistungen abgeschlossen haben, sondern Ihnen wird außerdem von Fakultätswegen ein akademischer Grad verliehen, den Sie künftig als Titel zu Ihrem Namen führen dürfen, nämlich der Doktortitel oder der Magistertitel. Dieses Graduierungsrecht gehört zu den ältesten Privilegien der europäischen Universitäten; es stand gleichrangig neben dem Recht zur Erteilung des persönlichen Adels, das früher die Souveräne für sich in Anspruch nahmen, und ist ­insofern Ausdruck einer heute zumeist vergangenen ständischen Gesellschaft. Dort wo es noch Monarchien gibt, z. B. in England, wird selbstverständlich weiterhin nobilitiert, aber in Deutschland ist mit der Monarchie die Nobilitierung abgeschafft und auch die ständische Qualität jeglichen Adelstitels. Universitäten aber gibt es noch (sie werden unter ­diesem anachronistischen Namen sogar immer aufs Neue gegründet), und mit ihnen hat sich die Übung des akademischen Ritterschlages in Gestalt der Promotion zum Doktor oder zum Magister erhalten. Historiker sind Wissenschaftler, die nicht einfach in einer Tradition stehen und sie mitvollziehen, sondern die ihr gegenüber zu Erkenntniszwecken auf Distanz gehen, und diese Haltung ist die erste Bedingung der Möglichkeit von Geschichtswissenschaft überhaupt. Sie ermöglicht z. B., nach der sozialen Funktion akademischer Titel zu fragen, und dies sowohl in historischer Perspektive als auch mit Bezug auf unsere Gegenwart und Ihre persönliche Zukunft. Die soziale Funktion akademischer Titel liegt in unserer zwar demokratisch verfassten, aber aus guten Gründen keineswegs egalitären Gesellschaft in ihrer sozialen Geltung und dem daraus abzuleitenden Geltungsnutzen. Einen solchen Geltungsnutzen hatten und haben z. B. die Adelstitel nicht nur in der ständischen, sondern auch in der nachständischen Gesellschaft, insofern sie als NamensBestandteile und darin als historische Reminiszenz weitergeschleppt werden. Solange sich daran die historische Erinnerung als an etwas Besonderes knüpft, kann daraus im Sinne eines sozialen Dekorativstils sozialer Nutzen gezogen werden, und die Türschilder von Banken und anderen Großunternehmen belegen, dass man davon Gebrauch zu machen versteht. Da diese historischen, lediglich ererbten Namensbestandteile in unserer Gesellschaft jedoch keine Funktion mehr haben, wird der entsprechende Geltungsnutzen

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in dem Grade verblassen, wie die historische Erinnerung verblasst. Mit akademischen Titeln ist es deshalb etwas anderes, weil sie nur ad personam und nur auf der Basis von akademischem Studium und akademischen Prüfungsleistungen vergeben werden. Sie sind ein dekoratives Element, das durch individuelle Leistungen erworben wurde. Darin lag historisch gesehen schon immer ihre Legitimation, und dies legitimiert die akademische Graduierung auch in unserer nachständischen Gesellschaft der allgemeinen Staatsbürgerschaft. Die Führung eines akademischen Grades begründet für die Außenwelt bei ihrem Träger die Vermutung einer bestimmten intellektuellen Ausstattung und erzieherischen Formung, des Erwerbs einer gewissen methodischen, dann auch wissenschaftlichen und schließlich fachlichen Kompetenz, die ihn im beruflichen und sonstigen sozialen Leben brauchbar macht. Weil akademische Titel diesen Zeichencharakter tragen, werden sie gern erworben; sie verbessern die Marktchancen für das persönliche Fortkommen. Der Hinweis auf das berufliche Fortkommen ist nun aber dazu angetan, sogleich vor einem großen Missverständnis zu warnen. Akademische Graduierungen sind keine berufsbezogenen Qualifikationsprüfungen. Dies kann man den Studenten nicht früh genug klarmachen, und dies muss auch am Anfang jeder Studienberatung für Erstsemester im Bereich der Philosophischen Fakultät stehen. Berufsbezogene Prüfungen sind historisch gesehen zunächst außerhalb der Universitäten eingerichtet worden; sie stellen, wie die Lehramtsprüfungen, die juristischen Staatsprüfungen und auch die vom Gesundheitsamt überwachten medizinischen Staatsprüfungen staatlich veranstaltete Laufbahn-Eingangsprüfungen dar. Ihnen nachgebildet wurden seit dem späten 19. Jahrhundert die universitären Diplomprüfungen, die zwar Universitäts-Abschlussprüfungen, jedoch praxisbezogen und berufsorientiert sind. Hierher gehört der Diplom­ingenieur, der Diplomchemiker, der Diplomphysiker usw. Die traditionellen akademischen Graduierungen mit Titelverleihung, wie die Promotion zum Doktor und zum Magister, gehören nicht hierher, sie stehen in einem anderen, dem vorhin skizzierten Horizont. Diesen historischen Sachverhalt muss man gelegentlich jenen Kollegen ins Gedächtnis zurückrufen, die darüber klagen, dass den zahlreichen von unseren philosophischen Fakultäten promovierten Magistern unserer Gegenwart so gar keine Berufsfelder entsprechen, so dass man sich fragen muss, was aus diesen jungen Leuten werden soll. Letzteres muss man sich nun in der Tat fragen; dabei handelt es sich jedoch um ein Problem, das strukturell schon immer mit den in der Artistenfakultät bzw. Philosophischen Fakultät beheimateten freien Künsten gegeben war. Neu an der gegenwärtigen Situation ist lediglich die quantitative Massenhaftigkeit dieser Erscheinung und die damit im Zusammenhang stehende Verdoppelung des Graduierungsrituals in Gestalt eines Magister Artium und eines Doktors der Philosophie. Der altmodische Magistertitel war im Wesentlichen mit der alten Artistenfakultät untergegangen und in Vergessenheit geraten. Die Regelpromotion der philosophischen Fakultäten im 19. und im größten Teil des 20. Jahrhunderts war die Graduierung zum Doktor phil. Der Dr. phil. umspannte infolgedessen eine breite Palette von der gediegenen Forschungsleistung zur Einleitung

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einer wissenschaftlichen Karriere bis hin zum relativ leicht erworbenen, auf einer dünnen Dissertation beruhenden Titel, mit dem der Journalist seine Einstellungschancen verbesserte oder der Studienrat sich auch bloß schmückte. Es entsprach der Vermehrung der Studentenschaft einerseits, den Forschungsinteressen der promotionsberechtigten Fakultätsmitglieder andererseits, wenn die philosophischen Fakultäten in Deutschland seit den 1960er Jahren, auch mit Blick auf die Standards in der angelsächsischen und französischen Welt, dazu übergingen, die Vergabe des Doktor phil. einzuschränken, ihn auf die wissenschaftliche und Forschungsperspektive hin zu orientieren und seine diesbezügliche Reputation zu steigern. Um diesen Dr. phil. abzuschirmen, wurde also eine mindere Stufe akademischer Graduierung eingeführt, die alsdann als Regelgraduierung gelten und in dieser Form dem vorhin entwickelten Bedürfnis nach Titelerwerb nachkommen sollte. Der seitherige große Erfolg dieser Neueinführung bestätigt die fortdauernde Geltung jenes gesellschaftlichen Zusammenhanges, den ich vorhin zu skizzieren versuchte. Die Wiederbelebung des altehrwürdigen Magister­titels stellt dabei einen Akt im Geiste des ästhetischen Historismus dar, sie hat lediglich dekorative Funktion. Inhaltlich folgt sie dem angelsächsischen Vorbild, das den Masters Degree als Graduierungsstufe nie verloren hatte. In ­diesem Zusammenhang ist es auch höchst bezeichnend, dass man in Deutschland neuerdings über die Wiederbelebung der niederen Graduierung des Bakkalaureats nachdenkt. Mit dieser Titelvergabe, die es erlauben würde, Studenten bereits nach der Zwischenprüfung mit einer Art Abschluss zu entlassen, erhofft man sich eine Entlastung der überquellenden Universitäten abermals auf eine Weise, die sich den Marktmechanismus der Geltung von Titeln zunutze macht, um damit der Notwendigkeit zu entgehen, die Studierwilligen entweder im Vorhinein abzuweisen oder sie alternativ straffen und berufsbezogenen Studiengängen zu unterwerfen. Solche Erwägungen führen nun freilich auf das Gebiet der gegenwärtigen Funktionskrise der Universitäten, insbesondere ihrer allgemeinbildenden Fakultäten, was hier nicht weiter vertieft werden soll. Wenden wir uns vielmehr der historischen Gestalt der Magisterprüfung zu, wie sie uns für die frühneuzeitliche Universität überliefert ist. Ist doch ­dieses Thema geeignet, Graduierte des Jahres 1996 nicht nur historisch zu belehren, sondern vor allem auch zu erheitern. Zur Einführung muss man dabei zunächst mit der Feststellung beginnen, dass in der mittelalterlichen Universität Magister die Funktionsbezeichnung für den akademischen Lehrer war; der Doktortitel war demgegenüber ein schmückender Ehrentitel für besonders angesehene Gelehrte. (So lässt Goethe seinen Faust sagen: „Heiße Magister, heiße Doktor gar …“.) Bei der Formalisierung der Verleihung akademischer Würden ging es mit der Verleihung eines Magister- und eines Doktortitels zunächst etwas durcheinander; dann bürgerte sich im Allgemeinen der Usus ein, den Magistertitel für die Graduierungen der Artistenfakultät vorzusehen, den Doktortitel aber den drei höheren Fakultäten vorzubehalten. Der Doktor phil. stellt eine spätere Rückübertragung auf die

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Philosophische Fakultät dar, und damit hängt der Umstand zusammen, dass dieser Titel im 19. Jahrhundert den Magistertitel verdrängte. Als Hintergrundinformation muss man selbstverständlich wissen, dass die Artistenfakultät in der alten Universität vor allem die Funktion einer Vorfakultät erfüllte, in der man sich allgemeinbildenden Studien hingab und deren erfolgreicher Abschluss die Voraussetzung dafür bildete, dass man eine der drei höheren Fakultäten, nämlich die der Theologie, der Jurisprudenz und der Medizin überhaupt beziehen durfte. Durch die Artistenfakultät musste zunächst jeder hindurch, sie entsprach in dieser Funktion etwa den heutigen amerikanischen Colleges. Das Lehrprogramm der Artistenfakultät wurde dabei durch die berühmten ‚septem artes liberales‘ definiert, also des Triviums Grammatik, Rhetorik, Dialektik und des Quadriviums Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik. Insofern man diese sieben Fächer über die Bildungszwecke der Vorfakultät hinaus dann auch als gelehrte Beschäftigung betrieb, wuchs die Artistenfakultät in die spätere gleichberechtigte Philosophische Fakultät hinein. Graduierung zum Magister bedeutet nun ursprünglich, Absolventen der Septem Artes Liberales die Lehrbefugnis im Rahmen der Artistenfakultät zu erteilen. Ihre Qualifikation bestand also in der Beherrschung des Stoffes der sieben freien Künste im Sinne einer gebundenen und kanonisierten Lehre, wie sie das Wesen der älteren Universität ausmachte. Die Magister-Kandidaten waren denn auch weitaus jünger, sogar noch jünger als die Magister-Kandidaten heutzutage. Allmählich weitete sich die Promotion zum Magister zum allgemeinen Erwerb eines Titels aus, dessen Inhaber damit auch außerhalb der Universität sein Glück versuchte. Damit begann eben jene vorhin beschriebene Funktionsablösung und Inflationierung, die einer soziologischen Gesetzmäßigkeit zu folgen scheint; wir erleben sie bei der Nobilitierung ebenso wie etwa bei der Verleihung von Titeln honoris causa. In unserer Gegenwart begegnen wir einer solchen Funktionsablösung – selbstverständlich auf einem gänzlich anderen Niveau – in den zahlreichen Habilitationen der medizinischen Fakultäten. Die höchst merkwürdigen Gebräuche, die sich in d ­ iesem Zusammenhang ausbildeten, erregen vor allem das Interesse. Um sie zu verstehen, muss man sich Verschiedenes vergegenwärtigen: 1. Die traditionelle Universität ist eine sich selbst verwaltende Korporation mit relativ großer Autonomie. Der sich formierende frühneuzeitliche Institutionenstaat beginnt allmählich eine Kontrolle darüber zu entwickeln, diese Kontrolle ist aber schwankend und prekär; ihr wird auch erheblicher Widerstand entgegengebracht. – 2. Die fragliche Promotion mit ihrer Titelvergabe ist begehrt, sie wird marktmäßig nachgefragt. Zu ihrer Vergabe besitzen die Universitäten als Körperschaften ein Oligopol. – 3. Für nachgefragte Güter bildet sich bekanntlich ein Preis, in d ­ iesem Fall ein oligopolistischer Preis. In diese Preisbildung gehen sachbezogene Elemente ein, also die wissensbezogene Qualitätskontrolle, daneben aber auch allerlei außerwissenschaftliche Elemente. – 4. Monopolistisch operierende Korporationen pflegen ihr Monopol auszunutzen, und obwohl sie öffentlich, d. h. gemeinwohlbezogen tätig sein sollen, wohnt

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ihnen die Tendenz inne, sich dieser Orientierung zu entfremden, wenn sie nicht einer strikten Kontrolle unterliegen oder durch Konkurrenz gebändigt werden. – 5. Die sozusagen freiberuflich an der Universität tätigen Magister waren, den späteren Privatdozenten ähnlich, ohnehin Hungerleider. Aber auch die öffentlich bestallten ordentlichen Professoren bezogen vom Landesfürsten ein außerordentlich kärgliches Gehalt. Wie im frühneuzeitlichen Beamten­dasein ganz allgemein üblich, wurde erwartet und einkalkuliert, dass das spärliche Gehalt durch allerlei Sporteln, Gebühren und sonstige Nebeneinkünfte aufgebessert wird. Professoren waren infolgedessen nebenher Zimmerwirte oder Tutoren in Bursen und Konvikten, sie unterhielten studentische Mittagstische, sie veranstalteten neben ihren Lehrveranstaltungen allerlei Repetitorien, sie schrieben ihren Schülern auch schon einmal die Dissertation gegen entsprechendes Entgelt. Sie waren selbstverständlich hinter den ihnen zustehenden regelmäßigen Einkünften, den Naturalbezügen, den Unterrichts- und Prüfungsgebühren und allen dabei anfallenden Nebenabgaben hinterher wie der Teufel hinter der armen Seele. Unter solchen Voraussetzungen gerieten die Magisterpromotionen über die Wissensprüfung hinaus zu einer gewaltigen Beutelschneiderei und zu einer Abfolge von opulenten Festessen, bei denen die Professorenschaft sich auf Kosten der Kandidaten gütlich tat. Dies alles fand statt in einer köstlichen Mischung von scholastischer oder auch humanistischer Gelehrsamkeit, gravitätisch feierlichem Gehabe, Erwerbsgier und Vorteilsnahme und schließlich auch alkoholischen Exzessen mit den dazugehörigen Prügeleien. Am Beispiel der Universität Leipzig ist dies einmal für das 16. und 17. Jahrhundert untersucht worden, weil sich hier in kontinuierlicher Folge die Rechnungsbücher über das Promotionsverfahren und vor allem den anschließenden Magisterschmaus erhalten haben. Die Magisterpromotionen wurden jährlich im Wintersemester abgehalten. Sie begannen vor Weihnachten und hatten ihren Höhepunkt im Januar. An ihnen nahmen durchschnittlich etwa jedes Mal 15 bis 20 Kandidaten teil. Die Leitung des Ganzen oblag dem Dekan, der schon damals ein außerordentlich vielbeschäftigter Mann war; neben ihm wirkte im engeren Sinne verantwortlich für die Prüfungsorganisation der ­Prokanzler, der eigens jährlich dazu von der fürstlichen Regierung, also der Landesherrschaft, zu d ­ iesem Geschäft bestellt wurde. Die jährliche Einleitung des Verfahrens wurde von regelmäßigen Ermahnungen des Landesfürsten begleitet, keine unwürdigen Kandidaten zuzulassen. Hier haben wir eine Quelle ständiger latenter oder akuter Konflikte mit der Obrigkeit, da die Fakultät und die ihr angehörenden Professoren wegen der damit verbundenen Einnahmen darauf aus waren, möglichst viele Magister durchs Examen zu bringen. Das Verfahren selbst begann damit, dass alle Kandidaten eine zehntägige Vorlesungsreihe des Prokanzlers, gegen Entgelt natürlich, zu besuchen hatten, das Exercitium Procancelarii. An diese Sessionen schloss sich ein Interpretatorium des Dekans an, das Exercitium Decani, an dem sich gleichfalls alle Kandidaten gegen Entgelt zu beteiligen hatten. Sodann begann die Prüfung der Zulassungsvoraussetzungen. Jeder

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Kandidat hatte das Bakkalaureatsexamen nachzuweisen sowie einen daran anschließenden zweijährigen Besuch von Vorlesungen samt der Teilnahme an entsprechenden Disputationen. Ferner musste er ein Zeugnis seines Praeceptor Privatus beibringen, in der Regel eines Magisters, der als eine Art Tutor fungierte und den jeder Student zu halten verpflichtet war. Diese Nachweise über den Vorlesungsbesuch, dem selbstverständlich ein festes curriculares Schema unterlag, wurde vom Dekan in einer Inspectio Schedularum Completionis überprüft, allerdings nicht mit dem Ziel, die Kandidaten bei Fehlen der Zulassungsvoraussetzungen zurückzuweisen, sondern sie nach einem festliegenden tabellarischen Tarif für alle Versäumnisse mit Strafgeldern zu überziehen und zur Kasse zu bitten. Nach der Zahlung der Strafgebühren wurden die Kandidaten vereidigt, sie mussten schwören, sich allen Prüfungsentscheidungen zu unterwerfen und sich bei Zurückweisung nicht an den Mitgliedern des Prüfungskollegiums zu rächen (eine beim damaligen studentischen Recht des Waffentragens nicht unnötige Vorsichtsmaßregel). Sodann folgte in der Zeit vor und nach Weihnachten das sogenannte Tentamen, also eine Art Vorexamen, das für jeden Kandidaten mehrere Tage in Anspruch nahm und in dem er in den verschiedenen Disziplinen der Artes Liberales schriftlich und vor allem mündlich examiniert wurde. Bei jeder dieser Einzelprüfungen waren vorab Prüfungsgebühren zu entrichten. Nach dem Abschluss des Tentamens wurden alle Kandidaten zusammengerufen, worauf zunächst einmal ein ritualisiertes Donnerwetter auf sie nieder­ gelassen wurde, worin ihnen bescheinigt wurde, dass die Leistungen äußerst schwach gewesen s­ eien und sie den gerechten Erwartungen ihrer Professoren keineswegs entsprochen hätten. Sie sollten Gott bitten, dass er die Herzen der Examinatoren zur Milde bewege und sie bereit mache, ihre Stimme zur Zulassung zum Examen Publicum, also zur öffent­lichen Prüfung, zu geben. Tatsächlich lauteten die schriftlichen Voten über die Prüfungsergebnisse, die die Examinatoren in der Folge beim Prokanzler einreichten, alle günstig; Durchfallen kam so gut wie nie vor. Die nächste Leistung, die die Kandidaten zu erbringen hatten und auf die sie durch die vorangegangene Philippika über ihre mangelhaften Prüfungen gehörig eingestimmt worden waren, war nunmehr die Ausrichtung des sogenannten Lichterfestes, eines Essens, das an Epiphanias, also am 6. Januar, stattfand. Hierzu waren der Rektor der Universität, die vier Dekane, die Professoren aller Fakultäten, alle Mitglieder des Konziliums der Philosophischen Fakultät, also auch die nichtbeamteten Magister, schließlich eine Reihe weiterer Funktionsträger sowie sämtliche Praeceptoren der einzelnen Studenten einzuladen. Das Lichterfest, bei dem die Kandidaten außer den Speisen auch für Möblierung, Geschirr, Dienerschaft usw. zu sorgen hatten, vollzog sich in feierlichen zeremoniösen Formen. Es begann mit der Entgegennahme der Zulassungsbriefe zu dem öffentlichen Examen durch jeden einzelnen Kandidaten, der bei der Aushändigung des Dokuments eine bestimmte Gebühr dafür an den verteilenden Pedell auszuhändigen hatte. Das Essen war ursprünglich bescheiden gehalten, war aber im Lauf der Zeit infolge des Wetteifers der Kandidaten immer reicher geworden. Dazu gehörten mehrere Fleischgänge

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(Schweinefleisch, Hammel, Kalb und Rind, Schöps-Zungen, geräuchertes Fleisch und Geflügel), ferner Käse und Obst und mehrere Sorten Kuchen, dazu selbstverständlich in großen Mengen Wein der verschiedensten Sorten und mehrere Sorten Bier. In der Regel überstieg die Menge der Speisen bei weitem das Fassungsvermögen der geladenen Gäste; die Reste wanderten in die Küche der Examinatoren, bestimmte auserlesene Weine waren dem Dekan und dem Prokanzler vorbehalten. An einem der folgenden Tage begann das öffentliche Examen, das drei Tage andauerte. Jede Einzelprüfung war selbstverständlich abermals mit der Entrichtung von Gebühren verbunden. Nach Abschluss aller Prüfungen wurden die Kandidaten vom Dekan empfangen, hierbei für die Gesamtprüfung noch einmal eine Gebühr eingefordert und Strafgelder für die Verletzung der vorgeschriebenen Kleiderordnung eingehoben. Dies alles ging unter ritualisierten Drohreden vor sich, in denen die höchst mangelhaften Leistungen gerügt und ein strenges Urteil in Aussicht gestellt wurden. Danach wurden die Examinatoren vom Dekan zusammengerufen und in Klausur die Prüfungsergebnisse ausgetauscht, worauf den Kandidaten die frohe Botschaft mitgeteilt wurde, dass die Prüfung als bestanden angesehen werden könne. Hiernach begann in den nächsten Tagen die Zurüstung für das wichtigste Spektakel, nämlich den großen Magisterschmaus, der auch Prandium Judicii (Urteilsschmaus) oder Aristotelischer Schmaus genannt wurde. Mit dem Einkauf der dazu notwendigen Zutaten und der Vorbereitung der Speisefolgen war die Decanissa, also die Ehefrau des Dekans, betraut, und sie war – wie immer – zu ­diesem Zeitpunkt schon eine ganze Weile mit dem Geschäft befasst. Hierzu stiftete der Landesfürst nach Brauch und Herkommen einen Hirschen, dessen Abschuss und Transport jedoch eine ­solche Summe von kleinen Entlohnungen, Sporteln usw. für das dabei beschäftigte Personal erforderte, dass dadurch der Ladenpreis von Wildbret in Leipzig so gut wie erreicht wurde. Ferner gab es wie schon beim Lichterschmaus Fleisch der verschiedensten Sorten, Geflügel, ferner Fisch, Krebse, Austern, Muscheln und Schnecken, dazu Obst, Käseplatten, verschiedenste Süßspeisen und Eierspeisen, Kuchen und Konfekt. Neben großen Mengen an Bier der verschiedenen Sorten gab es eine reiche Weinkarte, die neben verschiedenen deutschen auch französische und südländische Weine führte. Aufwändig war auch der äußere Rahmen des Festes, die Dekoration, die aufgebotene Dienerschaft; zur musikalischen Unterhaltung trug neben Instrumentalensembles regelmäßig auch der Leipziger Thomanerchor bei. Die Liste der einzuladenden Gäste umfasste einmal denselben Personenkreis wie am 6. Januar, wurde aber noch um weitere Honoratioren und Amtsträger der Stadt erweitert. Der Festtag selbst begann mit der feierlichen Promotion, d. h. der Aushändigung der Magisterurkunden vor den versammelten Kollegien. Bei dieser Gelegenheit hatten auch ausgewählte Magisterkandidaten mit dem Vortrag je einer lateinischen, einer griechischen Rede sowie verschiedenen Danksagungen in Gedichtform mitzuwirken. Dann ging es in feierlicher Prozession zu dem Saal, in welchem der Aristotelische Schmaus angerichtet war. Bei dem feierlichen Mahl war es nicht immer leicht, die gehörige Ordnung

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einzuhalten. Das Auftragen der Speisen war regelmäßig durch wegelagernde Studenten und andere Elemente gefährdet, die etwas von den Schüsseln zu stehlen suchten und die Diener überfielen. Im Saale selbst gerieten sich bei fortschreitendem Alkoholgenuss nicht selten die Magister und auch die Mitglieder des Lehrkörpers in die Haare, und dies ist buchstäblich zu nehmen; auch der Dekan selbst wurde, zumeist wegen Kompetenzstreitigkeiten, mitunter tätlich angegriffen. Bei den Mengen der genossenen geistigen Getränke waren Exzesse vor allem auf dem anschließenden Heimweg geradezu unausweichlich. Im Jahre 1702 berichtete die Magdeburger Zeitung aus Leipzig über einen Vorfall gewaltsamer Auseinandersetzung und knüpfte daran die Betrachtung: „Ist also das gemeine Echo, wie bekannt, wohl gewiss, dass sie öfters rechte Säue und Kälber zu Magistri machen, wenn sie nur das Geld bekommen.“ Diesen Vorwurf wollte die Leipziger Fakultät nicht auf sich sitzen lassen. Sie verlangte vom Rat der Stadt Magdeburg, den Verleger zur Rechenschaft zu ziehen und ihn d ­ ieses verübten Verbrechens halber gebührend zu bestrafen. Der dem Aristotelischen Schmaus folgende Tag vereinigte noch einmal die Examinatoren und die neuen Magister zum Zweck der Abrechnung über alle aufgelaufenen Kosten. Nach altem Herkommen wurde dabei den Examinatoren ein einfaches Essen, bestehend aus den Resten des Aristotelischen Schmauses, vorgesetzt. Mit der Zeit entwickelte sich aber aus dieser Beköstigung ein zweiter Schmaus, der in solchem Umfang gefeiert wurde, dass es schließlich notwendig wurde, die Abrechnung selbst auf einen dritten Tag zu verschieben, an dem dann natürlich eine neue Beköstigung der Examinatoren und der neuen Magister notwendig wurde. Dieser zweite Schmaus wurde der Platonische Schmaus genannt, er führte mit der Zeit einen großen Teil der Gäste des Aristotelischen Schmauses nochmals zusammen. Das platonische Essen begann meist spät am Tage, was zur Folge hatte, dass es sich ziemlich tief bis in die Nacht ausdehnte und in ein Zechgelage ausartete. Dagegen schritt die Obrigkeit in zunehmendem Maße ein, so dass im 17. Jahrhundert der Platonische Schmaus mehr und mehr eingeschränkt wurde. Mit dem Prandium Platonis waren die Schmausereien aber noch nicht ganz zu Ende. Am Tage darauf folgte nämlich die Abrechnung des Dekans mit den neuen Magistern. Anwesend waren dabei auch der Prokanzler und die Examinatoren. Diese Abrechnung endete wiederum in einem Zechgelage. In die Abrechnung selbst wurden alle aufgelaufenen Auslagen über die verschiedenen Schmäuse einbezogen. Eine bestimmte ansehnliche Summe erhielt die Decanissa für ihre Mühen der Vorbereitung. Der Dekan und die Examinatoren erhielten ein Ehrengeschenk für die Mühen der Rechnungsablage. Die kumulierte Summe wurde auf die neuen Magister zu gleichen Teilen umgelegt. Nimmt man zu dem durchschnittlichen Anteil jedes Magisters von etwa 20 Reichstalern noch die zahlreichen Prüfungsgebühren, so addiert sich der Aufwand für den Erwerb eines Magistertitels zu einem erklecklichen Betrag, der sich für jeden Einzelnen auf rund 40 Taler belaufen haben dürfte. Was diese Summen für den einzelnen Kandidaten an Belastung und für die Berechtigten an Extraeinnahmen und Zuwendungen real

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und in der subjektiven Einschätzung bedeuteten, ist einer historischen Analyse schwer zugänglich. Man müsste dies in den Horizont damaliger epochenbezogener Einkommensniveaus stellen und könnte dann versuchen, dies über den Umweg von Kaufkraftparitäten für uns nachvollziehbar zu machen. Gerade das Letztere fällt aber besonders schwer. Es nutzt nicht viel, wenn man sagt, dass es ungefähr dasselbe wäre, als wenn ein Magisterkandidat heute eine Summe von sagen wir 4000 DM an Gebühren und Umlagen für Festlichkeiten zu entrichten hätte; noch weniger nutzt es für die Herstellung eines Gegenwartsbezugs festzustellen, dass jeder beteiligte Professor sich dreimal nacheinander durchessen, seiner Frau noch einige übrig gebliebene Weinflaschen sowie Konfekt zuschicken lassen konnte und überdies eine Extrazuwendung von sagen wir 500 DM erhielt. In der Regel wären dem heutigen Professor sowohl die Völlerei als auch die Naturalien und schließlich auch das Extrageld durchaus entbehrlich. Unter den Bedingungen des 16. oder 17. Jahrhunderts und den damaligen kärglichen Einkommensverhältnissen war aber kein Professor bereit, auf derartige Zuwendungen zu verzichten. Es kommt also auf die Beachtung des allgemeinen Niveaus der Lebenshaltung ebenso an wie auf die Berücksichtigung des allgemeinen Erwartungshorizonts und der Mentalitäten, namentlich auch der Festkultur und der „barocken“ Formen der Selbstdarstellung. Einen besseren Zugang gewinnt man, wenn man sich an die zeitgenössische Beurteilung der geschilderten Phänomene durch Außenstehende hält. Als Indiz mag die Tatsache dienen, dass die obrigkeitlichen Behörden einen fast ununterbrochenen Kampf gegen Auswüchse und Missbräuche führten, die mit dem Magisterschmaus zusammenhingen. Derartige Verbote reihen sich ein in die vielfältigen Maßnahmen zur Sozialdisziplinierung, die fortwährend gegen ausladende Hochzeits- und Leichenfeiern, gegen Zunftbräuche (bei Meistererhebungen ging es ähnlich zu wie in der Universität), gegen blaue Montage, gegen Putzsucht, Trunksucht und dergleichen mehr gerichtet waren. Aber erst im 18. Jahrhundert zeichneten sich darin allmählich Erfolge ab. Auf zweierlei Weise brachte sich der disziplinierende Zugriff, der dem aufgeklärt absolutistischen Staat ganz allgemein eigen war, gegenüber der Universität zur Geltung: Zum einen waren es die fortschreitende Kontrolle über das korporative Eigenleben und der Kampf gegen gewohnheitsrechtlichen Schlendrian und leistungsfeindliche Korruption, mit dessen Hilfe eine von Nüchternheit und Nützlichkeitsgesichtspunkten bestimmte Gesellschaft leistungsbewusster Individuen heraufgeführt werden sollte. Zum anderen wurden die Universitätsprofessoren wie alle Fürstendiener neuen Maßstäben eines öffentlichen Dienstes unterworfen, in dem bessere Besoldung mit dem Verbot individueller Nebeneinkünfte einherging. Auch aus den Professoren wurden damit moderne Beamte, und dies kennzeichnete die Universität des 19. und 20. Jahrhunderts ebenso wie die weitgehende Verwandlung der alten autonomen Korporationen in staatliche Lehranstalten unter ministerieller Rechts- und auch Fachaufsicht. Im 20. Jahrhundert ist dann schließlich die nach-humboldtsche Universität dem Sozialstaatsprinzip dienstbar gemacht worden, was besagt, dass sie ihre Leistungen im Rahmen des staatlich finanzierten Bildungssystems

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zum Nulltarif anzubieten hat. Für die preisbildende Verwertung des Titelvergabemonopols ist in d ­ iesem System kein Platz mehr. Freilich kam mit dem Verlust der Korporation auch die Lust an der öffentlichen Promotionsfeier abhanden, und es lag in der Konsequenz der „Veranstaltlichung“ der Universität, wenn am Ende die Magister- und Promotionsurkunden nur noch postamtlich zugestellt wurden. So viel fortschrittliche Nüchternheit schien den Verantwortlichen auf die Dauer denn doch zu krass und hat unsere Fakultät seit einiger Zeit dazu bewogen, die alte Idee von der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden wenigstens symbolisch in einer kleinen gemeinsamen Feier wieder sichtbar zu machen. Magisterschmäuse sind damit nicht verbunden – das bescheidene Glas Wein, das dabei gereicht wird, hat ebenfalls eher symbolische Qualität.

Benutzte Literatur Die Beschreibung des Magisterschmauses folgt der Arbeit von: Georg Erler, Leipziger Magisterschmäuse im 16., 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1905. Zum zeitgenössischen Rahmen: Notger Hammerstein mit August Buck (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1: 15. bis 17. Jahrhundert, München 1996; darin Arno Seifert, Kapitel VI/III, Abschnitte 4 (Die akademische Freiheit), 5 (Das Stipendienwesen) und 6 (Die Universität in Staat und Gesellschaft), a. a. O. S. 265 – 278. [Magisterschmäuse finden darin keine Erwähnung.]

Abb. 8  Glaspokal der Wiener Nationalgarde, 1848.

Abb. 9  Wilhelm Bülow (Entwerfer u. Lithograph, Lebensdaten unbek.), „Vertheidigung der Barrikade. Neue Königsstrasse und Alexanderplatz in Berlin“, um 1848.

Studenten in der Revolution von 1848 Dreimal in relativ ­kurzen Abständen haben Studenten in der Zeit der Restauration und des Vormärz in Deutschland politisch von sich reden gemacht: in der Zeit von den Freiheitskriegen bis zu den Karlsbader Beschlüssen (1813 – 1819), von der Julirevolution bis zum Frankfurter Wachensturm (1830 – 1833) und während der Revolution von 1848/49. Eine wichtige institutionelle Voraussetzung hierfür lag in der deutschen Universitätsverfassung. Die mit dem Namen Humboldts verknüpfte Universitätsreform hatte die Lehrfreiheit und Lernfreiheit eingeführt und die Studenten aus den bis dahin üblichen Zwängen eines schulischen Lehrbetriebs und einer engen disziplinarischen Aufsicht entlassen. Zugleich hatte die Universität sich aus jeglichem Erziehungsauftrag zurückgezogen; die Studenten wurden als junge mündige Erwachsene angesehen, die sich aus freier Entscheidung der Wissenschaft widmen und nur in ­diesem geistigen Streben den entscheidenden Berührungspunkt mit der Professorenschaft finden sollten. Tatsächlich aber befanden sich die Studenten als Jugendliche in einem Stadium unabgeschlossener Erziehung, und natürlich entwickelten sie wie eh und je ein hohes Bedürfnis nach Geselligkeit und Freundschaft. Infolgedessen entfalteten sich im Rahmen der neuen akademischen Freiheit die studentischen Korporationen als die wichtigsten Instanzen jugendlicher Selbstorganisation und Selbsterziehung. Die als Relikt älterer Universitätsautonomie in das 19. Jahrhundert hineinragende akademische Gerichtsbarkeit bedeutete in ­diesem Zusammenhang weniger ein Disziplinierungsinstrument, sie sicherte vielmehr in erheblichem Maße die notwendigen Freiräume, die der Ausbildung studentischer Bräuche und Rituale, insbesondere der Ausbildung des Duellwesens, Vorschub leisteten. Diese neue akademische Freiheit ließ nun zugleich die Impulse wirksam werden, die vom Erlebnis der nationalen Freiheitskriege gegen Napoleon ausgingen, die die studen­ tischen Gemüter in emphatische Bewegung versetzten und auch eine erhebliche Politisierung herbeiführten. Dabei verknüpften sich nationalpolitische Ziele mit Zielen einer innerstudentischen Reform. Kernziel ­dieses mit dem Namen der Burschenschaft verbundenen Reformprogramms war die Auflösung der herkömmlichen korporativen Formationen der alten Landsmannschaften zugunsten einer umfassenden Gesamtorganisation für alle Studenten auf nationaler Grundlage. Mit dem Wartburgfest von 1817 und der Gründung der „Allgemeinen Deutschen Burschenschaft“ ein Jahr darauf erlebte diese Bewegung ihren ersten Höhepunkt. Wie weit die Bewegung die deutsche Studentenschaft tatsächlich erfasste, entzieht sich der Berechnung. Mancherorts, aber bei weitem nicht überall, gingen die Landsmannschaften vorübergehend in der „Allgemeinheit“ auf. Bei den diffusen Mitgliedschaftsverhältnissen wird man einen Kern von engagierten burschen­schaftlichen Aktivisten und einen mehr oder minder, an manchen Universitäten tatsächlich näherungsweise auf die Gesamtstudentenschaft sich erstreckenden Kreis von

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Sympathisanten zu unterscheiden haben. Ohnehin währte die Maienblüte der Gemütserhebung nur kurz. Entscheidend für das weitere Schicksal der Bewegung wurde die Herausbildung eines radikalen Flügels mit egalitär-demokratischen Vorstellungen und einer Bereitschaft zu Konspiration und Aktion, wofür sich in der Philosophie der Überzeugungstat dann auch eine Th ­ eorie der sittlichen Rechtfertigung von Gewaltanwendung fand. Mit den Karlsbader Beschlüssen und dem polizeilichen Zugriff auf die „Demagogen“ fand diese erste Welle ein jähes Ende. Das Vereinsverbot traf die Studentenverbindungen jedoch nicht gleichmäßig; die Landsmannschaften wurden von den Behörden als politisch geringeres Übel toleriert. Sie beherrschten infolgedessen wieder stärker die studentische Szene und begannen nunmehr, sich unter Lösung von dem hergebrachten landsmannschaftlichen Rekrutierungsprinzip in Corps zu verwandeln; sie begründeten damit recht eigentlich den modernen Typ der Korporation. Der burschenschaftliche Radikalismus hingegen lebte im Untergrund weiter; als harmlose gesellige Vereinigungen erhielten sich zahlreiche Verbindungen unter den Augen der Behörden auch ganz offen. Die Liberalisierung der Universitätspolitik in den späten 1820er Jahren gab der burschen­schaftlichen Bewegung wieder größere Freiräume. Der alte Allgemeinheits­ anspruch war jedoch nicht mehr durchzusetzen, die Burschenschaften wurden parti­ kulare Verbindungen unter anderen. Unter dem Eindruck der Verfolgungen hatten zudem Richtungskämpfe eingesetzt; die Besonnenen und Vorsichtigen schieden sich von den Aktivisten in der Frage der richtigen Vorgehensweise bei der Verwirklichung der gesamtpolitischen Ziele. Die konservativere Richtung der „Arminen“ setzte auf den Marsch durch die Institutionen und sah ihre Aufgabe in der studentischen Erziehung, Selbsterziehung und sittlichen Reifung, um sich für den Staatsdienst nicht nur fachlich zu qualifizieren, sondern moralisch auf die Übernahme von Verantwortung vorzubereiten. Die Richtung der „Germanen“ betonte demgegenüber die Notwendigkeit genuin studentischer Politik und Aktion zur Verwirklichung der nationalen Ziele. Unter dem Eindruck der Julirevolution von 1830 breitete sich in Deutschland insgesamt eine liberale Verfassungsbewegung wie auch eine soziale Protestbewegung aus; in ihrem Rahmen fand auch der radikale burschenschaftliche Aktionismus erneut ein politisches Betätigungsfeld. Radikale Studenten waren am Hambacher Fest, am Gaibacher Fest, an der Agitation unter den unterbäuerlichen Schichten Hessens und etwa auch an der liberalen Würzburger Bewegung um Bürgermeister Behr beteiligt. Der Frankfurter Wachensturm von 1833 markierte den abermals gewaltsamen Höhepunkt dieser Bewegung und mündete erneut in eine Welle polizeistaatlicher Repression. Im folgenden Jahrzehnt begannen sich die Verbindungen als partikulare Pluralität von Einzelkorporationen an den jeweiligen Universitäten zu verfestigen und zu profilieren. Unter der maßgeblichen Führung der Corps bildeten sich jene festen Formen des ört­ lichen Komments, insbesondere des Duellwesens, der örtlichen Kartellbeziehungen und der interkorporativen Schiedsgerichtsbarkeit aus, die die zweite Hälfte des Jahrhunderts dann maßgeblich bestimmen sollten. Die Spaltung der Burschenschaft in verschiedene

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Richtungen vertiefte sich, wobei die Frage des studentischen politischen Engagements zu einem wichtigen Kriterium wurde. Die konservative Richtung war von den Corps kaum mehr zu unterscheiden; auf der anderen Seite hielten die „Germanen“ an ihrem nationalpolitischen Credo fest, konnten aber nur sehr vorsichtig agieren. Für die Corps galt – und das begann jetzt ihr Profil entscheidend zu prägen – der Grundsatz politischer Abstinenz im studentischen Verband. Dieser Grundsatz bezog sich, wie betont werden muss, auf den Lebensabschnitt des Studentseins, nicht auf die späteren Abschnitte der Berufs­und Erwachsenenwelt. Für den Corpsstudenten galt ausschließlich das Prinzip der Formung durch das Gruppenleben und seine Besonderheiten, die Einhaltung des Ehrenkodex, des Komments und die daraus folgenden Verhaltensmuster im Duellbetrieb. Seit den späten 1830er Jahren wurde jedoch die universitäre Szene noch einmal durch eine radikale studentische Bewegung aufgewirbelt, die sogenannte „Progreß“-Bewegung. Die studentischen Vertreter des „Progreß“ suchten den „Geist der Freiheit, des Rechts und des Fortschritts“ in der Hochschule und der Gesellschaft zu verbreiten. Sie standen mit der literarischen Bewegung des Jungen Deutschland, mit dem Linkshegelianismus, mit radikalen Emigrantenzirkeln und frühsozialistischen Intellektuellen in Verbindung. Dem radikalen Flügel der Urburschenschaft nicht unähnlich, aktuell jedoch außerhalb der Burschenschaften als Korporation, verfolgten sie nationale Ziele im Geiste des unitarischen Republikanismus und verbanden damit erneut ein Programm studentischer Reform an den Universitäten selbst. Der Standesunterschied z­ wischen Studenten und allgemeiner Bürgerschaft sollte aufgehoben, demzufolge die korporative Absonderung beseitigt, die akademische Gerichtsbarkeit abgeschafft und speziell das Duellwesen durch ein Ehrengericht ersetzt werden. Unter Auflösung der Korporationen sollten die Studentenschaften unter Abschaffung aller äußerlichen ­­Zeichen in einer Allgemeinheit zusammengefasst und von gewählten Kommissionen geleitet werden. Man dachte sich eine studentische Selbstverwaltung in ähnlichen Formen, wie man sie seit dem ­Ersten Weltkrieg mit dem AStA zu verwirklichen suchte. Um die Politisierung voranzutreiben, gründeten die „Progreß“-Studenten Lesevereine, die sich vor allem der Beschaffung von Zeitungen widmeten. Es verwundert nicht, dass im Zusammenhang mit der „Progreß“Bewegung die behördlichen Kontrollen in den 1840er Jahren wieder verschärft wurden. Naturgemäß waren die Korporationen und unter ihnen insbesondere die Corps die wichtigste Zielscheibe des „Progreß“. Die Verbindungen selbst blieben von dieser Agitation nicht unbeeindruckt. Insbesondere die Burschenschaften wurden hiervon stark betroffen, denn allzu deutlich fanden sich ihre alten Anliegen wenigstens in den nationalpolitischen Teilen des „Progreß“-Programms, aber auch in den universitären Reformzielen wieder. Folglich schlossen sich zahlreiche Burschenschafter oder auch ganze Verbindungen der „Progreß“-Bewegung an, ja stellten sich mit fliegenden Fahnen an deren Spitze. Dies führte verschärft zu Spaltungen unter den Burschenschaften und zu zahlreichen Umgründungen und Neugründungen mit polarisierenden Konsequenzen. Aber auch viele Corpsstudenten öffneten sich den neuen Tendenzen, und so wurden von diesen

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Spaltungen auch zahlreiche Corps ergriffen. Eine neuartige und in sich widersprüch­liche Erscheinung war in ­diesem Zusammenhang die Selbstorganisation der sogenannten Finken­schaften, also der Zusammenschluss nichtkorporierter Studenten. Die Nichtkorporierten bildeten an den Kleinstadtuniversitäten meist rund die Hälfte, an den Großstadtuniversitäten oft die Mehrzahl der Studierenden. Nach der soziologischen Regel, wonach nur organisierte Potentiale handlungsmächtig sind und damit geschichtsmächtig werden, war diese schweigende Mehrheit unauffällig und spielte im Universitätsgeschehen keine Rolle. Von den Korporationsstudenten wurden sie verächtlich als Finken, Kamele, Mucker, Obskuranten oder ähnlich bezeichnet, im Übrigen auch vielfältig drangsaliert. Insbesondere unter den zumeist von corpsstudentischen „Renommisten“ ausgehenden Duellprovokationen litten auch die Finken, denen nach den merkwürdigen Konfliktspielen und Ehrauffassungen der Zeit zugemutet wurde, sich entweder zu schlagen oder „Waffenschutz“ zu suchen. Ein wesentliches Motiv der Selbstorganisation der Freien oder „Wilden“ galt der Abwehr dieser Verhältnisse und einer entsprechenden Reform von akademischer Gerichtsbarkeit und Disziplinarrecht; damit vermischte sich jedoch auch in starkem Maße die neue Politisierung der Hochschulszene im Sinne des „Progreß“, also der Versuch, die Organisation der studentischen sogenannten „Allgemeinheit“ in eine demokratisch-republikanische Richtung zu lenken. Schließlich ist die zeitgenössische weltanschaulich-religiöse Polarisierung der Gemüter zu beachten, die in einer Wiederbelebung der traditionellen konfessionellen Gegensätze, vor allem aber in der Spannung von liberalem Kulturprotestantismus und positivkirch­ licher Strenggläubigkeit und erst recht in den religionsfeindlichen Attacken des modernen Atheismus im Gefolge der linkshegelianischen Philosophie zum Ausdruck kam. Auch dies fand in der studentischen Szene seinen Ausdruck, vor allem in konfessionellen Verbindungsgründungen zur Verteidigung gegen die allgemeine Säkularisierungstendenz. Dabei kam es erst vereinzelt zu katholischen Vereinsbildungen; deren große Verbände entstanden erst in den 1850er Jahren. Bedeutsamer für das vormärzliche Klima wurde die Bildung des theoretisch überkonfessionellen, praktisch lutherisch-orthodox geprägten und von der Erweckungsbewegung stimulierten „Wingolf “ (v. a. in Halle und Erlangen); daneben betonte auch manche Burschenschaft als „christliche Burschenschaft“ die evangelische, sogenannte „christlich-deutsche“ oder „christlich-germanische“ Tradition des Zeitalters der Romantik und der Freiheitskriege. Auch die religiösen Verbindungen standen in Abwehr zum Rauf- und Saufkomment und pflegten die Werte der Innerlichkeit; politisch waren sie durchweg konservativ. All diese Verhältnisse sorgten in den 1840er Jahren an den Universitäten für erhebliche Unruhe, und die Revolutionsjahre 1848/49 lösten die Krise sodann in einer nachhaltigen Klärung der Fronten. Das Erscheinungsbild der Studenten im Revolutionsjahr war breit gefächert und entsprach damit der inzwischen eingetretenen ideologischen Differenzierung an den Universitäten wie in der Gesamtgesellschaft. So betätigten sich etwa in Jena und Bonn r­ adikale Studenten führend in der Agitation der Unterschichten und bei der Formulierung sozialer

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Programmforderungen. Vor allem in Wien war die „Aula“ ein wichtiges Element innerhalb der radikalen Bewegung der Stadt; die Akademische Legion war an entscheidenden Aktionen zur Erzwingung einer verfassunggebenden Versammlung beteiligt. Studenten führten die Arbeiter der Wiener Vorstadt bei ihren Gewaltaktionen an, und auch in Berlin standen sie mit auf den Barrikaden. Andernorts reihten sich die Studenten in die Bürgergarden zur Sicherung von Gesetzlichkeit und Ordnung und zum Schutz des Eigentums ein. Später dann, im Spätsommer 1848, konnte man in Wien wie in Berlin bewaffnete Studenten während der radikalen Unterschichtsbewegungen auf der anderen Seite der Front wahrnehmen; sie standen nunmehr an der Seite des auf Ruhe und Ordnung bedachten Bürgertums und folgten damit der allgemeinen Spaltung, die sich der revolutionären Hoffnung nach der Erosion des Völkerfrühlings inzwischen bemächtigt hatte. Noch deutlicher trat diese Differenzierung in dem zu Pfingsten 1848 abgehaltenen Studentenkongress auf der Wartburg zutage, bei dem ungeachtet der Huldigung an den Genius loci nicht mehr eine Gemütserhebung wie 1817 im Vordergrund stand, sondern wo hochschulpolitische Interessen und Sachfragen die Aufspaltung der studentischen Vertreter in unterschiedliche Fraktionen bestimmte. Dieses Ereignis soll im Folgenden näher betrachtet werden, weil es ein Lehrstück für Gruppenbildungsprozesse und Organisationsprobleme im politischen Raum darstellt und weil es auch für die weitere Geschichte des Verbindungswesens bedeutsam werden sollte. In Zeitungsanzeigen rief die Jenenser Burschenschaft „Germania“ am 11. Mai 1848 zu einem Treffen aller Burschenschaften an Pfingsten auf der Wartburg auf, selbstverständlich in Erinnerung an das erste Wartburgfest 1817. Wenige Tage ­später propagierte die radikalere Jenenser Verbindung „Auf dem Burgkeller“ die Umwandlung dieser Versammlung in ein Treffen aller korporierten wie nichtkorporierten Studenten, um den vom „Progreß“ wiederbelebten Gedanken der Allgemeinheit durchzusetzen. Auf diesen Vorschlag schwenkten die Burschenschaften allgemein ein, und so setzte sich in den Tagen vor Pfingsten (12. Juni) eine Gruppe gewählter Delegierter und eine große Zahl freier Interessenten nach Eisenach in Bewegung. Angesichts dieser Entwicklung riefen die Heidelberger Corps am 15. Mai dazu auf, alle Seniorenkonvente deutscher Universitäten am Pfingstsamstag auf der Rudelsburg zu einer Gegenveranstaltung zu versammeln, um über die Stellung der Corps in der deutschen Studentenschaft zu beraten. Dieses Treffen kam mit 400 bis 500 Teilnehmern zustande. Hauptstreitpunkt der Verhandlungen wurde rasch, ob man die Eisenacher Versammlung beschicken solle oder nicht; eine Mehrheit entschied sich gegen eine Isolierung und für den Gang nach Eisenach, und so machten sich in der Folge auch Vertreter der Corps auf den Weg in die allgemeine Versammlung. In Eisenach war inzwischen eine große Studentenzahl der verschiedensten Richtungen zusammengetroffen; darunter befanden sich starke Trupps der radikalen Berliner, Hallenser, Jenenser und Breslauer Studentenschaften, insbesondere aber in größerer Zahl die schon in ihrer äußerlichen Aufmachung eindrucksvollen Vertreter der Wiener Akademischen Legion. In verschiedenen Vorgesprächen in der Stadt, die von fröhlichen

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Kommersen begleitet wurden, suchte man sich über das weitere Vorgehen zu verständigen. Eigentlich war von den Initiatoren an ein Treffen bevollmächtigter Delegierter aus den deutschen Universitätsorten gedacht worden; dementsprechend hatte man eine Tagesordnung vorbereitet, die im Wesentlichen radikale, also ‚linksorientierte‘ Programmpunkte enthielt. Aber erstens hatten nur wenige Studentenschaften förmlich gewählte und bevollmächtigte Vertreter entsandt, und zweitens wollten sich andererseits die ­spontan in großer Masse (etwa 1500) angereisten Studenten nicht auf die Rolle von Zaungästen beschränken lassen, sondern mitdiskutieren. Diese verworrene Situation musste naturgemäß zu heftigen Auseinandersetzungen führen, aus denen das Vorbereitungskomitee jedoch mit einer pragmatisch-vernünftigen Lösung herausfand. Danach sollte ein förmliches Parlament konstituiert, parallel dazu eine allgemeine Versammlung aller Anwesenden abgehalten werden. Nach den Diskussionen und Abstimmungen über die vorbereitete Tagesordnung in der großen Versammlung sollte das Parlament tagen und nach förmlicher Diskussion und Beschlussfassung eine entsprechende Adresse an die Frankfurter Nationalversammlung ­schicken. Über den Gesamthergang sind wir durch verschiedene private Erzählungen gut informiert, von denen ein gedruckter Bericht zweier linker Burschenschafter aus Breslau (aus dem intellektuellen Umkreis Arnold Ruges) und eine briefliche Beschreibung eines Erlanger konservativen Burschenschafters besonders herausragen. Außerdem sind die Manifeste und Adressen überliefert, die auf der Tagung und in ihrem Umkreis beschlossen wurden. Befassen wir uns zunächst mit der freien Plenarversammlung, an der etwa 1000 bis 1200 Studenten teilnahmen. Schon im Vorfeld war es zum Konflikt darüber gekommen, ob auch Nichtstudenten Rederecht haben sollten. Dabei ging es um einige linke Abgeordnete der Paulskirche, die Eisenach ihren Besuch abstatteten. Sie wurden auf die Galerie verbannt, durften aber von dort aus das Wort ergreifen, was sie auch mit teils großer Wirkung wahrnahmen. In der großen Versammlungshalle war zunächst eine Sitzordnung nach Universitäten vorgesehen worden, die aber mit der ‚spontanen‘ Parole „Auf die Linke – auf die Rechte“ durch eine mehr ‚parlamentarische‘ Teilung nach Parteiorientierung ersetzt wurde. Damit wurden die Entscheidungsprozesse bereits gruppendynamisch vorstrukturiert. Die Linke hatte mit etwa 600 – 700 Studenten das Übergewicht, die Rechte zählte 400 bis 500 Mann. Auf der Linken saßen vornehmlich die nichtkorporierten Studenten, ferner die dem „Progreß“ anhängenden Burschenschafter sowie einige Corpsbrüder. Auf der Rechten befand sich die überwiegende Zahl der Corps, die konservativeren Burschenschafter, sodann die Vertreter der evangelischen Verbindungen. Aus konservativer Erlanger Retrospektive war die linke Mehrheit zugleich wohlorganisiert und wies auch eine größere Zahl talentierter Redner auf. Die Rechte bestand nach der Darstellung des Erlanger Gewährsmanns aus zwei Teilen, nämlich aus redlichen konservativen bzw. konstitutionellen Debattenrednern, die sich mit der Gegenseite argumentativ auseinandersetzten, sowie aus einem Haufen lärmender Corpsbrüder, die in

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dem Saal aus und ein gingen, draußen kräftig tranken, dann wieder die Debatten durch gesinnungstüchtigen Lärm untermalten bzw. sich hauptsächlich zu den Abstimmungen einfanden. Für die konservative Sache war ihr Erscheinungsbild eher eine Belastung. Die wohlvorbereitete Tagesordnung zeigte die Handschrift der progressistisch dominierten Vorbereitungszirkel. Sie war bereits in Thesenform abgefasst und umfasste 13 Punkte: 1. Die Universitäten sollen Nationalanstalten werden. 2. Die Universitäten sollen mit Aufhebung aller Fakultäten eine enzyklopädische Stellung einnehmen. 3. Unbedingte Lehr- und Hörfreiheit. 4. Aufhebung des Zwangs, behufs Zulassung zum Staatsexamen auf einer sogenannten Landesuniversität studiert zu haben. 5. Modifikation respektive Aufhebung der akademischen Gerichtsbarkeit. 6. Die einzelnen Staaten sollen den Bundesbeschluss über Aufhebung der Ausnahmegesetze seit 1819 sofort in Wirksamkeit treten lassen. 7. Gewährung aller bürgerlichen Rechte an die Studierenden, soweit sie ihnen nach den allgemeinen Gesetzen zukommen. 8. Beteiligung der Studierenden bei der Wahl der akademischen Behörden und bei der Besetzung der Lehrstühle. 9. Wegfall der Kollegienhonorare, der Gelder zur Erlangung akademischer Grade und der Im- und Exmatrikulationsgebühren. 10. Die Erlangung eines Staatsamtes soll fernerhin nicht mehr von der Erlangung einer akademischen Würde abhängig sein. 11. Aufforderung an alle Universitäten, sich baldmöglichst zu wohlorganisierten Studenten­ schaften zu konstituieren. 12. Wiederkehr der Deutschen Studentenversammlungen an einem in jeder Versammlung für das nächste Mal zu bestimmenden Orte. 13. Errichtung einer Studentenzeitung. Bereits über den ersten Punkt, die Nationalisierung der Universitäten, entstanden die heftigsten Kontroversen z­ wischen den Vertretern des nationaldemokratischen Zentralismus und des traditionellen Föderalismus. Die Zentralisten forderten die Errichtung eines Reichsunterrichtsministeriums und die Einziehung des Dotationsvermögens aller bestehenden Landesuniversitäten, um durch Umverteilung eine gleichmäßige Ausstattung und Versorgung aller nationalen Lehranstalten zu gewährleisten. Zugleich sollte damit der reaktionäre Einfluss der Landesregierungen aufgehoben werden. Im Übrigen sollten die hergebrachten Selbstverwaltungsrechte der Universitäten gewahrt bleiben. Gegen den konservativen Einwand, dass die Nationalisierung von zweckgebundenem Stiftungsvermögen das Prinzip des Eigentumsschutzes verletze und ein Akt des Kommunismus sei, wurde auf die frühere Säkularisation von Klostervermögen durch die

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Einzelstaaten verwiesen; diese müssten sich jetzt vom Reich dasselbe gefallen lassen: Nur so sei die Entfaltung der Wissenschaft auf nationaler Grundlage zu sichern. Die Anträge der Linken gingen mit einer Majorität von fast 200 Stimmen durch. Die Debatten über die Aufhebung der Fakultäten brachten von linker Seite vor allem das Prinzip zur Geltung, dass der Hörerzwang aufgehoben werden und die interdisziplinäre Freiheit des Vorlesungsbesuchs hergestellt werden sollte. Das richtete sich vor allem gegen die Praxis der Unterrichts­regulierung in theologischen Fakultäten. Beachtlich war auch der ergänzende Antrag, das Fächerspektrum der Universitäten zu erweitern: Die ganze Wissenschaft sollte vertreten sein. Dabei dachte man vor allem an die Nationalökonomie, und hier wurde daran erinnert, dass an keiner Universität ein Lehrer des Sozialismus vorhanden sei, einer Wissenschaft, die „in Zukunft die unentbehrlichste zu werden verspricht“. Die Frage der Hörgeldfreiheit, aber auch so wichtige und zugleich problematische Forderungen wie die nach studentischer Beteiligung an akademischen Wahlen und an Berufungen wurden ohne Debatte mit überwältigenden Mehrheiten beschlossen. Die umfangreichste und zugleich am meisten kontroverse Debatte ergab sich über die Frage der akademischen Gerichtsbarkeit. Hier verband sich mit dem konkreten Motiv, den akademischen Schutzraum für grobe Persönlichkeitsverletzungen und Pennalismus aufzubrechen und der ordentlichen Straf- und Zivilgerichtsbarkeit Eingang in die studentischen Verhältnisse zu verschaffen, das ideelle Motiv nach Beseitigung aller körperschaftlichen und Standesprivilegien. Die Studenten sollten in der allgemeinen Staatsbürgerschaft aufgehen und jeden besonderen Status verlieren. Die Rechte verteidigte die hergebrachte akademische Gerichtsbarkeit mit besonderer Zähigkeit, aber auch eine vermittelnde Forderung, wenigstens eine der Stufe unabgeschlossener Jugendlichkeit angemessene Disziplinargewalt der Universitätsbehörden aufrechtzuerhalten, verfiel der Ablehnung durch die linke Majorität. Die Studenten sollten keine Schüler, sondern Erwachsene sein. In all diesen wie in anderen Punkten, die hier übergangen werden sollen, errang die Linke einen vollständigen Abstimmungssieg, der sich selbstverständlich aus den Zufälligkeiten der Anwesenheit in Eisenach ergab und gewiss nicht repräsentativ für die Gesamtstudentenschaft Deutschlands war. Die Mehrheit war aber – was dieser Lage angemessen gewesen wäre – auch nicht bereit, die Minderheitenvoten in die beschlossene Adresse aufzunehmen, und so ging d ­ ieses Manifest ausschließlich auf der Basis der Mehrheits­ beschlüsse an die Deutsche Nationalversammlung in Frankfurt. Es bedarf keiner näheren Erörterung, dass ein solches Verfahren prozedural ganz abwegig war, denn die Studentenversammlung war ja kein Entscheidungsgremium. Betrachten wir nun das engere Studentenparlament, auf dessen Konstituierung die linksorientierten Vorbereitungskomitees anfänglich so großen Wert gelegt hatten, weil die Stimmungen der angereisten Studenten zunächst gar nicht abzuschätzen gewesen war. Am Ende der großen Versammlung war das Parlament im Sinne der Initiatoren jedoch eigentlich überflüssig; dennoch konstituierte es sich, um die Beschlüsse der großen Versammlung zu ratifizieren. Dank des Delegationsmodus fiel seine Zusammensetzung noch

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einseitiger aus. Nur ein Teil der Universitäten hatte Delegierte gewählt und förmlich bevollmächtigt. Ein anderer Teil war durch angereiste Studenten faktisch, aber formlos vertreten. Diese wählten nun am Ort, in Eisenach, aus ihrer Mitte die erforderlichen Delegierten; insgesamt wurde dabei der Schlüssel von einem Vertreter pro 100 immatrikulierte Studenten zugrunde gelegt. Wo die Zahl der Anwesenden hierzu nicht ausreichte (Wien hätte allein Anspruch auf 45 Delegierte gehabt), musste auf die Reststimmen verzichtet werden; mehrfache Stimmführung durch eine Person sollte ausgeschlossen sein. Auf diese Weise kam ein Parlament von 101 Vertretern zustande, mit denen die meisten deutschen Universitäten repräsentiert waren. Gar nicht vertreten waren Heidelberg, Freiburg, Kiel, Rostock und die meisten österreichischen Universitäten (Innsbruck, Graz, Prag, Salzburg). Aus Österreich kamen lediglich Studenten aus Wien (von hier aber 26) und Olmütz; ferner war das siebenbürgische Hermannstadt repräsentiert, das eigentlich nicht zum Deutschen Bund gehörte. Angesichts ­dieses Verfahrens verzichteten die Erlanger Vertreter, obwohl sie förmlich delegiert waren, auf die Wahrnehmung ihres Mandats. Es war klar, dass die Zusammensetzung des Parlamentes die Mehrheitsverhältnisse der nach Eisenach gereisten Aktivisten widerspiegeln musste, die dann bei ihrer Delegiertenwahl am Ort zudem auch noch die anwesenden Minderheiten missachteten. Daraus ergab sich eine Links-rechts-Verteilung im Parlament von etwa 90 : 10. Immerhin sollten die Beschlüsse des Parlaments für diejenigen Universitäten, die daheim keine Delegierten bevollmächtigt hatten, einem Ratifikationsvorbehalt durch heimische studentische Versammlungen unterworfen sein. In der Diskussion um eine s­ olche Organisation verfasster Studentenschaften an allen Universitäten und deren Zusammenfassung in regelmäßigen nationalen Delegiertenversammlungen bestand dann auch die Hauptarbeit des Eisenacher Parlaments. Im Übrigen hat es die Beschlüsse der großen Versammlung lediglich noch einmal wiederholt. Nach den Eisenacher Entwürfen sollte an jeder Universität ein gewähltes Studentenparlament bestehen, das aus allgemeinen Wahlen auf der Basis des individuellen Stimmrechts aller Studenten hervorgehen, nicht etwa aus Delegierten der vorhandenen Korporationen zusammengesetzt sein sollte. Ob die bestehenden Verbindungen aufzulösen ­seien oder daneben bestehen bleiben konnten, war umstritten; dies stellte man schließlich den einzelnen Universitäten anheim. Als ständige vollziehende Behörde sollte ein studentisches Ehrengericht bestehen, dessen zeittypische Hauptaufgabe die Streitschlichtung und Friedenswahrung war; andere Aufgaben wie die Vertretung gegenüber den Universitätsbehörden waren weniger präzise bestimmt. Die nationale Organisation war nach dem geläufigen Vorortprinzip gestaltet, d. h., eine Universität nahm im Rotationsverfahren die Geschäftsführung ­zwischen den nationalen Delegiertenversammlungen wahr. Als erster Vorort wurde die Universität Breslau bestimmt. Was wir hier vor uns haben, ist das Konzept einer demokratisch verfassten Studentenschaft, die auf lokaler Ebene ihre eigenen Angelegenheiten durch gewählte Gremien verwalten sollte, die gegenüber Universitätsleitung und Professorenschaft erhebliche

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Mitbestimmungsrechte erhalten sollte und die sich schließlich auf nationaler Ebene durch repräsentative Institutionen artikulieren konnte. Die bisherigen studentischen Korporationen waren, auch wenn sie toleriert wurden, in diesen Aufbau nicht als positive Konstruktionselemente einbezogen worden. Wie in der allgemeinen Politik sollte auch in der Studentenschaft das Prinzip der Partizipation auf individualrechtlicher Grundlage gelten; organische Körperschaften und Standesprivilegien sollte es nicht mehr geben. So imponierend dieser Entwurf aus fortschrittlich-demokratischer Perspek­tive auch war, er stand nur auf dem Papier und wurde von der Studentenschaft als Ganzes keineswegs mitgetragen. Die Spaltung der Studentenschaft zeigte sich in Eisenach auch auf einer anderen Ebene, nämlich bei dem Versuch, allgemeinpolitische Manifeste zu verabschieden. Ein allgemeinpolitisches Mandat wurde von der überwiegenden Mehrheit der in Eisenach Versammelten abgewiesen; trotz radikaler Initiativen wurde die förmliche Behandlung gesamtpolitischer Fragen mit Tagesordnungsdebatten verhindert. Doch war damit natürlich der studentische Drang, sich zu den großen nationalen Fragen des Revolutionsjahres zu äußern, nicht zu bremsen. So kam es im Umfeld der Tagung zur Formulierung ­mehrerer Adressen an die Nationalversammlung, die in partikularen Zusammenkünften formuliert und mit teilweise mehreren hundert Unterschriften versehen wurden. Hierbei wieder­holten sich die Spaltungen, die auch die Fraktionsbildung in der Paulskirche von der konstitutionellen Mitte bis zur republikanischen Linken bestimmte. Eine extrem republikanische Adresse forderte von der Nationalversammlung die Beseitigung aller Einzeldynastien und die Errichtung eines dezentral gegliederten deutschen Nationalstaats mit demokratisch gewähltem Parlament und einer Ausschussregierung im Stile des Konvents der Franzö­sischen Revolution. Eine gemäßigt republikanische Adresse wollte die Einzelstaaten bestehen lassen und ihnen die Beibehaltung der Monarchie anheimstellen, darüber jedoch einen republikanischen Bundesstaat nach amerikanischem Muster mit einem vom Volk gewählten Präsidenten an der Spitze und einem Parlament errichten. Als Reaktion darauf ermannten sich auch die konservativeren Studenten und formulierten eine Adresse im konstitutionellen Sinne, die für das nationale Kaisertum (gemeint war Preußen) über den Einzelmonarchien eintrat. Einige wenige unentwegte Radikale formulierten schließlich noch eine Ergebenheitsadresse an den badischen Revolutionshelden Friedrich Hecker, der damals im Exil in der Schweiz saß. Das Bezeichnende an der studentischen Bewegung innerhalb der gesamtpolitischen Bewegung des Revolutionsjahres ist also auch hier wieder die Spaltung der akademischen Jugend in einen radikal-demokratischen und einen gemäßigt-liberalen Flügel; sie entspricht genau der zeitgleichen Spaltung des deutschen Bürgertums in Demokraten und Anhänger der konstitutionellen Monarchie, die den Ausgang der Revolution prägte und ­später der Reaktion das Geschäft erleichtert hat. Die Studentenschaft von Breslau bemühte sich um einen ersten Vertretertag im August 1848, der, als er im September schließlich zustande kam, nur eine verschwindende

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Minderheit (77 Deputierte, davon 20 aus Wien) versammelt fand. Hier wurden die Vorgaben der Pfingstversammlung noch einmal bekräftigt: ein gewählter Studentenausschuss mit Beschlussrecht an jeder Universität; ein Zentralausschuss aus Delegierten der Einzeluniversitäten (mit freiem Mandat) am jeweiligen Vorort, dessen Beschlüsse für die Gesamtheit der Studenten bindend waren. Hierzu sollte am jeweiligen Vorort ein Exekutivausschuss gebildet werden. Zum nächsten Vorort wurde Bonn bestimmt. Der dortige Exekutivausschuss konnte aber kaum wirksam werden und stellte nach wenigen Wochen seine Arbeit ein, nachdem seine treibende Kraft, der radikal-demokratische Student Carl Schurz, geflohen war. Man übergab das Aktenmaterial Münchner Studenten, die aber ebenfalls nicht imstande waren, einen Exekutivausschuss zu bilden. So gelangen die Akten schließlich in das Archiv der Universität München, wo sie bis heute lagern. Auch die Bemühungen, lokale Studentenschaften an den Einzeluniversitäten zu ­bilden, brachen bald zusammen. Die Wahlbeteiligungen waren schwach, zudem verlangten manche Senate für die Gültigkeit der Wahlen ein Quorum. Der gesamte Prozess erinnert an ähnliche Entwicklungen in den späten 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts an den Universitäten der Bundesrepublik: radikale Linke als treibende Kraft, Desinteresse der ‚schweigenden Mehrheit‘ an studentischer Politik innerhalb der Universität, erst recht an einem generellen politischen Mandat. Für die organisierten Studentenschaften lag die wichtigste Konsequenz der Eisenacher Ereignisse in der verstärkten Abgrenzung der studentischen Korporationen gegeneinander und im Beginn ihrer Formation in nationalen Verbänden. Den Anfang machten die Corps, die gegen Eisenach von vornherein in Opposition gestanden hatten. Schon in Eisenach verabredeten ihre Vertreter, die nationale Organisation der Seniorenkonvente durch die Gründung eines festeren Verbandes zu stärken. So wurde für den 15. Juli 1848 zu einer Corpsversammlung nach Jena eingeladen, die von der weit überwiegenden Mehrzahl der Seniorenkonvente beschickt wurde. Für die Schärfung des besonderen Profils der Corps und ihre organisatorische wie inhaltliche Abgrenzung zu anderen Verbindungen wurde ­dieses Treffen von grundlegender Bedeutung. Kernpunkt des geregelten Verhältnisses unter Studenten war für die Corps das Beharren auf dem Duellprinzip: „Um ein honoriges Studentenleben zu sichern, erkennen die Corps bei vorgefallenen Beleidigungen unter Studenten persönliche Satisfaktion durch das Duell als einziges Auskunftsmittel an.“ Von großer Bedeutung wurde ferner die nationale Organisation: Jährlich sollten die Corps-Vertreter der einzelnen Universitäten zu Pfingsten in Bad Kösen zu einer Versammlung zusammenkommen. Der erste Kongress dieser Art fand bereits zu Pfingsten 1849 statt; seit 1855 vermochte sich der Kösener Verband kontinuierlich zu behaupten. Sehr viel schwerer taten sich die Burschenschaften, ein eigenes Verbindungsprofil zu gewinnen und sich nach der Revolution zu konsolidieren. Ihre enge Verflechtung mit der „Progreß“-Bewegung führte dazu, dass die Richtungskämpfe weitergingen und in dem

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Bemühen um partikulare Verbandsgründungen mündeten. Die „Progreß“-Burschen­ schaften versuchten 1850, einen Eisenacher Burschenbund zu gründen, der das Duell diskriminierte und im Binnenverhältnis der angeschlossenen Burschenschaften verbot. Die politische Festlegung auf den Republikanismus führte aber sogleich zu Streitigkeiten, so dass die gesamte Frage der politischen Haltung vorerst ausgeklammert blieb und auch in der nächsten Zeit nicht geklärt werden konnte. Schon 1853 löste sich der Burschenbund wieder auf. Die christlichen Burschenschaften schlossen sich 1852 im Schwarzburg-Bund zusammen, ein Verband, der zwar klein blieb, sich aber dauerhaft behaupten konnte. Hier stellte man vor allem das sogenannte Keuschheitsprinzip in den Vordergrund und grenzte sich scharf gegen das Duellunwesen der Corps ab, ohne dass allerdings ein völliges Duellverbot durchgesetzt wurde. Die breite Masse der gemäßigt liberal und konstitutionell gesinnten Burschenschaften gründete 1856 die Allgemeine Deutsche Burschenschaft, die das Duellprinzip bei ernsthaften Ehrverletzungen anerkannte, zugleich Sittlichkeit, Keuschheit und die Pflege von Wissenschaft und Patriotismus auf ihr Panier schrieb. Die Burschen sollten sich als Studenten nicht aktiv politisch betätigen, wohl aber politische Bildung im Sinne einer erzieherischen Vorbereitung auf das spätere Leben betreiben und sich hierbei an dem Leitbild der künftigen freiheitlichen nationalen Gestaltung Deutschlands orientieren. Gegenüber der Demokratie grenzte man sich scharf ab. Insgesamt wird man sagen können, dass die hier zusammengeschlossenen Burschenschaften auf der Linie des kleindeutschen Nationalliberalismus lagen, also jene bildungsbürgerlichen Schichten verkörperten, die auf Bismarck einschwenkten und die Reichsgründung mittrugen. Zugleich begannen aber auch die Verlierer ­dieses Prozesses, die Katholiken, ab den 1850er Jahren mit der Formierung eigenständiger Korporationsverbände in einer farbentragenden und s­ päter auch einer nicht farbentragenden Variante. Gemeinsam war ihnen die Festlegung auf das konfessionelle Prinzip, das sie mit der patriotischen Loyalität zum kleindeutschen Vaterland zu vereinbaren trachteten, sowie das strikte Duellverbot, bei dem sie durch klare päpstliche Vorgaben gedeckt waren. Dies hat ihnen im militanten waffenstudentischen Klima des Kaiserreichs immer wieder Hohn und Spott eingetragen. Wir können unseren Ausblick hier abbrechen und auf die Erwähnung weiterer Verbandsgründungen verzichten. Entscheidend für die Gesamtcharakteristik der nachrevolutionären Epoche ist der Befund einer starken Diversifikation und auch Fraktionierung der Studentenschaften in ihrer Sozialisation und ihren Wertorientierungen, sodann der Befund einer relativen Entpolitisierung, jedenfalls was die Enthaltsamkeit hinsichtlich konkreter politischer Aktivitäten an den Universitäten selbst betrifft. Im historischen Rückblick erweist sich somit das Revolutionsjahr 1848 als ein Epochenjahr der Studenten­ geschichte, mit dem die 1815 begonnene Periode gesteigerter studentischer Bewegung zu Ende ging.

Literaturhinweise

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Literaturhinweise Zeitgenössische Erinnerungen Max Friedländer und Robert Giseke, Das Wartburgfest der deutschen Studenten in der Pfingst­ woche des Jahres 1848, Leipzig 1848. [Studenten aus Breslau, demokratisch, ideologisch Arnold Ruge verpflichtet.] Bericht des Bubenreuthers [Eugen] Rehm über den Verlauf der Eisenacher Versammlung 1848, in: Heinrich Wiegand (Hg.), Geschichte der Erlanger Burschenschaft. Teil 2: Die ­Bubenreuther, Bremen 1883, S. 138 – 148, Anlagen S. 148 – 157. [Konservativ.] Carl Schurz, Der Studentencongress zu Eisenach am 25. September 1848, seine Bedeutung und seine Resultate, Bonn 1848. [Bericht über Verlauf und Beschlüsse (protokoll-ähnlich). Entwurf der Statuten für die studentischen Lokalausschüsse und den Zentralausschuss; Entwurf zu einer dt. Universitätsverfassung. Kommentare dazu.] Carl Schurz, Lebenserinnerungen. Bd. 1: Bis zum Jahre 1852, Berlin 1906, benutzt Ausgabe Berlin 1911. [Nur Erlebnisschilderungen Bonn, Eisenach, Bonn, Badischer Aufstand; kaum Inhalte zu Forderungen, Verhandlungen.]

Historiographie der Burschenschaften Das zweite Wartburgfest Pfingsten 1848, in: Burschenschaftliche Blätter 5 (März 1891), S. 265 – 271. [Äußerst kritisch aus der Perspektive des Kaiserreichs.] Georg Heer, Geschichte der Deutschen Burschenschaft. Bd. 3: Die Zeit des Progresses. Von 1833 bis 1859, Heidelberg 1929 (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung, Bd. 11, hg. von Herman Haupt). [Sehr kritische Bewertung des „Progreß“, dessen Geschichte freilich eng mit den Burschenschaften verknüpft ist. Detailreiche Darstellung der Gesamtentwicklung, darin der Eisenacher Versammlungen, mit Auflistung der beteiligten Einzelverbindungen und Personen mit Blick auf ihre Haltung. Rühmt die Selbstbefreiung der Burschenschaften vom „Progreß“ zur Wahrung von fester Verbindungsform und Waffenstudententum.] Harry Gerber, Die Burschenschaften und der Progreß, in: Burschenschaftliche Blätter, 49 (1935), S. 231 – 237. [Folgt Heer, der intensiv zitiert wird, in der Gesamtbewertung. Burschenschaften gegenüber „Progreß“: gesunder jugendlicher Sinn vs. Verstiegenheiten blasser Theorien.] Paul Wentzcke, Das zweite Wartburgfest, in: ders. (Hg.), Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung, Bd. 17, Heidelberg 1940, S. 208 – 231, Anlagen S. 232 – 238. [Schilderung von Ablauf und Auseinandersetzungen. Positive Urteile: großdeutscher Aspekt; Erfüllung studentischer Teilhabeforderungen nach 1918; Tagungen 1848 als „Wegbereiterin zu der jüngsten Entwicklungsstufe nationaler und sozialistischer Anschauungen“.]

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Geschichtswissenschaft Heide Thielbeer, Universität und Politik in der Deutschen Revolution von 1848, Bonn 1983. [Umfangreiche Behandlung der Politik von Studentenschaft und Dozentenschaft bei ausgiebiger Archivbenutzung. Methodische Verschränkung von Chronologie, Behandlung der einzelnen Universitäten und Sachthemen, die die Lektüre nicht leicht macht, zumal Personenund Sachregister fehlen. Ursprünglich Diss. Freiburg 1976; die Studentenbewegung 1968 ff. als Stimulans erkennbar.] Björn Thomann, Reformvorstellungen der Burschenschaften in Breslau und Bonn im Vormärz und in der Revolution 18448/49, in: Martin Kintzinger et al. (Hg.), Universität – Reform. Ein Spannungsverhältnis von langer Dauer (12. – 21. Jahrhundert), Basel 2018. [Behandlung des „Progreß“ im Vergleich beider Universitäten: Breslau in Verbindung mit Arnold Ruge und dem Linkshegelianismus, Bonn unter der Führerschaft von Kinkelin und Schurz bei ­Kontakten zur politisierten Bürgerschaft. Die Wartburgtagungen kaum erwähnt.]

Abb. 10  Joseph Maximilian Kolb (Stecher, 2. Hälfte 19. Jh.), „Die Universität in Berlin“, um 1880.

Abb. 11  Franz Krüger (Entwerfer, 1797 – 1857) / Johann Leonhard Raab (Stecher, 1825 – 1899), Bildnis Wilhelm von Humboldts.

Studierende im Humboldt’schen Modell des 19. Jahrhunderts Die preußischen Agrarreformen, also die sogenannte Bauernbefreiung, sind in der Wirtschaftsgeschichte gelegentlich in pointierter Form als eine Befreiung der Herren charak­ terisiert worden.1 In einer vagen Analogie könnte man die zeitgleichen preußischen Bildungsreformen als eine Befreiung der Professoren bezeichnen. Sie wurden von der Bürde des kanonisierten propädeutischen Unterrichts im Rahmen der Artistenfakultät ebenso entlastet wie von den Fesseln eines gebundenen Lehrkanons in ihrem Spezialfach befreit, einschließlich der damit verbundenen Literaturvorgaben, Lektürevorschriften, Semestralprüfungen und Übungen zur Schulung und Kontrolle der Studenten. Von der Freisetzung des innengeleiteten wissenschaftlichen, namentlich auch forschungsbezogenen Interesses und der damit verbundenen persönlichen Profilierung versprach man sich eine nachhaltige Dynamisierung des Wissenschaftsprozesses und seiner Wirkung auf die allgemeine Bildung. Der Verzicht auf alle dogmatischen und wissensorganisierenden Vorgaben einer vermeintlich verfügbaren Überwissenschaft geschah im Vertrauen darauf, dass diese unverfügbare Einheit transzendental gegeben sei und sich im Prozess des einzelwissenschaftlichen Erkenntnisdranges regulativ verwirkliche.2 Die strukturelle Gleichartigkeit ­dieses Denkansatzes zur zeitgleichen Rezeption der klassischen ökonomischen Th ­ eorie von Adam Smith mit ihrer Verknüpfung von individueller Dynamik und prästabilierter Harmonie liegt auf der Hand.3 In beiden Fällen hat sich die dynamische 1 Annemarie Wald, Die Bauernbefreiung und die Ablösung des Obereigentums – eine Befreiung der Herren?, in: Historische Vierteljahresschrift 28 (1934), S. 795 – 811. 2 Kontrastive Herausarbeitung des Humboldt-Schleiermacher’schen Reformansatzes gegenüber dem modernen Universitätsbetrieb schon des späten Kaiserreichs zuletzt durch Rüdiger vom Bruch, Langsamer Abschied von Humboldt? Etappen deutscher Universitätsgeschichte 1810 – 1945, in: Mitchell G. Ash (Hg.), Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten, Wien, Köln, Weimar 1999, S. 29 – 57. Ähnlich Walter Rüegg, Der Mythos der Humboldt’schen Universität, in: Universitas in theologia, theologia in universitate. Festschrift für Hans Heinrich Schmid zum 60. Geburtstag, Zürich 1997, S. 155 – 174. Eingehend Ulrich Muhlack, Die Universitäten im Zeichen ­­ von Neuhumanismus und Idealismus: Berlin, in: Peter Baumgart und Notker Hammerstein (Hg.), Beiträge zu Problemen der deutschen Universitätsgründungen der frühen Neuzeit, Nendeln 1978, S. 299 – 340. Neuere knappe Handbuchdarstellung mit umfangreicher Literatur: Steven Turner, Universitäten, in: Karl-Ernst Jeismann und Peter Lundgreen (Hgg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 3: 1800 – 1870, München 1987, S. 221 – 249; Konrad H. Jarausch, Universität und Hochschule, in: Christa Berg (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 4: 1870 – 1918, München 1991, S. 313 – 345. 3 Zuletzt Jerry Evensky, Adam Smith’s moral philosophy. The role of religion and its relationship to philosophy and ethics in the evolution of society, in: History of political economy 30 (1998), S. 17 – 43; Arnos Witztum, A study into Smith’s conception of the human character. The Adam Smith problem revisited, in: ebd., S. 489 – 515.

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Komponente d ­ ieses Ansatzes im Fortgang des 19. Jahrhunderts bewährt, ihre tatsächliche Sprengkraft dabei jedoch als uneinholbar erwiesen. Neben den Professoren glaubte man auch die Studenten zu befreien. An die Stelle des fremdbestimmten Eintrichterns vorgegebener Lernstoffe sowohl im Rahmen des Propädeutikums der Artistenfakultät als auch im Rahmen des Fachstudiums sollte das selbstbestimmte Erkenntnisstreben treten, angeleitet vom Vorbild der Professorenpersönlichkeiten und vermittelt durch die Teilhabe an deren Erkenntnisarbeit. Das Propädeutikum der Artistenfakultät wurde abgeschafft und funktional auf die aufgestockte gymnasiale Oberstufe verlagert;4 innerhalb der Universität entfielen alle examinatorischen Zwischenstufen. Idealtypisch wurde die Qualifizierung für die berufsorientierten Laufbahneingangsprüfungen, die ein Studium zur Voraussetzung hatten, in die Eigenverantwortung der Studenten verschoben. Mit dem Abbau des inhaltlich als veraltet geltenden Artistenstudiums und dem komplementären positiven Attraktivitätsgewinn durch Berufungspolitk und Studienanreize hatte man in den Reformuniversitäten, vorrangig in Göttingen, gute Erfahrungen gemacht.5 Die intendierte Wechselwirkung von intrinsischer Motivation und Eigeninteresse, die Eröffnung eines attraktiven Angebots an die freigesetzten Talente folgte also auch mit Blick auf die Studenten letztlich den Mustern eines liberalen Menschen­und Gesellschaftsbildes. Freilich unterlagen die Bedürfnisse der Studenten dabei weit stärkeren Spannungen als die Selbstverwirklichungschancen der Professoren, da die überwiegende ganz natürliche Berufsorientierung der Studienanstrengungen durch die spezifische Form der idealistischen Wissenschaftsorientierung des Universitätsbetriebes gebremst und gewissermaßen sublimiert werden sollte. Die Neuhumanisten verachteten bekanntlich das sogenannte Brotstudium. Hier muss nun allerdings dem Missverständnis entgegengewirkt werden, als ob die Reformer die Berufsperspektive der Studenten gar nicht bedacht hätten. Das Geltendmachen des Wissenschaftsprinzips richtete sich polemisch gegen eine aufklärerische Nützlichkeitsdoktrin, unter deren Einfluss Unterrichtung nur allzu leicht zu bloßer Abrichtung, zur kurzschlüssigen Vermittlung spezieller Kunstfertigkeiten im handwerklichen Sinne degenerierte. Unter der Leitvorstellung des Wissenschaftsprinzips sollten die Studenten stattdessen auf die theoretischen Grundlagen ihres Faches verwiesen werden, die ihrerseits wiederum in der Totalität der Wissenschaft und deren Auffassung als offener Prozess rückgebunden waren. Gerade hiervon erwartete man sich den Erwerb einer gediegeneren, tiefer und breiter entfalteten und auch verantwortungsgeleiteten Kompetenz für das Berufsleben.

4 Karl-Ernst Jeismann, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. Die Entstehung des Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebildeten, 1787 – 1817, Stuttgart 1974. 5 Zu Göttingen ausführlich Charles E. McClelland, State, society, and university in Germany 1700 – 1914, Cambridge 1980, S. 35 – 57. Vgl. auch Notker Hammerstein, Die Universitätsgründungen im Zeichen ­­ der Aufklärung, in: Baumgart/Hammerstein (Hg.), Universitätsgründungen der frühen Neuzeit [Anm. 2], S. 263 – 298, hier 274 – 280.

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Die Leistung des erforderlichen Transfers vom wissenschaftlichen Studium im Sinne forschenden Lernens zur beruflichen Anwendung wurde dabei freilich den Studenten aufgebürdet. Dies setzte selbstverständlich einen in seinen Verstandeskräften und seiner Urteilsfähigkeit geschulten und entsprechend vorbereiteten Studenten voraus. Diese Vorbereitung wurde im preußischen Reformmodell von der Universität selbst abgewälzt und den Gymnasien übertragen.6 Bekanntlich setzte sich ­dieses Modell der Arbeits- und Funktionsteilung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland schrittweise durch,7 zuletzt 1849 in Bayern und unter dem Eindruck der Revolution in Österreich 8. Es entbehrt nicht des Interesses, dass in Bayern um die Beibehaltung oder Preisgabe des propädeutischen ‚Studium Generale‘ an der Universität nach der Translokation von Landshut nach München in den Jahren von 1826 bis 1849 heftig gerungen worden ist. Phasen der Liberalisierung und Phasen erneuter Straffung des schulmäßigen Kanons und der damit verbundenen Semestralprüfungen lösten dabei einander ab. Dank der Arbeiten von Harald Dickerhof sind die damit verbundenen Diskussionen gut dokumentiert.9 Sie gewähren, was hier nur angedeutet werden kann, Einblicke in die ideologischen Fronten z­ wischen Traditionalisten katholischer, in der Polemik ‚jesuitischer‘ Provenienz und den Neuhumanisten, in die Aporien philosophischer Ohnmacht gegenüber den Herausforderungen einer propädeutischen Enzyklopädie und ihrer didaktischen Vermittlung, in die hochschuldidaktischen Probleme von Verschulung und Prüfungen, Zwang oder Freiwilligkeit, Grundstudium oder Begleitstudium. Hieran wird vor allem deutlich, dass die Preisgabe des alten ‚Studium Generale‘ im Kern eine Preisgabe der Philosophie als einer für alle Studenten verbindlichen Grundwissenschaft bedeutete. Im Gymnasium wurde Philosophie durch Philologie ersetzt, an den Universitäten schrumpfte Philosophie faktisch zum Fach unter Fächern – eigentlich entgegen den Vorstellungen der preußischen Bildungsreformer. 6 Hervorgehoben von Muhlack, Universitäten [Anm. 2], S. 310 ff. Vgl. Jeismann, Gymnasium [Anm. 4], S. 296 ff., 310 ff., 350 ff. 7 Vgl. hierzu Sylvia Paletschek, Verbreitete sich ein ‚Humboldt’sches Modell‘ an den deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert?, in: Rainer C. Schwinges (Hg.), Humboldt International. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert, Basel 2001, S. 75 – 104. Zu den aufschlussreichen Auseinandersetzungen in Bayern vgl. Anm. 9 und 13; zu Überblicks­ darstellungen vgl. Anm. 12. 8 Richard Meister, Entwicklung und Reformen des österreichischen Studienwesens, 2 Teile, Wien 1963; Hans Lentze, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, Wien 1962. Knappe Übersicht (mit Literatur): Helmut Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Bd. 4: Von 1848 bis zum Ende der Monarchie, Wien 1986, Abschnitt 5: Sekundarschulen, S. 147 ff., Abschnitt 7: Reform der Universitäten, S. 221 ff. 9 Harald Dickerhof, Bildung und Ausbildung im Programm der bayerischen Universitäten im 19. Jahrhundert, in: Historisches Jahrbuch 95 (1975), S. 142 – 169; ders. (Bearb.), Dokumente zur Studiengesetzgebung in Bayern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1975 vgl. auch Anm. 13.

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Bei einer Betrachtung der Situation der Studenten im Humboldt’schen System müssen Universität und Gymnasium zusammen betrachtet werden. Beide Institutionen stehen selbstverständlich in enger Wechselbeziehung zu den beiden Größen ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘. Dabei ist, wie schon angedeutet, davon auszugehen, dass sich die sozialen Dimensionen des Studiums im Medium der Studenten intensiver und komplexer bündeln als im Medium der Professoren. Es muss nicht näher begründet werden, dass sich die Studiermotive der Schüler und ihrer Eltern im Durchschnitt nicht vorrangig vom intrinsischen Erkenntnistrieb leiten lassen, sondern von Berufswünschen, beruflich verwertbarer Ausbildung, sozialer Statussicherung und sozialem Aufstieg. Diese Motive treffen auf die von außen gesetzten institutionellen Vorgaben: Da ist zunächst die seit der Frühen Neuzeit entwickelte Dominanz staatlicher bzw. kirchlicher, also staatsnaher Rekru­tierungsbedürfnisse. Da sind zum Zweiten die universitären Vorgaben aus der alteuropäischen Bildungs- und Wissenschaftstradition, die als Zumutung an die Studierenden unter Umständen quer zu den erwähnten sozialen Bedürfnissen stehen und bewirken, dass die Leistungen der Bildungseinrichtungen nicht in einer funktionalen Betrachtung aufgehen. Die hegemoniale Geltung bestimmter kultureller Traditionen legt den Schülern bzw. Studierenden und ihren Eltern gleichwohl eine Unterwerfung und Anpassung nahe, weil Statuserwerb und Statussicherung die Respektierung solcher Standards auch unabhängig von der Akzeptanz ihres Bildungswertes wegen des mit ihnen verbundenen Geltungsnutzens aufnötigen.10 Zugleich aber war die Differenz ­zwischen Bildungs- und Ausbildungsfunktion von Wissensbeständen einerseits und funktionsfreiem Geltungsnutzen von Wissensbeständen andererseits eine Quelle ständiger bildungspolitischer Spannungen und Auseinandersetzungen, und gerade auch die partielle Sprengung des Humboldt’schen Bildungssystems in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war durch das Auseinanderdriften der drei Größen wesentlich mitbestimmt.11 Diese Erwägungen lenken zunächst auf die Rolle des humanistischen Gymnasiums. Wesentlich für dessen Reform im neuhumanistischen Geist waren bekanntlich eine Konzentration des Fächerkanons bei starker Akzentuierung des altsprachlichen Unterrichts sowie die Einführung des Abiturs als Reifezeugnis für den Universitätszugang.12 10 Hierzu allgemein Fritz K. Ringer, Education and society in modern Europe, Bloomington, London 1979, S. 2 – 22. 11 Überblicksdarstellung zu Preußen: Wolfgang Neugebauer, Das Bildungswesen in Preußen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, in: Otto Büsch (Hg.), Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 2, Berlin 1992, § 3: Der Umbruch in der Bildungswirklichkeit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, S. 680 – 780. Vgl. auch Anm. 25. 12 Knappe und präzise Darstellung von Karl-Ernst Jeismann, Das höhere Knabenschulwesen, in: Jeismann/Lundgreen (Hgg.), Handbuch Bildungsgeschichte, Bd. 3 [Anm. 2], S. 152 – 180 (mit umfangreicher Literatur). Eingehende, auf die deutschen Einzelstaaten bezogene Beschreibungen in: Detlef K. Müller und Bernd Zymek (Hgg.), Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 2: Höhere und mittlere Schulen. Teil 1: Sozialgeschichte und Statistik des Schulsystems in den Staaten des Deutschen Reiches, 1800 – 1945, Göttingen 1987. Für das Kaiserreich James C. Albisetti

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Radikaler als in Preußen ist die neuhumanistische Reduktion des Fächerkanons unter Thiersch in Bayern durchgesetzt worden, während die nachreformatorische preußische Unterrichtsverwaltung unter Johannes Schulze zusätzlich Naturwissenschaften und Neuphilologien auf den altsprachlichen Kanon draufsattelte.13 Mit der Professionalisierung der Gymnasiallehrerausbildung, die zur wichtigsten Funktion der reformierten philosophischen Fakultäten wurde und die den älteren Gymnasiallehrerdienst als Nebenprodukt des Theologiestudiums ablöste, wurden entsprechende Qualitätsstandards einer Akademisierung der höheren Schulbildung gewährleistet.14 Von der Volksschullehrerausbildung blieb ­dieses System sozial und methodisch strikt getrennt.15 Ebenso bekannt ist, dass es einer fast 50-jährigen Übergangsperiode seit der Einführung des Abiturs 1788 bedurfte, bis in Preußen 1834 das Monopol des Gymnasialabiturs als ausschließliche Zugangsberechtigung zur Universität festgeschrieben wurde.16 Erst von nun an lässt sich von einem geschlossenen Bildungssystem neuhumanistischer Prägung sprechen, das in der Folge von den anderen deutschen Ländern übernommen wurde. In der ersten Jahrhunderthälfte hatten die Universitäten mit abnehmender Tendenz eine beachtliche Zahl von Studenten über mehr oder minder laxe universitäre Zulassungsverfahren auch ohne Abitur immatrikuliert.17 Trotz der – von den Reformern ursprünglich so nicht beabsichtigten 18 – strikten Trennung von Volksschule und Gymnasium war ­dieses als höhere Einheitsschule ein sozial

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und Peter Lundgreen, Höhere Knabenschulen, in: Berg (Hg.), Handbuch Bildungsgeschichte, Bd. 4 [Anm. 2], S. 228 – 278. Klassische ältere Gesamtdarstellung: Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, 2 Bde., 3. Aufl., Berlin, Leipzig 1919/1921, Neudruck Berlin 1965. Zu Bayern: Albert Reble, Das Schulwesen, in: Max Spindler (Hg.), Handbuch der Bayerischen Geschichte, Bd. 4,2, 2. Aufl., München 1979, S. 950 – 990, hier S. 958 – 964; ferner Laetitia Boehm, Das akademische Bildungswesen in seiner organisatorischen Entwicklung (1800 – 1920), in: ebd., S. 991 – 1033, hier S. 1008 – 1018. Zum Überbürdungsproblem im preußischen Gymnasium und zur Kontroverse Thiersch/Schulze die breiten Schilderungen bei Paulsen, Geschichte [Anm. 12], Bd. 2, S. 319 – 356, 421 – 435. Vgl. auch Anm. 9. Zu den Anfängen Jeismann, Gymnasium [Anm. 4], S. 310 – 324; Überblick mit Literatur: HeinzElmar Tenorth, Lehrberuf und Lehrerbildung, in: Jeismann/Lundgreen (Hgg.), Handbuch Bildungs­geschichte, Bd. 3 [Anm. 2], S. 250 – 270. Tenorth, Lehrberuf [Anm. 14], passim. Paulsen, Geschichte [Anm. 12], Bd. 2, S. 47 ff. Kritisch: Margret Kraul, Das deutsche Gymnasium 1780 – 1980, Frankfurt 1984, S. 52 – 56. Hierzu immer noch Johann Conrad, Das Universitätsstudium in Deutschland während der l­ etzten 50 Jahre. Statistische Untersuchungen unter besonderer Berücksichtigung Preußens, Jena 1884, S. 18 f.; ferner die Untersuchungen zu ausgewählten Universitäten von Konrad Jarausch, Die neuhumanistische Universität und die bürgerliche Gesellschaft 1800 – 1870, in: Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 11, Heidelberg 1981, S. 24 ff. Vgl. Jeismann, Gymnasium [Anm. 4], S. 230 – 263, 324 – 331, 349 – 372. Zur bildungsgeschichtlichen Wertschätzung des Einheitsgymnasiums gegenüber späteren Steuerungsversuchen über Schultypdifferenzierung, Prüfungs- und Berechtigungssystemen vgl. etwa Margret Kraul, Gymnasium

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relativ offenes System mit einem breiten Zugang aus kleinbürgerlichen Schichten bis hin zum etablierten Bildungsbürgertum,19 dessen Schüler nur zum allergeringsten Teil das Abitur erreichten bzw. überhaupt anstrebten, vielmehr bis zur Mittleren Reife und darüber hinaus die Schule auf allen Jahrgangsstufen in starken Quoten verließen, um sich einer Berufsausbildung zuzuwenden.20 Die Verknüpfung dieser sozialen Offenheit mit dem humanistischen Programm der allgemeinen Menschenbildung war jedoch in pädagogisch-didaktischer Hinsicht von Anfang an deshalb problematisch, weil d ­ ieses Programm in verengender Weise an den altsprachlichen Unterricht gebunden war und dieser nur allzu leicht zu philologischen Exerzitien degenerierte. Eine in den einzelnen deutschen Staaten unterschiedlich weit reichende Ergänzung des Lehrplans durch Neuphilologien und ‚Realien‘ sollte diese Defizite ausgleichen, durfte jedoch nicht die Dominanz des klassischen Kanons brechen.21 Mit dieser Orientierung und ihren kumulativen Effekten wurde die Laufbahn des Gymnasiums insbesondere in Preußen zu einem Hindernisrennen, das die meisten Schüler auf den verschiedenen Stufen in ein ausgeklügeltes System von Berufsanwartschaften entließ. Die Rationalität ­dieses unvollendeten Gymnasiumbesuchs lag in seinem Indikationswert für Intelligenz und Leistungsfähigkeit und dem gestuften Nachweis einer entsprechenden formalen Schulung, ohne dass dabei von einer inhaltlichen Abrundung sinnvoller Bildungsstufen gesprochen werden konnte. Die wissenschaftlich orientierte Ausbildung der Gymnasiallehrer, namentlich auch der Altphilologen, sowie das Fehlen jeglicher Gymnasialpädagogik trugen zur Verschärfung ­dieses Befundes bei. Jenseits des humanistischen Reformkonzepts der allgemeinen Menschenbildung lag die Hauptfunktion des Gymnasiums bis zum Abitur in der dauernden Auslese und der Vermittlung formaler intellektueller Fertigkeiten in einem [Anm. 16], S. 30 – 41, 47 – 73; Detlev K. Müller, Sozialstruktur und Schulsystem, Aspekte zum Strukturwandel des Schulwesens im 19. Jahrhundert, Göttingen 1977, S. 90 – 143. 19 Für die Vormärzzeit untersucht an ausgewählten Gymnasien Rheinpreußens durch Margret Kraul, Gymnasium und Gesellschaft im Vormärz, Göttingen 1980. Tabellarische Übersicht dieser Ergebnisse: Jeismann/Lundgreen (Hgg.), Handbuch Bildungsgeschichte Bd. 3 [Anm. 2], S. 179. Für die Zeit des Kaiserreichs wurde die soziale Herkunft der Berliner Abiturienten untersucht durch Detlev K. Müller, Sozialstruktur und Schulsystem [Anm. 18], Tabellen S. 522 f. Ähnlicher Ansatz: Sigrid Bormann-Heischkeil und Karl-Ernst Jeismann, Abitur, Staatsdienst und Sozialstruktur. Rekrutierung und Differenzierung der Schicht der Gebildeten am Beispiel der ­sozialen Herkunft und beruflichen Zukunft von Abiturienten preußischer Gymnasien im Vormärz, in: Karl-Ernst Jeismann (Hg.), Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1989, S. 155 – 186. 20 Hierzu die tabellarischen Übersichten für Preußen in: Müller/Zymek (Hgg.), Datenhandbuch Bildungsgeschichte Bd. 2, Teil 1 [Anm. 12], S. 268 – 273. 21 Tabellarische Lehrpläne in Jeismann/Lundgreen (Hgg.), Handbuch Bildungsgeschichte, Bd. 3 [Anm. 2], S. 172 – 175. Dazu die Darstellungen von Georg Jäger und Gert Schubring: Lehrpläne und Fächerkanon der höheren Schulen, in: ebd., S. 191 – 221. Für das Kaiserreich Tabellen in: Berg (Hg.), Handbuch Bildungsgeschichte, Bd. 4 [Anm. 2], S. 274 – 278; dazu Albisetti/Lundgreen, Knaben­schulen [Anm. 12], S. 253 – 266.

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leistungsorientierten Fachunterricht.22 Damit wurden durchaus wichtige Voraussetzungen für die Bewährung der Studenten in einem freien Universitätssystem erfüllt, die mit dem Zugangsmonopol über das gymnasiale Abitur institutionell abgesichert waren. Die damit verbundenen inhaltlichen Bildungsvorstellungen liefen dabei freilich ständig Gefahr, zu bloßer Bildungsideologie zu geraten.23 Von Anfang an bewirkten mehrere Faktoren zusammen, dass neben dem Gymnasium andere Schultypen weiterentwickelt bzw. neu geschaffen wurden. Hierzu gehören: die praktisch orientierten Ausbildungsbedürfnisse aufstiegsmobiler Schichten, das behördliche und etabliert-bildungsbürgerliche Interesse an einer Entlastung der Gymnasien, an Mobilitätssteuerung und Überfüllungsprävention, die staatliche Systematisierung des Berechtigungswesens.24 Die mit dem Ausbau des Realschulwesens verknüpften Aufstiegs-, Bildungs- und Prestigebedürfnisse führten dann sekundär zu einer Angleichung zahlreicher Anstalten an ein gymnasiales Niveau auf der Basis einer ‚modern‘, nämlich neusprachlich oder naturwissenschaftlich orientierten Fächerkombination. Die daraus entstehenden Typen des Realgymnasiums und ­später der lateinlosen Oberrealschule entwickelten sich mit der Aufstockung ihrer Oberstufen und der Einführung des Abiturs zu einer Konkurrenz der humanistischen Gymnasien, und damit begann der langwährende Kampf um die Brechung des gymnasialen Zugangsmonopols zu den Universitäten wie auch um den Aufbau gleichrangiger Fachhochschulen außerhalb der Universität. Für die Universitäten wurde das Zugangsproblem um die Mitte der 1870er Jahre zugunsten der Realgymnasien gelöst, zunächst allerdings bei charakteristischer Ausnahme der Juristischen und Medizinischen Fakultät, die vorerst am humanistischen Abitur festhielten. Die lateinlosen Oberrealschulen folgten im Jahre 1900.25 (Die im 20. Jahrhundert sich 22 Breite, überwiegend kritische Schilderungen gymnasialer Realität in Preußen auf der Grundlage zeitgenössischer Zeugnisse und Kritiken bei Paulsen, Geschichte [Anm. 12], Bd. 2, S. 362 – 406; zu Spezialistentum und mangelhafter pädagogischer Schulung der Gymnasiallehrer ebd., S. 262 – 278. 23 Zum neuhumanistischen Bildungsbegriff in der bildungsbürgerlichen Realität eine Fülle kritischer und speziell ideologiekritischer Literatur. Vgl. etwa Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, 2. Aufl., Frankfurt 1994. Empirisch gehaltvoller und differenziert Manfred Landfester, Humanismus und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur politischen und gesellschaftlichen Bedeutung der humanistischen Bildung in Deutschland, Darmstadt 1988. Vgl. auch den Sammelband: Reinhart Koselleck (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil 2: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart 1990. 24 Detaillierte Analysen der Diversifikation in Verbindung mit der Differenzierung des Berechtigungswesens in: Müller/Zymek (Hgg.), Datenhandbuch Bildungsgeschichte, Bd. 2, 1 [Anm. 12]. Von Detlev K. Müller, ebd., S. 56 ff., insbes. für Preußen in der Zeit des Kaiserreichs als teilweise gezielte Segmentierungs- und Repressionsstrategie der Bürokratie kritisch bewertet. So schon ders., Sozialstruktur [Anm. 18], S. 274 – 297 (Qualifikationskrise). Dagegen abwägend Jeismann/­ Lundgreen (Hgg.), Handbuch Bildungsgeschichte, Bd. 3 [Anm. 2], S. 161 ff., sowie Albisetti/­ Lundgreen, Knaben­schulen [Anm. 12], S. 248 ff. 25 Knappe Übersicht (mit Fülle an älterer Literatur) bei Ulrich Herrmann, Pädagogisches Denken und Anfänge der Reformpädagogik, in: Berg (Hg.), Handbuch Bildungsgeschichte, Bd. 4 [Anm. 2],

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entfaltenden Probleme der höheren Mädchenbildung und das Frauenstudium bleiben hier unberücksichtigt.) Die bildungspolitischen Konsequenzen dieser Diversifikation sind mehrdeutig. Aus den für Preußen aufbereiteten Daten ergibt sich, dass die Zuwächse an Abiturienten seit dem späten 19. Jahrhundert aus Realgymnasium und lateinloser Oberrealschule deutlich höher waren als im humanistischen Gymnasium; die Summe beider moderner Typen erreichte nach dem E ­ rsten Weltkrieg mit den Humanisten Gleichstand und begann sie von da an deutlich zu übertreffen. Die Quote der studierwilligen humanistischen Abiturienten lag immer etwas höher, doch näherten sich die Zahlen der beiden modernen Typen nach zunächst bescheidenen Anfängen zuletzt deutlich an. Es scheint, dass beim humanistischen Gymnasiumbesuch die Quote der Reproduktion etablierter bildungsbürgerlicher Schichten anstieg, die neu für Abitur und Studium erschlossenen besitzund wirtschaftsbürgerlichen Schichten sowie die aufstiegsmobilen Mittelschichten sich dagegen mehr den modernen Gymnasiumstypen zuwandten.26 Insofern kann von einer gewissen Versäulung und Segregation gesprochen werden, die sich auch in Abgrenzungsideologien manifestierte. In der universitären Fächerwahl reproduzierte sich diese Segregation aber nur zum Teil. Gewiss war die an Bedeutung abnehmende Theologie eine Domäne der Absolventen des humanistischen Gymnasiums, w ­ elche andererseits das Studium der Naturwissenschaften und der in den Technischen Hochschulen gelehrten Fächer weitgehend verschmähten. Hier lag eine deutliche Präferenz der Realgymnasiasten und Oberrealschüler.27 Auf der anderen Seite finden sich in den klassischen Fakultäten Jura und Medizin, aber auch in den Philologien die Abiturienten aller drei Gymnasiumstypen schließlich in den 1920er Jahren ziemlich gleichgewichtig vertreten. Hier wurden also mit inhaltlich ungleichen Bildungsvoraussetzungen dieselben Fächer studiert. Wie immer man dabei den Verlust eines kulturellen Habitus im Schulkampf zur Zeit des Kaiserreichs beurteilte und heute beurteilt, als historischer Befund ist unbestreitbar: Das Konzept einer sozial offenen und damit heterogenen, in ihren Bildungs- und Qualifikationsmerkmalen jedoch durch den Besuch des Einheitsgymnasiums homogenisierten Studentenschaft wurde nur mühsam und mit der Abitursregelung von 1834 auch relativ spät erreicht. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist d ­ ieses Konzept aber bereits S. 147 – 178, hier 150 ff.; Albisetti/Lundgreen, Knabenschulen [Anm. 12], S. 228 – 253. Spezialstudie von Christoph Führ, Die Schulkonferenzen von 1890 und 1900. Ihre bildungsgeschichtliche Rolle und bildungsgeschichtliche Bewertung, in: Peter Baumgart (Hg.), Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs, Stuttgart 1980, S. 189 – 223. 26 Hartmut Titze (Hg.), Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 1: Hochschulen. Teil 1: Das Hochschulstudium in Preußen und Deutschland 1820 – 1944, Göttingen 1987, S. 205 – 281 (Die Vorbildung der Studierenden, Die soziale Herkunft der Studierenden). Hier insbes. die auf Preußen bezogenen Tabellen 94 – 101, 104, 106, 107, 116 – 128 (männliche Studierende) sowie die Diagramme 97, 99, 100, 107 – 117 (männliche Studierende). 27 Vgl. ebd., Tabellen 100, 104, 106, Diagramme 100, 102.

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wieder gesprengt worden. Innerhalb dieser Eckdaten kann jedoch durchaus von einer bildungsmäßig relativ homogenen Studentenschaft gesprochen werden, in der zugleich die Grundlage für die Ausprägung eines bildungsbürgerlichen ‚Standes‘ als profilierte soziale Gruppe geschaffen wurde.28 Diese Befunde finden in den Statistiken über Universitätsabschlüsse und akademische Berufsfelder ihre Entsprechung. Abgesehen von der Medizin, deren sozialer Wirkungskreis übrigens ursprünglich ziemlich begrenzt war, bestand die Hauptaufgabe der Universitäten seit dem landesfürstlichen Zugriff auf sie im Wesentlichen in der Versorgung von Staat und ­Kirche mit akademisch gebildeten Juristen und Klerikern. Diese Staatsnähe blieb auch in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts erhalten, wobei es freilich zu einer internen Umschichtung der Funktion von Theologischer und Philosophischer Fakultät kam. Das Theologiestudium ging insgesamt zurück, dabei verloren die Theologen insbesondere ihre Position in den höheren Schulen. An ihre Stelle trat die Professionalisierung der Gymnasiallehrerausbildung im Rahmen der Philosophischen Fakultät; dies begründete in einer ersten Entwicklungsstufe den Aufstieg dieser Fakultät im Rahmen der Humboldt’schen Reform.29 Mental gesehen gewann damit – so könnte man sagen – die neue Bildungsreligion den relativen Vorrang vor der traditionell konfessionellen christlichen Religion. Die Juristen behielten ihre Funktion bei, bauten ihre Position dabei zulasten der alten Kameralwissenschaften noch aus.30 Der Rahmen des staatlichen Bedarfs gab im Wesentlichen auch die Entwicklung der Universitätsfrequenz vor, und diese wuchs, nach ihrer vorübergehenden Aufgipfelung in den 1820er und frühen 30er Jahren, bis in die 1870er Jahre nur sehr langsam.31 Dem entsprach die Rekrutierung der Universitätsabsolventen. Sie speiste sich im Wesentlichen aus zwei Quellen: 28 Vgl. Literatur Anm. 23. 29 Übersicht bei Heinz-Elmar Tenorth, Lehrerberuf und Lehrerbildung, in: Jeismann/Lundgreen (Hgg.), Handbuch Bildungsgeschichte Bd. 3 [Anm. 2]; Christoph Führ, Gelehrter Schulmann – Oberlehrer – Studienrat. Zum sozialen Aufstieg der Philologen, in: Werner Conze und Jürgen Kocka (Hgg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil 1: Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen, Stuttgart 1985, S. 417 – 457. 30 Wilhelm Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg. Studium, Prüfung und Ausbildung der höheren Beamten des allgemeinen Verwaltungsdienstes in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1972. Zur Professionalisierungsproblematik allgemein und vergleichend die Sammelbände: Konrad Jarausch (Hg.), The Transformation of Higher Learning 1860 – 1930, Stuttgart 1983; sowie Conze/Kocka (Hgg.), Bildungsbürgertum, Teil 1 [Anm. 29]; ferner: Raban Graf von Westphalen: Akademisches Privileg und demokratischer Staat. Ein Beitrag zur Geschichte und bildungspolitischen Problematik des Laufbahnwesens in Deutschland, Stuttgart 1979 [behandelt eingehend das 19. Jh.]. 31 Zur Entwicklung der Frequenz vgl. für die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts immer noch Franz Eulenburg, Die Frequenz der deutschen Universitäten von ihrer Gründung bis zur Gegenwart, Leipzig 1904, S. 255, dazu Anhang S. 301 – 305, 317. Für 1830 – 1841 tabellarische und graphische Übersichten in: Titze (Hg.), Datenhandbuch Bildungsgeschichte, Bd. 1, Teil 1 [Anm. 26], S. 26 – 64; zum Hochschulbesuch relativ zur Gesamtbevölkerung: S. 70 – 80.

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der Reproduktion bereits etablierter bildungsbürgerlicher Schichten (Pfarrer, Juristen, Ärzte) und dem Aufstieg aus kleinbürgerlichen Schichten.32 Erst ab der Jahrhundertmitte brachte sich ein weiteres Moment aus der Neuorganisation der Philosophischen Fakultät zur Geltung, nämlich der Aufstieg der in ihr beheimateten Naturwissenschaften. Sie verbanden sich unter organisatorischer Trennung von den Philologien eng mit den naturwissenschaftlich forschenden Zweigen der Medizin. Hier wie in den neu aufkommenden Technischen Hochschulen wurde jene enge Verbindung von Forschung, Ausbildung und industriellem Bedarf hergestellt, die in der Zeit des Kaiserreichs die eigentliche Dynamik des deutschen Universitätswesens begründete und eine weitere Bildungsexpansion mit der sekundären Folge von Lehrer- und Verwaltungsbedarf nach sich zog. Der hier erzeugte Prestigezuwachs in Verbindung mit der Verwissenschaftlichung weiterer Bereiche des sozialen und wirtschaftlichen Lebens führte nun auch in wachsendem Maße das früher eher abseits stehende Wirtschaftsbürgertum an die Universitäten heran.33 Das Hauptgewicht des universitätsgeschichtlichen Forschungsinteresses lag in den letzten Jahrzehnten zum einen auf Fragen der Wissenschaftsgeschichte und der Wissenschaftsorganisation einschließlich ihrer staatlich-gesellschaftlichen Dimension, zum anderen auf Fragen der Bildungssozialgeschichte vor allem unter quantitativen Aspekten. Neben den Forschungsleistungen der deutschen Universität des 19. Jahrhunderts sollten jedoch auch ihre Lehrleistungen unter den Gesichtspunkten von Bildung, Ausbildung und Soziali­sation ein verstärktes Interesse beanspruchen. Dieser Aspekt kann hier nur skizziert werden. Der Ruf der deutschen Spitzenuniversitäten in der Zeit des Kaiserreichs beruhte zweifellos auf ihren Forschungsleistungen und der forschungsnahen Ausbildung begabter Studenten vorrangig in Naturwissenschaften und Medizin, aber auch in den Geisteswissenschaften. Das Konzept der Verknüpfung von Forschung und Lehre war ganz auf die Dynamik der Professoren und ihre stimulierende Wirkung abgestellt, deren Adressat in erster Linie der wissenschaftliche Nachwuchs war. Dies führte zu einer Freisetzung und Positivierung der Einzelwissenschaften, die ihren organisatorischen Rückhalt in neuartigen, von den Professoren als Direktoren geleiteten Forschungsinstituten hatten. Diese Entwicklung und ihre teilweise desintegrativen Wirkungen auf den Zusammenhalt der Fakultäten und der Universität als Ganzes lagen prozesshaft durchaus in der Konsequenz der Universitätsreform, waren aber in dieser Form von den idealistischen preußischen Bildungsreformern zweifellos nicht vorausgesehen und standen auch quer zu dem ursprünglichen Konzept.34 32 Hierzu die Untersuchungen von Jarausch, Neuhumanistische Universität [Anm. 17], S. 11 – 58, hier S. 32 – 57. 33 Für die Zeit des Kaiserreichs: Hartmut Titze (Hg.), Datenhandbuch Bildungsgeschichte, Bd. 1, Teil 1 [Anm. 26], S. 228 – 264 (Preußen), mit fachspezifischen Aufschlüsselungen der sozialen Herkunft. 34 Hierzu zuletzt eindringlich unter Aufarbeitung einer Fülle von Literatur Rüdiger vom Bruch, Vom Bildungsgelehrten zum wissenschaftlichen Fachmenschentum. Zum Selbstverständnis deutscher

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Nach Humboldts Vorstellung bedurfte es im Grunde keiner strukturierenden Vorgaben für das Studium. In der freien Begegnung von Lehrenden und Lernenden vor allem im Kolleg – für Humboldt der Haupttypus akademischer Lehre – lagen alle Elemente des forschenden Lernens, des philosophischen Rückbezugs auf das Ganze der Wissenschaft, der sittlichen Wirkung wissenschaftlichen Bemühens und des Kompetenzerwerbs für das praktische Leben beschlossen. Tatsächlich aber waren die Studenten mit dem neuen Prinzip der akademischen Freiheit vielfach überfordert; Reibungsverluste einerseits, der Hang zum Bummeln und zum Auskosten des noch zu besprechenden Verbindungs­lebens andererseits waren die Folge. Der Kontrast ­zwischen der ­gymnasialen Schuldisziplin und der akademischen Freiheit konnte krasser nicht gedacht werden. Ob die von Fremd­ bestimmung und extremem Drill geprägte Gymnasialerziehung die ­besten Voraussetzungen für die Stimulierung intrinsischer Motivation und für einen verantwortlichen Umgang mit dieser Freiheit schuf, wurde frühzeitig infrage gestellt. Die hochschuldidaktischen Defizite des freien Kollegbesuchs ohne das Korrektiv kontrol­lierender Rückmeldungen waren schon im 19. Jahrhundert notorisch. Auf der anderen Seite setzten in der Reformperiode bereits frühzeitig die Seminargründungen der geistes­wissenschaftlichen und theologischen Fächer ein, gefolgt von den Laboratorien der Naturwissenschaften und der Medizin. Ihr forschungsorientierter Betrieb der Übungen und Praktika strukturierte das Studium nun doch zunehmend und bedingte auch mit der Einführung gestufter Anforderungsprofile eine gewisse Verschulung, die allerdings nur in dem Maße durchschlug, in dem erfolgreiche Übungsbesuche zu Examensvoraussetzungen erhoben wurden. Zu einem wichtigen externen Faktor der Strukturierung wurden die staatlichen Laufbahneingangsprüfungen (Staatsexamen), die einen Übungsbetrieb dann auch in der Juristischen Fakultät einführten.35 Gegen Ende des Jahrhunderts traten die Ausbildungswünsche der Industrie oder anderer nichtstaatlicher Instanzen als weiterer externer Faktor hinzu.36 Daraus erwuchsen mit der zunehmenden Positivierung der Einzelwissenschaften vielfältige, von Fach zu Fach unterschiedlich gelagerte Vermittlungsprobleme. Sie betrafen hochschulintern das Spannungsverhältnis ­zwischen arbeitsteiligen Forschungsaktivitäten, Spezialistentum sowie professoralen Forschungsstrategien und dem Ganzen des jeweiligen Faches, idealiter dem Ganzen der Wissenschaft. Hochschulextern betrafen sie das Spannungsverhältnis ­zwischen wissenschaftlicher Th ­ eorie und beruflicher Praxis, aber auch z­ wischen partikularer Expertenschulung und dem Erfordernis einer generellen Fachkompetenz Hochschullehrer im 19. und 20. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka et al. (Hgg.), Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat (FS G. A. Ritter), München et al. 1994, S. 582 – 600. 35 Zur Ausbildung der Seminare und Institute sowie zum Ausbau der Übungen und Praktika die allgemeine Literatur in Anm. 2. Detaillierte Schilderungen bei Friedrich Paulsen, Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium, Berlin 1902, Ndr. Hildesheim 1966, S. 266 – 279; ders. Geschichte [Anm. 12], Bd. 2, S. 224 – 229, 258 ff., 271 – 275. 36 Hierzu zuletzt Rüdiger vom Bruch, Langsamer Abschied [Anm. 2], S. 39 ff. (mit Literatur).

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für den außeruniversitären Beruf. Schließlich wuchs mit der zunehmenden Positivierung der Einzelwissenschaften die Distanz zu philosophisch-ethischen Grundfragen der Daseinsgestaltung überhaupt und der Wissenschaft im Speziellen – ein Problem, das an der Lehrerausbildung als Fachlehrerausbildung unter Verzicht auf jegliche wissenschaftliche Pädagogik exemplarisch sichtbar wird, jedoch prinzipiell für alle Disziplinen gilt. Nach der optimistischen Auffassung der Reformer sollten die erforderlichen Transferleistungen auf methodischer wie auf ethischer Ebene für die Studenten aus der wissenschaftlichen Beschäftigung selbst erwachsen. Sie waren damit letztlich von ihnen selbst zu bewältigen; eine einengende Anleitung durch ein institutionalisiertes Studium Generale wie durch hochschuldidaktische Vorkehrungen wurde als wesensfremd ausgeschlossen. Es gab hierfür an der deutschen Universität also keine institutionelle Gewährleistung. Erst recht konnte keine Rede vom Erwerb sozialer Kompetenz sein. Nicht zufällig verliefen die nach der Jahrhundertwende einsetzenden Bemühungen um eine Hochschuldidaktik im Sande.37 Diese folgenreichen Defizite in der Bildungsfunktion der deutschen Universität des 19. Jahrhunderts bilden die Kehrseite ihrer weltweit anerkannten Forschungsleistungen. Ein weiteres Defizit der Humboldt’schen Universität liegt in deren vollständigem Rückzug aus jeglichem Erziehungsauftrag. Die Reduktion des Studenten auf einen mündigen Jünger der Wissenschaft ignorierte, dass sich die Jugendlichen trotz Einführung des Abiturs und Anhebung des Immatrikulationsalters immer noch in einem Stadium unabgeschlossener Erziehung befanden und dass sie selbstverständlich generelle Orientierungs- und Sozialisierungsbedürfnisse entwickelten. Dieser Bereich wurde mit der Universitätsreform völlig von der Universität abgekoppelt und den privaten Aktivitäten überlassen. Insgesamt wurden die Studenten durch die Reform aus der Korporation Universität ausgeschlossen und in Benutzer einer Anstalt verwandelt.38 Der Vergleich mit den 37 Zeitgenössische Kritik des akademischen Unterrichts mit zahlreichen Hinweisen auf weitere zeitgenössische kritische Literatur bei Paulsen, Geschichte [Anm. 12], Bd. 2, S. 247 – 278 ­passim; ders., Universitäten und Universitätsstudium [Anm. 35], Buch 3 und 4 passim. Zur Kritik D ­ iesterwegs und zu den vormärzlichen Kontroversen Heinz-Elmar Tenorth, „Über das Verderben auf den deutschen Universitäten“. Kritik der Hochschullehrer im 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Universitäts­geschichte 2 (1999), S. 11 – 22. Zu den hochschuldidaktischen Bemühungen seit der ­Jahrhundertwende: Hans-Hermann Westermann, Grundsätzliche Aspekte hochschuldidaktischpädagogischer Bestrebungen in Deutschland. Versuch einer historisch-analytischen Darstellung hochschuldidaktischer Forschung seit der Gründung der Universität Berlin bis in die Gegenwart, Diss. phil. Münster 1975; Erich Leitner, Hochschul-Pädagogik. Zur Genese und Funktion der Hochschul-Pädagogik im Rahmen der Entwicklung der deutschen Universität 1800 – 1968, Frankfurt et al. 1984, insbes. Kap. 4; Konrad Zillober, Einführung in Hochschuldidaktik, D ­ armstadt 1984, insbes. Kap. 5. 38 Betont und im Vergleich zur spätmittelalterlich-frühmodernen Universität und zur angelsächsischen Tradition kritisch bewertet von Mohammed Rassem, Die problematische Stellung der Studenten im sogenannten Humboldt’schen System, in: Studien und Berichte der katholischen

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englischen Colleges kann den Unterschied kontrastiv deutlich machen. Damit wurden in Deutschland Freiräume geschaffen, in denen sich Formen einer höchst eigentüm­lichen Studentenkultur etablierten, die für das Profil des akademischen Bildungsbürgertums insgesamt prägende Konsequenzen hatte.39 Auch hier muss man wieder auf frühneuzeitliche Ansätze einer Sonderentwicklung studentischer Lebensformen verweisen, die sich etwa vom Leben in den englischen Colleges deutlich zu unterscheiden begann. Schon in der Reformationszeit beendete der Exodus aus den Kollegien und Bursen das studentische Zusammenleben in quasi-klösterlichen Gemeinschaften und eröffnete vor allem für die materiell Ungebundeneren die Möglichkeit des freien Logierens am Universitätsort. In d ­ iesem Rahmen entfalteten sich die Ansprüche der Burschenfreiheit und spezifische Formen jugendlicher Selbsterziehung. Hier wurden Gruppenriten und Ehrenkodizes entwickelt, die durch ein hohes Maß an Aggressivität bei gruppeninterner Hierarchiebildung und solidarischem Auftreten nach außen gekennzeichnet waren. Ihre Träger waren die sogenannten Landsmannschaften, in deren Rahmen sich der Pennalismus auslebte, der an die Stelle sozialer Herkunftsunterschiede die Herrschaft der Älteren über die Jüngeren setzte. Das Waffentragen wurde üblich, mit ihm breitete sich das Duellwesen aus und entfaltete sich ein gruppenbezogener, quasi-ständisch grundierter Ehrbegriff. Die Häupter dieser Landsmannschaften, die Senioren, nahmen eine mehr oder minder fiktive Repräsentation der Gesamtstudentenschaft für sich in Anspruch und trachteten danach, die Gesamtheit der studentischen Umgangsformen durch Formalisierung und Ritualisierung im Rahmen eines von Ort zu Ort variierenden Komments zu regeln.40 Damit bildeten sich frühzeitig Strukturelemente einer studentischen Subkultur heraus, die das Universitätsklima in Deutschland auch im Akademie in Bayern 44 (1958), S. 13 – 36. Speziell: Claudius Gellert, Vergleich des Studiums an englischen und deutschen Universitäten, München 1983. 39 In seiner Überblicksdarstellung betont Konrad Jarausch, Deutsche Studenten 1800 – 1970, Frankfurt 1984, mit Blick auf die Entwicklung nach 1848 die Diskrepanz z­ wischen dem liberalen Humboldt’schen Wissenschaftssystem und den illiberalen Zügen außeruniversitärer studentischer Sozialisation. Eingehender ders., Students, Society and Politics in Imperial Germany. The Rise of Academic llliberalism, Princeton 1982. Wichtiger Einzelaspekt bei Norbert Kampe, Studenten und ‚Judenfrage‘ im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus, Göttingen 1988. Vgl. auch Harm-Hinrich Brandt, Studentische Korporationen und politisch-­sozialer Wandel. Modernisierung und Antimodernismus, in: Wolfgang Hardtwig und Harm-Hinrich Brandt (Hgg.), Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert, München 1993, S. 122 – 143; Christian H ­ elfer und Mohammed Rassem (Hgg.), Student und Hochschule im 19. Jahrhundert. Studien und Materialien, Göttingen 1975. 40 Ältere Darstellung, für die Frühzeit immer noch informativ: Friedrich Schulze und Paul ­Ssymank, Das deutsche Studententum von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, München 1932; Rainer A. Müller, Landsmannschaften und studentische Orden an deutschen Universitäten des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Harm-Hinrich Brandt und Matthias Stickler (Hgg.), Der Burschen Herrlichkeit. Geschichte und Gegenwart des studentischen Korporationswesens, Würzburg 1998, S. 13 – 34.

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19. Jahrhundert prägen sollten. Freilich wurde dieser Prozess seit dem späten 18. Jahrhundert von immer neuen Gegenströmungen begleitet, in denen Gegeneliten andere Formen einer von Reformvorstellungen getragenen Studentenkultur zu verwirklichen oder sogar allgemein durchzusetzen trachteten. Wolfgang Hardtwig hat die Kontinuität dieser auf Versittlichung und Verinnerlichung hinzielenden Reformvorstellungen am Ende des Ancien Regime bis zu den Reformideen der frühen Burschenschaft sehr überzeugend herausgearbeitet.41 Der Humboldt’sche Rückzug aus jeglichem außerwissenschaftlichen Erziehungsauftrag begünstigte diese Tradition der Selbsterziehung weiterhin und erleichterte sie zusätzlich durch die Einführung völliger Lernfreiheit, die in der Praxis vor allem auch Freiheit vom Lernen bedeutete und Zeit für andere Aktivitäten eröffnete. In d ­ iesem Rahmen breitete sich, durch das Erlebnis der antinapoleonischen Freiheitskriege stimuliert und auch durch das politische Professorentum angeleitet, die bekannte burschenschaftliche Bewegung der Restaurations- und Vormärzzeit aus, in der Vorstellungen einer studentischen Lebensreform, das Bemühen um eine universitäre Formierung der allgemeinen Studentenschaft in freier Selbstorganisation und eine allgemeine, in die Gesellschaft ausgreifende Politisierungstendenz zusammenflossen. Die Geschichte dieser Bewegung und ihres Scheiterns in mehreren Anläufen (1817 bis 1819, 1827 bis 1833, 1848) nicht zuletzt unter der obrigkeitlichen Verfolgung ist bekannt und muss hier nicht ausgebreitet werden.42 Entscheidend ist, dass in der ersten Jahrhunderthälfte die ältere Tradition der studentischen Subkultur, also jene Welt des Komments mit seinen Ritualen und Exzessen, niemals gebrochen worden ist und dass ihre wichtigsten Träger, die jetzt Corps genannten apolitischen Landsmannschaften, sich unter der wohlwollenden Duldung der Behörden in ihrer hegemonialen Stellung langfristig behaupteten. Dadurch wurde das Universitätsklima auch der zweiten Jahrhunderthälfte wesentlich bestimmt, insbesondere nachdem die Burschenschaften im Großen und Ganzen ihre alten Freiheitsziele begraben hatten. Erst in der zweiten Jahrhunderthälfte konsolidierten sich die Verbindungen im Rahmen großer nationaler Verbände zu Trägern eines neben dem 41 Wolfgang Hardtwig, Sozialverhalten und Wertewandel der jugendlichen Bildungsschicht im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft (17. – 19. Jahrhundert), in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 73 (1986), S. 305 – 335; ders., Krise der Universität, studentische Reformbewegung (1750 – 1819) und die Sozialisation der jugendlichen deutschen Bildungsschicht, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 155 – 176; ders., Studentenschaft und Aufklärung. Landsmannschaften und Studentenorden in Deutschland im 18. Jahrhundert, in: Etienne François (Hg.), Geselligkeit, Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Frankreich, Deutschland und der Schweiz 1750 – 1850, Paris 1986, S. 239 – 259. 42 Neben der älteren burschenschaftlichen Geschichtsschreibung Wolfgang Hardtwig, ­Protestformen und Organisationsstrukturen der deutschen Burschenschaft 1815 – 1833, in: Helmut Reinalter (Hg.), Demokratische und soziale Protestbewegungen in Mitteleuropa 1815 – 1848/49, Frankfurt 1986, S. 37 – 76; Peter Brandt, Von der Urburschenschaft bis zum Progress, in: Brandt/Stickler (Hgg.), Der Burschen Herrlichkeit [Anm. 40], S. 35 – 53.

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Fachstudium stehenden „heimlichen Curriculums“ (Jarausch) und zu maßgeblichen Agenturen akademischer Sozialisation und Formation. Entscheidende Voraussetzung hierfür wurde die Etablierung der Altherrenschaften als die maßgebenden materiellen Träger, die auch Einfluss auf Erziehungsziele und ideologische Ausrichtung nahmen und der Nachwuchsrekrutierung und Sozialisation durch Eröffnung von Karriere­chancen und Arrangement des Konnubiums wesentlichen Rückhalt gaben. Für die Herausbildung eines Akademikerstandes und insbesondere des administrativen, ­später auch des kommerziellen Führungspersonals war diese Agentur, die sich institutionell außerhalb der Universität etablierte, von nicht zu unterschätzender Bedeutung.43 Sie erfüllte vor dem Hintergrund der ‚Humboldt’schen Lücke‘ Funktionen, die von den englischen Traditionsuniversitäten des 19. Jahrhunderts und den ihnen nachgebildeten amerikanischen Universitäten selbst wahrgenommen wurden, die aber etwa auch in Frankreich im exklusiven Korpsgeist der Hautes Ecoles, also ebenfalls in den Institutionen selbst verankert waren. Die freie außeruniversitäre Trägerschaft dieser Funktionen ließ in Deutschland vielleicht mehr Raum für die Ausprägung einer breiteren Diversifikation des akademischen Typus, denn die Ausbildung der Verbände war ein Spiegel der deutschen Gesellschaft des Kaiserreiches in ihrer Pluralität, aber auch in der Segmentierung ihrer Milieus (man denke etwa an das katholische Deutschland).44 Es gab in dieser Verbindungswelt freilich eine informelle, jedoch sehr wirksame Hierarchie, die von der Hegemonie der sogenannten Waffenstudenten geprägt wurde.45 Hier wurden Erziehungsziele gepflegt und zu Qualifikationskriterien für Führungsrollen erhoben, in denen sich atavistische Männlichkeitsideale mit dem militärischen Klima des Kaiserreichs verbanden und die dann auch nationalistisch und schließlich völkisch und antisemitisch aufgeladen wurden. Dieses Element der akademischen Kultur wich, wenn auch verbindende Phänomene nicht gänzlich fehlten, von westeuropäischen Standards deutlich ab; für den Gang der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert war dies zweifellos nicht ohne Bedeutung. Unter dem Eindruck der ‚deutschen Katastrophe‘ setzten daher nach 1945 nicht zufällig – unter tätiger Mithilfe der britischen und amerikanischen Besatzungsmacht – intensive 43 Vgl. Anm. 39, insbes. die Arbeiten von Jarausch und Brandt; Detlef Grieswelle, Korporationen und Karrieren. Die soziale Rekrutierungsfunktion der Verbindungen, in: Brandt/Stickler (Hgg.), Der Burschen Herrlichkeit [Anm. 40], S. 421 – 448 (Literatur). 44 Nachschlagewerk Paulgerhard Gladen, Geschichte der studentischen Korporationsverbände, 2. Bde., Würzburg 1981/1985. Zur Diversifikation der Sammelband: Brandt/Stickler (Hgg.), Der Burschen Herrlichkeit [Anm. 40]. 45 Vgl. Anm. 39 und 43; Manfred Studier, Der Corpsstudent als Idealbild der Wilhelminischen Ära. Untersuchungen zum Zeitgeist 1888 – 1914. Diss. phil. Erlangen 1965, Ndr. Schernfeld 1990 (= Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen 3); Silke Möller, Zwischen Wissenschaft und „Burschenherrlichkeit“. Studentische Sozialisation im deutschen Kaiserreich 1871 – 1914, Stuttgart 2001.

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Bemühungen um eine Universitätsreform ein, in deren Rahmen Konzepte eines ‚Studium Generale‘ entwickelt wurden und der Versuch gemacht wurde, Elemente der angelsächsischen Universitätstradition nach Deutschland zu verpflanzen. Es sollte sich freilich rasch erweisen, dass die deutsche Universität aus ihren historischen Voraussetzungen heraus nicht in der Lage war, einen die Wissenschaft ergänzenden Sozialisationsauftrag zu begründen und wahrzunehmen.46

46 Zu den vergeblichen Anläufen und den kontroversen Diskussionen unmittelbar nach dem Z ­ weiten Weltkrieg: Leitner, Hochschul-Pädagogik [Anm. 37], Kap. 6; Zillober, Hochschuldidaktik [Anm. 37], Kap. 6.

Abb. 12  Matthäus Merian (1593 – 1650), Ansicht der Alten Universität Würzburg mit Universitätskirche, 1648.

Abb. 13  Bierkrug anlässlich der „III. Säkularfeier der Universität Würzburg 1. Aug. 1882.“

Abb. 14  Ottmar Zieher (1857 – 1924), Ansichtskarte „Gruss aus Würzburg“, um 1899.

Julius oder Maximilian? Von der katholischen Lehranstalt zur modernen Julius-MaximiliansUniversität. Ein Beitrag zum 600. Jubiläum der ersten Gründung

In der ‚guten alten Zeit‘, als die Universität Würzburg noch eine Rektoratsverfassung hatte, pflegte der jeweils amtierende Rektor am Stiftungsfest unserer Alma Mater die Festrede zu halten, wobei er sich in der Regel mit einem Thema seines Faches präsentierte, das geeignet war, auf allgemein interessierende grundsätzliche Fragen oder Zukunftsperspektiven hinzuführen. Im Jahre 1863 oblag diese Pflicht dem Würzburger Historiker Franz Xaver Wegele, demselben, der ­später zum Jubiläum von 1882 mit einer zweibändigen Geschichte unserer Universität hervorgetreten ist. Er wählte das Thema „Die Reformation der Universität Würzburg“, und unter ­diesem bemerkenswerten Schlüsselbegriff entfaltete der – übrigens der katholischen Konfession zugehörige – Rektor eine Apotheose der Reformen der ersten bayerischen Zeit von 1802 – 1805, mit denen dann legitimerweise auch eine Erweiterung des alten Namens der Universität um den Namen ihres Erneuerers verbunden gewesen sei: also die Verwandlung der Alma Julia in eine Alma Julia-Maximilianea. Wegele führte seine Hörer kursorisch durch die Würzburger Universitätsgeschichte, und als rechtschaffener Historiker, der die methodischen Grundsätze seiner Disziplin anzuwenden wusste, verknüpfte er die wichtigen Wegmarken der Entwicklung mit den jeweiligen historischen Zeitumständen, dem Wandel der Bedingungen und der tragenden Ideen: so den Gründungsakt Julius Echters und den Einsatz des Jesuitenordens mit der Konfliktsituation des konfessionellen Zeitalters, den relativen Niedergang des 17. Jahrhunderts mit der allgemeinen Erstarrung des scholastischen Lehrbetriebs in Deutschland, die Reformen des 18. Jahrhunderts mit der Bewegung der Aufklärung und ihrer an Empirie und Praxisbezug orientierten Handlungsmaxime, den großen Umbruch von 1803 als umfassende Säkularisation und Aufstieg des modernen Kulturstaates. Diesen historischen Bericht rückte Wegele nun aber unübersehbar in eine wertende Perspektive von besonderer Emphase. Der Verfall der Würzburger Hochschule vor der Mitte des 18. Jahrhunderts war ihm ein klares Indiz dafür, dass der ursprüngliche Gründungsansatz in seiner Mischung von konfessioneller Frontbildung, mittelalterlicher Universitätsverfassung und unzulänglicher jesuitischer Pädagogik nicht länger haltbar war. Die Reformen des späteren 18. Jahrhunderts hätten dann zwar die Juristische und die Medizinische Fakultät gefördert, sich aber an die Theologie und vor allem an die allgemeinen Wissenschaften der Philosophischen Fakultät, ohne die ein moderner Wissen­schaftsbetrieb nicht denkbar war, aus konfessioneller Befangenheit nicht herangewagt. Der geistliche Staat habe eben die Zauberformel nicht finden können, die den

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lähmenden Bann zu lösen vermocht hätte, nämlich die Freiheit – Freiheit der Lehre, Freiheit der Wissenschaft, Freiheit der Presse. Man habe die frischen Impulse, wie sie von den Gründungen in Halle und dann Göttingen ausgegangen ­seien, nicht übernehmen können; die Kombination von Ängstlichkeit, Schlendrian und niedrigem Niveau habe zu einer offenkundig unhaltbaren Situation geführt, und deshalb sei der nach der Säkularisation und Okkupation Würzburgs vollzogene gewaltsame Bruch, der die Universität vollständig ihres mittelalterlichen Charakters einer kirchlichen Anstalt entkleidet habe, sittlich gerechtfertigt gewesen. Mit der Beseitigung der Konfessionalität, die mit moderner Wissenschaft nun einmal nicht mehr vereinbar sei, sowie mit der grundsätzlichen Herstellung der Lehrfreiheit sei zugleich der Weg zu einer Hochschule mit nationalem Anspruch eröffnet worden, ein Schritt, durch den Kurbayern so manche protestantische Universität weit hinter sich gelassen habe. Diese großartigen Ansätze einer wohltätigen Reformation ­seien nun freilich mit der Restauration der Toskana-Zeit abgebrochen und mit der zweiten bayerischen Inbesitznahme seit 1814 leider nicht mehr mit dem alten Schwung aufgenommen worden, immerhin habe man aber die gröbsten Rückfälle beseitigt und den säkularistischen Ansatz im Prinzip wiederhergestellt. Und wenn auch die Reaktionszeit den Universitäten nicht günstig und die Fortschritte im Ausbau der Würzburger Universität bescheiden waren, so sei sie doch unauflöslich mit der Gesamtkultur unserer Nation verflochten worden und damit der Pfad ihrer Entwicklung für immer vorgezeichnet. Hierfür bürgte für den Redner auch die Haltung des regierenden Königs als Protektor der Wissenschaften (das war 1863 Maximilian II . mit seiner bekannten Förderung der „Nordlichter“). So weit Wegeles Ansprache – unverkennbar eine Manifestation deutschen bildungsbürgerlichen Geistes in der Zeit der liberalen Nationalbewegung mit ihrer im weitesten Sinne kulturprotestantischen Grundierung. Wegele war ein Protegé Sybels, von Jena nach Würzburg berufen, genauer gesagt durch König Max II . der Universität auf­ oktroyiert worden. Nun gehören Rektoratsreden dem Typus der Festrede an und nicht dem Typus „Vortrag mit anschließender Diskussion“. Was also beim Zuhören in den Köpfen des feierlich versammelten Kollegiums vor sich ging, weiß man nicht. Bei einer Sichtung der damaligen Rektoratsreden gewahrt man jedoch, dass da eine Art virtueller Dialog im Gange war; eher sollte man von einem Schlagabtausch reden. Ein Jahr zuvor hatte der Theologe Franz Hettinger als Amtsvorgänger die Rede gehalten mit dem Titel „Der Organismus der Universitätswissenschaften und die Stellung der Theologie in demselben“. Hettinger war Absolvent des Collegium Germanicum in Rom gewesen, aus liberaler Sicht also der maßgebenden Kaderschmiede des Ultramontanismus. Mit den Schülern dieser „Römischen Theologie“ war nach der 48er Revolution in den 50er Jahren fast die gesamte Würzburger Theologische Fakultät besetzt worden, und zwar unter der wesentlichen Mithilfe des von 1840 bis 1870 amtierenden Würzburger Bischofs Georg Anton Stahl, der seinerseits ebenfalls Germaniker war. Hettinger hatte

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in seiner Ansprache das neoscholastische Gebäude einer Wissenschaftsbegründung entfaltet, das jedem subjektiven Ansatz von Erkenntnistheorie diametral entgegengesetzt war. Wissenschaft war demnach nicht, wie dies die seit den Bildungsreformen der ­Humboldt-Zeit mit hegemonialem Geltungsanspruch sich ausbreitende Anschauung postulierte, ein grundsätzlich offener Prozess, dessen Träger die ungebunden denkenden und forschenden Persönlichkeiten waren und dessen Ergebnisse sich in einem von allen Teilhabern anerkannten methodischen Verfahren der Verifikation oder Falsi­ fikation vorläufiger Annahmen fortschreitend herausbildeten. Wissenschaft als geistige Tätigkeit war vielmehr als Teil der Schöpfungsordnung eine Emanation des göttlichen Geistes, der gewissermaßen als Bedingung der Möglichkeit geistigen Schaffens überhaupt den Rahmen setzte, der subjektiv unverfügbar war, dessen Bestimmungen jedoch durch die Offenbarung gegeben und erkennbar ­seien. Daraus ergab sich eine aufsteigende Hierarchie von den Natur- über die Geisteswissenschaften zur obersten Stufe der Gotteswissenschaft, in deren Obhut die Pflege der für alle Wissenschaft verbindlichen göttlichen Wahrheiten als unwandelbar gültige ewige Setzungen lag. – So weit in aller Kürze Hettinger. Gleich im Jahre 1863 erschien im Pastoralblatt der Erzdiözese Bamberg eine längere Abhandlung mit dem Titel „Die Idee des Göttlichen in der Wissenschaft und die sogenannte freie Wissenschaft oder: Stiftung und Reformation der Universität Würzburg“. Hierin ging der ungenannte Verfasser vor dem Hintergrund der Lehren H ­ ettingers mit kräftiger Polemik gegen die Rede Wegeles vor. Der Kern des Vorwurfes – die Einzelheiten s­ eien hier beiseitegelassen – richtete sich auf den von Wegele vertretenen modernen subjektiven Wissenschaftsbegriff und auf seinen Historismus, also die historische Relativierung der Figur Julius Echters als eines zeitgebundenen Vertreters der Gegenreformation sowie auf die Bewertung der Wissenschaftsentwicklung unter der Axiomatik von Wandel und Fortschritt. Demgegenüber insistierte der Verfasser auf der überzeitlichen Gültigkeit des Echter’schen Universitätskonzepts, das, wie aus seinen Universitätsstatuten nachweisbar, das Ganze der Wissenschaft und nicht etwa ein partikulares Kampfprogramm im Auge gehabt habe, aber eben im Rahmen der einen und unveränderlichen göttlichen Wahrheit und ihrer Sachwalterin, der katholischen K ­ irche. Auch die reformfreudigen Fürstbischöfe des 18. Jahrhunderts hätten an ­diesem Rahmen mit gutem Grund festgehalten, ihre Begrenzung der Reformen sei nicht unschlüssige Zögerlichkeit, sondern wohlabgewogene Weisheit gewesen. Der große Abfall begann mit der bayerischen Okkupation, und die Geschichte ­dieses Abfalls wird nun geistes­geschichtlich aus der Glaubensspaltung hergeleitet. „Nun brachen im Gefolge der sogenannten Reformation, Kirchenverbesserung, richtiger Glaubensspaltung, wirklich Zeitläufte herein, namentlich in Deutschland, wo man sich nicht mehr an der Befreiung vom sog. Papistischen Joch genügen wollte, wo man sich von jeder Autorität, von allem positiven Glauben übernatürlicher Wahrheiten, mit einem Worte, vom Christentum und seiner Geschichte lossagen, die Emanzipation der Vernunft, die

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Autonomie und Omnipotenz des menschlichen Geistes im Reiche der Wissenschaft proklamieren zu müssen glaubte, um die Beseitigung des Christentums und die Selbstherrlichkeit des menschlichen Geistes zu erzwecken. Aus diesen Zeiten datieren die Anfänge der großen Errungenschaft, w ­ elche unter dem Schibolet der freien Wissenschaft zuerst an einigen Universitäten des protestantischen Deutschlands sich Geltung verschaffte, nach und nach aber auch unter der sog. Illuminatenherrschaft im katholischen Deutschland Anerkennung fand, und noch heute von der in den höchsten Regionen der Gesellschaft einflussreichen Maurer-Zunft [= Freimaurer] mit Erfolg vertreten wird. Den Anstrengungen und Gewalttaten dieser Matadoren hat es die Universität Würzburg zu danken, dass sie ihres stiftungsmäßigen Charakters, eine Pflege der Wissenschaften unter der Ägide der katholischen K ­ irche zu sein, entkleidet, und zu einer Schule der freien Wissenschaft modernisiert wurde.“ Und an anderer Stelle zur bayerischen Inbesitznahme Würzburgs: „Auf jeder Zeile d ­ ieses Blattes begegnen uns die Worte: Gewalt, Brutalität, Vandalismus. Die Profanation der ­Kirchen und Asyle der Jungfräulichkeit, die Beraubung der Stifter und Klöster, die Verschleuderung des Kirchengutes, die Bereicherung der Kommissäre mit demselben, die massenhafte Verschacherung heiliger Gefäße und Gewande an die Juden steht noch in zu frischem Andenken, als dass einem geborenen Franken, der überdies noch sich von der ­Kirche nicht emanzipiert hat, nicht in edler Entrüstung das Blut in die Wangen treten sollte, wenn er liest, wie ein Professor der Geschichte, welcher an der stiftungsmäßig katholischen Hochschule Würzburg doziert, und aus ihren Renten besoldet wird, nebenbei auch noch katholisch sein soll, diese Schandperiode der fränkischen Geschichte und ihre Heroen mit einer Strahlenkrone umgibt um des Prinzips der freien Wissenschaft willen, das ihm in seiner völligen Verwirklichung in dieser goldenen Freiheitsära endlich triumphiert zu haben scheint.“ Der Verfasser endigt mit einigen resignativen Feststellungen zur randständigen Rolle der Religion in der Würzburger Universität der Gegenwart. – Etwa zeitgleich mit dieser Abhandlung erschien in den bekannten, von Goerres gegründeten „Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland“ ein Artikel ganz gleicher Tendenz aus der Feder des Würzburger Geistlichen, Universitätsbibliothekars und langjährigen klerikalen Landtagsabgeordneten Anton Ruland. In ihm wird die Polemik gegen Wegele als einen Mann, der der Universität ohne Befragung auf dem Höhepunkt des Münchner Sybelismus aufoktroyiert worden sei, noch verschärft, im Übrigen die bayerische Säkularisation der Universität von 1803 noch pointierter als Verletzung des Stifterwillens gebrandmarkt. Wir stoßen mit diesen Zeugnissen in eine Phase verschärfter geistiger und politischer Konfrontation von katholischer Amtskirche und säkularisierter bürgerlicher Bildungswelt bzw. säkularisierten Autonomieansprüchen der staatlichen Politik, wie sie ein Jahr ­später, 1864, in dem Syllabus errorum Pius’ IX . ihren prägnantesten Ausdruck finden sollte. Es ist dieselbe Zeit, in der das katholische Deutschland verstärkt eine Rückkehr der stiftungsmäßig katholischen Universitäten zu ihrer ursprünglichen Bestimmung

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einforderte und zugleich den Plan der Gründung einer Katholischen Universität für Deutschland verfolgte, Erscheinungen, die das inzwischen erreichte Ausmaß der Polarisierung und des Bruches der Kulturen verrät. Dem Historiker des 19. Jahrhunderts ist die Auseinandersetzung von „Christentum und moderner Welt“ – wie Thomas ­Nipperdey das genannt hat – als durchgängiges Signum ­dieses Säkulums sehr vertraut; das 19. Jahrhundert war durchaus konfessioneller als das achtzehnte. In der katholischen Wahrnehmung spielte dabei – wie wir auch an unserem Beispiel sehen konnten – eine bestimmte Sicht auf die protestantische Kirchenspaltung als Auslöser des großen Säkularisierungsprozesses eine Rolle. Das darf aber nicht dazu verleiten, in historischer Perspektive die Hauptfront des Religionsproblems im 19. Jahrhunderts im Gegensatz von Katholisch und Evangelisch zu sehen. Auf evangelischer Seite gab es eine analoge Auseinandersetzung ­zwischen Rationalismus, liberalem Protestantismus und Kulturprotestantismus einerseits und wieder erstarkter lutherischer Orthodoxie sowie dem Pietismus und den Erweckungsbewegungen andererseits. Es handelte sich vielmehr um eine Rückbesinnung und auch Versteifung des jeweils harten Kerns – und dieser war in der katholischen Amtskirche weitaus größer und organisatorisch wie dogmatisch besser ­gerüstet als im evangelischen Bereich – auf ein systematisiertes Gehäuse von Lehraussagen im Sinne einer Immunisierungsstrategie gegen den Paradigmenwechsel der Moderne. Diesem hatten sich die evangelischen Bildungsbürger freilich früher und zahlreicher h ­ ingegeben als die katholischen. Wir verlassen jetzt vorerst die Perspektive des Jahres 1863 auf die Würzburger Universität und lassen uns auf eine nähere Betrachtung des Geschehens ein, das die erste bayerische Okkupation 1802 – 1806 begleitete. Zum besseren Verständnis der bayerischen Reformpolitik sei zunächst ein kurzer Blick auf die Alma Julia in der Zeit der Aufklärung gestattet, denn hier sind gegenüber den Charakterisierungen, die die beiden Kontrahenten von 1863 geliefert haben, einige wichtige Korrekturen anzubringen. Die Rezeption aufklärerischer Wissenschaftsprinzipien begann unter Friedrich Karl von Schönborn in der Juristischen Fakultät, sie erlebte ihren Höhepunkt unter Adam Friedrich von Seinsheim (1755 – 1779) und Franz Ludwig von Erthal (1779 – 1795). Ein wichtiger und auch symbolträchtiger Schritt in dieser Entwicklung war die Aufhebung des Jesuitenordens im Jahre 1773, dessen Entfernung auch für die Universität Würzburg einen tiefen Einschnitt bedeutete. Ausdruck der aufklärerischen Universitätspolitik war zum einen die Änderung der Studienordnungen, vor allem aber die Berufung aufgeklärter Hochschullehrer nach Würzburg. Dies betraf zunächst die Philosophische Fakultät, die traditionsgemäß noch immer die Funktion einer für alle Studenten verbindlichen Vorfakultät für das Studium Generale erfüllte und die überdies personell eng mit dem Gymnasium verzahnt war. Hier lehrten nunmehr katholische Professoren, die ihre Ausbildung als Philosophen und Historiker an den norddeutsch-protestantischen Universitäten erfahren hatten, darunter einige dezidierte Kantianer. Tiefgreifende Änderungen erfuhr auch der Lehrbetrieb der Theologischen Fakultät mit der

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Verdrängung der jesuitischen Scholastik und dem Einzug von säkularisierter Geschichtswissenschaft und theologischem Rationalismus. Hierfür stehen die Namen Michael Ignaz Schmidt, Franz Oberthür, Adam Joseph Onymus und vor allem Franz Berg, der „fränkische Voltaire“. In der Juristischen Fakultät begann schon 1731 mit der Berufung Johann Adam Ickstatts der Einzug des jüngeren säkularisierten Naturrechtsdenkens in die Alma Julia; Ickstatt hatte bei Wolff in Halle studiert. Daneben ist für die Frühzeit Johann Kaspar Bartel zu nennen, ein offener Gegner der Jesuiten, der das kanonische Recht historisierte und damit in seinen Geltungsansprüchen relativierte. Aus der Spätphase s­ eien Joseph Maria Schneidt, Johann Phil. Gregel, Gallus Kleinschrod, Johann Michael Seuffert, Johann Samhaber und der nachmals berühmte Wilhelm Joseph Behr genannt. Sie hatten durchweg an norddeutsch-protestantischen Universitäten studiert, vor allem in Göttingen. Diese Bildungsstätten wirkten stark auf den Geist der Würzburger Universität ein. Des Vorsprunges des evangelischen Deutschlands im aufgeklärten Denken war man sich dabei, gelegentlich bedauernd, bewusst; die Einsicht in den Nachholbedarf bestimmte den Reformwillen der letzten Fürstbischöfe nachweislich. Aus d ­ iesem Geist begann in der Aufklärungszeit schließlich der Aufstieg der seither berühmten Würzburger Medizin, die von Erthal wesentlich praxisorientiert und aus sozialpolitischen Motiven gefördert wurde. Vorbild war die holländische Universität Leiden, an der eine praxisbetonte Ausbildung am Krankenbett entwickelt worden war. Erthal erweiterte das Julius-Spital nach ­diesem Vorbild um einen modernen Krankenhausbau, sorgte für den Bau einer Anatomie und eines chemischen Labors sowie für die Anlage eines Botanischen Gartens. Damit hielten auch die experimentellen Naturwissenschaften als Hilfsinstitute der Medizin Einzug in die Universität. Die gesamte Entwicklung ist prominent mit den Namen Carl Caspar Siebolds und seiner Söhne verbunden. Die zweite Stiftung des Fürstbischofs Julius, das Spital, wurde damit erstmals wirklich zum Ausbildungskrankenhaus der Medizinischen Fakultät, woraus sich eine folgenschwere Funktionsverschiebung ergab, die das ganze 19. Jahrhundert hindurch auch zu erheblichen Spannungen führen sollte. Unter dem Druck der wachsenden kapazitiven Anforderungen und der dienstlichen Zwitterstellung der Mediziner wurde das Verhältnis von Oberpflegamt und Medizinischer Fakultät bis zur Trennung zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend belastet, wobei neben den rechtlichen Fragen zum – nicht unumstrittenen – Status und zur Bestimmung einer kirchlichen Stiftung auch erhebliche weltanschauliche Friktionen im Umgang mit kirchenfernen medizinischen Positionen in den Dauerkonflikt involviert waren. (Die Frage „Julius oder Maximilian“ gewinnt also gegenüber dem Julius-Spital eine nochmals ganz eigene Bedeutung; deren Ausleuchtung wäre aber das Thema eines eigenen Vortrages.) Die gesamte Öffnung gegenüber der Aufklärung hatte sich formal im Rahmen des katholischen Charakters der Universität vollzogen, an dem man bis ans Ende des geist­ lichen Staates festhielt. Unverkennbar aber führte diese Öffnung – namentlich in der Theologie und Philosophie – das traditionelle katholische Lehrgebäude an seine Grenzen

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und sprengte diese in manchen Fällen bereits. Dessen waren sich viele bewusst, wie eine wachsende Opposition gegen diese Entwicklung – häufig von Ex-Jesuiten getragen – beweist. Aber erst der Schock der Säkularisation vor dem Hintergrund der revolutionsgeborenen napoleonischen Herrschaft steigerte diese Opposition zu wirksamem Widerstand, der dann nach 1806 eine Tendenzwende erzwang. Vorerst führte die bayerische Inbesitznahme von 1802 jedoch zu einem radikalen und damit qualitativ neuartigen Schub der Entkonfessionalisierung. Der Umsturz der Echter’schen Universitätsstiftung, den die bayerische Regierung nach der Okkupation sehr zügig ins Werk setzte, stand ganz im Geiste jenes aufgeklärten und auch religionsfernen Etatismus, wie ihn am profiliertesten Montgelas verkörperte. Übrigens nahm auch Kurfürst Max Joseph aktiven Anteil an der Universitätsreform. Ihr tatkräftiger, von gleicher Gesinnung beflügelter Anwalt vor Ort war der Kommissar für die fränkischen Entschädigungslande Friedrich Graf Thürheim, ein Württemberger, der wie Schiller an der Hohen Karls-Schule studiert hatte. Die Frage, ­welche Universität zu schließen und ­welche auszubauen war, wurde ­zwischen Würzburg und Bamberg rasch entschieden: Die reiche Ausstattung der Würzburger Stiftung durch Echter, die noch zuletzt durch die Jesuiten-Güter vermehrt worden war, gab den Ausschlag. Zwei Motive leiteten die Regierung bei ihrem Reformvorhaben: Zum einen musste – ganz praktisch – für die Staatsdiener- und Priesterausbildung im nunmehr konfessionell paritätischen Staat gesorgt werden; zum anderen entwickelte man – und hier nicht zuletzt der Kurfürst selbst – den Ehrgeiz, in geographisch exponierter Lage eine angesehene und attraktive Hochschule zu etablieren, die den bekannten norddeutschen Universitäten mit ihrer hohen Reputation, also Halle, Jena und Leipzig und dann vor allem Göttingen, an die Seite gestellt werden konnte und in der Lage war, eine möglichst große Zahl von Studenten anzuziehen. Beide Motive verwiesen auf das Gebot der Dekonfessionalisierung, wie dies den Maximen des zeittypischen aufgeklärten Wissenschaftsverständnisses entsprach. Für den nächstliegenden Zweck des innerstaatlichen Bedarfs war die Sachlage recht einfach: Dank seiner territorialen Akquisitionen hatte Bayern eine erhebliche Zahl protestantischer Untertanen erworben und dieser für das alte Bayern durchaus neuartigen Situation mit einem Religionsedikt Rechnung getragen, das die Angehörigen der drei christlichen Hauptkonfessionen in staatsbürgerlicher Hinsicht vollkommen gleichstellte. Im Januar 1803 wurden diese Bestimmungen auf die fränkischen Territorien übertragen. Diese Maxime eines aufgeklärten Etatismus waren im Prinzip nicht neu; das schon längere Zeit gemischtkonfessionelle Preußen war darin längst vorangegangen. Dementsprechend musste auch für den protestantischen Priesternachwuchs gesorgt werden, und da Bayern wie alle Territorien dem Prinzip der „Bann-Universität“ folgte (Ausbildung und Examina für den eigenen Staatsdienst nur auf landeseigenen Anstalten), erforderte dies die Einrichtung einer eigenen evangelischen theologischen Lehranstalt. Hierfür bot sich Würzburg wegen seines Einzugsgebietes an; Erlangen war damals noch nicht bayerisch. Die Würzburger Theologische Fakultät hatte denn auch in

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vorauseilender Willfährigkeit frühzeitig erklärt, protestantische Theologen brüderlich neben sich wirken lassen zu wollen. – Auch in der Berufungspolitik war eine Dekonfessionalisierung in allen Fächern das Gebot der Stunde, wenn man daran glaubte, dass vor allem berühmte Namen den Ruhm und die Anziehungskraft einer Hochschule begründeten. Thürheim begann denn auch sogleich, bei ständiger Rückversicherung in München, seine Fühler nach vielen Seiten auszustrecken und Gelehrte ‚einzukaufen‘. Wir werden dies s­ päter behandeln und dabei zeigen, dass der gewählte Ausdruck durchaus angemessen ist. Gleichzeitig bereitete man in München den organisatorischen Umbau der Anstalt vor, wobei man die Wünsche aus der Hochschule selbst zwar entgegennahm, dann aber mit souveräner Nichtbeachtung beiseiteschob. Am 11. November 1803 wurde das neue Organisationsstatut der „Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg“ publi­ ziert. Selbstverständlich war die Hinzufügung des zweiten Namens als desjenigen eines gleichgewichtigen Reformators oder zweiten Stifters Programm, worauf auch ausdrücklich hingewiesen wurde. Das Statut beseitigte die alte Fakultätseinteilung zugunsten einer Einteilung in zwei Hauptklassen mit je vier Sektionen; das entsprach der Nomenklatur der Wissenschaftlichen Akademien. Die erste Klasse umfasste die allgemeinen Wissenschaften in den Sektionen Philosophie, Mathematik und Physik, Geschichte, schließlich Philologie und Schöne Künste. Die zweite Klasse der praktischen Wissenschaften umfasste (neben der umbeannten Theologie) die Sektionen Rechtswissenschaft, Medizin, Staats- und Kameralwissenschaft. Letztlich steckte in der neuen Nomenklatur immer noch die alte Einteilung in die allgemeinbildende Vorfakultät des Generalstudiums (Philosophische Fakultät) und die berufsorientierten oberen Fakultäten – nur dass jetzt die Klasse der allgemeinen Wissenschaften aufgewertet und zum theorieorientierten Kern der Universität erhoben wurde, wie dies wenige Jahre ­später ja auch Humboldt an der Philosophischen Fakultät in Berlin vollzog. Doch gab es in Würzburg im Unterschied zu Berlin weiterhin ein alle Studenten verpflichtendes Generalstudium, welches künftig jedoch nicht mehr als Vorstudium, sondern als Begleitstudium organisiert war. Die empfindlichste und sicherlich bewusst gesetzte Spitze betraf den theologischen Bereich. Diese Sektion führte nicht den Namen Theologie, sondern hieß „Sektion der für die Bildung des religiösen Volkslehrers erforderlichen Kenntnisse“. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Die Formulierung spricht der Theologie unterschwellig den Charakter einer Wissenschaft ab und klingt eher nach Lehrerbildungs­ anstalt. Vom traditionellen, freilich im 18. Jahrhundert kaum mehr gewahrten S­ tatus einer Leitwissen­schaft wurde die Theologie jedenfalls entthront. Zugleich wurden katholische und evangelische Theologie in dieser Sektion zusammengefasst, und zwar nicht in zwei Abteilungen, sondern so, dass die Lehrgegenstände auf die Dozenten nach Anciennitäts­prinzip verteilt für alle Studenten verbindlich gemacht wurden. Man zögert sehr, d ­ ieses Experiment mit dem Begriff „ökumenisch“ zu charakterisieren. Die geistigen

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Voraussetzungen zu der administrativen Zusammenlegung liegen sicherlich in der Aufklärungstheologie des sogenannten Rationalismus mit seiner Tendenz, die christliche Religion auf eine praktisch orientierte Sittenlehre zu reduzieren, Heilsgeschichte und Dogmen dagegen hintanzusetzen. Vor d ­ iesem Hintergrund ist der Schritt zu einer administrativen ­Praxis nicht weit, aus Ersparnisgründen und nach Effizienzkriterien die Ausbildung der „religiösen Volkslehrer“ der verschiedenen Couleur zusammenzulegen. Ein Dialog der Konfessionen im Bewusstsein ihres unterschiedlichen Selbstverständnisses war damit aus der Perspektive der verordnenden Bürokraten wohl kaum intendiert, obwohl dergleichen im Schoße der neuen Sektion natürlich ‚von unten‘ unter den Kollegen hätte in Gang gesetzt werden können. Dass das Gegenteil geschah, werden wir sogleich sehen. Die Organisation sah zwar eine Selbstverwaltung der Universität vor; entscheidend aber waren die weitreichenden Befugnisse der „Kuratel“ als neuer staatlicher Aufsichtsbehörde, die zugleich die Interessen der Universität nach oben vertreten sollte. Faktisch standen die Selbstverwaltungsrechte in der ersten bayerischen Zeit auf dem Papier; die Funktionsträger wurden staatlich ernannt, die gesamte Berufungspolitik war Sache des Landeskommissars Thürheim in seiner Eigenschaft als Kurator im Benehmen mit München, wobei einzelne Universitätslehrer informell zu Rate gezogen wurden. Studium und Lehre sollten nach den Statuten unter strikter Aufsicht der Kuratel stehen; das betraf die Unterrichtspläne ebenso wie die Lehrveranstaltungen nach Thema und zugrunde liegender Literatur, die engmaschigen Semestralprüfungen im Generalstudium wie im Fachstudium, schließlich die Sozialkontrolle der Studenten. Das unterschied sich kaum von der hergebrachten geistlichen Aufsicht; diese war in erster Linie verstaatlicht worden. Von der Zauberformel der Freiheit, die Wegele in seiner Rektoratsrede beschwor, konnte kaum die Rede sein – er hat dabei wohl Montgelas ein wenig mit Humboldt verwechselt. Immerhin sah man entgegen älterer Universitätstradition eine Doppelbesetzung wichtiger Fächer vor, um durch Konkurrenz und Präsentation alternativer Lehrmeinungen die Kritikfähigkeit der Studenten zu schulen. Der Belebung des wissenschaftlichen Fortschritts sollte auch die Einführung des Privatdozententums dienen. Schließlich wurden die Professoren angehalten, fleißig zu publizieren und ihre Erzeugnisse bei Hofe einzusenden; hierdurch wie auch und vor allem mit der Gründung einer gelehrten Zeitschrift suchte man nach den bekannten Vorbildern Göttingens, Jenas und Leipzigs den Ruhm der Würzburger Hochschule zu verbreiten. Nun zur Berufungspolitik, dem eigentlich aufregenden Feld der bayerischen Erneuerung. Hierfür musste zunächst einmal Platz geschaffen werden, und so versetzte ­Thürheim kurzerhand zwölf Professoren der alten Universität in den Ruhestand. Dieser harte Schnitt traf vor allem die Philosophische und die Theologische Fakultät, wobei neben Alters- und Qualitätskriterien natürlich auch die bildungspolitische Richtung eine Rolle spielte. Die profilierten Aufklärer blieben durchweg im Amt, so die Kantianer Rückert und Metz, der „fränkische Voltaire“ Berg und der aufgeklärte Theologe Onymus. Hingegen

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hatte es den Reformer und Philanthropen Franz Oberthür knapp sechzigjährig erwischt: Thürheim machte die merklich gewordene Schwäche seines Geistes und den wahrhaft kindischen Charakter seiner letzten schriftstellerischen Produkte geltend – seine theologischen Begriffe vermöchten nur mühsam den Fortschritten des Zeitalters zu folgen. Oberthür setzte sich gegen seine Versetzung in den Ruhestand empört zur Wehr: Es erschien ihm geradezu unglaublich, ausgerechnet ihn als Anwalt grundlegender Reformen in der theologischen Wissenschaft und Lehre in einem Moment abzusetzen, wo die neue Regierung seine Vorstellungen zu verwirklichen sich anschickte. Er hatte Erfolg und wurde 1804 reaktiviert. Den Geist von Weimar und Jena in die fränkische Bischofsstadt tragen – das war die Devise, die den Neuberufungen die Richtung wies. Noch 1803 wurde für jede der alten Fakultäten – gewissermaßen als erhoffte Richtungsbestimmung – eine Berufung realisiert: der Philosoph Schelling, der Theologe Heinrich Eberhard Gottlob Paulus und der Jurist Gottlieb Hufeland aus Jena, dazu der Ludwigsburger Hofmedicus Friedrich ­Wilhelm von Hoven für die Medizin. Hoven hatte mit Thürheim und Friedrich Schiller die Ausbildung an der Stuttgarter Karlsschule gemeinsam; er war mit Schiller eng befreundet. Man sieht, wie die Kreise sich auch hier schlossen. Jena sollte dann auch weiterhin die wichtigste Adresse für die Würzburger Bemühungen bleiben; eine richtige Seilschaft also, wie der heutige universitäre Jargon sagen würde. Die Ernestinische Universität war damals ein Ballungszentrum junger Talente von einer Agilität, mit der gerade in diesen Jahren der zuständige Geheimrat Goethe seine liebe Not hatte. Der junge Star Schelling war ein bereits berühmter und faszinierender Vertreter dieser Szene; seiner Berufung sollten nach dem Willen Thürheims eine Signalwirkung und eine Schlüsselbedeutung für die nachfolgenden Anwerbungen zukommen. Der Achtundzwanzigjährige kam und hat sich von Anfang an angelegen sein lassen, in den Personalentscheidungen kräftig mitzumischen. Das war nicht ganz unproblematisch angesichts der hohen Selbsteinschätzung des Gelehrten und seiner Neigung zu kräftiger Polemik und ungehemmtem Interventionismus einerseits und andererseits der Tatsache, dass seine spekulative Identitätsphilosophie und Naturphilosophie sich nur schwer mit der Würzburger Aufklärung vereinbaren ließ, also sich mit dem philosophischen Kantianismus und theologischen Rationalismus ebenso wie mit der naturrechtlich orientierten Würzburger Jurisprudenz und der empirisch und praktisch ausgerichteten Medizin nur schlecht vertrug. Das Ganze ging dann auch nicht gut, wie wir noch sehen werden. Die ehrgeizige Berufungspolitik Thürheims folgte nun der schlichten Maxime, möglichst rasch möglichst viele bekannte Namen zusammenzukaufen, um Würzburg in Flor zu bringen, und zwar nach dem Motto ‚Geld spielt keine Rolle‘. Gerade auch der Kurfürst wollte große Namen sehen. Da Jura und Medizin weitgehend fest besetzt waren, wurden die Allgemeinen Wissenschaften, aber auch die Theologie zum Hauptfeld ­dieses Ehrgeizes. So wandte man sich an Friedrich August Wolf in Halle, den berühmten Begründer der Klassischen Philologie und der Ausbildung vor allem der Gymnasiallehrer im Seminar.

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Daraus wurde nichts. Dann hätte der Kurfürst gern den bekannten Dichter, Homerübersetzer und Altphilologen Johann Heinrich Voss angeworben, der nach ­langer Schultätigkeit inzwischen mit einem Gnadengehalt unter Goethes Obhut in Jena lebte. Voss verlangte 3000 fl. jährlich (was mehr als das Doppelte des Üblichen war) plus freie Wohnung und Garten – all dies wurde von München zugesagt; dann wollte er zwei Assistenten zu 1200 und 1800 fl. für die eigentliche Arbeit haben, vor allem zum Aufbau eines philologischen Seminars für die bayerische Lehrerausbildung. Als er dann noch den bayerischen Gymnasiallehrplan revidieren wollte, zogen sich die Verhandlungen hin, und Voss bevorzugte ein Angebot aus Heidelberg. Danach dachte man an einen jungen Mann aus der Schule Wolfs und verfiel schließlich auf Friedrich Schlegel, der sich 1802 in Jena als Philologe habilitiert hatte; er wurde dann aber in Würzburg abgelehnt, weil ihm alle Gabe des Vortrags fehle. Die Philologie blieb unbesetzt. In der Geschichtswissen­schaft hoffte man, den hoch berühmten Historiker Arnold Hermann Ludwig Heeren von Göttingen abwerben zu können, was aber nicht gelang. Nach längerer Suche wurde 1805 Konrad Mannert von der in Auflösung befindlichen Universität Altdorf berufen; dies erwies sich in der Folge als guter Griff. Da man nach Göttinger Vorbild auch die Hilfswissenschaften einschließlich der Statistik (damals eine Art Landeskunde und Staatenbeschreibung) vertreten wissen wollte, berief man nach einiger Suche aus London den wissenschaftlich ziemlich unbedarften Christian August Fischer. Im Bereich der Philosophie schließlich setzte Schelling die Berufung von Johann Jakob Wagner aus Jena zum außerordentlichen Professor für praktische Philosophie durch, dessen einzige Qualifikation nach zeitgenössischem Urteil darin bestand, Anhänger Schellings zu sein. Darüber hinaus dachte man auch an den jungen Jenenser Privatdozenten Johann Friedrich Fries, der aber Heidelberg vorzog, nach seiner Rückkehr nach Jena 1816 zu einem bekannten Vordenker der nationalen Burschenschaftsbewegung wurde und in die Mühlen der Demagogenverfolgung geriet. Schließlich warb man unter lebhafter Anteilnahme des Kurfürsten eine ganze Weile vergeblich um den Dichter des Göttinger Hains und Philosophieprofessor Friedrich Bouterwek. So weit unser Rundgang durch die „Nordlichter-Politik“ in den Allgemeinen Wissen­ schaften, also im Bereich der alten Philosophischen Fakultät. Lassen wir Jura und Medizin an dieser Stelle vorerst beiseite und werfen wir zur Vervollständigung des Bildes noch einen Blick auf die Theologie. Schon der ersten Berufung, der des protestantischen Orientalisten, Alt- und Neutestamentlers Paulus von Jena nach Würzburg, kam hohe Symbolkraft zu. Paulus, wie Schelling übrigens gebürtiger Leonberger, galt als Haupt der rationalistischen Theologie, ein kritischer Kommentator des Neuen Testaments. Zu seinen Lieblingsbeschäftigungen zählte die rational-naturwissenschaftliche Erklärung der Wunder – also Auferstehung als Folge von Scheintod und dergleichen. Paulus suchte sogleich weitere Vertreter seiner Richtung nachzuziehen, etwa den Gothaer Superintendenten Löffler, den Jenaer Professor für Philosophie und Theologie und Fichte-Freund Friedrich I. Niethammer; auch mit dem in Jena etablierten und berühmten Orientalisten

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und Bibelforscher Johann Gottfried Eichhorn wurde verhandelt. Der weit jüngere und noch nicht so etablierte Niethammer nahm schließlich an und leitete damit seine spätere Münchner Karriere als neuhumanistischer Schulorganisator und Oberkirchenrat ein. Zur weiteren Bereicherung der Sektion suchte man Friedrich Schleiermacher zu gewinnen, der damals (nach seinen Berliner romantischen Jahren) noch Prediger in Stolp/Pommern war, aber mit seinen „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ und anderen Schriften bereits große Bekanntheit erlangt hatte. Schleiermacher zog es jedoch vor, 1804 nach Halle zu gehen, wo er auch studiert hatte. Für das Fach Kirchengeschichte berief man nach längerem Suchen den Rostocker Professor Christoph David Martini; er war der sanfteste und friedfertigste unter den Neuen, endete ­später als Lyzeums-Professor in München. Mit dem Wort „Nordlichter“ wurde bereits ein Begriff verwendet, mit dem gemeinhin die Kultur- und Wissenschaftspolitik Maximilians II. in den 1850er/60er Jahren charakterisiert wird. In der Tat dürfte z­ wischen beiden Epochen eine Analogie bestehen, beruhend auf der Vorstellung, dass man für Bayern Anschluss an die moderne Wissenschaftsentwicklung nur dadurch gewinnen könne, wenn man in Anerkennung eines Vorsprungs der norddeutsch-protestantischen Universitäten für eine geistige Blutauffrischung eben aus d ­ iesem Norden ohne Ansehen der Konfession sorge. Für die Zeit um 1800 gilt freilich, dass ein großer Teil der „Nordlichter“ Schwaben waren – sie hatten aber nicht zufällig durchweg an mitteldeutschen, in unserem Sinn zum ‚Norden‘ gehörenden Universitäten Karriere gemacht. Nicht zufällig auch wählte man zu Anfang des Jahrhunderts die fränkische Neuerwerbung und noch nicht so sehr die altbayerische Universität Landshut zum Experimentierfeld für diese Politik. Ferner sollte man nicht außer Acht lassen, dass es zu Anfang des Jahrhunderts eine landfremde Dynastie, nämlich der pfälzische Zweig der Wittelsbacher in Zusammenarbeit mit einer aus Ausländern bestehenden Führungsgruppe war, die diese Politik betrieb. Sowohl Anfang wie Mitte des Jahrhunderts wurde die auf diese Weise akquirierte Gelehrtengruppe von den einheimischen konservativen Kräften als Fremdkörper empfunden, zuerst von den Franken, s­ päter noch weit m ­ assiver von den Altbayern. Bevor wir den harten Kern d ­ ieses Widerstandes zu Anfang des Jahrhunderts behandeln, sollten wir noch einige andere Facetten des Würzburger Experiments von 1803 – 1806 beleuchten. Zunächst einmal ging die Rechnung der Universitätsreformer insoweit auf, als die Immatrikulationsfrequenz anstieg; die berühmten Namen zahlten sich aus. Es kam aber auch insofern ein frischer, in Würzburg wohl eher ungewohnter Wind in die Szene, als die recht heterogen zusammengewürfelten gelehrten Intellektuellen sich ihrer Neigung zu scharfer Kontroverse und lebhafter Polemik ziemlich hemmungslos hingaben. Das taten sie nicht zuletzt im Hörsaal, was unter den jugendfrischen Studenten zu allerlei Parteiungen und entsprechenden Tumulten führte. Schelling und Paulus zerstritten sich maßlos, was bei der Unterschiedlichkeit ihres geistigen Profils nicht Wunder nimmt, und auch der alteingesessene fränkische Voltaire Berg zog gegen Schelling kräftig vom Leder.

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Schellings anmaßende Art und seine Neigung, sich in alle Berufungen einzumischen, etwa auch seinen naturphilosophischen Anhang in der Medizinischen Fakultät zu platzieren (was auf erfolgreiche Abwehr stieß) oder die bayerische Bildungspolitik insgesamt zu kritisieren, gingen dem Hof und der Regierung bald auf die Nerven. Auch die Studententumulte riefen die Besorgnis der Regierung wach und veranlassten sie, Schelling beobachten zu lassen. Der Kurfürst rang wiederholt die Hände. Ein Teil der späteren Berufungsversuche war von dem Motiv getragen, Alternativen gegen den „Schwindel der absoluten Anschauung“ zu schaffen. Denn auch viele Studenten hatten ihre liebe Not damit, den Vorlesungen Schellings zu folgen; nach dem ersten einschlägigen Fiasko wurde veranlasst, in den Semestralprüfungen keine Identitäts- und Naturphilosophie abzufragen. Schon ab 1804 wollte Schelling des Öfteren wieder fort von Würzburg und der „weinreichen Tiefe ­dieses verruchten Nestes“. Ein amüsantes Nebenprodukt der intellektuellen Händel war deren Spiegelung im Würzburger „Damenkrieg“, in dem die Ehefrauen der Beteiligten brieflich und zum Teil auch öffentlich Partei für ihre Gatten ergriffen. Thürheim hatte zu Anfang mehrere Professorenfamilien in einem Haus untergebracht, und so waren die Damen ­Schelling, Paulus, Hoven und Hufeland zunächst ein Herz und eine Seele. Das ging nicht lange gut. Caroline Schelling, die „Dame Lucifer“, war ein Kaliber besonderer Art, und ­Caroline Paulus, nebenher Romanschriftstellerin, hatte ein gesundes Selbstbewusstsein. Frau Hoven, von Frau Schelling als „schwäbische Küchenmagd“ qualifiziert, war wohl eher häuslich und friedfertig. Caroline muss ungemein herrschsüchtig gewesen sein, dabei verfügte sie über Geist und boshafte Spottlust. Die biedere Würzburger Normal­bürgerschaft fand vor ihrem Auge selbstverständlich überhaupt keine Gnade. Da die genannten Damen und auch die eher distanzierte Frau Niethammer eifrige Briefschreiberinnen waren und ihre Berichte und Sottisen vornehmlich nach Jena richteten, hat all dies Eingang in die deutsche Literaturgeschichte gefunden. Am aufregendsten war zweifellos das Auftreten Caroline Schellings, einer Dame mit Vergangenheit. Sie war eine der berühmten „Göttinger Mamsellen“ (hochintelligente, geistig emanzipierte und frustrierte Professorentöchter), hatte sich während der Französischen Revolution 1792 nach Mainz zu den „Clubbisten“ begeben und bei der Mainzer Republik mitgemacht, in der danach verhängten Haft auch ein uneheliches Kind undeutlicher Herkunft geboren, war dann nach Jena gezogen, wo sie die Szene der jungen Gelehrten aufmischte, bald August Wilhelm Schlegel heiratete, im Kreise der Romantiker durchaus intensiv arbeitete (Shakespeare-Übersetzung), aber auch sich an deren Polemiken lauthals beteiligte, vor allem an der Verhöhnung Schillers. Dann verließ sie Schlegel und wandte sich dem zwölf Jahre jüngeren Schelling zu, den sie nach ihrer Scheidung 1798 heiratete. Würzburg war nun leider nicht Jena, aber auch hier versammelte sie einen Kometenschweif von Bewunderern um sich, mit dem sie die Stadt und ihre Umgebung durchzog. Von Mondscheinpartien nach U ­ nterdürrbach ist die Rede und Ähnlichem. Vom eifrig besuchten Th ­ eater hieß es: „Wenn uns Ifflands

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Moral auf der Bühne langweilte, hielten wir uns in der Loge schadlos.“ Honni soit qui mal y pense. Man kann sich lebhaft vorstellen, dass die frommen Würzburger drei Kreuze machten, als 1806 alle wieder fort waren. Wichtiger für die Würzburger Universitätsgeschichte ist der ernste und ins Grundsätzliche reichende Konflikt, in den die neue Theologie und die hinter ihr stehende Regierung mit der katholischen Amtskirche gerieten. Evangelische Theologiestudenten fanden sich in Würzburg vorerst kaum ein. Nun sah das Universitätsstatut, wie gesehen, eine integrierte theologische Sektion vor, in der das Vorlesungsprogramm auf die Dozenten ohne Ansehen der Konfession verteilt wurde. Das staatlich jeweils genehmigte Semesterprogramm war für die Studenten verbindlich, und also sahen sich die Katholiken darauf verwiesen, bei Paulus etwa Neues Testament zu hören, was sie auch taten. (Zu Schelling liefen sowieso alle.) Da die katholischen Theologen durchgängig Alumni des Priesterseminars, also einer kirchlichen Einrichtung, waren, nutzte dessen Regens diesen Hebel, um ihnen den Besuch protestantischer Vorlesungen zu verbieten. ­Hieran kehrten sich die Studenten zunächst nicht und füllten weiterhin die inkriminierten Hörsäle. Die Regierung nahm den Vorfall zum Anlass, ein neues Reglement für das Priester­seminar, dessen Verfassung dem Staat nicht gleichgültig sein könne, vorzubereiten mit dem Ziel, die ausschließliche Bestimmungsgewalt des Bischofs zu beseitigen. Hierüber kamen die Verhandlungen bis 1806 nicht voran; gleichzeitig verschärfte sich der Streit um die Vorlesungen, weil die ­Kirche die renitenten Alumni vor die Wahl stellte: Gehorsam oder Verweigerung der Priesterweihe. Die meisten gehorchten daraufhin; ein harter Kern musste das Seminar jedoch verlassen, was vom Staat zur Vermeidung eines Skandals hingenommen wurde. Die Seele des kirchlichen Widerstandes war der Leiter des Vikariats, Weihbischof ­Gregor Zirkel. Er hatte die Diözese fest in der Hand, da der letzte Fürstbischof Georg Karl von Fechenbach seit 1802 zurückgezogen in Werneck und ­später in Bamberg residierte; nach seinem Tod 1808 blieb der Bischofsstuhl vorerst unbesetzt. Zirkel, selbst bis 1802 Professor für Orientalistik, war in der Würzburger Aufklärung akademisch sozialisiert worden. Unter dem Schock der bayerischen Säkularisierungspolitik wandelte er sich zum konsequenten Verteidiger kirchlicher Positionen. Er muss als früher Repräsentant jenes schon skizzierten Ultramontanismus angesehen werden, der das katholische 19. Jahrhundert bestimmen sollte. Seine Stunde sollte rasch kommen, denn der Pressburger Friede im Dezember 1805 mit seinen territorialen Transaktionen bedeutete das Ende der bayerischen Herrschaft über Würzburg und den Übergang an die Habsburgische Sekundogenitur Toskana. Schon die ersten Nachrichten hierüber setzten die Würzburger protestantische Professorenschaft in bängliche Erregung, die mit der Devise ‚Rette sich wer kann‘ rasch in eine allgemeine Absetzbewegung überging, wobei Thürheim sich für seine Klientel tatkräftig einsetzte. Die meisten kamen im bayerischen Staatsdienst unter, sei es in Landshut, sei es vorübergehend in Altdorf, sei es im ­Kirchen- oder Verwaltungsdienst. Das können wir hier nicht im Einzelnen verfolgen.

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Das historische Urteil über die Würzburger Universität unter der ersten bayerischen Ägide schwankt (wenn von der krassen Verurteilung aus klerikaler Sicht einmal abgesehen wird) ­zwischen dem Verdikt der Scheinblüte und der Feststellung, dass hier eine Höhe wie kaum je in späteren Jahren erklommen worden sei, zwar gewaltsam rasch emporgetrieben, aber chancenreich, wenn die Entwicklung stetig verlaufen wäre. Blickt man auf die Finanzlage der Stiftung, so drängt sich das Urteil der Scheinblüte massiv auf. Thürheim hatte auf Teufel komm raus gewirtschaftet, und schon unter ihm überschritten die Personalausgaben die laufenden Einnahmen aus dem Stiftungsvermögen empfindlich; das Defizit wurde vorläufig aus Sonderverkäufen von Lagervorräten gedeckt. Der Reformator hätte also in materieller Hinsicht als echter zweiter Stifter auftreten und das Universitätsvermögen aufstocken oder aber einen ständigen Finanzierungsanteil in den zentralen Staatshaushalt aufnehmen müssen. Das fiskalische Verhalten der Regierung sah aber in jener Zeit nicht danach aus, dass aus einer Einsicht in den Sachzwang entsprechende Folgerungen gezogen worden wären. Hinsichtlich des geistigen Profils war der Aufschwung natürlich unverkennbar, wenn man die paritätische bzw. konfessionsfreie Staatsanstalt als die wissenschaftlich allein angemessene und bildungspolitisch zukunftweisende Universitätsform ansah. Man muss aber auch unter ­diesem Vorzeichen einschränkend konstatieren, dass es sich bei der Professorenschaft um einen zusammengewürfelten, heterogenen Haufen mit oft schwer vereinbaren Tendenzen handelte, der zudem bei der ganzen Art des staatlichen Dirigismus vorerst überhaupt keine Chance hatte, im Wege der Selbstverwaltung so etwas wie eine ‚Corporate Identity‘ zu entwickeln, ganz abgesehen davon, dass viele dieser nomadisierenden Individualisten auch gar keine Neigung dazu verspürten. Zu einer Verstetigung des Entwicklungsprozesses hätte es auf mittlere Sicht also eines beträchtlichen Umdenkens bedurft, wenn die bayerische Ägide Bestand gehabt hätte. All dies entschuldigt nun freilich nicht den gezielten Kahlschlag, der in der Toskanazeit an der Anstalt verübt wurde, genauer im Bereich der Philosophischen und der Theolo­ gischen Fakultät. Die Medizin erfreute sich seit den praktisch-aufklärerischen Taten Erthals über die wechselnden Regime hinweg einer soliden ungebrochenen Kontinuität ihrer Entwicklung, und dasselbe gilt mutatis mutandis für die Jurisprudenz, jedenfalls bis 1832. Von ihr wird noch zu sprechen sein. Von 1806 bis 1809 dümpelte die Universität vor sich hin, ohne dass die neue Regierung auf die zahlreichen Reformvorschläge des Rumpfsenats reagierte und Anstalten zu ihrer Restrukturierung machte, wobei der Exodus der Professoren und ihre auch finanziell bedingte Nichtersetzung das Lehrangebot so drastisch schmälerte, dass sich überregional in der Öffentlichkeit gefahrvolle Befürchtungen über ihre Zukunftsaussichten breitmachten. Endlich im September 1809 erschien ein neues Organisationsstatut, das im Benehmen von Regierung und bischöflichem Vikariat ausgearbeitet worden war. Es stellte fest, dass die Anstalt gemäß dem Stifterwillen und der Landesverfassung eine katholische Universität sei, die vorrangig den Bedürfnissen des eigenen Landes gewidmet sei. Die traditionelle Fakultätseinteilung

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wurde wiederhergestellt, der Senat abgeschafft und die Befugnisse der Kuratel erweitert, die staatliche Leitung der Anstalt also auch formal gegenüber der bayerischen Verfassung noch erheblich ausgedehnt. Mit einer Ausnahme: Die Theologische Fakultät wurde als selbstständige akademische Einrichtung überhaupt aufgehoben, und ihre Aufgaben wurden dem Priesterseminar unter Aufsicht des Bischofs bzw. Vikariats übertragen. Das Lehrdeputat der Professoren wurde drastisch erhöht, ihre Lehre an genehmigungspflichtige Bücher gebunden, ihre Publikationen der Zensur unterworfen, sie selbst auf beispielgebende religiöse und sittliche Gesinnung, Ehrfurcht und Ergebenheit gegen den Souverän und Gehorsam gegen seine Gesetze und Befehle verpflichtet. Die Lehr­fächer sollten auf das Wesentliche und Notwendige reduziert werden, Doppelbesetzungen wurden ebenso abgeschafft wie das Institut der Privatdozenten, um die Studenten nicht durch konkurrierende Lehrmeinungen zu verwirren. Mit dem Erlass des Statuts ging wie schon unter den Bayern abermals eine Entlassungswelle über die Universität hinweg, jetzt unter entgegengesetztem Vorzeichen. Neben den verbliebenen Protestanten traf sie nunmehr auch die alte Garde der aufgeklärten Theologen: Oberthür, Onymus, Berg, Gregel. Die Vakanzen füllte man in der Theologie durch Mitglieder des Priesterseminars, in der Philosophischen Fakultät durch die Beförderung von Gymnasiallehrern; das Gymnasium wiederum wurde mit Landgeistlichen ohne jede spezifisch fachliche und pädagogische Vorbildung aufgefüllt. Die Quieszierten behielten ihre vollen Bezüge, was die Universitätsfinanzen abermals zusätzlich strapazierte. – In seiner Festansprache zur Einführung der neuen Ordnung betonte ein Ordensgeist­ licher, dass der Geist des großen Julius wieder erwacht sei. In jüngerer Zeit habe Franz Ludwig von Erthal mit seinen Reformen und der Berufung gefähr­licher Freigeister ein Maß der Sünde auf sich geladen, für das er wohl jetzt im Jenseits büßen müsse. Dann sei mit den Bayern die Katastrophe über die katholische Religion hereingebrochen mit dem Sieg der sogenannten Aufklärung und der Einstellung einer Menge lutherischer und calvinischer Professoren. Julius Echter habe sich gewiss, als er diesen Gräuel der Verwüstung sah, im Grabe umgewendet. Jetzt aber sei der festlichste Tag angebrochen, an ­welchen sich noch die Kindeskinder mit heiliger Rührung erinnern würden. Dieser Apologie stand die Tatsache gegenüber, dass in der auf den Status einer konfessionellen höheren Schule herabgestuften Anstalt die Studenten wegblieben. Deren Zahl sank von 730 im Wintersemester 1804/5 kontinuierlich auf 250 im Sommersemester 1814, davon ca. 50 Auswärtige. Die Universität befand sich im Zustand eines „staatlich verordneten Verfalls“ (Engelhorn). Nach der Rückkehr der bayerischen Herrschaft im Jahre 1814, die bekanntlich von konservativen Würzburger Kräften aus Adel und Klerus zu vereiteln versucht worden war, wandte sich das Professorium der Universität mit dem gezielten Ausdruck freudiger Erwartung nach München, empfahl unter Hinweis auf ihre reiche Ausstattung dringend die Erhaltung der Anstalt und bat, sich wieder Julius-Maximilians-Universität nennen zu dürfen. Der wahre Zustand der Finanzen wurde natürlich verschwiegen; es war der

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Regierung aber nicht verborgen geblieben, dass Würzburg „sehr herab­gekommen“ war. Bayern hatte inzwischen Erlangen und Altdorf erworben und A ­ ltdorf abgewickelt; man konnte sich also nicht ganz sicher sein, was Würzburg betraf. Die Universität blieb jedoch erhalten, auch dank des Einsatzes des Kommissars für den Untermainkreis Maximilian von Lerchenfeld und wohl hauptsächlich mit Blick auf die Ausstattung. Der Vorlesungsbetrieb lief mit dem vorhandenen Personal weiter. Von einer Regierungsinitiative zu einem Neu- oder Wiederaufbau, gar im Stil von 1803, konnte jedoch nicht die Rede sein. Das Professorenkollegium, also der sogenannte Große Senat, entwickelte in nächster Zeit sehr lebhaft Reformvorschläge, die an die erste bayerische Zeit anzuknüpfen versuchten und sich von der Toskana-Ära distanzierten. Hierbei arbeiteten die Theologen des Priesterseminars allerdings nicht mit. Wortführer waren jetzt vor allem die Juristen; daneben traten die eigentlich quieszierten Aufklärungstheologen Oberthür und Onymus wieder auf den Plan. Hieran kann man erkennen, dass in einem gewissen Kernbestand der Universität die Kontinuität aufklärerischer Tradition durchgängig bestand und von der Toskana-Reaktion nur oberflächlich überlagert worden war. Die Vorschläge richteten sich auf die Wiederherstellung der korporativen Selbstverwaltung, die Wiederherstellung der Theologischen Fakultät als Bestandteil der Korporation (bei Aufsichtsrechten der ­Kirche selbstverständlich), die Einrichtung einer gesonderten evangelisch-theologischen Abteilung neben der katholischen, die Gewährung der Lehrfreiheit unter Abschaffung von Zensur und Literaturvorschriften für die Vorlesungen, die Wiederzulassung von Privatdozenten, die Reaktivierung quieszierter Professoren zur kostengünstigen Erweiterung des Lehrangebots sowie die Zulassung freier Bewerbung aller Gelehrter zur Venia Legendi bzw. auf vakante Stellen. Das meiste davon, namentlich auch die formale Lehrfreiheit, wurde von München nach und nach im Lauf der nächsten Jahre genehmigt, ein Universitätsstatut nach dem Muster Landshuts erlassen, nach längerem Zögern auch der engere Senat re-installiert. Eine evangelische Theologie erhielt Würzburg freilich nicht, dafür blieb im Sinne einer landesweiten Funktionsteilung Erlangen zuständig. Im Ganzen gab es keine Welle von Neuberufungen; man arbeitete mit dem vorhandenen Personal weiter, und dies galt auch für die aus dem Priesterseminar in die Fakultät rückversetzten Theologen. Aus Ersparnisgründen wurden einige quieszierte Professoren reaktiviert; hierunter waren dann auch zwei Protestanten, die wegen Qualitätsmangel kein rechtes Unterkommen gefunden hatten und sich jetzt aufs intensivste darum bewarben: der Philosoph Johann Jakob Wagner und der Professor für Statistik und Staatengeschichte Christian August Fischer. Mit dem Letzteren gab es vor und nach der Rückberufung erhebliche Konflikte, die von Fischer in wilden Pamphleten publik gemacht wurden und in der akademischen Welt nicht zuletzt deshalb für Wirbel sorgten, weil Fischer konfessionelle Motive gegen ihn unterstellte. Der Kern des Widerstandes lag aber bei dem berühmten Behr, der in der Philosophischen Fakultät keine Konkurrenz im Bereich des Staatsrechts haben wollte.

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Die relative Zögerlichkeit und Passivität der bayerischen Universitätspolitik nach 1815 wird man mit der generellen konservative Wende, mit dem Abbruch der vorangegangenen forcierten Reformpolitik Montgelas’ und der große Vorsicht in allen Bereichen der Innenpolitik in Verbindung bringen müssen; vor allem aber galt es, wie übrigens in allen deutschen Staaten jener Zeit, die völlig zerrütteten Staatsfinanzen zu konsolidieren und durch rigorose Sparpolitik die immensen Kriegsfolgelasten zu bewältigen. Im objektiven Resultat bedeutete dies für die fränkischen Universitäten, dass ihr Profil dank der Kontinuität des Lehrpersonals keine besondere Veränderung erfuhr. Erlangen blieb also überwiegend protestantisch, Würzburg überwiegend katholisch, was auch den psychologischen Vorteil hatte, dass Tradition und Herkommen samt ihrer Einbettung in die mentale Landschaft der Universitätsstädte nicht in irritierender Weise beeinträchtigt wurden. Dies bedeutete aber nicht, dass für Würzburg eine gezielte konfessionelle Universitätspolitik betrieben worden wäre. In formaler Hinsicht war der alte Status einer katholischen Lehranstalt mit dem Übergang an Bayern ohnehin beseitigt. Nach staatsrechtlichem Verständnis waren alle bayerischen Universitäten staatliche Anstalten in einem konfessionell paritätischen Staat. Der bayerische König betrachtete sich als Nachfolger der geistlichen Landesherren und sah die Universitätsstiftung als Ausfluss der landesherrlichen Gewalt an. Die von ultramontaner Seite gelegentlich suggerierte Auffassung, als handle es sich um eine kirchliche Stiftung, hatte insoweit keine Chance auf Anerkennung – im Unterschied zum Julius-Spital, das in der Tat seinen Status als kirchliche Stiftung dauerhaft behauptete. Der Staat lenkte die Universität nach wie vor in hohem Maße. Hierfür war weiterhin die Kuratel zuständig, die mit dem Würzburger Regierungspräsidium verbunden wurde. Die Selbstverwaltungsrechte wurden eng ausgelegt, die Korporation hatte z. B. kaum Einfluss auf Berufungen. Im Übrigen hielt die verbriefte Lehrfreiheit die Obrigkeit nicht davon ab, den Lehrbetrieb der Anstalt ‚fürsorglich‘ zu lenken und zu kontrollieren. Die Kuratel hatte den Vorlesungsplan zu genehmigen, nahm die Rechenschaftsberichte über den Lehrerfolg und das Betragen der Studenten entgegen, ging insbesondere misstrauisch den studentischen Verbindungen nach, ließ sich über Konfidenten darüber berichten, was in den Vorlesungen vor sich ging, und der Regierungspräsident (v. a. Asbeck) ließ es sich nicht nehmen, mit einer gewissen Regelmäßigkeit persönlich als Zuhörer in den Auditorien zu erscheinen. Die Umsetzung der berüchtigten Karlsbader Beschlüsse von 1819, die die politische Kontrolle jetzt von Bundes wegen anordnete und koordinierte, bedeutete für Würzburg also keinen besonderen Einschnitt, allerdings hat sie das repressive Klima auf die Dauer doch sehr verschärft. Die allmähliche Aufladung der bekannten Würzburger politischen Konflikte mit ihrem Kumulationspunkt in der „Universitäts-Epuration“ von 1832 zeigt nun, dass formale Katholizität und obrigkeitliche Kontrolle überhaupt nicht gegen den Einbruch liberalen Denkens und politischer Opposition schützte. In den 1820er Jahren erlebte Würzburg wie Erlangen die Ausbreitung der Burschenschaftsbewegung, die übrigens in Würzburg

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einen stärkeren radikalen Einschlag als in Erlangen hatte. Dies lag an der Dominanz der Erlanger Theologiestudenten mit ihrer starken Prägung durch Erweckungsbewegung und Orthodoxie. In Würzburg wurden die Burschenschaften von den Medizinern und Juristen beherrscht; die katholischen Theologen waren als Alumnen des Seminars natürlich überhaupt nicht daran beteiligt. Die Politisierung wurde in Würzburg nicht zuletzt durch einige Vertreter der Juristischen Fakultät gefördert. Diese Fakultät pflegte die Naturrechtstradition des 18. Jahrhunderts und war von der neuen Strömung der Historischen Rechtsschule unberührt geblieben. Was hierbei unter wissenschaftsgeschichtlichen Gesichtspunkten als altmodisch qualifiziert werden mag, war politisch die Basis für die Betonung von Verfassung, Grundrechten und Repräsentation. Prominentester Vertreter ­dieses Engagements war der bekannte Staatsrechtler Wilhelm Joseph Behr, der zwar als Würzburger Bürgermeister aus seinem Lehramt ausgeschieden war, aber weiterhin als Spiritus Rector dieser Gruppe galt und großen gesellschaftlichen Einfluss hatte. Neben ihm zeigte Sebald Brendel politisches Profil; die Professoren Seuffert jun. und Cucumus gehörten eher verdeckt dieser Richtung an. Auch in der Medizin gab es eine Gruppe freisinniger Professoren, darunter insbesondere Johann B. Friedreich (jun.) Schoenlein und Hergenröther. All diese Professoren hatten ein warmes Herz für die jungen Leute, Behr und Brendel standen mit ihnen zu Beginn der 1830er Jahre auch in aktiver Verbindung. Über Jahre hinweg führten die Regierungsvertreter Klage darüber, dass die Studenten von den Professoren viel zu nachsichtig behandelt und im Grunde gedeckt würden. Da sich Rektoren und Senat zudem ständig Scharmützel mit der Regierung über Selbstverwaltungsrechte und Verfahrensfragen lieferten, entstand ein gereiztes Klima ­zwischen Staatsgewalt und Universität, das durch persönliche Denunziationen aller Art zusätzlich verschärft wurde. Natürlich gab es auch politische Parteiungen innerhalb der Universität: Zu den „Gutgesinnten“ zählten die Mediziner Thomas August Ruland (der Vater Anton Rulands) und Karl Friedrich von Marcus (jun.), aus der Philosophischen Fakultät der bekannte Leiter des Konservatoriums und Pädagogikprofessor Fröhlich und der berüchtigte „Historiker“ Professor Berks, sodann der Geistliche, Universitätsbibliothekar und spätere Speyerer Bischof Richarz. Vor dem Hintergrund der revolutionären Bewegungen ab 1830 widmete der von zunehmender Revolutionsfurcht beherrschte König, Ludwig I., dem konspirativen Nest in Würzburg gesteigerte Aufmerksamkeit, ließ die Regierung berichten und forderte die „Gutgesinnten“ zu direkten Denunziationen an ihn auf, was dann 1832 zur Verurteilung von Behr und zur Strafversetzung von acht Professoren in den Justiz- und Medizinaldienst führte. (Der berühmte Schoenlein hat dies damals nicht akzeptiert und einen Ruf nach Zürich angenommen.) Bei dieser jedem rechtsstaatlichen Verfahren spottenden Vorgehensweise wurde den Betroffenen keinerlei Anhörung gewährt; es gab auch keine strafrechtliche Verfolgung und keine Entfernung aus dem Staatsdienst, sondern nur aus dem Lehramt zugunsten einer anderen Verwendung. Das Ganze beruhte auf den vertraulichen und unüberprüften

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Immediatberichten an den König. bei denen sich Berks, Richarz und Fröhlich besonders hervortaten; alle wurden bis zu seinem Regierungsende vom Monarchen ­auffallend gefördert und ausgezeichnet. Was an der Berichterstattung an den König auffällt, ist die verschärfte ideologische Fokussierung auf ein Feindbild, in dem jetzt Aufklärung und Protestantismus zusammengezogen wurden: Aus dieser Perspektive war es die Saat von 1803 bis 1806, die jetzt in Würzburg aufgegangen sei. Solche Gesichtspunkte fielen bei Ludwig I. jetzt auf fruchtbaren Boden; dementsprechend suchte er die kirchliche und monarchische Gesinnung in der Universität Würzburg zu stärken. Zur Durchführung einer solchen Politik wurde gezielt Graf August von Rechberg 1832 in die Regierung von Unterfranken geholt und 1833 zum Regierungspräsidenten und Universitätskommissar erhoben; er amtierte bis 1837. Rechberg, dessen larmoyante Berichterstattung übrigens persönliche Hypochondrie verrät, gehörte der streng kirchlichen Partei an; in der Stadt wurde er, wie er selbst in seinen Berichten klagend feststellt, als Ultra und Frömmler bezeichnet. Er war an der Säuberung von 1832 maßgeblich beteiligt gewesen und setzte auch danach seine Kontrolle und Berichterstattung an das Ministerium fort. Von der Würzburger Bildungsschicht hatte er keine hohe Meinung, sie gehöre, wie in jeder größeren Stadt, in religiöser wie in politischer Hinsicht mehr oder minder der Liberalität an. Man habe in diesen Kreisen die gewaltsame Entfernung der Exponenten nicht verwunden und strafe die Denunzianten und Vollstrecker, also auch ihn, mit Hass und Verachtung. Durch massive Regierungseinwirkung wurden 1832 die Dekans-, Senats- und Rektorats­ wahlen so gelenkt, dass die Gutgesinnten, darunter vor allem die Denunzianten, die Oberhand gewannen. Kein Wunder, dass Parteigeist und allgemeine Polarisierung in den Fakultäten sich verschärften, aber auch heuchlerische Anpassung zunahm. Letztere konstatierte Rechberg bei den Theologen, wo er einige Vertreter ausmachte, die (wie – seiner Meinung nach – eine große Zahl der katholischen Priester überhaupt) im Grunde ungläubig s­ eien, in der Lehre aber sich absolut korrekt verhielten, um keinen Anlass zum Eingreifen zu bieten. Auch in der Medizin machte Rechberg zwei Parteien aus und suchte die Partei der Gutgesinnten, deren Haupt Karl-Friedrich von Marcus war (ein ehemaliger Burschenschafter, der in den frühen 1820er Jahren deswegen eine Haft verbüßt hatte), durch Auszeichnungen zu stützen. In der Philosophischen Fakultät war vor allem der schon genannte Musiker und Pädagoge Fröhlich, der sich im ­Übrigen um die Musikausbildung und um das Musikleben Würzburgs durchaus Verdienste erworben hat, ein bekenntnisfreudiger Vertreter der kirchlichen und monarchischen Richtung. Die Senatsprotokolle lassen ihn wiederholt, in Sondervoten etwa, als Anwalt staatlicher Interventionsrechte erkennen. Auch trat er als einschlägiger Festredner auf; am Priesterseminar hatte er ab 1833 einen Lehrauftrag für Pädagogik inne, der für alle Alumnen verpflichtend war. Rechberg war freilich mit ihm überhaupt nicht glücklich: Er trete zwar bei jeder Gelegenheit laut und aufdringlich für Religion und Tugend, K ­ irche und Staat ein, sei aber im Grunde so ungläubig wie die anderen und in Wirklichkeit

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herrschsüchtig, rachsüchtig und intrigant; dabei fröne er dem Genuss und verführe auch Schülerinnen der Lehrerbildungsanstalt, die alle sein Musikinstitut besuchen mussten, „zur Wollust“. Das Schlimmste aber war in Rechbergs Augen, dass Fröhlich ständig zum König nach Brückenau reise und sich nach seiner Rückkehr damit brüste, wieder einige „getunkt“ zu haben; dadurch werde der Hass des Publikums vom Werkzeug auf die Allerhöchste Person und das ganze Regierungssystem gelenkt. Mit Grund, wie man sagen muss: Die Akten lassen deutlich die besondere Gnade des Königs in Gestalt von regelmäßigen Gehaltserhöhungen, Sonderzuwendungen für das Musikinstitut und Ordensverleihungen an Fröhlich erkennen. All diese Erscheinungen und Tendenzen sind atmosphärisch und politisch wahrlich nicht gering zu schätzen; der harte Kern des Problems restaurativer Tendenzen aber liegt in der Frage, ob sich auch in der Würzburger Berufungspolitik der Spätzeit ­Ludwigs I. eine Durchsetzung der streng kirchlichen Richtung erkennen lässt. In Ansätzen ist dies durchaus feststellbar. In der Theologischen Fakultät wurde mit Georg Anton Stahl 1834 der erste Germaniker berufen. Stahls Erhebung zum Würzburger Bischof 1840 war dann das Startzeichen zur späteren Berufung weiterer Germaniker, wovon schon einleitend die Rede war. In die arg dezimierte Juristische Fakultät wurde der nachmals berühmte, vom Judentum zum Protestantismus konvertierte Anwalt des monarchischen Prinzips Friedrich Julius Stahl berufen. Der junge Gelehrte hatte sich bereits einen Namen gemacht und eine außerordentliche Professur in Erlangen erhalten. Sein Detachement nach Würzburg zur Vertretung der Rechtsphilosophie scheint aber eine Notmaßnahme gewesen zu sein; schon 1834 war er wieder in Erlangen, und die Vertretung der Staatsphilosophie nach konservativen Grundsätzen übernahm der Ultramontane Moy de Sons (1833 ao. Prof.). Auch der nachmalige bayerische Ministerpräsident von der Pfordten begann seine Karriere 1833 als Privatdozent und dann als Professor in Würzburg, wurde aber wegen zu freisinniger Lehre 1841 zwangsweise in den Justizdienst versetzt. Moy wiederum wurde 1840 zur Verstärkung der kirchlichen Richtung nach München geholt. Diese Vorgänge veranschaulichen vor allem das Problem, für eine entschiedene katholische Wende das entsprechend qualifizierte Personal zu finden. Die Schicksale der Juristischen Fakultät zeigen dies eindeutig: Sie dümpelte während der Regierungszeit Ludwigs I. nach dem Aderlass von 1832 mit einer äußerst geringen Besetzung vor sich hin, und entsprechend gering war die Frequenz, die bis auf 50 bis 60 Studenten sank. Erst nach 1848 gab es einen neuen Aufschwung; in der Regierungszeit Maximilians II . erfolgten elf Neuberufungen aus dem Ausland, und zwar, wie der Rektoratsredner Edel 1865 rühmte, in vollem Einvernehmen von Fakultät und Ministerium. Eine systematische Untersuchung der insgesamt dürftig besetzten Philosophischen Fakultät in dieser Zeit fehlt, doch verweist der Fall Lasaulx auf eine analoge Problematik. Der prominente Ultramontane Ernst von Lasaulx wurde 1835 für die Klassische Philologie nach Würzburg berufen, aber 1844 zur Verstärkung dieser politischen Richtung nach München geholt.

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Im Jahre 1837 hat dann die Ernennung Karl von Abels zum Minister, der als ­solcher für ein Jahrzehnt die bayerische Innenpolitik beherrschte, der Katholisierungspolitik neue Schubkraft verliehen. Die Instrumentalisierung katholischer Kirchlichkeit zur Stabilisierung der obrigkeitsstaatlichen und monarchischen Autorität war der Kern des Systems Abel, eines Mannes übrigens von geringer persönlicher Religiosität. Bekanntlich brüskierten manche seiner Maßnahmen die evangelische Seite dermaßen, dass selbst die konservativen Kirchenrepräsentanten und Erlanger Theologen mit dem Staat in Konflikt gerieten. Es war die Zeit, als der Kölner Mischehenstreit für eine gewaltige konfessionelle Polarisierung in Deutschland führte, Joseph Goerres seine ­„Historisch-politischen Blätter“ gründete und München verstärkt zum Zentrum katholischer Aktivitäten machte, König Ludwig I. in die nationale Position eines Horts des katholischen Glaubens gerückt wurde. In Bayern bestanden Abels erste Maßnahmen in der Einführung neuer Studienordnungen vor allem für das Generalstudium, der Bestellung von Ephoren in den Philosophischen Fakultäten, der Betrauung von entschiedenen Katholiken mit ­diesem Amt, der Bevorzugung solcher Personen als Lehrer für die Pflichtvorlesungen des Generalstudiums und dergleichen mehr. Die Katholisierungsbestrebungen zielte aber auf mehr. Hierzu bediente sich Abel des ihm ­vertrauten Grafen Rechberg, der zum Abschluss seiner Würzburger Amtszeit und als Quintessenz seiner Erfahrungen ein Programm für den König abfasste, das die vollständige Rekatholisierung der Würzburger Universität im Rahmen ihres Status als Staatsanstalt vorsah. Von den drei bayerischen Universitäten ­seien, so Rechberg, nach historischer Herkunft Erlangen protestantisch, München und Würzburg katholisch. München sei für eine volle Rekatholisierung zu groß, weil die dazu nötige Anzahl wahrhaft katholisch gesinnter Gelehrter vorerst nicht zu finden sein werde. In Würzburg aber sei es möglich, die Hochschule durch Säuberungen und Personalvorschläge in eine rein katholische umzuwandeln. Die gegenwärtige Lage der dortigen Professorenschaft schilderte Rechberg in düsteren Farben: Die indifferenten und ungläubigen Professoren arbeiteten gegen die Gutgesinnten; politisch s­ eien sie, wie man 1832 gesehen habe, ungefährlich, weil bei entschiedenem Vorgehen sofort angepasst; aber als Lehrer, die die Studenten im Geiste der französischen und deutschen Enzyklopädisten erzögen, die die Religion als Sache der Weiber und der Dummen oder höchstens als psychologisches Zwangsmittel für das gemeine Volk ansähen, ­seien sie für die heranwachsenden Generationen verderblich. Ebenso wie man vor 40 Jahren die Aufklärung nach Würzburg gebracht habe, so müsse jetzt eine neue Generation von Professoren in allen Fakultäten durch Lehre und persönliches Beispiel eine katholische Wissenschaft verbreiten, die eine wissen­schaftliche Begründung der Glaubenslehre liefere und zur siegreichen Bekämpfung des Unhaltbaren der Systeme Kants, Fichtes, Hegels und Schellings geeignet sei. Zu ergänzen sei ­dieses Projekt durch eine Rekatholisierung des Gymnasiums, das einem Schulorden übergeben werden solle. Würzburg sollte auf diese Weise zu einer Hochschule ausgebaut werden, die im nationalen Rahmen Berlin

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entgegengestellt werden konnte und die König Ludwig als vornehmstem Protektor des katholischen Glaubens in Deutschland Ehre machen werde. Abel legte diesen Plan dem König mit nachdrücklicher Befürwortung vor, empfahl jedoch seinerseits, nicht nur Würzburg, sondern auch München dem Rekatholisierungsprogramm zu unterwerfen. In dieser Form hat Ludwig das Programm sogleich ­genehmigt und befohlen, mit seiner Durchführung zügig zu beginnen. Sieht man die königlichen Signate der nächsten Jahre durch, so zeigt sich ein kontinuierliches Interesse an der konfessionellen Segregation: Katholische Professoren sollten demnach in München und Würzburg, protestantische in Erlangen eingestellt werden, doch, so fügte er einmal bezeichnend hinzu, sei damit nicht gesagt, dass es nicht Ausnahmen von dieser Regel geben dürfe. Die Durchführung des Programms, die Abel mit großem Engage­ment betrieb, unterschied sich dann jedoch erheblich von Rechbergs Vorstellungen. Minister und König konzentrierten sich vollkommen auf die Gewinnung von Gelehrten der entschieden katholischen Richtung für München, die sie aus Bayern selbst bzw. über Rom sowie aus dem katholischen Rheinland bezogen; es wurden sogar, wie wir bereits sahen, aufstrebende Talente aus Würzburg nach München abgezogen. Nutznießer dieser Bemühungen war zudem fast ausschließlich die Münchner Theologische Fakultät, in geringem Maße auch die Jurisprudenz und Geschichtswissenschaft. Dieses Ergebnis verweist abermals auf das grundsätzliche Dilemma katholischer Wissenschaftspolitik ultramontanen Profils im Horizont des 19. Jahrhunderts: zum einen die schmale Personalbasis, wenn wissenschaftliche Richtung und wissenschaftliche Qualifikation gleichermaßen zu berücksichtigen war, zum anderen das Problem der Definition katholischer Wissenschaft, sobald das Feld der Theologie und bestimmter Geisteswissenschaften überschritten wurde. Es war kein Zufall, dass die staatliche bayerische Universitätspolitik sich in der zweiten Jahrhunderthälfte immer weiter von solch umfassenden Rekatholisierungsprojekten entfernte. Dies gilt schon für das konservative Programm Maximilians II ., erst recht natürlich für die gouvernemental-liberalen Ministerregime der Folgezeit. Die verschärfte Klage des katholischen Deutschland über die Universitätsverhältnisse, denen wir am Anfang ­dieses Vortrages begegnet sind, bestätigt diesen Sachverhalt nur. Aber auch die ernsthaften, nicht zufällig innerkirchlich umstrittenen und schließlich vergeblichen Bemühungen um die Gründung einer staatsfreien katholischen Universität verweisen darauf, dass die Abkoppelung einer genuin katholischen Wissenschaft vom dominierenden Wissenschaftsverständnis und Wissenschaftsbetrieb unweigerlich in eine proble­ matische Ghetto­isierung geführt hätte. Das grundsätzliche Problem weltanschaulicher Ungebundenheit oder weltanschaulicher Bindung von Wissenschaft zu behandeln wäre Gegenstand eines eigenen Vortrages. Immerhin ist die Betrachtung der Würzburger Verhältnisse geeignet, den Blick auch auf diese allgemeinere Frage zu lenken.

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Anmerkung: Der hier abgedruckte Text gibt den nur unwesentlich veränderten Wortlaut eines Vortrages wieder, der am 14. März 2002 im Rudolf-Alexander-Schröder-Haus (Evangelisches Bildungszentrum Würzburg) gehalten worden ist. Auf eine eingehendere wissenschaftliche Ausarbeitung des Themas einschließlich der Hinzufügung von Anmerkungen wurde verzichtet. Die nachfolgenden archivalischen und bibliographischen Angaben bieten einen Nachweis der benutzten Quellen und wissenschaftlichen Literatur. Wichtigste bibliographische Hilfe: Werner Engelhorn, Bibliographie zur Geschichte der Universität Würzburg, 1575 – 1975, hg. von Peter Baumgart, Würzburg 1975. Für die Literatur der Folgezeit die jährlichen Nachweise im Rahmen der Unterfränkischen Bibliographie, bis Berichtsjahr 1996 in: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 49 (1997), ab Berichtsjahr 1997 in: Bayerische Bibliographie (1999), zuletzt Berichtsjahr 1998 (2000). Jüngste knappe Gesamtdarstellung: Peter A. Süß, Kleine Geschichte der Julius-MaximiliansUniversität, Würzburg 2002. Die ältere, umfangreiche Darstellung und Dokumentation zum 300. Jubiläum von Franz Xaver Wegele, Geschichte der Universität Würzburg. Teil I: Geschichte, Teil II: Urkundenbuch, Würzburg 1882; Ndr. Aalen 1969 [reicht nur bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts]. Max Buchner (Hg.), Aus der Vergangenheit der Universität Würzburg. Festschrift zum 350. Bestehen der Universität, Berlin 1932 [enthält vornehmlich die Geschichten einzelner Disziplinen und insbesondere eine umfangreiche Geschichte der Würzburger Medizin]. Anlässlich des jüngsten Jubiläums der wichtige Sammelband von Peter Baumgart (Hg.), Vierhundert Jahre Universität Würzburg. Eine Festschrift, Neustadt (A.) 1982.

Nachweise zu den einzelnen Abschnitten des Vortrags, dem Text folgend: Die gedruckten Rektoratsreden des 19. Jahrhunderts gut zugänglich in den [unechten] 5 Sammelbänden (1782 – 1944) der UB Würzburg/Franconica-Abteilung, Sign. Hbh XIV 1544. Darin auch Franz Hettinger, Der Organismus der Universitätswissenschaften und die Stellung der Theologie in demselben. Eine Rede zum Antritt des Rectorats […] 2. Januar, Mainz 1862; Franz-Xaver Wegele, Die Reformation der Universität Würzburg. Festrede zur Jahresfeier […] 2. Januar 1863, Würzburg 1863. Zur Person Wegeles Jürgen Petersohn, Franz Xaver Wegele und die Gründung des Würzburger Historischen Seminars (1857). Mit Quellenbeilagen, in: Baumgart, Vierhundert Jahre, op. cit., S. 483 – 537. Zur Geschichte der Theologischen Fakultät in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, insbesondere zu Berufungspolitik und Professorenprofilen im Horizont der säkularen Auseinandersetzungen die eingehende Studie von Klaus Ganzer, Die theologische Fakultät der Universität Würzburg im theologischen und kirchenpolitischen Spannungsfeld der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Baumgart, Vierhundert Jahre, op. cit., S. 317 – 373. Zum Streit um Wegeles Rektoratsrede: [anonym], Die Idee des Göttlichen in der Wissenschaft und die sogenannte freie Wissenschaft, oder: Stiftung und Reformation der Universität Würzburg. Kritische Beleuchtung der von den HH. Professoren Dr. Hettinger und Dr. Wegele […] gehaltenen Festreden, Bamberg 1863, in: Pastoralblatt der Erzdiözese Bamberg 9 – 11/1863; auch als Sonderdruck. Anton Ruland [anonym], Die Reformation der katholischen Universität Würzburg, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 51 (1863), S. 598 – 621, 645 – 674. Zur Person Rulands die Würzburger Dissertation (1992) von Thomas Sauer, Anton Ruland (1809 – 1874). Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen Restauration in Bayern, München 1995. Zu ­Kirche und Konfession

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im 19. Jahrhundert gehaltvoll Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866, München 1983 u. ö., S. 403 – 451; ders., Deutsche Geschichte 1866 – 1918, München 1990 u. ö., Bd. I, S. 428 – 531; ders., Religion im Umbruch: Deutschland 1870 – 1918, München 1988. Zur Entwicklung der Universität Würzburg im 18. Jahrhundert maßgebend der Beitrag von Anton Schindling, Die Julius-Universität im Zeitalter der Aufklärung, in: Baumgart, Vierhundert Jahre, op. cit. S. 77 – 127. Noch einmal ders.: Die Julius-Universität im Zeichen ­­ der Aufklärung. Jurisprudenz, Medizin, Philosophie, in: Peter Baumgart (Hg.), Michael Ignaz Schmidt (1736 – 1794) in seiner Zeit, Neustadt (A) 1996, S. 3 – 24. Hier auch Klaus Ganzer, Die Würzburger Theologische Fakultät in der Auseinandersetzung mit den theologischen Zeitströmungen, a. a. O., S. 25 – 39. Die Geschichte der Medizinischen Fakultät und ihrer modernen Grundlegung im 18. Jahrhundert ausführlich behandelt von Georg Sticker, Entwicklungsgeschichte der Medizinischen Fakultät an der Alma Mater Julia, in: Buchner, Aus der Vergangenheit, op. cit., S. 383 – 799. Zu den Spannungen und Auseinandersetzungen ­zwischen Julius-Spital und Universität/Medizinischer Fakultät vom späten 18. Jahrhundert bis zur Lösung der Verbindung Anfang des 20. Jahrhunderts vgl. die entsprechenden Abschnitte bei Alfred Wendehorst und Friedrich Merzbacher, Das Julius-Spital in Würzburg, 2 Bde., Würzburg 1976, 1979, Bd. 1, S. 141 – 147, Bd. 2, S. 21 – 25. Hans-Dietrich Teuchert, Die Rechtsnatur der Stiftung Julius-Spital Würzburg in Vergangenheit und Gegenwart, Diss. Jur. Würzburg 1969. Einzelpersonen der Aufklärungszeit: Otto Volk (Hg.), Professor Franz Oberthür. Persönlichkeit und Werk, Neustadt (A) 1966; Christoph v. Lindeiner und Hans Körner, Siebold. Beiträge zur Familiengeschichte, 3 Bde. in 2, Neustadt (A) 1962, 1967; Peter Baumgart (Hg.), Michael Ignaz Schmidt (1736 – 1794) in seiner Zeit, Neustadt (A) 1996. Zur politischen Geschichte vom Ende des Hochstifts bis zum Wiener Kongress der Überblick von Harm-Hinrich Brandt, Würzburg von der Säkularisation bis zum endgültigen Übergang an Bayern, in: Peter Kolb und Ernst-Günter Krenig (Hgg.), Unterfränkische Geschichte. Band 4,1: Vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Eingliederung in das Königreich Bayern, Würzburg 1998, S. 477 – 530. Zur Geschichte der Universität in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts grundlegend, jedoch auf die im Untertitel genannten Aspekte konzentriert: Werner Engelhorn, Die Universität Würzburg 1803 – 1848. Ein Beitrag zur Verfassungs- und Institutionengeschichte, Neustadt (A) 1987. Für die Berufungspolitik der ersten bayerischen Zeit weiterhin unverzichtbar die ungedruckte Dissertation von Philippine v. Hertling, Geschichte der Universität Würzburg von 1803 bis 1806, Diss. [Masch.] Würzburg 1925 (Kopie UBWü/Freihandmagazin, Sign. 10/NZ 97961 H 574). Theobald Freudenberger, Zur Geschichte der Theologischen Fakultät im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, in: Baumgart, Vierhundert Jahre, op. cit., S. 283 – 316. Zur intellek­tuellen Atmosphäre der ersten bayerischen Zeit Leo Günther, Würzburger Chronik. Bd. 3: Personen und Ereignisse von 1802 bis 1848, Würzburg 1925; Franz-Xaver Wegele, Ein Frauenkrieg an der Universität Würzburg, Vortrag, geh. am 19. Februar 1885 […], in: ders., Vorträge und Abhandlungen, hg. von Richard Graf du Moulin Eckart, Leipzig 1898, S. 291 – 309; Irma Brandes, Caroline. Das Leben der Caroline von Schelling, Berlin 1970. Zu den Auseinandersetzungen um Schelling in Würzburg: Franz Berg, Sextus oder über die absolute Erkenntniß von Schelling. Ein Gespräch, Würzburg 1804; Friedrich Bran, Beiträge zur Berichtigung der Urtheile über den Paulus-Schellingschen Prozess […], in: Minerva 1 (1844), S. 144 – 186, 276 – 345; Leo Günther, Schelling in Würzburg, in: Würzburger Universitäts-Almanach 1936/37, S. 32 – 34; Erich Mende, Schelling in Franken. Ein Beitrag zum 200. Geburtstag des Philosophen am 27. Januar, in: Frankenland 27 (1975), S. 2 – 5.

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Zur universitätspolitischen Reaktion der Toskana-Zeit v. a. Engelhorn, Universität Würzburg, op. cit. Zur Person Weihbischof Zirkels die ältere umfassende Darstellung von August Friedrich Ludwig, Weihbischof Zirkel von Würzburg in seiner Stellung zur theologischen Aufklärung und zur kirchlichen Restauration. Ein Beitrag zur Geschichte der katholischen ­Kirche Deutschlands um die Wende des 18. Jahrhunderts, 2 Bde., Paderborn 1904, 1906. Vgl. auch Alfred Wendehorst, Das Bistum Würzburg 1803 – 1857, Würzburg 1965; Wolfgang Weiß, K ­ irche im Umbruch der Säkularisation. Die Diözese Würzburg in der ersten bayerischen Zeit (1802/1803 – 1806), Würzburg 1993 [mit umfangreicher Lit.]. Zur Geschichte der Universität nach dem zweiten Anfall an Bayern bis zum Ende der Regierung Ludwigs I. ebenfalls Engelhorn, Universität Würzburg, op. cit. Vgl. auch ders., Der bayerische Staat und die Universität Würzburg im frühen 19. Jahrhundert (1802 – 1848), in: B ­ aumgart, Vierhundert Jahre, op. cit., S. 129 – 178. [Hier ausführlich die Auseinandersetzungen um Status und Verfassung der Universität sowie um die Reaktivierung der nach 1806 quieszierten Professoren.] Zu den Juristen die materialreiche Dissertation von Andreas Röpke, Die Würzburger Juristenfakultät von 1815 – 1914. Rechtsstudium und Rechtslehre in Würzburg ­zwischen Restauration und Erstem Weltkrieg, Diss. jur. Würzburg 2001. [Hier auch Kurzbiographien aller Würzburger Juristen – Professoren und Privatdozenten – einschließlich ihrer politischen Haltung und politischen Schicksale; mit Lit.] Speziell zur Verbindung von Professoren und politisierten Studenten auch die Würzburger Dissertation von Georg Polster, Politische Studentenbewegung und bürger­liche Gesellschaft. Die Würzburger Burschenschaft im Kräftefeld von Staat, Universität und Stadt 1814 – 1850, Heidelberg 1989. Zur Würzburger Denunzianten-Szene Dirk ­Götschmann, Franz von Berks (1792 – 1873). Karriere und politischer Einfluss eines Denunzianten im Vormärz, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 57 (1994), S. 735 – 785. Zur Person Prof. ­Fröhlichs UnivArchiv Wü, ARS Nr. 470, 3329, in: BayStAWü, RegUF PräsAkten Nr. 57, ­BayStAWü, ­UnivCuratel Nr. 235, 168. [Zu den universitätspolitischen Vorstellungen Fröhlichs sowie den universitätsinternen und fachinternen Querelen um seine Person eine Fülle von Material in den Beständen ARS und UnivCuratel. Der Bestand UnivCuratel weitgehend an das BayHStAM abgegeben, jedoch als Verfilmung im BayStAWü vorhanden.] Zu Fröhlichs akademischem Wirken Lenz Meierott, Franz Joseph Fröhlich und seine Beiträge zu einer Geschichte der Musik, in: Lenz Meierott und Klaus Hinrich Stahmer (Hgg.), Musik und Hochschule. 200 Jahre akademische Musikausbildung in Würzburg, Würzburg 1997, S. 29 – 42; ders., Franz Joseph Fröhlich und das Königliche Musikinstitut in Würzburg, in: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 50 (1998), S. 101 – 113; Dieter Kirsch, Die Anfänge institutioneller Musikerausbildung in Würzburg unter Franz Joseph Fröhlich, in: Ulrich Konrad (Hg.), Musikpflege und „Musikwissen­schaft“ in Würzburg um 1800, Tutzing 1998, S. 121 – 136; vgl. auch ders., Der „Fall Höfl“. Zur Problematik der Amtsführung Franz Joseph Fröhlichs als Vorstand der Musikalischen Lehranstalt, in: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 49 (1997), S. 167 – 187; Beate Kann (Bearb.), Würzburgs Ehrenbürger 1837 – 1858 […]. Eine Ausstellung des Stadtarchivs Würzburg, Würzburg 1994 [darin F. J. Fröhlich S. 6 – 9]. Zur universitären Konfessionspolitik in Ludwigs I. Spätzeit Anton Doeberl, Rekatholisierungsbestrebungen gegenüber den Universitäten Würzburg und München unter der Regierung König Ludwigs I., in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 161 (1918), S. 28 – 34, 81 – 98, 287 – 298, 513 – 526 [behandelt die Pläne Abels und Rechbergs unter kgl. Zustimmung, nicht aber deren Umsetzung]. Zu Abels Universitätsgesetzgebung auch Harald ­Dickerhof, Dokumente zur Studiengesetzgebung in Bayern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin

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1975. Zu Abel allgemein Heinz Gollwitzer, Ein Staatsmann des Vormärz: Karl von Abel 1788 – 1859. Beamtenaristokratie – monarchisches Prinzip – politischer Katholizismus, Göttingen 1993. Zu August Graf von Rechberg-Rothenlöwen knappe Hinweise (Genealogie und Karriere) bei ­Walter Schärl, Die Zusammensetzung der bayerischen Beamtenschaft von 1806 bis 1918, ­Kallmünz 1955, S. 209 f., 370. [Rechberg war 1826 – 1831 wg. Nervenkrankheit quiesziert. Eine biographische Behandlung fehlt.] Vgl. auch Hans Jürgen Brandt, Eine katholische Universität in Deutschland? Das Ringen der Katholiken in Deutschland um eine Universitätsbildung im 19. Jahrhundert, Köln 1981.

Abb. 15  Johann Peter Hasenclever (Entwerfer 1810 – 1853) / T. W. Theodor Janssen (Stecher, 1816 – 1894), „Der Candidat Jobs im Examen“, 1844.

Promotionen und Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert 1. Der Rahmen zum Thema Die Wortschöpfung „Bildungsbürgertum“ gehört dem 20. Jahrhundert an. Der Vorstellungskomplex jedoch, der sich mit dem so bezeichneten – vornehmlich deutschen – Phänomen im Selbstverständnis der Akademikerschaft des ‚bürgerlichen Zeitalters‘ unter wechselnden Bezeichnungen verband,1 verweist auf eine unter dem Signum der ‚Bildung‘ abgrenzbare und sich subjektiv abgrenzende soziale Schicht. Sie ist im Wesentlichen dem ‚langen‘ 19. Jahrhundert zuzuordnen. Die Formation dieser Schicht ist im Anschluss an einen Begriff Max Webers als Vorgang „ständischer Vergesellschaftung“ 2 gedeutet worden: Bei höchst disparaten Feldern und Niveaus der beruflichen Karrieren, der Einkommensbildung und materiellen Lebensführung lag ihr vereinigendes Element jenseits von Klassenbildung und über die engere berufsständische Formierung hinaus in einem kulturellen Moment: Bei prinzipieller sozialer Offenheit der Rekrutierung begründete die meritokratische Elitebildung mit dem gemeinsamen Durchgang aller Bildungsbürger durch das humanistische Gymnasium und sein Bildungsprogramm sowie durch das anschließende Universitätsstudium mit seinen Abschlüssen einen auf Bildungspatenten basierenden ‚Stand der Gebildeten‘, dessen Ansprüche an Status und Prestige sich aus der Verknüpfung von Bildungswissen und fachlichem Leistungswissen herleitete. In der Verschränkung dieser beiden Momente, durch die ‚Ausbildung‘ an ‚Bildung‘ geknüpft wurde 3 und die selbstverständlich allezeit, gegen Ende des Jahrhunderts in 1 Begriffsgeschichtliche Analyse und methodische Reflexion über die wissenschaftliche Begriffsverwendung bei Ulrich Engelhardt, „Bildungsbürgertum“. Begriffs- und Dogmengeschichte eines Etiketts, Stuttgart 1986 (= Industrielle Welt 43). 2 Eingehende Behandlung des Gesamtkomplexes „Bildungsbürgertum“ in einer Tagungsserie des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, dessen Ergebnisse in 4 Bänden vorgelegt wurden: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil I: Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen, hg. von Werner Conze u. Jürgen Kocka; Teil II: Bildungsgüter und Bildungs­ wissen, hg. von Reinhart Koselleck; Teil III: Lebensführung und ständische Vergesellschaftung, hg. von M. Rainer Lepsius; Teil IV: Politischer Einfluss und gesellschaftliche Formation, hg. von Jürgen Kocka, Stuttgart 1985, 1990, 1992, 1989 (= Industrielle Welt 38, 41, 47, 48). Methodische Vorüberlegungen zur sozialgeschichtlichen Bestimmung und Abgrenzung des Bildungsbürgertums (epochal und im internationalen Vergleich) in Teil I, Einleitung Conze/Kocka; zur Frage der „ständischen Vergesellschaftung“ eingehend Lepsius, Teil III, S. 9 – 18. 3 Eine Würdigung des zugrunde liegenden Bildungsbegriffs von Koselleck in: Bildungsbürgertum, Teil II [Anm. 2], S. 11 – 46.

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zunehmenden Maße, auch ideologisch konnotiert war,4 lag durchgängig ein starkes Spannungspotential, das sich mit dem Brüchigwerden des humanistischen Bildungskonzepts schließlich in scharfen Konflikten entlud. In historischer Perspektive war ­dieses Bildungskonzept institutionell bereits in den Traditionen der alteuropäischen Universität verankert: Dem für alle Studenten verbindlichen ‚Studium Generale‘ folgte das Studium in einer der drei höheren Fakultäten, deren Graduierungen aber ebenfalls eher Standeserhöhungen in den Gelehrtenstand als Bescheinigungen über eine berufsorientierte Fachausbildung darstellten. Bekanntlich hat das Ungenügen ­dieses Qualifikationsprofil für den Bedarf an öffentlichen Leistungen die Staats- und Kirchenverwaltungen vorab Preußens seit dem 18. Jahrhundert dazu bewogen, für den Eintritt in den staatlichen Verwaltungsund Justizdienst und analog für das Pfarramt die universitären Abschlüsse durch staatliche Eingangsprüfungen zu ergänzen bzw. zu ersetzen und die anschließenden Stufen der beruflichen Ausbildung selbst in die Hand zu nehmen. Mit der Gleichstellung der Philosophischen Fakultät und ihrer neuen Zuständigkeit für die Gymnasiallehrerbildung wurde ­dieses System der Staatsprüfungen auch auf diesen Zweig des öffentlichen Dienstes ausgedehnt. Analog dazu begannen im 18. Jahrhundert die staatlichen Eingriffe in die Qualitätssicherung des Gesundheitswesens, die im 19. Jahrhundert dann zu einer vollen Verstaatlichung auch des ärztlichen Prüfungswesens führten.5 Selbstverständlich hatten die staatlichen Prüfungsordnungen entsprechende Wirkungen auf das Lehrprogramm der Universitäten, so dass von der staatlichen bzw. kirchlichen Bedarfslage wesentliche Impulse auf die differenzierende Verfachlichung des Studiums gerade auch in der staatlich reformierten Universität des frühen 19. Jahrhunderts ausgingen. In ­diesem Vorgang staatsnaher Verfachlichung, auf den man den der amerikanischen Soziologie entstammenden Begriff der „Professionalisierung“ 6 nur unter Vorbehalt ausdehnen kann, setzte sich mit nunmehr noch gewachsener Bedeutung jene mit den frühneuzeitlichen Landesuniversitäten begonnene Entwicklung fort, die Ausbildungsfunktion der Universität auf den Personalbedarf des monarchisch-bürokratischen Obrigkeitsstaates hin zu orientieren. 4 Zum theoretischen Rahmen, zur Abgrenzung von Wirtschaftsbürgertum und Bildungsbürgertum und zum Verhältnis von Herrschaftswissen, Leistungswissen und Bildungswissen kritisch Dietrich Rüschemeyer, Bourgeoisie, Staat und Bildungsbürgertum. Idealtypische Modelle für die vergleichende Erforschung von Bürgertum und Bürgerlichkeit, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 101 – 120, hier 108 ff. Darstellung und Analyse affirmativer und kritischer Wertungen bei Engelhardt, „Bildungsbürgertum“ [Anm. 1], insbes. Abschn. 4 u. 5 passim. 5 Eingehender Überblick über die vom Staat ausgehende Verfachlichung des Prüfungswesens bei Hartmut Titze, Wolfgang Lührs, Volker Müller-Benedict und Axel Nath, Prüfungsauslese und Berufszugang der Akademiker, in: Peter Lösche (Hg.), Göttinger Sozialwissenschaft heute. Frage­ stellungen, Methoden, Inhalte, Göttingen 1990, S. 181 – 225. 6 Hierzu die Einleitung von Conze/Koselleck in: Bildungsbürgertum, Teil I [Anm. 2], insbes. S. 17 – 26. Eingehend Charles E. McClelland, Zur Professionalisierung der akademischen Berufe in Deutschland, in: ebd., S. 233 – 247.

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Auch im Anstaltsstaat der konstitutionellen Monarchie formierte sich in Deutschland das Bildungsbürgertum großenteils in Abhängigkeit von den im Staatsdienst eröffneten Qualifikations- und Aufstiegschancen, mit den entsprechenden mentalen Konsequenzen.7 (In Anwaltschaft und Ärzteschaft wurde dieser Rahmen – allerdings nur bedingt – frühzeitig überschritten.) Wichtiger Bestandteil des damit verbundenen Standesdenkens war eine elaborierte Hierarchie von Titeln, und zwar jetzt in der Gestalt von Amtsbezeichnungen mit den darauf bezogenen Anredeformen, deren Geltungsmacht sich an die älteren Bestände adeliger, höfischer und militärischer Ränge anschloss.8 Für unser engeres Thema der universitären Promotionen ist der Hinweis wichtig, dass die Einschätzung der gesellschaftlichen Funktion des Doktortitels in den Rahmen eines ohnehin titelgesättigten Umfeldes zu stellen ist. Die universitäre Verfachlichung der Ausbildung blieb aber rückgebunden an die altuniversitäre Bildungstradition, deren Bedeutung in der Humboldt’schen Bildungsreform neu formuliert und intensiviert wurde. Institutionell wurden dabei in Preußen wesentliche Teile des humanistischen Bildungskanons in das Gymnasium verlagert, dessen (schrittweise verwirklichte) Monopolstellung für den Universitätszugang die bildungsbürgerlichen Standards homogenisierend gewährleisten sollte. Dieses institutionelle Modell wurde nach und nach von den anderen deutschen Staaten übernommen.9 Daneben blieben jedoch, etwa in Bayern, in den universitären Curricula wesentliche Bestandteile des alten ‚Studium Generale‘ erhalten.10 Aber auch in Preußen enthielten die staatlichen Prüfungen allgemeinbildende Elemente, sahen doch die preußischen Bildungsreformer die berufliche Führungskompetenz der höheren Staatsdiener (gerade auch in Justiz und Verwaltung) nur im Rahmen einer umfassenderen Allgemeinbildung gewährleistet. Allgemeinorientierende Zwischenprüfungen als Überbleibsel des altuniversitären Studium Generale blieben in den Fächern vielfach üblich. Selbst in der Medizin hat es lange gedauert, bis sich die Umwandlung des ‚Tentamen Philosophicum‘ in ein ‚Tentamen Physicum‘ durchsetzte. Analoge Auseinandersetzungen um Sinn und Stellenwert eines Philosophikums 11 gab es gegen Ende des Jahrhunderts im Umfeld der 7 Hierzu v. a. Hans-Ulrich Wehler, Deutsches Bildungsbürgertum in vergleichender Perspektive – Elemente eines „Sonderwegs“?, in: Bildungsbürgertum, Teil IV [Anm. 2], S. 215 – 237, ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte, München 21989, Bd. 1, S. 210 – 217, Bd. 2, S. 210 – 241. 8 Vgl. unter Mentalitätsaspekten etwa den Ratgeber von R. Stein, Titulaturen in Briefen und Eingaben an Standespersonen, Behörden etc., Berlin 21890. 9 Knappe Übersichten in Karl-Ernst Jeismann und Peter Lundgreen (Hgg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bde. 3 u. 4, München 1987, 1991; Karl-Ernst Jeismann, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. Die Entstehung des Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebildeten 1787 – 1817, Stuttgart 1974. 10 Harald Dickerhof, Bildung und Ausbildung im Programm der bayerischen Universitäten im 19. Jahrhundert, in: Historisches Jahrbuch 95 (1975), S. 142 – 169. 11 Paul Deussen, Über die Notwendigkeit, beim mathematisch-naturwissenschaftlichen Doktor­ examen die obligatorische Prüfung in der Philosophie beizubehalten, Kiel 1897.

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naturwissenschaftlichen Promotionen, die bekanntlich noch lange im Rahmen der philo­ sophischen Fakultäten stattfanden. Diese zuletzt gegebenen Hinweise thematisieren die Erschütterungen des Humboldt’schen Bildungskonzepts und die zunehmenden Spannungen in der polaren Verknüpfung von Bildung und Ausbildung, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unter dem Druck der Intensivierung des Fachstudiums und der Diversifikation der Fächer verstärkten. Sie erfuhren zusätzliche Schubkraft durch das Entstehen neuer Berufsfelder und Berufsprofile, die sich teils im traditionellen Gefüge der Philosophischen Fakultät entwickelten, teils sich außerhalb der Universitäten bildeten und auf Akademisierung drängten. In d ­ iesem Umfeld sind die Professionalisierungsprozesse im angelsächsischen Sinn des Begriffes anzusiedeln, also das Streben nach Konsolidierung solcher neuen Berufsprofile durch die betroffenen Interessenten selbst durch Etablierung von Ausbildungs- und Prüfungsstandards, Statussicherung und Privilegierung durch entsprechende Diplome und Titel. Damit einher ging die Diversifikation und Ausbreitung nichthumanistischer Formen der höheren Schulbildung, der Kampf um deren Zugangsrecht zu den Universitäten, die Ausbildung nichtuniversitärer Hochschultypen, insbesondere der Technischen Hochschulen, und der Kampf um deren Gleichstellung mit den Universitäten, symbolisch fokussiert im Kampf um das Promotionsrecht. Dabei musste das spezifisch neuhumanistische Bildungsideal vor der Herausforderung kapitulieren, eine diversifizierte Wissenschaftslandschaft, die gegen Ende des Jahrhunderts eben doch dem „Sieg des Positivismus über den Idealismus“ (Schelsky) zustrebte, in ihrer ganzen Breite zu integrieren.12 Dabei darf aber nicht verkannt werden, dass auch nach der Pluralisierung der Bildungsprofile auf der Grundlage unterschiedlicher Gymnasiumstypen an der Verknüpfung fachorientierter Grundlagenvermittlung und ‚zweckfreier‘ Bildungsbestände festgehalten wurde. So hielten die Universitäten und die Technischen Hochschulen in ihren Curricula weiterhin übergreifende Bildungsangebote bereit und integrierten sie in die Prüfungsanforderungen. Die Einrichtung ‚Allgemeiner Abteilungen‘ in den Technischen Hochschulen mag dafür als symbolträchtiges Beispiel stehen. Im Sinne unseres Themas sollte insgesamt beachtet werden, dass das universitäre Fachstudium im Deutschland des ‚langen‘ 19. Jahrhunderts (und mit ideologisch noch weit längerer Nachwirkung) eingebettet blieb in eine Bildungsvorstellung, die den Wirkungen des Universitätsaufenthaltes neben der fachlichen Qualifikation (durch diese selbst und in Verbindung mit einem Studium Generale) auch den Erwerb eines Gebildeten-Status zurechnete. 12 Zu d ­ iesem großen Thema mit umfangreicher Literatur: Rüdiger vom Bruch, Langsamer Abschied von Humboldt? Etappen deutscher Universitätsgeschichte 1810 – 1945, in: Mitchell G. Ash (Hg.), Mythos Humboldt, Wien u. a. 1999, S. 29 – 57. Zu Preußen Wolfgang Neugebauer, Das Bildungs­ wesen in Preußen […], § 3: Der Umbruch in der Bildungswirklichkeit des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Otto Büsch (Hg.), Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 2, Berlin 1992, S. 680 – 780.

Institutionelle Kontinuität und funktionaler Wandel der universitären Promotion

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Der breite Mantel einer Statuszumessung durch Universitätsbesuch deckte selbstverständlich – wie schon stets, so auch im bildungsbürgerlichen Zeitalter – eine breite Skala studentischen Niveaus im Bemühen um Wissenschaft, wissenschaftliche Fachausbildung und um deren allgemeine (philosophische) Grundlegung ab.13 Alle Akademiker aber bis hin zu den schwächer begabten Mitläufern waren von dem Drang beseelt, den Erfolg ihres Studiums durch Bildungspatente bescheinigt zu sehen, die zunächst einmal eine Anwartschaft auf beruflichen Einstieg begründeten, daneben aber auch (sei es darüber hinaus, sei es substitutiv) ihre Zugehörigkeit zur akademischen Welt in einem sichtbaren Zeichen ­­ dokumentieren sollten. Der Doktortitel war und blieb hierfür das wichtigste ­­Zeichen. Nicht zufällig waren die Universitäten und Hochschulen seit dem späten 19. Jahrhundert denn auch darum bemüht, ­diesem Verlangen durch die Kreation neuer Doktortitel nachzukommen. Schließlich wurde – darauf sei schon hier vorwegnehmend hingewiesen – noch in dieser Spätphase die legitime Funktion d ­ ieses Titels verteidigt, auch ohne Verknüpfung mit einer besonderen wissenschaftlichen Spezialleistung als generelle Besiegelung eines erfolgreichen Studiums und damit als Bestätigung der Zugehörigkeit zum Bildungsbürgertum zu dienen. Die Auffassung, dass mit dem Doktortitel mehr als eine fachliche Qualifikation bescheinigt, nämlich eine akademische Würde verliehen werde, die zu einem entsprechenden standesgemäßen Verhalten verpflichte, hielt sich bis tief in das 20. Jahrhundert.14

2. Institutionelle Kontinuität und funktionaler Wandel der universitären Promotion Fragt man nach Funktion und Wertigkeit der Promotion in einer von staatlicher Verfachlichung und von Professionalisierung bestimmten akademischen Welt des bürgerlichen Zeitalters, so ist vor allem von dem Befund auszugehen, dass Promotionsrecht und Promotionsverfahren ungeschmälert aus der vormodernen in die moderne, d. h. etatistisch überformte Universität übergingen. Nach dem Untergang bzw. der weitgehenden Verkümmerung der minderen Graduierungen zum Bakkalaureus und Magister war die Verleihung des Doktorgrades als einziger universitärer Akt der feierlichen Bestätigung eines erfolgreichen akademischen Studiums erhalten geblieben.15 Verfahren und 13 Vgl. knapp Harm-Hinrich Brandt, Studierende im Humboldt’schen Modell des 19. Jahrhunderts, in: Rainer C. Schwinges (Hg.), Humboldt international. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert, Basel 2001, S. 131 – 150 [mit Lit.]. 14 Aus verwaltungsjuristischer Sicht polemisch gegen diese „herrschende Meinung“, mit deren Darlegung jedoch die Tradition implizit bestätigend: Hartmut Schöner, Das Recht der akademischen Grade in der Bundesrepublik Deutschland, Diss. Würzburg 1970, S. 1 – 33 [ältere Lit.]. 15 Als Überblicksdarstellung: Siegfried Wollgast, Zur Geschichte des Promotionswesens in Deutschland, Bergisch Gladbach 2001 [sehr ungegliederte Ausbreitung des Forschungsstandes, aber

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Promotionen und Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert

Titelvergabe lagen nach wie vor – im Rahmen rechtsaufsichtlich genehmigter Promo­ tionsordnungen – in der Autonomie der Fakultäten. Diese Autonomie verwirklichte sich, was nicht zu vernachlässigen ist, weit mehr in der von außen kaum normierbaren praktischen Handhabung der Leistungsanforderungen als in dem formalen Regelwerk der Ordnungen. Wichtige zeremoniöse Formen der Titelverleihung wurden weiterhin bewusst gepflegt, und auch korporative Elemente wie der Doktoreid hielten sich im 19. Jahrhundert vielfach.16 Die Regelanforderungen unterlagen bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts h ­ inein bereits in formaler Hinsicht empfindlichen Schwankungen. Zumeist wurden eine schriftliche Dissertation (lateinisch oder deutsch mit einem oder zwei Bogen Umfang) mit oder ohne Druckzwang, eine mündliche Prüfung unter Einschluss eines Philosophikums, manchmal auch schriftliche Klausuren gefordert. Die öffentliche Promotion mit Thesenverteidigung und dem Auftreten von Opponenten blieb in feierlicher Stilisierung durchgängig lange erhalten; sie hatte keine eigentliche Prüfungsfunktion mehr, blieb aber als Initiationsritual nicht zuletzt mit Blick auf die Betroffenen wichtig. Die wichtigsten Abweichungen von d ­ iesem Leistungskanon lagen im Verzicht auf eine schriftliche Dissertation oder, umgekehrt, in dem Brauch der Promotion ‚in absentia‘, bei der die Einsendung einer schriftlichen Arbeit genügte und die Urkunde ohne das Erfordernis weiterer Prüfungsleistungen zugesandt wurde. Vor allem war die Promotion teuer. Die Kosten schwankten von Fakultät zu Fakultät, waren aber insgesamt hoch. Sie flossen den Professoren zu, wobei nicht nur der Dekan und die Prüfer etwas erhielten, sondern – wohl auch zur Wahrung des innerfakultären Friedens – alle ordentlichen Fakultätsmitglieder beteiligt wurden; zur schamhaften Kompensation gingen gewisse Anteile auch an öffentliche Einrichtungen wie die Bibliothek. Bei hohen Promotionszahlen bildeten diese Gebühren für die Ordinarien einen ansehnlichen Nebenverdienst, der ihr Einkommen an kleineren Universitäten bei ihren oft dürftigen Gehältern und Hörgeldeinnahmen erheblich aufbesserte.17 In d ­ iesem Sachverhalt lag eine wesentliche institutionelle Ursache für Missstände. Zweifellos der ärgste Missstand lag in der Möglichkeit der Promotion ‚in absentia‘,18 bei der die Einsendung einer Dissertation ohne weitere Prüfung des Kandidaten mit der nützliche Informationsquelle für viele Details]. 16 In Wien bestanden die Doktorkollegien der vier Fakultäten als korporatives Relikt mit gewissen unerheblichen Funktionen bis in die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts. Franz Gall, Die Doktorkollegien der vier Fakultäten an der Wiener Universität 1849 – 1873, in: Christian Helfer und Mohammed Rassem (Hg.), Student und Hochschule im 19. Jahrhundert. Studien und Materialien, Göttingen 1975, S. 47 – 61. 17 Dazu Berechnungen bei Heinrich Waentig, Zur Reform der deutschen Universitäten, Berlin 1911, passim. 18 Hierzu Ulrich Rasche, Geschichte der Promotion in absentia. Eine Studie zum Modernisierungsprozess der deutschen Universität im 18. und 19. Jahrhundert, in: Rainer Christoph Schwinges

Institutionelle Kontinuität und funktionaler Wandel der universitären Promotion

167

gebührenschweren Zusendung der Doktorurkunde honoriert wurde. Bis ins zweite Jahrhundertdrittel war ­dieses Verfahren immer noch an den Universitäten Göttingen, Jena oder Rostock zulässig. Bedenklich war auch das Nebeneinander von Promotionen mit und ohne Dissertation (letztere in Gießen, Jena, Heidelberg und Freiburg), wobei der Verzicht auf eine Dissertation als ohnehin wertlose Fingerübung, der gegenüber strenge Rigorosen als Leistungsmessung vorzuziehen s­ eien, durchaus auch ernsthafte Befürworter fand. Eine depravierende Wirkung auf das Niveau der Promotionen hatte schließlich die Gewohnheit, die Graduierung nicht am Studienort zu suchen. Im Laufe des späten 19. Jahrhunderts vollzog sich allmählich eine Angleichung der Promotionsordnungen im formalen Sinn; eine angleichende Standardisierung der Niveaus in der Substanz gelang dagegen nie. Die formale Angleichung war in Preußen das Ergebnis eines sanften bürokratischen Drucks auf die Selbstverwaltung der Fakultäten.19 Ähnliches galt für Bayern. Regierungen und Universitäten der kleinere Staaten, in denen die inkriminierten Institutionen vor allem beheimatet waren, sahen sich durch preußische bürokratische Initiativen und vor allem durch eine publizistische Kampagne von 1876, auf die noch zurückzukommen ist, zur Angleichung veranlasst.20 Insbesondere wurde die Promotion in absentia aufgegeben. Gießen, Jena und Freiburg kamen dann auch dem Verlangen nach, eine schriftliche Dissertation zu fordern. In der Heidelberger Juristischen Fakultät hielt sich der Verzicht auf eine Dissertation immerhin bis 1908. Gegen Ende des Jahrhunderts 21 galt durchgängig als Mindeststandard die Einreichung einer Dissertation mit dem Druckzwang, von dem man eine disziplinierende Qualitätskontrolle durch die Fachwelt erwartete, ferner ein mündliches Rigorosum als Kollegialprüfung mit Haupt- und Nebenfächern. Einige Universitäten verlangten schriftliche Prüfungsleistungen in Form von Textexegesen, ursprünglich anstelle einer (Hg.), Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert, Basel 2007, S. 275 – 315. [Die Darlegungen gehen über den Titel hinaus und berühren sich mit den meinigen vielfach.] 19 Arnold Sachse, Friedrich Althoff und sein Werk, Berlin 1928, S. 230 ff. 20 Dazu Max Oberbreyer, Die Reform der Doctorpromotion, Eisenach 1878, S. 5, 76 ff., 115 f.; Karl von Amira, Reform der Doktorpromotion. Referat für den 5. Deutschen Hochschullehrertag, in: Akademische Rundschau, NF 1 (1912/13), S. 564 – 585. [Kontrastive Behandlung von formaler Angleichung und divergierender Praxis.] 21 Hierzu eine Reihe von kommentierten Sammlungen der Promotionsordnungen, die als Ratgeber zahlreiche Auflagen erlebte. Prominent Max Baumgart, Grundsätze und Bedingungen zur Erlangung der Doktorwürde, Berlin, 1. Aufl. 1884, 2/1885, 3/1887, 4/1892, 5/1898. Fakultätsweise: Otto Schröder, Die juristische (/ medizinische / philosophische) Doktorwürde an den Universitäten Deutschlands, Halle 1908 u. weitere Nachkriegsauflagen. [Der Auflagenvergleich ermöglicht einen raschen Überblick über den Wandel der Bestimmungen.] Zu Österreich Alfred von Wretschko, Die akademischen Grade namentlich an den österreichischen Universitäten, Innsbruck 1910.

168

Promotionen und Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert

Dissertation, in Berlin und Bonn jedoch von Anfang an zusätzlich. Die meisten Rigorosa enthielten allgemeine Prüfungselemente in Philosophie und anderen Restbeständen der alten Artes Liberales; in Bonn wurde dem Rigorosum sogar ein Magisterexamen vorgeschaltet, das den alten Artes-Kanon abprüfte. Viele Fakultäten reduzierten das Rigorosum aber bereits auf eine reine Fachprüfung. Auch die feierliche öffentliche Disputation als Schlussakt wurde mancherorts abgeschafft, hielt sich aber als Ritual an vielen Universitäten. Weitergehende Vorschläge zur Entpersonalisierung der Gebühren (reine Aufwandsentschädigung, der Rest an universitäre Einrichtungen) konnten sich nicht durchsetzen. Insbesondere war es nicht möglich, die ‚Promotion in loco‘, also ihre Bindung an den Studienort, zum Standarderfordernis zu erheben. Daher gelang es im 19. Jahrhundert nie, den ‚Promotions-Tourismus‘ auch nur einzudämmen, in welchem das T ­ itelinteresse minderqualifizierter oder an wissenschaftlichen Leistungen desinteressierter Studenten mit dem finanziellen Interesse der Professoren kleiner Fakultäten eine unheilige Allianz einging. Das Kernproblem der universitären Graduierung lag in der traditionellen Unbestimmtheit ihres Funktionsprofils, das sich seit Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge der Verfachlichungs- und Professionalisierungsprozesse nachhaltig verschärfte. Eine gewisse Ambivalenz ihrer Funktionen war in der ‚vorklassischen‘ Universität schon früh mit der Unterscheidung von ‚disputatio pro gradu‘ und ‚disputatio pro loco/pro venia legendi‘ gegeben: also z­ wischen der Titelvergabe als ‚akademischem Ritterschlag‘ zur Status­ sicherung und Verwertung außerhalb der Universität einerseits und der qualifizierenden Prüfung für den inneruniversitären Zweck der Rekrutierung von Universitätslehrern andererseits. Von beiden Seiten her geriet die Promotion unter Druck. Zwar blieb ihre Funktion, als Regelvoraussetzung für eine universitäre Karriere zu dienen, stets erhalten (und dies bis heute), doch setzte schon im 18. Jahrhundert die Tendenz ein, sie als notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung zu werten und durch eine Habilitation als zusätzliche Leistung zu ergänzen. Dieses Verfahren wurde im 19. Jahrhundert, ausgehend von der Berliner Universität, zur Regel. Doch blieb das Profil der Habilitationsleistungen das ganze Jahrhundert hindurch unscharf; als innerfakultäres Kooptationsverfahren von Privatdozenten stellte die Habilitation vielfach noch für lange Zeit ein Anhängsel zur Promotion als der Standardqualifikation dar. Die Entwicklung der Habilitation im Sinne ihrer zunehmenden Profilierung als wissenschaftliche Sonderleistung im Rahmen der sich entfaltenden Forschungsuniversität soll hier nicht verfolgt werden;22 bezogen auf unser Thema ist festzuhalten, dass neben der Habilitation auch die Promotion im inneruniversitären Betrieb ihren Platz als wissenschaftliche Qualifikation 22 Zur Habilitation ausführlich Ernst Schubert, Die Geschichte der Habilitation, in: Henning Kössler (Hg.), 250 Jahre Friedrich-Alexander-Universität Erlangen. Festschrift, Erlangen 1993, S. 115 – 151. Knappe Reflexionen zur aktuellen Situation mit historischen Rückblicken: Sylvia Paletschek,

Institutionelle Kontinuität und funktionaler Wandel der universitären Promotion

169

behielt und dass ihre Funktion als wissenschaftlicher Leistungsnachweis stetig ausgebaut wurde. In der angelsächsischen Welt und im nachrevolutionären Frankreich blieb die Promotion sehr stark auf diese innerwissenschaftliche Funktion konzentriert; die Erarbeitung einer Dissertation als Forschungsleistung und die damit verknüpften Curricula und Prüfungsleistungen galten stets als hochrangiges Verfahren, dem sich nicht eben viele unterzogen. An d ­ iesem Punkt zeigt der deutsche Kulturraum im 19. und weit ins 20. Jahrhunderts hinein eine abweichende Entwicklung. An sich hatte die Promotion mit der Einführung der Staatsexamina für die davon betroffenen Berufsfelder ihre Rolle als berufsqualifizierende Prüfung eingebüßt (es sei denn, die einstellenden Behörden verlangten sie als eine über das Examensniveau hinausgehende wissenschaftliche Sonderleistung, worauf s­ päter eingegangen wird). Jedoch blieb auch in diesen staatlichen und erst recht in den staatlich normierten freien Berufen (bei Ärzten und Rechtsanwälten) die alte Tradition der Promotion ‚pro gradu‘ erhalten, nach außen hin den Status eines Akademikers sichtbar zu machen. Erst recht galt dies für eine breite Palette freier Berufe, die keine berufsbezogenen akademischen Prüfungen kannten. Auf diese Weise wurden in der zweiten Jahrhunderthälfte im Zuge der jüngeren Professionalisierung auch neue Funktionen der Promotion entwickelt: So galt in den (in der Philosophischen Fakultät beheimateten) Naturwissenschaften, besonders prominent in der Chemie, der Dr. phil. als alleiniger Ausweis eines berufsqualifizierenden Studiums, solange keine fachspezifischen Diplome eingeführt worden waren. Analoges galt etwa für die ‚Staatswissenschaften‘ bis zur Einführung des Dr. rer. pol. In der Spätphase der entwickelten Forschungsuniversität wurden jedoch mit den fachbezogenen Diplomen abgrenzbare Professionalisierungsprofile geschaffen, die es erlaubten, zur traditionellen Promotion ein klares Rangverhältnis herzustellen: Letztere galt dann als höher stehende echte Zusatzqualifikation, die das Bestehen eines Diploms voraussetzte. In den älteren, durch Staatsexamina geregelten Feldern eines berufsorientierten Studiums aber standen Examina als Laufbahneingangsprüfungen und traditionelle universitäre Graduierung unverbunden nebeneinander und waren hinsichtlich ihrer Qualitätsmaßstäbe nicht aufeinander bezogen. Hier konnte jene ältere Auffassung der Promotion ‚pro gradu‘ fortleben, die in dem Akt eine den erfolgreichen Universitätsbesuch bestätigende Standes­erhöhung sah. Erst recht gilt dies selbstverständlich für das berufs-unspezifische wissenschaftliche Studium vor allem in den Geisteswissenschaften innerhalb der philosophischen Fakultäten, das für einen späteren Beruf in erster Linie das Profil einer allgemeinen Bildung bereithielt. Insgesamt bewahrte der Doktortitel im deutschen Kulturraum damit seinen Status als akademische Graduierung, erhielt dabei aber eine breiter differenzierte Wertigkeit. Die Verschärfte Risikopassage. Ein historischer Blick auf Nutzen und Nachteil der deutschen Privatdozentur, in: Forschung und Lehre, Jg. 2004, S. 598 – 600.

170

Promotionen und Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert

Promotion war eine Eingangsqualifikation für eine Universitätslaufbahn, fungierte als Zusatzqualifikation über berufsqualifizierende Examina hinaus und diente schließlich der bloßen Kennzeichnung des Akademikerstatus neben der weiteren oder ohne eine weitere Berufsqualifikation. Damit verband sich eine breite Skala ihres wissenschaft­lichen Gehalts im Rahmen einer großen Spannbreite unter den Fächern, den Fakultäten und den Universitätsorten. Wesentliche Voraussetzungen dafür lagen in den Besonderheiten der deutschen Universitätsverfassung und der kulturnationalen Einheit der Institution Universität. Vorbehaltlich der einzelstaatlichen Rechtsaufsicht, die offensichtlich über lange Zeit mit unterschiedlicher, vor allem in den Klein- und Mittelstaaten mit sehr geringer Intensität wahrgenommen wurde, waren die Fakultäten in der Gestaltung ihrer Promotionsordnungen formal autonom; damit verband sich eine höchst reale Autonomie in der praktischen Handhabung des Verfahrens. Zugleich war der kulturnationale Zusammenhalt der deutschen Universitäten in ihrer Gesamtheit nicht zentral organisiert, sondern verwirklichte sich im Kommunikationsprozess der Gelehrtenrepublik, wozu vor allem eine lebhafte Wanderbewegung der Professoren, der Studenten, der Promovenden und auch der karrieresuchenden Habilitanden gehörte. Das Ablegen der Staatsexamina war einzelstaatlich gebunden, die Promotion und Habilitation aber nicht. Darüber hinaus waren Promotion und Habilitation auch durchaus nicht an eine Universität gebunden, an der man studiert bzw. Examina abgelegt hatte. In d ­ iesem Medium bewegten sich die Fakultäten mit ihrer Promotionspraxis. Unbeschadet der dabei herrschenden Niveauunterschiede und gewissermaßen komplementär dazu erfreuten sich die erworbenen Titel jedoch einer homogenen Geltung im deutschen Sprachraum und waren in ­diesem Sinne auch rechtlich geschützt. In der Fluktuation der Studenten lag ein wesentlicher Unterschied etwa zur angelsächsischen Welt. Bezeichnenderweise korrespondierte damit auch der von England und den USA abweichende Verzicht, den universitären Herkunftsort des Titels im Titel selbst zu kennzeichnen. Damit blieben eklatante Niveauunterschiede nach außen verdeckt. Die darin liegende Problematik der Qualitätskontrolle wurde und wird im internen Betrieb der beruflichen Personalauswahl selbstverständlich dadurch behoben, dass die Zeugnisse geprüft werden. Gegenüber der allgemeinen Öffentlichkeit jedoch war dies prima vista nicht erkennbar, und hiervon profitierten beruflich wie allgemein statusmäßig die leichtfüßigeren Titelerwerber. Insgesamt präsentierte sich der deutsche Doktortitel im 19. Jahrhundert als ein ‚Catch all‘-Signet, das unterschiedliche Funktionen und Niveaus äußerlich ununterscheidbar unter einem gemeinsamen akademischen Gütesiegel vereinte. Der mit dem e­ galitären Gütesiegel verbundene Nutzen lag sowohl in der individuellen Zuschreibung von Kompetenz und deren marktmäßiger Verwertbarkeit als auch in der Zugehörigkeit zur akademischen Welt des deutschen Bildungsbürgertums. Das deutsche Akademikertum präsentierte sich im Medium der Promotion also sinnfällig mit einem ‚Zeichen‘

Das Promotionsverhalten in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive

171

als Stand der Gebildeten, wobei der gemeinsame Doktortitel die unterschiedlichen Zwecke und Niveaus seines Erwerbs verdeckte. Der gesellschaftliche Geltungsnutzen des Titels in einem titelträchtigen Umfeld, der sich soziomental verfestigte, und die universitäre Autonomie der Titelvergabe als institutionelle Voraussetzung entsprachen dabei einander. Dieses Gesamtverhältnis blieb während des ganzen langen 19. Jahrhunderts konstant.

3. Das Promotionsverhalten in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive Eine den deutschen Kulturraum und das ‚lange‘ 19. Jahrhundert umfassende Examensstatistik mit einer darin eingebetteten Promotionsstatistik ist ein Desiderat der Forschung. Die immerhin für Preußen und für weitere Einzeluniversitäten, insbesondere Leipzig, seit den 1880er Jahren vorhandenen Daten sind von Peter Lundgreen 23 eingehend ausgewertet worden, wobei sich hier das erkenntnisleitende Interesse auf den Zusammenhang von Promotion und Professionalisierung richtet. Im Ergebnis zeigen sich dabei vertiefte Einsichten in die Funktion der Graduierung als berufsqualifizierendes Symbol, sei es im Sinne einer substanziellen Qualitätssicherung und des damit verbundenen marktmäßigen Geltungsnutzes (so vor allem in den modernen naturwissenschaftlich-technischen Professionen), sei es im Sinne eher der Suggerierung ­dieses Geltungsnutzens (so im Arzt- und im Anwaltsberuf). Im Folgenden soll komplementär dazu versucht werden, das im Symbol des Titels als ‚Catch all‘-Signet liegende Spannungsverhältnis von innerwissenschaftlicher Qualifikation, berufsorientierter wissenschaftlicher Qualifikation und (ideeller wie marktrele­ vanter) Teilhabe am ‚Stand der Gelehrten‘ von der Selbsteinschätzung der Betroffenen her zu problematisieren. Dabei wird unterstellt, dass d ­ ieses Spannungsverhältnis und die damit zusammenhängenden mentalen Dispositionen das ganze Jahrhundert hindurch im Wesentlichen gleichartig gelagert waren. Ausgangspunkt ist der bereits oben angedeutete Befund einer sich durchhaltenden lebhaften Promotionswanderung, in dem die Polarität z­ wischen unterschiedlichen Anspruchsniveaus der Universitäten einerseits und kulturnationaler Homogenität der vergebenen Titel andererseits ihren deutlichsten Niederschlag findet. Hierzu liegt eine Statistik aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vor, die das Problem ­exemplarisch beleuchten kann, auch wenn die darin sichtbar werdenden quantitativen Relationen ­zwischen den Universitäten selbstverständlich im Einzelnen nicht das ganze voran­ gegangene Jahrhundert hindurch gleich waren. Bei einem fakultätsweisen Vergleich der 23 Peter Lundgreen, Promotionen und Professionen, in: Schwinges (Hg.), Examen [Anm. 18], S. 353 – 368.

172

Promotionen und Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert

Promotionsvolumina, insbesondere aber der Quotenanteile der Frequenz und der Promotionen, bezogen auf die Gesamtheit der reichsdeutschen Universitäten, zeigen sich auffällige Differenzen, die das Promotionsverhalten und speziell die Promotionswanderungen sichtbar machen.24 Zur Erforschung des Promotionsverhaltens wurde vom Autor zusätzlich die Memoirenliteratur von Akademikern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts durchgesehen, die in der akademischen Sphäre zahlreiche Schilderungen des Universitätsstudiums und insbesondere der Examina einschließlich der Promotionen enthält.25 Trotz des größeren Umfangs der Sichtung bleibt der Befund notwendigerweise ‚impressionistisch‘, da das erschlossene Textkorpus methodisch kaum abgrenzbar ist, kaleidoskopartig die gesamte Epoche umfasst und keine Repräsentativität verbürgt. Insbesondere ist zu berücksich­ tigen, dass in aller Regel nur Akademiker mit einer erfolgreichen Berufskarriere (in vielen Bereichen vorwiegend Wissenschaftler/Professoren) Memoiren schreiben, die Studium und Examina in einer persönlichen Leistungs- und Aufstiegsperspektive schildern und in ­diesem Rahmen auch ihre Examensleistungen würdigen.26 Aber auch unter solchen Vorzeichen verraten die affirmativen oder kritischen Einschätzungen der Promotion viel über die universitäre Szene und das Selbstbild der Beteiligten im bildungsbürgerlichen Gesamtrahmen. Die ausgewählten Beispiele können dabei aber nur die Funktion einer Illustration erfüllen. In den theologischen Fakultäten beider großen Konfessionen waren Promotionen – hier unter dem Titel des Lizentiats (Doktortitel waren darauf aufruhende, zumeist 24 Waentig, Reform [Anm. 17], Tabellen S. 39 f., dazu Erhebungsgrundlagen und Zurechnungsfragen S. 36 ff. Auf dieser Basis die nachfolgenden Tabellen im vorliegenden Beitrag. Da die Studentenfrequenzen und die Doktoranden unterschiedlichen Jahrgangskohorten angehören und sich daher diachron zueinander verhalten, sind die jeweiligen universitätsbezogenen Quotienten nicht genau miteinander vergleichbar. Aussagekraft haben jedoch signifikante Differenzen ­zwischen beiden Quotienten, zumal wenn sie in den beiden herangezogenen Stichjahren gleichartig sind: Dann können sie als klares Indiz für Promotionswanderungen gelten. 25 Auf der Grundlage von Jens Jessen, Bibliographie der Autobiographien, 4 Bde., Frankfurt 1982 – 1986; ders., Bibliographie der Selbstzeugnisse deutscher Juristen, Frankfurt 1983; sowie ders., Bibliographie der Selbstzeugnisse deutscher Theologen, Frankfurt 1984 (ein großer Teil davon befindet sich in dem etwa 800 Titel umfassenden Bestand des Instituts für Hochschulkunde in der Universitätsbibliothek Würzburg) wurden ca. 500 Titel auf die Behandlung von Studium und Prüfungen hin durchgesehen. Etwa 190 Autobiographien bzw. Biographien mit starkem Anteil an Selbstzeugnissen enthielten brauchbare Angaben zum Prüfungsgeschehen. 26 Hierzu auch die methodischen Überlegungen zur Autobiographie bei Silke Möller, Zwischen Wissenschaft und ‚Burschenherrlichkeit‘. Studentische Sozialisation im Deutschen Kaiserreich, 1871 – 1914, Stuttgart 2001, S. 23 – 29. Für Hinweise und Diskussionen zu meiner Untersuchung danke ich der Autorin sehr. Verwandte Fragestellungen bei: Marita Baumgarten, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte deutscher Geistes- und Naturwissenschaftler, Göttingen 1997.

Das Promotionsverhalten in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive

173

biographisch spätere Ehrentitel) – sehr selten. Studium und Studienabschlüsse bzw. Berufseingangsprüfungen waren ganz auf den Kirchendienst als geschlossenes System orientiert; dem entsprach ein nach außen klar abgegrenztes soziales Gruppenprofil mit einer entsprechenden Hierarchie der Amtstitel. Für die Gläubigen präsentierte sich der Herr Pastor oder Hochwürdige Herr Pfarrer in sich selbst als Respektsperson, die keines weiteren Titels bedurfte. Das Lizentiat war für eine theologische Universitätskarriere unverzichtbar, darüber hinaus konnte es als Zusatzqualifikation für einen Aufstieg in der Kirchenleitung dienlich sein. In jedem Fall war der sich darum bemühende Personenkreis beschränkt, und dem korrespondierte, dass die geforderten Prüfungsleistungen in den Augen der Beteiligten durchweg als streng galten. Das theologische Promotionswesen wurde daher auch niemals in die Diskussionen um eine Promotionsreform einbezogen; es galt unter Qualitätsgesichtspunkten als befriedigend geregelt. Die theologischen Promotionen sollen auch in unserer weiteren Untersuchung außer Acht bleiben. Ein besonders differenziertes Bild im statistischen wie im autobiographischen Befund bieten dagegen die Juristen , was in der breiten Streuung der über das Jurastudium erreichbaren Positionen bis hin zu Spitzenpositionen begründet sein dürfte. Mit Blick auf die seit dem letzten Jahrhundertdrittel vorhandene Promotionsstatistik kann als Faustregel gelten, dass 15 – 25 Prozent der examinierten Jurastudenten auch die Doktorwürde erwarben.27 Ihre Verteilung auf die Promotionsorte zeigt jedoch enorme Diskrepanzen. Gemessen an ihrer Studentenzahl, weisen die juristischen Fakultäten Berlins, Bonns und Münchens äußerst niedrige Promotionszahlen auf, was mit der bekannten Tradition eines hohen formalen und informellen Anforderungsprofils dieser Fakultäten korreliert. (Alle diachronen Zahlenangaben wie alle Hinweise in der Literatur zeigen für das lange 19. Jahrhundert, dass dies durchgängig so war.) Komplementär dazu weisen die große Universität Leipzig, die mittlere Universität Heidelberg und die kleinen Universitäten Erlangen, Greifswald, Jena und Rostock relativ hohe Promotionsquoten auf, wobei die Diskrepanzen zur eigenen Frequenz im Falle Erlangens, aber auch Rostocks besonders extrem waren. In absoluten Zahlen vollzogen Leipzig und Heidelberg die weitaus meisten juristischen Promotionen, dicht gefolgt von Erlangen. Insbesondere von den stark frequentierten Ausbildungsstätten Berlin und München muss daher in der Jurisprudenz zu Anfang des 20. Jahrhunderts – differenziert nach Universitäten – eine ständige starke Abwanderung auf der Suche nach einem günstigeren Promotionsort mit geringeren Anforderungen stattgefunden haben.

27 Lundgreen, Promotionen [Anm. 23], S. 355 – 359, Tabelle S. 359.

174

Promotionen und Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert

Jurisprudenz 1906 – 07 Universität

Studenten

Jurisprudenz 1909 – 10

Promotionen

Universität

Studenten

Promotionen

Zahl

%

Zahl

%

Zahl

%

Zahl

%

Berlin

2.234

18,37

7

0,72

Berlin

2.128

18,71

4

0,33

Bonn

855

7,03

10

1,03

Bonn

864

7,60

7

0,59

Breslau

Breslau

541

4,45

56

5,76

547

4,81

95

8,00

Erlangen

357

2,94

89

9,15 Erlangen

239

2,12

125

10,51

Freiburg

586

4,82

29

2,98

Freiburg

559

4,92

26

2,19

Gießen

171

1,40

11

1,13

Gießen

159

1,40

14

1,18

Göttingen

454

3,73

22

2,26

Göttingen

424

3,73

38

3,19

Greifswald

203

1,67

55

5,65

Greifswald

179

1,57

61

5,13

Halle

472

3,88

9

0,92

Halle

473

4,16

16

1,34

Heidelberg

470

3,86

153

15,72

Heidelberg

497

4,37

222

18,67

Jena

274

2,25

49

5,04

Jena

313

2,75

55

4,63

Kiel

339

2,79

1

0,10

Kiel

382

3,36





Königsberg

254

2,09



302

2,65

3

0,25

1.087

8,93

287

29,50

Leipzig

846

7,44

292

24,56

374

3,07

22

2,26

Marburg

432

3,80

24

2,02

1.803 14,82

1

0,10

München

1.433

12,60

8

0,68

Leipzig Marburg München

– Königsberg

Münster

462

3,80

10

1,03

Münster

428

3,76

26

2,18

Rostock

79

0,65

83

8,53

Rostock

73

0,64

70

5,89

342

2,81

13

1,34

Straßburg

413

3,63

27

2,27

Straßburg Tübingen

408

3,35

22

2,26 Tübingen

380

3,34

10

0,84

Würzburg

400

3,29

44

4,52 Würzburg

300

2,64

66

5,55

12.165

100

973

11.371

100

1.189

100

Summe

100

Summe

Zusammenstellung nach Heinrich Waentig, Zur Reform der deutschen Universitäten, Berlin 1911, S. 39 f. Die Zahlen für Würzburg wurden augenscheinlich geschätzt.

Dieses Verhalten dürfte mit der staatlichen Organisation der juristischen Berufsqualifikation aufs engste zusammenhängen, die nicht nur für den Justiz- und Verwaltungsdienst galten, sondern in die auch Advokatur und Notariat einbezogen waren. I­ nnerhalb d ­ ieses Rahmens war die Promotion damit (mit Ausnahme von Österreich, wo sie für die Advokatur vorgeschrieben blieb) als Qualifikationsleistung funktionslos geworden. Verwaltungs- und Justizkarrieren hingen zweifellos in erster Linie von dienstlicher Bewährung und dienstlicher Beurteilung und nicht von der Führung eines Doktortitels ab. Dennoch trachteten auch zahlreiche Verwaltungsbeamte und Angehörige des Auswärtigen Dienstes nach dem Titel. Wo die Promotion als echte Zusatzqualifikation (bei der Vergabe von administrativen und richterlichen Spitzenpositionen) geschätzt war, kam es jedoch darauf

Das Promotionsverhalten in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive

175

an, wo der Titel erworben war. Daneben gab es einen Markt, auf dem der schiere Geltungsnutzen des Titels eine erhebliche Rolle spielte, und das war der Bereich der ähnlich den Ärzten privatwirtschaftlich arbeitenden Anwaltspraxen; s­ päter traten die Syndizi der aufkommenden Verbände, der Rechtsabteilungen von Unternehmen u. Ä. hinzu. Daraus erwuchs das Bestreben vor allem der künftigen Rechtsanwälte, den Erwerb des Doktortitels in den Ablauf der staatlichen Prüfungen, zumeist ­zwischen dem ersten und zweiten juristischen Examen, einzubauen. Dem wohnte die Tendenz zur Leicht-Promotion wie in der Medizin inne, was auch in der Gewohnheit zum Ausdruck kam, Teile des schriftlichen Referendarexamens als Dissertation einzureichen. Freilich waren die Ansprüche der juristischen Fakultäten, im Unterschied zu den medizinischen Fakultäten, im Niveau weit gefächert mit der Folge, dass das juristische Promotionsgeschäft mit einer starken innerdeutschen Wanderbewegung der Kandidaten verbunden war. Die enorme Breite der Niveaus und Einschätzungen der Promotion tritt in den 35 näher untersuchten Autobiographien von Juristen sehr plastisch hervor. Ein eindrucksvolles Zeugnis der hohen Wertschätzung der Bonner Promotion und des Stolzes, sich hier bewährt zu haben, bieten die Denkwürdigkeiten des bekannten Staatsrechtlers Johann Caspar Bluntschli,28 wenn er nach Präsentation seines Erstlingswerks (einer Preisschrift aus dem römischen Recht) zu seiner Promotion 1829 ausführte: „Es hatten bisher nur wenige Juristen in Bonn promoviert. Die Prüfung war strenge. Sie bestand in schriftlichen Beantwortungen gestellter Fragen und in einem mündlichen Examen vor der versammelten Facultät, Alles in lateinischer Sprache. […] Es ging mir gut. Ich hatte die Prüfung ‚egregia cum laude‘ bestanden.“ Dabei vergaß Bluntschli nicht, Richtungskämpfe unter den Professoren zu beschreiben, die sich im Gang der Prüfung erschwerend niederschlugen. Weiter heißt es: „Die feierliche Promotion in der Aula der Universität, nach vorheriger öffentlicher Disputation ebenfalls in lateinischer Sprache, fand am 29. August 1829 statt. […] Die Promotion geschah nach Bonner Sitte in feierlicher Form. Dem Promovenden wurde der rothe Mantel mit Goldstreifen umgehängt, das rothe Barret aufgesetzt, der goldene Ring an den Finger gesteckt, das Buch übergeben und der Zutritt auf das höhere Katheder eröffnet. So war ich nun in die gelehrte Ritterschaft eingetreten und hatte einen Titel für das übrige Leben gewonnen, den kein Volk und kein Fürst weder zu geben noch zu nehmen vermochte.“ Mit aller Klarheit wurde hier auch Ende der 1870er Jahre noch das traditionelle Bild einer korporativ autonomen akademischen Standeserhöhung präsentiert, die dabei zugleich mit einem prononcierten Leistungsdenken (und der Perspektive einer Universitätskarriere) verknüpft war. Die Auffassungen Bluntschlis zur Heidelberger Promotionsordnung werden uns noch beschäftigen. Ganz ähnlich die Beschreibung des hohen Anspruchs und der „besonderen Feierlichkeit“ der Bonner Promotion (1834) durch den Verwaltungsjuristen und späteren Breslauer Professor Felix Eberty (geschrieben ­zwischen 1868 und 1878): „Ein 28 Johann Caspar Bluntschli [1808 – 1881], Denkwürdiges aus meinem Leben, 3 Bde., Nördlingen 1884, das Folgende Bd. 1, S. 70, 84 ff.

176

Promotionen und Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert

Doktor beider Rechte galt in jenen Jahren noch für etwas ganz Reputables; denn der schamlose Handel, der jetzt mit ­diesem Titel getrieben wird, existierte damals noch nicht […].“ 29 (Dieses Bild des Vormärz wird noch zu korrigieren sein.) Für die preußische Spitzenuniversität liegt ein eingehendes Zeugnis vom Ende der hier behandelten Periode vor: Eine ausführliche Schilderung seiner Berliner Promotion von 1904 (im Anschluss an die mit Auszeichnung bestandene erste Staatsprüfung und nach der Referendarzeit, jedoch vor dem Assessorexamen) bietet Hans Luther in seinen bekannten Erinnerungen „Politiker ohne Partei“:30 „Es war mir bekannt, dass dabei in Berlin recht hohe Anforderungen gestellt wurden. Außer der Dissertation hatten die Doktoranden in Berlin drei ‚Exegesen‘ vorzulegen, d. h. schriftliche Auslegungen je einer von der Fakultät aufgegebenen Rechtsstelle aus dem deutschen, dem römischen und dem kanonischen (katholisch-kirchlichen) Recht. Die deutsche Exegese wurde mir im Hinblick auf meine Dissertation erlassen.“ In seiner römisch-rechtlichen Exegese brach Luther ziemlich ein, und auch die mehrgliedrigen und schwierigen mündlichen Prüfungen verliefen nicht durchweg glatt, so dass er zu seinem Leidwesen trotz ausgezeichneter Dissertation nur „magna cum laude“ erhielt. „Dem Rigorosum folgte noch die Promotion in der Aula der Universität. Berlin hatte den alten feierlichen Stil beibehalten: ein Teil des Promotionsaktes war der Verteidigung von Thesen, die der Kandidat selbst aufstellte, gegen Opponenten gewidmet.“ Im Falle Luthers führte diese Disputation, die sonst durchgängig als einstudierte Farce geschildert wird, zu einer ernsthaften inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem anwesenden Völkerrechtler. An einer Befolgung des mehrseitigen dringenden Rates, die akademische Laufbahn einzuschlagen, „dachte“ Luther freilich „in keiner Weise“. Ähnlich hatte der spätere Ministerialbeamte Schmidt-Ott 31 nach intensivem Studium, „vorzüglichem“ Referendarexamen und „vortrefflicher“ Dissertation schon für 1882 das Ergebnis seiner Berliner Promotion resümiert: „Im mündlichen Doktorexamen, das ich ein halbes Jahr s­ päter vor der Juristenfakultät in Berlin ablegte, ging es mir auch minder gut. Doch wurde mir auch hier das Prädikat ‚Magna cum laude‘ nicht versagt.“ Wie sehr der Hochseilakt einer Berliner juristischen Promotion noch zusätzlich durch fakultätsinterne Kontroversen verkompliziert werden konnten, zeigt die Schilderung G ­ ustav Radbruchs 32 als Schüler des Strafrechtlers Franz von Liszt. „Ich hatte mich anfangs gescheut, mich in Berlin um die Promotion zu bewerben. Die Anforderungen waren dort hoch, die Zahl der Doktoranden ganz gering, die Berliner Promotion fast eine Anwartschaft auf die akademische Laufbahn. Ich hatte mich deshalb zunächst an Professor Finger in Würzburg gewandt, auf Liszts Empfehlung, fand aber an dem von ihm vorgeschlagenen 29 Felix Eberty [1812 – 1884], Jugenderinnerungen eines alten Berliners, hg. von J. v. Bülow, Berlin 1925, hier S. 323, 337 f. 30 Hans Luther [1879 – 1962], Politiker ohne Partei. Erinnerungen, Stuttgart 1960, S. 33 f. 31 Friedrich Schmidt-Ott [1860 – 1956], Erlebtes und Erstrebtes, Wiesbaden 1952, S. 11 ff. 32 Gustav Radbruch [1878 – 1949], Der innere Weg. Aufriss meines Lebens, Stuttgart 1951, S. 67 – 81. Promotion, Referendariat und Habilitation in den Jahren 1901 – 1903.

Das Promotionsverhalten in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive

177

Thema keinen Geschmack, fand es schließlich auch nicht würdig, den Doktor bei einer Fakultät zu suchen, zu der ich bisher keinerlei Beziehungen hatte. So entschloss ich mich kühnlich zu dem Wagnis einer Promotion in Berlin.“ Die Ausarbeitung des von Liszt gestellten Themas fand zwar dessen Beifall, nicht aber den des Referenten („ungenügend“), und führte in der Folge zu der Fakultätsvereinbarung, die Referate nur noch dem Doktorvater und nicht mehr grundsätzlich einem anderen Kollegen zu übertragen, weil „es nicht gut angängig sei, sich gegenseitig seine Doktoranden abzuschlachten“. Radbruchs Schilderung der schwierigen und teils skurrilen Prüfungen („Hübler fragte mich zwar nicht, wie prophezeit worden war, nach den Strümpfen der Kardinäle, wohl aber nach den Arten der Tonsur“) und die Beschreibung des feierlichen Promotionsaktes („Satz für Satz einstudierte Disputation“) mit lateinischem Doktoreid entsprach dem geläufigen Berliner Bild. Für seine Habilitation zog der „magna cum laude“ Promovierte einen Wechsel nach Heidelberg vor. – Nur wenige Jahre s­ päter wurde der sehr eigenwillige Kurt Hiller,33 ebenfalls Lisztschüler, der eine rechtsphilosophische Arbeit über „Das Recht über sich selbst“ (Selbstmord- und Abtreibungsproblematik) verfasst hatte, von Berlin, wo es ihm „zu schwer“ war, mit seinem Promotionsvorhaben nach Heidelberg zu Radbruch verschoben. Er schildert sein dortiges Rigorosum (1907), das er – wohl auch aufgrund seines politischen Profils – nur mit „rite“ bestand, mit beißender Kritik an der Willkür der Prüfer und der Skurrilität ihrer abseitigen Fragen. „Der gesamte Vorgang war Lotterie. Das sind mündliche Examina in der Regel.“ Die Heidelberger juristische Promotion galt im Übrigen als leicht. Die Fakultät war die letzte im Reich, die 1908 die Möglichkeit der Promotion ohne Dissertation abschaffte. Niemand geringerer als der ihr seit 1861 angehörende Bluntschli hatte die Heidelberger Promotionsordnung 1876 gegenüber Theodor Mommsen mit jener ‚vorklassischen‘ Sinngebung der Graduierung verteidigt, die auch in der Schilderung seiner eigenen Bonner Promotion durchscheint.34 In diesen Auslassungen wurde jedoch verschwiegen, dass das Heidelberger Verfahren eines reinen Rigorosums auch in sich offenkundig unzulänglich war. Ähnlich wie Kurt Hiller sprach schon der nachmalige Rechtsanwalt Max Hachenburg 35 in der Schilderung seiner Promotion von 1882 von der Funktionslosigkeit der schriftlichen Exegesen („Irgendwelche besondere Bedeutung hatten diese kleinen schriftlichen Arbeiten nicht.“) und des „Verhörs im Hause des Dekans“ mit den abseitigen Prüfungsfragen eitler Professoren, die vornehmlich ihre Steckenpferde ritten. Als Zufallsergebnis bestand Hachenburg „mit dem zweiten Grade“, also magna: „Ich hoffe, dass mir dies heute keinen Abtrag mehr bringt.“ Eine besonders bemerkenswerte Schilderung seines kavaliersmäßigen Jurastudiums mit (eher mühsamem) Referendarexamen in München und anschließender Promotion (1895) in dem ihm „bis dahin nur sehr oberflächlich“ bekannten Heidelberg lieferte der bekannte 33 Kurt Hiller [1885 – 1972], Leben gegen die Zeit, Reinbek 1969, S. 66 ff. 34 Vgl. oben [Text zu Anm. 28], unten [Text zu Anm. 139]. 35 Max Hachenburg [1860 – 1951], Lebenserinnerungen eines Rechtsanwalts, Düsseldorf 1927, S. 46 ff.

178

Promotionen und Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert

Diplomat und Staatssekretär Richard von Kühlmann.36 Nach den schriftlichen Exegesen verließ er sich beim Rigorosum mangels Vorbereitungszeit „auf mein gutes Glück. […] Den freien Tag verwendete ich dazu, um nach dem benachbarten Schwetzingen zu fahren und mich mit dessen reizvollen Bauten vertraut zu machen.“ Offenkundig trug ihm sein sozialer Status das besondere Wohlwollen der Prüfer ein: „Die Dozenten – ich kann ihnen diese nachträgliche Anerkennung nicht versagen – walteten ihres Amtes mit vorbildlichem Geschick und Takt [!]. Vorsichtig tasteten sie das Gelände mit ihren Fragen ab. Hatten sie den Eindruck, auf dürre Heide zu stoßen, wichen sie geschickt aus. Schien aber der Doktorand in einer Sparte gut beschlagen, verweilten sie möglichst lange beim Gegenstand und gaben dem Kandidaten Gelegenheit zu glänzen. Das Ergebnis dieser Taktik war, dass ein unbefangener Zuhörer von dem Wissen der Examinanden eine äußerst günstige Vorstellung hätte gewinnen müssen. Je nach Ablauf einer Stunde wurde eine Pause von zehn Minuten eingeschoben. Man machte allgemeine Konversation. Zur Stärkung wurde in Römern Wein herumgereicht. Nach etwa drei Stunden erklärte der Vorsitzende die Diskussion für geschlossen. Die Professoren zogen sich zurück, und zu meinem nicht geringen Erstaunen wurde nach einer etwa viertelstündigen Beratung verkündet, ich hätte den Doktortitel insigni cum laude erworben.“ Die an dieser Schilderung sichtbar werdende völlige Umkehrung von examinatorischer Rangordnung und Bringschuld zeigt eine weitestgehende Entkoppelung von akademischem Standes- und Leistungsgedanken, der für das bildungsbürgerliche Selbstverständnis an sich konstitutiv war. Bemerkenswert bleibt indes, dass auch ein Vertreter der wilhelminischen nobilitierten Führungsschicht auf die Insignien akademischer Zugehörigkeit nicht verzichten mochte. Auf derselben Linie liegt der Fall des späteren Diplomaten Herbert von Dirksen,37 der – nach exzessivem, alle Negativ­urteile bestätigendem Corpsleben, das Dirksen im späten Rückblick immerhin selbst mit dem Wort „Banausentum“ in Verbindung brachte – den Abschluss seines Jurastudiums wie folgt beschrieb: „Nach Berlin kehrte ich zur Vorbereitung auf das Referendar-­ Examen zurück. Das Einpauken zum Examen selbst, durch erfahrene Repetitoren ausgeübt, bereitete mir keine Schwierigkeit. Ohne den Ehrgeiz auf ein Prädikat stellte ich mich nur ­darauf ein, die Prüfung schnell und sicher zu bestehen. Der juristischen Wissenschaft als solcher brachte ich nicht das geringste Interesse entgegen. Im Sommer 1903 bestand ich im Kammer­gericht mein Examen und bald darauf auch die Prüfung zum Doktor in Rostock.“ Ähnlich, jedoch vor dem Hintergrund eines ganz anderen Niveaus der Interessen, die Memoiren des Hamburger Patriziersohnes und späteren Bürgermeisters Carl August Schröder,38 der sich 1875 bis 1878 in Heidelberg und vor allem Leipzig einem breiten Bildungsstudium hingab, 1878 aber nach Göttingen eilte, um vor dem neuen, das Referendariat 36 Richard von Kühlmann [1873 – 1948], Erinnerungen, Heidelberg 1948, hier S. 83 ff. 37 Herbert von Dirksen [1882 – 1955], Moskau – Tokio – London, Stuttgart [1949], S. 11 ff. 38 Carl August Schröder [1855 – 1945], Aus Hamburgs Blütezeit. Lebenserinnerungen, Hamburg 1921, S. 43 – 51.

Das Promotionsverhalten in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive

179

auch in Hamburg einführenden Gerichtsverfassungsgesetz rasch zu promovieren und sich danach in Lübeck dem Eingangsexamen des Hanseatischen Oberappellationsgerichts zu stellen. Die Promotion hatte das Ergebnis „summa cum laude“. Derartige Erwähnungen oder gar Schilderungen juristischer Leichtpromotionen zum bloßen Titelerwerb sind in der Memoirenliteratur naturgemäß seltener zu finden und lassen sich vor allem im Umfeld wissenschaftsferner Karrieren nachweisen. So charakterisiert Ludwig Bamberger 39 sein Gießener juristisches Examen von 1845: „Diese damals Fakultäts-Examen genannte Prüfung entsprach dem heutigen Referendar-Examen. Wer seinen Doktor machen wollte, hatte nur die Kosten für das Diplom zuzuzahlen.“ Eduard Hallier 40 reichte in Göttingen eine umgearbeitete Examensarbeit ein; „das eigentliche Examen fand originellerweise in einem Zimmer statt, in dem ein mit einer Serviette zugedeckter Tisch stand. Der Pedell erklärte mir, ich würde am Essen teilnehmen dürfen, wenn ich bestünde; sonst äßen die Herren Professoren allein. Als der von mir gefürchtete Kirchenrechtler Dr. Dove mich fragte: ‚Wer ist das Oberhaupt der katholischen ­Kirche?‘, war ich beruhigt. Ich wusste, dass ich am Essen teilnehmen würde. Das Examen wurde denn auch ein voller Erfolg.“ Felix Busch 41 absolvierte 1893 in Berlin „mit Unlust“ beide juristischen Staatsexamina jeweils „nur ‚rite‘“ und schob dazwischen die juristische Promotion in Heidelberg ein, wobei er den Heidel­berger Aufenthalt vorrangig dem Corps-Leben widmete. Leo Lippmann 42 bestand am 3. April 1903 in Kiel das Referendarexamen mit ‚ausreichend‘, reichte die schriftliche Arbeit unverändert in Jena ein und machte dort schon am 28. April das Doktorexamen „magna cum laude“. Paul Maria Baumgarten,43 der die Juristerei als eine „Geheimwissenschaft“ empfand, fiel 1884 in Colmar durch das Referendarexamen, reichte die Arbeit in Göttingen ein und promovierte dort, nicht ohne die erheblichen Gebühren zu erwähnen, ‚laudabile‘ zum Dr. jur., bestand dann, die Promotion wohlweislich verschweigend, in Colmar die Staatsprüfung 1885 im zweiten Anlauf. Dies hielt ihn aber nicht davon ab, im selben Atemzug die besondere Feierlichkeit der Göttinger lateinischen Promotionsriten zu preisen und die spätere Formlosigkeit der Bescheinigungsverteilung durch den Universitätspedell (ca. 1925) zu geißeln. Mit besonderer Ironie schilderte der bereits in Konstantinopel als Konsularbeamte etablierte Walter Zechlin 44 die „Erwerbung des juristischen Doktorgrades“ in 39 Ludwig Bamberger [1823 – 1899]. Erinnerungen 1823 – 1899, hg. von Paul Nathan, Berlin 1899, S. 16. 40 Eduard Hallier [1886 – 1959], Erlebtes und Geschautes, Hamburg 1955, S. 38 f. 41 Felix Busch [1871 – 1938], Aus dem Leben eines königlich preußischen Landrates, hg. von Julius H. Schöps, Berlin 1991, S. 30 ff. Die Erinnerungen behandeln vorrangig eingehend und kritisch das Verbindungsleben. 42 Leo Lippmann [1881 – 1943, Selbstmord], Mein Leben und meine amtliche Tätigkeit. Erinnerungen und ein Beitrag zur Finanzgeschichte Hamburgs, Hamburg 1964, S. 60. 43 Paul Maria Baumgarten [1860 – 1948], Römische und andere Erinnerungen, Düsseldorf 1927, hier S. 39 – 46. Baumgarten studierte anschließend Geschichte und katholische Theologie, wurde ­Priester und widmete ein Forscherleben der Papst- und Kirchengeschichte. 44 Walter Zechlin [1879 – 1962], Fröhliche Lebensfahrt. Diplomatische und undiplomatische Erinne­ rungen, Stuttgart 1936, S. 99 ff.

180

Promotionen und Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert

Göttingen. „Der Doktortitel ist, wie der der Exzellenz, die einzige internationale, überall bekannte und geschätzte Anrede. Mir wäre er besonders zustattengekommen, falls ich den ­Gedanken, […] aus dem Reichsdienst zu scheiden und in Konstantinopel […] ein Rechtsanwaltsbüro aufzumachen, etwa verwirklichen sollte.“ Nach Abfassung einer leichten Dissertation, dessen Thema von einem verständnisvollen Göttinger Staatsrechtler gestellt worden war, traf er im Rigorosum auf ein Prüfungskollegium, „das mir bei aller Strenge und deutschen Gewissenhaftigkeit doch wohlwollend gegenüberstand“. Dieser Hinweis war aber eher eine ‚captatio benevolentiae‘, denn: „Ich nahm an, dass sie mich Dinge fragen würden, in denen sie meine Unkenntnis feststellen konnten, hatte mich also gerade auf die mich weniger interessierenden Dinge des Privatrechts und des unvermeidlichen römischen Rechtes vorbereitet. Sie meinten es aber gut mit mir und prüften mich, den schon Orden tragenden Beamten des Auswärtigen Dienstes, auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts und des Völkerrechts, in denen sie bei mir eingehendere Kenntnisse voraussetzen durften. […] Examen machen nur Spaß, wenn man sie bestanden hat, was ja eigentlich auch ihr Zweck ist, wenn man auch manchmal wünschte, dass die alte chinesische Sitte, zu Prüfungen einen Vertreter ­schicken zu dürfen, zur Entlastung unserer Jugend weitere Verbreitung fände.“ Eine Schilderung der näheren Umstände einer Erlanger Leichtpromotion zu entdecken, ist nur in einem Fall gelungen, der allerdings an Derbheit alle bisher ­dargebotenen Schilderungen übertrifft: Es handelt sich um die aus dem Nachlass edierten Erinnerungen des preußischen Ministerialrats Herbert du Mesnil,45 der nach durchzechtem, dem Verbindungsleben und Schuldenmachen gewidmetem Studium 1896 im Berliner Kammergericht mit „dürftigen Antworten“ das Referendarexamen bestand, wobei ihm ­„erhebliche Lücken“ im „positiven Wissen“, jedoch ein „ausreichendes juristisches Denken“ bescheinigt wurde in der Erwartung, „dass ich in dieser [der Praxis des Referendariats] die mangelnden Kenntnisse mir nachträglich noch aneignen werde“. Für eine Promotion wählte er Erlangen; seine eingereichte Dissertation, „das Produkt meines Lazarettaufenthaltes“ (Wehrdienst), wurde mit „cum laude“ bewertet. Für die mündliche Prüfung (Februar 1898) hatte du Mesnil „besondere Vorbereitungen […] nicht für notwendig erachtet, obgleich mir bewusst war, dass die Lücken in meinem positiven Wissen, deren Ausfüllung mir Herr Präsident Coing seinerzeit so dringend anempfohlen hatte, in unverminderter Größe noch bestanden, wenn sie nicht gar – wenigstens was das sogenannte Examenswissen anlangt – noch eine Erweiterung erfahren hatten. Erlangen war damals eine berüchtigte Doktorfabrik. Aus allen deutschen Gauen strebten die Doktoranden dorthin, und d ­ ieses Geschäft nahm schließlich einen derartigen Umfang an, dass sogar – glücklicherweise nach meiner Promotion – im Bayerischen Landtage deshalb eine Interpellation erfolgte. Da die Prüfungsgebühren von je 300 Mark regelmäßig unter die an der 45 Jürgen Kloosterhuis (Hg.), Preußisch Dienen und Genießen. Die Lebenszeiterzählung des Ministerialrates Dr. Herbert du Mesnil (1875 – 1947), Köln 1998, S. 182 f., 196 f.

Das Promotionsverhalten in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive

181

Prüfung beteiligten Professoren aufgeteilt wurden, hatten diese, zumal die Prüfungen am laufenden Bande vor sich gingen, hieraus einen recht achtbaren Nebenerwerb. Wert wurde nur auf die Dissertation gelegt, da diese ja gedruckt wurde und damit sozusagen an die juristische Öffentlichkeit gelangte.“ Es waren gerade Faschingstage, die der Kandidat „recht ausgiebig genoss. […] So ist es nicht verwunderlich, dass mein Zustand am Tage der münd­lichen Prüfung dem Aschermittwoch durchaus entsprach und dass meine Antworten auf die mir gestellten Fragen noch kümmerlicher ausfielen als ich selbst es erwartet hatte. Die Herren Professoren, die von einem ‚Kammergerichtsreferendar‘ sich augenscheinlich eines anderen versehen hätten, gaben ihrer Enttäuschung denn auch unverhohlen Ausdruck, promovierten mich aber dennoch, wenn auch nur ‚rite‘, zum Doktor beider Rechte. Als ich auf dem Postamte das Telegramm an meinen Vater über das Bestehen des Examens aufgab, nahm es der Beamte mit einem fast beleidigenden Lächeln entgegen. Augenscheinlich trug diese Meldung in Erlangen das Kriterium ‚gewohnheitsmäßigen Verbrechertums‘ allzu deutlich an der Stirn.“ Die dargebotenen Beispiele umfassen einen derart weit gespannten Bogen an Einschätzungen und Wertungen des Promotionsgeschehens, dass es kaum möglich erscheint, diese Differenzen unter kollektivbiographischen Gesichtspunkten zu einem Gesamtbild zu synthetisieren. Nicht einmal die allen gemeinsame Examenssituation wird als ‚rite de passage‘ zu einem Ferment mentaler Gruppen- oder Standesbildung. Einziger Vereinigungspunkt bleibt der allen Memoirenschreibern erteilte juristische Doktortitel als Symbol der Zugehörigkeit zum Stand der Akademiker, der sich damit in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive in hohem Maße als Hohlkörper erweist. Zugleich wird verständlich, warum die sichtbar gewordenen Diskrepanzen aus der Standesperspektive der Wissenschaft zum Ärgernis wurden und zu den weiter unten zu behandelnden Reformdiskussionen führten. Weit stärker als bei den Juristen haftete dem medizinischen Doktortitel traditionell das Bild der Leichtpromotion an. Der mit 90 Prozent hohe durchschnittliche Anteil medizinischer Promotionen an den medizinischen Staatsexamen 46 und die zugehörigen relativ niedrigen Leistungsanforderungen der medizinischen Fakultäten hängen mit den Besonderheiten der gesellschaftlichen Geltung ­dieses Titels zusammen. Sie galten jedoch (im Unterschied zu den Juristen) für alle Fakultäten gleichermaßen. Die Wanderbewegung der Doktoranden ist daher, wie sich an der Statistik zeigt, deutlich geringer ausgeprägt. Sie fehlte aber auch hier nicht, wie insbesondere an den Quotensalden z­ wischen Berlin und Leipzig ersichtlich ist. Da ferner die Promotion, worauf noch eingegangen wird, zum Zeitpunkt dieser Statistik längst im Gesamtablauf der Prüfungen mit dem Staatsexamen verbunden worden war, dürfte die Promotionswanderung statistisch in ein Examenswandern insgesamt eingehen. Die Suche nach dem 46 Lundgreen, Promotionen [Anm. 23], Tabelle S. 359.

182

Promotionen und Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert

leichteren Staatsexamen dürfte demnach das entscheidende Motiv für die Wanderung gewesen sein. Dazu gibt die Autobiographie des bekannten Sozialmediziners Alfred Grotjahn (zu Berlin um 1894) einen Hinweis: „[Das Staatsexamen] galt damals in Berlin für besonders schwer. Wer es irgend konnte, machte es daher auf einer anderen Universität. Ich konnte mich jedoch von Berlin nicht trennen und beschloss, zu bleiben.“ 47 Die charakteristische Ausnehmung der eigenen Person verweist auf das besondere Profil der untersuchten Memoiren insgesamt. Medizin 1906 – 07 Universität

Studenten

Medizin 1909 – 10

Promotionen

Zahl

%

Zahl

%

Berlin

986

Bonn

241

13,98

69

8,30

3,42

50

6,02

Universität

Studenten

Promotionen

Zahl

%

Zahl

%

Berlin

1.477

13,19

108

10,30

Bonn

433

3,87

43

4,10

Breslau

541

3,59

34

4,09

Breslau

454

4,14

38

3,62

Erlangen

191

2,71

24

2,88

Erlangen

277

2,47

42

4,01

Freiburg

508

7,20

62

7,46

Freiburg

791

7,06

65

6,20

Gießen

171

2,42

18

2,17 Gießen

225

2,01

48

4,58

Göttingen

182

2,58

19

2,29

Göttingen

273

2,44

26

2,48

Greifswald

181

2,57

24

2,88

Greifswald

238

2,12

34

3,24

Halle

188

2,66

31

3,73

Halle

320

2,86

27

2,58

Heidelberg

345

4,89

24

2,88

Heidelberg

579

5,17

60

5,72

Jena

255

3,62

21

2,53 Jena

335

2,99

39

3,72

Kiel

247

3,50

46

5,54

Kiel

472

4,21

73

6,96

Königsberg

214

3,05

27

3,25 Königsberg

349

3,12

28

2,67

739

6,60

122

11,64

367

3,28

20

1,91

2.083

18,60

140

13,36

Leipzig

537

7,61

116

Marburg

227

3,22

22

München

1.257

17,83

109

18,96 13,12

Münster







Rostock

105

1,49

47

5,66

Straßburg

237

3,36

20

Tübingen

210

2,98

Würzburg

516

7,32

7.051

100

831

Summe

Leipzig

2,65 Marburg München

– Münster

217

1,94





243

2,17

39

3,47

2,41 Straßburg

365

3,26

36

3,72

27

3,25 Tübingen

340

3,04

23

2,19

41

4,93 Würzburg

612

5,46

37

3,53

11.199

100

1048

100

100

Rostock

Summe

Zusammenstellung nach Heinrich Waentig, Zur Reform der deutschen Universitäten, Berlin 1911, S. 39 f.

47 Alfred Grotjahn [1869 – 1931], Erlebtes und Erstrebtes. Erinnerungen eines sozialistischen Arztes, Berlin 1932, S. 83.

Das Promotionsverhalten in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive

183

Im Gesundheitswesen galt die medizinische Promotion im Vergleich zu den anderen Fakultäten in vielen deutschen Staaten länger als einziger berufsqualifizierender Abschluss. Erst im Rahmen der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes und ihrer Ausdehnung auf das neue Reich wurde das Gesundheitswesen reichseinheitlich verstaatlicht; die Approbationsordnung reihte den Arztberuf damit in die verwaltungsrechtlich geregelten staatsnahen Berufsfelder ein. In Österreich erhielt sich die alte Qualifikationsfunktion wesentlich länger. Dies bedeutete aber, dass sich im Publikum die Attribuierung des Titels als Nachweis universitärer Ausbildung, namentlich in Abgrenzung zu nichtwissenschaftlichen Heilkundigen aller Art, so sehr verfestigt hatte, dass ‚Doktor‘ und ‚Arzt‘ zu Synonymen wurden. Für die erfolgreiche Ausübung des Arztberufes war der Titel mithin unverzichtbar, dies umso mehr, als in dieser privatwirtschaftlichen Erwerbssphäre kein Amtstitel zur Verfügung stand. (Die „Sanitätsräte“, „Medizinalräte“ und dergleichen waren auf den Bereich der staatlichen Gesundheitsbehörden beschränkt.) Infolgedessen war die medizinische Doktorpromotion für jeden Mediziner ein Regelvorgang, der dann nach verschiedenen und auch wechselnden Modellen (vor oder nach dem Staatsexamen bzw. erst nach der Approbation) in den staatlichen Prüfungsablauf eingebaut wurde; nur für ausländische Studenten und für künftige Naturwissenschaftler (v. a. Biologen) ohne Approbationswunsch blieb sie ein freier Vorgang der Qualifikation. Als Konsequenz dieser Entwicklung war und blieb die Abfassung einer medizinischen Dissertation, sofern sie überhaupt gefordert wurde, bis in unsere Gegenwart relativ leicht. Das schloss selbstverständlich zu keiner Zeit aus, dass es in ­diesem Bereich im Sinne der nach oben offenen universitären Leistungsskala stets anspruchsvolle Doktorarbeiten gab; dies zeigt sich auch an den Autobiographien. Die durchgängige Funktion einer substanziellen Zusatzqualifikation erlangte der medizinische Doktor jedoch nie. Dies führte im 20. Jahrhundert dazu, dass diese Funktion von der medizinischen Habilitation übernommen wurde, indem sie über die Rolle der inneruniversitären Nachwuchs­ gewinnung hinauszureichen und zu einer allgemeinen Voraussetzung zur Erlangung von Chefarztpositionen zu werden begann; der wesentliche Grund war, dass mit der Habilitation die Anwartschaft auf den (außerplanmäßigen) Professorentitel verbunden ist. Diese Tendenz wurde schon früh erkannt und etwa in den Memoiren Adolf Strümpells von 192548 durchaus positiv gewertet. Die „zahlreichen Wünsche nach einer Zulassung zur Habilitation“, so Strümpell, s­ eien „jetzt in den meisten Fällen“ auch mit Blick auf den Professorentitel von der Aussicht auf spezialisierte Praxen oder leitende Kliniksposten motiviert. „Wie die Verhältnisse jetzt einmal liegen [und das hieß doch wohl: weil die Promotion kein entsprechend hinreichendes Qualitätskriterium war], müssen meines Erachtens die Fakultäten ihnen auch Rechnung tragen. Man kann die Zulassung zur Habilitation jetzt gewissermaßen als eine Art Befähigungsnachweis auffassen. 48 Prof. Dr. Adolf Strümpell [1853 – 1925], Aus dem Leben eines deutschen Klinikers. Erinnerungen und Beobachtungen, Leipzig 1925, S. 114 f.

184

Promotionen und Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert

Unter der Voraussetzung, dass die Ansprüche für Gewähr dieser Zulassung auf einer entsprechenden Höhe bleiben, sollten daher, meine ich, die Fakultäten im Interesse des Fortkommens der Tüchtigeren unter dem jungen ärztlichen Nachwuchs in der Beschränkung der Zahl der Privatdozenten nicht gar zu streng verfahren.“ Insgesamt bestätigt sich die vom Geltungsnutzen des Titels ausgehende Dynamik der Inflationierung auch an dieser Meinungsäußerung. Die 52 untersuchten Autobiographien von Medizinern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bieten ein von den Juristen deutlich abweichendes Muster des Selbstverständnisses. Dazu dürfte der Umstand beitragen, dass es sich dabei weit überwiegend um Hochschulprofessoren (Kliniker, Theoretiker, gelegentlich um spätere Naturwissenschaftler im Rahmen der Philosophischen Fakultät) handelt; nur vereinzelt haben nieder­gelassene Ärzte oder außeruniversitäre Anstaltsleiter Memoiren verfasst. Damit liegt eine merito­ kratische Stilisierung der Biographie unter Leistungsaspekten nahe; eine gegenläufige Stilisierung unter dem Aspekt eines leichtbeschwingten Studentenlebens (gern musisch konnotiert) fehlt aber durchaus nicht. Vor allem spiegelt sich in dem biographischen Muster der Mediziner die besondere Weise ihrer universitären und wissenschaftlichen Sozialisation: Sie erscheint sehr stark von dem Erlebnis des Seziersaales bzw. Labors und mehr noch der klinischen Praxis geprägt; in ­diesem Umfeld findet die Begegnung mit den akademischen Lehrern statt und wird durchweg sehr intensiv erlebt. Die ärztliche Ausbildung wurde im 19. Jahrhundert unter der Bedingung relativ kleiner Studentenzahlen offenkundig vor allem durch die persönliche Zuwendung der Professoren vermittelt und in der Verbindung von Lehre und Praxis erfahren. Dementsprechend ausführlich geraten durchgängig die Personenschilderungen der akademischen Lehrer mit ihren Qualitäten und auch Skurrilitäten. Für die eigene Karriere spielten persönliche Förderung und Weiterempfehlung eine außerordentlich große Rolle, die in der retro­ spektiven Wahrnehmung die Bedeutung der Examina oft sichtbar übertraf. Darauf dürfte zurückzuführen sein, dass in 24 der 52, also in fast der Hälfte der untersuchten Autobiographien Staatsexamen und Promotion nur knapp erwähnt, aber nicht geschildert werden. Offenbar kam ihnen als Passage-Erlebnis bei der Schilderung der persönlichen Karriere und ihrer bedingenden Momente kein besonderer Erinnerungswert zu. „Das Schluss-Examen und die Doktor-Prüfung wurden glatt in München erledigt“ notierte der Sanatoriumsarzt Felix Wolff (zu 1875),49 nicht ohne zu vermuten, „dass meine persönlichen Beziehungen mir über manche Examensklippe fortgeholfen haben“, sowie mit dem Zusatz, „dass ich während meiner ganzen Universitätszeit nicht so viel lernte, wie ­später als aktiver Assistent innerhalb weniger Monate“. Ähnlich der engagierte Chirurg Ferdinand Sauerbruch:50 „Am 26. ­Februar 1901 [Leipzig] bestand ich ohne besondere 49 Dr. Felix Wolff [1855 – 1931], Aus dem Leben eines Heilstättenarztes, München 1927, S. 39 ff. 50 Ferdinand Sauerbruch [1875 – 1951], Das war mein Leben, Bad Wörishofen 1951, S. 41 f., 108. Bemerkenswert auch seine tolldreiste Schilderung vom Erwerb des für die Mediziner damals noch

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Schwierigkeiten das Staatsexamen. Ich war Arzt.“ Seine Promotion erwähnte er gar nicht, die Habilitation nur nebenher. Derartige Beispiele bloßer Nennungen ließen sich vermehren; bemerkenswert an ihnen ist durchgängig der Kontrast zur intensiven Beschreibung des Fachstudiums, der fachlichen Forschung und Praxis und der Bedeutung akademischer Lehrer. Fragt man im engeren Sinn nach dem Stellenwert der Promotion innerhalb des Prüfungsgeschehens, so richtet sich der Blick auf jene Autobiographien, die den Examina größere Aufmerksamkeit widmen; dabei interessiert die Gewichtung von Staatsexamen und Promotion. Hierbei sind selbstverständlich die Beschreibungen aus jenen (länderweise unterschiedlich langen) Phasen des 19. Jahrhunderts auszuscheiden, wo noch die Promotion das einzige berufsqualifizierende medizinische Abschlussexamen darstellte. So aufschlussreich etwa die Examensschilderungen österreichischer (vorrangig zu Wien und Prag) oder baltendeutscher Mediziner (zu Dorpat)51 für die Charakteristik der Fakultäten und ihrer Angehörigen oftmals auch sind, sie bieten kein Material für unsere spezifische Frage. Mit der Einführung eines gesonderten Staatsexamens als Voraussetzung der Approbation gilt durchweg, dass diese Prüfungsleistungen als Passage-Erlebnis einen klaren Vorrang vor den Rigorosa des Promotionsverfahrens erhalten. (Davon zu trennen ist ggf. die Bewertung der Dissertation. Dies ist ­später zu erörtern.) Die Frühzeit kennt allerdings den gewichtigen Fall einer zumindest ambivalenten Bewertung des Ranges der Prüfungen: Sie betrifft das badische zentrale medizinische Staatsexamen, das bis 1873 in Karlsruhe von beamteten Medizinalräten abgehalten und danach unter Rückverlagerung in die Landesuniversitäten an die Professoren (als staatliche Prüfungsbeauftragte wie überall sonst) abgegeben wurde. Vor den Augen des berühmten Psychologen Wilhelm Wundt (Examen ca. 1855)52 fand das Karlsruher Lizentiatsexamen als „bürokratische Maßregel, um dem Lande tüchtige Ärzte zu sichern“, keine Gnade: „Die Examinatoren waren die Vertreter einer gegenüber dem Examinanden mehr oder weniger rückständigen Stufe der Wissenschaft, und zwar war der älteste unter ihnen, der demnach […] das größte Ansehen genoss, natürlich der rückständigste. Er gehörte einer längst vergangenen Generation von Ärzten an […].“ Als Konsequenz dieser Situation verschafften die Prüflinge sich veraltete Lehrbücher für die Vorbereitung auf die zumeist schriftlichen Examina mit der Folge, „dass eine gewisse äußere Fertigkeit im Ausdruck verbunden mit einiger Kenntnis der Geschichte der Heilkunde die Eigenschaften waren, die für den Erfolg des Examens mehr ins Gewicht fielen als positive Kenntnisse.“ Den langfristigen Niedergang der Promotion erforderlichen Graecums (S. 31 ff.), selbstverständlich ein Seitenhieb auf neuhumanistisches Bildungsgehabe. 51 Eine eingehende Beschreibung der Dorpater Doktorprüfung mit feierlicher Promotion als berufsqualifizierender Prüfung um 1860 bei dem Chirurgen Bergmann: Arend Buchholtz, Ernst von Bergmann [1836 – 1907], Leipzig 1911, S. 124 ff. (Persönliche Quellen.) 52 Wilhelm Wundt [1832 – 1920], Erlebtes und Erkanntes, Stuttgart 1920, S. 90 ff.

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unter dem Vorrang des Staatsexamens verkannte aber auch Wundt nicht: „Den Doktor­ titel pflegte dann durch die Einreichung einer Dissertation und die Ablegung eines besonderen Doktorexamens bei der Fakultät der Kandidat nachzuholen, war aber dazu keineswegs verpflichtet, sondern der Titel war wie noch jetzt eine Zierde, die namentlich die städtischen Ärzte unter Entrichtung eines entsprechenden Honorars zu erwerben suchten, mit der es aber an manchen Universitäten, ähnlich wie auch in anderen Fächern, nicht allzu streng genommen zu werden pflegte…“ Eine günstigere Beurteilung erfuhren die Karlsruher Prüfer durch den Internisten Adolf Kußmaul (Examen 1846),53 der sein Lizenz-Examen sehr ausführlich beschrieb, zugleich aber dessen depravierende Wirkung auf die Promotion hervorhob: „Obwohl der Lizenzschein schwieriger zu erwerben war, als das Doktordiplom, so beschränkte sich seine Bedeutung doch einzig auf die engen Grenzen des badischen Landes, im Auslande war er wertlos. Dort galt nur das Doktordiplom, namentlich gereichte das Heidelberger auch in fernen Weltteilen seinen Besitzern zu besonderer Empfehlung. Die alten Herren der Fakultät waren auf das K ­ arlsruher Staatsexamen nicht gut zu sprechen, und ich selbst hörte Tiedemann sagen: ‚Das Heidelberger Doktordiplom wird allenthalben respektiert, nur nicht in der Türkei und im Großherzogtum Baden!‘ Die Mehrzahl der badischen Ärzte begnügte sich mit dem badischen Lizenzschein, sie verzichteten auf das Diplom der Fakultät, nicht weil sie es gering schätzten, sondern der Kosten halber. […] Auch ich unterließ es zu promovieren …“ – und zwar der Gebühren wegen mit Rücksicht auf seinen Vater. Bemühungen seines Gönners Naegele, die Promotion Kußmauls ‚pro gradu‘ auf der Grundlage einer von ­diesem zuvor mit Auszeichnung gelösten Preisaufgabe gratis durchzusetzen, scheiterten an der Fakultät: mit Blick auf die Gebühren, wie man vermuten kann, vielleicht aber auch zur Wahrung bestimmter Standards der Heidelberger Dissertationen, die Kußmaul selbst hoch einschätzte. Von dieser Wertschätzung wird noch zu sprechen sein. Nach mehrjähriger Praxis als niedergelassener Arzt entschloss Kußmaul sich zur Habilitation und begann ab 1854 erneut in Würzburg zu studieren, wo er sich Virchow anschloss und ‚pro gradu‘ promovierte, eine Dissertation dann aber von Berlin aus nachreichte und sich durch ­Virchows Vermittlung sogleich auch ohne weitere schriftliche Leistung 1855 in Heidel­ berg habilitierte. Auch seine akademischen Prüfungen wie den Inhalt seiner Dissertation hat er ausführlich beschrieben,54 wobei der Stolz auf seine Leistungen und das Bewusstsein seiner biographischen Umwege sich mit einer fabulierfreudigen bis kriti­ schen Beschreibung der akademischen Hürden und Rituale sowie der Skurrilitäten seiner Prüfer auf eigentümliche Weise mischten. 53 Adolf Kußmaul [1822 – 1902], Jugenderinnerungen eines alten Arztes, 7. Aufl., Stuttgart 1906, S. 265 – 271. 54 Adolf Kußmaul, Aus meiner Dozentenzeit in Heidelberg, hg. von Vinzenz Cerny, 4. Aufl., Stuttgart 1925, S. 12 ff., 35 – 48.

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Eine derart breite Darstellung aller Prüfungsszenarien ist zweifellos dem Erlebnis der etwas verspäteten Karriere zuzuschreiben. Unter den Memoiren schreibenden Medizinern stellte dies eher die Ausnahme dar. Mit der Integration der Promotion als Regelvorgang in das vom Staatsexamen dominierte Prüfungsgeschehen bei Identität der Prüfer dominiert die Tendenz – sofern Examina überhaupt beschrieben und nicht nur erwähnt wurden –, die Prüfungsschilderungen auf das Staatsexamen zu konzentrieren und die Promotion nur nebenher zu erwähnen oder unerwähnt zu lassen. Von 2855 Autobiographien repräsentieren immerhin 15 diesen Beschreibungstypus. Darin dürfte sich der abgestufte Erlebnisgehalt der Prüfungen adäquat widerspiegeln, die eben von einem Bedeutungsabfall der Promotion gekennzeichnet waren. (Der Habilitation wurde dementsprechend mehr Aufmerksamkeit gewidmet.) Für Berlin ist aus der Jahrhundertmitte recht häufig die Gewohnheit biographisch bezeugt, den Doktor vor dem Staatsexamen zu machen. Institutionell war dies vor allem in der Verbindung des militärärztlichen Friedrich-Wilhelms-Instituts mit der Medizinischen Fakultät insofern verankert, als dessen Stipendiaten mit der Promotion schon vor dem Staatsexamen als Unterärzte in der Charité Verwendung fanden. (Für unbemittelte Aufsteiger war diese Möglichkeit eines kostengünstigen Studiums durch Eintritt in die ‚Pepinière‘ recht beliebt.) In einem Brief Virchows an seinen Vater vom Oktober 184356 liest sich das so: „Endlich ist der Schritt gethan, der an sich eine leere und nichtige Formalität [!], doch die grössten Consequenzen für’s Leben nach sich zieht – ich bin Doktor der Medizin und Chirurgie geworden.“ Dann folgte eine leicht ironische Schilderung des Aktes der feierlichen Promotion sowie eine Bemerkung zum „unsterblichen Werk“ der Dissertation, die Virchow aber doch als wissenschaftlichen Beitrag gewertet wissen wollte. Die hier in einem chronologisch authentischen Briefzeugnis bereits sichtbare Tendenz zur Abwertung der Promotion verschärfte sich in der Retrospektive der um die Weltkriegszeit oder s­ päter geschriebenen Memoiren. Friedrich Trendelenburg 57 etwa, ebenfalls Charité-Absolvent, qualifizierte die Dissertation so: „Als Substrat für die Doktorarbeit ließ man sich meist aus einer der Kliniken eine oder mehrere auf die ­gleiche Krankheit bezügliche Krankengeschichten geben, dazu wurde ein begleitender Text aus einigen Lehr- und Handbüchern zusammengeschrieben, das Ganze ließ man in das Lateinische übersetzen, und nun war das unsterbliche Werk […] zum Druck fertig. Arbeiten von bleibendem wissenschaftlichen Wert waren unter den Dissertationen der medizinischen Fakultät seltene Ausnahmen.“ Er selbst nahm für seine medizinhisto­ rische Arbeit freilich eine höhere wissenschaftliche Dignität in Anspruch. Hingegen 55 Bei insgesamt 52 Autobiographien waren 24 dem Typus bloßer Erwähnung zugeordnet worden; s. o. 56 Rudolf Virchow [1821 – 1902], Briefe an seine Eltern 1839 – 1864, hg. von Marie Rabl, 2. Aufl., L ­ eipzig 1907, S. 78 ff. 57 Friedrich Trendelenburg [1844 – 1924], Aus heiteren Jugendtagen, Berlin 1924, S. 153 – 169. (T., Sohn des Philosophen, war Chirurg.)

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fand das Rigorosum (1866) nach damaliger Sitte in der Wohnung des Dekans mit gutem Frühstück, Kuchen und Konfekt statt, danach kam die „Komödie“ der Disputation und der feierlichen Promotion; dem steht die nachfolgende Zeit des Staatsexamens mit fleißigem Lernen und Repetieren gegenüber. Ähnliches findet sich bei Waldeyer-Hartz 58 (1861): ein gewisser Stolz auf die selbstständig erarbeitete Dissertation; das Rigorosum in den beschriebenen gemütlichen Examensformen, wobei freilich die beiden Mitprüflinge schwerste Lücken zeigten, alle drei aber mit dem Prädikat „cum laude“ abgefertigt wurden: „Das hat meinen Respekt vor dem Werte der Berliner Doktorprädikate, wie sie damals erteilt wurden, nicht erhöht.“ Die nachfolgende seitenlange Schilderung des Staatsexamens mit zahlreichen Prüfungsdetails lässt dann auch hier den Schwerpunkt der eigentlichen Anstrengungen plastisch hervortreten. Ähnlich kontrastiv Naunyns 59 freundliche Erwähnung seiner Promotion und die Schilderung der „Menschenquälerei“ des Staatsexamens mit seiner Prüferwillkür (Berlin 1862). Ein deutlicher Hinweis auf die gestufte Bewertung der beiden Prüfungsleistungen ist auch den Memoiren des als Student wenig integrierten Sozialmediziners Grotjahn 60 zu entnehmen: „[…] damals [1894] konnte man in Berlin bereits vor dem Staatsexamen doktorieren. […] Da ich keine persönliche Fühlung mit irgendeinem Dozenten hatte, galt es zunächst, eine ­solche anzubahnen, um eine Doktorarbeit zu erhalten.“ Ein Doktorvater fand sich in Bismarcks Leibarzt Schwenninger, dessen kritische Sicht der Schulmedizin Grotjahn stark beeinflusst hatte. „Meine Doktordissertation wurde jedenfalls rasch fertig gemacht.“ „[…] in den großen Ferien nach Bestehen der Doktorprüfung im Sommer 1894 habe ich unter der Aufsicht meines Vaters und Vetters einen Teil der [ländlichen väterlichen] Praxis ziemlich selbständig besorgt. Der Doktortitel verhinderte, dass die Patienten daran Anstoß nahmen. Schließlich aber zwang das Staatsexamen dazu, die Lücken des häufig vernachlässigten Studiums durch Privatfleiß nachzuholen. Es galt damals in Berlin für besonders schwer […].“ Die autobiographischen Mitteilungen einer jüngeren Medizinergeneration, die um die Jahrhundertwende promovierte und um die Mitte des 20. Jahrhunderts schrieb, folgten überwiegend derselben Tendenz. „Das Staatsexamen nahm man damals recht ernst. […] Auf die Staatsprüfung folgt in Deutschland bekanntlich das Doktorexamen, das wohl nur deshalb noch nicht abgeschafft worden ist, weil die Kranken gewohnt sind, ihren Arzt Doktor zu nennen, und weil man ihm diesen Titel mit Rücksicht auf die anderen Fakultäten nicht einfach nachwerfen mag“, so der Psychiater Oswald Bumke 61 58 Wilhelm von Waldeyer-Hartz [1836 – 1921], Lebenserinnerungen, 2. Aufl., Bonn 1921, S. 107 – 113. [W. war Anatom.] 59 Bernhard Naunyn [1839 – 1925], Erinnerungen, Gedanken und Meinungen, München 1925, S. 87 ff. [N. war Internist.] 60 Grotjahn, Erlebtes [Anm. 47], S. 72 – 83. 61 Oswald Bumke [1877 – 1950], Erinnerungen und Betrachtungen. Der Weg eines deutschen Psychia­ters, München 1952, S. 51 f. (Staatsexamen Halle, B. erhielt dort kein befriedigendes

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zu seiner Kieler Promotion von 1901. Ähnlich der jüdische Emigrant Arthur Stern in der Jerusalemer Außensicht von 1968 über seine Freiburger Examina der Jahrhundertwende:62 „Das mehrmonatige Staatsexamen 1902/3 war eine Art Siegeslauf, im Januar 1903 mit Note I endend und von der Verleihung des Doktortitels (Februar 1903) bald gefolgt, mit obiger Doktorarbeit (die – aus Mangel an Zeit unvollendet niedergeschrieben und abgeliefert – zu meinem Leidwesen meine Note im Doktordiplom von „summa“ zu „magna cum laude“ gedrückt hat). Es ist hier anzufügen, dass das medizinische Doktorexamen damaliger Zeit nach absolviertem Staatsexamen eine reine Formalität darstellte, die Geld kostete und deshalb von einigen wenigen unseres Standes unterlassen oder auf materiell günstigere Zeiten verschoben wurde. Es ging der Witz ‚der Kandidat musste einmal einen Zug in Heidelberg überschlagen, um rasch den Doktor zu machen‘. Es ist völlig gerechtfertigt, dass hier in Israel wie überall an anglosäch­sischen Universitäten, der Doktor viel ernster genommen wird und dadurch erheblich an Wert gewonnen hat.“ Ebenfalls aus der Sicht der Jahrhundertmitte hat der Chirurg Fritz König 63 das Erlebnis seiner Promotion von 1890 mit einer Kritik des medizinischen Promotionswesens verknüpft: „Die ganze Frage ‚des medizinischen Doktors‘ drängt sich hier auf. Die Doktorarbeit wird von vielen für überflüssig angesehen; es war, glaube ich, im Anfang der [18]80er Jahre, als manche Mediziner mit der Approbation in der Tasche ohne Doktortitel in die Praxis gingen. Aber das Urteil der Menge verlangte das schmückende Beiwort. Von der Fakultät aus gesehen müsste der ‚Doktortitel‘ zeigen, dass der Arzt eine medizinisch-wissenschaftliche Arbeit gemacht hat. […] Der berühmte Kliniker Naunyn hat schon 1872 über diese Misswirtschaft [sc. „minderwertige Leistungen, für die der Dr. med. nicht verliehen werden dürfte“] geklagt. Hier muss der Hebel angesetzt werden, um den Wert des medizinischen Doktors in der Öffentlichkeit wieder zu heben, der doch beweisen soll, dass der betreffende Arzt kein reiner Praktiker ist.“ Im Gesamtbefund der untersuchten Autobiographien muss allerdings hervorgehoben werden, dass derartige Rundum-Disqualifikationen der medizinischen Promotion jedenfalls für das Selbstbild dieser Autoren nicht repräsentativ sind. Zwar verfiel das Rigorosum in aller Regel der Nichtbeachtung oder der (auch spöttischen) Zurücksetzung gegenüber dem Staatsexamen; davon zu trennen ist jedoch die Bewertung der Dissertation als wissenschaftliche Leistung. Auch ihr gegenüber ist vielfach Geringschätzung erkennbar; demgegenüber steht jedoch eine ansehnliche Zahl von A ­ utoren, die der Forschungsarbeit für ihre Dissertation größere Beachtung schenkten und diese Dissertationsthema und ging zur Promotion nach Kiel.) 62 Arthur Stern [1879 – 1961], In bewegter Zeit. Erinnerungen und Gedanken eines jüdischen Nerven­ arztes, Jerusalem 1968, S. 46. 63 Fritz König [1866 – 1952], Erinnerungen. Erlebnisse, Beobachtungen und Gedanken eines Arztes, Chirurgen und Menschen, [geschrieben 1947 – 1952, Masch.-Expl. in: UB Würzburg, Inst. f. Hochschulkunde, Sign. 880 AB 77300 E68].

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Arbeit teilweise ausführlich inhaltlich schilderten und bewerteten. Zweifellos spiegelt sich in dieser Aufmerksamkeit die spezifische Überrepräsentation der Hochschullehrer im gegebenen Textkorpus der Memoiren. Die Autoren werteten, nicht durchweg, aber doch sehr häufig, ihre Dissertation als vollgültige erste wissenschaftliche Leistung im Verlauf ihrer Karriere. Dass sie damit über dem Durchschnitt der gewöhnlichen LeichtDisser­tationen lagen, ließen dabei manche durchaus durch­blicken. Ferner wird in ­diesen Schilderungen die starke Bezogenheit auf akademische Lehrer und Protektoren sowie auf deren Forschungsinteressen sichtbar. Im Rahmen ­dieses Niveaus war dann auch das nicht seltene Promotionswandern durchweg durch den Universitätswechsel von Doktor­vätern oder durch damit gleichzusetzende Empfehlungen und Wechsel im Rahmen des Netzwerkes der Professoren bedingt. Es lag also auf einer gänzlich anderen Ebene als das am ‚Promotionstourismus‘ der Juristen erkennbare Motiv des Leistungsminimalismus. Dergleichen wird bei den Medizinern nicht gefehlt haben; nur fehlen dafür die autobiographischen Zeugnisse. Immerhin bezeugt (eine Ausnahme im untersuchten Memoiren-­Korpus) der ambitionierte und erfolgreiche Internist Friedrich von Müller, dass er nach dem Münchner Staatsexamen als Würzburger Assistent deshalb 1881 mit einer sehr guten Dissertation zur Promotion nach München zurückkehrte, weil damals in München bei bestandenem Staatsexamen kein Rigorosum gefordert wurde. Die Schilderung bietet ein ridiküles Gegenbild zur zuvor üblichen ‚feierlichen Promotion‘: Er suchte mit seiner Arbeit den Dekan, den Pharmazeuten Buchner, in dessen Labor auf: „‚Ich möchte mich zum Doktor melden.‘ Er gab mir freundlich die Hand aus der halboffenen Türe und sagte: ‚Jetzt san’s Doktor.‘“ 64 In manchen Fällen hing das ausführliche biographische Verweilen bei der Dissertation auch damit zusammen, dass diese als Basis der anschließenden Habilitation diente, also aufgrund ihrer Qualität weitere schriftliche Leistungen entbehrlich machte. Im Horizont einer sehr starken autobiographischen Fixierung auf eigene Leistungen und die eigene Karriere finden sich gelegentlich Memoiren, die mit großem Ernst und in breiter Ausführlichkeit alle schriftlichen und mündlichen Examina, also auch das ­Doktor-Rigorosum, detailliert beschreiben: so etwa die Erinnerungen des ‚Spätentwicklers‘ Adolf Kußmaul, bei dem diese gesteigerte Aufmerksamkeit psychologisch auf eben jene Verzögerungen zurückzuführen sein dürfte. Ein extremes Beispiel solcher Leistungsorientierung, verbunden mit einem gesteigerten Selbstwertgefühl, bieten die Lebenserinnerungen des Dermatologen Erich Hoffmann:65 „Es war eine wundervolle Zeit angespanntester Arbeit [sc. an der Dissertation] auf einem schwierigen, mir bis dahin unbekannten Gebiet; aber starker Wille und emsiges Schaffen, führten doch bald zum Erfolg.“ Nach ausführ­licher Beschreibung seiner „mustergültigen Schnittserie“ und 64 Friedrich von Müller [1858 – 1941], Lebenserinnerungen, München 1953, S. 53. 65 Erich Hoffmann [1868 – 1959], Wollen und Schaffen. Lebenserinnerungen aus einer Wendezeit der Heilkunde 1868 – 1932, Hannover 1948, S. 100 – 119, 163.

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Erörterung seiner Befunde (Doppel­bildungen im befruchteten Ei), die zu einer „als ausgezeichnet“ bewerteten Arbeit führten, resümierte er: „So hatte ich nach gründlicher Schulung durch H. V ­ irchow [Sohn von Rudolf] doch schließlich z. T. als Autodidakt eine Probe im Sinne von ‚Wille und Tat‘, wie ich diesen Band zuerst bezeichnen wollte, abgelegt, auf die ich noch heute befriedigt zurückblicken darf. […] Gegen Ende des 8. Semesters [1891, Berlin] war die damals noch strenge Doktorprüfung [sic!], das ‚Examen rigorosum‘ abzulegen.“ Die inhaltlich beschriebene Prüfung, „ein strenges Kolloquium“, führte danach zu einer Promotion „mit Auszeichnung (summa cum laude) […], ein in Berlin damals so seltenes Ereignis, dass die Zeitungen davon Notiz nahmen.“ Und zum Jahr 1893 schreibt er: „Im Examen sich bewähren, heißt die großen Lehrer ehren. Nun rückte die Staatsprüfung, die in Berlin damals nicht leicht war, schnell näher.“ Dessen Ergebnisse waren freilich durchmischt, unter anderem deshalb, „weil ich es gewagt hatte dem großen Gelehrten [Du Bois-Reymond] gegenüber auf eigener Meinung zu beharren. […] Wie im Physikum fehlte mir nur ein halber Punkt an der Gesamtzensur sehr gut.“ Nach zehnjähriger militärärztlich-klinischer Tätigkeit strebte Hoffmann die Habilitation an: „Nun galt es alle Kraft zu sammeln, um das große Ziel einer deutschen Professur zu erreichen.“ Auch mit dieser im Rahmen unseres Memoiren-Korpus auffälligen Selbststilisierung als außergewöhnlicher Leistungsträger (für die sich bei Hoffmann eine Fülle weiterer Belege aufdrängt) fügt sich das Beispiel doch in den allgemeinen Befund, dass eine Wertschätzung der medizinischen Promotion am ehesten über die Qualität der Dissertation und der Arbeit an ihr vermittelt wurde, wobei der Rückblick erfolgreicher und fachlich prominenter Wissenschaftler die maßgebende Perspektive abgab. Komplementär dazu fielen die wiederholt gebotenen Schilderungen der feierlichen Promotion mit öffentlicher Disputation durchgängig negativ aus: In keiner medizinischen Autobiographie wurde diese Veranstaltung ernst genommen; sie wurde bestenfalls humorvoll, häufiger aber ironisch bis sarkastisch beschrieben. Bei Friedrich Trendelenburg nahm sich das (Berlin 1866) in wohlwollender Tendenz so aus: „Die feierliche Promotion wurde auf den 12. Juni 1866 angesetzt. Dabei hatte der Doktorandus die von ihm aufgestellten Thesen gegen seine drei Opponenten – bei mir meine Freunde […] – in lateinischer Sprache zu verteidigen. […] Natürlich war das Ganze eine Komödie. Jeder hatte ein Exemplar der schön rot gebundenen Dissertation in der Hand – in d ­ iesem Fall nur den Buchdeckel irgendeiner älteren – und las von dem eingelegten Zettel die wenigen lateinischen Sätze ab, aus denen das wissenschaftliche Turnier sich zusammensetzte. Das Wichtigste dabei war, die Stichworte nicht zu verpassen. Nachdem jeder der Opponenten sich für besiegt erklärt und dem Sieger gratuliert hatte […], fragte der Doktorandus, ob auch einer der in der Korona Anwesenden zu opponieren wünsche. Es war d ­ ieses eine leere Formel aus alter Zeit, die Frage wurde immer mit Stillschweigen beantwortet. Aber o Schrecken! In der Korona erhob sich mein Vater und griff eine meiner Thesen in wohlgesetzter, flüssiger lateinischer Rede an. Ich radebrechte unter

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allgemeiner Heiterkeit einige Sätze zur Entgegnung und brachte so auch diesen gefährlichsten Angreifer zum Schweigen. Dann wurde der Doktoreid abgelegt, dessen Formel dem schönen alten hippokratischen Eide ähnlich war. Das Schiefe dabei war nur, dass das Recht zur ärztlichen Praxis erst durch das s­ päter abzulegende Staatsexamen erworben wurde, und der junge Doktor mit dem Staatsanwalt in Konflikt geraten wäre, wenn er, wie der Eid es verlangte, jedem Kranken, reich oder arm, zu Hilfe geeilt wäre. Nach der Vereidigung wurde ich, wie von Anfang der Feierlichkeit an noch auf dem unteren Katheder stehend, von dem darüber auf dem oberen stehenden Dekan als Doctor medicinae et chirurgiae proklamiert und auf das obere, nur für Doktoren bestimmte Katheder gerufen, wo er mir das Diplom übergab. Einige Dankesworte meinerseits und ein ebenfalls lateinisch in althergebrachter Formel gesprochenes Gebet beendeten die feierliche Handlung.“ Deutlich ließ der Autor also erkennen, dass dem Akt für die medizinische Praxis keinerlei Funktion mehr zukam; zugleich signalisierte er mit dem Auftritt des Vaters geschickt den humanistischen Bildungshintergrund seiner familiären Herkunft, diese Bildungstradition damit dann doch unterschwellig bestätigend.66 Die Beschreibung einer feierlichen Promotion in Prag von 1862 durch den Balneologen Heinrich Kisch 67 bewertete den pompösen Vorgang dagegen in deutlicher Distanzierung von derartigen universitären Traditionen: „[…] nach so vielem mir widerstrebenden mittelalterlichen Mummenschanz [durfte ich endlich] meinen aufrichtigen Empfindungen in deutscher Sprache Ausdruck geben, indem ich meinen anwesenden Eltern [Prager Juden] für ihre Liebe und Opferwilligkeit, ­welche sie mir trotz der Ungunst der äußeren Verhältnisse stets werktätig bekundeten, herzlich dankte.“ Als Beispiel schroffer Ablehnung schließlich die Memoiren der aus Pommern stammenden Ärztin Franziska Tiburtius,68 einer frühen Absolventin des in Zürich für Frauen zugelassenen Medizinstudiums: „Allerdings – einen etwas peinlichen Tag hatte ich noch 66 Trendelenburg, Aus heiteren Jugendtagen [Anm. 57], S. 153 f. Humorvoll auch die Schilderung einer zunächst verunglückten Disputation, weil die ­Zettel mit den lateinischen Texten vertauscht worden waren, bei Egon Hoffmann (Greifswald, ca. 1877): Egon Hoffmann, Aus meiner Studenten- und Assistentenzeit in Greifswald, Bamberg o. J., S. 17 f. Auch Rudolf Virchow nannte seine Disputation eine „Komödie“: Virchow, Briefe [Anm. 56, a. a. O.]. 67 E. Heinrich Kisch [1841 – 1918], Erlebtes und Erstrebtes. Erinnerungen, Stuttgart/Berlin 1914, S. 115 f. (K. habilitierte sich 1867 in Prag, blieb aber bis 1904 Privatdozent. Seine Jugenderinnerungen sind stark von antisemitischen Erlebnissen geprägt.) 68 Dr. med. Franziska Tiburtius [1843 – 1927], Erinnerungen einer Achtzigjährigen, 2. Aufl., Berlin 1925, S. 169 f. Tiburtius war nach privatem höheren Schulunterricht und Arbeit als Erzieherin ohne Abitur in Zürich zugelassen worden. Eingehende Schilderungen der Züricher Szene, insbesondere der russischen Kolonie, des Studiums und Examens. In vielem ähnlich die Briefzeugnisse der Schweizerin Marie Vögtlin zu ihrem Medizinstudium in Zürich (mit parallel absolviertem Abitur; Züricher Szene, Russinnen und Engländerinnen), dann Leipzig (dort extremes Mobbing seitens der Studenten) und wieder Zürich, mit Examen und Promotion 1874 in Zürich. Der Doktortitel als „mittelalterlicher Zopf “, nur der Niederlassung

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in Zürich zu überstehen – das war der feierliche Schlussakt, die Promotion, die damals noch [1874] in Zürich nach alter Weise mit ziemlich viel Klimbim vor sich ging: Vorherige Verkündigung im Tagblatt, Versammlung in der Aula, Studenten und Freunde aus der Stadt erschienen zahlreich, – feierlicher Einzug in die Aula, die Magnifizenz an der Spitze, dann das Opferlamm, der amtierende Professor …, die anderen Professoren hinter­her … – Praelectio, Thesenverteidigung, wozu man natürlich ein paar gute Bekannte unter den Studenten und auch einen oder den anderen von den Professoren bat, – Verlesung der Eidformel in lateinischer Sprache, auf die natürlich niemand hörte, – dann die Promotionsformel von dem amtierenden Professor, – dann hörte man noch allerhand Niedliches über sich sagen … – und dann das erlösende Aufatmen, wenn man mit der Diplomkapsel unter dem Arm nach Hause ging und sich fragte, ob man die Rolle in der Komödie mit Ehren gespielt! Bald nach meinem Fortgehen wurde das Zeremoniell sehr vereinfacht, ich glaube, ich bin wohl das letzte Opfer gewesen, das all dies über sich ergehen lassen musste!“ Die bildungsbürgerlichen Reminiszenzen im Promotionsverfahren, wie sie Trendelenburg jr. in seiner Beschreibung (und auch hier leicht ironisch) durchscheinen ließ, gehören bei den Medizinern im Erlebnis der Passage zu den Ausnahmen. Insgesamt wurde in den untersuchten Autobiographien die Bedeutung der Promotion, wenn sie einer näheren Erörterung für würdig befunden wurde, vorrangig in der Qualität der Dissertation im Rahmen der künftigen wissenschaftlichen Karriere gesehen. Diese Fokussierung des Interesses spiegelt aber wiederum vor allem das einseitige Profil der Verfasser: Memoiren wurden fast ausschließlich von Wissenschaftlern geschrieben. Aus fachwissenschaftlicher Perspektive sah diese Gruppe der Universitätsmediziner die eigene Dissertation (weniger die zugehörigen Prüfungen) als das an, was sie nach Meinung der späteren Promotionsreformer auch sein sollte: eine wissenschaftliche Leistung im Rahmen einer wissenschaftsorientierten Karriere. Folgt man kontrastiv dazu den resignativen oder sarkastischen Bemerkungen dieser Verfassergruppe zu Niveau und Funktion der medizinischen Promotion im Allgemeinen, so bestätigt sich aus der Perspektive des zeitgenössischen Erlebens das ohnehin geläufige Urteil: Für die Masse der Absolventen war die medizinische Promotion als besondere Leistung neben dem Staatsexamen, geschweige denn als ‚rite de passage‘ ohne Bedeutung. Dies aber heißt, dass derjenige Berufsstand, der den Doktortitel als ‚Markenzeichen‘ auch in historischer Perspektive am stärksten in Anspruch nahm bzw. nehmen musste, dem Ereignis seines Erwerbs am wenigsten Aufmerksamkeit schenkte. So war es nur konsequent, wenn in Reformdiskussionen wiederholt vorgeschlagen wurde (wie dies an den österreichischen Universitäten bis zur Gegenwart auch praktiziert wird), den medizinischen Doktortitel als Bestandteil des Staatsexamens ohne Zusatzleistung zu vergeben. Eine ­solche reine und Praxis wegen erworben. Johanna Siebel, Das Leben von Frau Dr. Marie Heim-Vögtlin, der ersten Schweizer Ärztin, 1845 – 1916, Zürich u. a. 1928.

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Standeszuschreibung ‚pro gradu‘ nimmt vorklassische Universitätstraditionen wieder auf, knüpft sie aber an außeruniversitäre, nämlich von der staatlichen Approbationsordnung vorgegebene Qualifikationsnormen. In den philosophischen Fakultäten spielte die Promotion als leistungsbezogene Passage in den Stand des Bildungsbürgers eine sehr viel größere Rolle. Zweifellos hängt dies mit ihrer von den Universitätsreformern ihnen zugedachten Rolle als zentraler Ort der berufsunabhängigen Begegnung von Wissenschaft und Bildung zusammen. Vor allem aber hatte sich hier die Promotion als einziger Studienabschluss, als welcher er bei den Juristen und Medizinern obsolet geworden war, sehr viel stärker erhalten, da er nur für das gymnasiale Lehramt in analoger Weise durch das Staatsexamen außer Funktion gesetzt worden war. Diese Bedeutung des Doktors der Philosophie als einziger Ausweis für einen erfolgreichen Studienabschluss galt, solange die Fakultätseinheit bis in die Weltkriegszeit noch gegeben war und keine fachbezogenen Diplome eingeführt waren, auch für die zugehörigen Naturwissenschaften. Schon wegen dieser Funktion der Promotion ist zu vermuten, dass ihr als Passage-Leistung auch für den Durchschnittsstudenten ein emotional größerer Stellenwert zukam als für die Juristen und Mediziner. Die Spannbreite der Niveaus ist dabei jedoch ebenso zu beachten wie in den Nachbarfakultäten. Dank des im Laufe des 19. Jahrhunderts historisch gewachsenen großen Umfangs und amorphen Fächerprofils der philosophischen Fakultäten, die zumeist noch die Natur- und Wirtschaftswissenschaften mit umfassten,69 deckte der Dr. phil. eine große Spannbreite disparater wissenschaftlicher Milieus ab. In mentalitätsgeschichtlicher Perspektive ist es daher zweckmäßig, Kultur- und Sozialwissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits voneinander zu trennen. 69 Detaillierte Auflistungen der Fächerzuordnung (Seminare, Institute) zu den Fakultäten, nach Universitäten geordnet, in: Hartmut Titze u. Mitarb., Datenhandbuch zur deutschen Bildungs­ geschichte. Bd. 1: Hochschulen, 2. Teil: Wachstum und Differenzierung der deutschen U ­ niversitäten 1830 – 1945, Göttingen 1995. Danach waren vor 1914 erst wenige (mathematisch-)naturwissenschaftliche Fakultäten aus den philosophischen Fakultäten ausgegliedert worden: Tübingen 1863, Straßburg 1875, Heidelberg 1890, Freiburg 1910. Ferner bestand eine Untergliederung der philosophischen Fakultäten in Sektionen in Leipzig (1882) und Erlangen (1903). Lediglich in T ­ übingen (1817) und München (1826) bestanden frühzeitig eigenständige staatswirtschaftliche Fakultäten. Die zumeist in den 1870er bis 90er Jahren gegründeten staatswissenschaftlichen Seminare waren fast durchgängig in den philosophischen Fakultäten beheimatet. Mit der Umwandlung der juris­tischen in rechts- und staatswissenschaftliche Fakultäten gingen sie in diese über: so schon 1874 (mit Gründung) in Straßburg, in Würzburg 1878, in Freiburg 1896, in Münster 1902 (mit Gründung), im Übrigen erst ab dem E ­ rsten Weltkrieg. In Heidelberg waren ab 1871 die Staatswissenschaftler sowohl in der Juristischen wie in der Philosophischen Fakultät promotionsberechtigt. – Zwischen den medizinischen und den philosophischen Fakultäten gab es gelegentlich Überschneidungen in Biologie und Pharmazie, auch die Zuordnung der Veterinärmedizin und der Zahnmedizin war anfänglich diffus.

Das Promotionsverhalten in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive

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Die Palette der Kultur- und Sozialwissenschaften bleibt immer noch breit und unübersichtlich genug, da die Promotion als Studienabschluss gerade hier einem breiten Spektrum wissenschaftlicher und beruflicher Zwecke diente. Unter ihnen war der Einstieg in eine Universitätskarriere von erheblicher Bedeutung; insbesondere die Promotionen in den geringer frequentierten kulturwissenschaftlichen Fächern dienten vorrangig der universitären Nachwuchsrekrutierung. Daran schloss sich die wissenschaftliche Tätigkeit im Bereich von Archiv, Bibliothek, Museen und Sammlungen an; für sie war die Promotion als damals noch einzige Qualifikation unverzichtbar. Für eine sehr große Zahl freischaffender Journalisten, Schriftsteller, auch Künstler stellte der Dr. phil. als Studienabschluss ein begehrtes Statussymbol dar, für deren Erwerb der Aufwand eher in Grenzen zu halten war. Dasselbe galt ab dem späten 19. Jahrhundert für die freiberuflichen Nationalökonomen. Für die Laufbahn des höheren Schuldienstes hatte der Titel neben dem Staatsexamen wie im Justiz- und Verwaltungsdienst keinerlei Funktion; sein Erwerb unterlag auch nicht dem Druck des Marktes. Dennoch schmückten die Oberlehrer sich gern damit, um ihren akademischen Stand gegenüber niederrangigen Lehrer­gruppen zur Geltung zu bringen. Auch darf nicht verkannt werden, dass so manche Oberlehrer in ihrer Freizeit wissenschaftlich arbeiteten, nicht selten mit Blick auf eine späte Universitätskarriere. So wurde die Praxis der philosophischen Fakultäten Göttingens, Leipzigs und Jenas, in absentia zu promovieren, noch 1876 damit gerechtfertigt, dass es sich dabei vor allem um Lehrer mit achtbaren und dem Veröffentlichungszwang unterworfenen Dissertationen handle, denen man die Prüfungssituation eines Rigorosums nicht mehr zumuten könne.70 Auch im Falle der philosophischen Fakultäten dürfte das statistisch erfassbare Promotionswandern vornehmlich auf die Suche nach einer Leichtpromotion im Bereich der Geisteswissenschaften und Nationalökonomie zurückzuführen sein. (Die Disser­ tationen der Naturwissenschaftler erwuchsen aus der vorangegangenen Laborarbeit; die Promotionen waren daher tendenziell ortsgebunden.) Der statistische Befund aus dem frühen 20. Jahrhundert weist – wie bei den Juristen – als ‚Wanderungsverlierer‘ wieder vor allem Berlin und München aus; als beliebte Ausweichziele boten sich neben Leipzig augenscheinlich die kleineren Universitäten Rostock, Greifswald und Erlangen an. Wertet man die autobiographischen Zeugnisse als Indikator, so dürfte die Absentia-Promotion wie auch das Promotionswandern zum leichteren Doktor-Erwerb in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit stärker verbreitet gewesen sein als hernach,71 da sich ehedem auch wissenschafts- und karriereorientierte Kandidaten daran beteiligten, für die d ­ ieses Verhalten im späten 19. Jahrhundert eher verpönt war.

70 Oberbreyer, Reform [Anm. 20], S. 78 ff., 93 f. 71 Hierzu Rasche, Geschichte [Anm. 18].

196

Promotionen und Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert

Philosoph. Fak. 1906 – 07 Universität

Studenten

Philosoph. Fak. 1909 – 10

Promotionen

Zahl

%

Zahl

Berlin

3.433

16,43

156

Bonn

1.633

7,81

74

%

Universität

10,61 Berlin 5,03

Bonn

Studenten

Promotionen

Zahl

%

Zahl

%

4.418

16,71

165

9,32

2.097

7,93

94

5,31

Breslau

798

3,82

42

2,85 Breslau

1.007

3,81

58

3,27

Erlangen

381

1,82

80

5,44

Erlangen

417

1,58

88

4,97

Freiburg

722

3,46

52

3,54

Freiburg

943

3,57

82

4,63

585

2,80

42

2,85

Gießen

717

2,71

42

2,37

Göttingen

Gießen

1.159

5,55

77

5,24

Göttingen

1.488

5,63

97

5,48

Greifswald

174

0,83

43

2,92

Greifswald

429

1,62

55

3,11

Halle Heidelberg

1.209

5,79

80

5,44

Halle

1.299

4,91

109

6,16

887

4,24

90

6,12

Heidelberg

1.017

3,85

104

5,86

Jena

738

3,53

65

4,42

Jena

952

3,60

78

4,40

Kiel

429

2,05

38

2,58

Kiel

646

2,44

57

3,22

Königsberg

465

2,23

23

1,56

Königsberg

645

2,44

42

2,37

2.366

11,32

287

12,72

Leipzig

2.757

10,43

190

10,73

Marburg

Leipzig

828

3,96

71

4,83

Marburg

1.043

3,95

72

4,06

München

2.420

11,58

84

5,71 München

3.023

11,44

137

7,74

Münster

698

3,34

61

4,15 Münster

995

3,76

59

3,33

Rostock

423

2,02

63

4,27 Rostock

407

1,54

66

3,73

Straßburg

713

3,41

61

4,15

993

3,76

58

3,28

Tübingen

458

2,19

57

3,94 Tübingen

716

2,71

85

4,80

Würzburg

381

1,82

24

1,63 Würzburg

426

1,61

33

1,86

20.900

100

1.470

11.371

100

1.189

100

Summe

100

Straßburg

Summe

Zusammenstellung nach Heinrich Waentig, Zur Reform der deutschen Universitäten, Berlin 1911, S. 39 f. Zum Zurechnungsproblem Anm. 24 und 69.

Damit kommt das spezifische Profil der etwa 65 Autobiographien von Geistes- und Sozialwissenschaftlern in den Blick, die in ihren Erinnerungen ihre Examina und darunter die Promotion entweder mehr oder minder knapp erwähnen oder ausführlicher behandeln. Deren Auswertung bildet die Grundlage für die nachfolgenden Befunde. Für d ­ ieses vorgegebene Textkorpus gilt wie bei den Medizinern, dass es sich bei den Autoren weit überwiegend um Universitätsprofessoren oder sonstige Wissenschaftler in leitenden P ­ ositionen handelt. Im Unterschied zu den Juristen stehen nur sehr wenige Memoirenschreiber dieser Wissenschaftsszene fern oder stilisieren sich gar als Außenseiter. Letztere fehlen aber nicht ganz; ihre querständigen Perspektiven auf das Examensgeschehen sollen entsprechend beachtet werden. Die überwiegende Mehrzahl der Autoren aber erfasste das

Das Promotionsverhalten in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive

197

erfolgreiche Leben unter dem Vorzeichen der eigenen wissenschaftlichen Leistung, die sich – pointierter als bei den Medizinern – gerade auch an der Promotion als Studienabschluss festmachte. Auf die institutions- und fachbedingten Unterschiede soll hernach eingegangen werden. Abweichend vom Textkorpus der Mediziner findet sich im Bereich der Geisteswissenschaften eine größere Zahl von Autobiographien, deren Studienzeit in das frühe 19. Jahrhundert fällt. Dies bietet die Gelegenheit zu Einblicken in die zu dieser Zeit verbreitete weit laxere Praxis des Promotionsgeschäfts. Die Lebenserinnerungen des Philosophen Hermann von Keyserlingk 72 (Jahrgang 1793, Balte) beschreiben seinen Versuch von 1816, in Berlin die Venia Legendi zu erwerben und hierzu vorab zu promovieren. Die Fakultät lehnte die eingereichte philosophiegeschichtliche Arbeit ab, weil sie „nicht die dazu nöthige und erforderliche w ­ issenschaftliche Reife und Vollendung habe.“ Keyserlingk witterte dahinter philosophische Richtungskämpfe und begann einen brieflichen Disput mit der Berliner Fakultät, sandte aber „seine Abhandlung unverändert an die philosophische Fakultät Jena, die ihm auch den nachgesuchten Doctorgrad ohne Schwierigkeit (Decbr. 1816) ertheilte“. Spätere Habilitationsversuche in Jena gab er auf. Berlin, dessen philosophisches Terrain schwierig und dessen Promotionsverfahren mit vorgeschalteter Magisterprüfung und schriftlichem und mündlichem Rigorosum besonders hürdenreich war, genoss – wie in den anderen Fakultäten auch – schon in der Restaurations- und Vormärzzeit ganz allgemein den besonderen Respekt der Promovenden. Das Ausweichen von dort nach Jena ist prominent durch die Promotion von Karl Marx dokumentiert, der seinen Titel 1841 ebenfalls auf d ­ iesem Wege durch eine Absentia-Promotion ohne Rigorosum erwarb.73 Die freizügige Jenenser Praxis ließ sich auch zu einer bequemen Akkumulation von Titeln ­nutzen, wie der Vorgang des Königsberger Theologen Bernhard Weiß 74 von noch 1852 bezeugt: Weiß absolvierte in Königsberg mit einiger Mühe das Lizentiatsexamen als Basis einer nachfolgenden theologischen Habilitation, wollte aber auch einen (in der Theologie bekanntlich nur als späte Ehre verliehenen) Doktortitel haben: „[…] den Doktor konnte man damals an einigen Universitäten noch in absentia machen; so schickte [Freund] Gebser meine Lizentiatenarbeit nach Jena und pünktlich traf – allerdings auch für gutes Geld – das philosophische Doktordiplom ein.“ Ganz ähnlich der Titelwunsch des Baltendeutschen Johann Eduard Erdmann 75, der nach Theologiestudium in Dorpat und zwischenzeitlichem Aufenthalt in Berlin (Hegel, Schleiermacher) eine Pfarrstelle in Livland antrat, parallel dazu aber 1830 72 Hermann von Keyserlingk [1793 – 1858], Denkwürdigkeiten eines Philosophen oder Erinnerungen und Begebnisse aus meinem seitherigen Leben, Altona 1839, S. 64 ff. 73 Erhard Lange u. a. (Bearb.), Die Promotion von Karl Marx – Jena 1841. Eine Quellenedition, Berlin (DDR) 1983. Jena folgte der traditionellen Unterscheidung von Promotion ‚pro gradu‘ und ‚pro venia legendi‘. Für letztere wurde mehr verlangt. Vgl. oben Schubert, Geschichte [Anm. 22]. [Karl Marx, 1818 – 1883.] 74 D. Bernhard Weiß, Aus neunzig Lebensjahren, 1827 – 1918, hg. von H. Weiß, Leipzig 1927, S. 64 ff. 75 Hermann Glockner, Johann Eduard Erdmann 1805 – 1892, Stuttgart 1932, S. 15 ff. (Briefzeugnisse).

198

Promotionen und Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert

in Kiel „eine elende Dissertation“ einreichte und in absentia zum Dr. phil. promoviert wurde. Immerhin verließ Erdmann um einer Heirat willen 1833 die Heimat und strebte in Berlin erfolgreich die Habilitation in Philosophie an; seine Kieler Promotion musste dazu durch ein Berliner „Nostrifikations-Examen“ aufgebessert werden. Er wurde sodann von Eichhorn auf eine außerordentliche Professur nach Halle verschoben. Die Absentia-Promotion wurde nach der Mitte des 19. Jahrhunderts, nicht zuletzt aufgrund des von Berlin ausgehenden Reformdrucks,76 allgemein aufgegeben. Das ausweichende Promotionswandern jedoch blieb auch in den philosophischen Fakultäten eine verbreitete Praxis; sie drängte freilich nicht in das autobiographische Licht. Von der ‚Gegenseite‘ her ist die Neigung zur Abwanderung von Berlin gelegentlich dokumentiert. So stellte der berühmte Altphilologe Wilamowitz-Moellendorff 77 in seinen ­Erinnerungen für die Zeit seines Studienwechsels von Bonn nach Berlin 1869 indigniert fest: „Was ich von den Berliner Studenten sah, stieß ab. Ein Nebenmann sah die Reinschrift meiner Dissertation und sagte ‚Sie wollen doch nicht hier promovieren? Dazu geht man nach Halle und macht den kleinen Doktor, der kostet wenig, zu drucken braucht man nicht, alles ist ganz bequem‘.“ Dieser Akademikertypus des leistungsschwachen abwandernden Titeljägers, den der selbstbewusste Altphilologe im Visier hatte, hat nur selten M ­ emoiren verfasst. Das Ausmaß seines Vorkommens könnte nur durch quantifizierende Forschung erfasst werden, wobei freilich die reine Wanderungsstatistik durch eine qualitative Bewertung der Dissertationen bzw. der Promotionsfälle ergänzt werden müsste, um aussagekräftig zu werden. Am ehesten sind – wie bei den Juristen auch – offenherzige Schilderungen derartiger Leichtpromotionen noch bei außenseiterischen Lebenskünstlern zu finden, die sich ein Vergnügen daraus machten, dabei zugleich das Universitätssystem kräftig zu karikieren. Auf ­diesem Niveau bewegte sich der Privatlehrer Bocké 78 mit der tolldreisten Schilderung seiner Heidelberger Promotion von ca. 1875. Der fröhliche Rheinländer hatte in Bonn ohne Abschluss Altphilologie studiert und war danach niederrangiger Lehrer in verschiedenen Institutionen gewesen; all dies mit witzigen und sarkastischen Bemerkungen berichtend, nicht zuletzt auch zum preußischen Beamtenwesen. Zu seiner Eheschließung und zur angebotenen Übernahme einer Schulleitung in Livland meinte er des Doktortitels zu bedürfen. „Schon seit geraumer Zeit beschäftigte ich mich mit einem Stoff, der etwa für eine ‚Doktordissertation‘ sich eigne. Richtiger ist wohl die Frage: Was eignete sich auf deutschen Hochschulen nicht für eine s­ olche ‚Dissertation‘? Es wurde im Allgemeinen ein grober Unfug mit derartigen Druckdingern getrieben, und der Inhalt von wenigstens 80 Prozent der Masse war Kaff [= Spreu]. Ich hatte mir Mühe gegeben, Klarheit 76 Hierzu Rasche, Geschichte [Anm. 18], unten Abschnitt 4 (Reform). 77 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff [1848 – 1931], Erinnerungen 1848 – 1914, 2. Aufl., Leipzig 1929, S. 97; ‚kleiner Doktor‘: Promotion pro gradu. 78 Gustav Bocké, Vom Niederrhein ins Baltenland, Hannover 1926, S. 60 ff.

Das Promotionsverhalten in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive

199

zu schaffen über das Wesen des blind waltenden Schicksals bei Homer im Verhältnis zu den Göttern. Klarheit habe ich selbst nicht gefunden und anderen nicht geschaffen; das einzige, was ich zugeben kann, ist das lesbare Latein, in dem das Ding geschrieben war. Es hat übrigens seinen Sonderzweck erfüllt, wie so viel anderes gleichwertiges.“ Zur Promotion wählte er Heidelberg, wozu ihm im Rückblick Mommsens Philippika 79 von 1876 einfiel. Die weitschweifige und groteske Schilderung der Heidelberger Rigorosa (Magister Artium und Doktorprüfung) zielte vor allem darauf ab, die Diskrepanz z­ wischen den Defiziten des Prüflings und dem offiziellen Ergebnis herauszustellen. „Ich habe in Jahren, die längst vorüber, oft im Leben gestaunt; nie mehr als darüber, dass ­dieses geistige Exerzitium mit dem Gesamtprädikate ‚multa cum laude‘ markiert war…“ Zur Nostrifikation verlangte man im Baltikum übrigens ein Staatsexamen; es wurde in Dorpat „glatt erledigt“. Bei einer Gesamtbewertung des auch im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ungebrochenen Promotionswanderns ist jedoch – in den Geisteswissenschaften der philosophischen Fakultäten vielleicht eher als in den juristischen Fakultäten – zu beachten, dass dafür über das Motiv der Leichtpromotion hinaus auch andere Gesichtspunkte maßgebend waren: Schwanken in der Studien- und Berufswahl, Individualismus und Streben nach Selbstverwirklichung, fachliche Kompetenz des fremden Doktorvaters, Nonkonformismus und Schwierigkeiten mit den Lehrern des eigenen Studienortes. Die Motive und die damit verknüpften Leistungsniveaus gingen stufenlos ineinander über; das macht den kulturgeschichtlichen ‚Charme‘, aber auch eine gewisse ‚Unprofessionalität‘ ­dieses Wissenschaftsbetriebes aus. Quantitativ lässt sich dies schwer fassen, immerhin aber durch autobiographische Beispiele illustrieren. Eine ganze Reihe dieser Beispiele belegt, dass sich in Leipzig (anders als in Berlin) Freizügigkeit in der Akzeptanz fremder Doktoranden mit fachlicher Reputation aufs schönste verband, so dass eine Promotion an dieser großen Universität tendenziell prestige­trächtiger war als an einer der freizügigen kleinen Universitäten. Dass der Pendel­verkehr ­zwischen Berlin und Leipzig durchaus auch von wissenschaftsorientierten Studenten genutzt wurde, belegen die Memoiren des Altphilologen Wilhelm Erman.80. Erman war seinem Studium in Berlin, Leipzig und dann wieder Berlin nachgegangen und entschloss sich 1872 zur Promotion in Leipzig: „In Berlin und in den meisten anderen preußischen Universitäten war zur Promotion in der philosophischen Fakultät neben der Prüfung in den drei Hauptfächern noch eine ­solche in Philosophie unerlässlich, in Leipzig nicht. Hier genügten Griechisch, Lateinisch und Deutsch. Dieser Umstand, der bei der knappen, für die Vorbereitung noch verfügbaren Zeit schwer ins Gewicht fiel, brachte mich auf den Gedanken, noch einmal nach Leipzig zu gehen und dort zu promovieren. Dazu kam die Möglichkeit, die Doktorarbeit vor ihrer Einreichung in Curtius’ Grammatischer Gesellschaft vorzutragen und, wenn sie seinen Anforderungen genügte, 79 Siehe dazu Anm. 135 mit Text. 80 Wilhelm Erman [1850 – 1932], Erinnerungen, hg. von Hartwig Lohse, Köln 1994, S. 117 – 125.

200

Promotionen und Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert

sie in den von ihm herausgegebenen ‚Studien‘ […] kostenlos drucken zu lassen.“ Die fachlichen Diskussionen mit dem Leipziger Altphilologen Georg Curtius erwiesen sich freilich als mühsam; insbesondere aber geriet das Leipziger Rigorosum zu einem sachlich wie atmosphä­risch schwierigen, auch von Empfindlichkeiten, Misslaune und Willkür der prüfenden Professoren belasteten Unternehmen, das der Kandidat zwar bestand, das ihn aber in seiner emotionalen Betroffenheit zu einer breiten, mit den Prüfern abrechnenden und doch nicht weniger selbstkritischen Schilderung des Prüfungsablaufs in ­seinen Memoiren veranlasste. Im Anschluss ging Erman wieder nach Berlin, um hier das preußische Staatsexamen für den höheren Schuldienst abzulegen. Er fand als abtrünniger ‚Curtianer‘ seine Lehrer ziemlich verstimmt und die Prüfungskommission entgegen dem üblichen Verfahren nicht bereit, seine Dissertation als Examensarbeit anzuerkennen. Hinter der Forderung nach einer neuen Prüfungsarbeit vermutete er – vermutlich zu Recht – „Eifersucht auf die Leipziger Universität, ­welche damals eine große Anziehungskraft auf die Studenten ausübte und die Berliner auch zahlenmäßig überflügelt hatte.“ Da ihm diese Mehrforderung nicht einsichtig und eine Habilitation zu riskant war, ging Erman in den preußischen Museumsdienst. Für die Leipziger Verhältnisse noch um 1865 bezeichnend war das bewegte, aber auch weitaus dilettantischere Studierverhalten des offenkundig begabten thüringischen Geistlichen Human,81 der ab 1863 in Erlangen widerwillig Jurisprudenz, nebenher Theologie und mit größerem Vergnügen orientalische Sprachen trieb. Ein Wechsel nach Leipzig beflügelte sein Arabischstudium, trug ihm die Bekanntschaft des österreichischen Generalkonsuls 82 ein und weckte den Wunsch nach Eintritt in den Konsulardienst der Monar­chie. „Nun ging’s in den nächsten Semestern wieder mit Gewalt an die […] Juristerei. […] Da ich aber nach Ritter von Grüners Erklärung vor Eintritt in den orientalischen Konsulardienst erst noch einen Kursus im Wiener Theresianum absolvieren musste, das eigentlich nur Leuten von Adel offen stand, fiel mir ein, dass der juristische Doktorgrad doch einst dem Adel völlig gleich geachtet, ja, ihm selbst vorgezogen und gesetzlich auch also behandelt worden war. Weil ich aber den juristischen noch nicht erlangen konnte, meinte ich, der philosophische, der jenem doch gleich stehe, müsse es auch tun und ging zu dem Prokanzler Professor Dr. Reinhold Klotz [klassischer Philologe], die Sache mit ihm zu besprechen. Nach schweren Bedenken, weil ich erst im vierten Semester stand, riet er mir mit allem Vorbehalt, mich erst einmal an einer philosophischen Dissertation zu versuchen, im Falle des Gelingens wolle er dann in Anbetracht der besonderen Verhältnisse sein Möglichstes gerne tun.“ Auf der Grundlage Erlanger Studien fertigte Human in kurzer Zeit eine Arbeit über Spinozas Verhältnis zur Kabbala an: „Die Dissertation 81 Armin Human [1843 – 1923], Lebenserinnerungen aus der Zeit von 1843 bis 1920, Hildburghausen 1920, S. 34 ff. 82 Es handelte sich um den bekannten Joseph Ritter von Grüner, seit der Metternichzeit eine Schlüsselfigur der Wahrnehmung österreichischer Interessen v. a. in Zoll- und Wirtschaftsangelegenheiten.

Das Promotionsverhalten in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive

201

fand den Beifall der Fakultät.“ Nach einem in Latein absolvierten Rigorosum wurde er im April 1865 zum Dr. phil. promoviert. Der Eintritt in österreichische Dienste wurde ihm freilich mit der Trennung von 1866 verwehrt; er gab das Jurastudium zugunsten der Theologie auf, absolvierte noch 1866 das erste theologische Examen in Halle und ging in den Pfarrdienst Meiningens. Nur wenige Jahre s­ päter, 1869, vollzog die Leipziger Philosophische Fakultät an dem jungen Nietzsche eine Art Notpromotion, um ihm die Annahme des Rufes nach Basel zu ermöglichen. Schon zuvor hatte der hochbegabte 24-jährige Altphilologe eine recht selbstüberhebliche Einstellung zu Prüfungsverfahren an den Tag gelegt, als er 1868 einem Freund schrieb: „Hier nun ist zu erwähnen, dass ich beabsichtige, bis Ostern mich hier aller Habilitationsscherereien zu entledigen und zugleich bei dieser Gelegenheit zu promovieren. Dies ist erlaubt: einen speziellen Dispens brauche ich nur, insofern ich noch nicht das übliche quinquennium hinter mir habe.“ Nach Einlangen des durch den älteren Leipziger klassischen Philologen Ritschl vermittelten Rufes entschied (nach dem Bericht der Schwester Elisabeth 83) die Fakultät, „dass die Schriften, die er bis dahin geschrieben und im Rheinischen Museum veröffentlicht hatte, vollständig zur Erlangung der Doktor­ würde ausreichten, und dass auch eine mündliche Prüfung unnötig sei; scherzhaft hatte einer der Professoren gemeint: ‚sie könnten doch keinen Kollegen examinieren‘. All dies wurde ihm mit allen Nebenumständen durch Ritschl mitgeteilt. Am 23. März 1869 wurde meinem Bruder ohne Prüfung und Disputation das Doktordiplom ausgestellt.“ Ein Beispiel für freizügiges Studieren im deutschen Kulturraum vor besitzbürgerlichem Hintergrund bietet der Braunschweiger Jurist und Kunsthistoriker Wilhelm Bode,84 der nach pflichtgemäßer Ableistung eines Göttinger Jurastudiums und der zweiten Staatsprüfung in Braunschweig ein privates kunsthistorisches Studium begann, das ihn ab 1867 durch die europäischen Galerien und zu mehrjährigen Aufenthalten in München und vor allem Wien führte. Hier verkehrte er intensiv in einschlägigen wissenschaftlich-künstlerischen Kreisen, ohne immatrikuliert zu sein. 1870 „glaubte [ich] mein Studium so weit gefördert zu haben, dass ich meine Doktorarbeit über ‚Frans Hals und seine Schule‘ ausarbeitete und der Universität Leipzig vorlegte, mit der Bitte für den Fall der Annahme, mich womöglich vor den Weihnachtstagen zum mündlichen Examen zuzulassen. Ich wählte Leipzig, weil ich dort dank einem Familien-Stipendium […] den Doktor ohne Kosten machen konnte. Meine Arbeit wurde angenommen und auch das Mündliche rasch absolviert, obgleich unter eigentümlichen Verhältnissen.“ Ein Professor der Kunstgeschichte war in Leipzig nicht vorhanden, so dass ein Privatdozent prüfen musste, der aber vom Rektor im Vorhinein gesprächsweise für fachlich inkompetent erklärt wurde. Die Nebenfachprüfer überboten sich in Skurrilitäten; Bodes Schilderung des Prüfungsablaufs 83 Elisabeth Förster-Nietzsche, Der junge Nietzsche, Leipzig 1912, S. 215 ff. (Selbstzeugnisse.) 84 Wilhelm von Bode [1845 – 1929, Adel 1914], Mein Leben, 2 Bde., Berlin 1930, Bd. 1, S. 23 – 37. (Nieder­ schrift 1907.)

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Promotionen und Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert

gerät dementsprechend zur Groteske. „Schließlich war das Resultat doch ein gutes und ich konnte mein Diplom meinen Eltern […] schon auf dem Weihnachtstisch aufbauen.“ Zwei Jahrzehnte ­später waren die Hürden für den Erwerb des begehrten deutschen Doktortitels auch in Leipzig erhöht worden, wie sich an den Memoiren des deutsch-­ baltischen Kunsthistorikers Oskar Wulff 85 zeigt. Dieser hatte nach Studium in Dorpat und Berlin an seiner Heimatuniversität Dorpat 1888 eine Magisterdissertation eingereicht, das zugehörige Examen bestanden und nach Drucklegung 1892 die Magisterpromotion „als eine der letzten in lateinischer Sprache“ erlangt. Eine Habilitation schlug er aus nationalen Motiven aus, da er die Vorbedingung einer russischen Doktorpromotion nicht erfüllen wollte.86 So zog es ihn nach Deutschland: „Zwei bis drei Semester konnten vielleicht zur Erwerbung des Doktorgrades genügen, zumal ich meine Magisterschrift als Dissertation anerkannt zu sehen hoffte.“ Nach einschlägiger Beratung „entschied ich mich für Leipzig […].“ Die dortige Fakultät wollte aber von der Forderung einer eigenen Dissertation nicht abgehen. So promovierte Wulff nach mühsamer Themensuche und ­Prüferwechsel Ende 1893 mit einer ikonographischen Untersuchung zur Renaissance. „Fast zwei Jahre hatte mich das zweite Studium gekostet und mich erst kurz vor Vollendung des 30. Lebensjahres zum Ziel geführt.“ Nach vielen Jahren wechselnder Forschungs- und Museumstätigkeit in russischen und preußischen Diensten gelang Wulff schließlich 1902 in Berlin die Habilitation als Einstieg in eine späte Universitätskarriere. Die Beispiele des ‚gehobenen‘ (d. h. nicht dem minimalistischen Titelerwerb dienenden) Promotionswanderns zeigen, dass sich in der freizügigen Promotionspraxis auch ein Feld für Individualisten bot, die sich den etablierten ‚Schulen‘ des universitären Wissenschaftsbetriebes entzogen oder zu ihnen keinen Zugang fanden, aber auf ­solche Weise gleichwohl ihre Chance hatten. Freilich waren ihnen typischerweise damit zugleich Universitätskarrieren versperrt oder doch sehr erschwert. Darüber hinaus hielt ein solches System Freiräume für emotional universitätsferne Außenseiter wie auch Ausweichmöglichkeiten für politische Nonkonformisten bereit. Dem Phänomen der Translokation von Nonkonformisten für den Titelerwerb waren wir schon bei den Juristen begegnet.87 Im gesellschaftswissenschaftlichen Bereich hat der Fall des sozialdemokratischen Publizisten und Historikers Gustav Mayer Bekanntheit erlangt. Er selbst hat die Umwege seiner Promotion in der Nationalökonomie (damals überwiegend noch in den philosophischen Fakultäten beheimatet) in seinen Erinnerungen 88 beschrieben; diese Schilderungen gewähren zugleich gewisse Einblicke in den unterschwelligen universitären Antisemitismus wie in das Netzwerk jüdischer 85 Oskar Wulff [1864 – 1946], Lebenswege und Forschungsziele, Baden/Wien 1936, S. 21 – 85 passim. 86 Der kulturpolitische Russifizierungsdruck dieser Zeit spielt in den Memoiren der Deutsch-Balten aus deutscher Abwehrperspektive eine erhebliche Rolle und wird auch bei Wulff breit behandelt. 87 Radbruch, Weg [Anm. 32] und Hiller, Leben [Anm. 33, jeweils mit Text]. 88 Gustav Mayer [1871 – 1948], Erinnerungen. Vom Journalisten zum Historiker der deutschen Arbeiter­ bewegung, München 1949, S. 50 – 68. (Mayer starb als Emigrant in England.)

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Universitätsprofessoren. Mayer hatte sich nach einem Studium in Berlin 1891 nach Freiburg begeben, um über die Geschichte des Sozialismus zu promovieren, und ließ sich von dem Privatdozenten Georg Adler das Thema ‚Lassalle als Sozialökonom‘ geben. Adler hatte Einschlägiges veröffentlicht, hatte aber keine Promotionsberechtigung. Der Ordinarius Eugen von Philippovich stand dem Thema fern, nahm Mayer aber in sein Seminar auf und begleitete die Arbeit an der Dissertation. „Die Aufnahme, die meine Person wie meine Arbeiten bei dem Ordinarius fanden, schienen mir die Gewissheit zu geben, dass meine Promotion einen glatten Verlauf nehmen würde. Umso unliebsamer war ich überrascht, als Philippovich mich eines Tages zu sich bestellte und kategorisch ablehnte, das Adler-Ei auszubrüten. Es war jetzt ­zwischen den beiden zum völligen Bruch gekommen […].“ Adler, der seine Berufung nach Basel betrieb, schickte seinen Schüler zunächst zu Wilhelm Lexis nach Göttingen. Diesem „gefiel“ die Dissertation; gleichwohl empfahl er den Kandidaten seinem benachbarten Fachkollegen Gustav Cohn weiter, den Mayer seinen Eltern ironisch so beschrieb: „Er ist verhältnismäßig gut getauft und vom Parvenütum weit, weit ferner schon als Adler.“ Cohn nahm ihn in sein Seminar auf, meinte aber schließlich, „ich wäre eigentlich zu jung, um mit einer fertigen Dissertation angereist zu kommen; es wäre doch viel richtiger, ich bliebe in Göttingen längere Zeit und verfasste unter seiner Aufsicht eine neue Dissertation.“ Als Thema schlug er austra­lische Eisenbahnpolitik vor. „Doch ich interessierte mich weit mehr für Sozialismus als für australische Eisenbahnen. Außerdem waren die drei Jahre abgelaufen, die mir als Studienzeit zugedacht waren und nach denen ich in die Buchhandlung meines Onkels eintreten sollte mit der Aussicht, diese ­später zu übernehmen.“ Inzwischen war Adler als Extraordinarius nach Basel berufen worden und eröffnete ihm die Möglichkeit, dort ohne weitere Immatrikulation zu promovieren. Mayer hat das Rigorosum vom November 1893, auf das er sich als Lehrling in der Berliner Buchhandlung vorbereitete, ausführlich geschildert. „Nach einer fast dreistündigen Prüfung, die ich mir leichter vorgestellt hatte, erfuhr ich, dass ich den Doktor der Philosophie magna cum laude bestanden hätte. […] Fünfzig Jahre ­später bereitete mir die Basler philosophische Fakultät eine besondere Freude, als sie zur Zeit der Nazityrannei dem deutschen Juden im Exil sein Diplom in dem üblichen ehrwürdigen Latein erneuerte und ihm dabei bescheinigte, dass er bei seiner Wirksamkeit im öffentlichen Leben seines Vaterlandes immer eine humane Gesinnung bekundet habe.“ Mayer wurde Journalist und freischaffender Historiker der Arbeiterbewegung; erst nach dem E ­ rsten Weltkrieg erhielt er dafür in Berlin 1919 eine Professur. Bei allen persönlichen Hürden macht der Vorgang doch auch anschaulich, dass das von den Promotionsreformern 89 aus Qualitätsgesichtspunkten perhorreszierte Promotionswandern unter den Bedingungen der dezentralen Vielfalt der deutschsprachigen Universitätslandschaft wichtige Möglichkeiten bereithielt, systemkritische Nonkonformisten in 89 Vgl. unten Abschnitt 4 (Reform).

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die bildungsbürgerliche Sphäre zu integrieren. Er verrät dabei implizit zugleich, wie sehr solchen Nonkonformisten an einem derartigen akademischen Statussymbol gelegen war. Dass auch das konservativere universitäre Establishment Berlins gegenüber einem qualifizierten Außenseiter Toleranz walten ließ und diese Elastizität des Systems zu ­nutzen verstand, zeigt der Fall des Soziologen und Sozialreformers Franz ­Oppenheimer.90 ­Oppenheimer hatte zunächst in Berlin Medizin studiert und 1885 mit Staatsexamen und Promotion abgeschlossen,91 sich dann neben seiner Arztpraxis in der Gesellschaft für soziale Reform betätigt und als Autor sozialreformerischer Schriften hervorgetan. Vor ­diesem Hintergrund „liebäugelte ich […] verhältnismäßig früh mit dem Gedanken, mich als Privatdozent für Nationalökonomie und Soziologie zu habilitieren.“ Max Sering, mit dem er deswegen 1908 Fühlung aufnahm, lehnte ab: „[…] ich sei doch eher ein ‚Schriftsteller‘ als ein Gelehrter. Die Verständnislosigkeit, die ein Spezialist […] dem Synthetiker, dem Universalisten entgegenbringt, trat mir hier zum erstenmal in ihrer vollen Kraft vor Augen.“ Durch weitere Vermittlung erklärten sich Gustav S­ chmoller und Adolf Wagner, die Oppenheimer in seinen Publikationen fachlich angegriffen hatte, zu seiner Habilitation bereit. „Es ist mir ein Herzensbedürfnis, den beiden großen Forschern hier noch einmal vor aller Öffentlichkeit meinen Dank für ihre großzügige Haltung auszusprechen“, kommentierte er rückblickend.92 Allerdings erklärte Schmoller eine Habilitation in der Berliner Philosophischen Fakultät ohne den vorhergehenden Erwerb eines philosophischen Doktorgrades für nicht möglich. „[…] ich wusste, dass einige Universitäten Männern von wissenschaftlicher Leistung den Doktorgrad auch ohne diese Formalitäten [Examen] verleihen durften, wandte mich mit einer Anfrage an den mir aus manchem gemeinschaftlichen Kampf bekannten Lujo Brentano [München] – und erhielt eine prompte Absage. […] Meine schon veröffentlichten Werke hätten vollauf als Unterlage für mein Habilitationsgesuch ausgereicht. Aber ich hatte den Ehrgeiz, meiner Universität ein neues Buch mit einzubringen.“ Er verfasste dann in wenigen Monaten eine Arbeit über Ricardos ­Theorie der Grundrente, die von Adolf Wagner als ausgezeichnet bewertet wurde: „‚Sie haben eben einen jüdischen Kopf.‘ […].“ „Ich hatte inzwischen Umschau gehalten, wo ich am besten die lästige Formalität des philosophischen Doktorgrades erledigen könnte. Schmoller hatte mir von Berlin abgeraten; es sei besser, wenn die Fakultät sich nicht zweimal mit mir zu beschäftigen haben würde 90 Franz Oppenheimer, Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes. Lebenserinnerungen, 2. Aufl., Düsseldorf 1964 [zuerst 1931], S. 84 ff., 202 ff. [Oppenheimer, 1864 – 1943, starb als Emigrant in Los Angeles.] 91 Die humoristische Schilderung dieser Prüfungen breitet unglaubliche Skurrilitäten der prüfenden Professoren aus; Oppenheimer, Erlebtes [Anm. 90], S. 84 ff. 92 „Schmoller war geistig mein vollkommener Antipode, als Historiker gegenüber dem ­Theoretiker, als Konservativer gegenüber dem entschiedenen Sozialisten. Er begegnete mir immer mit der äußersten Liebenswürdigkeit, aber ich fühlte doch durch, dass ich für ihn recht eigentlich ein Exemplar einer merkwürdigen zoologischen Spezies darstellte.“ (Oppenheimer, Erlebtes [Anm. 90], S. 204.)

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[!], und riet mir andererseits, eine preußische Universität zu wählen.“ Die Wahl fiel der bequemen Nebenfächer halber auf Kiel, wo Oppenheimer 1909 als Fünfundvierzig­ jähriger „summa cum laude“ zum Dr. phil. promoviert wurde, nicht ohne partiell „wie ein junger Student“ examiniert worden zu sein. „Gleich darauf wurde ich in Berlin ohne jede Schwierigkeit zur Habilitation zugelassen und hielt bereits im Sommersemester desselben Jahres meine erste […] Vorlesung.“ Franz Oppenheimer blieb als Hochschullehrer in das Universitätssystem integriert; er ist zudem eher als Sozialreformer denn als Sozialist einzustufen. Dies lenkt auf die im Rahmen unseres Themas relevante Spezialfrage, wie sich die studierende marxistische Intelligenz aus besitz- und bildungsbürgerlichem Hause zum etablierten Universitäts­ system und zum Doktortitel als bildungsbürgerlichem Statussymbol verhielt. Die radikalen Jünger Hegels der Vormärzzeit bewegten sich selbstverständlich im Universitätsmilieu, wenn es auch nur Marx zur Promotion in absentia brachte. Lassalle wurde das Abitur verwehrt; er studierte gleichwohl in Breslau und Berlin in den 1840er Jahren Philosophie und verfasste eine Aufsehen erregende Arbeit über Heraklit, ohne damit promovieren oder gar sich habilitieren zu können. Wilhelm Liebknecht, aus einer hessischen Theologen- und Beamtenfamilie stammend, studierte zur gleichen Zeit klassische Philologie und Philosophie, brach sein Studium jedoch 1847 ab und widmete sein Leben seit der Revolution von 1848/49, auch durch Exil bedingt, der Sache der sozialistischen Bewegung. In der nachfolgenden Generation blieben charakteristischerweise die Austromarxisten am deutlichsten dem bildungsbürgerlichen Verhaltensschema verhaftet. Adolf Braun (1862 – 1929) studierte von 1884 bis 1886 in Freiburg und Basel, den notorischen Wirkungsstätten sozialreformerischer Professoren, Nationalökonomie. Nebenher beteiligte er sich als österreichisches Parteimitglied konspirativ am Drucksachenschmuggel in der Phase des Sozialistengesetzes. Er promovierte 1888 bei Philippovich in Freiburg mit statistischen Erhebungen zur ungarischen Heimindustrie.93 Sein älterer Bruder Heinrich (1854 – 1927) studierte Nationalökonomie in Straßburg, Berlin und Halle und promovierte in Halle 1880. Ein Habilitationsversuch scheiterte dort an seiner Parteizugehörigkeit in Verbindung mit seiner jüdischen Konfession.94 Der einer weniger begüterten Prag-Wiener jüdischen Familie entstammende Karl Kautsky (1854 – 1938) studierte ab 1874 in Wien Jura ohne Abschluss; ein Versuch, bei Ernst Haeckel [!] zu promovieren, scheiterte am Widerstand der Jenenser Fakultät. Sein früh in der Partei sozialisierter Sohn ­Benedikt Kautsky (1894 – 1960) promovierte 1920 in Berlin zum Dr. phil. Der einer reichen Familie entstammende Otto Bauer (1881 – 1938) lebte in Wien als freier Schriftsteller für den Sozialismus; er studierte nebenher an der Wiener Universität und schloss mit einer Promotion zum 93 Peter Fasel, Dr. Adolf Braun (1862 – 1929). Grundriss zu einer politischen Biographie, Diss. Würzburg 1990, S. 8 ff., 222 ff. 94 Julie Braun-Vogelstein, Heinrich Braun. Ein Leben für den Sozialismus, Stuttgart 21967. (Zuerst u. d. T. Ein Menschenleben. Heinrich Braun und sein Schicksal, 1932.)

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Dr. phil. ab. Der spätere Wiener Soziologe und Theoretiker des Sozialismus Max Adler (1873 – 1937) betätigte sich nach Jurastudium und Promotion seit 1896 in Wien als Rechtsanwalt; erst 1920 erfolgten Habilitation und Berufung. Rudolf Hilferding (1877 – 1941) war, wie der eine Generation ältere Viktor Adler (1852 – 1918), niedergelassener Arzt in Wien, bevor in Deutschland seine Karriere als Parteitheoretiker begann. Der aus bescheidenden Verhältnissen stammende Karl Renner (1870 – 1950) studierte neben frühen Parteiaktivitäten in Wien Jura, jedoch ohne Abschluss. Im Sinne unseres Themas besonders aufschlussreich ist die Universitätskarriere der radikalen Sozialistin Rosa Luxemburg (1871 – 1919, ermordet): Die Tochter polnischjüdischer Geschäftsleute studierte nach ihrer Emigration in Zürich ab 1889, von ihren politischen Aktivitäten vielfach unterbrochen, Nationalökonomie und Geschichte; am Ende promovierte sie jedoch im Jahr 1897 mit einer Arbeit zur industriellen Entwicklung Polens zum Dr. jur. publ. et rer. cam. Die originär reichsdeutschen führenden Sozialisten der Kaiserzeit waren zumeist universitätsfern aufgewachsen, das galt sogar für den führenden revisionistischen Theoretiker Eduard Bernstein (1850 – 1932). Der Parteihistoriker Franz Mehring (1846 – 1919) stieß erst 1891 zur SPD. Er hatte sich nach Studium der Altphilologie (ohne Abschluss) zunächst journalistisch im demokratischen Spektrum bewegt. Über Gustav Mayer wurde schon gesprochen. Jüngere Journalisten wie Kurt Eisner (1867 – 1919, ermordet) oder Rudolf Breitscheid (1874 – 1944, zunächst Naumann-Anhänger) waren Studienabbrecher. Die Söhne Wilhelm Liebknechts (1826 – 1900), Theodor (1870 – 1948) und Karl (1871 – 1919, ermordet), waren Volljuristen und niedergelassene Rechtsanwälte in Berlin, hierbei wesentlich auch im Dienste der Partei tätig. Karl Liebknecht hatte nach Studium in Leipzig und Berlin und nach bestandenem ersten Examen 1897 in Würzburg zum Dr. jur. et rer. pol. promoviert, er war damit ein typischer Vertreter der juristischen Ausweich­ promotion zum leichteren Titelerwerb. Ähnlich der Fabrikantensohn und Sozialist Paul Levi (1883 – 1930), ebenfalls Rechtsanwalt, der 1905 nach Jurastudium und Staatsexamen in Berlin während des Referendariats in Heidelberg promovierte. Die aufgeführten Beispiele zeigen, dass die intellektuellen sozialistischen Parteimitglieder der Zeit des Kaiserreichs sich durchaus nicht von den hergebrachten Mustern bürgerlichen Studierverhaltens lösten und insbesondere den Doktortitel als Symbol ihrer akademischen Vollwertigkeit, sofern ein Studienabschluss erreichbar war, nicht verschmähten. Doch bedürfte es – in Ermangelung von Autobiographien – eingehenderer Untersuchungen der erreichbaren persönlichen Quellen, um über diesen äußerlichen Befund hinaus Einblicke in die subjektiven Bewertungen von Studium und Promotion zu gewinnen.95

95 Die vorstehenden biographischen Hinweise zu den Sozialisten sind einschlägigen biographischen Lexika entnommen.

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In eine gänzlich andere Sphäre führt die Gruppe der unpolitischen Einzelgänger, die zwar studierten, jedoch andere Neigungsschwerpunkte hatten und zum Studium ein eher nachlässiges, zum Universitätssystem ein distanziertes Verhältnis pflegten, auf einen sichtbaren Studienabschluss gleichwohl aus Gründen der Reputation nicht verzichten mochten. Ein Beispiel hierfür ist der bekannte Reformpädagoge und Begründer der nach ihm benannten Landschulheime Hermann Lietz,96 der sein Studium (ab 1888) zwar als „Erlösung nach der Enge der Schulzeit“ empfand, sich der Theologie in Halle und Jena und der Aussicht auf ein Pfarramt aber zunehmend entfremdete und seine Arbeitskraft auf die Bewirtschaftung des väterlichen Gutes verwendete. „Aber die Hochschule als ‚verbummelter Student‘ verlassen? Einen ehrenvollen wissenschaftlichen Abschluss der Arbeit wollte ich unter allen Umständen durchsetzen. […] In der inneren Ungewissheit über den künftigen Beruf […] beschloss [ich], zuerst einmal schnell die Studien abzuschließen. Dabei entschied ich mich für die philosophische Doktorprüfung. Für eine andere hatte ich in Jena noch nicht die vorgeschriebene Semesterzahl.“ Im Frühjahr wandte er sich an den von ihm verehrten Philosophen Rudolf Eucken. „Ich müsse aber in ­diesem einen Semester noch fertig werden. […] Das Sommersemester umfasste aber kaum drei Monate. Noch wusste ich durchaus nicht, worüber ich arbeiten wollte, hatte auch nichts vorbereitet. So hätten mich die meisten an Euckens Stelle wohl abgewiesen. Doch ihm lag alles Pedantische und Ängstliche fern.“ Man einigte sich auf den Arbeitstitel „Der Begriff der Gesellschaft bei Auguste Comte“. Lietz warf sich mit Energie auf das Thema. „In wenigen Tagen war da meine Abhandlung (Dissertation) fertig und bald darauf angenommen. Auch in der mündlichen Prüfung ging es mir gut.“ Nach der Promotion „magna cum laude“ war die Frage des Berufs weiterhin offen. „Universitätslehrer zu werden, wozu mich mancher antrieb, lockte mich nicht.“ Auf dringenden Rat hin machte er doch das erste theologische Examen im Wintersemester 1891/92, ohne ein Pfarramt anzustreben, kam dann mit reformpädagogischen Strömungen in Berührung und entdeckte die Möglichkeit, Landwirtschaft und Jugenderziehung miteinander zu verbinden. „An den Beruf eines staatlich angestellten Oberlehrers dachte ich dabei niemals. Der war mir durch die eigene Schulzeit für immer gründlich verleidet worden. […] So beschloss ich denn die erste äußere Vorbedingung für den Lehrerberuf zu erfüllen und die Oberlehrerprüfung zu bestehen. Mit dem Schluss des neunten Semesters ein halbes Jahr nach dem theologischen, ein Jahr nach dem Doktorexamen gelang es mir unschwer. Ich erwarb die Lehrbefähigung für alle Klassen in Philosophie, Deutsch, Religion und Hebräisch.“ Bei aller Abneigung gegen institutionalisierte Laufbahnen schuf der sehr selbstbewusste Individualist doch umsichtig die Voraussetzungen für seine spätere Tätigkeit, wobei dem Geltungsnutzen des Doktortitels zweifellos eine wichtige Rolle zukam.

96 Hermann Lietz [1868 – 1919], Von Leben und Arbeit eines deutschen Erziehers, hg. von Erich Meißner, 3. Aufl., Veckenstedt 1922, S. 62 – 7 1.

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Ähnlich der Fall des intellektuell sehr eigenständigen ‚freischaffenden‘ Theologen Johannes Müller,97 der sich nach intensivem theologisch-philosophischem Studium und erstem theologischen Examen 1890 seinen Wunsch nach einem raschen Titel in Leipzig an der Philosophischen Fakultät erfüllte. Er nahm eine Sekretärstätigkeit im Zentralverein für Mission unter Israel auf und schrieb nebenher eine Arbeit über Spinoza. „So wurde ich Doktor der Philosophie. Diesen Titel konnte ich s­ päter sehr gut brauchen, um meine akademische Herkunft auszuweisen [!]. Aber auch Professor Delitzsch war sehr befriedigt, dass der Sekretär des Zentralvereins den Doktortitel hatte.“ Der nachfolgende Versuch, in Leipzig das Lizentiat zu erwerben und Universitätstheologe zu werden, scheiterte bezeichnenderweise. Hernach war Müller breit gestreut in evangelischen Vereinigungen der Mission und Erwachsenenbildung tätig. Für die unkonventionelle Weise des Fakultätswechsels zum raschen Titelerwerb waren die Leipziger wie (im Falle von Lietz) die Jenenser Verhältnisse charakteristisch; an den großen preußischen Universitäten wäre dergleichen kaum möglich gewesen. Gründe der Reputation bestimmten gern auch freizügig studierende und kulturellen Neigungen nachgehende Dichter, ein zielloses Studium wenigstens mit einer Promotion zu beenden. Ein anschauliches Beispiel dazu bieten die Erinnerungen des Münchner und Berliner ‚Studenten‘ Max Halbe 98 zu seiner Promotion von 1888 in München. „Für den älteren Studenten, der ich allmählich geworden war, sollte nun doch der ‚Ernst des Lebens‘ beginnen. Es war wohl auch zu Erörterungen im Schoß meiner Familie gekommen […]. Verwandte, Freunde, Nachbarn […] stichelten im geheimen oder drängten sich mit offenen Fragen an meine Eltern heran, was denn eigentlich aus ihrem Sohn geworden sei, der einmal zu so großen Hoffnungen berechtigt habe […] Und dieser Sohn war in sich gegangen und hatte beschlossen, dem grausamen Spiel sobald wie möglich ein Ende zu machen. Ein Doktor-Examen in der Geschichte sollte es werden.“ Halbe ließ sich von dem Berliner Kirchenhistoriker Löwenfeld privatim in die Methoden historischer Quellenforschung einweisen, entdeckte dabei Friedrichs II. Verhältnis zum Papsttum als lohnendes Thema und wurde, so ausgerüstet, von Löwenfeld an Hermann Grauert in München empfohlen. Dort geriet Halbe (als eigentlich liberal Gesinnter) mit seinem kulturkampfverdächtigen Thema in die weltanschaulichen Grabenkämpfe von ‚klerikaler‘ (Grauert) und ‚liberaler‘ (Heigel) Historikerpartei, die er sehr anschaulich und humorvoll schildert. Nach drei Semestern ernsthafter Arbeit an der Dissertation erreichte er, dass auch Heigel das „Opusculum“ passieren ließ, und promovierte (bei defizitären Rigorosumsleistungen) im Mai 1888 „magna cum laude“ mit feierlicher Promotion Ende Juli. Er wurde „als glücklich ans Ziel gelangter junger Doktor der Philosophie“ im Elternhaus „nach den vielen Enttäuschungen sehr herzlich aufgenommen. Es war doch endlich ein Resultat!“ 97 Johannes Müller [1864 – 1949], Vom Geheimnis des Lebens. Erinnerungen, Berlin 1937, S. 92 ff. 98 Max Halbe [1865 – 1944], Scholle und Schicksal. Die Geschichte meiner Jugend, 2. Aufl., Salzburg 1943 [zuerst 1933], S. 325 ff.

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Man wird bei Halbe das familiäre und persönliche Reputationsbedürfnis als entscheidendes Motiv seiner Promotion ansehen, zugleich aber feststellen, dass dem hier doch immerhin mit einer achtbaren universitären Leistung entsprochen wurde. Bei Stefan Zweig 99 präsentiert sich das g­ leiche Reputationsmotiv bei blasierter Verweige­ rungshaltung weitaus sarkastischer. „Dass ich an der Universität studieren sollte, war im Rate der Familie von je beschlossen gewesen. Aber für w ­ elche Fakultät mich entscheiden? Meine Eltern ließen mir die Wahl vollkommen frei. Mein älterer Bruder war bereits in das väterliche Industrieunternehmen eingetreten, demgemäß lag für den zweiten Sohn keinerlei Eile vor. Es handelte sich schließlich doch nur darum, der Familienehre einen Doktortitel zu sichern, gleichgültig w ­ elchen. Und sonderbarerweise war die Wahl mir ebenso gleichgültig. An sich interessierte mich, der ich meine Seele längst der Literatur verschrieben, keine einzige der fachmäßig dozierten Wissenschaften, ich hatte sogar ein geheimes, noch heute nicht verschwundenes Misstrauen gegen jeden akademischen Betrieb. […] So praktisch, handlich und heilsam der akademische Betrieb für die Durchschnittsbegabung sein mag, so entbehrlich scheint er mir für individuell produktive Naturen […]. So wurde das eigentliche Kriterium meiner Wahl nicht, welches Fach mich am meisten innerlich beschäftigen würde, sondern im Gegenteil, welches mich am wenigsten innerlich beschweren und mir das Maximum an Zeit und Freiheit für meine eigentliche Leidenschaft verstatten könnte. Ich entschloss mich schließlich für Philosophie.“ 100 Nach einigen Jahren urbaner literarischer und journalistischer Tätigkeit dann: „Aber nun war es eigentlich Zeit, mich zu erinnern, dass ich noch eine andere Verpflichtung übernommen hatte […]. Ich hatte endlich meine Universitätskarriere abzuschließen und den philosophischen Doktorhut heimzubringen. Jetzt hieß es, in ein paar Monaten den ganzen scholastischen Stoff aufzuarbeiten, an dem die solideren Studenten fast vier Jahre gewürgt; mit Kolbenheyer […] büffelte ich die Nächte durch. Aber man machte mir die Prüfung nicht schwer. Der gütige Professor, der aus meiner öffentlichen literarischen Tätigkeit zu viel von mir wusste, um mich mit Kleinkram zu vexieren, […] führte mich dann in der Tat sacht auf die Gebiete, in denen er mich sicher wusste. Es war das erste Mal, dass ich eine Prüfung mit Auszeichnung bestand und, wie ich hoffe, auch das letzte Mal. Nun war ich äußerlich frei […].“ Die Stilisierung des Titelerwerbs ausschließlich aus dem Gehorsamsmotiv gegenüber der Familie mit ihrem lächerlichen Prestigebedürfnis ist kaum glaubhaft; auch ihm selbst wird der Titel nicht gleichgültig gewesen

99 Stefan Zweig [1881 – 1942], Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers (1942), Frankfurt 1962, S. 95 ff., 121. (Freitod im Exil/Brasilien.) 100 Damit verband Zweig eine scharfsichtige Beschreibung der Wiener studentischen Verhältnisse mit ihrem rüden Korporationswesen sowie eine abwertende Charakteristik des Wissenschaftsbetriebes der in Traditionalismus verharrenden und zurückgebliebenen Universität – Letztere eine aufs Ganze gesehen kenntnislose Verzeichnung.

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sein. In jedem Fall ist die Mischung aus Ambivalenz und Zynismus gegenüber dem bildungsbürgerlichen Leitsymbol bei Zweig ins Extrem getrieben. Das Gegenmodell zum Promotionswandern wie zu den Promotionen universitärer Außenseiter stellt die gleichsam klassische Loco-Promotion dar: eine wissenschaftliche Leistung als Ergebnis der lehrerorientierten Arbeit im Seminar und im Rahmen einer Universitätskarriere. In eine s­ olche Perspektive pflegten erfolgreiche Ordinarien, nicht anders als in der Medizin, in der Rückschau Promotion und Habilitation zu rücken. Immerhin 15 der untersuchten 60 Autobiographien folgten ­diesem glatten Muster. Dabei ergeben sich zur Medizin bezeichnende, in der jeweiligen Kultur der Fächer liegende Unterschiede: Neben der Dissertation, die in den Buch- und Textwissenschaften als literarisches und oft umfangreicheres Produkt gewertet wurde, kam dem Rigorosum als einziger Abschlussprüfung sachlich und auch als Erlebnis ein weit größeres Gewicht zu. (Staatsexamina wurden in dieser Studentengruppe kaum abgelegt.) Ebenso wurde die feierliche Promotion deutlich positiver konnotiert. Ein vormärzliches Beispiel eines leistungs- und sehr früh auch forschungsorientierten Fachstudiums bietet etwa der Historiker Julius Ficker,101 der schon während seiner Bonner Studienzeit in engem Kontakt zu Friedrich Böhmer Reisen zur Quellensuche und Quellenforschung unternahm und 1849 dreiundzwanzigjährig zwei Monographien – das eine die Dissertation – zur staufischen Geschichte vorlegte. Die Bewertung der Dissertation veranlasste seine Bonner Lehrer zu der Aufforderung, die Erteilung der Venia Legendi gleich mit zu beantragen, was unter Erschwerung des Examens möglich war. Ficker nahm die Prüfungen bei großem Lerneifer überaus ernst, empfand sie zugleich quälend, weil sie von fruchtbarer Arbeit ablenkten. „Es ist ein allen Lebensmut tötender Zustand, für einige Zeit sogar jedem tieferen Nachsinnen entsagen zu müssen […].“ Das anspruchsvolle Turnier der Bonner Promotion ‚pro venia legendi‘ mit Magisterexamen, Doktorexamen und feierlicher Disputation wurde von Ficker, nicht zuletzt dank der als ausgezeichnet bewerteten Dissertation, mit „eximia cum laude“ bestanden. „So wäre ich denn mit einem bedeutenden Abschnitt meines Lebens zum Abschluss gekommen; das glücklich bestandene Examen, der Doktortitel und die facultas docendi, der gedruckt vorliegende Rainald, dem die Dissertation bald folgen wird, sind die äußeren Früchte.“ Als wichtigste innere Frucht empfand er, frei zu sein für weitere selbstständige wissenschaftliche Arbeit; die nächsten Projekte lagen schon im Visier. „Ein Übergang vom Studenten zum Philister findet kaum bei mir statt.“ Die Berliner Promotion des Historikers Kurt Breysig 102 von 1890, in gänzlich anderem Epochen-, Schulen- und Themenzusammenhang stehend, führt gleichwohl auf dasselbe 101 J. Jung, Julius Ficker (1826 – 1902), Innsbruck 1907, S. 80 ff. (Ausführliche Briefzitate; eine Autobiographie liegt nicht vor.) 102 Kurt Breysig [1866 – 1940], Aus meinen Tagen und Träumen, hg. von Michael Landmann, Berlin 1962, S. 20 ff.

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Grundmuster eines forschungsorientierten Studiums bei anspruchsvollen Lehrern (hier Schmoller), einer frühen Einübung in wissenschaftliche Produktion und einer ausgereiften Dissertationsleistung mit strengen Abschlussprüfungen zurück. Ähnlich wie bei Ficker auch hier der große Respekt vor dem Rigorosum und die Abneigung gegen eine Examensbüffelei, die zwar nötig, aber fruchtbarer Arbeit abträglich war.103 Auch für ­Breysig war die Promotion Durchgang im Rahmen institutionell abgesicherter dauerhafter Forschungstätigkeit. Dasselbe Muster findet sich – in soziokulturell eleganterem Umfeld und bei großer persönlicher Verschiedenheit des Schreibers – in Karl Alexander von Müllers Schilderung seiner Münchener Promotion in Geschichte von 1908.104 Anders die Bonner Promotion des späteren Nationalökonomen Karl Bücher 105 von 1870 in Alter Geschichte, die erneut auf das wissenssoziologische Problem der Integra­ tion von Nationalökonomie in die traditionelle Fakultätslandschaft verweist. Bücher kam aus bescheidenen ländlichen Verhältnissen und studierte unter Entbehrungen mit großer Hingabe Geschichte und andere Lehramtsfächer hauptsächlich in Bonn. Aus dem althistorischen Seminar Arnold Schäfers heraus wählte er sich als Dissertationsthema sizilische Sklavenaufstände (2. Jh. v. Chr.), die er „im Lichte der modernen Arbeiterbewegung behandelte. Mein Lehrer, dem dies immerhin wenig behagte, ließ mich frei gewähren, und ich erinnere mich noch der verblüfften Mienen meiner Kommilitonen, als meine Arbeit im Seminar verhandelt wurde. […] Sie ist die Ursache meines Übertritts zur Nationalökonomie geworden.“ 106 Bücher musste ein Darlehen aufnehmen, um die Dissertation fertigzustellen und die Prüfungen nach dem umfangreichen Bonner Ritus absolvieren sowie im Anschluss daran auch ein Staatsexamen ablegen zu können. Die tief empfundene Schwere seines Studiums und seiner Prüfungen kommen in der Autobiographie sinnfällig zum Ausdruck. Bücher wurde zunächst Lehrer, betätigte sich dann aber mit sozialpolitischen Arbeiten und Zeitungsbeiträgen als freier Schriftsteller und strebte, von Albert Schäffle ermutigt, um 1880 die Habilitation an. Damit 103 „Einsichtige Examinatoren machen durch ihre Weise zu Prüfen diese Vorangst im Grunde überflüssig; aber da der Examinand durchaus nicht mit Sicherheit darauf rechnen kann, dass er in die Hand von einsichtigen Examinatoren gelangt – eher auf das Gegenteil –, so bleibt der Zwang bestehen, dass er sich auf eine Fülle von sehr unnützen oder kleinlichen Fragen gefasst machen muss. Und gerade hiervon ist die Folge, dass er auch bei guter Vorbereitung für Monate in den schlechthin nervenzerrüttenden Zustand allgemeiner Einängstigung gerät.“ (Breysig, Aus ­meinen Tagen [Anm. 102], S. 22.) 104 Karl Alexander von Müller [1882 – 1964], Erinnerungen 1882 – 1932, 3 Bde., Bd. 1: Aus Gärten der Vergangenheit. Erinnerungen 1882 – 1914, Stuttgart 1951, S. 438 – 456. 105 Karl Bücher [1847 – 1930], Lebenserinnerungen, Tübingen 1919, S. 120 ff., 249 ff. 106 „Vielleicht ist daraus zu ersehen, dass ich meine Aufgabe als Historiker etwas anders auffasste, als damals unter der akademischen Jugend üblich war, wo in den Doktordissertationen gewöhnlich über die Quellen irgend eines antiken Autors gearbeitet wurde. Ich habe zwar diese Seite keineswegs vernachlässigt, in ihr aber doch immer nur eine Vorarbeit gesehen […].“ (Bücher, Lebenserinnerungen [Anm. 105], S. 121.)

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wurde er aber, auch aus politischen Gründen (Mitarbeit an der Frankfurter Zeitung), in Leipzig, Berlin und Bonn im Vorfeld abgewiesen. Schäffle, der ihn auch finanziell unterstützte, setzte schließlich 1881 seine Habilitation in der Staatswissenschaftlichen Fakultät Münchens durch. Das hier sichtbar werdende Problem des ‚Habilitationswanderns‘ ist in seinen Begleitumständen zahlreichen Fällen des ‚Promotionswanderns‘ verwandt. In ihm kommen Struktur und Kultur des dezentralen deutschen Universitätssystems in gleicher Weise zum Ausdruck. Diese Thematik führt in universitätsinterne wissenschaftsgeschichtliche und wissenssoziologische Dimensionen, die den Rahmen des hier vorgegebenen Untersuchungsfeldes endgültig überschreiten. Doch sei darauf hingewiesen, dass nicht selten Spitzenabsolventen des Promotionsverfahrens zur Habilitationssuche an anderen Universitäten genötigt wurden. Es liegt nahe, dass ­solche Karrieremuster autobiographisch mit besonderer Intensität verarbeitet wurden. Hierzu nur zwei Beispiele: Eine plastische Schilderung seiner Leipziger Summa-Promotion von 1894 (mit einer handschriftlich verfassten, 431 Seiten langen Dissertation) bietet der Altphilologe Engelbert Drerup,107 dem man gleichwohl zu einem Ortswechsel für die Habilitation riet, weil in Leipzig eine informelle Kontingentierung der Katholiken im Lehrkörper gepflogen wurde. (Drerup hatte sich im katholischen Korporationswesen stark engagiert.) Er habilitierte sich in München. Mit großem Stolz berichtete der Philosoph Eugen Kühnemann 108 über seine Münchner Summa-Promotion zu Schillers Kantstudien. „Das Gespräch mit den prüfenden Lehrern verlief auf das angenehmste […].“ „Am 25. [Juli 1889] war die öffentliche Promotion, bei der der Doktorand damals noch in der Münchener Aula auf dem Katheder mit dem umgeschnallten Säbel, dem Dreispitz unter dem Arm, zu erscheinen hatte. Ich sprach über ‚Goethes orphische Urworte und die Ethik Kants‘. Am 28. Juli, drei Tage ­später, wurde ich einundzwanzig Jahre alt. Die Doktorarbeit erschien noch im Jahre 1889 als Buch. Dies Buch war nach einigen Jahren ganz vergriffen.“ Die (dann erfolgreiche) Bearbeitung einer Berliner Preisschrift über Herder führte ihn anschließend zu einer Fortsetzung seines Studiums in Berlin. Der Versuch, sich – 23-jährig – mit seinem Herder-Buch zu habilitieren, wurde jedoch von Dilthey hintertrieben. Nach einer weiteren Abweisung in Halle erreichte er dank einer etwas erpresserischen Intervention Althoffs [!], dass Cohen ihn in Marburg annahm. Doch musste er eine neue Arbeit (über Kants und Schillers Ästhetik) schreiben. „Sie war, wovon von den ersten Lesern, den Professoren in Marburg, nur Natorp etwas und auch nicht viel merkte, ein richtiges Beispiel meiner Methode und ging damit von vornherein über das Marburger Philosophieren hinaus.“ 107 Engelbert Drerup [1871 – 1942], Aus versunkenen Tagen. Jugenderinnerungen, Paderborn, Zürich 1939, S. 134 ff. 108 Eugen Kühnemann [1868 – 1946], Mit unbefangener Stirn. Mein Lebensbuch, Heilbronn 1937, S. 54 ff., 72 ff.

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Als Beispiel für eine glatte Loco-Promotion und Loco-Habilitation auf fachlich hohem Niveau kann der Bericht des selbstbewussten klassischen Philologen Wilamowitz-­ Moellendorff 109 stehen, der in seiner Rückerinnerung schon als Student mit den Professoren auf gleicher Augenhöhe verkehrte. „Am Anfang des sechsten Semesters war die Dissertation fertig.“ Das mit Sondergenehmigung erwirkte vorzeitige Rigorosum war ihm „ein vollkommener Genuss. […] Mir selbst erschien das Prädikat summa cum laude gar nicht als etwas sehr Besonderes.“ In ­diesem altphilologischen Umfeld findet sich auch am ehesten eine positive Würdigung der abschließenden feierlichen Promotion, wenngleich gern resignativ konnotiert. Wilamowitz-Moellendorff bedauerte: „Die feierliche Disputation fiel fort, weil ich [1870] Soldat ward, ich habe also den schönen Eid, wie ihn Schleiermacher formuliert hatte, nicht geschworen, aber gehalten. Er musste fortfallen, als die lateinische Sprache nicht mehr allen Promovenden bekannt war.“ Sehr anschaulich verraten noch um 1885 die Schilderungen, die der Frankfurter Altphilologe Julius Ziehen 110 den feierlichen Disputationen seiner eigenen Promotion und der seiner Freunde widmete, wie sehr diese Formen sich in der Aura des neuhumanistischen Bildungswissens bewegten, in der Gymnasium und Studium bruchlos ineinander übergingen. Selbstverständlich betonte auch Ziehen, dass es sich um eine Schauveranstaltung und nicht um einen fachlich relevanten Prüfungsbestandteil handelte; er stilisierte diese Auftritte in seiner Rückerinnerung jedoch als geistreiches, auch Spontaneität zulassendes Spiel von hohem Unterhaltungswert unter Gebildeten, denen die lateinische Verhandlungssprache schwerelos zu Gebote stand. Nur die Naturwissenschaftler ­seien wegen der Trockenheit ihres Stoffes dabei leider benachteiligt gewesen [!]. Nebenbei zog der Autor über die Schnitzer der mittlerweile des Lateins weniger mächtigen Dekane und Promovenden her. Hier am ehesten war die Humboldt’sche Universität als kulturgeschichtliche Gestalt noch bei sich selbst. Die bildungsbürgerlich relevante Außenwirkung eines solchen Promotionsaktes – hier in München 1871 – nahm sich in der Rückerinnerung 111 einer Anteil nehmenden Ehefrau so aus: „Es war das zu jener Zeit in München […] eine wirkliche Festlichkeit, die sich wesentlich von den ganz nüchternen, geschäftsmäßigen Vorgängen dieser Art an den österreichischen Universitäten unterschied. Die Professoren trugen bei 109 Wilamowitz-Moellendorff [1848 – 1931], Erinnerungen [Anm. 77], S. 98 f. (Promotion 1870, Habilitation 1874.) 110 Julius Ziehen [1864 – 1925], Erinnerungen 1864 – 1925, hg. von Hertha Ziehen, Frankfurt 1980, S. 92 ff. Ziehen spielte als Gymnasialdirektor und Bildungspolitiker in seiner Heimatstadt Frankfurt eine wichtige Rolle und war maßgeblich an der Gründung der Universität beteiligt, wo er einen Lehrstuhl für Pädagogik erhielt. 111 Margarete Jodl, Friedrich Jodl [1849 – 1914]. Sein Leben und Wirken, Stuttgart, Berlin 1920, S. 52. Jodl, kulturpolitisch engagierter Philosoph freisinniger Tendenz, lehrte nach schwierigen bayerischen Anfängen in Prag und Wien.

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f­ eierlicher Gelegenheit den Talar, je nach der Fakultät, der sie angehörten, verschiedenfarbig, was allein schon ein würdevolleres Bild gibt. Der Kandidat hatte in öffentlicher Disputation mit seinen Professoren die aufgestellten zehn Thesen zu beweisen und zu verteidigen und dadurch Gelegenheit, sich in dem, was er an Wissen und ­geistiger Gewandtheit sein eigen nannte, zu zeigen. Sein Doktordiplom hat Jodl allezeit als Ehrentitel hochgehalten.“ Insgesamt vermitteln die Promotionsschilderungen aus dem kultur- und sozialwissen­ schaftlichen Spektrum der Philosophischen Fakultäten unter allen Fakultäten das breiteste Spektrum der Studienprofile und seiner individuellen Motive, der Karrieren und der fachspezifischen Milieus. Zwar gibt es einerseits – wie bei den Medizinern und Naturwissen­ schaftlern auch – den Typus des forschungsorientierten schul- und ortsgebundenen Nachwuchswissenschaftlers, dessen Promotion eine (wichtige) Stufe auf der Bahn einer Universitätskarriere darstellt. Andererseits aber tummelt sich in den Kulturwissenschaften anders als in den übrigen Fakultäten eine hohe Zahl ungebundener Individualisten, deren Autobiographien das Bild großer Eigeninitiative bei der Wahl der Dissertationsthemen, größter Freiheit in der Wahl des ‚Doktorvaters‘ bzw. der Fakultät und stärkster Neigung zum Promotionswandern im deutschen Sprachraum vermitteln. Bei den Sozialwissenschaftlern tritt das Moment des Nonkonformismus und des politisch bedingten Ausweichens hinzu. Anders als bei den Juristen und Medizinern, deren berufliche Karriere an das Staatsexamen gebunden ist, stellt die grundständige Promotion in dem hier vorgefundenen Set der Memoiren durchgängig die einzige das Studium abschließende Prüfung dar. Entsprechend hoch ist ihr sachlicher und damit auch ihr emotionaler Stellenwert als Passage; die ihr entgegengebrachte Wertschätzung erstreckt sich relativ öfter als anderswo auch auf die feierlichen Elemente des Verfahrens. Offen abwertende Bemerkungen über die Promotion sind deutlich seltener. – Dabei ist zu wiederholen, dass die in unserem Set gebotenen Muster des autobiographischen Selbstverständnisses in aller Regel ein bestimmtes Niveau des Leistungs- und Bildungsinteresses nicht unterschreiten: Die Billigpromotionen haben keine autobiographische Stimme. Nur in ­diesem Rahmen lassen sich die vorstehenden Befunde formulieren. Die Behandlung der Naturwissenschaften führt in ein anderes wissenschaftliches Milieu. Zwar blieben sie bis zum ­Ersten Weltkrieg weitgehend in die philosophischen Fakultäten eingebunden,112 doch manifestiert sich die Ausdifferenzierung der sprichwörtlichen ‚zwei Kulturen‘113 der Wissenschafts- und Bildungstradition – hier im Sinne eines Mentalitätsbefundes – unverkennbar in den untersuchten 33 Autobiographien und ihrer Schilderung universitärer Abschlussprüfungen. Vorab ist festzuhalten, dass die Memoiren auch hier 112 Vgl. Anm. 69. 113 Anspielung auf: Charles P. Snow, The two cultures and the scientific revolution, Cambridge 1959 u. ö., dt. 1967.

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wieder weit überwiegend Hochschulprofessoren und ihre Karrieren repräsentieren und damit auf das generelle Selektionsproblem verweisen. In d ­ iesem Rahmen zeigt sich an den Studien- und Prüfungserlebnissen der Naturwissenschaftler partiell eine stärkere Nähe zu den Medizinern. Dies betrifft jedoch vor allem die Dissertation, also die schriftliche Arbeit, und liegt natürlich darin begründet, dass die wissenschaftliche Sozialisation auch hier stark an Laborpraxis und -forschung sowie an der hierdurch vermittelten Rolle der akademischen Lehrer orientiert war. Im Unterschied zu den Medizinern kam aber im Prüfungsgeschehen neben der Dissertation auch dem Rigorosum ein hoher Rang zu; die Rigorosa werden oft breit geschildert. Dies wiederum ist selbstverständlich dadurch bedingt, dass das (schwerere) Staatsexamen fehlte und die Promotion der einzige Abschluss eines naturwissenschaftlichen Studiums war. (Lehramtsexamen spielen in den Memoiren keine Rolle; Fachdiplome gab es noch nicht.) Eine ausbildungsbezogene Loco-Promotion war also die Regel; das für die Geisteswissenschaften so charakteristische Promotionswandern von Individualisten, Nonkonformisten und auch von Leistungsminimalisten fehlte. Ebenso fehlte weitgehend der affirmative Rekurs auf den neuhumanistischen Überbau, der allerdings auch in den Geisteswissenschaften auf dem Rückzug war. Stattdessen wurden der Bildungswert der Naturwissenschaften und neuhumanistischer Bildungshochmut wiederholt thematisiert. Zahlreiche autobiographische Momente wie das Erlebnis der Laborarbeit und der ersten eigenen Forschungsleistung,114 ein Wechsel des Doktorvaters aufgrund von Streit,115 die Schilderung der Rigorosa zur positiven (oder negativen) Kennzeichnung der eigenen Leistung 116 oder auch zur biographischen Bewältigung von Prüferwillkür 117 oder die bloße 114 So z. B. Wilhelm Foerster [1832 – 1921], Lebenserinnerungen und Lebenshoffnungen, Berlin 1911, S. 40 f. (Prom. Bonn 1854, Astronomie); Max Planck [1858 – 1947], Wissenschaftliche Selbstbiographie, Leipzig 1948, S. 8 ff. (geschr. 1943 ff.; zur Entstehung Wieland Berg (Hg.), Max Planck, Wissen­schaftliche Selbstbiographie, Halle 1990), (Prom. München 1879, Physik); ­Eberhard D ­ ennert [1861 – 1942], Hindurch zum Licht. Erinnerungen eines Lebens der Arbeit und des ­Kampfes, Stuttgart 1936, S. 107 ff. (Prom. Marburg/Wigand 1884, Botanik); Hans Spemann [1869 – 1941], Forschung und Leben, hg. von Friedrich Wilhelm Spemann, Stuttgart 1943, S. 269 ff. (Prom. Würzburg/­ Boveri 1894, Zoologie); Richard Willstätter [1872 – 1942], Aus meinem Leben. Von Arbeit, Muße und Freunden, hg. von Arthur Stoll, Weinheim 1949, S. 50 – 75 (Prom./Habil. München/Bayer 1894/1896, Chemie). 115 So z. B. Johannes Reinke [1849 – 1931], Mein Tagewerk, Freiburg 1925, S. 59. (Botanik, Streit mit Sachs/Würzburg, Prom. Rostock.) 116 Wilhelm Ostwald [1853 – 1932], Lebenslinien. Eine Selbstbiographie, 3 Bde. Berlin 1926, 1927, Bd. 1, S. 90 – 139 (Kand./Mag./Dr.-Prom. Dorpat 1874 – 78, Chemie. Schilderung als fulminante Erfolgsgeschichte); Carl Duisberg [1861 – 1935], Meine Lebenserinnerungen, hg. von Jesco v. ­Puttkamer, Leipzig 1933 (Prom. Jena 1882, Chemie: „mit 19 Jahren war ich Doktor“); Lothar ­Heffter [1862 – 1962], Beglückte Rückschau auf neun Jahrzehnte, Freiburg 1952, S. 50 ff. (Prom. Berlin 1886, Mathematik). 117 Leo Koenigsberger [1838 – 1921], Mein Leben, Heidelberg 1919, S. 26 ff. (Prom. Berlin 1860, Mathematik). Mit (andeutender) Thematisierung von Antisemitismus und Konversion.

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Nennung selbstverständlicher Karrierestufen 118 wiederholen Muster, wie sie schon an den autobiographischen Beispielen aus den anderen Fakultäten aufgezeigt worden sind; dies wird hier nicht nochmals aufgegriffen. Unter den naturwissenschaftlichen Universitätsabsolventen des 19. Jahrhunderts stellten die Chemiker eine zahlenmäßig besonders große Gruppe mit einem eigenen Profil dar, an der sich spezifische Probleme der Integration der ‚zwei Kulturen‘ in den Wissenschaftsbetrieb und das Selbstverständnis der philosophischen Fakultäten aufzeigen lassen. Die Chemiker waren über lange Zeit oftmals ‚Immaturi‘, studierten also ohne Besitz des Abiturs – sei es im Rahmen einer Fortführung der Tradition freizügiger Immatrikulation, sei es aufgrund von Sonderregelungen –, hatten in der aufkommenden chemischen Industrie in wachsendem Maße Beschäftigungs- und Aufstiegschancen und kannten vor der Einführung fachbezogener Examina nur die grundständige Promotion zum Dr. phil. als berufsqualifizierenden Abschluss. Die sachlichen Aspekte ­dieses Professionalisierungsprozesses werden von Peter Lundgreen eingehend behandelt.119 Das persönliche Erlebnis derartiger ‚Außenseiter‘-Promotionen fand in nicht wenigen Autobiographien seinen Niederschlag. In die Frühzeit der Berliner Universität und ihr noch ungefestigtes (liberaleres) Verhalten gegenüber den prinzipiell geringschätzig eingestuften Naturwissenschaften führt die Biographie des Chemikers Friedrich ­Ferdinand Runge,120 der mit Elementarschulbildung 1816 – 1819 in Berlin, Göttingen und Jena Medizin studierte, in d ­ iesem Rahmen chemische Studien und Experimente betrieb und in Jena 1819 in Medizin promoviert wurde. Anschließend setzte er seine experimentelle und literarische, ­zwischen naturphilosophischer spekulativer ­Theorie und experimenteller Praxis stehende Tätigkeit in Berlin fort mit dem Ziel, als Privatdozent zugelassen zu werden. Hierzu verlangte die Philosophische Fakultät jedoch eine weitere Promotion. Dem entsprach Runge mit einer lateinisch abgefassten Dissertation, die 1822 angenommen wurde. Im Rigorosum konnte er die von einem der Prüfer in Latein gestellten Fragen weder verstehen noch beantworten, zeigte auch sonst lückenhafte Kenntnisse und erhielt von Hegel als Examinator mangelnde Begrifflichkeit attestiert. Gleichwohl wurde er promoviert sowie nach einem weiteren deutschen Vortrag vor der Fakultät und einem öffentlichen Vortrag – wiederum in Latein – als Privatdozent zugelassen; 1828 wurde er aufgrund weiterer Veröffentlichungen Professor in Breslau. Selbstverständlich waren ihm die lateinischen Texte von Freunden übersetzt 118 So z. B. Conrad Keller [1848 – 1930], Erinnerungen eines schweizerischen Naturforschers, Zürich, Leipzig 1928, S. 35 (Prom. Jena/Haeckel 1874, Zoologie); Hans Molisch [1856 – 1937], Erinnerungen und Welteindrücke eines Naturforschers, Wien 1934, S. 25, 29 (Prom./Habil. Wien 1880/85, Botanik). 119 Lundgreen, Promotionen [Anm. 23]. Zu den Anfängen Christoph Meinel, Die Chemie seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zu ihrer Entwicklung als Hochschulfach, Marburg 1978. 120 Berthold Anft, Friedlieb Ferdinand Runge [1794 – 1867]. Sein Leben und sein Werk, Berlin 1937, S. 10 ff. (mit persönlichen Zeugnissen).

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worden, und offenkundig vermied es die Berliner Fakultät in elastischer Handhabung ihrer Statuten, diesen Punkt näher zu prüfen. Auch Justus Liebig 121 studierte ohne Gymnasialabschluss nach Apothekerlehre in Bonn und Erlangen und wurde 1823 in absentia in Erlangen promoviert. Zu dieser Zeit hielt er sich bereits in Paris auf, wo er bekanntlich die entscheidenden wissenschaftlichen Impulse erhielt und frühe Anerkennung fand. Dank dieser Erfolge wurde er nach der ‚Nostrifikation‘ der Erlanger Promotion ohne weiteres zum Professor in Gießen berufen. Liebigs bahnbrechende Organisation des Chemiestudiums als theoretischer und praktischer Gruppenunterricht im Labor bedeutete eine neue wissenschaftliche Sozialisationsform, die rasch Schule machen sollte. Sehr plastisch hat Carl Vogt 122 die soziale Andersartigkeit der Chemiestudenten in den Gießener Anfängen beschrieben: „Innerhalb der philoso­ phischen Fakultät fanden sich zwei mehr abgesonderte Clans, die Chemiker, die bei Liebig im Laboratorium arbeiteten, und die Studierenden der Forstwirtschaft […]. Die ‚Forst­ polaken‘ waren den übrigen Studenten im Pauken, Kneipen u. s. w. vollkommen gleich und in die verschiedenen Verbindungen verteilt; die Chemiker, unter w ­ elchen viele Ausländer und ältere Leute, waren fast alle ‚Kamele‘ [d. i. nicht korporiert] und hielten sich abseits.“ Diese Sonderstellung war wesentlich dadurch bedingt, dass die Chemiker – wie schon Liebig selbst – sehr häufig ohne Reifeprüfung und mit praktischer Berufserfahrung die Universität bezogen. Die Gießener Philosophische Fakultät trug diesen Umständen in großzügiger Weise Rechnung.123 Die Praktiken der Philosophischen Fakultät Heidelbergs, wo Bunsen die Laborausbildung der Chemiker als Großbetrieb eingeführt hatte, in der Handhabung der Chemiker-­Promotion sind für die 1860er Jahre in zwei Biographien beschrieben. Der spätere ­außerordentliche Professor der Chemie August Friedrich Horstmann 124 konnte als immaturer Absolvent einer Bürgerschule nach vierjähriger Lehre nicht immatrikuliert, sondern nur als ‚Hörer‘ zugelassen werden, jedoch unter Auflagen promovieren. Vor der Promotion „hatte der Nicht-Abiturient erst noch eine Prüfung in Latein zu bestehen. Da gab es denn immer dieselbe Komödie mit dem ‚alten Baehr‘ [Professor für klassische Philologie]. Man ließ sich ein Kapitel Caesar einpauken und machte dazu ein Manuskript. 121 Jakob Vollhard, Justus von Liebig [1803 – 1873], 2 Bde., Leipzig 1909, Bd. 1, S. 40 ff. (mit persönlichen Zeugnissen). 122 Carl Vogt [1817 – 1895], Aus meinem Leben. Erinnerungen und Rückblicke, Stuttgart 1896, S. 114, zu Liebig S. 122 ff. (Referenzjahr 1833. Die Autobiographie des bekannten Achtundvierzigers bricht bereits mit den 1830er Jahren ab.) 123 Zum Gießener Chemiestudium unter Liebig Peter Moraw, Kleine Geschichte der Universität ­Gießen 1607 – 1982, Gießen 1982, S. 135 – 44. Dispens vom Erfordernis des Gymnasialabiturs wurde regelmäßig gewährt; die Promotion kannte keine Dissertation und bestand in einer mündlichen Prüfung. Die Gießener Verhältnisse wurden im Rahmen der Auseinandersetzungen von 1876 ausführlich erörtert: Oberbreyer, Reform [Anm. 20], S. 88 – 93, 100 – 107. 124 M. Trautz, August Friedrich Horstmann [1842 – 1929], in: Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft 63 (1930), S. 61 – 86 (mit Quellen).

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Baehr erschien und fragte den unwissenden Naturwissenschaftler mitleidig nach einem Schriftsteller. Man nannte Caesar da und da. Baehr zückte ein unaufgeschnittenes Exemplar, und man begann loszulegen. Dann zog die Fakultät sich zur Beratung über die Befähigung des Kandidaten zurück, während Baehr sich empfahl.“ Das Rigorosum als Abschlussprüfung in drei Fächern folgte einige Tage ­später; eine Dissertation wurde in Heidelberg nicht gefordert. Der Heidelberger Doktor, so der Kandidat, sei damals so leicht gewesen, dass er verrufen gewesen sei. Nach Studienaufenthalten in Zürich, Bonn und Paris habilitierte Horstmann sich nach der vorgeschriebenen Zweijahresfrist unter Vermittlung Bunsens 1867 in Heidelberg, nunmehr unter Vorlage einer Habilitationsschrift mit Kolloquium und Thesenverteidigung. Auch der Chemiker Victor Meyer 125 promovierte, nach Abitur mit sechzehn und Studium in Berlin, 1867 neunzehnjährig in Heidelberg ohne Promotion, was er zwar kritisierte, aber als „schnellsten und leichtesten Weg“ ausnutzte. Als Bunsens Assistent unhabilitiert an das Stuttgarter Polytechnikum berufen, kehrte er nach Professuren in Zürich und Göttingen 1889 nach Heidelberg zurück, wo er mit seiner Berufung die Einführung der Promotion durchsetzte. „Dabei fühlen sich manche in ihren Einkünften sehr verletzt und sind betrübt. Ich hoffe, auch das wird sich ausgleichen lassen […].“ Etwa zeitgleich erfolgte 1890 auch die Teilung der Heidelberger Philosophischen Fakultät. Besonders plastisch werden die Probleme der Integration immaturer Naturwissenschaftler in die neuhumanistisch geprägte philosophische Fakultät an einem Berliner Beispiel aus dem späten 19. Jahrhundert sichtbar, das sich aus der Autobiographie des Berner Professors für Pharmazie und Pharmakognosie Alexander Tschirch 126 ergibt. Der aus Guben gebürtige Tschirch hatte nach Abbruch des Gymnasiums eine Apothekerlehre absolviert und sich in verschiedenen Stellungen in West- und Südwestdeutschland, vor allem aber in der Berner Staatsapotheke fortgebildet. Ab 1878 absolvierte er als „stud. phil.“ in Berlin ein pharmazeutisches Studium, das er 1880 mit der staatlichen Approbation abschloss. Nebenher folgte er seinem ausgeprägten autodidaktischen Bildungsdrang durch breit gefächerten Vorlesungsbesuch und knüpfte auch enge Beziehungen zu den Größen der Berliner Naturwissenschaft: August Wilhelm Hofmann, du Bois-Reymond, Helmholtz. Er wurde Assistent des Botanikers Pringsheim, konnte aber eine empirisch breit angelegte pflanzenphysiologische Arbeit in Berlin wegen des fehlenden Abiturs nicht als Dissertation einreichen. Hierzu wurde er von seinen Lehrern nach Freiburg empfohlen, wo er 1881 mit „summa cum laude“ promovierte. Durch Pringsheims Förderung wurde er Assistent und Dozent an der Berliner Landwirtschaftlichen Hochschule, machte sich durch Veröffentlichungen und auch 125 Richard Meyer, Victor Meyer. Leben und Wirken eines deutschen Chemikers und Naturforschers 1848 – 1897, Leipzig 1917, S. 37 ff., 246 f. (mit Quellen). 126 Alexander Tschirch [1856 – 1939], Erlebtes und Erstrebtes. Lebenserinnerungen, Bonn 1921, zu den Prüfungen S. 160 ff., 212 ff.

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verbandspolitisch einen Namen und erhielt von fachlicher Seite die Aufforderung, sich an der Universität für Pharmakognosie zu habilitieren. Dies war ohne Abitur nur mit ministeriellem Dispens nach einstimmig beschlossenem Antrag der Fakultät möglich. Die Warnung „[…] pass nur auf, die Philologen werden dir schon in der Fakultät ein Bein stellen und gegen den Dispens stimmen“ erfüllte sich nicht; Tschirch wurde mit Dispens 1884 zugelassen. Mit großer Bewegung schilderte er die Verfahrensschritte; hier das bemerkenswerte Kolloquium: „Während der Alt-Philologe Kirchhoff und der Sanskritist Weber sich zu einem ziemlich laut geführten Gespräche in eine Fensternische zurückzogen, Mommsen am Tische las und Curtius mit einem Bleistift spielte, rückten die Naturforscher zu mir heran oder hörten stehend zu.“ Mit Stolz, aber auch nicht ohne Erwähnung der Versagensangst zählte er die Namen der Berliner Naturwissenschaftler auf, die sich in der merkwürdigen Szene an der Aussprache zu seinem Vortrag intensiv beteiligten: „Alle großen Naturforscher unserer Zeit als Opponenten vor sich zu haben, das ist doch kein Pappenstiel.“ In historischer Perspektive findet das Auseinandertreten der ‚zwei Kulturen‘ innerhalb der Fakultät dabei geradezu eine Bühne. Tschirchs Schilderung des im Grunde verletzenden Vorgangs wie überhaupt aller Stufen seiner Karriere sind aus der Rückschau des etablierten Ordinarius nicht ohne Humor, gern auch in kokettierendem Understatement verfasst. Zugleich aber durchdringt das intensive generelle Teilhabeverlangen des Seiteneinsteigers an Wissenschaft, Bildung und gebildeter Gesellschaft spürbar die gesamte Autobiographie. Sie drückt sich auch in dem anrührend-naiven Stolz über die Habilitation aus: „Ich ging, nein ich flog zu meiner Braut ihr mitzuteilen, dass die Fakultät mich zugelassen, und noch am gleichen Tage wurde unsere Hochzeit auf den Beginn des neuen Jahres festgesetzt. Ich hatte das wichtigste Ziel meines Lebens erreicht. Ich hatte die Venia legendi erhalten. Ich war ein Glied der Gelehrtenrepublik, ein vir celeberrimus (so steht es auf den Diplomen) geworden, ein Mitglied des Lehrkörpers der größten deutschen Hochschule, an der die erleuchtetsten Geister unserer Zeit wirkten. […] Als ich den Vorgarten der Universität durchschritt, standen mir die Tränen in den Augen. Ich dachte: wie schade, dass der Vater diesen Tag nicht erlebt hat und: wie wird sich die M ­ utter freuen! Ihr habe ich es zuerst gemeldet.“ Alle soziopsychologischen Gefühls­momente des Aufstiegs in den bildungsbürgerlichen Stand finden sich in dieser Apotheose klassisch versammelt. Der vielfach behandelte Stellungskrieg um die Gleichwertigkeit humanistischer und realer Bildungskonzepte im Horizont der Hegemonie des Neuhumanismus kann hier nicht aufgegriffen werden. Dass das Gefühl einer ‚Paria-Stellung‘ der Naturwissenschaftler sowohl gegenüber der mentalen Hegemonie des Neuhumanismus als auch gegenüber den davon bestimmten formalen Zulassungsbedingungen der Universitäten in den Autobiographien durchscheint, wird jedoch nicht überraschen. Die Hürde prohibitiver Zulassungsvoraussetzungen bildete einen naheliegenden Anstoß zu solchen Räsonnements. Neben der humorvollen Verpackung solcher Dissonanzerfahrungen finden sich bei den

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‚Immaturen‘ auch explizite Abrechnungen mit dem neuhumanistischen Bildungssystem, so etwa in der Biographie August Friedrich Horstmanns 127, der es nie bereute, das Gymnasium verlassen zu haben zugunsten eines gehaltvollen Mathematik-, Physik- und Chemieunterrichts in der Realschule, dem „Latein ein Greuel“ war und die „ungeheure Belastung mit Grammatik, besonders die 9 Stunden im Lateinischen […,] ein schlimmes Hindernis für Leute seiner Begabung“ darstellte. Mit Griechisch fing er gar nicht erst an. „Humanisten mögen mich über die Schulter angesehen haben, wenn ich einmal ein Zitat nicht verstand.“ Auch nach der Liberalisierung der Universitätszulassung durch die bekannte weitgehende 128 Gleichstellung der Reifezeugnisse induzierte das bildungsbürgerliche Statusspiel inneruniversitär wohl immer wieder Irritationen. So trug Otto Hahn an einem „gewissen Minderwertigkeitskomplex“, weil er nach seinen eigenen Worten als „nurOberrealschüler eigentlich ganz ungebildet sei.“ Es blieb ihm ein kompensatorisches Bedürfnis, in Gesellschaft längere Passagen Homers in Griechisch aufzusagen, um ‚hochmütigen Humanisten‘ zu kontern.129 „Es ist ganz unglaublich, was sich heutzutage alles habilitiert“ – diesen Kommentar zu seiner Berliner Habilitation für Chemie bei Emil Fischer 1907 vergaß er ebenfalls nicht.130 Die Autobiographien von Technikern und Ingenieuren des langen 19. Jahrhunderts folgen durchweg Erfolgs- und Karrieremustern, die abseits von Gymnasialbildung, ­Universitätsstudium und universitärer Graduierung verlaufen.131 Sie werden durch die Ausbildungsgänge der Gewerbeschulen, Polytechniken und der daraus hervorgehenden Technischen Hochschulen vermittelt, veranschaulichen auch die anfänglich starke Rekru­tierung des Lehrpersonals dieser Anstalten durch die Verbindung von Praxis und ­Theorie. Die bekannten Auseinandersetzungen um die Gleichstellung von Technischen Hochschulen und Universitäten, gipfelnd im Kampf um das Promotionsrecht, führen – gerade auch in der universitären Abwehr – ins Zentrum der ideologischen Polarisierung 127 Trautz, Horstmann [Anm. 124], S. 62 f. 128 Viele juristische und auch einige medizinische Fakultäten verlangten bis zum Weltkrieg für die Promotion nach wie vor das humanistische Abitur. Zur Übersicht die Tabellen bei ­Schröder, Doktor­würde, 1908 [Anm. 21]. Zur Schulpolitik und Zulassungsreform James C. Albisetti und Peter Lundgreen in: Jeismann/Lundgreen (Hgg.), Handbuch [Anm. 9], Bd. 4, S. 229 – 245; ­Neugebauer, Bildungswesen [Anm. 12], S. 689 – 706. 129 Walter Gerlach und Dietrich Hahn, Otto Hahn. Ein Forscherleben unserer Zeit, Stuttgart 1984, S. 18 f. 130 Otto Hahn [1879 – 1968], Mein Leben, 5. Aufl., München 1969, S. 50 ff., Zitat S. 84. 131 Exemplarisch Werner von Siemens [1816 – 1892], Lebenserinnerungen, Berlin 1892, mit durchgängigen Reflexionen zur notwendigen Verknüpfung von Technik und Wissenschaft vor dem Hinter­ grund eigener Defizite und mit der Beschreibung eigener Initiativen (Physikalisch-­Technische Reichsanstalt). Zum Problem generell: Manfred Späth, Die Professionalisierung von Ingenieuren in Deutschland und Russland 1800 – 1914, in: Conze/Kocka (Hgg.), Bildungsbürgertum [Anm. 2], Teil I, S. 561 – 588.

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der ‚zwei Kulturen‘.132 Im autobiographischen Horizont der Absolventen jener Zeit findet d ­ ieses Promotionsproblem zu dieser Zeit freilich noch kaum einen Niederschlag, so dass von ­diesem spezifischen Ansatz her keine mentalitätsgeschichtliche Vertiefung der bekannten Sachverhalte geboten werden kann. Überblickt man die mentalitätsgeschichtlichen Befunde, die sich aus den untersuchten autobiographischen Berichten und Reflexionen zum Promotionsgeschehen ergeben, so lassen sich darin die Strukturbedingungen des universitären Handelns im Rahmen ständischer Vergesellschaftung natürlich nur in subjektiver Brechung oder aber indirekt, hinter dem Rücken der Schreibenden, wiedererkennen. Die überwiegende Zahl der Autobiographen, um es zu wiederholen, gehört sozial der Universitäts- und Wissenschaftssphäre an und blickt auf eine erfolgreiche, auf persönlicher Leistung beruhende Karriere zurück. Die Promotion ist eine Stufe auf ­diesem Erfolgsweg. Von daher steht das aus kritischer Sicht wichtigste Problem der universitären Graduierungspraxis, nämlich die inflationäre ‚Massenpromotion‘ ohne angemessene Promotionsleistungen zur Befriedigung des Titelbedarfs, nicht im Zentrum der Berichte. Die Vermutung, dass Leichtpromotionen natürlicherweise das literarische Licht scheuen bzw. s­ olche Doktoren keine Memoiren ­verfassen, bestätigt sich aber nicht vollkommen: Vornehmlich unter den Juristen, aber auch unter den Geisteswissenschaftlern finden sich unbeschwerte Memoirenschreiber, die aus beruflicher bzw. sozialer Distanz zur Universität ironische bis tolldreiste Schilderungen ihres Promotionswanderns und des Prüfungsablaufs liefern. Auch diese wenigen Beispiele reichen sehr wohl aus, um kritische Rückschlüsse auf die generellen Bedingungen zur Ermöglichung derartiger Praktiken ziehen zu können. Generelle Bemerkungen in Mediziner-Memoiren zur durchschnittlichen Geringwertigkeit der medizinischen Promotion bestätigen s­ olche Befunde auch nach dieser Seite. Nahe bei einem solchen autobiographischen Blick liegen die recht zahlreichen Schilderungen der Prüfungs­abläufe für alle Fakultäten, die der Willkür und den Skurrilitäten der prüfenden Professoren breiten Raum geben. Allerdings changieren ­solche Befunde zumeist unentscheidbar ­zwischen ironischer Diskreditierung der ganzen Institution oder nur einzelner Personen und einer kompensatorischen Bewältigung eigener Verletzungen durch Prüferunrecht. Der Textkorpus der untersuchten Autobiographien, deren Verfasser also weit überwiegend oberhalb der zuvor behandelten Ebene der Billigpromotionen anzusiedeln sind, lässt sich vom Typus der geschilderten Promotionen her in zwei Großgruppen einteilen: in die Gruppe der Wissenschaftlerkarrieren, die sich in den Bahnen lehrerbezogener Seminar- und Laborarbeit bewegen, zu einer daraus erwachsenden Loco-Promotion und danach zumeist zu einer Habilitation führen, sowie andererseits in die Gruppe der Wanderpromovenden, deren Promotionsort nicht der Studienort und deren Prüfer nicht ihre Lehrer waren. 132 Dazu eingehend Karl-Heinz Manegold, Universität, Technische Hochschule und Industrie, Berlin 1970.

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Die Promovenden der letzteren Gruppe stehen – was das Wanderverhalten angeht – in einem gewissen Näheverhältnis zu den Leichtpromovenden, doch ist als Wandermotiv nicht vorrangig Leistungsminimalismus zu unterstellen, wenngleich die Übergänge gelegentlich fließend sind. Dieser Typus ist ganz überwiegend in den Kultur- und Sozialwissenschaften der philosophischen Fakultäten beheimatet. Seine Motive für den Universitätswechsel sind vielfältig, sie folgen einem ausgeprägten Individualismus, aber auch politisch konnotiertem Nonkonformismus bis hin zum erzwungenen Ausweichen. Die Bedeutung der Promotion für persönliche Reputation und berufliches Fortkommen wird subjektiv hoch angesiedelt; entsprechend bedeutsam ist in der Regel das mit ihnen verbundene Passage-Erlebnis und die Intensität seiner autobiographischen Schilderung. Die Permissivität der Promotionspraxis in vielen Fakultäten ist die entscheidende Rahmen­ bedingung für diese ‚Wanderkultur‘, die ein eigentümliches Kennzeichen der dezentralen deutschen Universitätslandschaft und ihrer national-kulturell vermittelten E ­ inheit darstellt. Diese besondere Verfassung dürfte wesentlich dafür verantwortlich sein, dass hier in den Graduierungen des kulturwissenschaftlichen Bereichs im bürgerlichen Zeitalter das Moment vor-professioneller akademischer Titelverleihung erhalten blieb. Die zuerst genannte Gruppe der Loco-Promotionen entspricht dem Typus, der den ­später zu behandelnden Promotionsreformern als Regelpromotion vorschwebte. Zugespitzt lässt sich diese Profilbestimmung von Promotion (und Habilitation) als Ansatz zu einer Professionalisierung des Hochschulnachwuchses bzw. des Wissenschaftlernachwuchses für Forschungseinrichtungen begreifen. Doch ging die berufsqualifizierende Funktion der Loco-Promotion zunächst weit darüber hinaus, solange – wie in den Naturwissenschaften und ­später der Nationalökonomie – keine fachbezogenen Diplome eingeführt waren. Da die Autobiographien ­dieses Typs wiederum überwiegend der Sphäre der Hochschulkarrieren angehören, sind die Schilderungen des Promotionsgeschehens durchweg leistungsbetont. Entsprechend ihrer unterschiedlichen Studiums- und Wissenschaftskultur konzentrieren sich die Erlebnisschilderungen der Mediziner und Naturwissenschaftler sehr stark auf die Labor- und Klinikpraxis und die hier empfangenen Eindrücke von den Lehrerpersönlichkeiten. In der Medizin, wo das Staatsexamen die entscheidende ärztliche Eingangsprüfung darstellte, lag der Schwerpunkt der Leistungserfahrung ganz auf der Dissertation als Glied in einer Kette weiterer Forschung; das Rigorosum spielte kaum eine Rolle. In den Geistes- und Naturwissenschaften mit ihrer grundständigen Promotion als einzigem Abschluss erfuhr neben der eingereichten Arbeit auch das Passage-Erlebnis des Rigorosums intensive Beachtung und breite Schilderung. Speziell bei den immaturen Chemikern wurde, sofern sich eine Universitätskarriere anschloss, die Promotion zum Dr. phil. und die Habilitation als Erlebnis des Aufstiegs in die akademische Welt besonders emphatisch gewürdigt. Im Horizont der untersuchten Autobiographien (also mit der wegen des Samples gebotenen Einschränkung) wurde – am wenigsten bei den Medizinern, am stärksten bei den Geisteswissenschaftlern – die Promotion als bedeutsamer Akt erfahren. Viele

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Schilderungen lassen über das persönliche Passage-Erlebnis hinaus auch die soziale Relevanz des Titels erkennen – etwa für Heiratspläne und mit Blick auf die Familienreputation, aber natürlich vor allem hinsichtlich seines Geltungsnutzens in den freien Berufen. Weit schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob dem Promotionsakt über die Titelund Urkundenverleihung hinaus auch noch die traditionelle Qualität einer ständischen Graduierung zugeschrieben wurde. Wie wir sahen, fehlt auch dieser autobiographische Aspekt nicht ganz; Reflexionen darüber finden sich aber vorrangig bei späteren Professoren, kreisen also selbstreferenziell im universitären System. In ­diesem Milieu, und hier am ehesten bei den Geisteswissenschaftlern, finden sich auch die wenigen affirmativen Schilderungen der traditionellen Disputation und feierlichen Promotion. Außerhalb dieser professoralen Sphäre ist das Verständnis für d ­ ieses Aufnahmeritual in den Stand der Gelehrten geschwunden, wie die zahlreichen bestenfalls humorvollen, überwiegend aber spöttischen Schilderungen ­dieses Aktes unverkennbar anzeigen.

4. Das zeitgenössische Problem einer Reform des Promotionswesens In der wissenschaftlichen Welt Deutschlands war man sich bewusst, dass z­ wischen dem Anspruch, der etwa mit dem französischen Docteur verbunden war, und den Promotionsgewohnheiten im deutschen Kulturraum sprichwörtliche Diskrepanzen lagen, die für die deutsche Seite nicht eben schmeichelhaft waren: „un peu docteur comme tous les Allemands“.133 Der ungebrochene Drang zum Doktortitel, der in Mitteleuropa aus den Rahmenbedingungen ständischer Vergesellschaftung und Mentalität seine Erklärung findet und insofern auch als ideologischer Integrationsprozess gewertet werden kann, war aus akademisch-wissenschaftlicher Sicht selbstverständlich kritikwürdig. Zu der unerträglichen Spannweite der hinter dem Titel stehenden Leistungsniveaus kam die Spannweite der recht unterschiedlichen Funktionen, die die Graduierung in den verschiedensten Sozialbereichen zu erfüllen hatte. Der Ruf nach Reformen wurde denn auch immer wieder laut. Im Jahre 1858 versuchte die Berliner Universität mit einem Rundschreiben an alle deutschen Universitäten, den Stand der Promotionsnormen zu erheben und eine einheitliche Regelung des Promotionsverfahrens durch die Vereinbarung von Regelanforderungen herbeizuführen: Dissertation mit Druckzwang, mündliches Examen, öffentliche Disputation. Diese Initiative blieb jedoch ohne Folgen: eine Minderheit erteilte nicht einmal die erbetenen Auskünfte und erachtete Änderungen an den bestehenden Verhältnissen für unnötig.134 133 Zitat bei Amira, Reform [Anm. 20], S. 565. 134 Oberbreyer, Reform [Anm. 20], S. 5.

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Eine besonders Aufsehen erregende Debatte wurde 1876 durch zwei bärbeißige Artikel Theodor Mommsens in den „Preußischen Jahrbüchern“ ausgelöst,135 in denen der angesehene Gelehrte und berüchtigte Polemiker einen Rostocker Plagiatsfall zum Anlass nahm, um gegen die notorischen Missstände zu Felde zu ziehen, die er – in durchaus zeittypischer preußisch-liberaler Perspektive – vor allem als einen Ausfluss der deutschen Kleinstaaterei ansah. Da er die Fakultäten selbst für befangen und daher für reformunfähig und die mittelstaatlichen Regierungen für zu schwach hielt, sollte, weil dem Reich keine Kompetenz zukam, Preußen im Rahmen eines Universitätsvereins (ähnlich wie beim Zollverein) zusammen mit anschlusswilligen Regierungen eine Reform erzwingen, indem Promotionsstandards vereinbart und die nicht anschlusswilligen Staaten/Universitäten diskriminiert werden sollten. Sein Modell forderte die durch entsprechende Vorschriften abzusichernde ausschließliche Promotion ‚in loco‘ auf der Grundlage einer Dissertation, die aus dem Seminar erwuchs, eine wissenschaftlich weiterführende Leistung darstellte und im Rahmen von Sammelbänden veröffentlicht wurde. Der letztere Vorschlag sollte die Flut der dünnen Promotionsdrucke – ein Albtraum der Bibliotheksverwaltungen – eindämmen, zielte aber zugleich auf die Profilierung der promovierenden Fakultäten und der Herausstellung ihrer wissenschaftlichen Verantwortung. Nur qualifi­zierte und wissenschaftsorientierte Studenten sollten zur Promotion geführt werden. Mommsen wollte die Promotion als Qualifikationsleistung auf den universitären Nachwuchs und auf wissenschaftlich orientierte Berufsfelder beschränkt wissen, wobei die Vorschläge auf die juristischen und die philosophischen Fakultäten zielten. Die Reform des medizinischen Doktors klammerte er als vorerst unlösbar aus.136 Die anschließende Debatte wirbelte dank der Mommsen’schen Seitenhiebe viel Staub auf. Die zahlreichen Wortmeldungen galten vorab der Erörterung der angeprangerten Missstände an einzelnen namentlich genannten Universitäten: Absentia-Promotionen in Rostock, Göttingen und Jena, dissertationslose Promotionen in Gießen, Heidelberg und Freiburg. Natürlich wurde auch der empfindliche pekuniäre Aspekt der Frage berührt; besonders drastisch kommentierte Carl Vogt diesen Punkt wie die Debatte insgesamt aus seiner Berner Distanz.137 Auf der anderen Seite rief Mommsen auch empfindliche Abwehrreaktionen gegen die preußischen hegemonialen Attitüden hervor, die man aus seinen Äußerungen heraushören konnte. Überwiegend bestätigte die Debatte die Existenz schwerer Missbräuche und Übelstände. Ausländische Wissenschaftler und deutsche Akademiker mit Auslandserfahrung bezeugten den Ansehensverlust des deutschen Doktortitels in Westeuropa.138 Jedoch 135 Die Texte Mommsens sowie der lebhaften anschließenden Debatte abgedruckt in Oberbreyer, Reform [Anm. 20]. 136 Oberbreyer, Reform [Anm. 20], S. 5 – 10, 35 – 50. 137 Oberbreyer, Reform [Anm. 20], S. 56 – 62. 138 Beispiele Oberbreyer, Reform [Anm. 20], S. 17 – 20, 138 ff.

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wurden auch ins Grundsätzliche führende Gegenpositionen formuliert, so etwa von den Heidelberger Juristen Heinze und Bluntschli,139 die auf der außerwissenschaft­ lichen Funktion der Promotion beharrten, eine sichtbare akademische Würde zu erteilen. „Mommsens Vorschläge“, so Heinze, „werden dahin führen, dass wenigstens um den juristischen Doctorhut künftig so gut wie ausschließlich diejenigen sich bewerben, ­welche auf den akademischen Lehrberuf aspirieren. Damit aber wird aus der Doctorprüfung eine Berufsprüfung, verliert die Ertheilung des Doctorats den Charakter einer Promotion […]. Und wozu dann noch die Tautologie von ‚Doctoren‘ und ‚Docenten‘?“ Nach Heinze hätte dies die gesellschaftlich fatale Konsequenz, „eine breite Kluft zu graben ­zwischen dem zünftigen Gelehrtenthum auf der einen Seite und der übrigen strebsamen, wissenschaftlich gebildeten Menschheit, der aber die Pfauenfeder nicht an den Hut gesteckt ist, auf der anderen. Sollte die richtige Parole wirklich heißen: sachliche Popularisierung der Wissenschaft, aber persönliche Absperrung der Gelehrtenzunft, ­welche zum Hüter des heiligen Feuers bestellt ist? Die Doctorprüfung wäre dann die Cooptation der Neophyten durch das Priestercollegium.“ Mit d ­ iesem durch weitere Seitenhiebe auf das ‚Mandarinentum‘140 der Professorenschaft angereicherten Appell an den bildungsbürgerlichen Common Sense lenkte Heinze auf das traditionelle Verständnis der Verleihung akademischer Grade zurück, dem er weiterhin eine positive gesellschaftliche Funktion zuschrieb: Die außerhalb des öffentlichen Dienstes stehenden Juristen bedürften „für engere oder weitere Kreise eines Zeugnisses über ernst und erfolgreich betriebene wissenschaftliche Studien“, wie sie nicht durch die engeren Staatsprüfungen, sondern am besten durch die vom Staat relativ unabhängigen Fakultätsprüfungen erteilt werden könnten. Hierzu sei jedoch keine Dissertation erforderlich, funktionsgerechter sei vielmehr ein gründliches Rigorosum. Auf derselben Linie argumentierte Bluntschli, der die traditionelle Funktion und gesellschaftliche Bedeutung des deutschen Doktortitels in ähnlicher Weise verteidigte und dabei auf die Begründung zurückkam, die er in seinen Lebenserinnerungen 141 für sich selbst geltend machte: „Verglichen mit anderen Titeln und Auszeichnungen, wie z. B. Orden, hat der Doctortitel den doppelten Vorzug, dass er durch persönliche Anstrengung verdient werden muss und unabhängig ist von der Gunst oder Ungunst der Fürsten und der Völker, die ihn weder geben noch nehmen können. Er beruht auf der Verleihung der Facultäten, ­welche prüfen, ob der Candidat des Titels würdig sei oder nicht.“ Demgegenüber sei der ohnehin geringe wissenschaftliche Ertrag von Dissertationen, über den Bluntschli sich ausführlicher und absprechend verbreitete, nachrangig. Von daher sahen beide Heidelberger Vertreter keinen Grund, das Verfahren der dissertationslosen Promotion aufzugeben. Zweifellos stellen diese 139 Oberbreyer, Reform [Anm. 20], S. 62 – 76. 140 Anspielung (des Vf.) auf den bekannten Buchtitel von Fritz K. Ringer, The Decline of the German Mandarins, Cambridge/Mass. 1967, dt. 1983. 141 Bluntschli, Denkwürdiges [Anm. 28].

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Plädoyers eindrucksvolle Zeugnisse für das Weiterwirken eines ‚vorklassischen‘ universitären Standesdenkens in die von ständischer Vergesellschaftung bestimmte Mentalität des Bildungsbürgertums dar. Sie erscheinen dabei in sich durchaus konsistent, klammern jedoch die Frage der innerdeutschen Niveauunterschiede und die problematische Praxis der mündlichen Prüfung schlichtweg aus. Unsere biographischen Befunde lassen diese Unzulänglichkeiten der mündlichen Prüfungen, die ja den Kern des Qualitätsnachweises bilden sollten, gerade im Falle Heidelbergs deutlich erkennen. Insofern sind die Einlassungen der Heidelberger Professoren ganz wesentlich als Ideologie zu bewerten. Losgelöst von dieser Funktion einer Schutzbehauptung lässt sich aus ihnen aber ein sozialgeschichtlich erwägenswertes Moment herausfiltern. Wie bereits gezeigt, führte die von Mommsen ausgelöste Debatte in der Folgezeit zu einem deutschlandweiten Prozess formaler Angleichungen. Jedoch war damit der unterschiedlichen Promotionspraxis nicht beizukommen. Insbesondere hatte Mommsens Programm, die Loco-Promotion als Regelverfahren einzuführen, die Zahl der Doktoranden drastisch einzuschränken und das Promotionswandern abzuschaffen, keine Chance auf Durchsetzung. Die in seiner Vorstellung liegende Annäherung des deutschen Doktors an den Standard des französischen Docteur widerstritt so fundamental der historisch gewachsenen deutschen ‚Promotionskultur‘ im Rahmen der bildungsbürgerlichen Bedürfnisse und unter den Bedingungen der dezentralen, nur kulturnational-föderativ vermittelten Einheit der Universitäten, dass sie einer Revolution gleichgekommen wäre. Auch ist nicht zu verkennen, dass eine Beschneidung des Promotionswanderns spezifische Freiheiten und Chancen der schulmäßig ungebundenen Individualisten und Nonkonformisten eingeengt hätte, die der besonderen Elastizität des deutschen Systems zu verdanken waren. Dieser Aspekt wurde aber überwogen durch den auch nach Mommsen ungebrochenen Hauptdefekt des dezentralen Systems, der darin bestand, die Aufstellung und wirksame Kontrolle verbindlicher Standards für das Promotionsniveau zu vereiteln und es damit zum Tummelplatz für den „unterbietenden Wettbewerb“ 142 zu machen. Freiwillige Vereinbarungen aber waren unter den Bedingungen des Systems nicht zu erreichen. Dass sich in der Zwischenzeit in dieser Kernfrage nichts geändert hatte, zeigen die Diskussionen kurz vor dem ­Ersten Weltkrieg. Schon 1911 hatte der Wirtschaftshistoriker Eberhard Gothein 143 erneut auf das Übel der Leichtpromotion hingewiesen, zugleich aber den insgesamt geringen wissenschaftlichen Wert der meisten Dissertationen beklagt. Wie schon Mommsen wollte er daher die Dissertationen – wenigstens in der Regel – aus der Lehr- und Forschungstätigkeit der Seminare und Institute hervorgehen sehen und damit stärker an die Verantwortung der Professoren binden. In d ­ iesem Zusammenhang setzte er auf einen Prozess allmählicher Reform durch die im Veröffentlichungszwang liegenden 142 Eberhard Gothein [1853 – 1923], Doktordissertationen. Das Übel und seine Besserung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 32 (1911), S. 781 – 792, Zitat S. 784. 143 Gothein, Doktordissertationen [Anm. 142].

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Mechanismen der wissenschaftlichen Sozialkontrolle. Diese sollte jetzt dadurch effektiver gestaltet werden, dass die Fakultäten bzw. Institute die Arbeiten (bzw. ihre innovativen Elemente im Auszug) in periodischen Sammelbänden der Fachwelt präsentierten und damit die edierenden Institutionen als verantwortliche Veranstalter der wissenschaft­ lichen Kritik aussetzten. Gothein war sich darüber im Klaren, dass seine Vorschläge die parzellierende Verfachlichung der Universität weiter vorantreiben und die Promotion weitgehend ihres traditionellen Charakters einer auf die individuelle Leistung bezogenen akademischen Graduierung einer Person berauben würde: „Hiermit aber müssen die Doktordissertationen ganz von selber zum fortlaufenden Bericht über die Tätigkeit der Institute und Seminarien werden. Selbstverständlich dürfen sie nicht ausschließlich hierzu werden. Die Gefahr muss vermieden werden, dass die Universität zur Fachschule werde, dass zumal die philosophischen Disziplinen zu eng in den abgemessenen Lehrgang eingespannt werden, der für die exakten Wissenschaften und die Technik wohl freilich notwendig ist, für alle Kulturwissenschaften aber, die der individuellen Auffassung einen so weiten Spielraum gewähren, bedenklich bleibt. Zwar sind die Outsider, die von draußen mit ihren fertigen Arbeiten kommen und mit dem Lehrgang der Prüfenden unbekannt sind, gemeinhin nicht sehr erfreulich; aber sie sind eine Notwendigkeit, und bisweilen finden sich gerade unter ihnen die besten Köpfe.“ Mit dem (im Blick auf seine Detailvorschläge nicht ganz stimmigen) Festhalten an der Promotion als individuellem Leistungsnachweis verband er ein sehr traditionalistisches Bekenntnis zur gesamtgesellschaftlichen Bedeutung von Universität und Bildungsbürgertum: „Unsere Doktoren sind freilich nicht mehr […] dauernde Mitglieder der Korporation; dennoch ist es mehr als ein bloßes Pietätsverhältnis, was sie mit der Universität verbindet. […] Haben sie erst einmal beim Abschluss ihrer Studien gezeigt, dass sie das Zeug dazu besitzen, wissenschaftlich selbständig zu arbeiten, so bringen sie auch ins Leben die Fähigkeit, wissenschaftlich selbständig zu urteilen, mit. […] Der Einfluss der Universitäten in der Bildung und Arbeit der Nation beruht großenteils auf ihnen [sc. den Doktoren]. Tun wir alles unsererseits dazu, dass die ‚summi honores‘ nicht ein leeres Gepränge und die Anerkennung wissenschaftlicher Selbständigkeit durch unsere Diplome nicht ein Spiel der Frivolität werde!“ 144 In seiner Kritik an den „Massenpromotionen“ von niedrigstem Niveau noch schärfer, im Festhalten am individualistischen Leistungsgedanken im Promotionsverfahren zugleich ebenso konservativ zeigte sich der Münchener Rechtshistoriker Karl von Amira in seinem Vortrag von 1913 zur „Reform der Doktorpromotion“,145 in dem er zugleich die Ergebnisse einer Umfrage auswertete. Die Spitze seiner Gravamina bildete wie eh und je das Promotionswandern der Juristen zu den Fakultäten mit den geringsten Anforderungen und die unheilige Allianz von Titelsucht und professoralem Einkommensinte­ resse. Gebührenverstaatlichung und Besoldungsreform sollten dagegen Abhilfe schaffen. 144 Gothein, Doktordissertationen [Anm. 142], S. 787, 792. 145 Amira, Reform [Anm. 20].

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Zugleich aber entwickelte er neue Vorbehalte gegen einen bestimmten Typ naturwissenschaftlicher und technischer Dissertationen: Sie galten jener gesteuerten Forschungsarbeit, die aus den Forschungsfeldern der neuen Großinstitute erwuchsen, von den interessierten Direktoren in arbeitsteiliger Parzellierung vergeben und von vorgegebenen Frage- und Problemstellungen abhängig waren. Dies s­ eien keine selbstständigen wissenschaftlichen Arbeiten und entbehrten jener Originalität, die als Reifekriterium für junge Gelehrte unverzichtbar sei. Insgesamt registrierte er mit Bekümmernis eine um sich greifende Resignation unter den Kollegen, die empfahlen, sich um das Promotionswesen gar nicht zu bekümmern und alles laufen zu lassen, da die Promotion für die von Staatsexamina und Diplomen geprägten Berufsfelder ohnehin ohne qualitative Bedeutung sei und es auf den Titel ernsthaft gar nicht ankomme. Dies war nun aus universitärer Sicht schon deshalb nicht hinnehmbar, weil die Promotion für akademische Karrieren, namentlich als Voraussetzung für die Habilitation, ein hartes Qualifikationskriterium war. Amiras Forderungen richteten sich daher, wie dies schon Mommsens Anliegen gewesen war, auf eine qualitätssichernde Rückführung der Promotion auf genuin wissenschaftliche Ziele und Zwecke; sie sollte alle deutschsprachigen Universitäten erfassen. Die medizinischen Fakultäten Österreichs sollten deshalb eine Dissertation einführen. An der individuellen Publikation jeder Dissertation, und zwar mit Nennung des Referenten, war festzuhalten. Die mündliche Prüfung sollte verschärft, im Niveau über die Staatsexamina gestellt und in ihrem Gehalt als Feststellung genuin wissenschaftlichen Denkvermögens von diesen abgegrenzt werden. Vor allem wollte Amira die Promotionsquote rigoros gesenkt wissen. „Mit der Massenpromotion muss gebrochen werden.“ Das allgemeine Publikum, so hoffte er, mochte bei einer rigiden Einschränkung des Promotionsgeschäfts mit der Zeit der gesellschaftlichen Wertschätzung substanzloser Doktortitel entwöhnt werden. Die deutschsprachigen Universitäten waren nicht nur am Ende des ‚langen‘ 19. Jahrhunderts, sondern noch tief in das weitere 20. Jahrhundert hinein weit davon entfernt, sich in ihrer Promotionspraxis dem Reformkonzept von Mommsen oder Amira anzunähern. Solange das soziokulturell tief eingewurzelte Titelbedürfnis ungebrochen und der Drang der autonomen Fakultäten, dies marktmäßig zu ­nutzen, ungebremst war, bestand wenig Aussicht auf eine leistungsorientierte Eindämmung dieser Praxis durch interfakultäre kollegiale Selbstverpflichtung. Zugleich aber wirkten, wie noch an dem bildungsbürgerlichen Glaubensbekenntnis Gotheins deutlich erkennbar wurde, im inneruniversitären Raum auch traditionsbezogene mentale Schranken gegen den Abbau des an die Promotion geknüpften i­deellen Anspruchs, mit der Vergabe der Würde dem Träger einen akademischen Status zuzuerkennen, der jenseits fachlicher Qualifizierung eine auf wissenschaftlicher Bildung beruhende gesellschaftliche Vorbildrolle umschloss. Eine s­ olche, in der deutschen Tradition verankerte Vorstellung stand quer zu den allgemeinen Prozessen der Verfachlichung

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und zu der Tendenz, die Promotion in ein von Professionalisierungsmaximen bestimmtes Prüfungssystem einzubauen. Wenn in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dann gleichwohl ein deutlicher ­Wandel in eben dieser Richtung eingetreten ist, so waren dafür vor allem tiefgreifende Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen maßgebend. Mit der weitgehenden Auflösung des Bildungsbürgertums als quasi-ständischer Formation minderte sich auch das Verständnis dafür, den Doktortitel als allgemeines und umgreifendes Symbol der Zugehörigkeit zur akademischen Welt zu sehen und zu schätzen; dementsprechend sank relativ das Bedürfnis nach seinem Erwerb. Zwar kennt auch die nachbürgerliche Gesellschaft den unverminderten Drang nach Titeln, und der Doktortitel spielt darin seine Rolle; jedoch ist im Zuge der Professionalisierung eine Fülle fachbezogener akademischer Grade entstanden, die die jeweilige Qualifikation ihrer Träger präziser angeben und das mitschwingende Statusbedürfnis auf informativere Weise befriedigen. Dieser Entlastungsprozess gab Raum für eine qualitätssichernde nachhaltige Anhebung des Promotionsniveaus und den Einbau der Promotion in das übrige staatliche und universitäre Prüfungssystem. Mit der Bindung des Promotionsverfahrens an die Voraussetzung eines ersten qualifizierten Studienabschlusses war die Möglichkeit gegeben, sie als leistungs­ bezogene echte Zusatzqualifikation in einem definierten fachlichen Horizont und bei stark aufgefächerten Doktor-Bezeichnungen auszugestalten. Darin sind schließlich auch die berufsunspezifischen Promotionen der philosophischen Fakultäten mit der Wieder­ belebung des Magistergrades für den ersten Abschluss einbezogen worden. (Für die medizinische Promotion gibt es allerdings erst Ansätze zu dieser Qualitätssteigerung; daher die Übernahme von Promotionsfunktionen durch die Habilitation.) Der ursprüngliche Sinn und Gehalt der Graduierung in der vorklassischen wie der klassischen Universität hat sich dabei freilich weitgehend verflüchtigt.

Erstveröffentlichung der Abhandlungen Universität und Studenten in Deutschland z­ wischen alteuropäischer und moderner Welt, in: Wider Zopf und Philisterey. Deutsche Studenten ­zwischen Reformzeit und Revolution 1800 – 1850 [Ausstellungskatalog] (Kleine Drucke der Universitätsbibliothek Würzburg 4), Würzburg 1985, S. 20 – 55. Studentische Korporationen und politisch-sozialer Wandel. Modernisierung und Antimodernis­ mus, in: Wolfgang Hardtwig und Harm-Hinrich Brandt (Hgg.), Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert, München 1993 [Gedenkschrift für Thomas Nipperdey], S. 122 – 143. Auseinandersetzungen während der Frühzeit der Erlanger Burschenschaftsbewegung, in: Stadtmuseum Erlangen (Hg.), Die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg 1743 – 1993. Geschichte einer deutschen Hochschule, Erlangen 1993, S. 53 – 64. Vom Magisterschmaus und anderen merkwürdigen Vorkommnissen bei den Examina der alten Universitäten. Vortrag zur Urkunden-Verleihung 15. Februar 1992. Abdruck in: Magisterreden der Philosophischen Fakultät II der Universität Würzburg, Würzburg 1996, S. 67 – 79. Studenten in der Revolution von 1848. Vortrag am Symposium: Student und Nation im 19. Jahrhundert, Jena, 5. Dezember 1998 [bislang unveröffentlicht]. Studierende im Humboldt’schen Modell des 19. Jahrhunderts, in: Rainer C. Schwinges (Hg.), Humboldt International. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert, Basel 2001, S. 131 – 150. Julius oder Maximilian? Von der katholischen Lehranstalt zur modernen Hochschule. Ein Beitrag zum Jubiläum der Julius-Maximilians-Universität, in: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 54 (2002), S. 229 – 253. Promotionen und Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, in: Rainer C. Schwinges (Hg.), ­Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert, Basel 2007, S. 625 – 706.

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Johann Christoph Hafner (1668 – 1754), „Studiosus dilligens“, um 1750, Schabkunstblatt, koloriert, 31,5 × 20,7 cm; Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg, Slg. des Verbands Alter Corpsstudenten (VAC), Sign. 882/F 2.20. Abb. 2: Nicolas-Marie-Joseph Chapuy (Entwerfer, 1790 – 1858) / Auguste Mathieu (Lithograph, Lebensdaten unbek.), „Vorhalle des Otto Heinrich im Heidelberger Schloss“, um 1840, getönte Lithographie, 44,5 × 32,9 cm; Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg, Slg. der Deutschen Gesellschaft für Hochschulkunde, Inv.-Nr. IfH-G387. Abb. 3: Friedrich Wilhelm Geiling (Entwerfer u. Lithograph, 1819 – 1860), „Duell auf Schläger“, Jena WS 1858/59, Farblithographie 51,8 × 74,9 cm, Farbendruck v. Winckelmann u. Söhne in Berlin, unter Leitung von C. Köpper, Verlag Carl Doebereiner in Jena; Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg, Slg. des Verbands Alter Corpsstudenten (VAC), Sign. 882/F 1.20. Abb. 4: François Georgin (Holzschneider, 1801 – 1863), „Insurrection de Francfort“, um 1833, schablonenkolorierter Holzschnitt, 41,8 × 64 cm; Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg, Slg. des Coburger Convents (CC), Inv.-Nr. IfH-G235. Abb. 5: Unbekannter Künstler, „Die Burschenfahrt auf die Wartburg am 18ten Octobr. 1817“, Radierung 28 × 33,7 cm; Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg, Slg. des Verbands Alter Corpsstudenten (VAC), Sign. 882/F 3.288. Abb. 6: Johann Adam Klein (Entwerfer, 1792 – 1875) / Conrad Wies[ß]ner (Lithograph, 1796 – 1865), „Rückkehr der Studierenden von Altdorf über Nürnberg nach Erlangen, den 5[.] März 1822.“, um 1822, kolorierte Lithographie, 37,8 × 51 cm; Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg, Slg. des Verbands Alter Corpsstudenten (VAC), Sign. 882/F 2.181. Abb. 7: Johann Martin Trechsel (Entwerfer, 1661 – 1735) / Johann Georg Puschner (Stecher, 1680 – 1749), „Das Auditorium Welserianum im Collegio Altdorf mit einem Actu Doctorali, dergleichen am Petri und Paul Fest darinnen vorgenommen wird.“, vor 1711, Kupferstich u. Radierung 29,8 × 40 cm, aus: „Amoenitates Altdorfinae oder Eigentliche nach dem Leben gezeichnete Prospecten der Löblichen Universität Altdorf “, Blatt 11; Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg, Slg. des Verbands Alter Corpsstudenten (VAC), Inv.-Nr. IfH-G1 – 11, Sign. 882/F 3.592 – 11. Abb. 8: Glaspokal der Wiener Nationalgarde, 1848, rotes böhmisches Glas, Bemalung in Gold und Silbergrau, h: 23,5 cm, d: 10 cm; Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg, Slg. der Deutschen Gesellschaft für Hochschulkunde (DGfH). Abb. 9: Wilhelm Bülow (Entwerfer u. Lithograph, Lebensdaten unbek.), „Vertheidigung der Barrikade. Neue Königsstrasse und Alexanderplatz in Berlin“, um 1848, Farblithographie, 33,8 × 43,8 cm; Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg, Slg. des Verbands Alter Corpsstudenten (VAC), Inv.-Nr. IfH-G78, Sign. 882/F 2.156. Abb. 10: Joseph Maximilian Kolb (Stecher, 2. Hälfte 19. Jh.), „Die Universität in Berlin“, um 1880, Stahlstich, 15,2 × 25,2 cm; Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg, Slg. der Deutschen Gesellschaft für Hochschulkunde, Inv.-Nr. IfH-G50.

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 11: Franz Krüger (Entwerfer, 1797 – 1857) / Johann Leonhard Raab (Stecher, 1825 – 1899), Bildnis Wilhelm von Humboldts, Kupferstich, 34,6 × 28,3 cm; Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg, Slg. der Deutschen Gesellschaft für Hochschulkunde (DGfH). Abb. 12: Matthäus Merian (1593 – 1650), Ansicht der Alten Universität Würzburg mit Universitätskirche, 1648, Kupferstich, 33,6 × 40 cm; nach einem Stich von Johann Leypolt (1591); Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg, Archiv des Coburger Convents (CC), Sign. IfH-G1033. Abb. 13: Bierkrug anlässlich der „III. Säkularfeier der Universität Würzburg 1. Aug. 1882.“ (= Bez. auf Porzellaneinsatz des Zinndeckels), farbloses Glas, 0,5 l, h: ca. 17,5 cm, mit Deckelheber ca. 21 cm; Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg, Slg. der Deutschen Gesellschaft für Hochschulkunde, NZ-Nr. Zim. 8. Abb. 14: Ottmar Zieher (1857 – 1924), Ansichtskarte „Gruss aus Würzburg“, um 1899, datiert: „W[ürzburg]. 5. 1. 1900“, Chromolithographie 13,8 × 8,9 cm, Kunstanstalt München; Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg, Slg. der Deutschen Gesellschaft für Hochschulkunde. Abb. 15: Johann Peter Hasenclever (Entwerfer 1810 – 1853) / T. W. Theodor Janssen (Stecher, 1816 – 1894), „Der Candidat Jobs im Examen“, 1844, Kupferstich, Blatt: 37,2 × 47,2 cm, Druckplatte: 22 × 25,8 cm, Düsseldorf Verlag Julius Buddeus, nach der Komödie „Jobsiadum“ von Carl Arnold Kortum; Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg, Slg. des Verbands Alter Corpsstudenten (VAC), Sign. 882/F 2.147 – 2, Inv.-Nr. IfH-G1509 – 2.