Student in Rot-Weiß-Rot: Wien 1955-1960
 9783205793434, 9783205795773

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Manfried Welan

STUDENT IN ROT-WEISS-ROT ­W IEN 1955–1960 Mit einem Vorwort von Heinrich Neisser

2014 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Mit freundlicher Unterstützung durch : Ehrensenatorin Elisabeth Christoph und Ehrensenator Andreas Klauser NÖ Landesregierung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abruf bar. Umschlagabbildung  : Manfried Welan im Jahr 1955; Fotograf : Professor Franz Welan © 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, ­Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 ­Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat : Jörg Eipper-Kaiser , Graz Einbandgestaltung  : Michael Haderer , ­Wien Satz  : Carolin Noack , ­Wien Druck und Bindung  : BALTO print , Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79577-3

Inhalt Dank. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs. . . . . . ­Wien 1955. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Weg zum Jusstudium. . . . . . . . . . . . . . Der Siegfriedskopf in der Aula. . . . . . . . . . . Kaiser Franz Joseph auf der Juristenstiege. . . . . Wir Studenten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Potemkinsches Studium – Studienrecht und Studienwirklichkeit. . . . . . . Wie ich studierte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Justitia im Justizpalast und die Jurisprudenz im Festsaal der Universität. . . . . . . . . . . . . Das Beste am Jusstudium und seine Schwächen. . Meine Lehrer und meine Lehrerin. . . . . . . . . Mein erster Rechtslehrer – Heinrich Rischanek (1891–1971). . . . . . . . . August Maria Knoll (1900–1963). . . . . . . . Alfred Verdroß-Droßberg (1890–1980). . . . . Hans Kreller (1887–1958). . . . . . . . . . . . . Sibylle Bolla-Kotek de Csaford-Jobbaháza (1913–1969). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theophil Melicher (1890–1970). . . . . . . . . Hans Lentze (1909–1970). . . . . . . . . . . . Willibald M. Plöchl (1907–1984). . . . . . . . Karl Wolff (1890–1963). . . . . . . . . . . . . . Fritz Schwind (1913–2013). . . . . . . . . . . . Heinrich Demelius (1893–1987). . . . . . . . . Hans Schima (1894–1979). . . . . . . . . . . . Roland Graßberger (1905–1991). . . . . . . . . Adolf Julius Merkl (1890–1970). . . . . . . . .

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Walter Antoniolli (1907–2006). . . . . . . Günther Winkler (geb. 1929). . . . . . . Alexander Mahr (1896–1972). . . . . . . René Marcic (1919–1971). . . . . . . . . . Resümee. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Lehrer, der nicht da war: Hans Kelsen (1881–1973). . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten. . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenwelten: meine Eltern und ich. . . . . . . . Meine Suche nach Büchern. . . . . . . . . . . . Eine Bibliothek der Weltliteratur. . . . . . . . . Von der Bibliothek zum Schatzkästlein. . . . . . Leitzitate und Lebensbücher. . . . . . . . . . . . Theater. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rollen und Masken. . . . . . . . . . . . . . . . . Die Scala – mein Leib- und Lieblingstheater. . . Die Wiedereröffnung des Burgtheaters: „Die Krönung des Wiederauf baus“. . . . . . . . Komparse am Burgtheater. . . . . . . . . . . . . Der Jahrhundert-Don-Karlos unter der Regie Josef Gielens und seine Folgen für mich. . . . . . Wer war Josef Kainz?. . . . . . . . . . . . . . . . Hilfsarbeiter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In der Tabakregie. . . . . . . . . . . . . . . . . . „Jetz’ san ma Beamte“ – Arbeiter und Studenten. „Ich muss Schauspieler werden!“. . . . . . . . . . Nachhilfelehrer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neben- und Gegenwelt CV. . . . . . . . . . . . . . Der Tod des Vaters. . . . . . . . . . . . . . . . . Eintritt in den CV. . . . . . . . . . . . . . . . . Fuchs in der Franco-Bavaria. . . . . . . . . . . . Bursch und Senior der Franco-Bavaria. . . . . . Was gab mir der CV ?. . . . . . . . . . . . . . . .

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Prominente CVer aus meiner Zeit – Eduard Chaloupka (1902–1967) und Friedrich Heer (1916–1983). . . . . . . . . . . . 155 Zwei weitere prominente CVer aus meiner Zeit – Heinrich Drimmel (1912–1991) und Wilfried Daim (geb. 1923). . . . . . . . . . . . 158 Resümee. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Teil 3 – Unsere Generation: die Engagierten. . . . . . . . 163 „Österreich“-, „Staats“- und „Europa“-Generation. . . . 163 Literatur (Auswahl). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Tafelteil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Dank Für viele gute Gespräche , die nicht enden sollen , danke ich : Alfred Ankner , Ernst Bruckmüller , Christian Brünner , Helmut Buchta , Peter Diem , Hubert Christian Ehalt , Ruth Elvira und Wolfgang Groiss , Karl Fries , Ilse und Helmuth Gatter­bauer , Bernhard Görg , Margarete Grandner , Wolfgang Greisen­egger , Martin Haidinger , Gerhard Hartmann , Waltraud Heindl , Hans-Georg Heinrich , Herbert Hofer-Zeni , Raoul Kneucker , Alfred Kyrer , Walter Langer , Karin Liebhart , Maximilian Liebmann , Wolfgang Mantl , Peter Marboe , Herbert Markwitz , ­Michael Mitterauer , Heinrich Neisser , Alfred Noll , Ada und Wilhelm Pellert , Gerhardt Plöchl , Oliver Rathkolb , Gerd Rittenauer , Julia Rüdiger , Karlheinz Schrödl , Eva Schulev-Steindl , Günther Steinbach , Herbert Steinbauer , Alfred Strommer , Gunther Tichy , Helmut Wohnout , Robert Wychera Besonderen Dank an : Ehrensenatorin Elisabeth Christoph und Ehrensenator Andreas Klauser

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Vorwort Heinrich Neisser Manfried Welan hat den dritten Teil seiner Lebenstrilogie abgeschlossen : „Student in Rot-Weiß-Rot. 1955–1960“ – der ­Titel klingt fast wie eine chauvinistische Rückbesinnung auf das Studentenleben des Autors. Darum geht es aber nicht. Der Bezug auf die österreichischen Staatsfarben bringt in einer symbolhaften Weise zum Ausdruck , dass wir – Manfried ist Jahrgang 1937 , ich bin 1936 geboren – in unseren entscheidenden Phasen das Werden und Wachsen der Zweiten Republik miterlebt ­haben , vor allem ihren Weg in die politische Freiheit. Manfried nennt unsere Generation die „Staatsgeneration“, weil sie das Wiedererstehen unseres Landes in jungen und reiferen Jahren erlebt und getragen hat. Es waren zwei tief gehende Erlebnisse , die unserer Genera­tion den Wert der Freiheit des Denkens und des Handelns besonders nahebrachten : zum einen der große Augenblick , als Leopold Figl am 15. Mai 1955 am Balkon des Belvedere rief , dass Österreich frei sei , und das Dokument des unterzeichneten Staatsvertrages triumphierend in die Höhe hielt ; zum andern der ungarische Freiheitskampf im Herbst des Jahres 1956 , der brutal vom sowjetischen Panzerkommunismus niedergewalzt wurde und in dem Österreich zehntausenden ungarischen Flüchtlingen Schutz und Aufenthalt gewährte. Seit dieser Niederlage der Freiheit hat sich in meinem Bewusstsein die Überzeugung gefestigt , dass Freiheit ein Gut ist , um das immer und überall gekämpft werden muss. Manfried Welan ist kein Memoirenschreiber im gängigen Sinn. Chronologie ist für ihn lediglich der zeitliche Rahmen , um Zusammenhänge und vor allem Menschen zu charakterisieren. Sein eminentes Wissen , seine humanistische Bildung und seine kulturelle Leidenschaft versetzen ihn in die Lage , ein Zeitzeuge besonderer Art zu sein. 10

Vorwort

Rückblicke in die Studentenzeit geraten oft zu schwärmerischen Verklärungen vergangener Zeiten. Das ist der „Student in Rot-Weiß-Rot“ nicht. Er ruft vielmehr eine Realität in Erinnerung , die für meine Generation trotz aller Freiheit , die wir genossen haben , oft auch irritierend war. Als Studenten erlebten wir eine Universität , die durch Tradition und Hierarchie geprägt war und an der von der immer wieder gerühmten „universitas magistrorum et discipulorum“ wenig zu merken war. Die „Ordinarienuniversität“ bot wenig Ermunterndes und Innovatives , obwohl sie zum Teil durch große Persönlichkeiten der Wissenschaft repräsentiert wurde. Sie verschloss sich lange Zeit einer notwendigen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Die übergroße Steinfigur von Franz Joseph dominierte die Juristenstiege im Hauptgebäude der Universität , sie schien ein Symbol der Verbundenheit zu Vergangenem zu sein – wenn es um die Gegenwart ging , war man meist mit Verlegenheiten konfrontiert. Wir sangen in unseren Studentenverbindungen aus voller Brust regelmäßig das „Gaudeamus igitur“, ein studentisches Tradi­ tionslied , das als das hohe Lob auf die Freuden des Studentenlebens angesehen wurde. So herrlich war es allerdings auch wieder nicht. Obwohl der Großteil der damals Studierenden nicht mit unmittelbaren Existenzängsten konfrontiert war , zwang die Meisten ihre soziale Situation zu Bescheidenheit und Disziplin. In der Umgebung der Universität gab es immer viele freie Parkplätze. Die Zahl der Werkstudenten war groß. Auch Manfried Welan musste Geld als Nachhilfelehrer verdienen. Er verdingte sich aber auch als Hilfsarbeiter in der Austria Tabakwerke AG. Er war beides : Hilfsarbeiter und Nachhilfelehrer des Sohnes des Betriebsratsobmannes. Seine Beschreibung des Arbeitsklimas in dem ehemals erfolgreichsten Monopolbetrieb der Republik ist ein literarisches Kabinettstück. Manfried und ich immatrikulierten und inskribierten an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität W ­ ien. Wir hatten beide keine besonderen Vorgaben für ein Jusstudium. Wir 11

Heinrich Neisser

orientierten uns lediglich an der damals gängigen pragmatischen Erkenntnis , dass das Studium der Rechtswissenschaften relativ breite Einstiegsmöglichkeiten in ein Berufsleben eröffnete. Es war dies eigentlich ein Studium , das außerhalb der Universität stattfand. Rechtskurse als private Einrichtungen vermittelten uns die Basis , die Universität lieferte gleichsam nur Accessoires. Viele Studierende kannten die Räumlichkeiten der Universität überhaupt nur von Prüfungen und den vorgeschriebenen Pflichtübungen. Dass aber auch Rechtskurse zu bedeutenden menschlichen Begegnungen führen konnten , beweist Welan mit einer berührenden Erinnerung an seinen Rechtslehrer Heinrich Rischanek. Die Studien- und sozialen Lebensverhältnisse in den Jahren 1950 und 1960 führten bei vielen unserer Kolleginnen und Kollegen zu einer pragmatischen Grundeinstellung. Pragmatismus , verbunden mit Utilitarismus , schien die geeignete Grundlage für den weiteren Lebensweg zu sein. Sie machte aus vielen ­g ute Fachleute und engagierte Berufstätige. Sie führte aber auch zu einer Eindimensionalität , die in Routine und Bequemlichkeit mündete. Manfried Welan war dieser Gefahr in keiner Phase seines Lebens ausgesetzt. Er gehört zu den vielseitigsten und begabtesten Menschen , denen ich im Leben begegnet bin. Seine Interessen , seine intellektuelle Dynamik und seine Kreativität des Denkens und der Sprache machen es ihm leicht , Gegenwelten zu begründen , die für sein Leben ebenso bestimmend waren wie die Arena seines Berufes. Seine Beziehungen zum Theater und zur Literatur sind keine Hobbys , sondern Wesensbereiche ­eines Menschen , der aus dem Reichtum und der Kraft seiner ­Talente schöpferisch tätig ist. Die Freundschaft mit ihm war und ist noch immer bereichernd. Es gibt viele Gründe , auch den letzten Teil der Welan’schen Lebenstrilogie der heutigen Generation zur Lektüre zu empfehlen. Es handelt sich dabei nicht nur um ein faszinierendes Dokument einer Erinnerungskultur. Manfried Welan hat bewiesen , 12

Vorwort

dass eine starke Persönlichkeit trotz mancher Schwierigkeiten und Enttäuschungen im persönlichen Leben für eine Gesellschaft Anregungen geben kann , mit denen man sich auseinandersetzen muss und die zum Weiterdenken nötigen. Allein dafür ist ihm von allen zu danken , die ihm begegnet sind – in der Politik , in der Wissenschaft und als seine persönlichen Freunde.

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Einleitung Der Ruf des österreichischen Außenministers Leopold Figl „Österreich ist frei !“ am 15. Mai 1955 war für mich ein Aufruf. Ich ­jubelte mitten in der Menge im Belvedere-Garten und freute mich : Österreich hatte den Staatsvertrag , Österreich war frei , selbstständig , unabhängig , souverän ! Wir waren wieder wer ! So politisch froh , so politisch glücklich , so frei hab ich mich dann später nie wieder gefühlt. Ich hatte damals gerade meine Matura mit Auszeichnung bestanden und war in Hochstimmung. Unser alter Direktor Weiland , dessen Wahlspruch „Aus Nacht zum Licht – durch Liebe ! “ war , schrieb uns zur Matura einen Brief , in dem es unter anderem heißt : „Eine ‚Matura‘ abgelegt zu haben , kann heute bei der großen Zahl an Maturanten wenig , es kann aber auch viel bedeuten. Treten Sie durch Geist , Haltung und Leistung unter die Zahl derer , denen und durch die Bildung viel bedeutet , nämlich ­höheres , edleres Menschentum ! Menschsein heißt immer wieder : Mehr und besser Mensch zu werden ! Darum erstrebt Humanismus als gleichsam ewige Aufgabe und ewiges Ziel nicht nur das ,Humanum‘ , sondern die ,Humaniora‘ , das Mensch­l iche veredelt durch Geist und Sitte , das Menschliche auf einer höheren Ebene , das Menschliche als unsere Aufgabe , unsere Probe und unser Verdienst , Kinder und Kinder des Geistes zu sein , der in der Ethik , in der Liebe gipfelt. In diesem Sinne , meine lieben Maturanten des Jahres 1955 , gebe ich Ihnen meine Glückwünsche mit und begleite Sie hinaus , gläubig und hoffend zur Lebensfahrt.“ Diese Worte habe ich nie vergessen und habe sie auf meinem Lebensweg als Orientierung mitgenommen. Leopold Figls Ruf weckte mich auf und ich wollte ein besonderer Österreicher werden. Österreich war auf einmal ganz anders geworden , wirklich ganz anders geworden , als ich es bisher erlebt hatte. Es hatte für mich neues Leben erhalten. Ich erlebte die Freude , ein freier Österreicher zu sein und zu jenen zu ge14

Einleitung

hören , die ihr Studium bewusst in einem ganz neuen Österreich begannen : Ich war ein Student in Rot-Weiß-Rot. Von 1955–1960 studierte ich an der Juridischen Fakultät der Universität ­Wien. Ich habe in diesen Jahren mehr Zeit und Freiheit gehabt als je vorher und nachher. Über diese Zeit berichte ich , wie ich sie jetzt sehe. Es waren lange , graue Jahre , aber Jahre einer Jugend. Ich studierte , aber ich studierte anders und anderes. Davon handelt dieses Buch. Ich ging von Anfang an in einen Rechtskurs , wie es der Juristentradition entsprach , und zahlte ein Mehrfaches der Uni-Studiengebühren. Die Uni besuchte ich auch , aber nur bestimmte , ausgesuchte Lehrveranstaltungen. Daneben begann ich eine Tätigkeit als Komparse am mit Glanz und Gloria eröffneten Burgtheater und wollte Schauspieler werden. Aber ich war als Jusstudent erfolgreich und legte sukzessive die vorgesehenen Prüfungen ab. Daneben war ich Nachhilfelehrer und gegen Ende des Studiums bereitete ich schon Kolleginnen und Kollegen auf Prüfungen an der Uni vor. Der Hauptsache nach machte ich von der großen Freiheit Gebrauch , die uns die Universität schenkte. Dafür bin ich dankbar.

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Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs ­W ien 1955

Im Jahre 1955 war W ­ ien noch eine vom Krieg getroffene Stadt. Die Gebäude waren grau und schwarz. Es gab viel Staub und viel Ruß. Die Innere Stadt lag in einer schwärzlich-rötlichen Dauerdämmerung und es roch nach Verbranntem. Es war , wie wenn immer November wäre. Aber sie war von einer Vornehmheit , die verloren gegangen ist. Der Film „Der dritte Mann“ bringt mir einen Teil meiner Kindheit in Erinnerung , Reinhold Schneiders Buch „Winter in ­Wien“ Teile meiner Studienzeit. Es handelt auch von der Inneren Stadt und vom Inneren der Stadt. Ich lernte beide während meines Jusstudiums näher kennen. Die Stadt war voller Erinnerungen. Die an den Krieg waren für mich als Gymnasiasten am lebendigsten gewesen. Dafür hatten nicht nur die Zerstörungen , sondern auch die das Stadtbild prägenden Alliierten und die von ihnen besetzten Gebäude gesorgt. Aber wir haben Glück gehabt. 1955 hatten wir endlich den Staatsvertrag mit den vier Besatzungsmächten abschließen können. Jahrelang war darum gerungen worden und ich hatte nicht mehr geglaubt , dass er je zustande kommen würde. Als einjähriges Kind war ich 1938 infolge der Besetzung Österreichs durch Hitler zum Deutschen gemacht worden. 1945 wurde ich nach der siebenjährigen deutschen Besetzung wieder Österreicher. Dann kam die Zehnjährige durch die Alliierten , die uns von der deutschen Besetzung befreit hatten. Ich habe also den größten Teil meiner Kindheit und Jugend , nämlich siebzehn Jahre , unter Besatzungen gelebt und ich habe es gemerkt. Zu oft sah ich Bilder Hitlers und Stalins und lernte , wozu totalitäre Diktaturen , aber auch Demokratien wie die USA fähig sind. Ich war nie so „glücklich“, das zu vergessen. 16

­Wien 195

Als ich 14 Jahre geworden war , gaben mir meine Eltern die Möglichkeit , eine interessante Lehre zu beginnen. Ich interessierte mich damals sehr für optische Instrumente und hatte ein wunderschönes Mikroskop. Trotz der guten Aufstiegsmöglichkeiten als Optiker wollte ich aber schon mit 14 unbedingt Student werden. Ich war immer schon Vorzugsschüler gewesen und setzte das auch in der Oberstufe fort. Die Schule war stolz auf mich und Lehrerinnen und Lehrer förderten mich , auch durch höhere Anforderungen. Ich bestand die Matura mit Auszeichnung und durch die Reifeprüfung war ich auch wie die Republik in meinem Umfeld frei geworden. Zunächst ging es auf die Maturareise. Heute geht sie nicht selten in weite Fernen , zur Chinesischen Mauer oder nach Neuseeland ; wir fuhren nach Niederösterreich , zur romanischen Kirche mit der Steinernen Bibel in Schöngrabern. Privat machten mein Freund Robert Wychera und ich uns per Autostopp nach Italien auf und „trampten“ in späteren Jahren durch ganz Europa. Unser Religionsprofessor hatte uns für Klöster und Pfarren mit einem Geleitbrief ausgestattet , über dessen Latein zwar manche Geistliche lächelten , der uns aber sehr half. Nach ­Wien zurückgekommen , schrieb ich „Italienische Bilder“ und schickte das Manuskript an die Zeitschrift „Neue Wege“. Sie war mein Leib- und Geistblatt. Der Beitrag erschien und ich war so glücklich , wie man es als Anfänger ist. Chefredakteur Friedrich Polakovics ermunterte mich , weiterzuschreiben. Ich kam nicht dazu. Am Tag nach der Beendigung der Besetzung , am 26. Oktober 1955 , beschloss der Nationalrat das Verfassungsgesetz über die immerwährende Neutralität Österreichs. Da wurde auch gefeiert , aber nicht so gejubelt wie am 15. Mai. Wirklich gejubelt wurde in ­Wien ja nicht über die Staatspolitik , sondern über die Wiedereröffnung von Burg und Oper. Das waren die wahren Staatsakte und die „Krönung“ des Wiederauf baus. Die Musik- und Theaterstadt W ­ ien machte mobil. Burgtheater und Staatsoper erstrahlten neu in Glanz und Glo17

Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs

ria und das Publikum jubelte. Das Theater , nicht die Universität war das Leitmedium und das erlebte jetzt in den erneuerten und schönen Häusern seine Feiern. Das „K. K . Hoftheater“ mit seinen apollinischen und dionysischen Elementen und seinen Klassikern an der Fassade strahlte. Auf der anderen Seite der Ringstraße stand die Universität grau und gar nicht strahlend da. Über ein Viertel ihres Baubestandes und fast drei Viertel der Dacheindeckung waren durch Bombentreffer zerstört worden. Hier strahlte nichts. Hier waren Traditionen der Vernachlässigung , nicht Glanz und Gloria. Man hat sie anderswo Musenthron genannt und die Studenten Musensöhne. Aber hier war die Universität nie das Leitmedium gewesen. Das waren die Theater , vor allem Burg und Oper. Während Apollo von der Höhe des Burgtheaters glänzte , war die Geburt der Athene auf dem Giebel der Universität nicht zu erkennen und die Schrift „Universitas Litterarum Vindobonensis“ nur zu erahnen. Vom Burgtheater war ich begeistert , von der Universität enttäuscht. Sie sah wie ein vernachlässigtes Museum aus. Der Weg zum Jusstudium

Als junger Mann hatte ich Ideale , aber wenige Illusionen. Eine davon hatte die Universität W ­ ien betroffen. Ich hatte besondere Vorstellungen vom „Renaissancepalast der Bildung“, wie ein Lehrer sie genannt hatte. Aber dieser „Palast“ war gegen unser helles , modernes Gymnasium grau und schwarz. Dort sollte ich studieren ? Was wollte ich überhaupt studieren ? Ich hatte viele Interessen und daher war das Realgymnasium für mich ideal gewesen. Gab es dazu eine Fortsetzung auf der Universität ? Germanistik , Theater- und Sportwissenschaften wären ein Wunsch gewesen , aber da waren wenige Aussichten. 18

Der Weg zum Jusstudium

Gymnasiallehrer wie mein Vater wollte ich nicht werden. Daher kam auch das Studium an der Akademie der bildenden Künste nicht infrage , zu dem mich mein Zeichenlehrer , der Maler Wolfgang Schönthal , hatte bringen wollen. Aber er hat mich zu Alfred Kubin und Hans Fronius gebracht. Ein Bekannter meines Vaters riet mir , Jus zu studieren : „Wenn du nicht weißt , was du studieren sollst , dann studier Jus ! Jus ist das Beste für vielseitig Begabte ! “ Er überzeugte mich , dass diese Entscheidung nichts Endgültiges sei. Das Jusstudium ziele auf eine besondere Art erweiterter Matura und steigere die Allgemeinbildung. Es sei universell und öffne Wege zu vielen Berufen. Auch Freunde , die schon Jus studierten , drängten mich dazu und schließlich waren meine Eltern froh , dass ich ein „anständiges“ Studium wählte. Meine Familie hatte keine Beziehung zur Juristerei. Auch das Gymnasium hatte mich nicht mit dem Recht in Beziehung gebracht. Wir lasen nicht Gaius , sondern Gaius Julius Cäsar. Im Ganzen gesehen lasen wir zu viel Cäsar und zu wenig Cicero. Ich war ein Parzival im weiten Land des Rechts. Es war für mich etwas ganz Neues und anderes , vor allem seine Sprache. Als ich mich endlich entschlossen hatte , Jus zu studieren , las ich in der von meinem Vater abonnierten Wochenzeitschrift „Die Furche“ die Schlagzeile : „Adamovich ist tot“. Mir war klar , dass er ein besonderer Mann gewesen sein musste. Ich habe mir gemerkt , dass er im Frühjahr 1945 Rektor der Universität Wien ­­ geworden war und von 1946 bis zu seinem Tod Präsident des Verfassungsgerichtshofes gewesen ist. Seinen Sohn lernte ich früh beruflich kennen und schätzen. Zum Beginn meines Studiums schenkte mir mein Vater „Natur und Kultur“ von Moritz Schlick ( ­Wien , 1952 ). „Damit du nicht zu sehr Jurist wirst.“ Er war Hörer Schlicks gewesen , Anhänger seiner Ethik geworden und verband sie mit dem wienerischen „Leben und leben lassen“. Leider sei Schlick von einem Psychopathen , der auch sein Student gewesen war , 1936 auf der Philosophenstiege erschossen worden. Mein Vater hat mir die 19

Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs

Stelle 1955 gezeigt , und so wusste ich als junger Student mehr als die alte Universität. Denn erst 1993 wurde der von Margarete Grandner und Gernot Heiß , Historiker der Universität ­Wien , entworfene Text in die Philosophenstiege eingelassen. Die Inschrift lautet : „Moritz Schlick , Protagonist des W ­ iener Kreises , wurde am 22. Juni 1936 an dieser Stelle ermordet. Ein durch Rassismus und Intoleranz vergiftetes geistiges Klima hat zur Tat beigetragen.“

Der Siegfriedskopf in der Aula

Zwei Denkmäler in der Universität gehören zu meiner Studienzeit : Der Siegfriedskopf in der Aula und die Kolossalfigur des Franz Joseph auf der Juristenstiege. Freilich war der Siegfriedskopf mehr „Koloss“ als Franz Joseph. Beide sind Symbole ihrer Zeit und meiner Zeit. Der Siegfriedskopf war ein am 9. November 1923 errichtetes Denkmal für die im Ersten Weltkrieg getöteten Angehörigen der Universität W ­ ien. „Ursprünglich als Kriegerdenkmal geplant , wurde der Siegfriedskopf bald zur Ikone der Deutschnationalen Studentenverbindungen und so zum Symbol für politischen Extremismus , Faschismus und Antisemitismus. Er war kein Symbol für eine ,freie , offene und moderne Universität‘.“ ( Text aus : „Kontroverse ,Siegfriedskopf ‘ , wissenschaftliche Aufarbeitung [ … ]“, Universität ­Wien , universitaet-online am 13. Juli 2006 ).

Der Marmorsockel trug die Inschrift : „Ehre , Freiheit , Vaterland , den in Ehren gefallenen Helden unserer Universität , errichtet von der deutschen Studentenschaft und ihren Lehrern“. Schöpfer des Kopfes war Josef Müllner ( 1879–1968 ), Professor für bildende Kunst und Rektor der Akademie , der unter anderem das Karl-Lueger-Denkmal am Ring ( 1926 ) und die Jüng20

Der Siegfriedskopf in der Aula

lingsstatue vor dem Theseus-Tempel geschaffen hat. Er war ein Schüler Zumbuschs. Jeden Mittwoch um 10 Uhr fand in meiner Studienzeit vor diesem Kopf der sogenannte Bummel statt. Da wurde die Welt von gestern durch Mitglieder der farbentragenden Studentenverbindungen aktuell. Sie trafen sich in der Aula , wobei eine strenge Trennung zwischen den katholischen und den schlagenden Verbindungen eingehalten wurde. Der Blick auf den Kopf machte mir klar , dass hier ein ideologischer Kopf lag. Alte Herren sagten : „Des is von de deutschnationalen Schlagenden der 20er-Jahre.“ „Aber warum liegt dann der Kopf noch heute da ? “, fragte ich. „Na ja“, war die Antwort , „die Uni hat nichts gemacht.“ Die Kontroverse um dieses Denkmal zog sich noch in der Zweiten Republik über mehrere Jahrzehnte hin. Erst über 70 Jahre nach der Aufstellung 1923 beschloss der Akademische Senat , den Kopf aus der Aula zu entfernen. Das führte zu einer lang andauernden Debatte. Die Rektoren Ebenbauer und Greisenegger wollten den Kopf „dislozieren“. Aber das Bundesministerium und das Bundesdenkmalamt verbaten dies. Erst durch die Übergabe des Gebäudes an die Universität wurde die Dislozierung möglich. „Die sich über mehrere Dekaden hinziehende Kontroverse um das Gefallenendenkmal war ein Anlass , den Kopf durch ein Kunstprojekt in einen neuen Kontext zu stellen.“ ( Homepage der Universität W ­ ien )

Verbunden mit einer verstärkten historischen Analyse wurde das Gefallenendenkmal künstlerisch umgestaltet. Der Kopf kam unter einen Glassturz , wurde neu kontextualisiert und von der Aula in den hinteren Bereich des Arkadenhofes versetzt. Den Siegfriedskopf umgibt Glas , wobei die Hülle als Träger von Textbeiträgen und Fotografien aus Tageszeitungen von 1923 bis zur Jetztzeit eingesetzt ist. Der Historiker Friedrich Stadler be21

Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs

zeichnet den Kopf als „Stück österreichischer Zeitgeschichte“. Das Denkmal sei von der zu diesem Zeitpunkt deutlich antisemitischen und antidemokratischen deutschen Studentenschaft für die im Ersten Weltkrieg gestorbenen Studenten und Lehrer 1923 aufgestellt worden. In seiner entwickelten Symbolik habe es auf die Siegfriedmythologie der Nibelungen-Sage sowie die „Dolchstoßlegende“ des Ersten Weltkriegs verwiesen. Es sei „Ausdruck eines undemokratischen ethnozentrischen Geistes , der in die Phase des Austrofaschismus und Nationalsozialismus mündete“, so Stadler. Kaiser Franz Joseph auf der Juristenstiege

Als ich das erste Mal die Juristenstiege der Universität betreten wollte , war ich durch die überlebensgroße Steinfigur des Kaisers Franz Joseph irritiert. Wie ein Gott stand er da. Die über zwei Meter hohe kolossale Statue aus Marmor wirkte auf mich bedrückend und bedrohlich. Warum stand sie hier ? Ausgerechnet auf der Juristenstiege ? Auch die Franz-Joseph-Kolossalstatue ist ein Stück österreichische Zeitgeschichte , aber ein älteres. Am Dienstag , dem 27. November 1888 , meldet der Local-Anzeiger der Zeitung „Die Presse“: „Seit gestern schmückt die von Prof. Caspar Ritter von Zumbusch in Laaser Marmor ausgeführte Statue Sr. Majestät des Kaisers das Gebäude der ­Wiener Universität. Gemäß der Entscheidung des Unterrichtsministers wurde als Aufstellungsort das linksseitige Stiegenhaus gewählt , wo selbst in der Brüstung des ersten Stockwerkes eine rote Marmortafel eingelassen wurde , welche in goldenen Lettern den Namen Sr. Majestät des Kaisers trägt. Die achteinhalb Fuß hohe Statue , zwischen 2 Säulenträgern aufgestellt , ruht auf einem ornamentalen Sockel und zeigt den Monarchen im Toison-Costume , die rechte Hand ein wenig vorgestreckt , in der linken eine Rolle haltend.“

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Kaiser Franz Joseph auf der Juristenstiege

Hunderte Male stieg ich im Laufe des Studiums zu Kaiser Franz Joseph hinauf : Ich war ein Student Kaiser Franz ­Josephs. Als junger Verwaltungsjurist an der Technischen Hochschule begegnete ich seinem Bild wieder , vor allem aber seiner Statue im Festsaal. Einige Jahrzehnte später hatte ich Hunderte Male im Festsaal der Universität für Bodenkultur das große Bild Franz Josephs im Ornat vor mir oder , wenn ich meines Amtes als Rektor waltete , hinter mir. Ich war ein Professor und Rektor Franz Josephs geworden. Franz Joseph ist auch auf der Rektorskette , die ich so oft getragen habe. Und er ist auch auf der Altrektorskette , die ich als Auszeichnung erhalten habe. Schließlich ist er auch auf der Ehrenplakette , die ich als Emeritus überreicht bekam. Er blieb mir nicht erspart. Wie viele Abbilder Franz Josephs gibt es allein in ­Wien ? Und wie wenige Kaiser Karls ? Der Figur auf der Juristenstiege war im Kriege der Kopf abgebrochen worden. Er wurde aber schon 1945 der Figur wieder aufgesetzt. Das war gleichsam ein Symbol für die Fortsetzung der Monarchie in der Zweiten Republik. Franz Joseph konnte sich auf seine Juristen verlassen. Jurist zu sein bedeutete in der Monarchie viel , und die Juristen bedeuteten Franz Joseph viel. Die österreichische Verwaltung war lange durch das Juristenmonopol charakterisiert. Die Verwaltungskultur wie die politische Kultur waren lange Zeit eine Juristenkultur. 1918 wurde die Monarchie der Mandarine eine Republik der Mandarine. Das Recht Franz Josephs wurde das Recht der Republik und ist es zum Teil noch jetzt. Das ehrwürdige Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch 1811 ( A BGB ) gilt noch heute , zur Zeit meines Studiums galt auch noch das Strafgesetz 1803. Die dazugehörenden Prozessgesetze waren Früchte der franzisko-josephinischen Rechtskultur. Viele Bereiche des Verfassungsrechts , vor allem rechtsstaatliche Einrichtungen , und große Teile des Verwaltungsrechts stammen aus der konstitutionellen Monarchie. Aber der Monarch hat bis heute das Menschenrecht ver23

Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs

deckt und verdrängt. § 16 ABGB „Jeder Mensch hat angeborene , schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte …“ wurde bis heute nicht populär. Das Staatsoberhaupt hängt in Schulund Amtsstuben. Warum nicht die Menschenrechtserklärung ? Wir Studenten

Form und Inhalt unseres Studiums waren von der Monarchie geprägt. Die Studienordnung war wie die vom Unterrichtsminister Franz Josephs Graf Leo Thun-Hohenstein entworfene , das zu studierende Recht war zu großen Teilen Recht aus der Zeit Franz Josephs , und unsere Lehrer waren – von Ausnahmen abgesehen – auch aus dieser Zeit. Sie waren „Monarchie“, und wenn einer von ihnen den Raum betrat und zu sprechen begann , wurde man daran erinnert. Die Juridische Fakultät war vom Atem des 19. Jahrhunderts durchzogen. Es herrschte eine Atmosphäre der Tradition und eine heute unvorstellbare Hierarchie der Professoren. Ihre Macht im Rahmen der Universität war groß. Sie gründete auf der Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre und auf Herkommen. Die Macht der Universität als solche war klein. Sie war nachgeordnete Dienststelle des zuständigen Bundesministeriums und eine unselbstständige Anstalt. Jeder Professor war Monarch in seinem Bereich. Nicht einmal Dozenten und Assistenten , deren es nur wenige gab , hatten Mitwirkungsrechte , geschweige denn die Studierenden. Innerhalb der Fakultät waren die Vertreter der Fächer der „judiziellen“ Staatsprüfung lange Zeit vorherrschend. Die Hegemonie der Juristen in der Verwaltung kam der Fakultät zugute. Im Großen und Ganzen dominierte – gesinnungs- , nicht parteimäßig – das schwarze Lager ; noch deutlicher im zuständigen Bundesministerium für Unterricht. Die Sozialisten hatten lange Zeit andere Interessen und waren – von Ausnahmen wie Karl Wolff abgesehen – an der Fakultät nicht vertreten. 24

Wir Studenten

In manchen Hörsälen gab es „Lehrkanzeln“ aus Holz unter einem Baldachin. Dort standen die Professoren wie Priester und dozierten und predigten von oben herab. Durch solche Einrichtungen und durch solche Professoren wurde die Monarchie auch im Kleinen fortgesetzt. Frontalvorlesungen waren die Regel. Man musste das nachbeten , was die Lehrer vorsagten. Es war nicht üblich , die Vortragenden zu unterbrechen , um Fragen zu stellen , und wir stellten auch nachher selten Fragen. Wir waren „lamperlfromm“, wie es ein Freund formulierte. Nur wenige gingen in Sprechstunden der Professoren. Die meisten ließen sich buchstäblich alles gefallen , auch wenn es ihnen nicht gefallen hat. Sie besuchten in der Regel ja auch nicht die Vorlesungen der Professoren , sondern die von diesen manchmal sogenannten „Schwindelschulen“, die Paukerkurse , die Rechtskurse. Wir Juristen nahmen zahlenmäßig schon die Massenuniversität vorweg. Wir waren rund 2. 000 an der ­Wiener Universität und stellten die Hälfte der Studierenden. Aber das merkte man nicht. Im Allgemeinen konnte von „Massenuniversität“ nicht die Rede sein. Massen sammelten sich nur bei Immatrikulation , Inskription , Prüfungsanmeldungen und bei manchen An- und Abtesturen. Es war auch schon in der Monarchie so gewesen. Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert studierten an der Uni ­Wien Tausende Juristen , ohne „Massen“ zu bilden. Für mich war die Uni jedenfalls in den 50er-Jahren eine „Massenuniversität“. Der Betrieb war anonymisiert und unpersönlich. Die wenigen Frauen , die studierten , wurden von den meisten Professoren noch schlechter behandelt als ihre Kollegen. Sie wurden von manchen mit der Formel umschrieben : „arbeits­ lose Geschlechtsbienen oder geschlechtslose Arbeitsbienen“. Sie studierten meist besser und rascher als die Männer , erreichten aber trotzdem in der Praxis meist weniger. Ausnahmen bestätigten die Regel. Eine der Besten meines Jahrganges war Helga Nowotny , die auch Dolmetsch studierte , von vielen verehrt wurde und eine große Karriere als Wissenschaftlerin durchlief. Sie wurde u. a. Präsidentin des Europäischen Forschungsrates. 25

Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs

Andere Stars waren die späteren Rechtsanwälte Walter Barfuß und Karl Hempel , die für mich geborene Juristen waren. Rainer Sprung , der spätere Rektor der Universität Innsbruck , war einer der wenigen , der schon als Student wissenschaftliche Beiträge in Fachzeitschriften publizierte. Wir Studierenden waren untereinander per Sie , das Du-Wort war selten , außer bei Mitgliedern von Vereinen oder aufgrund gemeinsamer Gymnasialzeit. Heute ist das Du-Wort schon lange die Regel. Die zukünftigen Juristinnen und Juristen waren korrekt , die Damen teilweise elegant gekleidet , viele trugen Anzüge mit Krawatten. Sneakers ersetzten noch lange nicht „anständige Schuhe“. Wir waren alles andere als eine „Turnpatschen-und-Jeans-Generation“. Heute ziehen sich viele bewusst nicht „schön“ an , damals wollte man bewusst „nett“ ausschauen. Im Übrigen gingen nicht nur in den Innenbezirken die Leute noch in sehr „bürgerlicher“ Gewandung , oft aus den 30er- und 40er-Jahren , aber auch in Steireranzügen , Dirndln und Variationen davon , manche um so auch patriotische Gesinnung zu zeigen. Es herrschte in der Universität , an der „Stätte der Aufklärung“, eine ständige Dämmerung , „ein ewiger November“, wie eine amerikanische Kollegin es formulierte. Auch wenn Licht eingeschaltet war , war es dämmrig. Es herrschte ein „Amtslicht“. Es war kalt in der Universität , oder wie man damals sagte : „überschlagen“. Man musste sparen. In manchen Hörsälen wurde eingeheizt und dieses Heizen der Öfen mit allem Drum und Dran versetzte uns in alte Zeiten zurück. ­Wien war im Herbst 1955 in seinem stumpfen Dämmerungszustand deprimierend , und als ich einmal die Ringstraße dahin ging , die voll von Schmutz und leuchtend gelben Blättern von Platanen war , fiel mir eine Gedichtzeile ein : „Goldmosaik wird Kot“. Beim Gehen hörte ich Chansons tristes. In dieser Stimmung fuhr ich zu einer Lateinnachhilfe in einen Außenbezirk. Die Kohorten der Konjugationen und Deklinationen

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Wir Studenten

machten mich draußen in Ottakring in der kleinen Gemeindewohnung wieder nüchtern. Unter den Studierenden herrschte trotz des „Sie“ eine kollegiale , ja herzliche Atmosphäre. Wir halfen einander , wo und wie wir konnten. Vor den Prüfungen lernten wir miteinander in kleinen Gruppen. Hier wurden die Fragen und Eigenheiten der Prüfer eingebracht , besprochen und ausgetauscht. Diese herzliche Kollegialität war das Menschlichste am Jusstudium. Unsere Hilfsbereitschaft machte Anfängern Immatrikulation und Inskription und Kandidaten die Prüfungen leichter , und gerne half ich , dem so geholfen worden war , in der Zukunft den Neuen. Bald wurde ich eine Art Studentenlehrer. Oft wurde ich von meinen Großmüttern gefragt , ob ich genug esse. Na ja , manchmal aßen wir nur ein Salzstangerl und tranken ein Seidel Bier dazu , besonders in der warmen Jahreszeit. Viele von uns aßen in Mensen ; ich aß oft in der Nationalbibliothek , besonders gerne Augsburger mit gerösteten Erdäpfeln , eine Speise , die in Vergessenheit geraten ist , oder in der WÖK in der Schottengasse ( heute Billa ). Mehrere Kollegen gingen mit mir gerne zum Trzesniewski in der Dorotheergasse , wobei eine Kollegin behauptete , den Trzesniewski-Brötchen ihre schlanke Figur zu verdanken. Ein Brötchen kostete 1955 50 Groschen , wie mir unlängst ein aus Sri Lanka stammender Angestellter der Firma bestätigte ; heute kostet es 1,20 ­Euro. Man kann noch immer mit Trzesniewski-Brötchen abnehmen. Nach oder vor dem Trzesniewski gingen wir gerne in das OP ( Ohne Pause ), das Wochenschaukino auf dem Graben. Ein zweites , das NONSTOP , war gleich am Beginn der Mariahilfer Straße. Am Ende der Wochenschauen folgte meist die beliebte „Tom und Jerry“-Filmserie. Vor dem Fernsehen waren diese Kinos , die dauernd liefen , sehr beliebt ; viele blieben längere Zeit , als es dem Programm entsprach , denn es war warm. Wenn ein Kon­ trolleur kam , standen immer mehrere auf. Es gab damals einige Dutzend Kinos in W ­ ien , die meisten im ersten Bezirk. Einige spielten Filme von 9 bis 21 Uhr. Manche 27

Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs

Kollegen verbrachten ganze Tage im Kino. Dort war es wenigstens warm und man war abgelenkt. Das Studium dauerte wie vor dem Krieg acht Semester. Der erste zwei Semester dauernde Studienabschnitt , der sogenannte „rechtshistorische“, begann mit einer „Einführung in Grundbegriffe des Rechtes und des Staates“, die vier Stunden , und einer „Einführung in die Philosophie und Gesellschaftslehre“, die zwei Stunden umfasste. Zusätzlich zu diesen sechs Semesterwochenstunden einführender Lehrveranstaltungen waren 35 Stunden über Römisches Recht , Kirchenrecht , Deutsches Recht sowie Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte zu inskribieren. Der zweite , sogenannte „judizielle“ Studienabschnitt dauerte drei Semester und umfasste Österreichisches Bürgerliches Recht , Handels- und Wechselrecht , Zivilgerichtliches Verfahren , Straf- und Strafprozessrecht im Ausmaß von 49 Semesterwochenstunden. Dazu kamen noch drei Stunden Interna­ tionales Privat- und Strafrecht und zwei Stunden Kriminologie. Der ebenfalls drei Semester umfassende „staatswissenschaftliche“ Studienabschnitt bestand aus 34 Stunden Staatslehre und Österreichischem Verfassungsrecht , Verwaltungslehre und Österreichischem Verwaltungsrecht , Verwaltungsverfahren und -gerichtsbarkeit , Sozialrecht , Völkerrecht und Rechtsphilosophie. Dazu waren 25 Stunden aus Volkswirtschaftslehre und Volkswirtschaftspolitik , Sozialpolitik , Finanzwissenschaften und Finanzrecht , Statistik sowie drei Stunden neuere Geschichte zu inskribieren. Wahlpflichtfächer waren Agrargesetzgebung , ausländisches Recht und vergleichende Rechtswissenschaft , Staatsrechnungswissenschaft , gerichtliche Medizin , schließlich forensische Psychiatrie , die insgesamt sechs Stunden umfassten. Mit der wirtschaftswissenschaftlichen Vorbildung konnte man sofort als Ökonom arbeiten , wie es mein Kollege Gunther Tichy glänzend bewies.

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Ein Potemkinsches Studium – Studienrecht und Studienwirklichkeit

Inskribiert wurde alles , was Pflicht war , frequentiert wurden nur die notwendigsten obligatorischen Lehrveranstaltungen oder Lieblingsprofessoren. An der Universität waren wir also „vielfach nur ausnahmsweise“, wie es ein Kollege formulierte. Ein Potemkinsches Studium – Studienrecht und Studienwirklichkeit

Ich habe mich oft gefragt , ob unser Jusstudium überhaupt ein Studium war , wie man es sich landläufig vorstellt. War es nicht ein „Potemkinsches Studium“ ? Ein „Als ob“-Studium ? Ein „Studium ohne Universität“ ? Warum ? Es war ein universitäres Papiergebäude , bestehend aus Inskriptionen und Zeugnissen. Nur wenige Semesterwochenstunden , wie etwa obligatorische Pflichtübungen , verlangten wirkliche Anwesenheit. An- und Abtesturen waren kein Problem. Sie wurden fast immer gegeben , auch wenn der Professor einen nicht kannte. Es gab keine Pflicht zu wissenschaftlicher Tätigkeit oder zum Besuch von Seminaren. Es war für viele ein „Fernstudium“, das auf die Ablegung bestimmter großer Prüfungen abzielte und so ohne Absicht geradezu auf Berufstätige abgestellt war. Fast alle Studierenden besuchten parallel zum formal inskribierten Studium an der Fakultät die außeruniversitären Kurse , in denen der Stoff von außeruniversitären Lehrern gepaukt wurde. Manche Professoren nannten die Rechtskurse „Schwindelschulen“, aber geschwindelt wurde nicht dort , sondern eher bei Pflichtübungen an der Uni. Das öffentlich-rechtliche Studium lief also in Wirklichkeit privatrechtlich ab. Es war für viele ein „Privatstudium“. Im Übrigen wurde angeblich manchmal bei der Planung der Lehrveranstaltungen an der Fakultät mit Rücksicht auf die Zeiten der Rechtskurse vorgegangen. Sonst wäre vielleicht die Anwesenheit zu gering gewesen.

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Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs

Wie Margarete Grandner in ihrer Darstellung des Studiums an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität W ­ ien 1945–1955 ausführt , hatte die neue Studienordnung , die mit Beginn des Wintersemesters 1945/46 in Kraft getreten war , durch die Kürzung des ersten Studienabschnitts nicht bloß den Ausbau der philosophischen und soziologischen Lehrveranstaltungen teilweise zurückgenommen , sondern sie hatte auch auf eine zeitgemäße Adaptierung des Studiums verzichtet. Diese erfolgte erst nach Jahrzehnten. „Die Ausbildung der Juristen war und blieb auf das Reden beschränkt , schriftliche Fähigkeiten wurden nicht oder kaum vermittelt.“ ( Margarete Grandner , Das Studium an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität W ­ ien 1945–1955. In : Margarete Grandner u. a. ( Hg. ), Zukunft mit Altlasten. Die Universität ­Wien 1945 bis 1955 , Innsbruck , ­Wien u. a. 2005 , S. 292 ) Wir lernten nicht , Rechtsgeschäfte , Bescheide oder Urteile , Verordnungen , Gesetze oder Staatsverträge zu konzipieren ; ein Einüben von Verwaltungs- und Verhandlungsführungen , Plädoyers und Debatten in Gerichten , Volksvertretungen und Verwaltungen fand nicht statt. Es gab auch keine Rollenspiele. Wohl aber lernten wir Rechtsfälle aus allen Zeiten und Sparten zu besprechen und zu lösen. Das Studium war auf Mündlichkeit abgestellt. „Reden und wieder reden , aber nicht widersprechen ! “ Das war die ungeschriebene Regel. Es gab zwar Ausnahmen , aber keinen wirklichen Widerspruch. Die Rechtskurse waren private Schulen , in denen in Ausübung der Unterrichtsfreiheit der Prüfungsstoff des Jusstudiums aufgrund von Verträgen durch private Lehrer vermittelt wurde. Der „Kurs der Kurse“ war nicht nur ideell , sondern auch materiell hoch ; man musste für sie und auch für die von ihnen zur Verfügung gestellten Skripten ein Vielfaches der Studiengebühren bezahlen. Insgesamt gesehen war das aber „ökonomischer“ als der Besuch von Lehrveranstaltungen an der Universität , da die Kurse sehr konkret auf die Prüfungen vorbereiteten. 30

Ein Potemkinsches Studium – Studienrecht und Studienwirklichkeit

Alle Rechtskurse lagen in der Nähe der Universität W ­ ien , so die Rechtskurse Faulhaber in der Laudongasse , die Rechtskurse Richter in der Tulpengasse hinter dem Rathaus im 8. Bezirk , die Rechtskurse Rischanek im Schottenhof und die Rechtskurse Weiß in der Rosengasse im 1. Bezirk. Die Vortragenden waren hoch qualifizierte Fachleute und gute Pädagogen mit einem Blick für das Wesentliche. Das Wesentliche waren für die Studierenden Staatsprüfungen und Rigorosen und die dabei gestellten Fragen. Private Rechtskurse könnten in neuer Form auch heute hilfreich sein. Die Universitäten sollten der wissenschaftlichen Bildung und Forschung vorbehalten werden , die Rechtskurse könnten für die verschiedenen Rechtsberufe praxisorientiert aus- und weiterbilden. Diese Rechtskurse sollten in Koordination und Kooperation mit den juristischen Fakultäten und den Berufsver­ einigungen organisiert werden. Ich soll einmal gesagt haben , dass die Rechtskurse vielleicht das Beste am Jusstudium gewesen sind. Heute würde ich es nicht mehr so sagen. Sie waren gut , aber das Beste an unserem Studium war die große Freiheit und die Kollegialität. Im Übrigen könnte die Masse der Vorlesungen seit Langem durch schriftliche Unterlagen , Bücher , das Internet usw. ersetzt werden. Der Rechtsgelehrte , Schriftsteller und Burgtheaterdirektor Max Burckhard hat schon um 1900 darauf hingewiesen , dass der Buchdruck die Vorlesung schon längst ersetzt habe. Die Modernisierung der Lehre war eine Aufgabe von Jahrhunderten und ist eine Jahrhundertaufgabe geblieben. Heute bietet die Technik neue Möglichkeiten. Die Freiheit des Kurswesens meiner Studentenzeit mag heute überraschen. Es war die Tradition einer österreichischen Freiheit. Heute würden wahrscheinlich sowohl die privaten Kursunternehmen als auch die privaten Kurslehrer einem Prüfungs- und Akkreditierungsverfahren unterzogen werden. Die große alte Freiheit wird nie wieder kommen , wahrscheinlich nicht einmal

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Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs

eine kleine Freiheit. Die Freiheit des Privatunterrichts muss jedenfalls verteidigt werden. Als gelernter Österreicher nimmt man bei jeder großen alten Freiheit an , dass Protektion , Korruption oder Ähnliches im Spiele war : Die juristischen Eliten , die von den Kursen unterrichtet worden waren , akzeptierten deren Freiheiten. Aber das war Duldung , nicht Protektion. Ein Grund für den hohen „Kurs der Kurse“ lag auch darin , dass wir unsere Prüfer nur zum Teil kannten. Die vielen Praktiker , die prüften , kannten wir nicht. Und weil wir nicht alle in alle Vorlesungen gingen , kannten wir nicht einmal alle Professoren. Die Anonymität der Prüfer entsprach der Anonymität der Studenten. Es gab Ausnahmen , insbesondere in den höheren Semestern. Aber im Allgemeinen war das Verhältnis zwischen Professoren und Studierenden „distanziert“. Man ging weniger aufeinander zu als einander „aus dem Wege“. Das war österreichische Tradition , auch in anderen Studien. Die Unbekanntheit der Prüfer und Prüfungskommissionen war eine Eigenheit unseres Studiums. Das dürfte auch der Grund gewesen sein , warum ich hier meinen ersten Fall von Korruption erlebte. Ausgerechnet an der Juridischen Fakultät gab es Beamtenbestechungen. Als ich einmal zur Dekanatssekretärin kam , um mich für eine Staatsprüfung anzumelden , sah ich , dass ein Kollege in sein Studienbuch einen 100-Schilling-Schein hineingelegt hatte. Bald darauf erfuhr ich , dass einem gegen eine solche Summe – und bei einem der Pedellen angeblich gegen Jagdeinladungen – die Namen der Mitglieder der Prüfungskommissionen mitgeteilt wurden. Mit den Namen war dann auch die Sache „bekannter“ geworden. Denn mit bestimmten Namen waren ja bestimmte Fragen verbunden , und seit eh und je hat jeder Prüfer „seine“ Fragen. Dieses Erlebnis von Korruption im akademischen Alltag schockierte mich , aber ich protestierte nicht. Briefe an Medien , Studenteninitiativen , Sit-ins usw. waren in weiter Ferne. Meine Generation protestierte nicht öffentlich und sie demons­t rierte 32

Wie ich studierte

auch nicht. Vielleicht , weil wir Ärgeres erlebt hatten , vielleicht , weil wir die Dinge überhaupt mehr hinnahmen als aktiv gestalteten , vielleicht auch , weil wir dem Dekanatspersonal keine Schwierigkeiten machen wollten. Nach einiger Zeit geschah eine stille Reform : Die Namen der Mitglieder von Prüfungskommissionen wurden publiziert. Von da an kannte jeder Student die Namen seiner Prüfer schon vor der Prüfung. Das „Recht auf den gesetzlichen Richter“, sprich Prüfer , war gewahrt. Die Funktionäre der Österreichischen Hochschülerschaft informierten uns im Übrigen mündlich und schriftlich sehr gut , so etwa Heinrich Neisser und Heinz Fischer. Dieser schickte uns als ÖH-Funktionär sogar regelmäßig Briefe mit der Schlussformel „Ihr Heinz Fischer“. Wie ich studierte

Das Studium wurde mit der Ablegung der drei Staatsprüfungen , die je den Studienabschnitten entsprachen , abgeschlossen. In diesem Fall war man „Abs. iur.“. Damit war man zur Tätigkeit im Staatsdienst als Akademiker berechtigt : Man hatte den „A“-Status erreicht. Der Grad eines Doctor iuris wurde erworben , wenn man zusätzlich zu den drei Staatsprüfungen drei Rigorosen mit dem gleichen Inhalt abgelegt hatte. In der Regel legte man sie je nach der zweiten , also „judiziellen“, und nach der dritten , also „staatswissenschaftlichen“ Staatsprüfung ab. Als Krönung nach diesen fünf Prüfungen folgte das sogenannte „Romanum“, das den Stoff der ersten , also der „rechtshistorischen“ Staatsprüfung auf einem höheren Niveau abverlangte. Im Wesentlichen gab es also nur sechs große Prüfungen , nämlich die drei Staatsprüfungen und die drei Rigorosen. De facto waren es nur vier bzw. drei Prüfungen , da ja zwei in der Regel zwei Mal denselben Stoff betrafen. Da man die Prüfungen in der Regel erst nach ein bis zwei Jahren Vorbereitungszeit able33

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gen konnte , bewirkte das eine große Freiheit im Studium , aber unmittelbar vor den Prüfungen einen heute unvorstellbaren großen Druck. Sehr vereinfacht gab es für den Regelstudenten insgesamt 36 Monate „Freiheit“ und 12 Monate „Druck“. Der großen Freiheit verdanke ich meine Belesenheit und das Kennenlernen vieler Menschen und Gelegenheiten in sehr unterschiedlichen Bereichen. Dem großen Druck verdanke ich e­ ine mir später oft zugutegekommene nervliche Robustheit. Wenn mir eine Materie zu sehr auf die Nerven ging und ekelhaft wurde , dachte ich daran , wer aller Jus studiert hatte : Johann Wolfgang von Goethe , E. T. A . Hoffmann , Joseph von Eichendorff , Matthias Claudius , Franz Grillparzer , Johann Nestroy , Adalbert Stifter , Theodor Herzl , Kurt Tucholsky , Anton Wildgans , ach ja , Franz Kafka , und um mit ihm zu sprechen : „Ich ernährte mich in den zwei Monaten vor einer Prüfung unter reichlicher Mitnahme der Nerven geistig förmlich von Holzmehl ! “ Ein „Dichterjurist“ wie die Aufgezählten wurde ich nicht , aber laut Finanzamt ein Schriftsteller. Die Zeit unmittelbar vor der Prüfung wurde zur psychischen Qual. Das bewirkte auch eine besondere Vorbereitung. Wir präparierten uns anhand der Skripten und der gesammelten Prüfungsfragen und trainierten in kleinen Gruppen etwa zwei Monate intensiv. Wir mussten viel auswendig lernen. Für bestimmte Prüfer wurden Tag und Nacht sogenannte „Walzen“ – so nannte man immer wiederkehrende Fragen – memoriert. Schlaf wurde mit Mokka , Aufputschmittel und kaltem Wasser bekämpft , soweit einen die Prüfungsangst nicht ohnehin wach hielt. Bei jeder großen Prüfung waren drei bis vier umfangreiche Fächer mündlich zu absolvieren. Wenn man die Prüfer nicht kannte und sie sich nicht vorstellten , musste man aus der Fragestellung das Fach erraten , was manchmal nicht leicht war. Die ­Wiener Juristenfakultät hatte 1945 zwar eine fundamentale Umorientierung des Studiums entworfen , mit der Motivation , das Doktoratsstudium zu einem wissenschaftlichen zu machen und gleichzeitig die Zahl der juristischen Doktorate zu 34

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verringern. „Die verlangten Dissertationen“ sollten unter anderem e­ ine „Welle der Belehrung auch für den Lehrer“ darstellen und „Gleichheit mit den übrigen Doktoraten der anderen Fakultäten und Universitäten des In- und Auslandes“ schaffen. Der Fakultätsbeschluss stieß jedoch bei den Behörden auf wenig Gegenliebe. Das Unterrichtsressort rekurrierte stark auf Einwände , die bereits in der Fakultät erhoben worden waren , und war nicht willens , so weitreichende Neuerungen durchzuführen. Es wurde eingewandt , dass bei Dissertationen die „Gefahr des Abschreibens oder unerlaubter Mithilfe“ bestehe oder dass die Neuregelung eine „große Mehrbelastung der Lehrenden“ bedeute , vor allem wenn sie – um die Qualität zu sichern oder Missbräuche zu verhindern – die Studierenden intensiv betreuten. Weitere Gegenargumente waren , „dass die Jusstudenten , auch wenn sie als zukünftige Rechtsanwälte oder Staatsbeamte keine wissenschaftliche Karriere im Auge hätten , auf den Doktortitel nicht verzichten wollten , dass die Ausbildung der doctores in Seminaren eine Vermehrung der Lehrveranstaltungen erfordern oder dass juristische Dissertationen durch die Spezialisierung zu einer Verengung der Kenntnisse der promovierten Juristen führen würden“ ( Margarete Grandner , a. a. O., S.  293 ). Letztlich war auch das Bundeskanzleramt auf die Linie des Ministeriums eingeschwenkt. Mit dem Argument , „dass vor einer so gravierenden Veränderung die im Sommer 1945 noch nicht erhältlichen Standpunkte der anderen Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultäten in Graz und Innsbruck zu erheben seien , gab es den Weg für die altneue Studienordnung frei [ … ]. Die Verordnung wurde am 29. September 1945 publiziert und blieb , obwohl als Provisorium gedacht , 23 Jahre lang in Kraft ( BGBl. 140/1978 )“ ( Grandner , a. a. O., S.  293 ). Es gab in der Zwischenzeit zwar einige Reformansätze der Fakultäten , aber kein Konzept mit Konsequenzen. Erst Ende der 70er-Jahre kam es zur Reform. Man wollte nach dem Krieg angeblich einen Universaljuristen , einen „doctor iuris universalis“, und keinen Spezialjuristen. 35

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In Wahrheit wollte man keine wissenschaftlich ausgebildeten Juristen , weil man nicht mehr Lehrpersonal zuweisen konnte. Das war und ist nicht nachhaltig durchzusetzen. Damit ist ein gravierender Mangel des österreichischen Universitätswesens überhaupt angesprochen : Es gibt in vielen Bereichen zu wenige , viel zu wenige Lehrer. Nach meinen Erfahrungen wird sich das nie ändern , weil es sich nie geändert hat. Die Lehre wird seit eh und je unterbewertet. Damit sind die Lehrer unterbewertet. Und damit sind auch die Studenten unterbewertet. Für mehr Lehrer war immer zu wenig Geld vorhanden. Das ist geradezu ein Charakteristikum des österreichischen Universitätswesens. Die Universitäten stehen hinsichtlich der Lehre nur auf einem , aber wackeligen Bein : auf der unterbewerteten und unterdotierten wissenschaftlichen Berufsvorbildung. Das vorgesehene zweite Bein – die Weiterbildung nach dem Fortschritt der Wissenschaft – ist überhaupt nicht vorhanden , weil weder Geld noch Personal dafür vorhanden ist. Es fehlt auch an Konzepten und Konsequenzen. Auch das ist die Folge der Unter­bewertung der Lehre. Hier ist eine große Reform notwendig. Aber das Hinkebein „ging“ ins nächste Jahrhundert weiter. Wissenschaft und Forschung kamen im Übrigen in den Regierungserklärungen der ersten Jahrzehnte der Zweiten Repu­ blik nicht vor. Erst ab den 60er- und 70er-Jahren kam es dazu , ja man kann sagen , dass erst ab der Errichtung des Wissenschaftsministeriums 1970 Wissenschaft „politisch“ wurde. Im Übrigen wurde Umweltschutz auch erst nach Errichtung eines Bundesministeriums wirklich „politisch“. Wir zahlten „differenzierte Studiengebühren“. Das 120-seitige Vorlesungsverzeichnis zählte auf : Immatrikulations- , Inskriptions- , Bestätigungs- , Prüfungs- , Benützungs- , Verleihungstaxen , weiters das Kollegiengeld , den Aufwandsbeitrag , den Hochschülerschaftsbeitrag und den Krankenhilfebeitrag. Insgesamt machte das bei mir etwa 160 Schilling aus ; ich erhielt wegen „Bedürftigkeit und Würdigkeit“ eine Ermäßigung

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auf die Hälfte. Heute zahlen Studierende etwa 360 Euro Studiengebühren pro Semester. Von den 2. 000 Jusstudenten Mitte der 50er-Jahre waren viele berufstätig. Es gab gewisse Studienbeihilfen und Begabtenstipendien , aber sie waren nicht gesetzlich gewährleistet. Viele von uns waren daher „Werkstudenten“: Der Begriff hatte eine lange , bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges zurückreichende Geschichte und war vor allem in Deutschland gebräuchlich. Fast alle Jusstudierenden gingen verschiedenen Tätigkeiten nach. Dabei wollte ich unbedingt „Doctor iuris utriusque“ werden , wie man damals noch sagte – gemeint war , dass man nicht nur das weltliche , sondern auch das kirchliche Recht studiert hatte – denn im Land der vielen Titel und in der „Republik der Mandarine“ war mir schon als Kind klar , dass ich unbedingt ein Doktorat erreichen musste. Eine Schnitzler’sche Figur ohne Profession oder ein „Abs. iur.“ konnte und wollte ich nicht werden und ein Aristokrat , der informell ohnedies einen Titel führt , war ich nicht. In mancher Weise studierte ich anders als meine Kolleginnen und Kollegen. So besorgte ich mir die Skripten mehrerer Rechtskurse. Dadurch blieb ich auf den jeweils etwas anders bearbeiteten und wiedergegebenen Prüfungsstoff neugierig und lernte verschiedene Sichtweisen kennen. Die oft trockene Materie konnte ich so mehrere Male ohne Überdruss durcharbeiten. Als Jusstudent musste man ja oft wiederholen. Ich war auf das „Wiederkäuerdasein“ schon durch meine langjährige Tätigkeit als Nachhilfelehrer vorbereitet. Der Stoff für die jeweilige Prüfung machte einige Kilo aus. Wenn man sie in zwei Taschen richtig verteilte , war ein längerer Gang mit ihnen ein spezielles Bodybuilding. Schon zu Beginn des Studiums kaufte ich mir zusätzlich rechtswissenschaftliche Werke , vor allem antiquarische , und Gesetzbücher. So kaufte ich das „Corpus Iuris“, das ABGB und die Bundesverfassung. „Die deutsche Stadt im Mittelalter“ von Hans Planitz war eines der ersten Bücher. Teile der römischen 37

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Geschichte Theodor Mommsens und der Grimm’schen Rechts­ altertümer ergänzten den Anfang meiner kleinen Fachbibliothek. Mischler-Ulbrichs „Das österreichische Staatswörterbuch“ hat mich übers Studium hinaus begleitet. Karl Wolffs „Grundriß des bürgerlichen Rechts“ und Theodor Rittlers „Strafrecht“ zeigten mir verschiedene Sichtweisen des Rechts von Anfang an. Georg Jellineks „Allgemeine Staatslehre“ und Hans Kelsens „Staatslehre“ wurden schon früh alternative Lektüren. Seine „Reine Rechtslehre“ wurde zu Ende des Studiums für mich ebenso eine Offenbarung wie seine Schriften „Was ist Gerechtigkeit ? “ und „Wesen und Wert der Demokratie“. Im Übrigen studierte ich die meiste Zeit in Kaffeehäusern. So lernte ich die von Stefan Zweig so genannte „universitas vitae“ in ihren verschiedenen Erscheinungsformen und Ausstattungen kennen. Meist begann ich im Café Attaché in der Argentinierstraße auf der Wieden. Ich war erstaunt , als ich zu Ende meines Studiums den früheren Außenminister der Sowjetunion Wladislav Molotow an einem Nebentisch Zeitungen lesen sah. Er wurde vom Ober mit „Guten Morgen , Herr von Molotow ! “ begrüßt und lächelte daraufhin ein wenig. Er war nach seinem Ausscheiden als Außenminister ständiger Vertreter der UdSSR in der 1958 errichteten IAEO ( International Atomic Energy Organisation ) geworden. Reinhold Schneider hat die Entwicklung charakterisiert : „Statt der Kaiser residiert die Atombehörde in W ­ ien.“ Ich blieb in jedem Kaffeehaus ein , zwei Stunden und zog dann mit Sack und Pack , sprich mit meinen Büchern und Skripten , zum nächsten Kaffeehaus weiter , vom Café Attaché meist zum Café Hauswirth in der Nähe der Paulanerkirche auf der Wieden. Beide Kaffeehäuser existieren schon lange nicht mehr , sondern sind China-Restaurants geworden. Die andere Variante meiner Gänge ging vom Café Attaché am Heldendenkmal der Roten Armee vorbei zum Café Schwarzenberg. Damals konnte ich noch den russischen Text an der Kolonnade des Denkmals lesen : „Ewiger Ruhm den Helden der Roten Armee , die 38

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gefallen sind im Kampf gegen die deutsch-faschistischen Land­ räuber für die Freiheit und Unabhängigkeit der Völker Europas.“ Jetzt kann ich es nicht mehr lesen , aber ich habe mir den Text gemerkt. Es waren rund 20. 000 Soldaten der aus vielen Völkern zusammengesetzten Sowjetarmee , die für die Befreiung Österreichs vom Nazifaschismus in der Schlacht von ­Wien gefallen sind. Sie dürfen nicht vergessen werden. Von der Deutschen Wehrmacht starben ebenso viele in dieser Schlacht. Auch sie sollen nicht vergessen werden. Nie wieder Krieg ! Die W ­ iener haben „primitiviert“ und das Denkmal zum „Russendenkmal“ und zum „Erbsendenkmal“ gemacht , in Anspielung auf die Erbsenlieferungen an ­Wien durch die Sowjets. Manche alte Menschen erinnern sich noch an den nicht aufgeklärten Mordfall Ilona Faber , der hinter dem Denkmal stattgefunden hat. Wir haben den Fall als junge „Kriminologen“ und „Strafrechtler“ im Studium verfolgt. In jüngerer Zeit haben hier Neonazis ihr Geschichtsbewusstsein durch Sachbeschädigungen abreagiert. Aber das Denkmal gehört zur W ­ iener Identität und wird immer authentischer. Der Schwarzenbergplatz wurde einer der schönsten Plätze Wiens. Bis zum 18. Juli 1956 hieß der südliche teil Stalinplatz. Im Haus der Industrie – damals Stalinplatz 4 – befand sich bis 1955 der Sitz des Alliierten Rates der vier Besatzungsmächte. Daran soll erinnert werden. Durch meine Kaffeehaustouren konnte ich selbst den langweiligsten Stoff mithilfe von Kaffee und Zigaretten überwinden. Schließlich landete ich abends oft im Café Zartl im 3. Bezirk , das in Heimito von Doderers Buch „Die Dämonen“ eine bemerkenswerte Rolle spielt. In den Kaffeehäusern lernte ich meine Lieblingszeitung kennen , die „Neue Zürcher Zeitung“, deren Abonnent ich wurde und bin. Viele Vorträge und Diskussionen behandelten zu allen Zeiten der Republik das Thema : „Die Schweiz , unser Vorbild und Lehrmeister“. In mancher Hinsicht ist sie es geblieben , so im Hinblick auf die direkte Demokratie und die NZZ .

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Zu Hause stellte ich vor dem Schlafengehen mein Magnetofon an und hörte dann im Schlafen die Texte des Lernstoffes ab , die ich auf Band gesprochen hatte. Unsere Nachbarin hörte mich durch die Wand und lobte mich von Zeit zu Zeit wegen meines Fleißes. Ich ließ sie bei diesem Glauben , stellte aber das Gerät auf „Zimmerlautstärke“. Psychologen behaupteten , dass man sich Texte im Schlafe zwar nicht merke , aber doch beim Durchlesen leichter im Gedächtnis behält. Zum Stoff der jeweiligen Prüfungsgegenstände hatte ich im Hintergrund die „Eroica“ aufgenommen , um in „heroische“ Stimmung zu kommen. In der schönen Jahreszeit ging ich mit meinen Unterlagen in die Park- und Gartenanlagen ­Wiens. Dabei suchte ich für die einzelnen Materien bestimmte Stellen aus. So war das Belvedere für mich durch seine Ordnung mit dem ABGB verwandt , das barocke Gesamtkunstwerk passte zum Naturrecht und zum Gesamtkunstwerk Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch , während die Ausrichtung des Schwarzenberggartens und auch sein vieles , ständig in Entwicklung befindliches Unkraut für mich dem Verwaltungsrecht nahe stand. Heute noch erinnere ich mich bei Spaziergängen durch den Belvederegarten bei einzelnen Stellen an den jeweiligen Abschnitt des Bürgerlichen Rechts und die entsprechenden Paragrafen des ABGB , die ich dort studiert habe. Im Schwarzenberggarten verbinde ich bestimmte Baumgruppen mit bestimmten Materien des Verwaltungsrechts. So weiß ich , dass ich im oberen Teil des Gartens Forstrecht und Wasserrecht lernte. Den Ausdruck Umweltrecht gab es damals noch nicht. Verfassungsrecht lernte ich gerne im Burggarten vor dem Palmenhaus. Die Inschrift auf der Hof burg : „His aedibus adhaeret concors populorum amor“ ( A n diesen Bauten hängt die einmütige Liebe der Völker ) brachte mich zum Nachdenken. Welche Völker waren wann freiwillig einmütig Liebende ? Auf dem Heldenplatz sah ich das Staatsrecht in Architektur : Die Inschrift auf dem äußeren Burgtor „Justitia Regnorum Fundamentum“ war und ist für mich der inoffizielle Artikel 1 einer 40

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österreichischen Verfassung , die über alle Regime hinweg gilt. Sie findet sich auch im Justizpalast. Die Architektur der Umgebung entspricht augenfällig der alten Gewaltenteilung : Ballhausplatz – Verwaltung , Parlament – Gesetzgebung , Justiz­palast – Gerichtsbarkeit und schließlich sind Rathaus , Universität und Burgtheater der bauliche Ausdruck für die territoriale , die akademische und die kulturelle Selbstverwaltung. Völkerrecht studierte ich gerne im Schönbrunner Schlosspark und dachte dabei an das große alte Österreich. Österreichs größter Feldherr und großer Staatsmann Prinz Eugen war nach „modernen“ Begriffen ein Ausländer. Das war auch Metternich , der Kutscher Europas und Konkursverwalter des Heiligen Römischen Reiches , der auf das universale Erbe setzte statt auf das unsichere Angebot der neuen Generationen. Der größte Staatsmann ? Für mich war es Maria Theresia als „Staatsmutter“. Immer wieder kam mir Radetzky in den Sinn. Reinhold Schneider kam von ihm nicht los : „Bei Custozza und Novara hat der greise Marschall nach dem Ansturm nationalistischer Revolutionen die geschichtliche Gestalt Österreichs gerettet ; aber es war ein Sieg auf verlorenem Boden. Franz Joseph schrieb von unsterblichen Siegen und alsbald zwang er den Marschall zum Verzicht.“ „In deinem Lager ist Österreich“, dichtete Grillparzer und der Marschall dankte ihm : „Ohne den geweihten Sänger ist der Krieger nichts. Wirken Sie im Vaterland , während ich in der Fremde kämpfe.“ Er verstand sich mit Kaiser Franz , aber nicht mit Franz Joseph. Ich höre den Marsch immer wieder und frage : Muss man den Radetzkymarsch immer am 1. Jänner spielen , im Neujahrskonzert , und auch sonst bei Feiern , und durch Mitklatschen die Niederschlagung der bürgerlichen Revolution feiern ? Sind die Gefangenenchöre aus Fidelio und Nabucco nicht entsprechender ? Oder der Freiheitslieder-Walzer und der Revolutionsmarsch von Strauß’ Sohn ? 41

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Aber wir haben keine Revolutionskultur , und der Radetzky­ marsch ist ja wirklich gut geschrieben. Reinhold Schneider zitiert Oskar Regele , der es so formulierte : „Der Marsch des Vaters Strauß übertönte die Marseillaise.“ Aber wie ! ? Die öster­ reichische Reaktion hat die österreichische Revolution verdrängt , Franz Joseph das Volk und das Menschenrecht. ­Warum vergessen wir Jahr für Jahr 1848 ? Von dort kommt doch unsere Verfassung. Weil wir keine Revolutionskultur haben , haben wir keine Verfassungskultur ! Reinhold Schneider widmet Kaiser Karl mehr Gedanken als Franz Joseph ( keine Sisi ) und sah ihn so : „Ich habe vor mir ein Bild des jugendlichen Kaisers , der den Frieden als seinen Auftrag sah und bereit war , ein jedes Opfer zu bringen für ein gemeinsames , ein seine Völker umschlingendes Band. Wie die Mächte der Waffen und des Geldes in Kriegen und Verleumdungen sich gegen ihn verbündeten ; wie diejenigen sich gegen ihn verschworen , deren Stand sie zu seinem Schutze berufen hatte , Mitglieder seines Hauses nicht ausgenommen : Dies gehört zum Kläglichsten , was die Geschichte berichtet. Der Westen diesseits und jenseits des Meeres tat alles , um der Flut die Bahn zu brechen , vor der er heute bangt. [ … ] Der Kaiser , versichert einer seiner letzten Berater ( Fürst Ludwig A. Windisch-Graetz ), sei nicht einmal Monarchist gewesen , aber er war Habsburger ; wie er persönliche Vaterschaft über das Herrscheramt stellte – das er wahrlich ernst genommen hat ( es bleibt eine bedenkliche Wertung ) – so das Menschliche über die Macht. Mag man als Monarchist so einer Haltung zustimmen oder widersprechen : sie bezeichnet durch das Einzigartige , das hier möglich ist , eine nicht an Zeichen gebundene , wohl aber aus der Tradition erwachsene Universalität : Das Haus , die Haus-Familie bedeutet Einheit. Vielleicht hat der Kaiser in unvergleichlicher Stellung weiter gesehen als alle seine Feinde , ist er auch für wahrhaft Neues bereiter gewesen als sie , hatte er doch auch mehr zu opfern als irgendein anderer. Nicht die im42

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mer diskutierten , in gehässiger Weise falsch bewerteten Fähigkeiten entscheiden hier , sondern das Beispiellose des geschichtlichen Orts , der geschichtlichen Stunde. Beider war sich der junge Kaiser in tiefem Ernste bewusst. [ … ] Grillparzers echt österreichisches Wort , dass der Mensch das Beste im König sei , bewährte sich in ihm und zwar auf das natürlichste. Er konnte nicht anders sein. Es ist aber kein besseres Fundament der Macht als Familienglück , gewissenhaftes Vatertum , Sorge für das Haus. Wie aber soll ein einziger einen Kranz flechten , wenn tausend Hände ihm das Gewinde zerpflücken ? In seiner Person , in dem ihr geschenkten Verständnis wäre vielleicht die Möglichkeit gewesen , die Nationalismen , Ideologien , Programme , die lebensfeindlichen Dogmen zurückzudrängen , die uns zerrütten. ,Ihr Kaiser Karl hatte Recht‘ sagte Aristide Briand kurz vor seinem Tode zum Fürsten Windisch-Graetz. ,Er hatte tausend Mal Recht.‘ “

Karl ist immerhin 2004 seliggesprochen worden. Papst Johannes Paul VI., Karel Wojtila , ist angeblich nach ihm genannt worden. Sein Vater verehrte Kaiser Karl. Solange es Prüfungen , welcher Art auch immer , geben wird , sind sie für Prüflinge das Wichtigste. Da alle großen Prüfungen mündlich waren , waren für uns die Fragen und Eigenheiten der Prüfer das Wichtigste. Daher hörten viele den öffent­l ichen Prüfungen zu und manche waren „Spione“ der Rechtskurse. Es gab Sammlungen von Prüfungsfragen , die man durcharbeiten musste. Da die Vervielfältigung technisch damals noch auf dem Niveau des Kohlepapiers war , war der Besitz solcher Fragensammlungen viel wert. Viele zahlten auch dafür. Man kannte die Prüfer zwar nicht persönlich , aber man kannte ihre Fragen. Ihre Namen waren mit ihren geläufigen Fragen verbunden , die jeweils ergänzt und auf den neuesten Stand gebracht wurden. Diese Namen- und Fragenverzeichnisse waren für vie-

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le das Wichtigste im Studium. Denn mit diesen Listen konnte man mit einiger List das ganze Studium hinter sich bringen. 1975 schrieb der deutsche Rechtswissenschaftler Klaus Eschen im „Kursbuch“ 40 zur Juristenausbildung : „Die Juristenausbildung gleicht der Dressur von Zirkusflöhen. Die werden in einer Zigarrenkiste gehalten , auf die man e­ ine Glasscheibe legt. Das wiederholt sich in immer niedereren Kisten. Hohes Hüpfen wird den Tierchen abgewöhnt , schließlich kriechen die Flöhe nur noch , auch wenn sie über sich keine Glasscheibe haben. Wer die Drängerei , die Ängste der Konkurrenz in dieser Ausbildung kennt , wer die Berufsaussichten der Juristen einkalkuliert , der muss die Tatsache , dass die Verwaltungen noch zusätzlich Druck ausüben , und die Prüfungsnoten pressen , als wenig förderlich und human empfinden. Ein bisschen mehr Selbstwertgefühl und Selbstachtung sollte der Staat seinen jungen Juristen schon lassen. [ … ] Das Gegenteil dazu wäre ein selbstverwaltetes , auf Eigeninitiative gegründetes Kollektiv. Hier müssten sich Lehrer , Schüler und Angestellte regelmäßig treffen , zum Miteinander-reden und -diskutieren. Anders lernen , anders lehren wäre eine Kooperative. Wenn Schüler normalerweise von Lehrern abhängig sind , wissen sie mit ihrer neuen Rolle nichts anzufangen und spielen sich vielleicht sogar mit der Mehrheit im Rücken als Arbeitgeber oder Richtliniengeber der Lehrer auf. Wie werden Schüler nicht zu angepassten Nachbetern erzogen , wie lernen sie vor allem reden , argumentieren , sich durchsetzen , aber auch soziales Verhalten und Zusammenarbeit ? Machen wir eine Schule ohne hierarchischen Druck , wo man kooperativ arbeiten , lehren und lernen kann ! Lernen ohne Druck von oben führt zu Berufen , in denen Unterordnung und Disziplin in Hierarchien als Erfolgsgrundlage nicht zwangsläufig notwendig sind. Wir alle müssen lernen , ehrlich miteinander umzugehen , Konkurrenzdenken ab44

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zubauen , Kritik anzunehmen , verständlich und konstruktiv zu kritisieren. Dazu ist Geduld , Offenheit , Respekt und vor allem viel Humor notwendig.“

Goldene Worte. Vieles hat sich verbessert. Die Gesellschaft und die Unis haben sich verändert und damit die Rollen von Professoren und Studierenden. Jedes System in einem grundsätzlich freiheitlichen Rahmen hat Vor- und Nachteile. Ob aber die Zerstückelung des Stoffes und das Studium auf Raten wie jetzt Sinn macht , ist zu bezweifeln. „Bologna“ und „Employ­ ability“ werden auch einmal reformiert werden. Das neue System hat die alte studentische Freiheit von der Universität weggenommen. Aber hat es der Universität neue Freiheit gebracht ? Machte das damalige Prüfen Sinn ? Als alter Universitätslehrer , der über 10. 000 Studierende geprüft hat , sage ich trotz allem ja. Denn je mehr Lebenssituationen man zu bewältigen hat , desto erfahrener wird man. Unsere Prüfungen gehörten dazu. Sie passten zur damaligen Gesellschaft. Wir standen zwar zeitweise unter ungeheurem Druck und differenzierten Anpassungszwängen , hatten aber andererseits eine große Freiheit und viel Zeit , die Gedanken an einen Widerstand gegen das System gar nicht erst hochkommen ließen. Ich selbst lernte das Prüfungssystem von seiner merkwürdigen Seite persönlich kennen. Für jede Prüfung war ich gut vorbereitet. Ich hatte auch meist guten Erfolg. Die zweite Staats­prüfung , die sogenannte „judizielle“, legte ich mit Auszeichnungen ab. Daher war es ein Schock für mich , dass ich einige Tage später beim Rigorosum über denselben Stoff durchfiel. Freunde erklärten es für einen Irrtum , andere sagten , dass die Auszeichnungen von den einen bei anderen Prüfern geschadet hätten , manche sagten , ich solle mich beschweren , aber ich unternahm nichts dergleichen , sondern bereitete mich auf die dritte , die „staatswissenschaftliche“ Staatsprüfung und gleichzeitig auf die Wiederholung des „judiziellen“ Rigorosums vor. Für beide Vorbereitungen nahm ich mir Experten als Nachhilfelehrer. Ich bin 45

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heute noch Sektionschef Hermann Fleisch vom Bundesministerium für Justiz dankbar. Die Riesenfülle des Stoffes , die zu bewältigen war , und das ständige Training in Kursen und Nachhilfestunden , die ich bald selber gab , machten mich zu einem vielseitigen Juristen. Die Justitia im Justizpalast und die Jurisprudenz im Festsaal der Universität

Die zweite Staatsprüfung musste im Justizpalast , und zwar in ­einem Verhandlungssaal , abgelegt werden. Als Kandidat ging man die vierzehn Meter breite Freitreppe , deren abschließende Postamente von zwei mächtigen Löwen beherrscht werden , hinauf und kam über das Vestibül in die Zentralhalle. Man schaute hoch und sah die riesige Statue der Justitia in sitzender Stellung mit vergoldetem Schwert und Gesetzbuch. Der Justitia gegenüber befindet sich eine große Uhr. Darüber ist ein Chronoskopf , und man sieht zwei die Stunden schlagende Sirenen , die ihn flankieren. Über der Statue das kaiserlich-österreichische Wappen , im Schild links Haus Habsburg , rechts Lothringen , in der Mitte Österreich , alles imponierend und einschüchternd. In diesem „Tempel der Gerechtigkeit“ musste man zunächst nach dem Verhandlungssaal suchen , in den man eingeteilt war. Der Saal war fast leer. Vorne saßen eine Prüferin und drei Prüfer , erhoben und erhaben , und die vier Kandidaten nahmen darunter Platz wie Angeklagte. Ich hatte Glück , denn die Prüferin kannte ich. Es war Univ.-Prof. Dr. Sibylle Bolla-Kotek. Die anderen Prüfer waren hochrangige Juristen , darunter der Präsident des Obersten Gerichtshofes und der Präsident der Rechtsanwaltskammer. Der neben mir sitzende Kollege zitterte , ich spürte sein Zittern an meinen Oberschenkeln. Bolla-Kotek fragte mich über den Irrtum im bürgerlichen Recht , und da konnte ich ihr den § 871 ABGB auswendig sagen , ein Fallbeispiel sehr gut lösen und dann fragte sie mich die 46

Die Justitia im Justizpalast und die Jurisprudenz im Festsaal der Universität

Auslegungsvorschriften des ABGB. Die konnte ich auch auswendig , kommentierte sie und damit war ich von den Kandidaten der beste. Der Präsident des Obersten Gerichtshofes lächelte mir zu , fragte mich über den Gang eines Zivilprozesses und wie eine Klage aussehen müsse. Er nickte zu meiner Antwort zustimmend und ich bekam dann noch eine Frage aus dem Exe­kutionsrecht , und zwar genau die , auf die ich mich vorbereitet hatte. Die Prüfer im Handelsrecht und im Strafrecht stellten nur kurze Fragen und nach einer halben Stunde war die Prüfung erledigt , ich hatte sie mit Auszeichnungen bestanden. Als ich die Stufen von der Justitia zum Eingang hinunterging , zitterten mir die Knie und ich hielt mich an einem der Postamente der Löwen fest , da mir schwindlig geworden war. Aber ich hatte geradezu ein Triumphgefühl und wartete auf meine Kollegen , die ebenfalls die Prüfung bestanden hatten. Wir rasteten im Schmerlingpark. Ist die riesige Statue der Justitia die Gerechtigkeit ? Ich deute sie heute nicht als Gerechtigkeit , sondern als die Staatsgewalt „Justiz“. Dafür sprechen die offenen Augen , das aufgeschlagene Gesetzbuch ( „Vorschrift ist Vorschrift“ ) und das große Schwert , das die Justiz als einen Teil der Vollziehung verstehen lässt , wie sie ja vor dem Parlament dargestellt ist. Im Gericht „Riemergasse“ saß seinerzeit eine andere Justitia , ohne Beiwerk. Sie war blind. Gustav Klimts Deckengemälde „Jurisprudenz“ war in der Zeit meines Studiums nicht vorhanden. Jetzt ziert es als Kopie den Festsaal der Universität , aber nicht die Juridische Fakultät im „Juridicum“. Während meines Studiums war das Gemälde nicht vorhanden und niemand berichtete uns über dieses Bild. Ich wurde erst durch Schorskes Buch über W ­ ien damit bekannt. Es erinnert mich durch die armselige Menschengestalt , die nackt und bloß als Hauptfigur dasteht , an „In Ewigkeit Amen“ von Anton Wildgans und an die vielen Opfer des Rechts überhaupt. Über sie hörten wir im Studium zu wenig.

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Im ersten Kompositionsentwurf der „Jurisprudenz“ konzipierte Klimt die Gerechtigkeit noch als Hauptfigur. Sie ist aktiv und lebendig , „ihr Schwert schwingend , als lasse sie es durch die Luft sausen , um die Bedrohung eines düsteren Polypen des Übels und Verbrechens unter ihr abzuwehren“ ( Carl E. Schorske ). Sie war als Dame in Weiß ausgeführt , imponierend , impressionistisch , und erinnert mich an die Justitia im Justizpalast , aber ohne deren Bedrohlichkeit. Jetzt ist die Hauptfigur nicht mehr eine erhabene Gerechtigkeit oder eine neue Klimt-Athene , sondern ein hilfloses Opfer der Rechtspraxis … „Athene , die Klimt so oft dargestellt hat , ist für ihn von dem ihr einzig zugehörenden Schauplatz des Rechts einfach abwesend“ ( Carl E. Schorske ). Das Opfer hat keine aufrechte Haltung , sondern steht in Demut schuldbewusst da. Das Gesetz ist weit weg. Die Furien sind an der Macht. Das Opfer nimmt die Kräfte des Abgrunds , die noch kommen werden , Anfang des 20. Jahrhunderts vorweg. Der frische und bewegte Himmel der ersten Fassung wurde durch die kafkaeske Enge eines Vollzugsraumes ersetzt , wozu noch dunkle Farben unterschiedlicher Herkunft kamen. Das Oben und Unten im Rechtsleben ist auf diesem Bild wie oft im Leben : „In der oberen Welt , fern von uns , stehen die allegorischen Gestalten von Wahrheit , Gerechtigkeit und Gesetz“ ( Carl E. Schorske ). Das ist der große Anspruch des Rechts , sein „Sollen“. Das „Sein“ des Rechts und sein Widerspruch zum Anspruch zeigen sich im Gemälde unten in der Gerichtsszene , wo es zum Vollzug kommt. Die Wirklichkeit des Rechts wird als Strafe dargestellt : „Kastrationsangst beherrscht Klimts Handlung im Brennpunkt. Das männliche Opfer – passiv niedergedrückt , impotent – ist in einer lebenden Schlinge gefangen , einem Polypen , die ihn wie ein weiblicher Schoß umgibt. Die Furien , welche die Hinrichtung überwachen , sind femmes fatales des fin de siècle und griechische Mänaden in einem“ ( Carl E. Schorske ). Nicht der Mensch im „Kampf ums Recht“ wird von Klimt signalisiert oder als Theseus im Kampf gegen den Minotaurus he48

Das Beste am Jusstudium und seine Schwächen

roisiert , sondern der arme , alte Mann wird als Opfer mit den Zeichen der Schwäche und des Leides gezeigt. Was hätte dieses Bild , ins Bewusstsein der Studierenden gebracht , bei uns bewirkt ? Wäre es ständig von professoralen Erläuterungen und Prüfungsfragen begleitet gewesen , hätte es vielleicht Nachdenken bewirkt : ein Nachdenken über Wesen und Wert des Rechts. Von den Herren des Rechts hörten wir viel , von den Opfern des Rechts wenig. Das Beste am Jusstudium und seine Schwächen

Das Beste an unserem Studium war die Kollegialität unter den Studierenden und die große Freiheit , wie ich sie weder vorher noch nachher so erlebt habe. Dieses große Geschenk der Universität im Allgemeinen und der Fakultät im Besonderen werde ich nie vergessen. Es war gar nicht so gewollt und auch rechtlich anders normiert , aber es war „wirklich“. Studenten von heute können sich diese große Freiheit nicht vorstellen. Es waren lange , graue Jahre , aber eine goldene Freiheitszeit : Zwischen den Zwängen von Familie und Schule und den Zwängen des Berufslebens war hier eine Freiheit der Zeit und eine Zeit der Freiheit. Ich lernte neben der Universität meine Gegen- und Nebenwelten kennen , die Poesie , wie es die Romantiker nannten. Damals habe ich individuelle Freiheit ganz groß und existenziell erlebt. Sie war der Raum für eine Fülle von Möglichkeiten und Gelegenheiten , das Leben und die Welt kennenzulernen und damit sich selbst. Durch unseren Philosophie-Professor Brunnbauer war ich zu Pico della Mirandola geführt worden. Wir diskutierten in der 8. Klasse die Menschenwürde. Pico sprach sie schon 1486 an. Er sah sie nicht in einer gottgegebenen Essenz , sondern in der Freiheit , „damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu einer Gestalt dich ausbilden kannst , die du bevorzugst“. Diese große Freiheit erlebte ich damals und damit wohl auch mein eigenes Wesen. 49

Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs

Im Studium wurde reflektiert und differenziert : Die „Freiheit vom Staat“ wurde uns als die Freiheit der Moderne , die „Freiheit im Staat“ als die der Antike gelehrt. Die „liberté civile“ ist die Freiheit des Einzelnen , die „liberté politique“ zielt auf Freiheit als Herrschaft. Dem entspricht in etwa die Gegenüberstellung von „passiver“ und „aktiver“ Freiheit. Freiheit wurde also differenziert – bürgerliches als negatives dem politischen Freiheitsverständnis als positivem gegenübergestellt. Aufgeschrieben habe ich mir , was Karl Popper beim Europäischen Forum Alpbach 1958 über Freiheit sagte : „Als einer der letzten Nachzügler des Rationalismus und der Aufklärung glaube ich an die Selbstbefreiung des Menschen durch das Wissen – ebenso wie einst Kant , der letzte große Philosoph der Aufklärung.“ Die Frage bleibt : Freiheit – wozu ? Merkl vermittelte den Sinn der Freiheit in einem seiner letzten Aufsätze in der Steigerung der sozialen Gerechtigkeit. Knoll verstand Freiheit in diesem Sinn und motivierte uns zu sozialem Tun. Die große Freiheit der Studienzeit war bei mir einfach dazu da , Freiheit zu erleben und zu leben. Vielleicht fiel es mir deshalb später leichter , Verantwortung zu übernehmen. Das Zweitbeste am Studium war die historische Orientierung. Wie die Lehrpläne der höheren Schulen in unserer Gymnasialzeit , so war auch das Jusstudium geschichtlich aufgebaut. Das machte Sinn. Denn der Lehrstoff wurde gewissermaßen in der Entwicklung des Wissens vermittelt , eine Entwicklung , die mit dem Entstehen und Vergehen der Kultur in Europa verbunden war. Wir erhielten einen Überblick über das Ganze und über die Fülle der Rechtsmaterien. So wie wir als Maturanten , vereinfacht gesagt , das Wissen der Zeit hatten , so hatten wir als absolvierte Juristen das Wissen über das Recht unserer Zeit und das Wissen über seine Herkunft und seine historischen und kirchlichen Parallelen. Das Werden und Wachsen , der Wandel und Wechsel der Institutionen im Einzelnen und des Rechts im Ganzen wurden gut vermittelt. Wir konnten Person , Familie , Eigentum und Staat gestern und heute vergleichen und reflek50

Das Beste am Jusstudium und seine Schwächen

tieren. So war man dem Ideal eines „uomo universale“ näher gerückt und trotzdem ein „uomo speciale“ geworden. Durch den geschichtlichen Auf bau wurde das Chaos der Geschichte gegliedert und in die Fülle der Informationen eine Ordnung gebracht. Freilich war fast alles eurozentrisch fundiert und organisiert. Paul Koschakers „Europa und das römische Recht“ ist die großartigste Frucht dieser Orientierung. Schließlich wurden wir durch das Studium insgesamt zu Juristen „erzogen“: Wir lernten logisch zu denken und zu reden , das Wesentliche vom Unwesentlichen , das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden , überhaupt unter-scheiden. Wir lernten analytisch und analogisch zu denken und das Legale bis hin zum Illegalen zu verstehen : „Was geht noch ?“, „Was geht nicht mehr ?“ „Es kommt drauf an ! “, sagte einer unserer Lehrer immer wieder. Was waren Schwächen des Studiums ? Bald wurde mir , nicht zuletzt durch den Besuch der Kurse , bewusst , dass hier ein „Recht ohne Wissenschaft“ vermittelt wurde. Es fehlte die kritische Reflexion. Die Texte wurden nicht hinterfragt. Es wurden Rechtstexte von der Antike bis zur modernen Zeit auf hohem Niveau gelehrt , traktiert und geprüft , aber Wissenschaftsgeschichte und -theorie , Rechtstheo­ rie und Methodenlehre und alles , was dazugehört , kamen zu kurz. Wenn man wollte , konnte man sich das alles aneignen , aber die Meisten wollten das ja gar nicht. Damit ist ein zweiter Mangel unseres Jusstudiums aufgezeigt. Es wurde „Recht ohne Gesellschaft“ betrieben und vermittelt. Die gesellschaftliche Wirklichkeit wurde zwar teilweise durch ökonomische , historische und kriminologische Elemente nähergebracht und das Recht so belichtet. Aber im Großen und Ganzen war die gesellschaftliche Wirklichkeit ausgeklammert. Das „Opfer“ in Klimts Darstellung wurde vergessen. Das Sollen wurde vermittelt , das Sein des Rechts nicht. 51

Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs

Kurz : Es wurde der Text gelehrt und studiert , aber der Kontext ignoriert. Das Recht der Texte wurde tradiert , das Gesellschaftliche des Rechts wurde nicht reflektiert. Die historische Bedingtheit wurde zu wenig als gesellschaftliche Bedingtheit bewusst gemacht. Dadurch wurden wir auch nicht oder zu wenig zur Verbesserung des Rechts angeleitet. So wurden wir in doppelter Hinsicht zu Rechtspositivisten herangebildet : Das positive Recht wurde uns auch als gutes Recht , also „positiv“ vermittelt. Die Herausforderung zu kritischem , rechtspolitischem Denken war Privatsache. Der Satz , mit dem Eugen Ehrlich ( 1862–1922 ) sein Hauptwerk „Grundlegung der Soziologie des Rechts“ ( 1913 ), überschreibt , war in unserem Jusstudium unbekannt. Ehrlich war nicht an der Universität und schon gar nicht in den Rechtskursen zu hören oder zu lesen : „Der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liegt auch in unserer Zeit wie zu allen Zeiten , weder in der Gesetzgebung , noch in der Jurisprudenz , noch in der Rechtsprechung , sondern in der Gesellschaft selbst.“ Dementsprechend kam der Begründer der Rechtssoziologie und der Rechtstatsachenforschung in unserem Studium nicht vor. Heute ist aus der „local Bukowina“ Eugen Ehrlichs die „global Bukowina“ geworden , um einen Ausdruck des Rechtssoziologen Gunther Teubners zu verwenden. Wir leben in einem Polylog des Rechts und in mehr oder weniger kommunizierenden rechtlichen Parallelwelten. Der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liegt in der Weltgesellschaft. Im Übrigen wurde in unserem Studium auch nicht die „Reine Rechtslehre“ im Sinne Hans Kelsens vermittelt , sondern ­eine traditionelle Rechtslehre. Dabei kamen die Texte der Professoren nicht zu kurz. Wir mussten viele Rechtstexte auswendig lernen und daher auch die rechtswissenschaftlichen Texte , die unsere Professoren verfasst hatten. So kann ich heute noch ­eine der wichtigsten Einteilungen des Rechts nach dem genialen Karl Wolff wiedergeben : „Recht im objektiven Sinn ist das dem Souverän im Rahmen seiner Souveränität Zusinnbare.“ 52

Das Beste am Jusstudium und seine Schwächen

Recht im subjektiven Sinn : „Ist ein Verhalten , an dem jemand ein Interesse hat , Pflicht , und ist es eben wegen dieses Interesses Pflicht , dann hat derjenige , in dessen Interesse es Pflicht ist , ein Recht im subjektiven Sinn.“ Wolff hielt jahrelang Einführungskollegien mit dem Titel „Rechtslogik , richtiges Formulieren , insbesondere bei Prüfungen , Einführung in die Rechtssprache ( besonders für Hörer[ innen ] des ersten Semesters )“. Seine diesbezüglichen Bücher sind lesenswert. Im Nachhinein wurde mir erst bewusst , dass wir nie von unseren Rechtslehrern auf die Problematik der Sklaverei aufmerksam gemacht worden waren. Sklaven waren eben im Römischen Recht Sachen und wir lernten in lateinischer Sprache Sachenrecht und Obligationenrecht und daher auch Kaufverträge über sie. Erst René Marcic klärte mich diesbezüglich über § 16 ABGB auf , schon 1812 gab es in Österreich keine Sklaverei. § 16 lautet : „Jeder Mensch hat angeborene , schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte , und ist daher als eine Person zu betrachten. Sklaverei oder Leibeigenschaft , und die Ausübung einer darauf sich beziehenden Macht , wird in diesen Ländern nicht gestattet.“ Diese schönste Bestimmung der Rechtsordnung ist gleichsam das österreichische Urrecht. Es ist die Zentralnorm unserer Rechtsordnung. Leider ist § 16 noch immer nicht in allen Schulen und Ämtern zum Lesen und Lernen angeschlagen. Die Zentralnorm unserer Rechtsordnung steht nicht im Zentrum unseres Bewusstseins und unserer Allgemeinbildung. Damit ist der größte Mangel des Studiums unserer Zeit aufgezeigt : Wir hörten nichts oder zu wenig über den Rückfall des Rechtes und des Staates in Bestialität und Barbarei. Obwohl erst wenige Jahre seit der Zeit des Nationalsozialismus vergangen waren , wurden wir mit den verschiedenen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts nicht konfrontiert. Die Worte „Shoa“ und „Holocaust“ habe ich im Studium nicht gehört. Die Fakultät hat sich dem größten Verbrechen in der gesamten Geschichte nicht ge53

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stellt , obwohl das Studium historisch aufgebaut war. Die politische , die ökonomische , die ideologische Versachung des Menschen war die Erfahrung unserer Zeit , aber nicht Gegenstand unseres Studiums. Die Geschichte von der Kriegsbeute zum KZ-Häftling und damit zur letzten Steigerung jeder Versklavung , in der der Mensch seines letzten Ich-Bewusstseins entkleidet und eine Nummer wurde , war nicht Sache der Lehre. Über die pseudorechtsstaatliche Rechtssetzung der Diktaturen wurde nicht aufgeklärt. Man schlittert so leicht in eine Diktatur hinein ; das war 1933 so gewesen. Die Begeisterung der Mehrheit 1938 über die Ankunft Hitlers und den Anschluss wurde nicht reflektiert. Wir sprachen oft untereinander darüber , aber die Deutsche Rechtsgeschichte , die Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte , das Völkerrecht und die Rechtsphilosophie behandelten das Thema nicht oder nur sehr indirekt. Die Frage „Annexions- oder Okkupationstheorie“ war dagegen Prüfungsfrage und die wohlbegründete Feststellung Adolf Julius Merkls : „Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich – eine Geschichtslegende“ ( Juristische Blätter 1955 , S. 439 f ) Geheimwissen für Studierende. Wer es wusste , war klug. Die gegenteilige Feststellung der jüngeren Geschichtsforschung überspitzt formuliert : „Österreich – das erste Opfer Hitlerdeutschlands – eine Geschichtslegende“ geht von gesellschaftlichen Tatsachen aus und nicht von völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Evidenzen. Differenzierte Deutung ist in der österreichischen Geschichte aber notwendig , um nicht einseitig zu sein. Die Moskauer Deklaration 1943 , die Unabhängigkeitserklärung 1945 und die Begründungen der Urteile des Nürnberger Prozesses 1945 darf man nicht ignorieren. Aber die österreichische Verantwortlichkeit wurde vergessen. Die Moskauer Deklaration 1943 , welche u. a. die Befreiung Österreichs von Hitlerdeutschland zum Ziel hat , lernten wir ; die dort auch festgesetzte Verantwortlichkeit Österreichs nicht.

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Meine Lehrer und meine Lehrerin

Im Völkerrecht wurde gelehrt , von uns gelernt und war eine Prüfungsfrage , dass wir wegen des Artikels IV des Staatsvertrages von ­Wien 1955 und wegen des Verfassungsgesetzes über die dauernde Neutralität 1955 nicht Mitglied der EWG sein durften , wohl aber Mitglied der EFTA . Diese Texte wurden nicht verändert ; trotzdem „durften“ wir , und zwar sogar der EU beitreten. Der Kontext hatte sich verändert. Meine Lehrer und meine Lehrerin

Mein erster Rechtslehrer – Heinrich Rischanek (1891–1971) Heinrich Rischanek war mein erster „Rechtslehrer“. Dieser kleine , stämmige Mann war ein juristischer „uomo universale“ und konnte in allen drei Studienabschnitten unterrichten. Wie andere erzählte er mir über Bundeskanzler Dollfuß , dass dieser immer als erster gegrüßt habe und immer freundlich gewesen sei. Ich sagte : „Aber er war doch ein Diktator ! “, da antwortete er : „Das sagen die anderen ! Er war mein Freund ! “ Rischanek war CVer , er war Mitglied des Bundesgerichtshofes unter der Dollfuß-Verfassung gewesen und hatte schon in den frühen Dreißigerjahren den „Rechtskurs Rischanek“ errichtet und dort unterrichtet. 1938 wurde die Schule zwangsweise aufgelassen und ihr Vermögen konfisziert. 1945 wurden die „Rechtskurse Dr. Heinrich Rischanek“ wieder errichtet. Sie wurden in ­Wien ein Begriff und von Generationen von Juristen besucht. Auch ich wurde ein „discipulus Rischaneki“. Die Räumlichkeiten befanden sich im Gebäude des Schottenstifts ( ­Wien 1 , Freyung 6 ). In diesem Hause war am 17. April 1945 die Österreichische Volkspartei gegründet worden. Eine Tafel erinnert daran. Die Rechtskurse Rischanek befanden sich im linken ersten Teil des Häuserkomplexes. Jetzt hat das „Institut für künstliche Intelligenz“ seinen Sitz in dem Haus.

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Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs

Die Fenster der Schule gingen zum Teil auf die Freyung , zum Teil in den Hof. Die große Wohnung hatte mehrere „Klassenräume“, ein geräumiges Büro und eine gut eingerichtete Bibliothek , durch die man zu den Privaträumlichkeiten kam. Der Schottenhof ist ein großer Komplex mit einer großen Geschichte. Österreichs Herzog Heinrich II. Jasomirgott legte 1158 den Grundstein zu dieser kirchlichen Anlage. Das Herkunftsgebiet der Mönche war Irland. Mitte des 12. Jahrhunderts war es das größte Bauvorhaben nach der Stephanskirche. Die Anlage hat einen großen Reiz und es gibt dementsprechend auch eine „Altschottenpoesie“. Ferdinand von Saar sagt in den ­Wiener Elegien : „Am Hof fühl ich ergriffen mein Herz , dort spricht jeglicher Stein zu mir und weckt die Erinnerung ; längst vergangene Zeit drängt sich lebendig heran.“ Bei ihm war es das Gymnasium , bei mir sind es die Rechtskurse Rischanek. Der Hofrat kam , frisch rasiert und nach einem herben Eau de Cologne duftend , korrekt in der Kleidung , pünktlich in den Kurssaal , blieb einen Augenblick stehen und musterte wie ein Feldherr die Erschienenen. Dann setzte er sich hinter den Vortragstisch und stapelte die Bücher auf , die er mitgebracht hatte. Er hielt Vorlesungen wie ein Professor und begann sie oft mit dem Abfragen des Stoffes aus den letzten Stunden. Er legte Wert darauf , dass uns die Bedeutung des Lernens und Wiederholens der gelernten Materien immer wieder bewusst wurde. Dieses von Rischanek trainierte Wiederholen von Texten hat mir in meiner akademischen und politischen Praxis viel geholfen. Von ihm lernte ich auch eine Haltung , die ich als „Realismus“ bezeichne. Es ist das „Sehen , was ist“, unvoreingenommen und vorurteilslos die Wirklichkeit wahrnehmen , auf sich wirken lassen , nachdenken und handeln. Rischanek war für seine Sager berühmt. „Ein Jurist muss alles wissen“, sagte er wiederholt mit lauter Stimme. Als ich mit ihm über diesen Sager ins Gespräch kam , meinte er , dass Juris56

Meine Lehrer und meine Lehrerin

ten sich für alles interessieren müssen , alles lernen müssen , weil sie in allen Angelegenheiten herangezogen würden. Er zitierte Ulpian : „iuris prudentia est divinarum atque humanarum rerum notitia , iusti atque iniusti scientia“, also : „Die Rechtswissenschaft ist die Kenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge , die Wissenschaft des Gerechten und Ungerechten“. Und er zitierte Celsus : „ius est ars boni et aequi“, „die Kunst des Guten und Gerechten“; des Rechten und Billigen. Da konnte ich nur schweigen. Gern zitierte er : „scire leges non hoc est verba earum tenere , sed vim ac potestatem“ – „Gesetze kennen heißt nicht am Wortlaut zu kleben , sondern Sinn und Zweck zu ermitteln“. Wieder Celsus. Aber mir waren „vis“ und „potestas“ zu viel. Seinen Sager : „In Österreich wird man für Leistung bestraft“, habe ich oft zitiert. Aber trotzdem erreicht und verdient man mit Leistung manches , auch in Österreich. Aber „trotzdem ! “. Er meinte die Steuerbelastung. Und da hat er noch immer recht. Wenn ein Kollege sagte , er lese viel , meinte Rischanek : „Sie sollen nicht lesen , sondern lernen ! “ Er war eine ganze Fakultät und unterrichtete mit Erwin Melichar lange mehrere Rechtsfächer an der damaligen Hochschule für Bodenkultur , war also in gewisser Weise mein Vorgänger. Die von Rischanek erstellten Skripten verarbeiteten die gesamte juristische Literatur , allerdings meist beschränkt auf den deutschsprachigen Bereich. Aber das galt auch für Lehrbücher und Zeitschriften. Jedes neue rechtswissenschaftliche Werk war im „Juristenstaat Österreich“ noch in den 50er-Jahren eine kleine Sensation. Heute gibt es zehnmal so viele juristische Fachzeitschriften wie damals und jährlich erscheinen in Österreich allein mehrere Dutzend juristische Fachbücher. Aber ist Österreich noch ein Juristenstaat ? Im Jänner 1957 läutete in einer Kursstunde das Telefon im Nebenraum. Rischanek unterbrach seinen Vortrag , ging in das Nebenzimmer , hob den Hörer ab , sprach , legte auf – das alles höre ich noch heute – kam zurück und bat mich , ihm zu folgen. Im Nebenraum teilte er mir mit , dass mein Vater gestor57

Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs

ben sei und entbot mir sein Beileid. Er nahm sich in der Folge um mich an , vermittelte mir Schüler und verlangte fast kein Geld mehr für den Besuch seiner Kurse. Als ich Professor geworden war , besuchte ich ihn einige Male und begleitete ihn manchmal auf seinen Gängen zur Konditorei Heiner in der Wollzeile. Dort kaufte er Mehlspeisen und ich begleitete ihn wieder zum Schottenhof. Er fragte mich über Kollegen an der BOKU. Als ich ihm von meinem Förderer Prof. Westphalen erzählte , meinte er : „Das ist ein Philosoph ! “ Das war Westphalen. Er war in den 70er-Jahren Berater der Studentengruppe Jes. Er war einer der wenigen in Österreich , die wussten , was konservativ und Konservativismus ist und war die vornehmste Erscheinung unter den Konservativen. Er war ein Edelkonservativer , aber für Rischanek war er eben ein Philosoph. August Maria Knoll (1900–1963) Der Beginn des Jusstudiums hätte für mich fast sein Ende bedeutet. Denn der Soziologe und Sozialphilosoph August Maria Knoll sprach mich mit seiner „Einführung in die Philosophie und Gesellschaftslehre“ so an , dass ich ans Umsatteln dachte. Ich wollte Soziologe werden. Die Vorlesungen fanden an Samstagen statt. Sie wurden für mich Feiertage und ich besuchte sie regelmäßig. Knoll hatte Charisma. Für mich ist er – im Nachhinein gesagt – ein österreichischer , katholischer Herbert Marcuse gewesen. Ich wusste wenig über ihn. Erst einige Jahre später erfuhr ich , dass er gemeinsam mit Ernst Karl Winter , Alfred Missong , Hans Karl Zessner-Spitzenberg und Wilhelm Schmidt in den 1920er-Jahren Begründer der Österreichischen Aktion gewesen war , die sich für ein selbstständiges Österreich einsetzte und sich mit paneuropäischen Gedanken beschäftigte. Da wurde er mir noch sympathischer. 1952 gründete er mit dem ÖVP-Abgeordneten Dr. Karl Kummer das Institut für Sozialpolitik und So58

Meine Lehrer und meine Lehrerin

zialreform. Es ist noch heute nach Kummer , aber schon lange nicht mehr nach Knoll benannt. 1959 schied er aus dem Institut aus. Die ÖVP war für ihn eine andere geworden. 1963 , im Jahr seines Todes , wurde er Präsident des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes. Knoll weckte mich aus meinen existenzialistischen Träumen und erweckte ein anderes , ein neues Interesse für die „Gesellschaft“. Ich wurde durch ihn „sozial“ sozialisiert. Im ganzen Jusstudium habe ich kein solches gesellschaftliches Engagement gefunden. Sartres „Der Existentialismus ist ein Humanismus“ war damals mein Credo. „L’homme n’est pas , il se fait“ – „Der Mensch ist nichts anderes als das , wozu er sich macht.“ – „Der Mensch ist dazu verurteilt , frei zu sein.“ Wir sind zur Freiheit verdammt und in den vielen Situationen , in denen wir uns finden , müssen wir uns immer neu konkretisieren. Pico de Mirandola gefiel mir mehr. Ich wollte wirklich frei sein und mich als Freiheit erleben. Das „Ich“ als Subjekt , Projekt und Prozess der Freiheitskonkretisierung wurde mir bewusst. Kein Lehrsystem könnte für mich die richtige Lehre sein , ich müsste mich immer neu entwerfen. Aber irgendetwas sträubte sich in mir dagegen , alle Lehrsysteme als „Leersysteme“ abzulehnen und mich immer neu zu entwerfen. Ich wollte einen normativen Bezugsrahmen. Knoll war da gerade richtig. Er brachte mich zu seinem Katholizismus. Die von ihm zitierte Parole „Rechts stehen und links denken“ gefiel mir. Noch mehr gefiel mir seine Einstellung zu Andersdenkenden , Andersgläubigen , Andersseienden. Er predigte in seinen Vorlesungen Friedrich Heers Parole von der „Freude am Anderssein des Andern“. Daher freundete ich mich in seinem Sinn mit ausländischen Kolleginnen und Kollegen an , die meist von den unsrigen ignoriert wurden. Das hätte ich ohne ihn auch getan , aber nicht so spontan. August Maria Knoll war CVer , Mitglied der ÖVP , und zwar des ÖAAB , engagierter und praktizierender Katholik. Wie man-

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Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs

che gute Katholiken kritisierte er die Amtskirche und wie manche gute ÖVPler kritisierte er die ÖVP. Idealistisch hatte Knoll in der Festschrift der Studentenverbindung „Nordgau“ 1950 formuliert : „Der CV ist erstens keine parteipolitische Organisation. Er ist auch keine parteipolitische Erziehungsgemeinschaft. Vielmehr ist der CV eine Ideen- und Gesinnungsgemeinschaft , ein ‚Reich der Seele …‘.“ „[ … ] der CV ist kein parteitragender Stand , er ist aufgrund seines Prinzips [ … ] ,Vaterland‘ ein staatstragender Stand [ … ]. Wir sind : ein freier auf Lebenszeit vereidigter katholischer Männerbund , welcher in der Kirche , im Staate und auf dem akademischen Boden steht , um daselbst als Priester und Väter , als Professoren und Schriftsteller , als Wirtschafter und Wirtschaftsführer in der Funktion eines Hauptes oder Gliedes zu wirken , um in diesen drei Wesensorganisationen des menschlichen Lebens mit höchster Symbolkraft gesprochen Gott-Vater im Staat , GottSohn in der Kirche und Gott-Geist in der Wissenschaft zu zelebrieren. Wir sind eine akademische Querverbindung durch Kirche , Staat und Wissenschaft.“

Wer könnte das heute so sagen ? Und könnte man das heute auch noch so sagen ? Ohne Frauen ! Knoll führte uns zu den Kirchenvätern – Augustinus las ich von Neuem – , zur Scholastik , ins Mittelalter. Er konnte noch den vielfältigen Universalismus des Mittelalters beschreiben , das Schachspiel als Ausdruck von Hierarchie und Ständeordnung , die Auseinandersetzung zwischen Kaiser- und Papsttum , aber auch die im Auto hängenden Kasperln und andere Maskottchen reflektieren. Gemerkt habe ich mir seinen Sager : „Wenn Sie Fahnen sehen , dann laufen Sie , laufen Sie ! “ Auch bei CV-Fahnen ? Er war Kirchen- und Kapitalismuskritiker zur gleichen Zeit und hatte Zivilcourage. Die katholische Kirche sei durch ihre Techniken des Überlebens immer angepasster und veralteter geworden. Er postulierte die Pflicht zum revolutionären Den60

Meine Lehrer und meine Lehrerin

ken im Rahmen einer Ordnung. So weit hab ich es nie gebracht , wohl aber zum kritischen Denken. Er stellte „Christus vor dem Großinquisitor“ aus Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ als Fortschrittssaga dar. Er führte uns die moderne Gesellschaft vor und vermittelte uns sein Grauen vor dem amerikanischen „Bigger and Better“. Er verwendete zwar noch nicht den Ausdruck „Spaßgesellschaft“, aber er analysierte sie bereits. Er nannte unsere Gesellschaft eine Gesellschaft der Wurschtel und der Würstel. Von der empirischen Sozialforschung hielt er nicht viel und bezeichnete sie als soziologisches Erdäpfelzählen. Ich sprach mit Knoll über „die einsame Masse“ von David Riesmann. „Einsame Masse – Masse der Einsamen“, lächelte er. Riesmann stellt den „außengeleiteten Menschen“ vor , der – im Unterschied zum „traditionsverhafteten Charaktertyp“, der streng den Regeln gehorcht , und dem „innengeleiteten Menschen“, der den eigenen Maßstäben folgt – flexibel , mobil und auf Anerkennung ausgerichtet ist , also „modern“ ist , sagte Knoll. Er sprach vom mobilen Multiflex , der als Isolierter wie ein Kasperl kommuniziert. Er sprach auch darüber , dem Unglauben der Macht den Glauben der Machtlosigkeit entgegenzusetzen. Sei das nicht die Bestimmung Österreichs ? Im Feiertagsanzug bescherte er uns die Weihnachtsvorlesung „Cur deus incarnatus est ? “ Wir waren begeistert. „Cur deus incarnatus est ? “ ist jedes Jahr mein Meditationsthema in der Adventzeit. Da denke ich auch immer an August Maria Knoll. Knolls Gesellschaftslehre bekannte sich zum Personalismus zwischen Individualismus und Totalitarismus. Konsequenz ist die Formel „So viel Freiheit wie möglich , so viel Bindung wie nötig“, wobei der Mensch als Einzelner immer über und in der Gesellschaft ist und an ihr teilnimmt. Aus der Personalität folgt die Subsidiarität als Auf bauprinzip des Gemeinwesens. Solidarität mit allen Menschen ist das Ziel. Heer war Linkskatholik , Knoll war Linkskatholik , Daim war Linkskatholik. Er hat den Linkskatholiken definiert : „Der 61

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Linkskatholik ist nicht bereit , in Allem und Jedem der kirchlichen Autorität zu gehorchen. Er schränkt ihre Autorität funktionell auf den dogmatischen Bereich ein. Das Recht der hierarchischen Autoritäten , in Politik , Wissenschaft und Kunst Normen zu geben , sieht er als sehr beschränkt , also nur negativ an.“ Das wurde meine Auffassung. Knoll war für mich der Linkskatholik. Wenn er seine Freunde Reinhold Schneider , Friedrich Heer und Wilfried Daim zitierte , dann leuchteten seine Augen. Seine Augenbrauen vermittelten als accent circonflêxe über dem bärtigen , dicklichen Gesicht eine „melancholische“ Ausstrahlung , besonders wenn er über „die arme Schöpfung“ sprach. Er hatte grundsätzliches Mitleid. Der große Kritiker der katholischen Kirche war ein an , unter und in ihr Leidender. 1963 traf ich ihn in der Straßenbahn zum letzten Mal. Er war von Krankheit gezeichnet. „Haben Sie mein Buch gelesen ? “, fragte er. Er meinte „Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht. Zur Frage der Freiheit“. Ich sagte „Ja , es drückt genau das aus , was ich schon längst gedacht habe.“ Sein Gesicht leuchtete auf , verfiel aber gleich und er sagte leise : „Der Kardinal hat über mich ein Redeverbot verhängt.“ Ich dachte , dass das doch einem Ordinarius , der sich selber immer als Professor , als „Bekennender“ verstand , gleichgültig sein könne. Aber ich war nie ein so sensibler Katholik wie Knoll. Dass die Kirche eine „ecclesia accomodata“ war und ist , darüber hatte er uns ja aufgeklärt. Die katholische Kirche ist die erfolgreichste Institution des alles immer und überall Überlebens. Dass Einzelne in der Kirche das Revolutionäre des Christentums weitertragen , war und ist Hoffnung. Wie jeder Mensch , kann sich auch die Kirche jederzeit ändern. Knolls Tod fiel in die Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils , des Aggiornamento , der Bücher Teilhard de Chardins , die wir bald begeistert lasen und diskutierten. Aber die Kirche gab einem Prof. Knoll Redeverbot , der uns Signale des Zeitgeists gezeigt hatte. Er starb am 24. 12. 1963. 1963 war auch um Wilfried Daims Buch „Kirche und Zukunft“ eine heftige Diskussion entbrannt. Neben Abhandlun62

Meine Lehrer und meine Lehrerin

gen Friedrich Heers und August Maria Knolls enthielt das Buch 29 Thesen zur „Entfeudalisierung der Kirche“. Es hagelte Kritiken , auch von Kardinal Franz König. Beim Rosenkranz-Sühnekreuzzug am 13. 9. 1963 in der ­W iener Stadthalle sagte er : „Das sind falsche Propheten , die die Erde in Verwirrung bringen. Sie schlagen die Kirche ans Kreuz.“ Knoll sprach über Austromarxismus und über Austrofaschismus ; er war für mich ein Vertreter des von mir so genannten Austrohumanismus , über den noch diskutiert und geschrieben werden muss. Günther Anders ( 1902–1992 ) gehört dazu , Franz Grillparzer ( 1791–1872 ), Adalbert Stifter ( 1805–1868 ), Marie von Ebner-Eschenbach ( 1830–1916 ), Ferdinand von Saar ( 1833–1906 ), Bertha von Suttner ( 1843–1914 ), Hermann Broch ( 1856–1951 ), Berta Zuckerkandl ( 1864–1945 ), Hildegard Burjan ( 1883–1933 ), Alexander Mahr ( 1896–1972 ), Irene Harand ( 1900–1975 ), Ludovica Marchet-Hainisch ( 1901–1993 ), Karl Popper ( 1902–1994 ), Leopold Kohr ( 1909–1994 ), Friedrich Heer ( 1916–1983 ), René Marcic ( 1919–1971 ), Otto Tausig ( 1922–2011 ), Erika Weinzierl ( geb. 1925 ). Der Philosoph Paul Tarmann hat sich dem Thema gewidmet. Der Austrohumanismus könnte eine Weltanschauung der Zukunft werden. Alfred Verdroß-Droßberg (1890–1980) Er hielt für die Anfänger des Jusstudiums die Vorlesung „Grundbegriffe des Staates und des Rechtes“. Sie fand im Auditorium Maximum der Universität statt und war gut besucht. Der elegante , damals 65-jährige Herr führte uns behutsam und humorvoll in das Recht ein. Er zitierte die Studienberatung , die der als Faust verkleidete Mephisto dem Schüler angedeihen lässt und erinnerte uns an Mephistos Darstellung des Positiven Rechts und des Naturrechts : „Schüler : Zur Rechtsgelehrsamkeit kann ich mich nicht bequemen. 63

Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs

Mephistopheles : Ich kann es Euch so sehr nicht übelnehmen , Ich weiß , wie es um diese Lehre steht. Es erben sich Gesetz’ und Rechte Wie eine ewge Krankheit fort ; Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte Und rücken sacht von Ort zu Ort. Vernunft wird Unsinn , Wohltat Plage ; Weh dir , daß du ein Enkel bist ! Vom Rechte , das mit uns geboren ist , Von dem ist , leider ! Nie die Frage. Schüler : Mein Abscheu wird durch Euch vermehrt. O glücklich der , den ihr belehrt …“

Ist Mephisto Naturrechtler ? Alfred Verdroß war ein Schüler Hans Kelsens und mit diesem und Adolf Julius Merkl einer der wichtigsten Vertreter der ­Wiener Rechtstheoretischen Schule , aber er war im Gegensatz zu Kelsen kein Rechtspositivist , sondern Naturrechtler. Er war der bedeutendste Völkerrechtler Österreichs im 20. Jahrhundert und begründete die naturrechtlich geprägte ­Wiener Schule des Völkerrechts und der Rechtsphilosophie. Das lernten wir aber erst in diesen , von Verdroß im dritten Studienabschnitt vorgetragenen Fächern. Sein Buch „Abendländische Rechtsphilosophie – Ihre Grundlagen und Hauptprobleme in geschicht­l icher Schau“, 1958 erschienen , kaufte ich mir im selben Jahr und blättere heute noch gerne darin. Es endet mit „Naturrechtslehre und Rechtspositivismus“. Im „Rückblick“ spricht Verdroß vom „Eindruck einer ungeordneten Gemäldesammlung“, wenn man die Lehren der verschiedenen Rechtsphilosophen bloß in ihrer geschichtlichen Aufeinanderfolge sehe. Wenn man sie aber im Lichte der gesamten abendländischen Philosophie betrachte ,

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Meine Lehrer und meine Lehrerin

ordnen sich nach Verdroß die einzelnen Bilder in eine Ganzheit ein. Bei ihm ging sich alles aus. Er konnte alles einordnen. Besonders wurde ich von Verdroß’ Gedanken des „bonum commune humanitatis“ angesprochen. Die internationale Gemeinschaft der Weltgesellschaft mit ihrem ständig wachsenden Weltrecht muss sich am Weltgemeinwohl orientieren. Die Alternativen brauche ich hier nicht auszuführen. Im Alltag der Weltgesellschaft erleben wir sie in vielen Teilen der Welt. An den „inneren Angelegenheiten“ und an der Staatssouveränität zerschellt heute noch das Weltrecht der Menschenrechte. Aber ihre Entwicklung machte mich optimistisch. Verdroß habe ich auch eine Einführung in die Universitäts­ organisation zu verdanken. 1955 war das Hochschulorganisationsgesetz vom Nationalrat einstimmig beschlossen worden , das wieder an das traditionelle Organisationsrecht der Monarchie anschloss und Systematik und Übersicht brachte. Charakteristisch , schon für die altösterreichische Universität , war ihre Rechtsgestalt als grundsätzlich einer eigenen Rechtsfähigkeit entbehrenden staatlichen Anstalt mit einem gesetzlich garantierten weisungsfreien Bereich. Darin eingebaut und darüber hinausgehend : „Die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre.“ Verdroß machte uns nicht auf die mangelnde Autonomie und Demokratie der Universität aufmerksam , sondern auf die „politia mixta“, auf die gemischte Verfassung von monarchischen , aristokratischen und demokratischen Elementen in der Universitätsverfassung. Es waren aber nur Professoren gemischt : Rektor und Dekane , Senat und Kollegien waren Ausdruck der Professorenuniversität , die manchmal „Gelehrtenuniversität“ im Gegensatz zu der folgenden „Gruppenuniversität“ genannt wurde. Da Verdroß in allen Regimen wohlgelitten war , haben ihn wohlwollende Kollegen den „Diplomaten unter den Professoren“ genannt. Diplomat war er schon vor seiner akademischen Lauf bahn , die 1951/52 mit dem Amt des Rektors gekrönt wurde. 1958–1977 war er Richter beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. 65

Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs

Hans Kreller (1887–1958) „Die eher ungewöhnliche Weiterverwendung reichsdeutscher Professoren 1945 betraf insbesondere die ,historischen‘ der Jurisprudenz an der Universität ­Wien. 1941 war Hans Kreller als ordentlicher Professor des römischen Rechts und der antiken Rechtsgeschichte sowie des bürgerlichen und des Wirtschaftsrechts nach ­Wien berufen worden. Er war 1935–1937 Dekan seiner Fakultät in Tübingen gewesen und 1940 der NSDAP beigetreten. Kreller war Leopold Wenger nach dessen Emeritierung 1939 gefolgt und übernahm auch die Agenden des relegierten und schließlich ermordeten Stephan Braßloff. Im selben Jahr wurde auch Hans Planitz als Professor für deutsche Rechtsgeschichte , Bürgerliches und Handelsrecht berufen. Er folgte damit sowohl Emil Goldmann nach , der 1938 aus rassistischen Gründen zwangspensioniert worden war , als auch Heinrich Mitteis , der , weil politisch missliebig , nach Rostock abgeschoben wurde.“ ( Grandner , a. a. O., S.  297 )

Darüber wurden wir nicht aufgeklärt. Hans Kreller war vom Kriegsende an bis zu seiner Emeritierung Lehrer des Römischen Rechts an der Fakultät. 1948 wurde er wieder zum Ordentlichen Professor für Römisches Recht , Antike Rechtsgeschichte , Bürgerliches und Wirtschaftsrecht ernannt. Uns Studierenden erschien er wie ein Repräsentant eines Deutschlands , das wir nie gekannt hatten. Sein angebliches Bekenntnis zur altösterreichischen Tradition des Römischen Rechts kannten wir nicht. Er imponierte uns durch seine einmaligen Lateinkenntnisse. Er konnte minutenlang aus dem Corpus Juris zitieren und lateinisch fragen und antworten. Damals konnte ich noch gut Latein , und als er das bei der Ersten Staatsprüfung merkte , war er erfreut und sagte : „Nur ruhig , junger Mann.“ Die Österreichische Akademie der Wissenschaften wählte ihn 1951 zum korrespondierenden , 1954 zum wirklichen Mitglied. 66

Meine Lehrer und meine Lehrerin

Sibylle Bolla-Kotek de Csaford-Jobbaháza (1913–1969) Sie wurde 1913 als Tochter des Husarenoffiziers Gideon Bolla von Csaford und Jobbaháza in Pozsony ( Bratislava , Pressburg ) geboren. 1923 übersiedelte die Familie nach Tepplitz-Schönau , wo sie das humanistische Gymnasium absolvierte. Ihr Vater starb 1929. Sein Militärkamerad , der spätere Bundespräsident Theodor Körner , unterstützte die Familie. 1938 wurde sie in Prag u. a. für Römisches Recht habilitiert. Als Römischrechtlerin war sie von drei Gelehrten wesentlich beeinflusst worden : Egon Weiß , Leopold Wenger und Mariano san Nicolo , und wie diese altösterreichischen Romanisten war sie am antiken Recht Ägyptens und des Vorderen Orients interessiert. 1944 wurde sie außerplanmäßige Professorin. Nach ihrer Flucht nach Österreich erhielt sie auf der W ­ iener Juristenfakultät 1947 die „venia legendi“. 1949 wurde sie außerordentliche Professorin , 1958 Ordinaria. Sie war die erste Universitätsprofessorin der Jurisprudenz in Österreich. Nach mehreren Arbeiten aus dem Römischen Recht verfasste sie einen „Grundriss des Österreichischen Internationalen Privatrechts“. Weiterhin widmete sie sich rechtshistorischen Studien. Von der Rezeption des Römischen Rechts in den böhmischen Ländern bis zum Profil des römischen Juristen reichten ihre weitgespannten Interessen. Sie war unsere einzige Professorin und eine einzigartige Persönlichkeit , die durch ihr Engagement und ihre Energie beeindruckte. Hochgewachsen , schlank und gerade , hatte sie leuch­ tende Augen und ein strahlendes Lächeln. Sie war als strenge und temperamentvolle Prüferin gefürchtet. Umso mehr freute ich mich , dass sie mir bei der zweiten Staatsprüfung eine Auszeichnung im Bürgerlichen Recht erteilte. Ihre Vorlesungen , die sie im Auditorium maximum der Universität W ­ ien hielt , da sie von vielen Studierenden besucht wurden , waren ein Genuss. Im schönen Pragerdeutsch , wie es au67

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ßer ihr in W ­ ien vielleicht nur Maria Eis und Ernst Deutsch im Burgtheater sprachen , hielt sie ihre Vorlesungen ohne Mikrofon und klar verständlich. Sie strebte ständig nach juristischer Präzision im Ausdruck und motivierte uns dazu. Über die „Universitätskultur“ der damaligen Zeit gibt ein „promemoria“ Auskunft , mit dem sie als „Herr Professor Promotor Doktor Bolla-Kotek“ in den großen Festsaal eingeladen worden ist : das der ersten Rechtsprofessorin an der Universität. Eines der „Tore der Erinnerung“ des ­Wiener Universitätscampus im 9. ­Wiener Gemeindebezirk von der Rotenhausgasse in den Hof 8 ist nach ihr benannt. Den schönsten Nachruf schrieb ihr Assistent , der geniale Jurist Theo Mayer-Maly : „Die Selbstlosigkeit , mit der Sibylle Bolla-Kotek stets ihren Rat und ihre Hilfe zur Verfügung stellte , wird in einem großen Freundes- und Schülerkreis unvergessen bleiben. Ich selbst danke ihr gründliche Unterweisung in vielen Vorlesungs- und Übungsstunden , tatkräftige Förderung und schließlich drei Jahre ungetrübter Kollegialität , als wir von 1959 bis 1962 gemeinsam das römische Recht an der W ­ iener Juristenfakultät betreuen konnten. Eine außerordentliche Frau ist von uns gegangen. So jugendlich sie bis zuletzt wirkte : Sie war ein Stück vom alten Österreich , Verkörperung seiner besten Traditionen.“ ( Sibylle Bolla-Kotek zum Gedächtnis. In : Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung. Band 86 [ 1969 ], S. 570–573 ) Theophil Melicher (1890–1970) Der 1890 in ­Wien geborene Theophil Melicher studierte Philologie an der Universität W ­ ien. Er promovierte 1912 zum Dr. phil., studierte anschließend Rechtswissenschaften und promovierte 1920. 1930 habilitierte er sich bei Hans von Voltelini an der Universität ­Wien für Deutsches Recht und Rechtsgeschichte. Seine Habilitationsschrift „Der Kampf zwischen Gesetzes- und Gewohnheitsrecht im Westgotenreich“ ist heute noch lesenswert. 68

Meine Lehrer und meine Lehrerin

Er war mein Gymnasiallehrer in Deutsch und Französisch. Unter unseren Lehrpersonen am Elisabethgymnasium ( R ainergymnasium ) war er der akademische Star. Typisch für ihn waren Aufsatzthemen wie „Erik und Iwein – zwei Typen“, oder „Tristan und Parzival“. Ich war im Gymnasium einer seiner Lieblingsschüler und absolvierte deshalb als Student gerne bei ihm die Pflichtübungen in Deutscher Rechtsgeschichte und in Österreichischer Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. Er lud mich zur Prüfungsvorbereitung , auch in anderen Fächern , einige Male in seine schön eingerichtete Privatwohnung ein und imponierte mir durch seine Vielseitigkeit , Mehrsprachigkeit und humanistische Bildung. Obwohl er alle Voraussetzungen dafür besaß , auch „lagermäßig“, wurde er nie Ordinarius , sondern blieb mit dem Titel außerordentlicher Universitätsprofessor im Stande eines Universitätsdozenten. Er gratulierte mir zur Ernennung zum außerordentlichen Universitätsprofessor an der Universität für Bodenkultur noch im Jahre 1969. Ein Jahr später starb er. Hans Lentze (1909–1970) Als Sohn einer protestantischen Familie in Lauban ( Lubań ) in Schlesien geboren , studierte er Rechtswissenschaften an den Universitäten Göttingen , Bonn und Breslau. 1933 dissertierte er über Zunftrecht bei Eugen Rosenstock-Huessy und wurde Mitarbeiter am Projekt „Monumenta Germaniae Historica“, Abteilung Leges , in Berlin , Bonn und ­Wien. 1934 konvertierte er zur katholischen Kirche , 1938 begann er am Canisianum in Innsbruck Theologie zu studieren und trat ein Jahr später in das Prämonstratenser-Stift Wilten ein. Sein Ordensname war Hermann-Josef. Das Stift wurde aufgehoben und er kam als Novize in die Abtei Windberg in Niederbayern. 1943 wurde er Priester und Religionslehrer. 1947 habilitierte er sich an der Juridischen Fakultät der Universität Innsbruck für Deutsches Recht und Kirchliche Rechts­ 69

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geschichte. 1953 übernahm er vertretungsweise die Stelle von Hans Planitz , der 1953 verstorben war und lehrte uns Deutsches Recht und Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. 1958 wurde er zum Ordinarius für diese Fächer ernannt. Sein Humor gefiel uns Studenten außerordentlich und sein oft wiederholtes : „Das fragt Lentze ! “ ging uns in Fleisch und Blut über. Besonderen Eindruck machten uns seine Ausführungen über altdeutsche Hinrichtungsarten. So kann sich jeder meiner Kollegen an die „evisceratio“, die Ausdärmung , erinnern. Wer sie überlebte , war frei. Ich erinnere mich an seine sehr persönliche Frage in der Prüfung : „Was sind ihre Lieblingsgestalten in der österreichischen Geschichte ? “ Ich antwortete ohne Zögern : „Prinz Eugen und Maria Theresia.“ Lentze lachte und entließ mich mit gutem Kalkül. Sein wissenschaftliches Œuvre war sehr breit. Als ich mich in späteren Jahren mit Universitätsreformen näher beschäftigte , studierte ich sein Werk „Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein“ ( 1962 ) und habe daraus eine Reihe von Anregungen für die Universitätsreformen des ausgehenden 20. Jahrhunderts gewonnen. Willibald M. Plöchl (1907–1984) Hätte ich das Leben Plöchls näher gekannt , hätte ich öfter als nur bei Prüfungen den Kontakt zu ihm gefunden. Der 1907 Geborene war schon früh journalistisch bei der christlichsozialen Tageszeitung „Reichspost“ tätig. Bald nach seinem Studienabschluss als Jurist 1931 arbeitete er im Amt der niederösterreichischen Landesregierung und war gegen die seit 1933 verbotene NSDAP tätig. 1935 habilitierte er sich für Kirchenrecht , emigrierte 1938 als von den Nazis Verfolgter in die Niederlande , arbeitete als Dozent und wirkte in Paris an der Ligue Autrichienne mit. 1941–47 lehrte er an der Catholic University of America in Washington D. C. und bemühte sich um eine österreichische Exilregierung. 70

Meine Lehrer und meine Lehrerin

Er gehörte zu den etwa 40. 000 Österreichern , die in die USA emigriert waren. Sie waren durch ein Dutzend Organisationen vertreten , bildeten aber keine einheitliche Gemeinschaft. Plöchl wurde Vertreter des Free Austrian Movement und wurde Mitbegründer des Free Austrian National Council. Eine österreichische Exilregierung konnte er leider nicht bilden. Wie Hans Karl Zessner Spitzenberg – Professor an der Hochschule für Bodenkultur für Rechtswissenschaft und Kämpfer gegen den Nationalsozialismus bis zum Tode im KZ Dachau 1938 – war Plöchl davon überzeugt , dass die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit Österreichs nur durch eine habsburgische Führung gewährleistet sei. 1948 wurde er Ordinarius für Kirchenrecht an der W ­ iener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät und blieb dies bis zu seiner Emeritierung 1977. Als Wissenschaftler schrieb er u. a. eine fünf bändige Geschichte des Kirchenrechts und der kirchlichen Institutionen. In der Kirchenspaltung 1054 und in der Glaubensspaltung infolge der Reformation sah er einen überwindbaren Bruch. Bis zu seinem Tod 1984 war er für die Überwindung dieser Spaltungen ökumenisch engagiert. Karl Wolff (1890–1963) Der in Peterwardein 1890 geborene Karl Wolff habilitierte sich bald nach dem Jusstudium und wurde schon 1918 als Professor an die Universität Czernowitz berufen. Dort lernte er den Begründer der Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Eugen Ehrlich näher kennen , ohne aber dessen Rechtsauffassung zu übernehmen. Der Zusammenbruch der Monarchie und das Auseinanderbrechen in ein Dutzend Nachfolgestaaten hatte für Czernowitz und seine Franz-Josephs-Universität besondere Konsequenzen : Die deutschsprachigen Professoren verloren ihre Stellungen.

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Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs

Wolff hatte das Glück , an die Universität Innsbruck berufen zu werden und schrieb in ihr „Goldenes Buch“: „Als trotz aller Demütigungen der deutsche Charakter dieser Universität nicht zu retten war , verließ ich mit den anderen deutschen Kollegen die mir lieb gewordene Hochschule und folgte einem Rufe nach Innsbruck als ,Honorardozent‘. Mit Rechtswirksamkeit vom 1. 10. 1921 wurde ich zum ordentlichen Universitätsprofessor der Rechts- und Staatswissenschaften an der Universität Innsbruck ernannt.“

Eugen Ehrlich hatte nicht dieses Glück , sondern starb ohne Hilfe einer österreichischen Universität 1922 in ­Wien im Spital der ­Wiener Kaufmannschaft. Das Haus ist jetzt ein Gebäude der Universität für Bodenkultur in der Peter-Jordan-Straße 82 im 19. ­Wiener Gemeindebezirk. Schon Anfang der 30er-Jahre wurde Wolff von national­ sozialistisch gesinnten Studenten in Innsbruck angefeindet. Der Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät , der Nationalökonom Adolf Günther , ein Nazi , notierte im Sommersemester 1938 : „Der ordentliche Professor des österreichischen zivilgerichtlichen Verfahrens Dr. Karl Wolff , wahrscheinlich Halbjude , ist verhaftet und hat ebenfalls um Beurlaubung nachgesucht. [ … ] Vom Standpunkt der Fakultät aus erschiene die Pensionierung als hinreichend , aber auch als notwendig.“ Wolff wurde auf einen minimalen „Unterhaltsbeitrag“ he­ rabgesetzt. Er überlebte die NS -Jahre in ­Wien als Nachhilfelehrer und Gehilfe in einer Anwaltskanzlei. Nach der Befreiung Österreichs 1945 durch die Alliierten wurde er zum Ordent­ lichen Universitätsprofessor für Bürgerliches Recht an der Juridischen Fakultät der Universität ­Wien ernannt und wurde 1946 Mitglied des Verfassungsgerichtshofes. Von 1958 bis 1960 war er Vizepräsident. Wolff war ein Genie. Alle Bücher , die er schrieb , sind originell und heute noch lesenswert. Sein Stil war vorbildlich. Der 72

Meine Lehrer und meine Lehrerin

„Grundriss des bürgerlichen Rechtes“ war eines der ersten rechtswissenschaftlichen Bücher , die ich erwarb. Er beherrschte schon damals das heute sogenannte „Multitas­ king“. Ich war mehrmals Zeuge , wie er mehrere Arbeiten zur gleichen Zeit erledigte : Er prüfte , schrieb , telefonierte , las einen Akt und unterschrieb einen anderen – das alles zur gleichen Zeit und ganz ruhig. Seine Fragen waren kurz und bündig , und die Prüfungen insgesamt waren es auch. Da er zu vielen Fragen eine „abweichende Meinung“ vertrat , musste man viel über seine Fragen und Thesen wissen. Oft fragte er nur Definitionen , etwa : „Was ist Recht ?“ Berühmt war seine Frage : „Was sehen Sie vom Stephansdom ?“ Die Antwort sollte lauten : „Rechtssubjekte und Rechtsobjekte , Personen und Sachen.“ Manchmal kamen auch Fragen als Gerücht wie : „Was ist eine Ziege mit einem eisernen Rücken ?“ Die Antwort : „Das gibt es nicht. Ein Jurist muss den Mut haben , zu sagen , dass es so etwas nicht gibt.“ Noch heute leben Menschen , die mit dem Prüfungsstil Wolffs Schwierigkeiten hatten und als Folgen des mehrmaligen Durchfallens nicht das Doktorat erreichten. Fritz Schwind (1913–2013) Er war ein „Herr“ und das männliche Gegenstück zur Dame Bolla-Kotek. Beide vertraten die gleichen Fächer. Der 1913 in Innsbruck Geborene entstammte einer Familie des Beamtenadels. Sein Vater war Rechtshistoriker und Rektor der Universität ­W ien gewesen. Fritz Schwind studierte Rechtswissenschaften an den Universitäten ­W ien und München und wurde 1936 promoviert. Dann arbeitete er am Bezirksgericht Hietzing und an seiner Habilitation. Sie erfolgte 1939 in Gießen. Er wurde wie viele der Karriere wegen NSDAP-Mitglied und legte 1940 das Assessorexamen ab. Nach Dienst in der Wehrmacht wurde er 1946 Richter im Landesgericht für Strafsachen ­W ien , 1948 wurde er ins Bundesministerium für Justiz übernommen. 1949 wurde er außerordentlicher Professor. 1955 wurde Schwind zum Ordentlichen Universitätsprofessor für Bürgerliches Recht 73

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und Internationales Privatrecht ernannt und zum Vorstand des von ihm initiierten Instituts für Rechtsvergleichung bestellt. In den Studienjahren 1956/57 und 1964/65 war er Dekan der Juridischen Fakultät und im unruhigen Studienjahr 1967/68 Rektor der Universität ­W ien. Als solchem gelang es ihm , die Protestaktionen der „68er“ zu befrieden. Er war Mitglied des ständigen Schiedshofes in Den Haag , Präsident des Österreichischen Juristentages und wirkliches Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Mehrere Universitäten zeichneten ihn mit der Ehrendoktorwürde aus. Er war der Doyen des Österreichischen Internationalen Privatrechts. Sein „Handbuch des Österreichischen Internationalen Privatrechts“ ( 1975 ) und das Lehrbuch „Internationales Privatrecht“ wurden Klassiker. Als Lehrer erschien er mir wie ein Sir , der seine Kenntnisse an die Interessierten , aber Unwissenden großzügig und doch mit einer gewissen Distanz verteilt. Ich schätzte seine Prüfungen im Bürgerlichen Recht , weil er in der Regel alle Gebiete dieses Bereichs mit seinen Fragen durchwanderte und so einen umfassenden Überblick erwartete und nicht ein Spezialwissen. Viele Jahre später hatte ich mit ihm in Disziplinarsachen zu tun , in denen ich als Rektor Disziplinaranwalt und er Vorsitzender der Disziplinarkommission war. Seine Großzügigkeit imponierte mir. Auch als Mediator und Vermittler agierte er als Sir. Heinrich Demelius (1893–1987) Er entstammte einer Juristen- und Politikerfamilie. Sein Vater Ernst Demelius ( 1859–1904 ) war Professor für Zivilrecht. Er habilitierte sich 1920 unter Moritz Wellspacher ( 1971–1923 ) für Bürgerliches Recht und wurde 1930 Professor. 1939 wurde er Nachfolger Joseph Hupkas ( 1875–1944 ) als Ordinarius für Handels- und Wechselrecht. Wegen seiner Mitgliedschaft in der NSDAP wurde er 1945 des Dienstes enthoben , Ende 1948 aber wieder eingestellt. 74

Meine Lehrer und meine Lehrerin

Als Lehrer brachte er uns das Handelsrecht durch seine Beispielsperson „Peter Zapfl“ leicht nahe. Kaufmann und Handelsgeschäft standen im Mittelpunkt. Als Prüfer war er manchen ein Problem , insbesondere wenn er beim Prüfen einschlief. Da durfte man mit dem Reden nicht aufhören , bis er wieder erwachte , auch wenn man das Gleiche mehrmals wiederholt hatte. Neben seiner eigentlichen wissenschaftlichen Tätigkeit war er auch als Historiker tätig , wobei vor allem die Geschichte der Stadt ­Wien und ihrer Umgebung sein Forschungsobjekt war. Mehr als andere Professoren war er ein Förderer des wissenschaftlichen Nachwuchses. Die späteren Professoren Walter Selb und Werner Ogris gehörten zu den Geförderten. 1952/53 und 1961/62 war er Dekan , 1962 wurde er ordentliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Hans Schima (1894–1979) Nach Absolvierung der rechts- und staatswissenschaftlichen Studien an der Universität W ­ ien trat Schima in den Dienst der Finanzprokuratur , von wo er in das Finanzministerium übernommen wurde. Über Anregung seines Lehrers Hans Sperl habilitierte er sich 1928 für zivilgerichtliches Verfahren. Im Finanzdienst wurde er Sektionsrat und wurde später Mitglied des Verwaltungsgerichtshofes. Während des Nationalsozialismus pensioniert und von seiner Lehrverpflichtung enthoben , wurde Schima 1945 zum ordentlichen Professor für Zivilprozessrecht ernannt. Er publizierte zahlreiche Arbeiten zur Theorie und Praxis des Verfahrensrechtes. Schima fragte mich über formelles und materielles Recht. Ich stellte nicht den Gegensatz heraus , sondern betonte den Zusammenhang. Das formelle Recht regle das von den Behörden einzuhaltende Verfahren , das materielle Recht die dabei maßgebenden Erkenntnisnormen. Das genügte ihm. Er hatte als Rek-

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tor ( 1956/57 ) und Prorektor wenig Zeit und war auch sonst stets in Eile. Sein von seinem Lehrer Hans Sperl übernommene Sager „Jeder Prozess ist ein soziales Übel“ hat mich beeindruckt. Er erinnerte mich an den W ­ iener Spruch , dessen Herkunft ich bis heute nicht eruieren konnte : „Wir werd’n kan Richter brauch’n ! “ Aber „der Kampf ums Recht“ ( Rudolf von Ihering , 1872 ) zieht sich wie ein roter Faden durch die Weltgeschichte. Iherings Motto war : „Im Kampfe sollst du Dein Recht finden ! Jedes Menschenrecht ist erstritten worden und jeder Mensch ist ein geborener Kämpfer ums Recht.“ Und es ist eine moralische Pflicht , um sein Recht und um das Recht seiner Mitmenschen zu kämpfen und zwar friedlich und wenn möglich ohne Gewalt. Zu dieser Rechtsgesinnung aber muss man erzogen werden. Sind wir dazu erzogen worden ? Roland Graßberger (1905–1991) Der in ­Wien geborene Graßberger studierte hier Rechtswissenschaften. 1931 habilitierte er sich für Strafrecht und Kriminologie über die „Brandlegungskriminalität“, die sein Hauptarbeitsgebiet geworden war. Dann folgten Auslandsaufenthalte. 1946 wurde er zum außerordentlichen , 1948 zum ordentlichen Professor und Vorstand des Instituts für Kriminologie ernannt. Er war der Spitzenexperte auf dem Gebiet der Brandursachen­ ermittlung. Prominent waren auch seine kriminalistischen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Suchtmittelbekämpfung , der Urkunden- und Schriftuntersuchung , der Einbruchstechnik und Jugendkriminalität. Zwei Mal war er Dekan der Juridischen Fakultät , 1962 wurde er zum Rektor gewählt. Ich lernte ihn in den späten 50er-Jahren als einen der angenehmsten Prüfer der Fakultät kennen. Die erste Frage betraf im Strafrecht die verschiedenen Formen der Täterschaft , wobei ich noch die Nebentäterschaft zu erklären versuchte und auf die ku76

Meine Lehrer und meine Lehrerin

mulative und alternative Kausalität einging. Die Begriffe merkte ich mir , den Inhalt nicht mehr. Dann fragte er Voraussetzungen unseres Rechtssystems. Ich nannte den freien Willen. „Kann man die Willensfreiheit denn nachweisen ? “, fragte er weiter. Ich antwortete : „Ich glaube , dass man sie nicht nachweisen kann , aber ich glaube trotzdem , dass sie existiert.“ Schließlich stellte er mir eine Frage nach dem Strafvollzug. Mit meiner Antwort , dass auf diesem Gebiet der Rechtsstaat sich erst durchsetzen müsste , war er sofort zufrieden und entließ mich. Adolf Julius Merkl (1890–1970) Adolf Julius Merkl war nach dem Tode Karl Wolffs das letzte Genie aus der Monarchie an der ­Wiener Juristenfakultät. Sein Curriculum Vitae aus seinem Habilitationsakt soll hier mit seinen Worten wiedergegeben werden : „Ich wurde am 23. März 1890 in W ­ ien geboren , begann im Jahre 1900 meine Gymnasialstudien am Staatsgymnasium in W ­ ien VIII und beendete sie am Staatsgymnasium in Wr.-Neustadt im Juli 1908 durch die mit ausgezeichnetem Erfolg abgelegte Maturitätsprüfung ( Beil. A ); sodann frequentierte ich in den Jahren 1908 bis 1912 die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät der Universität ­Wien , legte in dieser Zeit die drei Staatsprüfungen mit gutem Erfolg ab ( Beil. B–D ) und wurde am 31. Mai 1913 an der Universität in ­Wien zum Doktor der Rechte promoviert. ( Beil. E ). Mittlerweile war ich am 1. Februar 1913 beim Landesgericht in W ­ ien in den richterlichen Vorbereitungsdienst eingetreten , fand in der Folge bei einer Reihe von ­Wiener Gerichten in allen Zweigen der Justiz Verwendung , wurde im Dezember 1914 zum Auskultanten ernannt , resignierte jedoch im Jänner 1915 , um in den Dienst der Stadt ­Wien überzutreten. Daselbst stand ich im Wirkungskreise der politischen Behörde I. Instanz beim magistratischen Bezirksamt für den I. Bezirk in ­Wien in Ver77

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wendung und erwarb mir die Befähigung für den Dienst in der politischen Verwaltung , indem ich im Juli 1916 bei der n.ö. Statt­ halterei mit sehr gutem Erfolge die praktisch-politische Staats­ prüfung ablegte ( Beil. F. ). Im März 1917 wurde ich als Magistratskonzipist zur probeweisen Dienstleistung in das Handelsministerium einberufen , im Dezember 1917 zum Ministerialkonzipisten im Ministerium für soziale Fürsorge ernannt und im Mai 1918 in derselben Eigenschaft in das k. k . Ministerratspräsidium versetzt , wo ich dem staatsrechtlichen Department zugeteilt wurde. Nach der staatlichen Umwälzung wurde ich in der d. ö. Staatskanzlei übernommen und im Juni 1919 daselbst zum Ministerialsekretär ernannt. Seit Aufnahme in die Staatskanzlei bis heute stehe ich in deren legislativem Dienst ( A bteilung für Verfassungs-Gesetzgebung ) in Verwendung. Nach Abschluss des obligatorischen Studienganges habe ich – allerdings , wie sich aus der vorstehenden Schilderung meines beruflichen Werdegangs ergibt , ausschließlich an der ­Wiener Universität – die Studien auf dem Gebiete der Staatslehre und des Staatsrechtes , der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechtes fortgesetzt , die einschlägigen Seminarien der Herren Professoren Bernatzik , Laun und Kelsen besucht und in Fachzeitschriften eine Reihe von Abhandlungen , Artikeln und Rezensionen veröffentlicht , von denen ich in der Anlage ( G ) 35 Proben samt einem abgesonderten Verzeichnisse anschliesse.“

Merkls Habilitationsschrift „Die Verfassung der Republik Deutsch­ österreichs , ein kritisch-systematischer Grundriß“, 1919 , wur­de ein Klassiker wie fast alle seine Arbeiten. 1920 wurde er zum außerordentlichen Professor der Rechtsund Staatswissenschaften ernannt , 1932 zum Ordentlichen Professor. Merkl erkannte wie niemand vor ihm die Rechtsordnung als „genetisches System von Rechtserscheinungen“, wobei er vom

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Meine Lehrer und meine Lehrerin

positiven Recht mit seiner Vielzahl von Rechtserscheinungen ausging , die normativ zusammenhängen. Die Frage , wodurch sich ein Akt , der mit dem Anspruch e­ ines Staatsaktes auftritt und im Besonderen eine Norm , die als Rechtsnorm Geltung beansprucht , sich als einer bestimmten Rechts- und Staatsordnung zugehörig erweist und welchen systematischen Ort der fragliche Staats- oder Rechtsakt im System der Staatsakte oder Rechtssätze einnimmt , beantwortet sich daher danach , welchen Bedingungen der Setzung von Rechtsund Staatsakten er entspricht. Merkls Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung habe ich , Antoniolli folgend , selbst als Lehrer immer wieder Studierenden vereinfacht nahegebracht : Oberste Grundlage der Rechtsordnung ist die Verfassung. Aufgrund der Verfassung und von ihr abgeleitet ergehen Gesetze , auch Staatsverträge , die wieder durch Verordnungen näher präzisiert werden können. Aufgrund dieses generell-abstrakten Rechtsmaterials ergehen individuell-konkrete Rechtsakte wie Urteile der Gerichte , Bescheide der Verwaltungsbehörden und Rechtsgeschäfte der Bürger unter sich. Aufgrund dieser individuellen Rechtsakte ergehen weitere Rechtskonkretisierungen bis schließlich in den Vollstreckungen und Exekutionen der Übergang vom Sollen in das Sein erfolgt. Dazwischen hat jeder Rechtsakt sowohl rechterzeugende als auch rechtvollziehende Elemente und das jeweilige Staatsund Rechtsorgan ist als Rechtsanwender und Rechtserzeuger , als „legis actor“ und „legis executor“ tätig. Die Lehre vom doppelten Rechtsantlitz , von der Janusköpfigkeit jedes Rechtsaktes und vom Stufenbau sind die wichtigsten Beiträge Merkls und der W ­ iener Schule des Rechtspositivismus zur Rechtstheorie des 20. Jahrhunderts. Zum Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit kommt der Stufenbau nach der derogatorischen Kraft. Danach ist ­eine Rechtsnorm dann im Verhältnis zur anderen als höhergradig einzustufen , wenn sie in der Lage ist , die andere , durch eine andere Rechtsform charakterisierte Rechtsnorm aufzuheben. So 79

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dargestellt , handelt es sich um idealtypische Stufenbauordnungen. Jede konkrete Rechtsordnung ist deshalb aus sich heraus und durch sich zu verstehen. Merkl war in den 50er-Jahren schon alt , ermüdete leicht und schlief manchmal sogar in Vorlesungen ein. Da riefen Studenten „Freiheit , Herr Professor ! “ und sofort wurde er wach und aktiv , zitierte Schillers Werke , vor allem Don Karlos und Wilhelm Tell , kam zu Wilhelm von Humboldts „Ideen zu einem Versuch , die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ und zu Schillers Essay „Die Gesetzgebung des Lykurg und des Solon“. Manchmal landeten seine Gedanken bei Robert Hamerlings Roman „Aspasia“. Er war faszinierend und seine Fragen waren es auch. So fragte er „War Altösterreich ein Völkerkerker ?“ Das musste man schon im Hinblick auf Art. 19 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger 1867 verneinen. Dort heißt es : „Alle Volksstämme sind gleichberechtigt und jeder Volksstamm hat ein gleiches Recht auf Wahrung seiner Nationalität und Sprache.“ Die Realität sah zwar etwas anders aus , aber das alte Österreich hatte keine Staatssprache wie jetzt die Republik Österreich. Eine weitere Frage war : „Wieso ist Österreich ein Kulturstaat ? “ Reinhold Schneider hat eine schöne Antwort : „Die Nationalbibliothek ist , wie das Theater Josephs II., als Universum der Bühne , in die Burg eingebaut als Bauwerk universalen Geistes , dessen Wesen die vier Globen machtvoll verkünden. Hier wird das Buch selbst zum Element der Architektur ; es baut mit , ist Träger und Inhalt der prachtvoll gegliederten ins Hohe und Weite schwingenden unter der Kuppel zusammengefassten Räume. Das Welttheater und das Weltgebäude des Geistes , die Architektur der Gedanken , Erkenntnisse , der vereinten Sprachen in der Mitte der familiären Macht des Kaiserhauses , inmitten der Festlichkeit der Burg , benachbart dem Kloster und der Gruft : Wo hat sich geschichtliche Bestimmung in solcher Fülle der Totalität manifestiert ? “

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Meine Lehrer und meine Lehrerin

Mir imponierte Merkl auch durch seine große Liebe zur Natur , die sich ähnlich wie bei meinem Vater in den alliterierenden Worten ausdrückte : „Berge , Bäume , Büsche , Blumen , Bäche , Bücher“. Bei meinem Vater waren es nicht Bücher , sondern Bauern gewesen. Merkl lebte in einer Heurigengegend , nämlich am Pfarrplatz in Heiligenstadt. Dort sah er von Zeit zu Zeit , wie er sagte , den „Souverän in der Gosse“, Betrunkene , die dort lagen. Erschütternd für ihn war auch , als er auf einer Alm um etwas zum Trinken bat , und einen Becher Bier bekam – anstatt der Milch , die er erwartet hatte. Er war strenger Antialkoholiker und hielt Reden gegen den Alkohol. Eine seiner öffentlichen Reden , „Wollt ihr Ahnen oder Erben sein ?“, besuchte ich. Da warnte er uns Jungen eindringlich vor dem Alkoholkonsum. Es war klar , dass er auch nicht rauchte. Eine seiner Fragen , die den Studierenden Probleme bereiteten , war : „Nennen Sie mir die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder im Uhrzeigersinn.“ Eine andere : „Wer war der bekannteste Staatenlose des 20. Jahrhunderts ? “ Die Antwort lautete „Adolf Hitler“, der erst durch die Übernahme eines Amtes in Braunschweig als Regierungsrat die deutsche Staatsbürgerschaft erlangte. Merkl umschrieb manchmal den Nationalsozialismus als „Sammelsurium von Idiotrien“, aber als Student durfte man auf die Frage „Was ist Nationalsozialismus ?“ nicht mit dieser Formel antworten. Er fragte auch Fragen aus der schönen Literatur , so etwa aus Schiller-Dramen und auch : „Wieso habe ich das Recht , solche Fragen zu stellen ? “ Antwort : Gemäß § 1 des Hochschul­ organisationsgesetzes 1955 dienen die wissenschaftlichen Hochschulen u. a. „der Vermittlung einer höheren Allgemeinbildung“. Das war die gesetzliche Grundlage. Aber die Allgemeinbildung fehlt mehr als zu Merkls Zeiten. Oder ist sie anders geworden ? Sein Seminar über „Freiheit und Gerechtigkeit“ habe ich nicht besucht. Aber das Thema wirkte in mir fort und ich selbst veranstaltete darüber Seminare. Seinen Sager „Die Forschung ist der Lehre logisch und genetisch vorgeordnet“ habe ich übernommen. 81

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Kelsen nannte Merkl „ein wahres Genie“. Seine Stufenbautheorie konnte ich schon als Student Kolleginnen und Kollegen gut vermitteln. Seine Rechtserkenntnis ist genialer Ausdruck der zu Ende gehenden Monarchie. Sein Sager „Recht ist kristallisierte Politik“, einmal gehört , blieb mir bis heute im Gedächtnis. Und ist die Politik nicht dem Recht logisch und genetisch vor- und nachgeordnet ? Daher ist Rechtspolitologie so wichtig. Walter Antoniolli (1907–2006) Walter Antoniolli war unser beliebtester akademischer Lehrer. Geboren in Mistelbach , Niederösterreich , war er als Student Leibfuchs Leopold Figls in der CV-Verbindung Norica und wurde als jüngster Jurist in der Kommunalverwaltung in Niederösterreich tätig. Er arbeitete in verschiedenen Verwaltungsbereichen und war immer im Dienst für den Bürger tätig. Er war auch Lehrer für Gemeindebeamte und Krankenschwestern. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er Präsidialsekretär am Verfassungsgerichtshof in ­Wien. Bei Ludwig Adamovich sen. habilitierte er sich für Allgemeines und Österreichisches Verwaltungsrecht. Dann wurde er Professor für Verwaltungsrecht , Verfassungsrecht und Allgemeine Staatslehre an der Juridischen Fakultät der Universität Innsbruck. Auf Basis seiner Lehrveranstaltungen erarbeitete er das Lehrbuch zum Allgemeinen Verwaltungsrecht. Er war ein begnadeter Lehrer. Sein fallbezogenes , grundsätzliches Rechtsdenken gründete auf seiner Erfahrung und Bildung. Er legte Wert auf anständiges Sprechen und Schreiben. Er selbst hatte einen besonderen Umgang mit dem Wort. Seine Sprache war so klar und einfach , wie ich es selten bei Juristen erlebt habe. 1951 wurde er Mitglied des Verfassungsgerichtshofes und 1956 als Nachfolger von Ludwig Adamovich sen. zum Ordinarius für Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Universität ­Wien bestellt. 1958 wurde er Präsident des Verfassungsgerichtshofes.

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Meine Lehrer und meine Lehrerin

Seine Sager „Die Theorie muss geeignet sein , dem Recht zu dienen“ und „Das Recht hat dem Leben zu dienen“ sowie „Gesetzestreue ist die erste Tugend des Verwaltungsjuristen“ wurden auch meine. Sein Schüler Günther Winkler hat es schön formuliert : „Mit seinem empirisch-kritisch erarbeiteten Lehrbuch zum Allgemeinen Verwaltungsrecht und durch seine von theoretischer Bildung und praktischer Erfahrung durchdrungene Denkweise entfaltete Antoniolli eine pädagogische Wirkkraft , die nur selten einmal einem akademischen Lehrer der Wissenschaften vom Recht beschieden ist. Für seine Studenten war Antoniolli ein unvergesslicher Lehrer , für seine wissenschaftlichen Schüler gilt Antoniolli noch immer als ein unerreichter Lehrer in der kritischen und selbstkritischen Synthese von Theorie und Praxis und in der Vermittlung eines verantwortungsbewussten , vernünftigen und sachgerechten wissenschaftlichen Rechtsdenkens im Dienst am Recht.“ Sein Buch „Allgemeines Verwaltungsrecht“ ( 1954 ) habe ich selbst immer wieder als Lehrer mit großem Erfolg verwendet. Meine Mutter fand es besonders gut , weil es „so“ verständlich ist. Antoniolli vermittelte mir die Liebe zur Verwaltung im Kleinen und die Hochschätzung der Gemeinden in ihrer Bedeutung für unsere Republik. Sein Sager „Auch der Bürgermeister regiert“, wurde für mich geradezu ein Forschungsprogramm. „Österreich ist eine Bürgermeisterei“ wurde einer meiner Sager. Ich erinnere mich , wie er uns mehrmals vor verschiedenen Gefahren warnte , insbesondere vor dem Autofahren in nicht fahrtüchtigem Zustand ; er hatte bei einem Autounfall zwei Söhne verloren. August Maria Knoll sprach ihm sein Beileid aus und setzte hinzu : „Denken Sie an Hiob ! “ Er motivierte uns , nach dem Studium und einer erreichten Berufsstellung einer Partei beizutreten und mitzuarbeiten. Ich bin seinen Worten 1961 gefolgt und trat der ÖVP ( Österreichischer Arbeiter- und Angestelltenbund ) bei. Als ich 1962 Antoniollis Mitarbeiter im Verfassungsgerichtshof wurde , war es für 83

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mich das größte Lob , wenn er zu mir sagte : „Welan , wenn ich deinen breiten Buckel sehe , bin ich beruhigt.“ Außerdem lobte er mich als „Querulantenreferent“ im Verfassungsgerichtshof und unterstützte – einige Zeit später – meine Berufung zum Professor für Rechtswissenschaften an die Universität für Bodenkultur , ohne dass ich es gewusst habe. Antoniolli trat kurz vor dem Erreichen der Altersgrenze ( 70 Jahre ) als Präsident des Verfassungsgerichtshofes zurück , da er die durch die damalige Mehrheit von SPÖ -nahen Mitgliedern des Gerichtshofes beabsichtigte positive Entscheidung zum Universitätsorganisationsgesetz 1975 , das er wie der Verwaltungsgerichtshof als dem Grundrecht der „Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre“ widersprechend und daher als verfassungswidrig ansah , nicht mittragen wollte. Dieser Rücktritt war einmalig in unserer Republik , die keine Rücktrittskultur kennt , aber er bewirkte kein großes Aufsehen. Günther Winkler (geb. 1929) In Baldramsdorf in der Nähe von Spittal an der Drau in Kärnten geboren , studierte er 1947–1951 an der Universität Innsbruck Rechts- und Staatswissenschaften. Schon vor der Promotion arbeitete er als wissenschaftliche Hilfskraft , dann als Assistent bei Antoniolli an der Universität Innsbruck. 1955 erwarb er die Lehrbefugnis. Von 1956 bis 1959 war er Assistent bei Antoniolli an der Universität ­Wien , ab 1959 außerordentlicher , von 1961 bis zu seiner Emeritierung 1997 ordentlicher Professor an der Juridischen Fakultät der Universität W ­ ien. Als er jung und strahlend als Dozent vor uns hintrat , waren wir hingerissen. Er strahlte Begeisterung für das Recht , für Rechtsstaat und Staatsrecht aus und diese übertrug er auf uns. Da war Eros , da war Ethos. Ob sieben Leute in der Vorlesung waren oder Hunderte , war ihm gleich. Er war total im Einsatz. Aufgrund seiner kritischen Äußerungen zur österreichischen Politik lud ich ihn als Senior meiner Verbindung im Rahmen 84

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meines „Österreich-Programmes“ zu einem Referat „Parteienstaat , Kammernstaat“ ein. Es wurde mehrfach publiziert. Seine Kritik der großen Koalition von ÖVP und SPÖ , die zu einer blockierten Regierung führte , ist aktuell geblieben. Die früheren Großparteien sind freilich längst Mittelparteien geworden. Aber vieles an Folgen ist gleich geblieben. In der von der ÖVP in den 60er-Jahren initiierten „Aktion 20“ war er eines der sechs Gründungsmitglieder. Die anderen waren Karl Fellinger für Gesundheit , Franz Karasek für Außenpolitik , Stefan Koren für Wirtschaft und Finanzen , Leopold Rosenmayr für Gesellschaft und Hans Tuppy für Bildung und Wissenschaft. Sie erarbeiteten vor allem für die Regierung Klaus Analysen und Programme. Winklers Vorlesung „Staatslehre als Staatsrechtslehre“ machte mich zum Kelsenianer. Er war die junge Stimme der Fakultät und konnte mir Kelsen erklären und näherbringen wie sonst niemand. Seine Arbeiten „Der Bescheid“ und „Die absolute Nichtigkeit von Verwaltungsakten“ wurden für mich Vorbilder beim eigenen Schreiben. Viele Juristen wurden durch Winkler gefördert. Ich verdanke ihm meine Anstellung im Verfassungsgerichtshof , die mir wie keine andere Position den Zusammenhang von Politik und Recht im Großen und im Kleinen offenbarte. Ich hatte auch die Auszeichnung , in Winklers Kelsen-Seminar eingeladen zu werden und hier zu erleben , wie er sich sukzessive von Kelsen befreite und seine eigene , besondere Rechtsauffassung entwickelte. Dieses Kelsen-Seminar führte zu Diskussionen , wie ich sie während des ganzen Studiums nicht erlebt hatte. Da war Universität pur , aber ohne Purismus. Winklers konsequente Kritik an der formalen Rechtsbetrachtung Hans Kelsens und seine inhaltsbezogene Rechtsbetrachtung haben mich freilich nicht so überzeugt , wie er es erwartet hatte. Seine Arbeit über „die Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen“ nahm ich später in meine Vorlesungen über „allgemeine Rechtslehre“ an der Universität für Bodenkultur auf , aber für das Erfassen des Rechts in 85

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seiner Komplexität war mir die Wirklichkeit des Rechts zu wenig berücksichtigt. Für mich wurde der Kontext im Verhältnis zum Text immer wichtiger. Winkler wurde für mich ein besonderes Vorbild in der Übernahme vieler universitärer Funktionen , von denen hier nur sein Rektorat und sein Vorsitz in der Österreichischen Rektorenkonferenz ( 1972/1973 ) hervorgehoben werden sollen. Wie wenige war Günther Winkler Professor „Bekenner“. So war er ein Verteidiger der Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre und ein Verteidiger des Rechtsstaates mit einer Leidenschaft , die in Österreich selten ist. Er war fortschrittlich , aber er war nie links und tendierte auch nicht dazu , im Gegenteil. Als wir ihn Anfang der 70er-Jahre ersuchten , für die Politikwissenschaft in Österreich einzutreten , stellte er die Bedingung , dass sie eine „ancilla iurisprudentiae“ sein müsse , ähnlich wie die Philosophie eine „ancilla theolo­giae“ im Mittelalter war. Vor allem zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses gründete Winkler 1963 die im Springer Verlag seit dem Jahr 1967 erscheinenden „Forschungen aus Staat und Recht“. Bis zum 140. Band war er ihr Herausgeber. Hier war er Vorbild für die im Böhlau Verlag von Christian Brünner , Wolfgang Mantl und mir seit 1982 herausgegebenen „Studien zu Politik und Verwaltung“. Sein berühmtester Schüler wurde sein Assistent Jörg Haider , der FPÖ - und spätere BZÖ -Führer , Klubobmann und Landeshauptmann. Ich sah es wie eine Abwandlung des Verhältnisses von Sokrates und Alkibiades. Als Baubeauftragtem der Universität ­Wien gelang es Winkler , einen Baugrund in der Innenstadt ( Schottenbastei 10 bis 16 ) für die Juristische Fakultät zu sichern. Zusammen mit dem Rektorkollegen und Architekten Ernst Hiesmayer von der TU ­Wien wurde unter seiner Bauherrschaft ein origineller „Juristenturm“ geschaffen , dem eine „Brückenkonstruktion“ zugrunde liegt. Der originelle postmoderne Bau ist einmalig. Zum ersten Mal ist die Juristische Fakultät „licht“ geworden. 1984 , also nach 100 Jah86

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ren , konnte die Fakultät vom Haus am Ring in das neue Juridicum übersiedeln. Winkler verlangte allerdings mit Recht schon damals eine Planung für die weitere Entwicklung der Fakultät. In der Pflege internationaler Beziehungen ist Winkler unerreicht. Die Pflege und Förderung der Beziehungen zwischen der Republik China ( Taiwan ) und Österreich sowie sein Interesse für chinesische und koreanische Kultur waren einmalig. Er hat die Bedeutung Asiens für Europa schon in einer Zeit erfasst , als Europa noch nicht einmal mit sich selbst beschäftigt war. Alexander Mahr (1896–1972) Er war Philologe , Philosoph und Ökonom und hatte alle diese Wissenschaften in Studien absolviert. Der berühmte Friedrich von Wieser hatte ihn zur Nationalökonomie gebracht. Wie Friedrich August von Hayek wurde er an der Universität ­Wien zum Dr. rer. pol. promoviert ( 1925 ). Mehrere Auslandsstudien vermittelten ihm internationale Bildung. 1930 habilitierte er sich an der Universität W ­ ien mit „Untersuchungen zur Zinstheorie“ ( Jena 1929 ). Darin setzte er sich mit Böhm-Bawerks klassischer Schrift „Kapital und Kapitalzins“ auseinander. 1930 bis 1938 war er Universitätsassistent Hans Mayers ( 1878–1955 ), des Lehrstuhlnachfolgers Carl Mengers und Friedrich von Wiesers. 1936 wurde er tit. ao. Univ.-Prof. Seiner Einstellung nach war er sowohl Gegner der Austrodiktatur 1933–1938 als auch der Hitlerdiktatur und des Nationalsozialismus. Er war auch kein Marxist. 1938–1950 war er im Österreichischen Statistischen Zen­t ral­ amt tätig. 1955 folgte er seinem Lehrer Hans Mayer als Ordinarius für Politische Ökonomie auf den Lehrstuhl Mengers und Wiesers. In den frühen 50er-Jahren war er Forscher in Cambridge und Massachusetts. 1956 wurde er Vorsitzender der National­ökonomischen Gesellschaft in ­Wien und Vizepräsident des Öster­reichischen Instituts für Wirtschaftsforschung. Jahrelang war er Herausgeber nationalökonomischer Zeitschriften. 87

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1963 wurde er wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Wie Merkl der letzte klassische Vertreter der ­Wiener Schule des Rechtspositivismus , war Mahr der letzte klassische Vertreter der ­Wiener Schule ( „ Austrians“ ) der Nationalökonomie an der ­Wiener Universität. Sein Lehrbuch „Volkswirtschaftslehre“ ( 1959 ) war für mich Offenbarung und Aufklärung. Diese damals einzige Gesamtdarstellung der ökonomischen Theorie aus „österreichischer Sicht“ war klar und verständlich , anregend zum Weiterdenken. Solch ein Buch ersparte einem den Besuch von Vorlesungen und Kursen. Als Prüfer war Mahr die Ruhe selbst und die Prüfung war ein angenehmes Gespräch. Sein Buch „Der unbewältigte Wohlstand“ ( 1964 ) weist ihn als Humanisten aus und er gehört für mich zu den von mir so genannten Austrohumanisten. René Marcic (1919–1971) Ich lernte René Marcic gegen Ende meines Studiums in seiner Vorlesung „Ideen- und Institutionengeschichte des demokratischen Rechtsstaates“ kennen. Er hatte sich hier 1959 für Rechtsphilosophie und Allgemeine Staatslehre mit seinem Opus magnum „Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat“ habilitiert. Die Vorlesung war eine Abendvorlesung und nur von wenigen besucht. Aber Marcic sprach zu uns , wie wenn wir viele gewesen wären. Er war ein großartiger Rhetoriker und imponierte mir vor allem deshalb , weil er die abendländische Rechts- und Staatsphilosophie bis in die neueste Zeit wiedergeben konnte , und zwar auch in griechischer und lateinischer Sprache. Er war gleichzeitig Chefredakteur der „Salzburger Nachrichten“ und ein kommunikativer Lehrer. Man konnte ihn auch in der Vorlesung ansprechen , die Unterbrechung machte ihm nichts aus , er ging auf die Fragen ein , und setzte seinen meisterhaften Vortrag so fort , als wäre er nicht unterbrochen worden. Er war universell gebildet und in Philosophie und Literatur so be88

Meine Lehrer und meine Lehrerin

wandert wie kein anderer Professor. Ich konnte ihn mit meinen jugendlichen Ideen zu Spengler , Toynbee , Solowjew , Sorokin , Hans Sedlmayr und Ortega y Gasset ansprechen. Regelmäßig lud er mich ins Hotel Regina ein und da ging das Gespräch beim Nachtmahl weiter. Auf dem Weg zum Westbahnhof – er ging fast immer zu Fuß – plauderten wir weiter über Augustinus und Thomas von Aquin , Alfred Polgar und Egon Friedell , Karl Marx und Otto Bauer , Karl Kraus und Peter Altenberg , Carlo Schmid und Carl Schmitt , Ernst Jünger , Thomas und Heinrich Mann. Manchmal las man einen oder zwei Tage später den Inhalt solcher Gespräche als Leitartikel , wobei ich manchmal als „ein junger Freund“ fungierte. Mit niemandem sonst konnte ich mich über Peter Wust und Ferdinand Ebner unterhalten. Aber trotz seines Zuspruchs fand ich keinen Zugang zu Heidegger. Marcic ermunterte mich , in Zeitungen zu publizieren. Einige Zeit nach dieser Ermunterung erschien mein Aufsatz „Nation Österreich“ als Leitartikel in den „Salzburger Nachrichten“. Jahrelang publizierte ich im „Staatsbürger“, der Beilage zu dieser Zeitung. Marcic war der einzige „Seinsrechtslehrer“, den ich persönlich kennenlernte. Er lehrte uns seine „seinsgerichtete Rechtslehre“: Der Mensch kann den normativen Ausfluss der Seinsordnung erkennen. Aus dem Sein leiten sich mit Evidenz Menschenwürde und Menschenrecht ab. Demokratie und Menschenrechte waren für ihn an der Wurzel eins. Sein Stil war manchmal blumig , sein Pathos burgtheaterreif. Da goss ich manchmal einen Schuss Nestroy dazu. „Jede Zeit hat ihre Hühneraugen ! “, rief er einmal , und ich setzte laut fort : „… und ihr Hühneraugenpflaster ! “ Marcic stellte dem modernen Staat die Diagnose , dass er durch die Masse und Mängel seiner Vorschriften im Zuge seiner wachsenden Aufgaben „vom Gesetzesstaat zum Richterstaat“ werde ; so der Titel seines 1957 erschienenen Opus magnum , das sein bekanntestes Werk , ja zum Schlagwort wurde. Die Entwicklung , auch die internationale und supranationale , bestätigte seine Diagnose : Die Konkretisierung des generellen 89

Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs

Rechts durch Behörden , Ämter und Private , vor allem Unternehmen , wird immer „politischer“ und „wichtiger“. Die Gesetzgebung wird entpolitisiert , die Vollziehung politisiert. Marcic verstand unter Richterstaat auch das Baugesetz einer Verfassung , wonach am Ende eines jeden Rechtserzeugungsprozesses der unabhängige Richter das letzte Wort hat. Mit dieser Unabhängigkeit steht und fällt unsere Freiheit. Aber die Richter geraten immer mehr unter Druck , wenn sie anstelle der Politik entscheiden müssen. Dass jeder Richter „politisch“ tätig ist , ergibt sich schon aus der Struktur des Rechts , das nur wenig wirklich vorherbestimmen kann. Im Übrigen entsteht immer mehr Recht ohne Staat durch globale Rechtspersonen und Verträge. Marcic war ein Konservativer und gleichzeitig ein radikaler Demokrat , der für Demokratiereform und Demokratisierung , für Teilhabe und Teilnahme aller an der Rechtszeugung eintrat. Diesbezüglich habe ich vieles von ihm übernommen. Es geht aber auch immer mehr um anderes , vor allem um Information und Kommunikation. Demokratie war für ihn der „Baustil des Wandels“. Er predigte uns den Imperativ : „Du sollst über deinen Nächsten nicht herrschen ! “ Ebenso wie Antoniolli ermunterte er mich , in einer Partei mitzuarbeiten : „Die Parteiendemokratie braucht Sie ! “ Er verteidigte die Koalitionsdemokratie , in der er die Überwindung der Vergangenheit und den österreichischen Weg für die Gegenwartsdemokratie , ja für den Weltfrieden sah. Das war im Kalten Krieg durchaus aktuell. Heute ist das globale Gespräch ein Weg , der plurale Polylog. Marcic sprach mich als „Publizisten“ an. Er meinte damit nicht den „Publizisten“ als Vertreter des Öffentlichen Rechts im Gegensatz zum „Zivilisten“, dem Vertreter des Privatrechts , sondern einen besonders gebildeten und qualifizierten Journalisten , wie er es selber war. Für ihn waren die Medien die „vierte Gewalt“ und die hohe Verantwortung der Journalisten für die öffentliche Meinung und Öffentlichkeit ergab sich nicht zuletzt aus dieser Funktion und Partizipation in der „res publica“. 90

Meine Lehrer und meine Lehrerin

Winkler und Marcic waren Gegensätze und doch meine Lieblingslehrer. Von beiden erfuhr ich viel Wohlwollen und manche Förderung. Das habe ich wie einen goldenen Ball übernommen und weitergegeben. Durch Knoll wäre ich fast Soziologe geworden , durch Marcic bin ich als Jurist auch Politologe geworden. Einige Jahre später verstand ich mich schon als Vertreter der politischen Rechtslehre und Juristenpolitologie. Für mich waren und wären die Universitäten die „fünfte Gewalt“. Bis heute sind sie es nicht geworden. Resümee Ich habe nicht alle Professoren der Juridischen Fakultät der Jahre 1955 bis 1960 dargestellt , sondern die ausgewählt , die mich prüften oder für mich persönlich wichtig waren. Meine Lieblingslehrer Antoniolli , Knoll , Winkler und Marcic habe ich ausführlich dargestellt. Fast alle unserer Professoren waren in der Monarchie geboren und geformt worden. Sie hatten ein halbes Dutzend Regime erlebt. Aber nur wenige setzten sich mit der aktuellen Politik konkret auseinander. Niemand sprach von der Shoa , außer in abstrakten Begriffen. Ich zumindest habe es nie gehört. Die größten Rechts- und Verfassungsbrüche von der Monarchie bis in die Zweite Republik wurden nicht ausführlich reflektiert und das Hineinschlittern in die Diktaturen auch nicht. Über das Widerstandsrecht sprachen Merkl und Marcic , aber es war nicht Teil der allgemeinen Rechtslehre. Heute gehören Zivilcourage und Widerstandsrecht zur Allgemeinbildung. Im Gegensatz zu unseren Gymnasiallehrern erzählten die Professoren nichts Konkretes von den Weltkriegen und wenig von den Umbrüchen , die sie erlebt hatten. Bemerkenswert ist , dass außer Merkl niemand eine bewusst liberale Einstellung gegenüber Recht und Staat einnahm. Merkl lehrte uns , „Liberales“ im Verfassungsrecht zu erkennen und etwa Artikel 18 Absatz 1 B-VG – die gesamte staatliche Verwaltung darf nur aufgrund der 91

Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs

Gesetze ausgeübt werden – als primär liberal und sekundär demokratisch zu verstehen. Über den Rechtsstaat österreichischer Prägung hörten wir viel – Verfassungsstaat , Gesetzesstaat und die entsprechenden richterlichen Garantien , aber zu wenig über den Rechtsstaat als Grundrechtsstaat und Menschenrechtsstaat. Angezogen waren die Professoren konservativ , immer korrekt in Anzug mit Krawatte , nicht besonders elegant , eher bescheiden , aber im Allgemeinen nicht in Steireranzügen. Manche waren für Juristen sehr belesen , was wir auf ihre viele Zeit während des Krieges zurückführten. Nur der noch nicht dreißigjährige Günther Winkler kritisierte in unserer Studienzeit scharf die Auswüchse des Koalitions­ regimes und seine Unbeweglichkeit durch gegenseitige Blockaden , während ihm Merkl immerhin im Großen und Ganzen Verfassungstreue nachsagte. Antoniolli ermutigte und ermunterte uns , nach Beendigung des Studiums und Erreichung einer Lebensstellung bei einer Partei mitzuarbeiten. Marcic sprach diesbezüglich sogar von einer Pflicht. Die meisten Lehrer waren sehr österreichbezogen , manche „altösterreichbezogen“, manche deutschlandbezogen. Die netteren von ihnen bauten eine „Gymnasialatmosphäre“ auf , es war manchmal wie in der Schule , aber die meisten hielten doch große Distanz zu uns. Mit Ausnahme von Melicher , Winkler und Marcic hat mich auch keiner eingeladen. Sie waren nicht besonders „europäisch“ orientiert ; das waren wir Studenten viel mehr. Im Freundeskreis und in der Verbindung trug ich gerne Paul Valérys „Die Krise des Geistes“ vor , die er schon 1919 geschrieben hatte. Seine Frage : „Wird Europa zu dem , was es in Wirklichkeit ist , das heißt ein kleines Kap des asiatischen Kontinents ? “, war für uns eine Herausforderung. Sein Vortrag vor Studenten der Universität Zürich 1922 , der die Frage behandelte „Wer ist Europäer ? “, kam bei uns im Studium nicht vor. Wir waren hungrig nach Europa , aber der Hunger wurde zu wenig gestillt. Es gab vielleicht Ausnahmen , aber ich habe sie nicht kennengelernt. Wir waren schon Europäer vor 92

Meine Lehrer und meine Lehrerin

EWG und EFTA . Aber wir mussten wissen , warum wir nicht bei der EWG sein durften.

1989 musste Oliver Rathkolb feststellen : „Wie schwer es die Rechtswissenschaft noch heute hat , mit Traditionen der Ersten Republik fertig zu werden , zeigt sich daran , dass es bis 1988 gedauert hat , bis die rechtswissenschaftliche Fakultät eine Vorlesungsreihe ,Recht und Nationalsozialismus‘ abgehalten hat – Veranstaltungen , die jedoch auf freiwilliger Basis den Studenten angeboten wurden und nicht in den Prüfungsbereich aufgenommen wurden.“ ( Oliver Rathkolb , Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität W ­ ien zwischen Antisemitismus , Deutschnationalismus und Nationalsozialismus 1938 , davor und danach , in : Gernot Heiß u. a. ( Hg. ), Willfährige Wissenschaft – Die Universität W ­ ien 1938–1945 , ­Wien 1989 , S. 225 ). Insgesamt wurden 1939 von 19 ordentlichen Professoren nur 7 auf ihrer Stelle belassen. 38 Lehrpersonen der Fakultät wurden entlassen. Von diesen Tatsachen wussten wir Studenten nichts. Wir haben uns auch kaum dafür interessiert , da uns die Fakultät als solche zu wenig interessiert hat. Wir waren auch diesbezüglich „lamperlfromm“. Ganz naiv waren wir wohl nicht , da wir die Verhältnisse ja im Allgemeinen und von unseren Schulen und Familien kannten. Außerdem war uns klar , dass von der nationalsozialistischen Machtübernahme Fächer wie Deutsche Rechtsgeschichte und Deutsches Recht , Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte sowie Verfassungsund Verwaltungsrecht besonders betroffen gewesen sein dürften. Es waren aber auch Lehrveranstaltungen im Bürgerlichen Recht davon betroffen. Im Übrigen setzte sich die Hauptgruppe der Entlassungen 1938 aus jenen Rechtswissenschaftlern zusammen , die während der Austrodiktatur in politischer Hinsicht aktiv geworden waren. 1945 begann die Zukunft mit Altlasten. (S. Margarete Grandner , Gernot Heiss , Oliver Rathkolb ( Hg ), Zukunft mit Altlasten. Die Universität ­Wien 1945 bis 1955 , Studienverlag , Innsbruck /  ­Wien /  München /  Bozen , 2005)

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Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs

Ein Lehrer, der nicht da war: Hans Kelsen (1881–1973)

Ich war kein direkter Schüler Hans Kelsens , aber ich bin nach den Worten Edwin Loebensteins „durch das reinigende Feuer der Reinen Rechtslehre“ gegangen. Als 1960 Kelsens „Reine Rechtslehre“ in zweiter Auflage erschien , war ich einer der Ersten , der das Buch in ­Wien kaufte. Ich hatte schon die erste Auflage gelesen. Mir imponierte Kelsens Ziel : „Die Jurisprudenz , die – offen oder versteckt – in rechtspolitischem Räsonnement fast völlig aufging , auf die Höhe einer echten Wissenschaft , einer Geistes-Wissenschaft , zu heben. Es galt , ihre nicht auf Gestaltung , sondern ausschließlich auf Erkenntnis des Rechts gerichteten Tendenzen zu entfalten und deren Ergebnisse dem Ideal aller Wissenschaft , Objektivität und E ­ xaktheit , soweit als irgend möglich anzunähern.“

Ich hielt diese Beschränkung lange für den Königsweg der Juris­ prudenz. Der Streit gehe um das Verhältnis der Rechtswissenschaft zur Politik , „um die saubere Trennung der einen von der anderen , um den Verzicht auf die eingewurzelte Gewohnheit , im Namen der Wissenschaft vom Recht , unter Berufung also auf eine objektive Instanz , politische Forderungen zu vertreten , die nur einen höchst subjektiven Charakter haben können , auch wenn sie im besten Glauben als Ideal einer Religion , Nation oder Klasse auftreten“ ( Aus dem Vorwort der 1. Auflage III , 4 ). Im Vorwort zur zweiten Auflage 1960 schreibt Kelsen : „Bei der im Laufe der Entwicklung stetig zunehmenden Vielfältigkeit des Inhalts der positiven Rechtsordnungen läuft eine allgemeine Rechtslehre stets Gefahr , mit den von ihr bestimmten Grundbegriffen des Rechts nicht alle Rechtsphänomene zu erfassen.“ Daher sah er in der zweiten Auflage ein Unternehmen , das einer Fortführung durch Ergänzungen und sonstige 94

Ein Lehrer, der nicht da war: Hans Kelsen (1881–1973)

Verbesserungen bedarf. Es habe seinen Zweck erreicht , wenn es solcher Fortführung – durch andere als den schon am Ende seines Lebens stehenden Autor – für würdig erachtet werde. Und er weiß : „Nach wie vor stößt eine objektive , ihren Gegenstand nur beschreibende Rechtswissenschaft auf den hartnäckigen Widerstand aller jener , die , die Grenzen zwischen Wissenschaft und Politik missachtend , im Namen jener dem Recht einen bestimmten Inhalt vorschreiben , das heißt das gerechte Recht und damit ein Wertmaß für das positive Recht bestimmen zu können glauben.“ Es sei insbesondere die wiedererwachte Metaphysik der Naturrechtslehre , die mit diesem Anspruch dem Rechtspositivismus entgegentrete ( aus dem Vorwort der 2. Auflage VII , VIII ). In meiner Studienzeit war das Aufleben der Naturrechtslehre eine Reaktion auf totalitäre Diktaturen. Die Wiederkehr des Naturrechts wurde als Krise des gesatzten Rechts diagnostiziert. Merkl hat ausdrücklich verlangt , dass die rechtswissenschaftliche Befassung mit dem Recht der Ergänzung durch eine wertende Betrachtung bedarf. Zur Rechtswortlehre soll gewissermaßen eine Rechtwertlehre kommen und meiner Meinung nach auch eine Rechtswirklichkeitslehre. Dieser Trialismus der „3W“ gehört ins Jusstudium. In der Praxis wurde ich bald davon überzeugt , dass sich der Jurist dem geltenden Recht gegenüber immer auch kritisch verhalten und ständig an seiner Weiterentwicklung mitwirken soll. Das ist meines Erachtens sogar eine Hauptaufgabe der Rechtswissenschaft. Aber das muss man bewusst tun und es auch anderen bewusst machen. Deshalb auch meine Hinwendung zur politischen Jurisprudenz und zur Juristenpolitologie. Aber das ändert nichts an meiner Hochschätzung Kelsens. Er ist Österreichs größter Rechtsdenker. Die Reine Rechtslehre sieht die Aufgabe der Rechtswissenschaft darin , mittels der grammatikalischen und logischen Auslegung den Sinn von Rechtnormen festzustellen. Als ich im Verfassungsgerichtshof als Schriftführer tätig war , war das auch 95

Teil 1 – Ein Student Kaiser Franz Josephs

dort die regelmäßige Praxis. Johann Dostal , ständiger Referent , drückte das lapidar mit dem Satz aus : „Wir sind Gefangene des Wortlauts.“ Ich habe in der Praxis den Wert der Reinen Rechtslehre als Medium der Kommunikation zwischen verschiedenen Weltanschauungen kennen- und schätzen gelernt , insbesondere im Verfassungsgerichtshof. Noch heute hoffe ich , dass sich die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität W ­ ien den Namen „Hans-Kelsen-Fakultät“ gibt und die Tradition dieser Schule in Forschung und Lehre lebendig hält. Robert Walter , der große Fortsetzer der KelsenTradition sagte zu dieser meiner Hoffnung , als ich Stadtrat der Bundeshauptstadt war : „Der Name Hans-Kelsen-Fakultät wäre für sie nicht so charakteristisch wie der Umstand , dass sie nicht diesen Namen trägt.“ Immerhin gibt es ein Hans-Kelsen-Institut als Verein außerhalb der Universität. Ein Eugen-Ehrlich-Institut gibt es in Österreich leider nicht einmal als Verein. Kelsens Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ ( 1920 ) war für mich schon im Studium die wertvollste Aufklärung über Demokratie. Seine Feststellung „Die Erziehung zur Demokratie wird eine der praktischen Herausforderungen der Demokratie selbst“ hat mich dazu gebracht , seit meinem Studium in der politischen Bildung tätig zu sein. Als Senior meiner Studentenverbindung habe ich über diese Schrift diskutieren lassen und noch heute empfehle ich sie allen zur Lektüre. Ohne Demokratinnen und Demokraten gibt es keine Demokratie. Selbstständige , aufgeklärte und kritikfähige Menschen , die denken und diskutieren können , sind ihre Voraussetzung. Wir werden nicht als Demokraten geboren ; das müssen wir lernen und lehren. Was mich von Anfang an für die Reine Rechtslehre Kelsens und Merkls besonders einnahm , waren Form und Inhalte ihrer Sprache. Sie schienen mir Schüler von Karl Kraus gewesen zu sein. In den Rechts- und Staatswissenschaften im deutschsprachigen Bereich habe ich keine besseren Stilisten gefunden. 96

Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten Literatur

Gegenwelten: meine Eltern und ich „Die Sehnsucht nach dem Glück findet ihre Stillung in der Poesie.“ ( Beethovenfries , Secession , ­W ien ) „Durchs Buch zum Leben , durchs Leben zum Buch.“ ( Von einem Ex Libris und einer Briefmarke. ) „Vom Leseleben zur Lebenslese“ ( Aus einem Tagebuch. ) Schon als Kind suchte ich Gegenwelten. Die Kriegs- und Nachkriegszeit verlangte danach. Früh hatte ich die Unzulänglichkeit der Welt erkannt. Der Pessimismus meiner Mutter trug dazu bei , dass ich „voll Weltschmerz“ war , wie mein optimistischer Vater sagte. Dagegen half mir das Eintauchen in meine Gegenwelten und später immer mehr Tätigkeiten und Arbeiten , die ich übernahm. Die Gegenwelt meines Vaters war die Natur , die Gegenwelt meiner Mutter waren Künste und Bücher. Sie führten mich in ihre Welten ein , mein Vater als Biologe , meine Mutter als Erzählerin , die mir bald das Lesen beibrachte. Mein Vater führte mich in die Natur und ins Naturhistorische Museum , meine Mutter führte mich ins Kunsthistorische Museum und in Bibliotheken. Beide waren Konzert- und Opernfans. Schon früh konnte ich lesen , zeichnen und malen , war daher relativ unabhängig , wenn ich in meine Gegenwelten eintauchen wollte. Gestärkt und erfrischt konnte ich wieder zurückkehren , wann immer ich wollte. Der geheimnisvolle Begriff der „Poesie“, in dem Romantiker ihre Gegenwelten zusammenfassten , gefiel mir. Ich wusste aber auch früh , dass ich mich nicht in den Ge97

Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten

genwelten verlieren durfte. Wenn ich wieder einen gewissen Ausgleich gefunden hatte , ging es in der „normalen“ Welt weiter. Als wir in Not lebten und meist nur Erdäpfel und Brot , „ohne etwas dazu“, aßen , hatte ich die Gewohnheit , die alten Koch­ bücher meiner Mutter beim Essen zu lesen. Da war von frischen Forellen , von duftenden Rebhühnern , gewürzten Wachteln und gefüllten Schnepfen die Rede und die trockene Kost schmeckte herrlich. Später las ich mich mit Schmalzbroten , Zwiebeln und Knoblauch durch die schöne Literatur , wie mein Vater sagte. Heute gibt es jährlich über 100. 000 deutschsprachige Neuerscheinungen. In den 40er- und 50er-Jahren waren es im Vergleich zu heute wenige. Ich hatte als Gymnasiast bald einen gewissen Überblick , insbesondere über die neu erscheinende österreichische Literatur. Damals entstanden Taschenbuchreihen. Die Reclamheftchen waren schon da , Rowohlt- , Fischer- und später die dtv-Bände und andere waren etwas Neues. Sie hatten jeweils einen anderen Geruch. Am feinsten rochen die eleganten Inselbändchen. Die Stiasny-Reihe gefiel mir wegen ihres Österreich-Bezuges und ich kaufte mir alle Bände. Mich interessierte „das Österreichische“ in der österreichischen Literatur. Meine Eltern hatten die wichtigsten Klassiker und gängige Bestseller aus den 20erund 30er-Jahren wie „Menschen im Hotel“ von Vicky Baum und „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque , aber es fehlte die mich interessierende Literatur des „­Wien um 1900“. Das holte ich mithilfe meiner Nachhilfehonorare nach und hatte bald eine kleine „­w ienerische Bibliothek“. Meine Suche nach Büchern Als 17-Jähriger las ich Schopenhauer , Nietzsche , Freud und Klages. Mein Deutschprofessor Walter Jonak gab mir sehr gute Noten , aber schrieb an den Rand : „Diesmal haben Sie Nietzsche gelesen. Die dithyrambischen Aphorismen verraten Sie !“, und ähnliche Kommentare. Aber der „Zarathustra“ war gar so schön. 98

Literatur

Goethe-Lektüre begleitete mich schon früh. Meine Mutter hatte ein Buch „Trost bei Goethe“. Ich habe bei Goethe alles gefunden , was ich jeweils suchte. Die von Stefan Zweig besorgte Reclamausgabe seiner Gedichte begleitet mich überall hin. Das von Jürgen Hein herausgegebene Nestroy-Reclambändchen „Die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang“ muss aber mit dabei sein. Unser Deutschlehrer unterstützte uns bei der Suche nach Büchern. Er machte uns außer mit den Klassikern und Modernen auch mit Autoren der späten 40er- und 50er-Jahre bekannt. Ich habe sie alle , aber nicht alles von ihnen gelesen : Reinhold Schneider , Werner Bergengruen , Ernst Wiechert , Hans Carossa , Georg Britting , Rudolf Binding , Stefan Andres … Von ihnen las ich am liebsten Werner Bergengruen , vor allem „Tod von Reval“. Reinhold Schneider lernte ich in ­Wien 1956 bei ­einer Studentenverbindung kennen. Seinen traurigen Blick sehe ich noch heute. Mein Lieblingsdichter von damals war Wolfgang Borchert. „Draußen vor der Tür“ lasen wir schon als Schüler. Als Studenten in den späten Fünfzigerjahren führten wir das Stück auf. Ich finde es nach wie vor großartig. 1955 kam das „Tagebuch der Anne Frank“ als Fischer-Taschenbuch heraus und ich kaufte gleich einige Exemplare , die ich an Freunde verteilte. Wir wollten alles über „diese Zeit“ wissen. Die große Aufklärung brachte mir Eugen Kogon durch sein Buch „Der SS -Staat : Das System der deutschen Konzentrationslager“. Er wurde Vorbild für unser politisches Denken , insbesondere durch sein Engagement für ein geeintes Europa. George Orwells „1984“ las ich bald darauf und fand manches bei uns „orwellisiert“. „Animal Farm“ las ich schon auf Englisch. „Alle sind gleich , aber manche sind gleicher“ und vieles andere „wusste“ ich , aber es wurde mir durch Orwell besonders bewusst. Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ erschien knapp vor unserer Matura.

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Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten

Mein ganzes späteres Leben fragte ich mich , welche von diesen Dystopien „unsere Welt“ geworden ist. Wahrscheinlich leben wir in einer Melange , die wir nicht leicht durchschauen. Die „Big Brothers“ und „Big Datas“ sind zu viele geworden und es gibt auch kleine Brüder. Wir passten uns an und wir passen uns an. Man kann nicht immer wachsam sein. Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“ war noch einfach. Sie befreite mich von Illusionen über Herrschaft schlechthin. Aber die Melange von „1984“, „Brave New World“ und „Big Data“, in der wir leben , ist uns über den Kopf gewachsen. Meine Mutter hat mich in die ­Wiener Städtische Bücherei eingeführt : Dort lernte ich moderne Literatur kennen : In den „Neuen Wegen“, die ich bald im Rahmen der Jeunesse Musicale abonnierte , im „Plan“, im „Silberboot“, im „Morgen“, in den „­Wiener Bücherbriefen“. Hier hörte ich einen Ton , der neu war ; es war für mich so anders , so „republikanisch“, wie es mir später nie mehr klang. Jeannie Ebner , Gerhard Fritsch , Herbert Eisenreich , Herta Kräftner , Andreas Okopenko , Friedrich Polakovics , Hans Carl Artmann , Walter ­Buchebner , Christine Busta , Walter Toman , Karl Wawra u. v. a. Unser Deutschlehrer Jonak hatte mir die Zentralbibliothek auf der Tuchlauben empfohlen. Dort wurde ich ein oft gesehener Kunde , der manchmal gleich an Ort und Stelle las. Bibliothekarinnen und Bibliothekare hatten große Geduld mit mir , vielleicht weil ich so redselig und neugierig war. Als Student genoss ich ihr Wohlwollen und sie bestärkten meine Absicht , eine kleine Bibliothek der Weltliteratur anzulegen. Aber wie sollte ich da vorgehen ? Eine Bibliothek der Weltliteratur Eine Bibliothekarin gab mir Hermann Hesses „Eine Bibliothek der Weltliteratur“ in die Hand. Dieser Hesse war 1929 erschienen , also rund 25 Jahre vor meinem Entschluss. Heute geht man den Weg übers Internet , ich fand den Weg durch Hermann Hes100

Literatur

se. Über ihn schrieb Kurt Tucholsky : „Wie diese kleine Anweisung , sich eine Bibliothek zusammenzustellen , gemacht ist , das ist nun zum Entzücken gar. Sie ist ganz subjektiv und nur so ist auf diesem ungeheuren Gebiet so etwas wie Sachlichkeit zu erzielen. Wer sich nach diesem Bändchen richtet – der tut wohl daran. Es steht wolkenkratzerhoch über den bekannten Literaturgeschichten. [ … ] Kurz und Gut : Kauft euch für die paar Pfennige das Bändchen Hesses , und ihr werdet gut bedient sein. Wer das wirklich gelesen hat , was er dort fordert – der hat etwas hinter sich gebracht.“ Hesses Wanderweg in die Weltliteratur ging ich Jahrzehnte lang. Sein Streben nach Bildung als ein beglückendes und stärkendes Ich-Erweitern , als Bereicherung unserer Lebens- und Glücksmöglichkeiten , dem Leben immer wieder einen neuen Sinn zu geben , die Vergangenheit zu deuten , der Zukunft in furchtloser Bereitschaft offenzustehen , dieser endlose Weg , sich allmählich mit dem ungeheuren Schatz von Gedanken , Erfahrungen , Symbolen , Fantasien und Wunschbildern vertraut zu machen , den die Vergangenheit uns in den Werken der Dichter und Denker vieler Völker hinterlassen hat , wie er es formuliert , das war Glück auf Dauer. Mein anderer Lese-Lehrer war Stefan Zweig. Seine „Baumeister der Welt“, Biografien , historischen Miniaturen und „Briefe an Freunde“ wurden Markierungen für meine Lesewanderungen. „Die Welt von gestern – Erinnerungen eines Europäers“ war schon im Gymnasium eines meiner Lieblingsbücher gewesen. In der CV-Verbindung Franco-Bavaria wurde es mein Lehrbuch für neue Mitglieder und ich stellte daraus Fragen bei Burschenprüfungen. Der „ehrwürdige Bildersaal der Weltliteratur“ wurde im Laufe der Zeit ein lebendiges , universelles Museum und blieb doch sehr subjektiv. Wie Hesse folgte ich meiner ganz besonderen Lebens- und Lese-Erfahrung beim Auf bau meiner Bibliothek. Die Bibel , Ilias und Odyssee , das Gilgamesch-Epos , eine Auswahl aus den Upanischaden und aus den Reden des Buddha , 101

Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten

aus den Gesprächen des Konfuzius , des Laotse und der chinesischen und persischen Lyrik , Teile des Korans , „Tausendundeine Nacht“, die Edda , germanische Götter- und Heldensagen , ja und auch Gustav Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“ – das war neben der beständigen Erweiterung durch die europäische und amerikanische Literatur eine Art systematischer Arbeit , in der auch Juristisches , wie das Corpus juris und Auszüge aus dem Sachsen- und Schwabenspiegel , nicht fehlte. Als ich in Italien einfache Leute Dantes „Göttliche Komödie“ zitieren hörte , war ich neidisch. Was können wir Österreicher , wir ­Wiener zitieren ? Im Studium stieß ich auf die bunte mittelalterliche Literatur ; die „Gesta Romanorum“, das „Decamerone“ Boccaccios , das „Heptameron“ der Margarete von Navarra und Chaucers „Canterbury tales“ waren mir aus der Schulzeit bekannt und unser Deutsch- und Französisch-Lehrer Theophil Melicher hat nach seinen Erzählungen über die Troubadours und Trouveres , insbesondere Chretiens de Troyes , mich später zu Montaigne und Rabelais geführt. Als Student , der schon als Schüler die „Russische Stunde“ der RAVAG gerne gehört hatte , versank ich in der russischen Literatur : Puschkin , Lermontow , Turgenjew , Gogol , Dostojewski , Tolstoi , Tschechow. Dann sprang ich zur französischen über , die wir schon in der Schule gelesen hatten , Balzac , Hugo , Z ­ ola , Flaubert , Maupassant , Baudelaire , Verlaine , Mallarmé , von Proust nur „Tage der Freuden“, Rimbaud , Cocteau , Saint-Exupery ( „Wind , Sand und Sterne“, „Die Stadt in der Wüste“ ), Leautrémont , Camus und Sartre – das alles auf Deutsch. Meine Lieblinge unter den Englischsprachigen waren Jona­ than Swift , Oscar Wilde , George Bernard Shaw und Somerset Maugham. Shakespeare las ich wie Dickens und die Nordländer Ibsen und Strindberg auf Deutsch. James Joyces „Ulysses“ las ich viel später , aber die „Dubliner“ mit der Erzählung „Die Toten“ wurde bald ein Lieblingsbuch.

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Literatur

Die Amerikaner las ich gerne im „Information-Center“ Ecke Kärntner Straße und Philharmonikerstraße : Von Theodor Dreiser , Thomas Wolfe , Tennessee Williams , Eugene O’Neill , Ar­ thur und Henry Miller hatten wir im Gymnasium nichts gehört , wohl aber von O. Henry , Thornton Wilder , Thomas Wolfe , William Saroyan und Ernest Hemingway , der damals den Nobelpreis bekam. Das Gymnasium hatte uns zu Familiensagas geführt , zu John Galsworthys „Forsyte-Saga“, Roger Martin du Gards „Thibauts“, zu Thomas Manns „Buddenbrooks“. Sie haben beim Lesen sehr beeindruckt , aber ich würde sie nicht noch einmal lesen. Als junger Student las ich gerne Entwicklungsromane. Ich konnte mich mit manchen „Helden“ so identifizieren , dass ich mich meiner Familie entfremdete und eben Wilhelm Meister , Heinrich Lee , Niels Liehne , Heinrich Drendorf , Malte Laurids Brigge oder der Andreas aus „Andreas oder die Vereinigten“ war. Kafkas „Amerika“ wollte ich als Film , es war ein Lieblingsbuch. Manchmal träume ich vom „Naturtheater von Oklahoma“ aus diesem Roman. Wenn ich mich mit einem meiner „Ichbrüder“ allzu sehr identifizierte , so zum Beispiel hüstelte wie Hans Castorp oder als Fürst Myschkin allzu sehr über alltägliche Sachen erstaunt war , irritierte ich meine Eltern , vor allem meine Mutter. Mein Vater vermutete mich in einem besonderen Club , aber mein Club war nur ich. Die große Freiheit des Studiums machte ein exzessives „Leseleben“ möglich. Indem ich viel in Parkanlagen und Gärten , im Prater und im W ­ ienerwald las , verband ich die beiden Gegenwelten Natur und Literatur zu einer Einheit. Das alles verdanke ich unserem Studium und der Juridischen Fakultät der Universität ­Wien. Von der Bibliothek zum Schatzkästlein 1951 war Heimito von Doderers „Strudlhofstiege“ erschienen und ich war einige Jahre später davon so begeistert wie von Gerhard 103

Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten

Fritschs „Moos auf den Steinen“. War das nicht das „Österreichische“, das ich immer gesucht hatte ? Aber die „Republikaner“ der „Neuen Wege“ gefielen mir doch auf Dauer mehr durch ihren Realismus und ihre Nüchternheit. Meine Bibliothek wurde immer größer , ein schöner , großer Garten. Die Bücher waren Bäume gewesen und wurden zu Bäumen , Alleen , Büschen , kleinen Wäldern. Hier war ich zu Hause und wanderte umher. Sie sprachen und sangen leise zu mir , ich plauderte mit ihnen und blätterte in ihnen im Vorübergehen. Der Germanist Hermann Kurzke hat es schön gesagt : „Zur Bücherliebe gehört das Optische und das Haptische – daß jedes Buch anders aussieht und sich anders anfühlt.“ Und : anders riecht. Das kann das Internet ( noch ) nicht bieten. Aber der Bücherschirm wird mehr und mehr vom Bildschirm ersetzt. Daran muss man sich gewöhnen. Den Raum für mehr und mehr Bücher hätte ich organisieren können. Aber die Zeit ? Oft dachte ich beim Durchwandern meiner Büchergärten : „Wie oft kann ich dieses oder jenes Buch noch lesen ? “ Kann ich „Krieg und Frieden“ noch zum vierten Mal lesen oder „Heinrich IV.“ zum dritten Mal ? Mit etwas Glück bleiben mir jetzt noch ein Dutzend Lesejahre. Alles Wesentliche muss man im Kopf haben , nicht auf Stellagen oder im Internet. Als ich viele Bücher an den Antiquar Schaden verkauft hatte , sagte mein Freund , der Germanist Joseph „Peter“ Strelka : „Ein schöner Schaden ! “ Aber die Firma Schaden war korrekt , ja großzügig. Seitdem verschenke ich meine Bücher systematisch an Freunde. So leerte sich meine Bibliothek und es entstand etwas Neues. Meine alte , große Bibliothek gibt es nicht mehr. Ich habe ein „Schatzkästlein“, in dem ich meine Lieblinge versammelt habe : Da sind Reste der Alten , einiges von Lessing , Goethe , Schiller , Eichendorff , Kleist , Büchner und Hölderlin , von Johann Peter Hebel , einiges von Grillparzer , Stifter und Saar , von den ­Wienern um 1900 , von Alfred Polgar , von Franz Kafka und Rainer Maria Rilke , „Die andere Seite“ Alfred Kubins , der ganze Hermann 104

Literatur

Broch , „Dublin“ von James Joyce , manches von Puschkin , Tolstoi , Dostojewski und Gogol. Von unseren Modernen Bachmann , Frischmuth , Mayröcker , Jelinek , Gerstl , die frühen Handkes , Bernhards und späten Ransmayrs. Und doch immer auch ganz Junge. Leitzitate und Lebensbücher Ich suchte früh in der Literatur nach Leitzitaten. Das erste war das Thema eines Aufsatzes , das unser Deutschlehrer aufgegeben hatte : „Von der Erziehung zur Selbsterziehung“. Aus dem Torquato Tasso Goethes : „Erkenne dich selbst und vergleiche dich ! “ Aus dem Cherubinischen Wandersmann des Angelus Silesius : „Freund , so du was bist , so bleib doch ja nicht stehen : Man muss aus einem Licht fort in das andere gehen.“ Semper incipiens ; semper idem ( Cicero ); Scias vias ( Hildegard von Bingen ); Beans beor ( Bettina von Arnim ); Von Nietzsches „Nur wer sich wandelt , bleibt mit mir verwandt“ kam ich zu Arthur Rimbauds Formel „Je est un autre“ und Jean Paul Sartres „L’homme n’est pas il se fait“. Per aspera ad astra ! Per angusta ad augusta ! Dum spiro , spero ! Heitere Resignation – es gibt nichts Schöneres ! ( Marie von Ebner-Eschenbach ) „Wenn es etwas Positives im Leben gibt , dann dies : anderen eine Freude bereiten ! “ ( A lfred J. Noll ). Paulum tardius , paulum setius Weitermachen ! Sursum ! Meine juristischen Leitsätze : § 16 , 17 , 18 ABGB + iustitia regnorum fundamentum + Art 1 B-VG 105

Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten

Auch nach Lebensbüchern suchte ich früh. Im Studium hatte ich zwei gefunden : Hans Kelsens „Vom Wesen und Wert der Demokratie“, 1920 , und Paul Valérys „Europäischer Geist“ in : „Die Krise des Geistes“, 1956. Später lernte ich anlässlich eines Jubiläums im Akademie­ theater das Werk Hermann Brochs kennen und „Der Tod des Vergil“ wurde ein Lebensbuch , das ich immer wieder lesen kann , lesen muss. Eine Aufklärung für die Zukunft wurde „Prinzip Verantwortung“, 1979 , von Hans Jonas. Theater

Rollen und Masken Die Macht einer Maske erlebte ich als Achtjähriger. Eine Goldmaske tragend begrüßte ich einen Freund , der darauf bitterlich zu weinen begann. Ich hatte ihn erschreckt und brauchte lange , um ihn ohne Maske zu beruhigen. Die erste Begegnung mit dem Theater hatte ich in der Kriegszeit auf dem Lande bei meinen Tanten in Platt , Niederösterreich. Ein Wandertheater hatte sich dort für einige Tage niedergelassen. Auf der Bühne erkannte ich einen Mann , den ich schon vorher gesehen hatte. Er war ein älterer Herr gewesen. Jetzt spielte er einen jungen Mann mit roten Wangen und raschen Bewegungen. Das faszinierte mich. Wir Kinder spielten zwar alle möglichen Rollen , aber dass das auch Erwachsene tun , war mir neu. Das erste Theaterstück , das ich bewusst erlebte , war „Der Verschwender“. Denn ich kann mich noch ganz genau an den Dialog des Marquis Dumont mit dem alten Weib erinnern , der mir vom ganzen Stück am besten gefiel. Diesen Dialog halte ich auch jetzt noch für einen der besten der österreichischen Literatur. Ein noch schönerer ist in der Zauberflöte : „Bei Männern , welche Liebe fühlen“, zwischen Pamina und Papageno. 106

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Meine Eltern besuchten mit mir manchmal die Familie F. im 3. Bezirk. Für mich war es immer eine Sensation , vom sowjetisch besetzten Bezirk in einen von anderen Alliierten besetzten Bezirk zu gehen. Dieses „Theater“ nahmen alle ernst. Man konnte ja nie wissen , was passieren könnte. Ich hatte immer ein Gefühl wie vor Prüfungen im Magen. Auf der Ennsbrücke , beim Überfahren der Demarkationslinie von der von Sowjets besetzten Zone zu der von den Amerikanern besetzten , hatte ich fast immer Bauchweh. Hier in W ­ ien war es ein flaues Gefühl , das man nicht näher erklären konnte. Waren wir dann in der britischen Zone , war alles vorbei und wir konnten uns auf die Jause bei der Familie F. freuen. Nach der Jause durften wir Kinder in ein Zimmer gehen , das als kleiner Theatersaal hergerichtet war. Die Tochter des Hauses , selbst noch ein Kind , spielte uns auf einem Alt-Wiener Figurentheater Raimund-Stücke vor. Sie war großartig lebendig in den verschiedenen Rollen. Zu Hause bastelte ich aus meinem alten Kaufmannsladen ein Theater und spielte meiner Schwester und anderen Kindern Märchen vor , die sie alle schon kannten und daher meine „Dramatisierungen“ gleich beklatschten. Im Gymnasium spielten Schüler der Oberstufe „Faust“ als Puppentheater für uns in der Unterstufe und ich erinnere mich noch heute an den Zauberspruch „Bärlippe , Bärlappe“ und an Fausts Höllenfahrt , die mir besonders imponierte. Mit Freude genossen wir , wenn das Burgtheater in die Schule kam und im Festsaal Albin Skoda und Liselotte Schreiner auftraten. Ihre Sprache wurde Vorbild. Unsere Deutschlehrer legten großen Wert darauf , dass wir dieses Vorbild ernst nahmen. Daher lasen wir Dramen und Gedichte nach diesen Vorbildern vor. Ich durfte Hofmannsthals „Der Tor und der Tod“ in der 8. Klasse alleine vortragen. Es wurde ein Lieblingsstück. Wie oft habe ich später dieses Stück allein oder mit Freundinnen und Freunden gesprochen und aufgeführt ? Sogar in der ÖVP auf der Wieden …

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Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten

Die Scala – mein Leib- und Lieblingstheater 1952 hatte ich das Glück , dass das fünfte Spieljahr des neuen Theaters in der Scala mit Lessings Lustspiel „Minna von Barnhelm“ eröffnet wurde. Ich durfte schon allein ins Theater , das fünf Minuten von unserer Wohnung entfernt war. Bis zu ihrem Ende blieb die Scala mein Leib- und Lieblingstheater. Mein neues dunkelbraunes Schnürlsamtsakko – es roch nach Essig – und der Theatergeruch bilden zusammen eine Einheit der Erinnerung an E ­ rika Pelikowski als Minna und Hortense Raky als Franziska. Die Minna ist das schönste deutsche Lustspiel und voll Merkwürdigkeiten. Ich habe ein Dutzend Minnas erlebt , aber nie ­eine so gute wie in der Scala. Meiner Erinnerung nach hängt das mit dem einmaligen Zusammenspiel von Erika Pelikowski und Hortense Raky zusammen. Wolfgang Heinz führte Regie. Aber das wirklich mich Faszinierende war der Geruch des Theaters. Einen Monat nach der Minna hatte Nestroys „Einen Jux will er sich machen“ Premiere. Karl Paryla war der Weinberl , Lilly Schmuck der Christopherl und Dorothea Neff Madame Knorr. Emil Stöhr führte Regie. Die Couplets waren politisch aktuell und trafen ins Schwarz-Rote. Diese Aufführung schaute ich mir mehrmals an , denn wir planten im Gymnasium , den „Jux“ aufzuführen. Ein junger Deutschprofessor probte mit uns , und zwar sogar Couplets nach der Musik Alexander Steinbrechers vom Burgtheater. Ich war als Weinberl vorgesehen. Manches vom Text kann ich noch heute , auch Couplets. An meinem Namenstag am 28. Jänner 1953 lud mich meine Mutter zur Premiere von Henrik Ibsens Drama „Die Stützen der Gesellschaft“ in die Scala ein. Hier brillierte Wolfgang Heinz als Konsul Bernick. Heinz brachte die Selbsterkenntnis der Lebenslüge großartig heraus und sein Erkenntnisschrei „Betty , Betty ! “ blieb im Gedächtnis. Sein „Richter von Zalamea“ von Calderon prägte mein frühes Bild vom unerbittlich gerechten Richter. Im September 1954 begann die Scala mit dem „Hamlet“. Paryla spielte die Titelrolle , Wolfgang Heinz führte Regie und spiel108

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te König Claudius. Paryla war zwar schon ein älterer Hamlet , aber ich habe , abgesehen von Filmen , nur Oskar Werner in der Josefstadt als „besseren“ Hamlet im Gedächtnis. Die letzten Stücke , die ich in der Scala erlebte , waren „In Ewigkeit Amen“ von Anton Wildgans und „Die respektvolle Dirne“, bewusst statt „ehrbare Dirne“, von Jean Paul Sartre. Scala – das war herrliches Schauspielertheater , Aufklärung durch Sprache , Kampf gegen die Lebenslüge , für Bildung und Demokratie. Das Motto könnte gewesen sein : „Theatrum impendere verum“, das Theater der Wahrheit weihen. Die Protagonisten des Ensembles bildeten die Stützen des Brecht-Ensembles in Zürich und in Berlin-Ost. Die Scala war Volkstheater , dessen Protagonisten im Schweizer Exil bis an die Grenzen des Möglichen politisches Theater gemacht hatten. In W ­ ien gab es , geführt von Torberg und Weigel , einen Brecht-Boykott. Die Scala spielte als einzige W ­ iener Bühne Brecht ; daher gab es auch einen Scala-Boykott in den Medien , der freilich für das Theater der Jugend nicht galt. Wilhelm Pellert hat in seinem Buch „Roter Vorhang , rotes Tuch“ das neue Theater in der Scala ( 1948–1956 ) [ In Sachen , 3–4/79 ] einer bemerkenswerten Analyse unterzogen. Es sei zur Lektüre empfohlen. Die Wiedereröffnung des Burgtheaters: „Die Krönung des Wiederaufbaus“ Die Wiedereröffnung des Burgtheaters war ein identitätsstiftender Teil der österreichischen Geschichte , eine „österreichische“ Geschichte , „die Krönung des Wiederaufbaus“. Sie begann mit einem Staatsakt am 14. Oktober 1955 , dem am 15. Oktober die Wiedereröffnung mit Franz Grillparzers „König Ottokars Glück und Ende“ folgte. Burgtheaterdirektor Adolf Rott , der im Herbst 1954 Josef Gielen abgelöst hatte , plante ursprünglich Goethes „Egmont“ als Premiere. Der Egmont hätte auch gut zum „Fidelio“ in der Staatsoper 109

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gepasst. Aber zwei Freiheitsdramen ohne direkten Österreich­ bezug wären zu wenig Österreich gewesen. Es gab Proteste und Interventionen. Die Zeitung „Neues Österreich“ hatte in der Diskussion besonders patriotisch plädiert : „Es gibt so etwas wie eine österreichische Verpflichtung. Und darum nochmals mit allem Nachdruck : Wir erwarten von dem Direktor des österreichischen Nationaltheaters , daß er die einmalige Gelegenheit wahrnimmt und sich auf diese ideologische Verpflichtung zu Grillparzer besinnt.“ Man darf nicht vergessen , dass das Burgtheater 1776 von Kaiser Joseph II. als deutsches Nationaltheater gegründet worden war. Rott erreichte immerhin , dass das Burgtheater vor der Staats­ oper eröffnet wurde. Er berief sich dabei auf die Monarchie , in der das Hof burgtheater aufgrund der einstigen räum­lichen Nähe zur Hof burg vor der Hofoper rangierte. Es setzte sich also buchstäblich auch hier die Monarchie in der Republik fort. Allerdings wurde der Schluss : „Dem ersten Habsburg Heil in Österreich ! “ Alle : „Heil ! Heil ! Hoch Österreich ! Habsburg für immer ! “ ( indem alle unter Trompeten und Jubelgeschrei niederknien , um die Huldigung zu leisten , fällt der Vorhang )“ modifiziert. Das Vaterland war gerettet. Raoul Aslan sprach als Ottokar von Horneck , Dienstmann des edlen Ritters Ott von Liechtenstein , das Lobgedicht auf Österreich. Ohne Hänger ! Der Applaus war nicht enden wollend ! Die Leute waren gerührt , viele hatten Tränen in den Augen. Ich war Zeuge. Wenn ich Polemiken gegen die Lobesrede auf Österreich höre oder lese , fällt mir die Theater- und Österreichmanie R ­ aoul Aslans ein.

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Der „Ottokar“ wurde zum Teil von der Kritik verrissen , aber ich war als Komparse Teil dieses Stückes und mir gefiel es. Ich erlebte , wie während der Eröffnung tausende ­Wiener mit glänzenden Augen vor dem strahlenden Burgtheater standen und den Schauspielerinnen und Schauspielern zujubelten. Der Leiter der Bundestheaterverwaltung , Ernst Marboe , hatte für die Eröffnung den Begriff „Coronation“ erfunden : Die Krönung des Wiederauf baus und die Wiedereinsetzung der beiden Häuser in ihre Stellung in Europa , das war für ­Wienerinnen und ­Wiener der österreichische Staatsakt. Friedrich Torbergs Worten im „Neuen Kurier“ vom 24. Oktober 1955 ist nichts hinzuzusetzen : „… das neu aufgebaute Haus am Ring ist mit ,Ottokar‘ eröffnet worden , das Burgtheater mit ,Don Karlos‘ am 22. Oktober 1955“ ( Oliver Rathkolb , Goethe oder Grillparzer : Der Streit um das Eröffnungsstück des Burg­ theaters für den 15. Oktober 1955 in : Burgtheatertag , 20. Oktober 1985 , 1985 ). Vom Faszinosum Burgtheater und seinen Schauspielerinnen und Schauspielern in den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts hat man heute keine Vorstellung. Ihr Auftreten , ihre Kleidung , ihr Benehmen in der Öffentlichkeit und vor allem ihre Sprache waren für viele Vorbild und Maßstab. Die Matineen und Abende , die sie gaben , waren Stadtgespräche. Ich habe von meinem 15. Lebensjahr an fast keinen Auftritt von Aslan und Skoda versäumt. Aslan trug bei solch einer Gelegenheit Anton Wildgans’ „Rede über Österreich“ vor und als im Text das Burgtheater vorkam , gab das Publikum begeistert Standing Ovations. Skoda trug mit Vorliebe Balladen vor , und das elegant im Frack. Besonderen Beifall erntete er bei seinen Christian-Morgenstern-Abenden , mit Gedichten Josef Weinhebers aus „­Wien wörtlich“ und mit den „Balladen aus dem alten W ­ ien“ von Franz Karl Ginzkey. Er musste immer Zugaben geben und er gab sie gerne. 111

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Die besondere Sprache Oskar Werners hatte ihre besonderen Liebhaber /  -innen. Hatte Aslan eine „singende“ Sprache , Skoda eine „Damaszenerklinge“, so Werner , eine alle Facetten der Dichtung subjektiv wiedergebende Sprache , die ich nie mehr so von jemand anderem gehört habe. In allen dreien steckte noch eine Tradition , die auf Josef Kainz zurückging. Die Sprachkultur des Burgtheaters war noch in meiner Zeit vorbildlich. Goe­ thes „Prometheus“ haben die drei einmalig , aber jeder anders rezitiert. Wenn ich ihn lese , höre ich sie alle drei. Zu seiner wahrscheinlich letzten Matinee 1956 im Mozartsaal des Konzerthauses ging Aslan schon sehr gebückt. Er trug eine rote Mappe aus Safianleder , legte sie auf den Tisch , öffnete und trug Goethes „Mignon“ vor : „Kennst du das Land , wo die Zitronen blühen , im dunklen Laub die Goldorangen glühen : ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht , die Myrte still und hoch der Lorbeer steht ? Kennst du es wohl ? Dahin , dahin , möcht ich mit dir , oh mein Geliebter , ziehen …“

Ein Höhepunkt seiner sprachlichen Ausdruckskunst war Charles Baudelaires „Man muss immer trunken sein“. Man muss immer trunken sein. Das ist alles , die einzige Lösung. Um nicht das furchtbare Joch der Zeit zu fühlen , das eure Schultern zerbricht und euch zur Erde beugt , müsset ihr euch berauschen , zügellos. Doch womit ? Mit Wein , mit Poesie , oder mit Tugend ? Womit ihr wollt , aber berauschet euch. Und wenn ihr einmal 112

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auf den Stufen eines Palastes , im grünen Grase eines Grabens , in der traurigen Einsamkeit eures Gemaches erwachet , der Rausch schon licht geworden oder verflogen ist , so fraget den Wind , die Woge , den Stern , den Vogel , die Uhr , alles , was fliegt , alles , was seufzt , alles , was vorüberrollt , singt , spricht , fraget sie : Welche Zeit ist es ? Und der Wind , die Woge , der Stern , der Vogel , die Uhr werden euch antworten : Es ist Zeit , sich zu berauschen , um nicht die gequälten Sklaven der Zeit zu sein. Berauschet euch , berauschet euch ohne Ende mit Wein , mit Poesie , oder mit Tugend , womit ihr wollt.

So etwas vergisst man nicht. Raoul Aslan starb 1958 , Albin Skoda 1961 , Oskar Werner 1984. Komparse am Burgtheater Anlässlich der Wiedereröffnung des Burgtheaters wurden Komparsen gesucht. Ich stellte mich beim Chef der Komparserie Pandura vor und wurde aufgenommen. Ich habe es sehr genossen , einige Jahre am Burgtheater und Akademietheater Komparse zu sein. Wir waren ein bunter Haufen : Alte , die auf die Pension warteten , männliche Ehepaare , die besonders brav waren , solche , die auch an der Oper oder in Filmen statierten , Burgtheaterfans und solche , die nur bei der Eröffnung mitwirken wollten. Manche waren Pensionisten , darunter einige Akademiker , manche Komparsen aus Leidenschaft und dann gab es eine Grup113

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pe junger Frauen und Männer , zum Teil Studierende , zum Teil junge Schauspieler /  -innen , die darauf warteten , auf diese Weise auf die Bretter zu kommen , welche die Welt bedeuten. Einer meiner Kollegen in der Komparserie war der spätere Rechtshistoriker Werner Ogris. Er war besonders aktiv in „König Ottokars Glück und Ende“. Das Erste , was wir Neuen lernten , war : „Am Burgtheater gibt es keine Statisten , sondern Komparsen.“ Wir waren etwas Besonderes. Jeder hatte ein besonderes Ichwertgefühl. Ein Kollege sagte : „Je besser die Qualität bei der Besetzung der Komparsen ist , desto besser ist die Aufführung.“ Er hatte dies offenbar von der Feststellung Brechts : „Je besser die Qualität bei der Besetzung der Nebenrollen ist , desto besser ist die Inszenierung.“ Im wirklichen Leben gibt es mehr Rollen als beim Theater. Da wird im Wesentlichen zwischen Hauptrollen , Nebenrollen , Kleindarstellern und Komparsen unterschieden , hinsichtlich des Faches Charakterrolle , Held und Antiheld , Bösewicht und Clown , Femme fatale und Grande Dame , Leading Lady , tragischer Held und lustige Person usw. Als Komparse muss man vor allem eines lernen , und das ist : warten. Das bedeutet Geduld. Ich bin an sich ein „Wartender“, ein „Warter“, außerdem hatte ich immer meine Skripten dabei , hörte aber zu , was Kolleginnen und Kollegen erzählten. Ab und zu kam ein Regieassistent zu uns und gab Informationen , was wir wann tun sollten. Oft wurde das wieder zurückgenommen oder verändert. Zwischendurch beobachteten wir die Regisseure bei ihrer Arbeit mit den Schauspielerinnen und Schauspielern. Rott brüllte oft in der Gegend umher und war ständig in Bewegung , ein Kugelblitz. Gielen war die Ruhe selbst , seine tiefe Stimme erhob er nur selten , etwa dort , wo es um „Sprache“ ging. Die „Sissi-Filme“ ab 1955 brachten für viele Komparsen neue , zusätzliche Verträge und niemand war mehr von Romy Schneider begeistert als sie. Sie sagten ihr die Karriere voraus , die sie dann wirklich erlebte. Die Sissi-Filme und „Die Deutschmeis114

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ter“, „Hofjagd in Ischl“ und „Der Kongress tanzt“ waren Filme aus dieser Zeit. Immerhin erschien 1955 auch „Der letzte Akt“ mit Albin Skoda und 1954 war „Die letzte Brücke“ mit Maria Schell ein erfolgreicher Film. Aber im Großen und Ganzen wurde die Vergangenheit kaum reflektiert , vielmehr wurde das Publikum mit den Klischees der Vorvergangenheit bedient. Auch hier setzte sich die Monarchie in der Republik fort. In gewisser Weise könnte man „Sissi“, den Historienfilm aus dem Jahr 1955 , den Höhepunkt dieses Jahres nennen. Er war einer der erfolgreichsten Filme der Zweiten Republik. Die Fortsetzungen : „Sissi – die junge Kaiserin“, 1956 , und „Sissi – Schicksalsjahre einer Kaiserin“, 1957 , vervollständigten die erfolgreichste Filmtrilogie nach 1945. Die Zuschauerzahlen betrugen nach manchen Angaben 25 Millionen. Angeblich war „Der Förster vom Silberwald“ mit fast 30 Millionen Zuschauern noch erfolgreicher. Die Sissi-Filme gingen um die Welt : Als Mitglieder der Chinesischen Akademie der Wissenschaften von mir als Student durch den Lainzer Tiergarten geführt wurden , interessierte sie weniger die Natur als die Kultur der Hermesvilla oder kurz gesagt : Sissi. Die Wiedereröffnung des Burgtheaters am 15. Oktober 1955 erlebte ich schon als Komparse. Das „Vorspiel auf dem Theater“ aus dem Faust präsentierte Werner Krauß als Theaterdirektor , Raoul Aslan als Dichter und Hermann Thimig als lustige Person. Die Proben zu Grillparzers „König Ottokars Glück und Ende“ habe ich begeistert mitgemacht und mein Interesse an den Schauspielerinnen und an der Regie war groß. Direktor Adolf Rott führte die Regie wie ein Feldwebel. Er schrie oft auf der neuen Bühne und brachte Tempo in den Ablauf. Er war ständig in Bewegung , dabei behandelte er die Stars immer zuvorkommend , also Balser , Skoda , Hörbiger , Aslan , Neugebauer und die Damen Holzmeister und Schreiner. Judith Holzmeister war einmal bei einer Probe durch meinen roten Pullover irritiert und schrie : „Der muss hinaus ! “ Darauf 115

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brüllte Rott : „Hinaus ! “, und zeigte auf mich. Das war unangenehm. Hinter der Bühne umarmte mich die Kollegin Angela B. und das war angenehm. Ich huldigte damals einem „Kammerschauspieler-Fanatismus“: Wen und was ich von ihnen sah und hörte , nahm ich in mich auf und ahmte den Gang und selbst die Kleidung nach. So ließ ich mir ein blaues Sakko und eine graue Hose à la Skoda „bauen“ und begann auch rascher zu gehen , um seinen Gang nachzumachen. Im Übrigen kann ich noch heute Szenen aus dem Ottokar à la Balser , Skoda und Aslan nachsprechen und das besser als mancher Ottokar , wie mir der „Ottokar“ Tobias Moretti bestätigt hat. Während das Ottokar-Spektakel nach einer Spektakelpolizei à la Rott verlangte , war bei Josef Gielen im Karlos alles auf intrinsische Motivation angelegt. Die sanfteste Regie erlebte ich einige Zeit später in „Ende gut , alles gut“ im Akademietheater durch Rudolf Steinböck. Die einmalige Stimme Aglaia Schmids höre ich heute noch , allerdings in der Erinnerung an ihre Darstellung der Helene im „Schwierigen“. Im Akademietheater arbeitete ich mit Herwig Seeböck zusammen , mit dem mich eine langjährige Freundschaft verband. Wenn er uns den Quasimodo à la Theo Lingen vorspielte , war das großes Theater und außerdem etwas herzlich Lachhaftes. Er war auch ein guter Lyriker. Ob seine Gedichte später veröffentlicht wurden , weiß ich nicht. Er schrieb die „Häfenelegie“, die eine besondere Auseinandersetzung mit dem Establishment war. Er hatte geniale Züge. Leider ist er zu früh gestorben. Manche Kollegen lagen im Umkleideraum in den Garderoben auf den Bänken , um „etwas für die Wirbelsäule zu tun“, andere vollzogen zwischendurch bestimmte Übungen , die angeblich medizinisch empfohlen waren , die meisten saßen und tratschten. Die Bezahlung war gut , was die Gage pro Abend betraf – zwischen 20 und 60 Schilling , je nach Auftritten , aber schlecht , wenn man das lange Warten vor und bei den Proben mit in 116

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Rechnung stellte. Den Damen war oft kalt und manche hatten in ihren Garderoben Westen und Pullover. Beim Sitzen ohne Bewegung bei den Proben konnte man sich leicht verkühlen , und die Zugluft im Burgtheater war selbst für uns junge Burschen in ihrer überraschenden Vielfalt unangenehm. Aber der Geruch des Theaters war so angenehm und anregend , dass das Unangenehme gleich vergessen war. Ich habe nie so lange Zwischenzeiten gehabt wie beim Theater. Da konnte ich lesen und studieren und wurde nicht gestört. Nirgends habe ich einen so netten Umgangston erlebt wie in der Komparserie. Nirgends wurde auch so viel getratscht. Dabei waren die Sprechweisen sehr unterschiedlich. Die meisten aber sprachen „schön“, wie meine Großmütter gesagt hätten , zwar kein Burgtheaterdeutsch , aber eine gehobene Umgangssprache. Zwischendurch hörte man Dialekte oder Akzente aus dem ganzen deutschen Sprachraum. Die Komparsenwelt , wie ich sie erlebt habe , war eine liebenswürdige und liebenswerte Nebenwelt. „Lauter nette Leit.“ Die dazugehörenden Götter und Halbgötter , die Schauspieler , waren nicht selten gestresst und ihre Hektik teilte sich manchmal uns mit. Herr Pandura – unser Chef , ein Kammerschauspieler nannte uns die „Büchse des Pandura“ – war ausgesprochen stressresistent. Er „überstand“ alles und kümmerte sich auch um unsere Belange. Da ich zu Hause kein Telefon hatte , sorgte er dafür , dass ich für eingeschobene Proben und Aufführungen Telegramme bekam , was meine Mutter sehr nervös machte , da der Postbote auch zu den unmöglichsten Zeiten läutete. Pandura wusste , dass er sich auf mich verlassen konnte , und dadurch hatte ich bei ihm einen Stein im Brett. Ich hätte wirklich noch länger bei seinem Team bleiben können. Er ist 2003 91-jährig gestorben und war bis zuletzt dem Burgtheater verbunden. Manche alte Kollegen hatten die Sorge , dass sie nicht mehr zum Einsatz kämen. Sie hatten Angst vor manchen Regisseuren , insbesondere vor Rott , der ja auch Burgtheaterdirektor war. Sie redeten dann manchmal derart zu „Belieben“, dass es pein117

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lich war. Rott behandelte sie schlecht und das gilt auch für sein Verhalten zu weniger renommierten Schauspielern. Manche Kollegen hatten die Gewohnheit , am Kostüm , das man trug , manches zurechtzurücken , was ich nicht leiden kann und immer sofort abstellte. Vielleicht waren es Annäherungsversuche. Alkohol und Nikotin oder andere Rauschgifte gab es in der Komparserie nicht. Ja , ich muss sagen , dass es zwar unter den Schauspielern Trinker gab , aber nicht unter uns. Über Politik wurde von den Komparsen nie gesprochen. „Die ganze Welt ist Bühne ! “ Ja , ihre ganze Welt war die Bühne. Am meisten wurde über das Theater im Allgemeinen , die Stücke , die Schauspielerinnen und Schauspieler , die Regisseure gesprochen. Die Kritiker wurden kritisiert. Über Journalisten wurde fast nur Schlechtes gesagt. Manche Kollegen waren Alleinunterhalter und konnten stundenlang von den Großen und den Kleinen des Theaters und ihren Beziehungen erzählen. Als wir mit den Proben begannen , war es schon kalt geworden und ein Kollege sagte : „Jetz is aus mit der Wiesn ! “ Wenn Proben lange dauerten , und sie dauerten fast alle lang , gingen manche von uns in die Kantine des Burgtheaters. Sie war nicht gut geführt , aber es gab nichts anderes. Für mich waren die Komparsen mit den Schauspielerinnen und Schauspielern eine Gesellschaft im Kleinen. Wie in einem Spiegel sah man die oben und die unten und den ständigen Übergang von unten nach oben und von oben nach unten. Fast alle waren voll Hingabe an die Aufgabe Theater. Das war ihr Lebenssinn und das faszinierte mich. Wenn der alte Herr Padurek zu uns Studenten sagte : „Ihr dürft nicht herumstehen , ihr müsst spielen ! “, so war damit auch sein Lebensinhalt gesagt. Die „Gesellschaft als Komparserie“ – ich wollte darüber schreiben – und fragte mich , ob ich nicht bei ihnen bleiben sollte. Der indische Schriftsteller Kiran Nagarkar hat 2012 den „Statisten“ einen Roman gewidmet. Aber es sind Statisten vom Film.

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Wir alle sind Komparsen , wer es weiß , ist oft unzufrieden. Man muss sich wichtig nehmen können , um zufrieden sein zu können. Die Kollegen nahmen sich wichtig und waren im Großen und Ganzen zufrieden. Sie fühlten sich mehr als Teil des Burg­t heaters als zum Beispiel die Bühnenarbeiter. Das gilt insbesondere für Edelkomparsen , die manchmal einen Satz sprechen durften wie : „Der Inquisitor Kardinal“, so im Karlos. Ein Edelkomparse war Sohn aus einem alten W ­ iener Café. Er machte darauf aufmerksam , dass Albin Skoda ebenfalls Sohn eines Cafétiers sei. Formell war er schon Burgschauspieler und hatte eine entsprechende Visitenkarte. Wann immer ich in das Café komme , das noch existiert , denke ich an ihn , sein gutes Auftreten und sein gutes Benehmen. Der Jahrhundert-Don-Karlos unter der Regie Josef Gielens und seine Folgen für mich Man hat selten die Gelegenheit , eine solche Aufführung zu erleben und ich hatte als Komparse diese Gelegenheit Dutzende Male. Was hat die Aufführung dazu gemacht ? Es war Schauspielertheater auf höchstem Niveau bei klarer Regie und in historischen Kostümen und Bühnenbildern. König Philipp – Werner Krauß ( 1884–1959 ), Don Karlos – Oskar Werner ( 1922–1984 ), Marquis Posa – Fred Liewehr ( 1909– 1993 ), Großinquisitor – Raoul Aslan ( 1886–1958 ), Königin Elisabeth – Hilde Mikulicz , Prinzessin Eboli – Judith Holzmeister ( 1920–2008 ), Herzog Alba – Fred Hennings ( 1895–1981 ), Pater Domingo – Heinz Moog ( 1908–1989 ), Graf Lerma – Felix Steinböck ( 1897–1974 ) – Traumbesetzungen ! Schon bei den Proben war so viel Spannung , dass man geradezu auf Blitz und Donner wartete. Dementsprechend war die Premiere die beste , die ich jemals erlebt habe. Werner Krauß , 1955 schon über 70 , war für mich wie für viele andere der größte Schauspieler unserer Zeit. Fritz Kortner sagte über ihn : „Ein Nazi und ein Schweinehund , aber ein großer Schauspieler.“ Von 119

Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten

kleiner Statur hatte er eine besondere Fähigkeit , in dem ihm zur Verfügung stehenden Raum groß zu erscheinen und dementsprechend seine Beine zu bewegen. Er ließ mich einmal zurechtweisen , weil ich als Grande seinen Kreis durch Zu-nahe-Kommen gestört hatte. Er forderte Abstand von fünf Metern. Sein erster Auftritt im Karlos , ein Zur-Königin-Schreiten und dann die Worte : „So allein Madame , und auch nicht eine Dame zur Begleitung. Das wundert mich. Wo blieben ihre Frauen ? “, war jedes Mal gleich autoritätsvoll und doch jedes Mal anders. Das war für Krauß charakteristisch. Er war von Aufführung zu Aufführung ein anderer. Ob ihm das selbst auffiel ? Er war ein Meister der Raumbewegung und ein Meister des Timings und Pausemachens. Auch da war er jedes Mal anders. Seine Stimme war nicht schön , aber sehr wandlungsfähig. Er konnte von laut auf ganz leise , von hoch auf tief übergehen , von klarer zu rauer Stimme. Er pointierte und nuancierte. Oskar Werner , der sich aus seiner Verehrung für sein Idol Werner Krauß den Namen Bschließmayer in Werner abändern hatte lassen , war ein ­Wiener Genie. Er hatte von seiner ersten Frau , Elisabeth Kallina , angeblich eine besondere Ausbildung seiner einmaligen Sprache erhalten. Als 15-Jähriger war er Zeuge der Novemberpogrome in W ­ ien. Wer seinen Schrei „Nie wieder Krieg ! “ gehört hat , war von seinem Engagement für den Frieden , gegen Nationalismus , gegen Antisemitismus und gegen Nationalsozialismus überzeugt und wieder selbst überzeugt. In der Komparserie waren Gerüchte , dass Werner und Krauß in Spanien Studien durchgeführt hatten , um sich für das Stück vorzubereiten. Beide waren in ihren Rollen voll Konzentration und Authentizität. Der Regisseur Josef Gielen lehrte die Komparserie gehen und stehen ; sein „Meine Herren , Arschbacken zusammen ! “ gehörte dazu. Die Inszenierung war nicht bunt und spektakelmäßig wie der Ottokar , sondern schwarz und weiß und gerade deshalb großartig. Gielen strahlte Autorität durch Ruhe aus , er sprach kurz , leise und mit tiefer Stimme. So sprach er eine Eboli an mit : „H., Sprache , mehr Sprache.“ 120

Theater

Außer dem besten Karlos Oskar Werner sind mir als „Karlosse“ noch Walter Reyer und Heinrich Schweiger besonders in Erinnerung. Dieser ging aber , weil er nicht spielen durfte. Werner war dann schon gegangen , obwohl er der beste Karlos der Burg gewesen ist , den ich erlebt habe. Reyer war ein Schiller’scher Jüngling , Schweiger sehr leidenschaftlich. Jürgen Wilke war jugendlich-stark. Vor lauter Karlossen war der Karlos nach Dutzenden von Aufführungen nicht mehr der Karlos der Premiere mehr , aber noch immer gut. Werner blieb unser Star , unser Schwarm , unser Genie mit seiner einmaligen , unverwechselbaren Stimme von innen her. Sein Schrei „Dreiundzwanzig Jahre und noch nichts für die Unsterblichkeit getan ! “ blieb mir wie ein Meteor in Erinnerung. Man kann den „Don Karlos“ mehrschichtig sehen. Ich erlebte das Drama auch als solches eines jungen , eines reifen , eines älteren und eines alten Mannes. Karlos , Posa , Philipp und Großinquisitor. Elisabeth , die Königin , und die Prinzessin Eboli , von Hilde Mikulicz und Judith Holzmeister dargestellt , waren zwei Frauentypen zum Verlieben , aber sehr unterschiedlich : Die Königin eine Frau , die hohe Dame ist und deren Ethos den Eros überhöht. Die Prinzessin Eboli ist auch eine hohe Dame , aber voll Leidenschaft und Machtgier. Der Alba des Fred Hennings war martialisch , der Domingo Heinz Moogs gefährlich. Felix Steinböck war ein braver Lerma , Fred Liewehr ein klassischer Posa und ein eleganter dazu. Er hat mir das Weltbürgertum Schillers pathetisch nahegebracht und den Gegensatz zum Staatsbürgertum bewusst gemacht. Posa kann schon allein deshalb nicht Fürstendiener sein , weil er Weltbürger ist. Seine Aufforderung an den König : „Werden Sie von Millionen Königen ein König ! “, ist so fantastisch , dass nachher der Ruf : „Geben Sie Gedankenfreiheit ! “, fast bescheiden klingt. Das dialektische Gegenstück ist der Dialog zwischen dem König und dem Großinquisitor , zwischen Krauß und Aslan : „Was sollte Ihnen dieser Mensch ? Was konnte er Neues Ihnen vor121

Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten

zuzeigen haben , worauf Sie nicht bereitet waren ? Kennen Sie Schwärmerei und Neuerung so wenig ? Der Weltverbesserer prahlerische Sprache klang Ihrem Ohr so ungewohnt ? Wenn das Gebäude Ihrer Überzeugung schon von Worten fällt – mit welcher Stirne , muss ich fragen , schrieben Sie das Bluturteil der hunderttausend schwachen Seelen , die den Holzstoß für nichts Schlimmeres bestiegen ? “ Der Aufschrei Philipps : „Es ist mein einziger Sohn !“, der Ausspruch des Großinquisitors : „Menschen sind für Sie nur Zahlen. Muss ich die Elemente der Staatskunst mit meinem grauen Schüler überhören ? “, und der Abschluss durch ihn : „Bis Philipp sich in Demut beugt ! “, waren erschütternd. Alles nachher war nur mehr notwendige Konsequenz. Raoul Aslan als Großinquisitor brachte die Macht der Kirche gegenüber der königlichen Macht durch eine kalte Härte in der Stimme zum Ausdruck , die erschrocken machte. Strukturen und Prozesse muss man konstruieren. Man erlebt sie nicht , man erlebt Anekdoten. So erinnere ich mich , dass Fred Hennings als Alba zu den beiden ihn begleitenden Klosterbrüdern , meinem alten Freund Adolf Karger , und mir , immer wieder sagte : „Die Inquisition ist unerbittlich ! “ Wir lachten. Darauf Alba-Hennings : „Ned lochn ! Die Inquisition ist unerbittlich ! “ Wie hätten wir uns aber da beherrschen können ? Der „Jahrhundert-Don-Karlos“, den die beiden Protagonisten wahrscheinlich als „Don-Karlos-Jahrhundert“ studiert hatten , atmete den kalten Hauch der Weltgeschichte aus. Hier hatte Regietheater sich in genialem Schauspielertheater verwirklicht. Von diesem Erlebnis kann man es verstehen , dass ich – von der Magie des Theaters verzaubert – die nächsten Monate mich selbst hineinbegab , Stücke las , Rollen lernte , Stunden bei Eduard Volters nahm und begeistert mit einem kleinen Kreis von Gleichgesinnten Samstag und Sonntag Theater machte. In dieser meiner Theatergruppe hatte ich schöne Aufgaben als Leser , Sprecher und Schauspieler übernommen. Alle zwei , drei Wochen übten wir ein neues Stück ein. Klassiker wie „Egmont“ von 122

Theater

Goethe , „Fiesko“ von Schiller , „Leonce und Lena“ und „Dantons Tod“ von Büchner , Moderne wie Tennessee Williams’ „Endstation Sehnsucht“, „Glasmenagerie“ und „Die Katze auf dem heißen Blechdach“, Cocteaus „Die Stimme“, Sartres „Schmutzige Hände“ und „Fliegen“, „Kalypso“ von Csokor , Dürrenmatts „Die Physiker“, „Caligula“ von Camus , „Judith und Holofernes“ von Nestroy , „Des Teufels General“ von Carl Zuckmayr sprachen und spielten wir. Oft hatte ich Hauptrollen. Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ bewegte uns mehr als Thornton Wilders „Unsere kleine Stadt“ und sein „Wir sind noch einmal davon gekommen“. „Der Seidene Schuh“ Claudels war uns zu groß. Francoise Sagans „Bonjour tristesse“ lasen wir , einer von uns wollte es dramatisieren , aber die meisten von uns fanden die Colette besser als die Sagan. Wer war Josef Kainz? Ich las und lernte mehr Theaterbücher als Gesetzbücher , mehr Rollen als Recht , mehr über Josef Kainz als über Hans Kelsen. Kelsen lernte ich noch lange nicht kennen , von Kainz kannte ich im Gymnasium schon mehr als die Biografie. „Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze“, sagte Schiller. Aber es gibt Ausnahmen und heute können Technik und Medien Mimen über ihr Leben hinaus wirken lassen. Unser Deutschprofessor gab mir die „Verse zum Gedächtnis des Schauspielers Josef Kainz“ von Hugo von Hofmanns­ thal zur Lektüre. Der Dichter vergleicht Kainz mit einem in den Lüften kreisenden Sperber , der in seinen Fängen den Spiegel hält , der ein weißes Licht herabwirft : „Weißer als das Licht der Sterne : Dieses Licht ist Bote und Träger bist Du immerdar , und als des Schwebend – Unzerstörbaren gedenken wir des Geistes , der Du bist. Oh Stimme ! Seele ! Aufgeflogene.“ Es ist bemerkenswert , dass und wie Wikipedia „Die Enthüllung des Kainz-Denkmals“ in : „Neue Freie Presse“, 13. No123

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vember 1911 , S. 6 , wiedergibt : „Am letzten Ende des Währinger Cottage , in dem reizenden kleinen Meridian Park , der sich in der allernächsten Nähe des Cottage Sanatoriums befindet , wurde das vom Bildhauer Jaray geschaffene Denkmal für Josef Kainz hingestellt , in luftiger sonniger Höhe ; entrückt dem Lärm der Großstadt , steht hier der berühmte Schauspieler in der Rolle des Hamlet , den Totenkopf sinnend in der Hand umgeben von den bunten Rosen der Parkanlage.“ Die Festrede hielt Felix Salten vor einer Menschenmenge , in der Berühmtheiten W ­ iens wie die Burgtheaterdirektoren Max Burckhard und Baron Berger , Hugo von Hofmannsthal , Max Kalbeck , Arthur Schnitzler und Karl Schönherr sowie Vertreter der Hochbürokratie und Bürgermeister Neumayer waren , der sprach : „Für unseren Josef Kainz hat man hier im Cottage einen allerliebsten Platz gefunden. Dank dem Zusammenwirken einiger Persönlichkeiten , die sich um das Kainz-Monument große Verdienste erworben haben.“ Jeder W ­ iener werde sicherlich den Platz mit dem Kainz-Denkmal stets in Ehren halten. Schließlich sprach noch Hofschauspieler Reimers Verse von Max Kalbeck über Josef Kainz und das Denkmal wurde mit Kränzen und Blumen geschmückt. Für das Hof burgtheater hat Direktor Dr. Alfred Freiherr von Berger einen herrlichen Kranz niedergelegt. Die schwarz-gelben Schleifen trugen die Inschrift : „Das K. K . Hof burgtheater – Josef Kainz“. In Mosonmagyarovar am 2. Jänner 1858 als Sohn eines Liebhaberschauspielers und Eisenbahnbeamten geboren , widmete sich Josef Kainz schon mit 16 Jahren der Schauspielkunst und entwickelte an kleinen und großen Theatern seine moderne Interpretation in allen wichtigen Rollen. 1880 war er ans Hof- und Nationaltheater München gekommen und wurde zu Privatvorstellungen König Ludwigs II. befohlen. 1883 wurde er am deutschen Theater in Berlin zum Star. Der Regisseur Jürgen Feling sagte : „Er sprach als hätte er der Welt die Sprache gebracht wie Prometheus das Feuer , die Sprache wird in seinem Munde ein heiliges Element.“ Und Herbert Jhering schrieb : „Kainz 124

Hilfsarbeiter

sprach Blitze.“ Er stand in Berlin in 100 verschiedenen Rollen über 2. 000 Mal auf der Bühne. Ende 1899 holte ihn Direktor Max Burckhard ans ­Wiener Burgtheater. Hier spielte er alle großen Rollen , wurde Vorbild für viele Schauspieler und faszinierte viele Künstler seiner Zeit und darüber hinaus. Er starb mit 52 Jahren. Zu seinem 100. Geburtstag 1958 stiftete die Stadt ­Wien die Josef-Kainz-Medaille. Mit dem Nestroyring und dem Raimundring ging sie 2000 in den Nestroyring ein. Damit ist ­K ainz nestroyisiert ; aber denkt man daran ? Hilfsarbeiter

In der Tabakregie Die erste Staatsprüfung im Juni 1956 war leicht bestanden. Aber vorher musste ich noch die Prüfung durch die Stellungskommission „bestehen“. Wir 1937er waren ja der erste wehrpflichtige Jahrgang und im Frühling 1956 musste ich vor die Kommission. Ich berichtete , dass mein Großvater und mein Vater nachtblind gewesen seien und dass ich dies geerbt habe. Meine Augen wurden untersucht und man stellte eine Sehschwäche fest. Der behandelnde Arzt fragte mich , ob ich zum Bundesheer wolle. Ich verneinte und sagte , dass ich antimilitaristisch und für den Frieden erzogen worden sei. Ich sei gegen ein Heer überhaupt. Er war Kriegsteilnehmer gewesen , lächelte und sagte : „Ja , nie wieder Krieg ! “ Ich musste keinen Wehrdienst leisten. Das motivierte mich zu Sozialarbeiten und zur Übernahme öffent­l icher Funktionen. Ich wollte ja etwas für die Republik tun , aber nicht in Uniform und nicht mit Waffen. Die Frage blieb : Brauchen wir ein Heer ? Im Juni bewarb ich mich um eine Stelle als Hilfsarbeiter in der Austria Tabak Werke AG und wurde gleichzeitig vom Obmann des Betriebsrates als Nachhilfelehrer für seinen Sohn engagiert. Ich war von Eltern eines Nachhilfeschülers empfohlen 125

Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten

worden , nahm sofort an und blieb fast ein halbes Jahr Hilfs­ arbeiter und Nachhilfelehrer in der Thaliastraße im 16. Bezirk. Mit einer Gruppe anderer Studenten stellte ich mich in der Zentrale der Austria Tabak W ­ ien AG in der Porzellangasse vor , die Heimito von Doderer in der „Strudlhofstiege“ als Sitz des Amtsrates Melzer so schön beschreibt. Als ich in der Thaliastraße in das schöne Fabriksgebäude eintrat , umgab mich Duft von Tabak. Dieser Duft war in verschiedenen Varianten in fast allen Räumlichkeiten. Wie die anderen Studenten wurde ich der „Plattn“ zugeteilt. Das waren Hilfsarbeiter , die vor allem Lastwagen entladen und beladen mussten. Um 7.00 Uhr begann die Arbeit. Wir zogen unsere blaue Arbeitskleidung an und dann ging es zunächst einmal auf ein „Supperl“ in die Kantine. In der Küche herrschten einige mächtige Frauen , die von Arbeitern angesprochen und gezwickt wurden , so dass sie laut lachten , kreischten und schimpften. Nach dem Supperl ging es in den Keller , der geräumig und kühl als Aufenthaltsraum eingerichtet war. Manche tranken schon in der Früh Bier. Auf den Ruf „Gemma“ des Vorarbeiters , des „Masters“, ging es in den Hof. Dort mussten Lastwagen von Tabakballen entladen oder mit Zigaretten- und Zigarrenkisten beladen werden. Das musste ruck , zuck gehen. Diese Arbeit erforderte viel Kraft. Als Anfänger mussten wir erst mit den Greifern und Lorries umgehen lernen. Ein Kollege zeigte mir den jeweiligen „Vuateil“. Die Kraft hatte ich ja. Dann ging es wieder in den Keller , zu Bier und anderen Getränken. Das Rauf und Runter wiederholte sich , dann war Mittagszeit. Alles strömte in die Kantine , wieder zum „Supperl“. Die Kantine war wahrscheinlich der einzige Raum , der nicht von Tabakdüften durchzogen war. Da roch es sauer und darüber gelagert nach den jeweiligen Speisen. Das Essen war gut und reichhaltig. Nachher war Mittagspause. Manche tranken , manche schliefen , andere spielten Karten , die meisten plauderten. An den Nachmittagen arbeiteten wir in den großen sonnendurchschienenen Sälen der Fabrik. Wir mussten zusammenräu126

Hilfsarbeiter

men , kehren und reinigen. Arbeiterinnen waren vor allem mit dem Sortieren und Einordnen von Zigaretten beschäftigt. Die jüngeren waren hübsch. Unter dem Arbeitsgewand trugen sie nur Unterwäsche. Ein Student wurde beim Begrapschen einer Kollegin erwischt. Man entzog ihm das Deputat von 600 Zigaretten pro Monat. Einige Zeit später wurde er beim Schmusen und mehr in einem Aufzug erwischt. Er wurde fristlos entlassen. Um 16.30 ging es unter die Duschen und ins Dampf bad. Unsere Haut bekam Tabakstaub in die Poren , der nicht leicht mit bloßem Duschen zu beseitigen war. Wir rochen praktisch nach einem Rasierwasser , nach „Tabac“. Das Bad erfrischte. Glatt rasiert verließen wir die Fabrik. „Jetz’ san ma Beamte“ – Arbeiter und Studenten Kollege Fritzerl sagte oft beim Verlassen des Gebäudes in seinem schönen , grauen Anzug : „Jetzt san ma Beamte ! “ Er trug immer eine Aktentasche mit sich. Vorher mussten wir durch eine von einem Hofrat der Tabakregie eigens konstruierte Kontrollmaschine ; wurde man gestoppt , musste man in einen Raum gehen , wo man von oben nach unten gefilzt wurde , ob man nicht Zigaretten oder Zigarren mitgehen lassen wollte. Dann ging ich in meine Nachhilfestunden zum Sohn des Betriebsratsobmannes in eine Dienstwohnung im Fabrikskomplex und erhielt Nachtmahl und Honorar. So wurde ich doppelt bezahlt. Der Hilfsarbeiterlohn war relativ hoch und das Deputat von 600 Zigaretten ebenso. Insgesamt verdiente ich mehr als mein Vater als Mittelschulprofessor. Mit dem Arbeiter Karl schloss ich besondere Freundschaft. Er sagte oft , er werde einmal mein Chauffeur werden. Fast wäre es dazu gekommen , denn als ich in den 1980er-Jahren Landtagspräsident geworden war , stand mir ein Dienstauto mit Chauffeur zu. Durch Zufall traf ich meinen alten Freund Karl in der Politischen Akademie der ÖVP wieder. Aber er hatte sich schon eine höhere Position erarbeitet. 127

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Karl war in der schwarzen Gewerkschaft und klärte mich über die Rechte eines Betriebsrates auf. So verstand ich erst , wieso der Vater meines Schülers nicht arbeiten musste. Er war nach dem Betriebsrätegesetz vom Dienst freigestellt. Das hatten wir noch nicht im Studium gelernt. Ein besonders lieber Kollege war Franzi. Er war intelligent und gebildet , Sozialdemokrat , und hatte viele Bücher aus der Städtischen Bücherei gelesen. Er klärte mich über die Verstaatlichten Betriebe auf und erklärte mir , welche Vergünstigungen die Tabakregie für ihre Bediensteten eingerichtet hatte. Wenn Not am Mann war , meldete er sich freiwillig und ich ging mit ihm , auch wenn wir Fenster putzen oder Hof kehren mussten. Er war mein Vorbild. Die Arbeiter konnten uns Studenten gut leiden. Manchmal hänselten sie uns wegen unserer Ungeschicklichkeit. „Ja , ihr ­miasst’s immer den Vuateil lernen , donn geht’s , und den Vuateil learnt’s nua von uns , wonn’s des mocht’s , wos mia moch’n.“ Manchmal fanden sie es ungerecht , dass wir als Akademiker wahrscheinlich mehr verdienen würden als sie. Darauf sagte Kollege Fritzerl zum Wortführer der Unzufriedenen : „Hätt’st wos glernt ! “ Nach einigen Flaschen Bier kam es manchmal zu hitzigen Wortgefechten , bei denen wir Studenten uns zurückhielten. Zweimal gab es Raufhändel , aber da sprang der Vorarbeiter , ein kleiner , drahtiger Mann , unter die mächtigen Männer und trennte sie. Man hätte in den Wartezeiten auch etwas anderes tun können als Karten spielen , tratschen , Witze erzählen und Bier trinken. Aber wahrscheinlich hätten die Arbeiter das nicht gewollt. Zigarettenrauchen war mir während des Studiums und dem Durcharbeiten von ich weiß nicht wie vielen Kilos an Skripten zum Bedürfnis geworden. Manche Skripten rochen mehr , andere weniger nach Zigarettenrauch. Ein Paradoxon : Hier in der Tabakregie gewöhnte ich mir das Rauchen ab. Einerseits war ständig ein durchdringender Tabakgeruch in vielen Variationen vorhanden , andererseits war man immer wieder Passivraucher. 128

Hilfsarbeiter

In die Tabakregie war ich als Raucher gekommen. Als Nichtraucher verließ ich sie. Als 16-Jähriger hatte ich mir das Pfeifenrauchen angewöhnt : Ich habe heute noch den Tabak , den ich rauchte , „Revelation“, in der Nase. Ich glaube , es gibt ihn nicht mehr im Handel. Aber während des Studiums war mir das Pfeifestopfen und Reinigen zu umständlich geworden und daher zündete ich mir frei nach Juppi Heesters immer wieder „ein kleines Zigaretterl“ an. Im Berufsleben habe ich nie mehr Zigaretten geraucht. „Ich muss Schauspieler werden!“ Anfangs September 1956 stand mein Entschluss fest : Ich musste Schauspieler werden , ich musste die Aufnahmsprüfung in das Reinhardt-Seminar machen , ich musste ein Doppelstudium auf mich nehmen. In dieser Absicht wurde ich durch einen Kollegen bei der „Plattn“ bestärkt , der ein Privatschüler der Burgschauspielerin Annemarie Düringer war. Er spielt noch heute Theater nach einer Karriere in der Wirtschaftskammer. Ich kaufte mir ein Vorlesungsverzeichnis und informierte mich über die Hochschule für Musik und darstellende Kunst. Dann besprach ich mit Kammerschauspieler Eduard Volters , bei dem ich Unterricht nahm , die von mir ausgesuchten , zu sprechenden und zu spielenden Texte. Es waren dies die Todesszene aus Goethes „Egmont“, der große Monolog Dantons aus Büchners „Dantons Tod“, ein Dialog aus „Leonce und Lena“, die Rede des Weinberl an Christopherl in Nestroys „Einen Jux will er sich machen“ und Partien aus Hofmannsthals „Der Tor und der Tod“. Volters spuckte mich zum Abschied entsprechend der Tradition an und am nächsten Tag war ich inmitten einer Gruppe nervöser junger Menschen , die alle theaterbegeistert waren und sich zum Höchsten berufen glaubten : zu den Brettern , die die Welt bedeuten. Aus der großen Zahl wurde ausgewählt und ich konnte mich freuen , die Vorprüfung bestanden zu haben. Das Ganze fand auf der Bühne des Schönbrunner Schlosstheaters 129

Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten

statt , das jenen herrlichen Theatergeruch hat , den ich so gern seit den Besuchen in der Scala roch. In der Prüfungskommission saßen Direktor Niederführ , Vera Balser-Eberle , Fred Liewehr und Susi Nicoletti. Am nächsten Tag war die Hauptprüfung. Als ich mitten in der Todesszene des Egmont war , wurde die Prüfung abgebrochen und der Vorsitzende Niederführ sagte : „Danke , das genügt.“ Tags darauf erfuhr ich , dass ich nicht aufgenommen worden war. Tief bestürzt fragte ich , warum. Darauf sagte mir Niederführ : „Sie haben eine gute Stimme und e­ ine gute Gestalt für die Bühne. Sie könnten sofort in Klagenfurt oder St. Pölten den Egmont spielen. Aber wir haben bei Ihrem Auftritt aus den Unterlagen ersehen , dass Sie ja schon erfolgreich Jus studieren. Für uns gilt hier ein Entweder-oder. Sie haben bereits die erste Staatsprüfung gut abgelegt. Wir wollen ihrer Lauf bahn als Jurist nicht im Wege stehen.“ Ebenso äußerte sich Frau Balser-Eberle. „Sie werden sicher als Jurist eine große Karriere vor sich haben. Machen Sie zunächst ein Studium fertig und dann werden Sie sehen ! “ Ich war deprimiert , ein Traum war ausgeträumt. Denn ich konnte mir nicht vorstellen , noch nach Beendigung des Jusstudiums am Reinhardt-Seminar zu beginnen. Es hat sich auch anders gefügt. Meine Eltern trösteten mich ähnlich wie Niederführ und Balser-Eberle. Nach einigen Wochen war ich wieder „stabil“. In meinem Kreis von Theaterfans nahm man mich begeistert auf. Ich hatte auf einmal das Image eines Profischauspielers. Nachhilfelehrer

Seit meinem 12. Lebensjahr erteilte ich Nachhilfeunterricht. Mehrere Dutzend junge Menschen sind mir anvertraut worden. Sie gehörten unterschiedlichen Schichten an und wohnten in verschiedenen Gegenden ­Wiens. Am unterschiedlichsten waren die Gerüche der Wohnungen. In manchen roch es nach Mottenpulver und dieser Geruch legte sich über alles hin ; in anderen roch 130

Nachhilfelehrer

es nach Reinigungsmitteln und Bodenwachs ; manchmal nach ­einem Geruch von beiden. Ich erinnere mich auch an den Geruch alter Möbel und alter Mauern , die so rochen wie Landkirchen , wahrscheinlich wegen der Feuchtigkeit. Oft war es der Geruch von Speisen , die mehr oder weniger angenehme Assoziationen hervorriefen , oft auch der Geruch nach frisch gekochtem Bohnenkaffee , zu dem ich eingeladen wurde. Es gab auch undefinierbare Gerüche. Jede Wohnung roch anders. In keiner musste ich die Schuhe ausziehen , obwohl in manchen teure Teppiche lagen und der Parkettboden „heikel“ war. Der erste Vermittler von Schülerinnen und Schülern war mein Vater , der mich den Eltern seiner „Kinder“, wie er sagte , als möglichen Lehrer nannte , was von diesen begreiflicherweise gerne angenommen wurde. Später waren es meine Lehrerinnen und Lehrer im Rainer-( Elisabeth )-Gymnasium und Gymnasialdirektor Hofrat Večer vom Gymnasium Vereinsgasse im 2. Bezirk , die mir sogar über das Studium hinaus Nachhilfestunden vermittelten. Sie betrafen meistens Mathematik , Latein , Englisch und Deutsch , einige Male Leibesübungen und bildnerische Erziehung. In den sogenannten Hauptgegenständen war ich wegen meiner Geduld und Zeiteinteilung besonders gefragt und einige Male unterrichtete ich schon um 6 :30 Uhr. Meist ging ich in die betreffenden Wohnungen. Nach dem Tod meines Vaters unterrichtete ich häufig bei mir zu Hause , wobei ich die Schüler , wenn es notwendig war , in zwei Zimmern platzierte , zwischen denen ich , entsprechend den Aufgaben und dem Stoff , hin- und herging. Ich verlangte 20 Schilling pro Stunde , manchmal gab ich auch Stunden zum Gotteslohn. Fast immer waren es die Mütter , die mit mir über ihr Sorgenkind sprachen. Manchmal ging es auch um sehr gute Noten. Da strengte ich mich besonders an und lieferte selbst einige Male Hausaufgaben ab. Damit war freilich auch ein Risiko für mich verbunden. Meistens gelang es mir , ein „Sehr gut“ für die Schülerin oder den Schüler zu erlangen. 131

Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten

Besonders schwierig war die Betreuung von Schülerinnen und Schülern , die einen „Nachzipf “, also eine Wiederholungsprüfung über einen Gegenstand , nach den Ferien vor sich hatten. Da unterrichtete ich meist noch früher , sogar früher als das Haustor geöffnet wurde , vor 6 :00 Uhr. Da sprach ich auch sofort mit den zuständigen Lehrern , um das Ärgste zu verhindern. Bei manchen Mädchen saß die Mutter neben uns oder im Nebenzimmer , um zu kontrollieren , dass die Kommunikation nicht in Kontakt überging. Manchmal bekam ich nachher ein Frühstück oder eine Jause , die für die damalige Zeit üppig mit Käse , Wurst , Eiern , Fleisch und Fisch bestückt war , meist war es ein Butterbrot , wobei manche Damen es ein wenig mit Salz , andere ein wenig mit Zucker bestreuten ; an beides gewöhnte ich mich , ohne etwas anderes als Danke zu sagen , denn am liebsten esse ich Butterbrot pur. Manche Schüler und Schülerinnen hatten mich besonders gern und umarmten mich bei der Begrüßung. Natürlich bat ich sie , das zu unterlassen und es als Geheimnis unter uns zu belassen. Einmal verbarrikadierte sich ein Schüler im WC , hatte aber immerhin seinen „Cäsar“ mitgenommen , so dass ich ihm zumindest die aufgegebene Stelle vorübersetzen konnte. Ein anderer schimpfte über die Englischlehrerin , die ich aber gerade besonders gern hatte. Ich hörte mir seine Klage an , ging zur Lehrerin und es gelang mir , bei ihr eine andere Einstellung zu diesem Schüler zu erreichen und vice versa. Wenn der Mann und Vater am Abend nach Hause kam und ich noch da war , änderte sich die Atmosphäre. Sie wurde formeller. Die meisten Männer waren streng zu den Burschen und mild zu den Mädchen und sprachen dementsprechend zu mir. Getreu dem Satz meines Vaters , dass man über Kinder vor allem das Gute sagen soll , antwortete ich auf Fragen mit Hinweis auf die Stärken und erklärte die Schwächen. Einige Väter , hohe Richter und Verwaltungsbeamte , versprachen mir Rat und Hilfe nach dem Studium. Aber mit den Müttern allein sprach ich freier , leichter und länger. 132

Nachhilfelehrer

In fast allen Wohnungen waren alte Möbel , ich nannte sie altdeutsch , geradezu wuchtige „Nebenzimmer“, Eiche und Kaukasisch-Nuss ; es gab auch Jugendstilmöbel , formschön und elegant ; nur wenige hatten schon SW-Möbel. In fast allen gab es Klaviere , Flügel in großen Wohnungen , Pianinos in kleinen. Von Zeit zu Zeit dürfte ich die jungen Künstlerinnen und Künstler hören. Überall gab es Radiokästen , meist Eumigfünfröhrensuper , und Grammofone , aber erst in den späten Fünfzigerjahren Fernsehapparate. Bilder gab es nur wenige , und unter ihnen nur wenige gute , aber meist viele Fotos. Fast alle Wohnungen strahlten eine „angeräumte“ Gemütlichkeit aus und waren mit Grünpflanzen geschmückt , wenige mit frischen Schnittblumen. Die Häuser waren damals noch unverschlossen , so dass man gleich zu den Wohnungen gelangen konnte. Selbst Villen waren leicht zugänglich. Manchmal unterrichtete ich in Gärten und begrünten Innenhöfen. Am schönsten war der Unterricht im Strandbad Gänsehäufel. Dort war der Sohn des Inspektors mein Schüler. Die Gerüche der Bäume und des Wassers der Alten Donau waren zu jeder Jahreszeit ein Genuss. Das Gänsehäufel gehört zu den W ­ iener Paradiesen. Ein Schüler lebte im Sommer mit seinen Eltern in einer Kabane und da konnte ich in der Badehose unterrichten und zwischendurch schwimmen gehen. Am lustigsten war es, in den zweiten Bezirk zu einer Familie mit vielen Kindern zu kommen und dort gleich drei hintereinander und nebeneinander zu unterrichten. Zwar rannten dann die ganz kleinen noch durch die Zimmer , aber das Ganze war lebendig und ständig in Bewegung. Mit allen Schülerinnen und Schülern führte ich ein Einführungs- oder besser Einfühlungsgespräch , um sie näher kennenzulernen. Das war von mir für mich so genannt , um mich von Anfang an auf eine bestimmte Persönlichkeit zu konzentrieren. Dann fragte ich sie über ihre Lehrerinnen und Lehrer und empfahl ihnen , sie sympathisch zu finden und ihnen das auch zu zeigen. Meist gelang das , meist sprach ich auch mit ihnen. In Ma133

Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten

thematik erklärte und übte ich am laufenden Band , in Deutsch übte ich Rechtschreiben durch Diktate und las Dichtungen und gute Aufsätze vor – zur Nachahmung empfohlen , in Englisch sprach ich die ganze Zeit Englisch und las Texte vor , in Latein übte ich jede Stunde Grammatik in allen Variationen , geradezu militärisch. Die zu übersetzenden Texte lieferte ich mit grammatikalischen Erklärungen meist schriftlich. Natürlich hatte ich nicht immer Erfolge , aber fast immer hatten mich meine Zöglinge gern. Auch ich hatte sie gern. Als Lehrer muss man Kinder gern haben. Die zwei Jahrzehnte als Nachhilfelehrer waren das beste Training für mich als Universitätslehrer. Neben- und Gegenwelt CV

Der Tod des Vaters Gaudeamus igitur , iuvenes dum sumus ; post iucundam iuventutem , post molestam senectutem , nos habebit humus. Freuen wir uns also , solange wir jung sind ! Nach der fröhlichen Jugend , nach dem beschwerlichen Alter wird uns die Erde haben. Ubi sunt , qui ante nos in mundo fuere ? Vadite ad superos , vadite ad inferos , ubi iam fuere. Wo sind die , die vor uns auf der Welt waren ? Geht in die obere Welt , geht in die untere Welt , wo sie schon gewesen sind. Vita nostra brevis est , brevi finietur. Venit mors velociter , rapit nos atrociter , nemini parcetur. Unser Leben ist kurz , in kurzer Zeit ist es zu Ende. Schnell kommt der Tod , rafft uns grausam hinweg , niemand wird verschont.

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Vivat academia , vivat professores ! Vivat membrum quodlibet , vivant membra quaelibet , semper sint flore ! Hoch lebe die Universität , hoch leben die Professoren ! Hoch lebe jedes Mitglied , hoch leben alle Mitglieder , immer mögen sie gedeihen ! Vivant omnes virgines , faciles formosae , vivant et mulieres , tenerae , amabiles , bonae , speciosae. Es mögen leben alle Jung frauen , die freundlichen , schönen , es mögen auch die Frauen leben , die zarten , liebenswürdigen , guten. Vivat et res publica et qui illam regit , vivat nostra civitas , Maecenatum caritas , quae nos hic protegit. Hoch lebe auch die Republik und der , der sie leitet , hoch lebe unsere Gemeinschaft und die Großzügigkeit unserer Mäzene , die uns hier fördert. Pereat tristita , pereant osores , pereat diabolus , quivis anti burschius atque irrisores. Vergehen soll die Traurigkeit , vergehen alle Hasser , vergehen soll der Teufel , jeder , der gegen uns Burschen ist , und alle , die uns verhöhnen. ( Ich folge hier weitgehend der Übersetzung aus Wikipedia. ) Immer wenn ich das „Gaudeamus“ höre , erinnere ich mich an Hunderte akademischer Feiern , die ich an Universitäten des Inund Auslandes erlebt habe , an den Ruf des jeweiligen Präsidiums von vielen Kneipen und Kommersen : „Es steigt das erste Allgemeine“ und an besondere Events. Die vielen Erinnerungen sind wie Bilder aus einer Novelle Werner Bergengruens , Bilder aus einer vergangenen Zeit , Bilder aus einer anderen Welt. Im Jänner 1957 hatte mein Vater mehrere Schlaganfälle und starb , noch nicht 56 Jahre alt. Das war für unsere Familie ein harter Schlag. Sein Begräbnis auf dem Zentralfriedhof wurde 135

Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten

von seinen „Kindern“, seinen Schülerinnen und Schülern , und seiner Kollegenschaft feierlich gestaltet. „Rasch tritt der Tod den Menschen an ! “ Das Lied klingt mir noch im Ohr wie die Grabesrede seines ehemaligen Chefs. Ein Religionsprofessor der Schule , genannt „Gott 1“, hatte zwar von Reden am Grabe abgeraten , weil der Flugzeuglärm ( 1957 ! ) zu sehr störe , aber der Redner ließ sich nicht abhalten. Er sprach vom pädagogischen Eros und Ethos meines Vaters. Der Tod meines Vaters machte mir bewusst , wie sehr ich ein „Vatersohn“, vielleicht sogar ein „Vatersöhnchen“ war. Vati , der Biologe , hatte mich in die Natur eingeführt – Berge , Bäche , Bäume , Büsche , Blumen und – Bauern ; das waren seine Gegenwelten. Er hatte meine Begabungen und Neigungen gefördert und sich über meine Erfolge besonders gefreut. Er war von ­a llen Angehörigen am meisten auf mich stolz gewesen. Sein Tod traf mich mehr , als ich zugeben wollte. Jetzt war ich der einzige Mann in der Familie. Großmütter , Tanten , Mutter und Schwester , sechs Frauen und ein Mann. Aber noch nicht volljährig. Das war ein bisschen viel. Meine Mutter hatte nach dem Tod meines Vaters das Gefühl , von Ämtern und Behörden verfolgt zu werden , ihnen hilflos ausgesetzt zu sein , kurz : vollkommen allein zu sein. Aber ich konnte ihr viele Sorgen abnehmen. Ich besorgte alle Amtswege und Schreibarbeiten. Ich übernahm die Rolle meines Vaters und übernahm auch seine Kleidung. Ein Nachhilfeschüler war Schneider und bald trug ich die Anzüge und Mäntel meines Vaters. Alles musste freilich gekürzt werden , denn mein Vater war einen Kopf größer als ich. Ich war für zehn Jahre alt-neu eingekleidet. Nur weniges kaufte ich die nächsten Jahre , nur zwei Paar Schuhe , denn die des Vaters waren einige Nummern zu groß. Die Verwaltungswege nahmen viel Zeit in Anspruch. Stundenlang saß ich im Zentralbesoldungsamt im Palais Rottal in der Singerstraße im ersten Bezirk und hatte Zeit zum Nachdenken. Ab 1848 hatte es das von Leo Thun-Hohenstein geführte K. K . Ministerium für Cultus und Unterricht beherbergt. Erst 136

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nach dem Zweiten Weltkrieg war das Zentralbesoldungsamt in das Gebäude eingezogen. Heute ist es Sitz der Volksanwaltschaft und der Finanzprokuratur. 1955 war es in seiner Verwinkeltheit und Dunkelheit ein kafkaesker Komplex. Ich lernte die „kleinen“ Verwaltungsbediensteten kennen und schätzen. Und ich lernte meine Begabung kennen , mit Beamten gut umgehen zu können. Diese „Beamtenbegabung“ half mir auch im Finanzamt , im Stadtschulrat und in der Gewerkschaft , auch wenn dort hohe Funktionäre meine Gegenüber waren. Aber ich war als „Mann“ in der Familie und auch sonst allein. Einige Wochen nach dem Tod meines Vaters besuchte ich meine Großmutter , die Mutter meines Vaters. Ich trug eine von ­einem Schüler angefertigte Persianermütze. Meine Großmutter hielt mich für einen Ungarnflüchtling. Sie hörte sich gerade ihre Lieblingssendung „Ein Gruß an Dich“ an. Wir saßen im Wohnzimmer der ebenerdigen Einzimmerwohnung , Simmering­er Hauptstraße 3. Sie drehte das Radio ab , es war still , man hörte nur die Pendeluhr und dann und wann den 71er und Autos. „Der Radio hat schlechtes Wetter angsagt. Da is die Mütze gut ! “ Meine Großmutter weinte : „I muaß eam überleben ! Und du bist jetzt ganz allanich do ! “ Eintritt in den CV Wie bei der Wahl des Studiums waren Freunde , vor allem die Gebrüder Wychera maßgebend , dass ich dem Cartell-Verband ( ÖCV ) beitrat. Ich war weder bei der Katholischen Jugend noch beim Mittelschülerkartellverband ( M KV ) Mitglied gewesen und wusste auch nichts über die Konkurrenz zwischen diesen Katholischen Verbänden. Ich wusste sehr wenig über den CV , den Cartellverband der katholischen , nicht schlagenden , farbentragenden Studentenverbindungen. In meiner Verwandtschaft waren keine Akademiker außer meinem Vater , und der war ein Bergkamerad , 137

Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten

aber kein Cartellbruder. Er war ein Naturbursch und nicht ein Kneipbruder , wie er sagte. Er kritisierte den CV als Institution des Protektionismus und der Kerzelschluckerei. Ich vertraute meinen Schulfreunden : „Du musst heraus aus deinem Frauenverein , so viele Frauen tun kein gut“, sagten sie. „Komm zu uns ! Du hilfst auch ihnen , wenn du bei uns bist ! “ Im Verhältnis zu anderen Organisationen prüfte man bei der KÖHV ( Katholischen-Österreichischen Hochschulverbindung ) Franco-Bavaria die Eintretenden in Bezug auf Haltung und Verhalten. Gottfried und Robert Wychera stellten mir ein gutes Zeugnis aus. In der Folge musste ich Prüfungen ablegen , was ich später bei keiner anderen Organisation , auch nicht bei der Gewerkschaft oder bei der Österreichischen Volkspartei tun musste. Die Bude der Franco-Bavaria im Stadtzentrum in der Bankgasse 1 war „altertümlich“ und auch sonst „tümelnd“. Es gab alte , riesige , zum Teil schadhafte Lederfauteuils , in denen man auch gut schlafen konnte. Es roch nach altem Rauch von Zigaretten und Zigarren und verschüttetem Bier. Eine grün-goldblaue Fahne hing an der Wand , daneben ein großes Trinkhorn und ein kleiner Kopf von Engelbert Dollfuß. Teppiche , Vorhänge und Bilder gab es nicht , nur alte Fotos. Das Ganze war nüchtern , aber irgendwie gemütlich. Als meine Mutter einmal die Bude betrat , sprach sie von einer typischen Männerwirtschaft. Robert Wychera und sein Bruder Gottfried nahmen sich um mich brüderlich an und gaben sich große Mühe , mir den CVGeist zu vermitteln. Es gab viel zu lernen. So lernte ich zunächst im Schnellsiedeverfahren den Comment , das „Wie“, den Verhaltenskodex. Ich hatte ein Oben und Unten erwartet , aber nicht das allgemeine „Du“. Ich hatte mehr Trinken erwartet , aber Robert als Sportler trank wenig , Gottfried keinen Alkohol , sein Coleurname war Obi. Er war in jeder Hinsicht ein Vorbild , vor allem beim Studium. Er studierte auch Jus und informierte immer wieder über Eigenheiten der Prüfer. Wie Robert und ich war er im Rainergymnasium ( Elisabethgymnasium ) Schüler gewesen. 138

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Mein Fuchsmajor Fritz Kofler war ein erfahrener CVer und MKVer , der sehr gebildet war und Neuen in Politik , Kultur und

Geschichte meistens mehr beibrachte , als sie im Gymnasium mitbekommen hatten. Meine feierliche Aufnahme in die Verbindung fand am 27. Februar 1957 auf einer Kneipe im Keller des „Mitzko“ – so hieß das Restaurant Leupold in der Schottengasse unter Studierenden – statt. Ich hatte schon einmal eine Kneipe erlebt , diesmal war ich aber über die Mischung von Ordnung und Gemütlichkeit erstaunt. Es waren etwa 60 Männer aller Altersstufen im Lokal und es herrschte ein mittlerer Lärm. Robert stellte mich den anderen Bundesbrüdern vor. Anfangs fiel mir die Anpassung an die alten Formen einer katholischen Studentenverbindung nicht leicht. Aber nur zwei Semester später war ich schon gewähltes Mitglied des Chargenkabinetts , also der Regierung der Verbindung , als Schriftführer , und dann wurde ich Senior , also ihr Leiter. Nach der Trauerzeit wurde meine Studentenzeit eine Freudenzeit in der Familie. Meine Schwester wurde bald Couleurdame Franco Bavariae. Auf einmal waren Kränzchen , Bälle , Tanzkisten und Feste auf der Tagesordnung. Meine Mutter blühte auf , wenn sie sich ans Klavier setzte und mich zu den Studentenliedern begleitete , die sie noch aus dem elterlichen Wirtshaus , dem Simmeringer Brauhaus , kannte. Und sie spielte sogar die Schlager jener Zeit : „La Paloma“, „Das machen nur die Beine von Dolores“, „Capri-Fischer“, „Ein Lied aus Paris“, „Ghost Riders“, „Die Liebe ist ein seltsames Spiel“, „Du hast ja Tränen in den Augen“, „Eine Reise ins Glück“, „Auf Wiedersehen“, „Anuschka“, „Ganz Paris träumt von der Liebe“, „Ich will einen Cowboy als Mann“, „Lady Sunshine und Mister Moon“, „Pigalle“, „Rote Rosen , rote Lippen , roter Wein“, „Sugar Baby“, „Am Tag als der Regen kam“, „Café Oriental“, „Cindy , oh Cindy“, „Das alte Haus von Rocky Docky“, „Die Gitarre und das Meer“, „Gitarren klingen leise durch die Nacht“, „Ich zähle täglich meine Sorgen“, „Junge 139

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komm bald wieder“, „Lalelu“, „Marmorstein und Eisen bricht“, „Melancholie“, „Oh mein Papa“ … ich könnte die Liste fortsetzen. Alles und noch viel mehr konnte ich singen , allerdings immer nur die ersten Zeilen , und zum Teil kann ich es noch. Fuchs in der Franco-Bavaria Bald nach dem Eintritt in die FB wählte ich Manfred Scheich , vulgo Cicero , den späteren Botschafter Österreichs , zuletzt bei der EU , zum Leibburschen. Seine Modernität und die Offenheit , die er verbreitete , sprachen mich sehr an. Philistersenior war Gymnasialdirektor Arnold Večer , ein Original , Humanist und Pädagoge , Förderer der Jugend und Gewerkschaftsfunk­ tionär , der meinen Vater von den „Christlichen Gewerkschaftlern“ gut gekannt hatte. Nachdem er gehört hatte , dass ich als Coleurnamen Odysseus gewählt hatte , sprach er mich immer mit Ulixes an. Er war ja Lateinprofessor. Er war ein großer Redner , aber die Reden waren fast immer zu lang. Liebevoll gemeint sagten viele : „Kein Geplätscher ohne Večer.“ Als Philistersenior war er immer präsent. Aus beiden Tatsachen habe ich gelernt. Er wurde für mich ein Ersatzvater und ich besuchte ihn oft in seinem Direktorszimmer in der Vereinsgasse im zweiten Bezirk. Er kannte Gott und die Welt und sie kannten ihn. Und er vermittelte mir viele Schülerinnen und Schüler. Als Fuchs war ich zwei- bis dreimal in der Woche verpflichtet , auf der Bude und bei CV-Veranstaltungen präsent zu sein. Am Dienstag gab es einen Früh-Fuchsenconvent um 7.00 Uhr , am Mittwoch gab es das Farbentragen in der Universität und bei Kommersen und Festveranstaltungen anderer Verbindungen waren wir Füchse als „Bedeckung“ unserer Chargierten obligatorisch präsent. Diese Veranstaltungen dauerten manchmal bis in den nächsten Morgen und so betrachtete ich manchmal im Frühling mit Bundes- und Cartellbrüdern den Sonnenaufgang über W ­ ien. 140

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Außenstehende meinten , dass man beim CV nur trinken lerne. Das war ein Vorurteil. Wir lernten ganz andere Sachen : Viel europäische Geschichte , christliche Theologie , internationale Politik. Dafür sorgten schon der Senior Manfred Scheich , Consenior Viktor Wolf und der Fuchsmajor Fritz Kofler. Das Lernen begann mit den vier Prinzipien : „religio“ – das meint katholischen Glauben , „patria“ – das meint den selbstständigen Staat Österreich , „scientia“ – das meint Wissenschaft als unvoreingenommenes Streben nach Wahrheit und dementsprechende Verantwortung in der Gesellschaft , „ami­ citia“ – das meint Lebensfreundschaft der Mitglieder , Hilfsbereitschaft und Vertrauensvorschuss. Fritz Kofler ging ausführlich auf die vier Prinzipien ein. Im Rahmen des Prinzips „religio“ musste ich mehr lernen und wissen , als wir im Religionsunterricht im Gymnasium gelernt hatten. Sehr fromm führte mich Gottfried Wychera zu Einzelheiten der katholischen Religion. Dabei gab er mir die Zahl sieben zur besseren Merkbarkeit mit : sieben Sakramente , sieben Tugenden , sieben Gaben des Heiligen Geistes , sieben Todsünden. Leider gab es damals nicht so etwas Ähnliches wie Rahner /  Vorgrimler , Kleines Theologisches Wörterbuch. Es erschien erst 1961. Das Prinzip Lebensfreundschaft gehöre gelebt und nicht gelehrt. Es gehe vom grundsätzlichen Vertrauen untereinander und zueinander aus. Das Prinzip Wissenschaft behandelte Kofler in einer kritischen Betrachtung der österreichischen Universitäten. Vor allem kritisierte er den Mangel an Diskussion , den Mangel an Vielfalt und die Nicht-Heimholung der Emigrierten. Die CV-Verbindungen müssten in mancher Hinsicht die Universität ergänzen , in vieler Hinsicht aber auch ersetzen , vor allem im Hinblick auf Demokratie und politische Bildung. Beim Prinzip „patria“ mussten wir vor allem die österreichische Geschichte genau kennen , insbesondere den katholischen und CV-Widerstand gegen den Nationalsozialismus , die 141

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Gründung der ÖVP und den Weg zum Staatsvertrag. Schon im Gymnasium war ich im „Geist der Lagerstraße“ erzogen worden. Die Solidarität unter den KZ-Häftlingen und die Verständigung zwischen den ehemals verfeindeten politischen Lagern , den Roten und Schwarzen , wurde uns als der große Fortschritt der Zweiten Republik und als der große Unterschied zur Ersten Republik vermittelt. Das dritte Lager , also Deutschnationale und Großdeutsche , war davon natürlich nicht erfasst und wir bekamen eine Aversion gegen die „Nazis“ und auch gegen das „Deutsche“ mit. Diogenes war sehr belesen und unterstützte mich , als ich meine Bibliothek zu großen Teilen auf die Franco-Bayern-­Bude brachte und dort aufstellte. Auch er hatte die Stiasny-Bücher. „Das ist ,patria‘ “, sagte er. Genau unterrichtete er uns über die Verfassung des Cartellverbandes und unserer Verbindung. Dabei kam dem „Konvents­ prinzip“, wonach der Burschenkonvent oberste beratende und beschließende Versammlung der Verbindungen ist , besondere Bedeutung zu. Als ich Mitglied des Burschenkonvents wurde , erstaunte ich über die offene Diskussion der Punkte , die auf der Tagesordnung standen , aber noch mehr über die offene Diskussion der Konflikte , die nicht auf der Tagesordnung standen. Der „Du-Comment“ ist Ausdruck der „amicitia“. Dabei wird unter Mitgliedern der gleichen Verbindung mit „Bundesbruder“ kommuniziert , mit Angehörigen einer anderen Verbindung „Cartellbruder“. Nach einiger Zeit gewöhnte ich mich an das mir ungewohnte Grußritual , z. B. „Grüß dich Gott , lieber Alter Herr“ oder „Grüß dich Gott , lieber Herr Sektionsrat“. Großer Wert wurde auf die Vorbereitung von Veranstaltungen gelegt , insbesondere war dafür „Sorge zu tragen , dass stets jemand für den Empfang von Gästen und ihre Betreuung vorbereitet und verantwortlich ist , wobei Füchse zur Unterstützung beizugeben sind“. So wörtlich die maßgebende Regel. Jede Verbindung hat Farben als Symbol , die im Burschenband , im Wappen , an der Mütze , im Fahnentuch usw. getragen 142

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werden. Bei Franco-Bavaria ist das Burschenband grün-goldblau und das Fuchsenband grün-blau. Es wird unter dem Sakko über die rechte Schulter nach links getragen. Die Farbe der Mütze ist grün , und zwar ein helles Saatgrün ( Maigrün ). „Farbe tragen , heißt Farbe bekennen.“ Damit soll eine selbstbewusste Haltung verbunden sein. Man soll nicht „extra“ auffallen , sondern anständig aussehen und sich dementsprechend benehmen. Ein gewisses Understatement wurde uns empfohlen. Wir lernten , dass zum Couleur , also zu Band und Mütze , nur Anzug mit langer Hose und Krawatte getragen werden darf. Mein Pullover-Tragen musste ich mir abgewöhnen. Heute ist das längst anders. Auf der Straße sollten wir nicht rauchen und zum Couleur keinen Regenschirm tragen. Was die Reihungen bei einer Zusammenkunft betrifft , so solle das Taktgefühl entscheiden und im Zweifel sollte man anderen den Vorrang lassen. Zum Gruß war die Mütze abzunehmen und mit der linken Hand vor der Brust zu halten und die rechte Hand zum Gruße zu reichen , aber zu warten. Sitzplätze in öffentlichen Verkehrsmitteln sind für den Couleurstudenten nicht vorhanden. Besonderen Wert legte unser Fuchsmajor auf den Kirchenkomment und das Chargieren bei Gottesdiensten , Prozessionen und Begräbnisfeiern und die Regeln des Promotions- und Sponsionskomments auf den Universitäten. Von Anfang an wurde mir klar , dass wir mit den schlagenden Burschenschaften verwechselt wurden , und wir legten großen Wert auf die Abgrenzung : Besonderes Eintreten für Österreich und die österreichische Nation , katholisch sein , und zwar modern katholisch sein. Aber verschiedene Äußerlichkeiten wie die Gewandung , das Farbentragen , die Schläger werden immer zu Verwechslungen führen.

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Bursch und Senior der Franco-Bavaria An meine Burschenprüfung erinnere ich mich genau : Der Senior fragte mich über Staatsvertrag und Neutralität , über Annexions- und Okkupations-Theorie , der Consensior über soziale Marktwirtschaft und den Raab-Kamitz-Kurs und der Fuchsmajor wollte von mir viel über die Revolution 1848 und über 1918 wissen und einige Studentenlieder hören. An die Prozedur als solche kann ich mich weniger erinnern als an die Burschungen , die ich als Senior Franco Bavariae durchführte. Wenn ich die Bundesbrüder sehe , die unter mir geburscht wurden , kommen mir Jugend und Vergänglichkeit gleichzeitig in den Sinn : „Gaudeamus ! “ Ich bereitete diese Zeremonien immer sehr genau vor , besonders Sprüche und Reden , kommandierte als Präsidium laut und deutlich : „Silentium ! Zur Burschung steige der hehre Cantus : ,Alles schweige‘.“ Während der zweiten Strophe „Österreichs Söhne , laut ertöne , euer Vaterlandsgesang“ und so weiter holte der Fuchsmajor die Kandidaten vor zu mir , ich erteilte das Wort zur Burschungsrede und vor drei brennenden Kerzen sprach ich : „Gelobst du mir als dem derzeitigen Senior Franco Bavariae , stets treu zu den Farben der Verbindung zu stehen , an ihren Prinzipien unverbrüchlich festzuhalten , ihre Satzungen gewissenhaft zu beobachten , ihre Interessen nach Kräften zu fördern , Freud und Leid mit ihr zu teilen und einem jeden Mitglied wahrhaft Freund und Bruder zu sein , so gelobe es auf die Fahne Franco Bavariae ! “ Nachdem der Kandidat mit der rechten Hand die Fahne berührt und gesagt hatte „Ich gelobe ! “, setzte ich fort : „So nimm denn hin das grüngold-blaue Band Franco Bavariae , trage es in Ehren und bedenke , dass es dich für immer an unseren Bund kettet ! “ Dann legte ich ihm das Band um und sprach : „Treu dem Volke , treu dem Glauben sei dein Wahlspruch jetzt und immerdar ! “ Dann nahm ich den Schläger , schlug dreimal abwechselnd auf die linke und die rechte Schulter des Kandidaten und sprach : 144

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„Ego Manfried Welan , vulgo Odysseus , pro tempore Franco Bavariae senior , ex auctoritate et dignitate conventus , te Heribert T. vulgo Heri , bursarium nomino , nominatum declaro , declaratum proclamo ! “ Der Comment und das Rundherum machten mir nach ­einiger Zeit keine Schwierigkeiten mehr. Als Senior schlug ich gerne Kneipen und Kommerse und bereitete mich genau vor. Studentenverbindungen haben ein sogenanntes Farbenlied , musikalische Identitätssymbole. Franco-Bavaria hat ein eigenes Bundeslied mit vier Strophen , darüber hinaus eine Franco-Bavaria-Burschenstrophe und eine Fuchsenstrophe. In jüngerer Zeit kam die Europahymne zur Bundeshymne und zur ÖCV-Hymne dazu. Die Lieder freuten mich besonders , da ich gerne sang. Noch jetzt singe ich gerne privat „Oh alte Burschenherrlichkeit“. Eines meiner Lieblingslieder war das Lieblingslied meiner Mutter , das sie gerne auf dem Klavier spielte und mit lauter Stimme sang : „Der Sang ist verschollen der Wein ist verraucht , stumm irr ich und träumend umher …“

Ich hatte einen schönen Bassbariton und die Mutter eines Schülers , die Opernsängerin gewesen war , wollte mich zum Sänger ausbilden. Aber ich konnte nie nach Noten singen und mit dem Text hatte ich nach der ersten Strophe auch meist Schwierigkeiten. Den größten Spaß machte mir das Reden in der kleinen oder größeren Öffentlichkeit. Einmal musste ich mit einem Bundesbruder zum Alten Herrn Otto Habal , vulgo Großglockner , in den dritten Bezirk gehen und eine Mappe und Urkunde überbringen. Großglockner war ein begüterter Hausherr. Als wir in seine Wohnung kamen , bot er uns Brötchen und Budweiser Bier an und wir durften uns bei ihm in der Wohnung umsehen. Die Wohnung war wie eine Studentenbude eingerichtet. Sie sah so aus , wie man sich eine sol145

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che im 19. Jahrhundert vorstellt. Die Fenster waren Butzenscheiben , es gab viele alte Fotografien und Bilder und einen eigenen Veranstaltungsraum mit Wappen , Fahnen und Büsten. Ausgestellt waren Trinkhörner in Form einer Greifenklaue und riesiger Rindshörner , Kelchgläser , Zinnkrüge und Deckelpokale. Später holte er eine Weinflasche , goss uns Wein ein und dazu auch Wasser. „Jetzt trinken wir wie die alten Griechen ! “ Es war halbdunkel in der Wohnung und es roch nach Bier , Wein und nach alten Eichenmöbeln. Der Alte Herr hatte ­eine schöne Bibliothek und neben Bieren waren auch Weine und Schnäpse in seiner Bar , die sich mitten unter den Büchern befand. Nach weiteren zwei Achterln Veltliner , „Fluchtachterln“, wurden wir entlassen und auf der Straße kam es uns vor , als würden wir von einer altertümlichen Faustinszenierung in die heutige Zeit versetzt worden sein. Unser Verbands- und Verbindungsseelsorger Monsignore Friedrich „förderte“ mich jede Woche durch eine Einladung zum Mittagessen beim „Mitzko“, also im Restaurant Leupold. Diese Essen waren Symposien. Er war ein Barockmensch und ein Phänomen , was das Kennen der Personen seiner Zeit betraf. So kannte er meine Verwandten aus Platt bei Zellerndorf in Niederösterreich in mehreren Generationen. Es waren auch zwei Pfarrer dabei. Wir aßen beide gern und gut. Das Mahl endete regelmäßig um 15 Uhr , weil wir dann beide Termine hatten. Ich lernte viel , vielleicht zu viel über die katholische Kirche und die Schwächen unserer Politiker , auch über CVer. Es war getratschte Zeitgeschichte. Er gab mir den Rat , immer wieder Österreich zu diskutieren. So wählte ich als Senior für unser Semesterprogramm das Prinzip „patria“. Es war für mich „Prinzip Österreich“. Es ging mir um das spezifisch Österreichische in allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen. Damals gab es zwar schon den „Bockerer“, aber noch nicht den „Herrn Karl“. Aber das Problem Anpassung und Widerstand im Alltag war ein Dauerthema bei uns. Viele kritisierten die Generation unserer Väter wegen zu viel Anpas146

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sung und zu wenig Widerstand. Wie wären wir gewesen ? Wir wehrten uns vehement gegen Argumente , wie „Das versteht ihr nicht , weil ihr die Zeit nicht erlebt habt ! “ und „Das kann man nur aus der damaligen Zeit heraus verstehen“. Meine private Österreich-Bibliothek hatte ich an besonderen Stellen der Bude aufgestellt und bei den Brander- und Burschenprüfungen wurde von mir als Senior österreichischer Widerstand gegen die Nazis und österreichische Literatur gefragt , auch die nach 1945. Es gab Referate über österreichische und speziell ­Wiener Schulen in Wissenschaft und Kunst. Darauf legte ich besonderen Wert , da vieles vergessen worden war. Über die ­Wiener Medizinische Schule , die ­Wiener Rechtstheoretische Schule , die W ­ iener Schule der Nationalökonomie , der Kunstgeschichte und den „­Wiener Kreis“ gab es spezielle Diskussionen. Für die Meisten waren das weiße Flecken in ihrer Bildungslandschaft. Diese „unsere Schulen“ sollten viel mehr in unseren Schulen gelehrt werden. Es ist traurig , zu erleben , dass unsere Schüler nicht „österreichische Schulen“ kennen. Zu Beginn des Sommersemesters 1959 las ich zur Einstimmung des Semesterprogramms den Beginn von Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ und aus Zweigs „Die Welt von Gestern“ vor und wir diskutierten : Waren wir wieder eine „Welt von Gestern ? “ Waren wir durch die dauernde Neutralität ein „Land ohne Eigenschaften“ geworden ? „Austria , quo vadis ? “ bleibt aktuell. Experten behandelten das „Österreichische“ in Politik , Wirtschaft und Kultur. So sprach Günther Winkler leidenschaftlich über oder eigentlich gegen „Parteienstaat , Kammerstaat“. Er lieferte eine Kritik am österreichischen System , die Carl Schmitts Kritik am Pluralismus kaum nachstand. Erika Fischer , später Weinzierl-Fischer , eine große , schöne Frau , sprach über das Verhältnis von Kirche und Staat in Österreich und über die österreichischen Konkordate. Wir dis-

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kutierten immer wieder die Rolle der Kirche in den 30er- und 40er-Jahren und jetzt. Sie wurde überwiegend negativ kritisiert. Am 25. Jänner 1959 hatte Johannes XXIII. das Zweite Vatikanum angekündigt. Wir erwarteten damals noch viel mehr als dann später herauskam. Die Erwartungen blieben bei vielen von uns bis heute. Aufgrund vieler Erfahrungen habe ich mir aber in allen Bereichen allzu hohe Erwartungen abgewöhnt. Friedrich Heer begeisterte uns mit seinen Ideen zu Österreich. Als ich ihn besuchte , war ich weniger über das Chaos von Büchern , Zeitschriften und Papieren in seinem Zimmer erstaunt als über den großen blutenden Gekreuzigten , der über seinem Schreibtisch hing. Heer war in Eile , weil er zu e­ iner Gräfin Thun-Hohenstein gehen musste , schimpfte Funktionäre und Beamte „Arschkriecher und Schleimscheißer“. Ich hatte damals in Anspielung auf Osbornes Drama „Blick zurück im Zorn“ schon den Satz geprägt : „In Österreich gibt es mehr grantige alte Herren als zornige junge Männer.“ Heer war immer ein zorniger , und immer ein junger Mann und trotz seiner Widersprüche – oder vielleicht gerade deswegen – für viele von uns ein Idol. Auch für mich. Manfred Scheich sprach über das Verhältnis Österreichs zur EWG und EFTA und das Problem Südtirol. Er behandelte Zypern als Modell für Südtirol , was heute merkwürdig zu sein scheint , aber damals originell und aktuell war. Sektionschef Weikert vom Bundesministerium für Unterricht kam in Begleitung eines großen schlanken Mannes ; es war Universitätsdozent Plaschka , der 25 Jahre später als Rektor der Universität ­Wien mein Nachfolger als Präsident der Rektorenkonferenz wurde. Damals ging es um das Verhältnis Österreichs zum Ostblock und den dortigen Völkern. Der Ungarnaufstand 1956 hatte viele aufgeweckt. Wir halfen den flüchtenden Ungarn und suchten Kontakte im Ostblock. Besonders zu polnischen Katholiken fanden wir sie. Aus der damaligen „Arbeitsgemeinschaft Ost“ – eine Schöpfung Weikerts – wurde später das „Ost- und Südost-Europa-Institut“. 148

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Richard Plaschka sprach über die Dreißigerjahre , Dollfuß und Schuschnigg – ein besonderes Thema , da Dollfuß Mitglied und Funktionär der Franco-Bavaria gewesen war. Beide wurden von unseren Alten Herren leidenschaftlich verteidigt. Von der „Österreichischen Gesellschaft für Literatur“ – e­ ine weitere Schöpfung Weikerts – erhielt ich später durch Wolfgang Kraus Unterstützung. Ich durfte Fritz Hochwälder , Elias Canetti , Jean Améry und Marlen Haushofer persönlich kennenlernen. Sie war die Schwester meines Vorgängers als Rektor Rudolf Frauendorfer. Der Höhepunkt des Semesters war die Cartellvollversammlung in Baden ( CVV ), an der über mehr Öffnung und Offenheit diskutiert wurde. Damals roch es viel mehr als jetzt nach Schwefel-Kohlenstoff in Baden und das war für manchen Anlass für kritische Bemerkungen : Auch bei uns stinke manches. Alfred Strommer setzte als Vorortspräsident Neuerungen durch , insbesondere ein Zentralthema für jede CVV. Er hatte etwas Helles , Modernes an sich und war ein guter Politiker. Ein anderer Höhepunkt des Semesters war für mich die Führung durch die Wotruba-Ausstellung in der Galerie Würthle mit dessen Schüler Andreas Urteil. Er wurde für mich eine Offenbarung und ein Freund , der leider viel zu früh gestorben ist. Andere Höhepunkte waren unsere Theater- und Leseabende : Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“, Priestleys „Ein Inspektor kommt“, Rilkes „Cornet“ und „Duineser Elegien“, Hofmannsthals „Der Tor und der Tod“. Mein großer Partner in der Verbindung und darüber hinaus war Matthias Settele , profilierter Germanist und Rezitator , großer Pädagoge und Volksbildner. Eine bei den Burschenprüfungen immer wiederkehrende Frage war : „Was bedeutet O5 ? “ Dieses Kapitel über die österreichische Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus war für manche von uns die Herausforderung , zur Erinnerung O5 irgendwo hinzuschreiben. „Damit es nie vergessen wird.“ Sprayer gab es noch nicht.

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„Was bedeutet O5 ? “ Weiß man es heute ? Wir diskutierten oft über unseren Widerstand und die Opfer des National­sozialismus. Da hörte ich von Hans Karl Zeßner-Spitzenberg , der am 1. August 1938 im KZ Dachau an den Folgen von Misshandlungen durch die SS starb. Dass ich einmal sein Nachfolger als Professor für Recht an der BOKU sein würde , konnte ich natürlich nicht ahnen. Ein ganz besonderes Thema war : „Österreichisch“. Wir hatten einige Zeit „Unterrichtssprache“ in der Schule gelernt , warum nicht einfach „Österreichisch“ ? Aber da hätte man die Verfassung ändern müssen , nach der die deutsche Sprache die Staatssprache ist. Das alte Österreich kannte keinen solchen Verfassungsartikel. Brauchen wir heute noch den Artikel über die Staatssprache ? Eines unserer profiliertesten Mitglieder war Rechtsanwalt Dr. Gustav Steinbauer. Als ich zum Senior gewählt wurde , schenkte er mir sein Buch : „Ich war Verteidiger in Nürnberg“. Er hatte 1945 im Kriegsverbrecherprozess Arthur Seyß-Inquart zu verteidigen. Die Alliierten wollten dafür österreichische Landsleute haben. Als Gegner des Nationalsozialismus wusste Steinbauer , dass nur der Tod durch den Strang infrage kam. Er zeigte mir auch Teile des Urteils Österreich betreffend. Steinbauer erklärte mir auch das neue Strafrecht im Völkerrecht , insbesondere den Völkermord. Die Alliierten werteten die Okkupation Österreichs durch Hitlerdeutschland als kriegsmäßig , auch wenn die Bevölkerung für den Anschluss gewesen wäre. Das sei keine Rechtfertigung gewesen. Für mich ist der 13. März 1938 der Beginn des Zweiten Weltkrieges. Aber ist er nicht die Fortsetzung des Ersten ? Ich wurde „ein CVer meiner Zeit“ und habe mit anderen wie Hannes Aiginger , Wolfgang Aigner , Peter Diem , Bernhard Görg , Rudolf Gruber , Gerhard Hartmann , Othmar Huber , Thomas Klestil , Andreas Khol , Fritz Kofler , Manfred Leeb , Maximilian Liebmann , Hans Magenschab , Wolfgang Mantl , Ernst Wolfram Marboe , Peter Marboe , Herbert Markwitz , Rudolf 150

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Marschitz , Hans J. Marte , Peter Mayr , Werner Melis , Michael Metlich , Michael Mitterauer , Josef Müller-Fembeck , Heinrich Neisser , Ernst Pammer , Maximilian Pammer , Werner Perger , Elmar Puck , Herbert Schambeck , Helmuth Schattovits , Manfred Scheich , Engelbert Schragl , Heinrich Schuster , Matthias Settele , Herwig van Staa , Heribert Steinbauer , Fritz Steindl , Herbert Stickler , Alfred Strommer , Theodor Tomandl , Josef Taus , Werner Vogt , Wolfgang Ulrich , Leopold Wallner , Wendelin Weingartner , Heinz Wille , Norbert Wimmer , Heinrich Wohlmeyer , Viktor Wolf , Robert Wychera u. v. a. an Dutzenden von Diskussionen über die Zukunft des CV und Österreichs teilgenommen. Wir waren für eine neue Politik , für Reform der Demokratie , für Reform der Universität. Da wurden keine großen Reden über die Vergangenheit geschwungen , sondern Gespräche über die Zukunft Österreichs , Europas , der Universität , des CV etc. geführt. Ernst Wolfram Marboes Sager aus dieser Zeit : „Wir alle sollten Nestroys werden“, fällt mir immer wieder ein. Dieser Aus- und Aufruf passt immer. Was gab mir der CV? Er gab mir , der ich als Gymnasiast gerne Oscar Wilde zitiert hatte – „I am not a man of principles“ – durch seine Prinzipien eine Grundhaltung , die mich auch kritisch gegenüber der gesellschaftlichen Entwicklung werden ließ. „Er prägte dich , ohne dich zu definieren“, sagte ein Freund zu mir. Er vermittelte damals die Möglichkeit einer anderen Intellektualität als die der herrschenden Funktionäre. Er war zum Teil eine Art Gegenuniversität , jedenfalls aber eine diskutierende Nebenuniversität , die nicht Details und Spezialitäten , sondern Großes und Ganzes vermittelte. Hatte die Oberstufe des Gymnasiums wegen ihrer Universalität zu den schönsten Zeiten meines Schullebens gehört , so erfuhr ich mich im CV wieder neu und frisch als aufgeklärter Österreicher. Ein „aufgeklärter Patriotismus“ begeisterte uns. Diese Aufklärung hat 151

Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten

die Universität nicht vermittelt. Otto Mauer warnte uns freilich vor übertriebener „Österreicherei“: „Patriotische Gefühle enden , was die Kunst betrifft , bald in provinzieller Mentalität , Hinterwäldlertum und geistiger Enge , die sich mit Qualitätsblindheit paart. Qualität kann nur durch allseitigen Vergleich und Internationalität erkannt werden.“ Diese Internationalität fehlt dem offiziellen Österreich. Der Abzug der Alliierten wurde diesbezüglich nicht genutzt. Die Nationswerdung Österreichs durch die dauernde Neutralität hatte ihren Preis in einer immer deutlicher werdenden Provinzialität. Das hätte nicht sein müssen. Aber es war so. War es so ? Wir hielten und hörten Referate , bereiteten uns vor und sprachen vorher mit Fachleuten oder luden sie gleich ein. Ich habe im CV viel mehr Referate gehalten als in meinem ganzen Studium an der Universität. Zum Teil waren es sogar Themen aus dem Studium wie „Die Neutralität , das unbekannte Wesen“, „Recht und Gerechtigkeit“, „Wesen und Wert der Demokratie“, da war ich ganz Kelsenianer und plädierte für das Ideal der Führerlosigkeit , obwohl ich gern und gut als Senior ein kleiner Führer geworden war. „Wesen und Wert des Rechtsstaates“ war damals besonders aktuell , da die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aufgrund der Diktaturen und mit der Gegenwart aufgrund von Korruptionsfällen zur Auseinandersetzung zwang. Die Dollfuß- und Schuschnigg-Diktatur wurde immer wieder diskutiert , denn die beiden waren ja CVer gewesen. Es wurde manches kritisch gesehen , aber zu viel von den Alten gerechtfertigt. Es gab in dieser Diktatur auch rechtsstaatliche Elemente , aber eine rechtsstaatliche Diktatur gibt es meiner Einschätzung nach nicht. „Was steht im Staatsvertrag ? “ war ein notwendiges Thema , da der Inhalt ziemlich unbekannt war. Obwohl Österreich schon 1945 gerne der UNO beigetreten wäre , konnte der Beitritt erst nach Erreichung der wirklichen Souveränität erfolgen. Daher war auch die UNO zu diskutieren.

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Neben- und Gegenwelt CV

Was war die UNO ? Wir verstanden sie als ein Weltparlament , das allein geeignet ist , für den Weltfrieden zu sorgen. Bei den Brander- und Burschungsprüfungen wurden diese Themen auch gefragt , insbesondere aber auch Fragen der katholischen Kirche und des Verhältnisses des CV zu ihr. Wir wollten freier sein und nicht so sehr an Funktionäre der Amtskirche gebunden wie die Katholische Hochschuljugend. Von außen wurde der CV als Postenvermittlungsagentur , als Freunderlwirtschaft , als Vitamin P ( Protektion ) gesehen und auch wegen seiner Sauferei und Männerbündelei kritisiert. Das alles gab es auch. Er erfüllte aber vor allem die Aufgabe , junge Männer ins schwarze Lager zu „integrieren“ und Burschen vom Lande in ­Wien zu „sozialisieren“. Laut den Satzungen waren ihm parteipolitische Bestrebungen fern , aber er platzierte in die und in der Politik. Alle Bundeskanzler und viele führende schwarze Politiker waren damals CVer. Das galt auch für die höhere Beamtenschaft im Bund , in den Ländern und Verbänden , in Selbstverwaltungen und verstaatlichten Bereichen. Zwischen 1959 und 1961 gehörten von den höchsten Repräsentanten der Verfassungsorgane Österreichs drei allein der katholischen Akademischen Verbindung Norica an : Raab als Bundeskanzler , Figl als Nationalratspräsident , Antoniolli als Präsident des Verfassungsgerichtshofes. Die 50er-Jahre waren die Blütezeit des CV und jeder neunte Student war CVer. Der CV bot mir eine praktische Aufklärung und Übung in der Politik im Kleinen. Ich habe gelernt , uneigennützig für andere tätig zu sein , zu veranlassen und zu führen. Es war mir schon in der Schule klar , dass solche Organisationen vorhanden sein müssen , damit eine Demokratie lebendig ist und etwas weitergeht. Aber als ( ein- )gebildeter Individualist hatte ich noch lange nicht den „appetitus socialis“ gehabt , den man für eine solche Gemeinschaft braucht. Als Jahrgang 1937 war ich Teil der von mir so genannten „Staatsgeneration“. Durch das Studium und den CV wurde ich zum „Staatsfreund“. Diesen Begriff habe ich vom Politologen 153

Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten

Dolf Sternberger und dieser hat ihn von Schiller. Staat war für mich der demokratische Rechtsstaat , die demokratische Repu­ blik. Ich wurde gern Amtsträger und übte Ämter gerne aus. Dazu hat der CV wesentlich beigetragen. Schon in der Schule hatte ich gelernt , eine kleine Gemeinschaft zu führen und dafür Verantwortung nach mehreren Seiten zu tragen. Im CV lernte ich das noch mehr sowie Selbstdisziplin und Selbstorganisation im Alltag. Dieses Engagement verlangte viel Zeit und manche Zeit für die Uni ging verloren. Aber ich lernte viel. Ein alter Herr schrie einmal während einer lauten Diskussion über Sinn und Zweck des CV : „Euch fehlt das Raufen ! “ Aber diese „Streitkultur“ wollten wir Jungen nicht. Wir wollten Diskussion , die an der Uni fehlte. Was an der Juridischen Fakultät W ­ ien unausgesprochene Maxime war , nämlich reden , reden , nicht widersprechen , war im CV , zumindest in den Verbindungen , die ich kennenlernte , ins Gegenteil umgewandelt : Das Motto war reden und widersprechen , Argumentation , Diskussion. Mein Consenior Fritz Steindl war in dieser Hinsicht geradezu ein Herold. Bei jedem Treffen , bei jeder Sitzung , bei jeder Veranstaltung , ja , wo es nur irgend möglich war , war er der Herold , der zur Diskussion aufrief , ermunterte und ermutigte. Leider ist er viel zu früh gestorben. Das Verbindungsleben in den 50er- und 60er-Jahren war ein hervorragendes Training für das Parteileben. Die demokratische Struktur der Verbindungen mit Konvents- , Kabinettsund Obmannverfassung , die Suche , Vorbereitung und Schulung neuer Mitglieder , Umgang mit formellen und informellen Spielregeln , die Präsenz- und Mitarbeitspflicht , Diskussion , Programmerstellung , Veranlassen , Entscheiden – das alles gehört ja zur Politik. Was ich im CV praktisch im Detail und konkret lernte , war das Vorbereiten und Vorberaten von Sitzungen und Entscheidungen , die Suche nach guten Kandidaten für Ämter , die Durchführung von Wahlen und Abstimmungen , das Leiten von Kollegien , das Handhaben von Geschäftsordnungen und Tagesordnungen , das 154

Neben- und Gegenwelt CV

Erstellen von Programmen und Tagesordnungen , Team- und Paktfähigkeit , vor allem Verhandeln , Entscheiden , Veranlassen. Den Wert von Satzungen , Geschäftsordnungen , Redeordnungen mit Antragsstellung und Abstimmung habe ich in meiner Verbindung für mein ganzes Leben mitbekommen. In allen Organisationen und Institutionen haben mir diese Erfahrungen genutzt und geholfen , auch an der Universität und in der Rektorenkonferenz , insbesondere in der Bundeshauptstadt Wien. Das Thema CV und Demokratie wird , wie in Österreich üblich , je nach parteipolitischer Nähe unterschiedlich gesehen. Die Bedeutung für die Politik , zumindest in früherer Zeit , ist unbestritten. Immer war der CV auch ein „Old Boys Network“. Als Junge haben wir manches daran kritisiert , vor allem wenn es zu Protektion ohne Leistung kam. Die Frauenfrage hat der CV bis jetzt nicht zeitgemäß gelöst. Wir haben es versucht. Das traditionelle Lebensphasenmodell hat sich freilich schon längst verändert ; das „Old Boys Network“ ist weitgehend einem „New Media Network“ gewichen. In der ÖCV-Satzung meiner Zeit hieß es : „Parteipolitische Bestrebungen liegen dem CV fern.“ Heute heißt es unter Politik : „Der ÖCV tritt für Freiheit , Recht und Menschenwürde ein , parteipolitisch ist er nicht gebunden.“ Über die frühere Formulierung gab es viele Diskussionen. Die heutige ist besser , aber der CV ist ja längst nicht mehr die große , geradezu monopolistische Vorfeldorganisation der ÖVP. Prominente CVer aus meiner Zeit – Eduard Chaloupka (1902–1967) und Friedrich Heer (1916–1983) Beide waren Mitglieder der Katholisch-Akademischen Verbindung Bajuvaria. Heer kannte ich schon als Gymnasiast , weil er in meiner Nähe wohnte und ich mit Leidenschaft seine „Europäische Geistesgeschichte“ las. Bei der Matura zitierte ich daraus , worauf der Vorsitzende so reagierte : „Sehen Sie , meine Herren , so was kommt vom Heer.“ 155

Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten

Geboren 1902 in ­Wien , trat Eduard Chaloupka nach Absolvierung des Jusstudiums 1927 in den niederösterreichischen Landesdienst ein und wurde Referent in der Armenfürsorge. Seit 1934 war er im neu geschaffenen Bundeskommissariat für Personalwesen im Bundeskanzleramt tätig. Nach der Besetzung Österreichs durch das Deutsche Reich 1938 wurde er mehrmals verhaftet und aus dem Staatsdienst entlassen. Er hatte Kontakte zu Widerstandsgruppen und war in der Arbeit gegen die Nationalsozialisten tätig. 1945 wurde er wieder in den Bundesdienst übernommen. Seit 1946 war er Präsidialchef , von 1947 bis zu seinem Tod Sektionschef im Bundeskanzleramt. 1920 hatte er mit anderen die Katholisch-Akademische Verbindung Bajuvaria gegründet , die 1923 in den CV aufgenommen wurde. 1952 wurde er Vorsitzender des ÖCV-Beirates und blieb es bis zu seinem Tod 1967. Wie Gerhard Hartmann in seinem Buch „Der CV in Österreich“, 2. Aufl. 1994 , S. 142 , ausführt , wurde unter Chaloupka die Funktion des Vorsitzenden des „ÖCV-Beirates“ zur Funktion eines „Vorsitzenden des ÖCV “. „Durch seine 20-jährige Funktion als Präsidial-Sektionschef des Bundeskanzleramtes stellte er die Klammer zwischen politischer Führung , Beamtenschaft und ÖCV her.“ Er war der Mächtigste in der „Republik der Mandarine“, mächtig vor allem durch seine umfassenden Kontakte. Er war der Supersektionschef , stand im Hintergrund und zog die Fäden. Sein Cäsarenkopf vermittelte Autorität und Stabilität , im Gespräch und privat war er durchaus gemütlich. Als Prüfer bei Staats- und Beamtenprüfungen war er ungemütlich. Ich selbst habe als junger Jurist einige Beamte für Dienstprüfungen vorbereitet und wusste um seine Strenge. Er war autoritär und das äußerte sich auch darin , dass in der Verbands-Zeitschrift „Academia“ nichts ohne seine Zustimmung erscheinen sollte. Die Bajuvarenbude in der Naglergasse 13 erhielt nach ihm den Namen „Dr.-Eduard-Chaloupka-Bude“. Bekannte Mitglieder der Verbindung waren Bundespräsident Klestil , Bundesmi156

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nister Franz Korinek , der Leiter der Bundestheaterverwaltung Ernst Marboe , dem wir das „Österreich-Buch“ ( 1948 ) und vieles vom Film „April 2000“ ( 1952 ) verdanken und seine Söhne. Auch der Verfasser der wichtigsten Bücher über den ÖCV , der Historiker Gerhard Hartmann , ist Bajuvare. Der von mir so genannte Austrohumanist Friedrich Heer war auch Bajuvare. Er war einer der belesensten Menschen , die ich kennengelernt habe , ein doppelter Buchmensch : Als Leser und als Schreiber von Büchern. Neben seinen geisteswissenschaftlichen Studien schrieb er auch Romane und aktuelle Beiträge. Von seinen Werken sollen hier nur die „Europäische Geistesgeschichte“, ­Wien 1953 – ein Buch , das mich schon als Gymnasiast begeistert –, „Land im Strom der Zeit“, ­Wien 1958 , „Europa – Mutter der Revolutionen“, W ­ ien 1964 , „Der Glaube des Adolf Hitler“, ­Wien 1968 , „Kreuzzüge – gestern , heute , morgen ? “, ­Wien 1969 , seine Auseinandersetzungen mit dem Antisemitismus in „Gottes erste Liebe“, W ­ ien 1976 , und „Der Kampf um die österreichische Identität“, ­Wien 1981 , hervorgehoben werden. „Das Wagnis der schöpferischen Vernunft“, W ­ ien 1977 , nannte er sein „geistiges Testament“. Heers Bemühungen um ein Ordinariat an der W ­ iener Universität hatten aufgrund der konservativen Einstellung der Fakultät und der des Bundesministers Drimmel keine Chance. Von den Biografien über ihn sei jene von Evelyn Adunka , „Friedrich Heer 1916–1983. Eine intellektuelle Biographie.“ Innsbruck /  ­Wien , 1995 , genannt. Heer war ein lebhaften Gesprächspartner. Im Gespräch explodierte sein ungeheures Wissen von Zeit zu Zeit in neuen Einfällen und Ideen. Er war ein „Herzwiener“ und der größte „Österreicher“, den ich kennenlernte. Er war immer Schriftsteller , 1948 bis 1961 war er Redakteur der katholischen Wochenzeitschrift „Die Furche“. Dann wurde er Leiter der Dramaturgie am Burgtheater und blieb dies bis 1971. 1971–1981 war er dort „Leiter des Sekretariates für kultu-

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Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten

relle Angelegenheiten und internationale Kontakte“. Das blieb er auch nach seiner Pensionierung 1981 als „Konsulent“. Auf dem ­Wiener Zentralfriedhof hat er ein Ehrengrab. Er soll ein Ehre-Lebender bleiben. Zwei weitere prominente CVer aus meiner Zeit – Heinrich Drimmel (1912–1991) und Wilfried Daim (geb. 1923) Heinrich Drimmel und Friedrich Heer waren die markantesten intellektuellen Persönlichkeiten des CV zu meiner Zeit. Dieser war als Linkskatholik und Sucher nach der österreichischen Identität der Prominenteste , jener war als Rechtskonservativer und führender Politiker der ÖVP noch prominenter. Während Heer vor allem für das Gespräch der ehemaligen roten und schwarzen Bürgerkriegsparteien eintrat , bedauerte Drimmel , der Mitglied der Katholischen Österreichischen Studentenverbindung Nordgau war , dass es die in der Ära des Bundeskanzlers Ignaz Seipel gelungene politische Allianz der Christlichsozialen und Deutsch-Nationalen nicht mehr gab. Trotzdem war er in der Praxis ein konsequenter Vertreter der großen Koalition und stand in der Tradition Julius Raabs und Leopold Figls. Innerhalb der ÖVP war er Gegner der auf Modernisierung ausgerichteten Gruppe der „Reformer“ um Josef Klaus und Hermann Withalm. Drimmel war sehr gebildet und belesen , er war auch ein Buchmensch wie Heer , der sowohl viel las als auch viel schrieb. Angeblich haben er und Kreisky sogar während der Regierungssitzungen Bücher gelesen , sozusagen unter der Bank. Von Drimmels Werken sollen hier nur „Die Häuser meines Lebens. Erinnerungen eines Engagierten“, W ­ ien 1975 , „Gott sei uns gnädig. Die Welt von Josef Stalin bis Jimmy Carter“, W ­ ien 1980 , „Franz von Österreich , Kaiser des Biedermeier“, W ­ ien 1982 , „Österreich 1918–38“, W ­ ien 1985–87 , und „Franz Joseph – Biographie einer Epoche“, W ­ ien 1992 , hervorgehoben werden.

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Über Heinrich Drimmel existiert bislang keine große Biografie ; es soll hier auf Helmut Wohnout , „Heinrich Drimmel. Skizzen zur Biographie eines Homo Politicus“ ( „ Demokratie und Geschichte“, Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der Christlichen Demokratie , Jahrgang 9/10 , 2005/2006 , ­Wien /  Köln /  Weimar 2007 , S.  65 ff. ) verwiesen werden. Drimmel war schon in den 30er-Jahren im Hochschulwesen tätig gewesen und wurde bald nach 1945 in der Unterrichtsverwaltung tätig. Er war langjähriger Sekretär des Unterrichtsministers Hurdes. 1954 wurde er selbst Bundesminister und blieb es 10 Jahre lang. Er hatte große Erfolge : 1962 führte er die größte Schulreform der Republik durch , der Abschluss eines Konkordats mit der katholischen Kirche wurde durch ihn möglich und unter ihm wurde nicht nur ein neues Hochschulrecht geschaffen , es wurden auch mehrere Universitäten gegründet. Das alles in Kompromissen mit dem sozialistischen Koalitionspartner. Drimmel war konservativ , zum Teil reaktionär , und skeptisch bis abweisend zu Positivisten , Linkskatholiken und Linken. Seine Personalbefugnisse übte er in diesem Sinne konsequent aus. Im Herbst 1963 war er mit dem früheren Finanzminister und Landeshauptmann von Salzburg Josef Klaus zur Wahl des Parteiobmannes der ÖVP angetreten , verlor aber und ging als Politiker nach W ­ ien. Er wurde Amtsführender Stadtrat , Landeshauptmann-Stellvertreter , Vizebürgermeister , auch Präsident des Österreichischen Olympischen Komitees. 1970 zog er sich nach einer Niederlage der Rathaus-ÖVP von der Politik zurück und übernahm im Unterrichtsministerium die Agenden der Geistigen Landesverteidigung. Die weiteren gesellschaftlichen Entwicklungen , die umfassenden Reformbestrebungen , der Ost-West-Konflikt , der seiner Ansicht zur Unterordnung aller Lebensbereiche in der westlichen Welt unter die Lebensgrundsätze des „American Way of Life“ führe , ließen ihn sich in eine Form der inneren Emigration zurückzie-

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Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten

hen. In dieser Zeit konnte er sein großes Wissen und sein politisches Denken in vielen Werken verwirklichen. Für mich war Drimmel eine tragische Figur. Dabei war er im privaten Leben als bürgerlicher Mensch und Christ im urbanen Milieu der Bundeshauptstadt W ­ ien zu Hause und ein echter W ­ iener , der gern beim Heurigen eine Stelze aß , und zwar eine Ganze. Als die ÖVP 1987 in W ­ ien Mandate verlor , besuchte er den Klub und stellte mir gegenüber seufzend fest : „Wie in den frühen Dreißigerjahren.“ Er meinte damit den Aufstieg des Dritten Lagers. Als Gymnasiast erlebte ich ihn zusammen mit Bruno Kreisky als Redner. Ich war von seiner Rhetorik , die an Kammerschauspieler Fred Liewehr erinnerte und von seiner Polemik gegen den Amerikanismus des „Bigger and Better“ begeistert. Dagegen fiel der damals stockend und doch rasch sprechende Bruno Kreisky geradezu ab. Er hatte einen Anzug an , der mit seinen geraden Schultern an einen russischen Diplomaten erinnerte und duftete nach „4711“. Er war aber ein großer „Lernender“ und wurde in der Folge der große Sieger der politischen Auseinandersetzungen und der große Staatsmann unserer Republik , während Drimmel Niederlagen hinnehmen musste und Privatmann wurde. Er war der letzte große Konservative der ÖVP. In der Nähe des Zweiten Tores hat er ein Ehrengrab auf dem ­Wiener Zentralfriedhof. Wilfried Daim ist Mitglied der K. Ö. St. V. Rudolfina W ­ ien. 1923 in ­Wien geboren , beteiligte er sich 1940 bis 1945 in einer katholischen Jugendgruppe am Widerstand gegen die Nationalsozialisten. Der Einmarsch der deutschen Truppen im März 1938 war für ihn eine Katastrophe gewesen. Früh widmete er sich dem Themenbereich Psychologie und Glaube. 1956 gründete er ein „Institut für politische Psychologie“. In dieser Zeit lernte ich ihn kennen und wollte ihn in die Verbindung Franco-Bavaria einladen , aber es kam nicht dazu. Sein Buch „Der Mann , der Hitler die Ideen gab“, wurde oft von uns diskutiert. Es setzt sich mit dem Rassisten und Esote160

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riker Jörg Lanz von Liebenfels auseinander und ist 2013 wieder aufgelegt worden. Sein großes Werk „Kastenlose Gesellschaft“ ( 1960 ) enthielt die These , dass hinter ökonomischen und sozialen Gegensätzen Vorurteilsstrukturen zwischen Angehörigen verschiedener Gruppen stehen. Daims mit Knoll und Heer herausgegebenes Buch „Kirche und Zukunft“, 1963 , nahm vieles vom Zweiten Vatikanischen Konzil vorweg. Später wurde er zusammen mit Günther Nenning führend beim Volksbegehren zur Abschaffung des Bundesheeres. Er hat rund zwei Dutzend Bücher verfasst , die ihn weit über Österreich bekannt machten. Nachdem er sich intensiv mit der Kunst der Zwischenkriegszeit in Österreich beschäftigt hatte , wurde er Entdecker des Malers Franz Probst ( 1903–1980 ). Mit mir sprach er immer wieder über die „Österreichische Nation“. Ich wollte ein Buch darüber schreiben , der Historiker Ernst Bruckmüller hat es wirklich geschrieben und es ist mit großem Erfolg erschienen. Daims Sager „Wir haben nur die Wahl zwischen Sinnlosigkeit des Seelenlebens und psychologischem Gottesbeweis“ korrespondiert mit seiner grundsätzlichen Feststellung , dass die zentrale Potenz des Menschen die Fähigkeit der Kommunikation mit Gott ist. Daims Fröhlichkeit , sein Lachen und sein Aufden-Schenkel-Schlagen prägten sich mir ein. Als Psychologe , Psychotherapeut , politischer Schriftsteller und Kunstsammler gehört Wilfried Daim zur CV-Prominenz besonderer Art. Sein Biograf Peter Diem nennt ihn einen „Querdenker zwischen Rot und Schwarz“. Ich nenne ihn auch einen Austrohumanisten. Resümee Die vier genannten CVer personifizierten seine Bandbreite im wahrsten Sinne des Wortes und die intellektuelle und menschliche Spannweite des ÖCV zu meiner Zeit. Ich selbst war mehr „heerisch“ als „drimmelig“, mehr „daimlich“ als „chaloupkisch“. 161

Teil 2 – Gegenwelten und Nebenwelten

Aber je mehr ich von Drimmel erfuhr , desto mehr respektierte ich ihn. Heer und Chaloupka gehörten derselben Verbindung , nämlich der Bajuvaria , an. Leider ist Heer , meines Erachtens infolge eines Missverständnisses seinerseits , dimittiert worden. Diese vier großen Persönlichkeiten ließen sich ergänzen , so zum Beispiel durch Leopold Figl , Julius Raab , Felix Hurdes , Alfred Maleta , Walter Antoniolli und August Maria Knoll , die schon als Lehrer von mir dargestellt worden sind. Damit komme ich zu meiner Generation und frage : Wer unter den heutigen 30-Jährigen schreibt , wie Peter Diem und Heinrich Neisser es 1969 machten , ein Buch „Zeit zur Reform“ ? Ein Buch , das in vieler Hinsicht aktuell geblieben ist.

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Teil 3 – Unsere Generation: die Engagierten „Österreich“-, „Staats“- und „Europa“-Generation

Ich gehöre einer Generation an , die man „Staatsgeneration“ bezeichnen kann. Wir haben die Entstehung und Entwicklung der Zweiten Republik in jungen und reifen Jahren erlebt und mitgetragen. Wir sind von der Jugend bis ins Alter eine engagierte Generation. Der 1936 geborene Biochemiker Gottfried Schatz bezeichnet unsere Generation als eine „Generation ohne Eigenschaften“. Er schreibt : „Die drei Generationen vor mir hatten entweder eine glänzende Kultur geschaffen , Revolution ausgerufen , Bürgerkriege geführt , scheußliche Verbrechen begangen , unsagbares Leid erlitten oder nach Kriegsende über unsere Köpfe hinweg ein vereintes Europa begründet. Die Generation nach mir wollte es bereits meinen britischen und französischen Altersgenossen gleichtun , die im Überschwang des Sieges ihre Länder in soziale Utopias verwandeln wollten. Meine Generation kann mit nichts dergleichen aufwarten. Wir sind die Generation ohne Eigenschaften.“ Das glaube ich nicht. Wir wurden eine Generation mit vielen , ja für junge Menschen vielleicht zu vielen Erfahrungen und Informationen. Wir wurden und waren die junge Zweite Republik. Wir sind mit ihr gewachsen und sind mit ihr reif geworden. Wir sind die alt gewordene Zweite Republik. Zunächst waren wir Kinder , die den Krieg erlebt hatten. 1945 hatte ich schon im Winter auf Frieden gehofft. Alle Menschen meiner Umgebung wussten , dass der Krieg für Deutschland verloren war. Im April war es so weit : Frühling , Frieden , Freiheit. Zeitschriften mit vielen KZ-Fotos. Berge von toten nackten , ausgemergelten Körpern. Das war ein Schock. Ich 163

Teil 3 – Unsere Generation: die Engagierten

hatte bis jetzt weder Nackte noch Tote gesehen und nun waren hier Hunderte , Tausende … Diese Fotos machten mir klar , was Nationalsozialismus war. Die Shoa ist die Memoria passionis , die mir im Laufe der Zeit immer größer geworden ist : Durch Wissen mitleidend , durch Mitleid wissend. Dann kam der Sommer von Hiroshima und Nagasaki. Wieder wurde ich mit dem Furchtbaren konfrontiert. Wieder sah ich Bilder des Grauens. Der Kampf gegen die Atombombe darf nicht zu Ende gehen. Günther Anders und Robert Jungk sind Austrohumanisten besonderer Prägung. Ein russisches Sprichwort sagt : „An der Vergangenheit rühren – ein Auge verlieren. Vergangenes vergessen , beide Augen verlieren.“ Als Kind war ich geschockt , als Jugendlicher suchte ich nach Schuldigen , als Erwachsener nahm ich immer wieder Stellung , als Alter weiß ich , dass der Kampf gegen das Vergessen nie zu Ende gehen darf … Nach W ­ ien von unserer Evakuierung in Grundlsee 1946 zurückgekommen , lernte ich nach „Deutschland , Deutschland über alles“ die Hymne „Brüder reicht die Hand zum Bunde“. Wir feierten „950 Jahre Österreich“ mit rot-weiß-rot bemaltem Zeitungspapier. Dann wurde bald „Land der Berge , Land am Strome“ unsere Bundeshymne. Der 4. Bezirk Wieden war ein von den Sowjets besetzter Bezirk. Ich war Zeuge , wie sie Wohnungen requirierten und neue Mieterinnen und Mieter einquartierten. Die Soldaten waren bestimmt , aber höflich. Meine Eltern und ich waren zu den „Neuen“ im Hause sehr freundlich. Längere Zeit hatten wir die „Volksstimme“ und „Die Österreichische Zeitung“, die von den Sowjets herausgegeben wurde , abonniert ; ich erhielt „Unsere kleine Zeitung“ im Abonnement. Wir galten deshalb als Kommunisten. Wir bekamen eine Untermieterin einquartiert. 164

„Österreich“-, „Staats“- und „Europa“-Generation

Sie studierte an der „Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt“ und versorgte mich mit Zeichen- und Malutensilien und mit leicht verständlichen Schriften Stalins , der jetzt „der Größte“ war. Die Sowjets organisierten Veranstaltungen für Kinder , auf denen Tänze gezeigt und Musik gespielt wurde. Viel war von Völkerverständigung und Frieden die Rede. Das gefiel mir. Im großen Kino der Scala , fünf Gehminuten von uns entfernt , wurden schöne Filme gezeigt. Ich erinnere mich an „Die steinerne Blume“, „Die Schlacht auf dem Eise“ und „Das Lied von Sibirien“, das ich mehrere Male sah. Nachdem das Kino in das „Neue Theater in der Scala“ umgewandelt worden war , wurde ich ­einer seiner treuesten Besucher. Ich entwickelte Sympathien für den Kommunismus. Mein „Engagement“ als Ministrant in der Katholischen Kirche am Elisabethplatz hinderte nichts daran. Menschen meiner Generation haben als Kinder und Jugend­ liche mehr und anderes erlebt als Generationen vor und nach uns. Wir haben „unsere“ Erfahrungen. Sie waren nicht einheitlich , sondern unterschiedlich , sogar gegensätzlich. Viel hing davon ab , in welche Familie und in welches „politische Lager“ man hi­ neingeboren war , ob man in der Stadt oder auf dem Lande lebte , wie die Familie die Diktaturen , den Krieg und die Nachkriegszeit erlebt hatte und in welcher Besatzungszone die zehn Jahre nach dem Krieg bis zum Abzug der Alliierten verbracht worden waren. Schließlich prägten uns auch die vielen , verschiedenen Lehrerinnen und Lehrer in den verschiedenen Schulen. Die Höheren Schulen mit Lehrerinnen und Lehrern und Lehrmitteln aus mehreren Regimen , Regionen und Generationen haben uns besonders beeinflusst. In der Nachkriegszeit hatten wir wenige Lehrbücher. Das hatte sein Gutes : Wir wurden nicht einseitig belehrt , sondern hatten Bücher aus verschiedenen Regimen. Am liebsten verglich ich die verschiedenen Geschichtsbücher : Monarchie , Republi-

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Teil 3 – Unsere Generation: die Engagierten

ken , Hitlerzeit. Dazu kamen Informationen durch die Alliierten : Das war Vielfalt , die vor Einfalt schützte. Wenn man als Kind mehrere Regime erlebt hat , hat man zur Politik eine Distanz , besonders zu jenen , die allzu sehr begeistert sind , und zu jenen , die allzu sehr davon überzeugt sind , recht zu haben. Mir war schon als Kind klar , dass Recht und recht haben viel mit Macht und Macht haben , zu tun haben. Erst die Bildung vermittelte mir „Menschsein“ und Menschenrecht als Maßstab. Die Bundeskanzler Figl und Raab machten mich zum begeisterten Österreicher. Die Erfahrungen des Alltags und die österreichische Literatur machten mich aber schon früh zum „gelernten Österreicher“. Schon als Gymnasiast war ich auf Karl Kraus gestoßen. Gerhard Fritsch und Herbert Eisenreich bestärkten mich in diesem Österreichbewusstsein. Ich nannte es aufgeklärten Patriotismus. Im Gymnasium hatte ich in einer Ö-Mappe alles Gute und Schöne über Österreich gesammelt. Als Student sammelte ich das „Wahre“ über Österreich. Das wurde immer mehr. Mitglieder meiner Generation waren schon als junge Menschen „Wissende“. Manchmal scheint es mir , als wären wir gar nicht jung gewesen. Denn wir waren schon in jungen Jahren „alt“. Natürlich waren wir auch jung , aber wir waren nicht so „lustig jung“ wie andere Generationen. Wir waren „ernst jung“ und sind trotz mehr Heiterkeit im Alter „ernst jung“ geblieben. Wir wollten nie wieder Krieg , nie wieder Faschismus , nie wieder Nationalsozialismus , aber wir wussten früh , wie gefährdet unser Rechtsstaat und unsere Demokratie sind , und zwar mehr von innen her als von außen. 1965 übergab Gerhard Fritsch das Gedicht „Österreich“ dem Bundeskanzleramt. Er hatte es über dessen Einladung zum „Tag 166

„Österreich“-, „Staats“- und „Europa“-Generation

der österreichischen Fahne“ geschrieben. Das Bundeskanzleramt lehnte es ab. Es wurde zu meiner inneren Bundeshymne. Dieses Land Hat sich selbst nicht gemocht Zwischen November und März Dieses Land des Hungers des Hasses mit Bomben Schießprügeln spanischen Reitern Toten in der Vorstadt Toten im Dorf und im Ballhaus dieses Land des langsamen Selbstmordes und der Hoffnung auf falsche Erlöser ist eines Tages gegen Abend wirklich tot gewesen ausgelöscht auf den Karten Getilgt sein Name untergegangen im Triumph seiner Bestatter für immer so hat es geheißen jetzt wird alles anders und anders ist es geworden. Dieses Land ohne Namen Tot und begraben Ist zum Leben erwacht in Baracken und in der Erde zwischen Eismeer und Wüste unter Wachttürmen und Schafott in Kellern dieses Land hat sich erkannt im Echo seines geflüsterten Namens ist auferstanden in russischen Wintern und zwischen den Öfen von Ausschwitz ist allmählich ein Frühjahr geworden aus Flammen und Eis ein Wille und ein Wort.

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Teil 3 – Unsere Generation: die Engagierten

Österreich mit seinen Gerichteten Gefallenen Gräbern und Trümmern dem brennenden Dom den Gebombten Geplünderten Versehrten Verjagten Vergasten Verschollenen mit seiner Armut und seiner Hoffnung weiß was es will damals im April und heute und morgen sich selbst. Österreich mit seiner Geschichte der ganzen und all seinen Bergen Burgen Fabriken Keuschen und Schlössern seinen Einschichten Vorstädten Marktplätzen Glocken und Türmen Bilderbuchdörfern Kaffeehäusern und Grüften seiner Musik seinem Wort seinem Schweigen seinen Tränen und seiner Freude seinen vergessenen Toten seinen Gefeierten seiner Einfalt seinem Wissen ohne spanische Reiter Verzweiflung und Zwietracht ein Volk mit Vergangenheit Zukunft dauernde Gegenwart im Kreuz der Straßen Europas im Schoß dieser Welt lächelnd über seine Bestatter : Österreich.

Die Gesellschaft empfing uns mit einem weniger oder mehr ausgesprochenen Antisemitismus , öffentlich gezeigtem Antikommunismus und offiziellem Antinazismus , der manchmal als 168

„Österreich“-, „Staats“- und „Europa“-Generation

„Antipiefke“-Haltung laut wurde. Es gab auch einen Antiameri­ kanismus. Der Satz , den Hedwig Bleibtreu , eine „Ehemalige“, im Dritten Mann spricht : „ So habe ich mir die Befreiung nicht vorgestellt“, war für viele charakteristisch. Das 1948 erschienene Buch des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr „Verlust der Mitte“ war ein Bestseller und ein von unseren Lehrern geschätztes Buch. Die düstere Szene , die schon in Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“ vorweg genommen ist , wird einer Diagnose mit Vorurteilen unterzogen , wobei der Verlust der Mitte auch den Verlust des Maßes bedeutet. Manche Lehrer brachten den „Verlust der Mitte“ mit Ortega y Gassets „Aufstand der Massen“ und mit dem Phänomen der Vermassung in Zusammenhang. Darüber mussten wir Aufsätze schreiben. Der junge Kunsthistoriker Werner Hofmann widersprach Sedlmayr schon bevor er 1962 Gründungsdirektor des Museums des 20. Jahrhunderts wurde. Aber das erfuhren wir erst später. Karl Bednarik beschrieb 1948 im „Jungarbeiter“ diesen als ­einen neuen Typ , der massenhaft auf Motorrädern vorbeikommt , Lärm macht und neue Lebensfreude verbreitet. Negativ wurden diese Typen als Schlurfs und Halbstarke bezeichnet : Bednarik hob das Unbestimmte des Typs hervor und stellte ihn dem profilierten klassenbewussten Jungarbeiter von früher entgegen. Das Buch erschien zur selben Zeit wie „Verlust der Mitte“. Ein Jahr später erschien Bednariks Roman „Omega Fleischwolf “. Der junge Arbeiter „Adam“ hat nichts mehr vom solidarischen Denken an sich , sondern ist Individualist , der als Gemeinschaft nur das Kumpel-Rudel kennt. Kofferradio , Motorrad , Kino und bessere Arbeits- und Lebensbedingungen für sich selber sind die Hauptinteressen. Damit war eine Generation gezeichnet , die durch Filme und Musik aus den USA gekennzeichnet war. Elvis Presley und Marlon Brando waren Filmhelden Anfang der 50er-Jahre. Die 1955 herausgekommenen Filme „Jenseits von Eden“ und „Denn sie wissen nicht , was sie tun“ brachten ein neues Jugend­ idol : James Dean. Es gab eine Art von „James Dean-Rummel“ 169

Teil 3 – Unsere Generation: die Engagierten

vor jedem Kino , wo einer seiner Filme in W ­ ien lief. Aber dieser Rummel führte nicht zu einer Bewegung. Es blieb ruhig bis zur austro-gezähmten 68er-Bewegung. Meine Kollegen und ich waren brave , angepasste Studenten. Wir verehrten nicht Sexbomben , sondern eher Audrey Hepburn ( „ Ein Herz und eine Krone“, 1953 , „Sabrina“, 1954 , „Ariane“, 1957 ) und Grace Kelly ( „ Zwölf Uhr mittags“, 1952 , „Über den Dächern von Nizza“, 1955 , „Die oberen Zehntausend“, 1956 ). Nach der Lektüre von Eugen Kogons „Der SS -Staat“ suchte ich weiter nach Literatur über Hitler und las schon als Sechszehnjähriger Alan Bullocks „Hitler : A study in Tyranny“. Seitdem sind Dutzende Werke über Hitler erschienen , aber Bullock war der Erste und hat mich am meisten aufgeklärt. Am Ende meines Studiums las ich William Shirer „The Rise and Fall of Adolf Hitler“ ( 1961 ). Meine Eltern waren erstaunt über mein Interesse. Ich konnte sie über vieles aufklären. Die Meisten meiner Generation fanden wie unsere Eltern die Zusammenarbeit der früheren Bürgerkriegsparteien und auch die Einstellung , dass Österreich als Staat 1938 ein Opfer Hitlerdeutschlands gewesen sei , richtig. Aber das waren keine „Dogmen“. Das Dritte Lager wurde in seinen Familien anders sozialisiert. Viele in diesen Familien sahen sich als doppelte Opfer , als „Opfer des Opfers“, nämlich als Verlierer 1945 und als die vom offiziellen Österreich Verfolgten und Ausgeschlossenen nach 1945. Meine Generation war schon in der Kindheit eine Europageneration. Viele kannten Grillparzers kluges Wort : „Der Weg der neueren Bildung geht von Humanität durch Nationalität zur Bestialität“, das auf seine Weise die „Dialektik der Aufklärung“ vorwegnimmt. Wir hatten ja die Realisierung dieser Worte in Geschichte und Politik gelernt und erlebt. Wir waren als Generation die erste , die für ein selbstständiges und unabhängiges Österreich ohne Wenn und Aber war , und 170

„Österreich“-, „Staats“- und „Europa“-Generation

die neuen Europäer. Das alte übernationale Österreich , das wir durch unsere Bildung kennenlernten , war Geschichte , wir waren neue Europäer. Uns war schon früh klar : Der Nationalismus war und ist ein Feind Österreichs. Im alten Österreich , im neuen Österreich. Und er ist ein Feind Europas. „Csokors ‚3. November 1918‘ ist der ‚Nachruf auf Österreich‘. Europa kann nicht Europa sein , kann nie Europa werden , wenn es Österreich nicht versteht. Mich hat der Ausspruch des Regimentsarztes , des einzigen Juden , immer am stärksten berührt. Nachdem alle sich als Vertreter ihrer Nation oder wie man im alten Österreich sagte , ihrer Nationalitäten , decouvriert hatten und Erde aus ihrem Land in das Grab werfen , sagt der Regimentsarzt , der einzige Jude unter all den Nationalitäten : ‚Erde aus Österreich‘.“ ( Reinhold Schneider ) Aber der „Nationale“, das heißt der „Deutschnationale“, ist schon weggegangen. Geschichte ist das , sagte Jacob Burckhardt , was ein Zeitalter an einem anderen bemerkenswert findet. Wir fanden , vielleicht als erste Generation nach 1918 , den liberalen Nachlass aus der Monarchie bemerkenswert und nahmen ihn als Verpflichtung auf. Gleichzeitig fanden wir die kollektive Ödipusrevolte , von der Carl E. Schorske spricht , bemerkenswert und akzeptierten ihre Haltungen und Schöpfungen. So konnten wir den liberalen Rechtsstaat der Monarchie und gleichzeitig Klimt , Schiele , Kokoschka , Freud und Schnitzler , Mahler , Schönberg , Berg und Webern in uns aufnehmen. Wir fanden die Werte des Liberalismus der Monarchie , den Rechtsstaat und die richterlichen Kontrollen lebenswert , das „Leben und Leben lassen“ besonders österreichisch , andererseits fanden wir auch die Werke der „Ödipusse“, die gegen die bürgerliche Ära revoltiert hatten , bemerkenswert. Wir waren immun gegen Absolutismen und Totalitarismen und gleichzeitig offen für Neues und anderes. Insofern waren wir liberal. Dagegen waren die Gründer der Ersten und Zwei171

Teil 3 – Unsere Generation: die Engagierten

ten Republik keine Liberalen. Aber sie übernahmen immerhin , wie Wolfgang Mantl es so schön formuliert hat , die liberale System-Konstruktion 1918 und 1945 als Gravitationszentrum der Verfassungsgebung. Viele von uns waren innerlich Liberale , fanden aber durch die Familie die politische Heimat in der ÖVP oder in der SPÖ. Es gab keine liberale Partei. Das dritte Lager war für uns zu nazifiziert. Es hatte auch liberale Züge. Aber die Läuterung und die Integration in die Zweite Republik fanden zu wenig statt. Das ist Thema und Problem geblieben. Hätte es eine wirklich liberale Partei gegeben , wären viele von uns vielleicht ihre Sympathisanten geworden. So waren Teile von uns liberal im Überbau , sozial im Unterbau und tendierten zur SPÖ , andere liberal im Unterbau und katholisch im Überbau und tendierten zur ÖVP. Die alten Gegensätze waren für uns weitgehend „lieb“ gewordene Rituale. Aber unsere Generation war keine „68er-Generation“ und sie hat auch keine neuen Parteien gegründet. Die „68er“ kamen später und die Grünen wurden erst von anderen gebildet , auch wenn wir schon „grün“ waren. Wir haben das Schwarz-RotDenken und das entsprechende pawlowsche Agieren und Reagieren abgelehnt , haben aber trotzdem mitgemacht. Wir haben uns nicht „entlagert“ oder „verlagert“. Wir waren „schweigende Liberale“, aber wir waren und sind eine Staatsgeneration. Wir wurden zwar Institutionenkritiker , aber wir waren immer auch Institutionenreformer. Es war kein Zufall , dass die Gründung der Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft in den 70er-Jahren in Zusammenhang mit dieser Entwicklung vor sich ging und Heinz Fischer mit vielen Kritikern und Reformern das Buch „Das politische System Österreichs“ 1974 herausgab. Es erschien in drei Auflagen und wurde ein Standardwerk. 172

„Österreich“-, „Staats“- und „Europa“-Generation

Ein solches Buch wäre in der Bundesrepublik Deutschland nicht möglich gewesen. Vertreter unserer Generation genossen großes Vertrauen der vorhergehenden Generation. Wir waren ja nicht Polemisierende , sondern konstruktiv Kritisierende und Kooperierende. Nicht zufällig finden sich unsere „Vertreter“ in den Kabinetten der Bundeskanzler Klaus und Kreisky. Im Kabinett und in der Umgebung von Klaus : Michael Graff , Franz Karasek , Thomas Klestil , Peter Marboe , Alois Mock , Heinrich Neisser , Manfred Scheich , Josef Taus , Leopold Wallner , Viktor Wolf … Im Kabinett und in der Umgebung Kreiskys : Hannes Androsch , Karl Blecha , Heinz Fischer , Fritz Gehart , Wolfgang Groiss , Peter Jankowitsch , Helmut Kramer , Johannes Kunz , Ferdinand Lacina , Egon Matzner , Ingo Mussi , Thomas Nowotny , Wolfgang Petritsch , Alfred Reiter , Heinrich Keller , Norbert Leser … Zu nennen sind auch Wendelin Weingartner , Erhard Busek , Herbert Schambeck , Andreas Khol , Josef Riegler , Wolfgang Schüssel , Franz Vranitzky , und viele andere in Gemeinden , Verbänden und Ländern. Die Meisten von ihnen wurden hohe Funktionäre unserer Republik. Von den sogenannten „wilden 50er-Jahren“ spürte ich wenig. In der Sozialgeschichte spricht man auch richtigerweise von den „langen 50er-Jahren“, die vom Ende der 40er- bis zur Mitte der 60er-Jahre dauerten. Sie erlebte ich wirklich in den fünf Jahren meines Studiums von 1955–1960. Es waren lange , langweilige Jahre.

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Teil 3 – Unsere Generation: die Engagierten

Das geistige Leben war , von Ausnahmen , insbesondere in der Musik , abgesehen , über zwei Jahrzehnte von der internationalen Welt isoliert. Aber die materiellen Verhältnisse begannen sich langsam zu bessern. Die Alliierten hatten ein wenig Internationalität und ein wenig „Welt“ nach Österreich gebracht , aber nicht die Welt der Kunst und Wissenschaft im Großen. Der Art Club , die Hundsgruppe und dann vor allem die Galerie nächst St. Stephan unter Monsignore Otto Mauer waren die ersten großen Versuche der Öffnung. „Mauer ließ die bösen Buben machen“, hieß es damals , also Oberhuber , Rainer und Kollegen. Eine autochthone österreichische Gruppe , die wir „verehrten“, waren die Phantastischen Realisten , Hutter , Lehmden , Brauer , Fuchs , die man 1959 im Belvedere bewundern konnte ; wir kannten schon die französischen Surrealisten vor allem Dali , aber unsere „Phantastischen“ kamen vor allem von Albert Paris Gütersloh , den wir mehr als Dichter kannten. Ich sah den kleinen Herrn mit Baskenmütze oft im Café Museum , auch im Gespräch mit Heimito von Doderer. 1956 gewann die ÖVP die ersten Nationalratswahlen im souveränen Österreich. Staatsvertrags- und Neutralitätskanzler Raab hatte seine beste Zeit und mit seinem Finanzminister Reinhard Kamitz führte er eine soziale Marktwirtschaft ein , wobei die große Koalition zusammen mit der Sozialpartnerschaft Wohlstand und sozialen Frieden gewährleistete. Stabilität und Kontinuität , Wirtschaftswachstum und sozialer Friede waren charakteristisch für diese Zeit. Überall kam in dieser Zeit Geschichte hervor , aber es war vorwiegend die alte Geschichte mit ihren alten Geschichten : Kaiser Franz Joseph , Kaiserin Elisabeth , Kronprinz Rudolf , die feudale Gesellschaft mit ihren Fürsten und Grafen , Förstern und Jägern , ­Wien , die Kaiserstadt , die schönen Landschaften. Auf die neuere Geschichte war ein grauer Schnee des Schweigens gefallen und dieses große Schweigen dauerte noch jahre174

„Österreich“-, „Staats“- und „Europa“-Generation

lang. Das Tauwetter kam auch nicht auf einmal und überall , sondern da und dort , vor allem in der Kunst , in der Literatur. Wie nach dem Kriegsende die große Not , so lenkte der steigende Wohlstand vom Nachdenken ab. Die neue Beweglichkeit durch Reisen und Autofahren trug dazu bei. Das steigende Tempo ließ keine Zeit zum Nachdenken. So kam das Schlagwort von der „Insel der Seligen“ auf. Wolfgang Mantl verdanke ich den Hinweis auf Johan Huizingas Definition : „Geschichte ist die geistige Form , in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt.“ Aber Österreich gab sich über seine Vergangenheit lange keine Rechenschaft. Dabei drückt „Rechenschaft“ zugleich den unerbittlichen Ernst aus , der aller historischen Tätigkeit zugrunde liegt. Vielleicht war die Geschichte zu ernst , um sich mit ihr ernsthaft in jedem Schulbuch auseinanderzusetzen , und deshalb zogen sich die zeithistorischen Kontroversen über Jahrzehnte hin , ohne dass wirklich Massenwissen und politische Bildung entstanden sind. Aber für mich ist der österreichische Weg ins Freie auch der Weg zur Wahrheit. Freiheit bringt Wahrheit , auch wenn es Wahrheiten sind. International schien der Kalte Krieg in den 50er-Jahren ein ewiger zu sein und die kompetitive Koexistenz der Großmächte im Gleichgewicht des Schreckens verstärkte meine pessimistische Einstellung zur Zukunft. Von Zeit zu Zeit stand nach der Meinung mancher der 3. Weltkrieg vor der Tür. Andererseits ging es fast allen Leuten sukzessive besser. Am 1. August 1955 begann das Fernsehzeitalter mit einer halbstündigen Sendung für 516 Fernsehgeräte. Fünf Jahre später waren es schon rund 50. 000. Viele von uns besuchten Gast- und Kaffeehäuser , um fernzusehen , insbesondere wenn Fußballspiele oder Boxkämpfe gezeigt wurden. Trotz der Skepsis mancher Intellektueller war das Vertrauen in die Technik groß : 1956 wurde das Reaktorforschungszentrum in Seibersdorf eröffnet , 1958 wählte die Internationale Atombehörde der UNO ­Wien als ihr ständiges Hauptquartier. Die Technisierung setzte sich nicht nur in den 175

Teil 3 – Unsere Generation: die Engagierten

verschiedenen Wirtschaftsbereichen durch , sondern auch in der Konsumwelt und im Haushalt. Staubsauger und Kühlschrank waren bald überall , Spül- und Waschmaschinen folgten. Ich brachte noch in meiner Studienzeit jede Woche unsere Wäsche in einen eigenen „Waschsalon“, in dem man die Waschmaschinen gegen Entgelt bediente und dann die feuchte Wäsche zum Bügeln nach Hause trug. Telefon und Auto setzten sich bei mehr und mehr Leuten durch , bei uns zu Hause nicht. Mein Vater hatte nämlich als Lehrer kein Telefon gewollt und dabei blieb es nach seinem Tod. Ein Auto hätten wir uns sowieso nicht leisten können. Am 9. Februar 1956 fand der erste Opernball seit 1945 statt. Wie groß das „bürgerliche Interesse“ war , ist am besten durch Reinhold Schneider in „Winter in W ­ ien“ beschrieben worden : „Man erregt heftigen Zorn lebensdurstiger Damen der ehrwürdigen Generation – die leider zum Vergleiche mit ausgehungerten Schnaken reizen –, wenn man im Café am Schwarzenbergplatz im Vorübergehen die Andacht vor dem Fernsehschirm stört. Auf diesem spielt sich nämlich der Opernball ab , dessen prominentester Gast der mit 20 Sternchen besteckte Herr Professor Hallstein war. ‚Man tanzte , lachte , flirtete , man unterhielt sich wieder einmal blendend. Man zahlte , ohne mit der Wimper zu zucken horrende Preise – nämlich 960 Schilling für eine Flasche Sekt ! ‘ ( Die Presse ) Man konnte sich sicher fühlen : ein Heer von Kriminalbeamten unter dem Befehl eines diskreten Oberinspektors im Frack überwachte das Treiben – in seiner naiven ‚Unauffälligkeit‘ kenntlich einem jeden , der ein klein wenig herumgekommen ist. Kurz : Man war Mensch ; ‚hier endlich , endlich – durfte man’s sein.‘“ Im Herbst 1956 fand im Nachbarland Ungarn ein Aufstand statt. Der Aufstand der Ungarn wurde von der Sowjetunion niedergeschlagen , obwohl sich die Ungarn auf eine Neutralität nach dem Muster Österreichs festgelegt hatten. Manche Leute in Österreich fürchteten einen Einmarsch von sowjetischen Truppen. Im Rahmen der Österreichischen Hochschülerschaft half ich vielen Flüchtlingen. Unter uns war ein Verräter , der Namen 176

„Österreich“-, „Staats“- und „Europa“-Generation

von Flüchtlingen telefonisch nach Ungarn weitergab. Er wurde bald entdeckt , entzog sich aber durch Flucht. Insgesamt kamen rund 250. 000 Ungarn zumindest für einige Zeit nach Österreich. Viele blieben und wurden gute Österreicher. Österreich wurde ein Vorbild als Asylland , das lange hochgehalten wurde. Erst in den 90er-Jahren verloren wir dieses schöne internationale Image. Als Selbstverständnis ist es bei vielen geblieben , auch als die Asylgesetzgebung restriktiv wurde. Der materialistische Grundzug der Wiederauf bauzeit hatte seinen Preis : Das Geistige war und blieb unterbewertet. Geist hat ja nie viel in Österreich gegolten. Schon die Gegenformation zwang zur Anpassung oder Auswanderung. Der „Macht“ steckte später lange „1848“ in den Knochen. Die 1938 und schon früher vertriebene Vernunft wurde nicht offiziell und mit großer politischer Geste heimgeholt , im Gegenteil , ein braindrain setzte ein. Manche wollten wahrscheinlich gar nicht zurück , aber hier hätte es „großer Politik“ bedurft. Die Heimkehr Österreichs als Einkehr fand statt  , die Heimkehr als „Heimholung“ der vertriebenen Vernunft fand nicht statt. Weder 1945 noch 1955 noch später. Das kann nicht mehr wieder gut gemacht werden. Die „Verösterreicherung“ in der Koalitionsdemokratie und Sozialpartnerschaft brachte Provinzialismus. Österreich setzte sich nach Abschluss des Staatsvertrages und mit dem Bekenntnis zur Neutralität keine großen Ziele für die Zukunft. Es half , wenn Nachbarn in Not waren , und das war für uns Junge immer eine Zeit des intensiven Engagements. Wir traten endlich der UNO bei , was wir vergeblich schon 1945 gewollt hatten , wir wurden ein demokratischer Rechtsstaat mit schwarz-rotem Augenzwinkern , erreichten mehr und mehr Wohlstand , hatten durch die Sozialpartnerschaft sozialen Frieden. Aber eine vorbildliche Menschenrechtsdemokratie , eine unternehmerische Zivilgesellschaft und ein Staat moderner Wissenschaft wurden wir nicht. Vielmehr setzte die von Alexander van der Bellen so genannte „Verzwergung“ ein. „Österreich – geistige Provinz ? “, 1965 publiziert , beschreibt die Lage der 50er-Jahre sehr gut. Der Architekturkritiker Fried177

Teil 3 – Unsere Generation: die Engagierten

rich Achleitner zitiert „Diagnosen des Provinzialismus“: „Neben der Dummheit , die fröhlich aus jedem Fensterloch schaut“, wie Josef Frank schrieb , habe man früher noch ein schlechtes Gewissen und die Einsicht gehabt , dass doch nicht alles zum Besten bestellt sei. Heute habe sich Selbstgefälligkeit durchgesetzt. Er zitiert eine Antrittsvorlesung Ferdinand Schusters mit dem Thema „Architektur und Politik“. Dort wird der Provinzialismus als „allgemeine Ängstlichkeit und Enge“ umschrieben , als „allgemeine soziale Lethargie , in einer ungesunden Isolierung des Einzelnen , die zur Gleichgültigkeit , zum Misstrauen , ja zum Zynismus führt und in der spießbürgerlichen Selbstgefälligkeit , die sich im ganzen Lande breit gemacht hat , auf allen Gebieten des Lebens , nicht zuletzt auch im politischen Bereich“. Er schreibt 1965 – in unserer Studienzeit war es noch deutlicher –: „Vorläufig sind wir Provinz , ob geistig oder nicht , das sei dahingestellt.“ Es sei auch eine Frage , wessen Provinz wir sind oder ob es so was wie einen autonomen Provinzialismus gibt. Ich glaube , dass es ein autonomer Provinzialismus war. 1955 hätte das Buch heißen sollen : „Österreich ist eine geistige Provinz“. 1955 erschien unter dem Titel „Forschung und Entwicklung in Österreich“ eine Studie der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der ­Wiener Arbeiterkammer. In der Einleitung zu dieser Broschüre finden wir folgende Sätze : „In Österreich sind Forschung und Entwicklung schon immer recht stiefmütterlich behandelt worden. Wie die vorliegende Studie zeigt , beträgt der Aufwand hierfür nur etwa 0,3 % vom Bruttonationalprodukt und liegt damit nur knapp über dem für wirtschaftlich unterentwickelte Länder typischen Niveau … Das Zurückbleiben Österreichs auf dem Gebiet der Forschung ist überhaupt nicht so sehr eine Frage des Könnens und Wollens … Unsere Industrie ist im Ganzen gesehen wenig forschungsfreudig … Die Hochschulen sind mit Lehraufgaben so überlastet , daß wenig Zeit und Energie für die Forschung übrig bleibt.“ Die „Überlastung“ war auch die Folge von zu wenig Lehrpersonal.

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„Österreich“-, „Staats“- und „Europa“-Generation

Die zwei Großparteien wurden nach 1945 Hauptträger der österreichischen Demokratie. Durch die hohen Mitglieder- und Wählerzahlen war die große Koalition für ausländische Politologen geradezu eine Erscheinungsform der direkten Demokratie oder eine „Volksdemokratie“. Aber immer waren die beiden Parteien auch Zentren von Krisenphänomenen. Fritz Klenner sprach schon Mitte der 50er-Jahre vom „Unbehagen im Parteienstaat“ und wiederholte dies mit dem „Unbehagen am Parteienstaat“. Fritz Plasser und Peter Ulram diagnostizierten Mitte der 80er-Jahre das verstärkte Unbehagen. Österreich war das Musterbeispiel ­eines Parteienstaates , ja einer Parteiengesellschaft , die durch hohe Organisationsdichte der beiden Staats- , Volks- und Mitgliederparteien , die hohe Konzentration der Stimmen und Mandate auf allen Ebenen auf die zwei und ihre enge Verflechtung mit Verbänden und Medien gekennzeichnet war. Das Doppel , an die siamesischen Zwillinge „Sozwawia­ miazwa“ Herzmanovsky Orlandos erinnernd , neigte von Anfang an zur kollektiven Disziplinierung und bipolaren Kolonisierung der Gesellschaft. Unter der Militärdiktatur , besser dem „Quasikollektivprotektorat“, der vier Mächte etablierten die zwei Großparteien eine Dyarchie. Schwarz und Rot konnten unter den Besatzungsmächten Österreich „besetzen“ und alles Organisierbare organisieren , proporzmäßig und paritätisch integrieren. Wahlbeteiligungen und -ergebnisse waren auf allen Ebenen periodisch wiederkehrende Plebiszite für diese Praxis. Kleine Proportionen änderten sich , der große Proporz blieb. Die Herrschaft der zwei Parteien machte die Republik nach dem Staatsvertrag und dem Abzug der Alliierten zur totalen Zweiparteiengesellschaft. Die große Chance , aus dieser Realität e­ ines Zweiparteiensystems die Konsequenz des Mehrheitswahlrechts zu ziehen und dadurch zumindest auf Bundesebene von der Konsens- zur Konkurrenzdemokratie überzugehen , wurde nicht wahrgenommen. Meine Generation hat jahrzehntelang Plädoyers für ein Mehrheitswahlrecht gehalten. Manche von einst wie Norbert Leser , 179

Teil 3 – Unsere Generation: die Engagierten

Heinrich Neisser , Heinrich Keller , Erhard Busek , Franz Fischler , Wolfgang Radlegger , Friedhelm Frischenschlager , Herwig Hösele , Johannes Voggenhuber und andere treten noch immer für ein Mehrheitswahlrecht ein , obwohl das Parteiensystem sich zu einem unregelmäßigen Vielparteiensystem aufgefächert hat , wie das Verhältniswahlsystem es nach sich bringt. 1956 waren wir dem Europarat beigetreten. Aber Europäer war die Mehrheit der ÖsterreicherInnen noch lange nicht. Sie mussten ja erst Österreicher werden. Und das dauerte. 1956 antworteten im Rahmen einer Umfrage des Fesselinstituts auf die Frage „Sind Sie persönlich der Meinung , dass wir eine Gruppe des deutschen Volkes sind oder sind wir ein eigenes österreichisches Volk ? “ 49 % , dass die Österreicher ein e­ igenes Volk seien , 46 % entschieden sich noch für die Zugehörigkeit zum deutschen Volk , 5 % verhielten sich unentschieden. Die Nationswerdung stieg vor allem seit der Neutralitätswerdung 1955 stark an. Österreich ist in diesem Sinn eine junge Nation. Wir waren die erste Generation , die sich voll und ganz zu Österreich und zur österreichischen Nation bekannte. Als Student glaubte ich nicht mehr an einen Zusammenschluss der Staaten Europas , den ich schon im Gymnasium erträumt hatte. Wir waren ja schon früh Europäer im Herzen. Unsere Generation hat den Beitritt zur Europäischen Union betrieben und mit Zweidrittelmehrheit der Bevölkerung durchgesetzt. Durch diese Erfahrungen bin ich als alter Mann zum Optimisten geworden. Bei Reformen und Neuerungen frage ich : „Warum nicht ?“, und sage nie „Das geht nicht !“ oder „Das gibt es nicht !“. Felix Austria ! Felix Austria ? Quo vadis , Austria ? Wohin gehst du , Österreich ?

Der Weg ins Freie muss weiter gehen , er ist schön , weil er mühsam ist. 180

Literatur (Auswahl) Margarete Grandner , Gernot Heiss , Oliver Rathkolb ( Hg. ), Zukunft mit Altlasten. Die Universität W ­ ien 1945 bis 1955 , Studienverlag , Innsbruck /  ­Wien /  München /  Bozen , 2005 Gerhard Hartmann , Der CV in Österreich : Seine Entstehung , seine Geschichte , seine Bedeutung , 2. Aufl. Verlag Styria /  Graz /  ­Wien /  Köln , 1994 Gerhard Hartmann , Für Gott und Vaterland , Geschichte und Wirken des CV in Österreich , Lahn-Verlang , Kevelaer , 2006 Gerhard Hartmann , Die Ära Chaloupka im österreichischen CV. In : Für Volk und Glauben leben , S. 109–148 , o. J. Maximilian Liebmann , Die katholische Hochschuljugend aus der Sicht eines Mitglieds des Cartellverbands , in : 20 Jahre KHJ , S.  98–100 , o. J. Maximilian Liebmann , Widerstand des und aus dem ÖCV in : Korporierte im Widerstand gegen den Nationalsozialismus , S 106–113 , o. J. Wolfgang Mantl , Der parteipolitische Katholizismus in : Gesellschaft und Politik , 11. Jg. 1975 , H. 3 , S. 36–58 Evelyn Mosser , Alois Dawid , Spondeo – Die Absolventen der K. K . Exportakademie , der Hochschule für Welthandel und der Wirtschaftsuniversität ­Wien , ­Wien /  Frankfurt , Wirtschaftsverlag ­Ueberreuther , 2000 Kurt Mühlberger , Palast der Wissenschaft , herausgegeben von der Universität ­Wien , Böhlau Verlag ­Wien /  Köln /  Weimar 2007 Wilhelm Pellert , Roter Vorhang , rotes Tuch , Das neue Theater in der Scala ( 1948–1956 ), In Sachen , 3–4/79 , ­Wien 1979 Oliver Rathkolb , Goethe oder Grillparzer : Der Streit um das Eröffnungsstück des Burgtheaters für den 15. Oktober 1955 in : Burgtheatertag , 20. Oktober 1985 , 1985. Gottfried Schatz , Feuersucher , Verlag Neue Züricher Zeitung , 1. Nachdruck 2012 Reinhold Schneider , Winter in ­Wien. Aus meinen Notizbüchern 1957/1958 , Verlag Herder W ­ ien , Freiburg im Breisgau , 1958 ; Verlag Herder W ­ ien , Freiburg in Breisgau , 2003

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Literatur (Auswahl)

Carl E. Schorske , ­Wien – Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle , Piper München /  Zürich , 2. Auflage , August 1997 Karl Wolfgang Schrammel , Geschichte der K. Ö. H. V. Franco Bavaria – (= F-B-Franco-Bayern-Briefe VI Sonderausgabe ). ­Wien o. J. ( 1998 ) Manfried Welan , Ein Kind meiner Zeit , Österreichischer Kunst- und Kulturverlag , ­Wien 2005 Manfried Welan , Ein Diener der Zweiten Republik.Mit einem Vorwort von Heinz Fischer , Österreichischer Kunst- und Kulturverlag , ­Wien 2012 Österreich – Geistige Provinz ? Forum Verlag W ­ ien /  Hannover/Bern, 1965

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Abb. 1  Jugendbildnis M. W., 1955

Abb. 2  Als Senior der Franco-Bavaria

Abb. 3  Burschenschafteranprobe

Abb. 4  Promotion Februar 1961

Abb. 5  Gruppenbild

Abb.  6 

Klimt-­Fries

Abb. 7  Justitia

Abb. 8  Franz Joseph

Abb. 9  Zerstörtes Universitätsgebäude 1945

Abb. 10  Burgtheater 1955

Abb. 11  Siegfriedskopf

Abb. 12  Figl am Balkon des Belvederes 1955